Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/11/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist der Welttag gegen Kinderarbeit. Die Berichte der Internationalen Arbeitsorganisation und von UNICEF sind alarmierend; übrigens gerade verschärft auch durch die weltweite Coronakrise. 160 Millionen Kinder auf der Welt sind zu Kinderarbeit verdammt. Die Hälfte arbeitet unter besonders ausbeuterischen und gefährlichen Bedingungen. Aber, meine Damen und Herren, wir sind uns sicherlich alle einig: Die Kinder auf der Welt gehören in Schulen statt in Minen, sie gehören zusammen mit ihren Klassenkameraden in Schulen und nicht in Textilfabriken. Sie sollen auch nicht auf Feldern schuften. ({0}) Deshalb müssen wir unserer Verantwortung gerecht werden und als Staaten, aber auch als Volkswirtschaften unseren Beitrag leisten, dass wir überall auf der Welt Kinderarbeit entschieden bekämpfen. Dafür ist dieses Lieferkettengesetz ein ganz wichtiger Schritt. Anstand und Wohlstand dürfen keine Gegensätze sein. Anständige Unternehmer, die sich kümmern, dürfen dadurch keinen Nachteil, auch keinen Wettbewerbsnachteil, gegenüber denen haben, die sich in ihren Zulieferketten nicht kümmern. Deshalb ist es wichtig, dass wir heute mit dem Lieferkettengesetz klare Standards für alle Unternehmen in Deutschland für den Kampf gegen Ausbeutung, Kinderarbeit oder Sklavenarbeit schaffen. ({1}) Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr, sehr dankbar, dass wir nach hartem Ringen in der Koalition einen guten Gesetzentwurf vorliegen haben. Es ist ja kein Geheimnis, dass mein Freund Gerd Müller und ich gemeinsam für ein robustes Gesetz gekämpft haben, ({2}) für ein Gesetz, das kein Papiertiger ist, sondern das auch Zähne hat, das auch Folgen hat, wenn man sich nicht kümmert; ein Gesetz mit einer robusten behördlichen Durchsetzung; mit im Zweifelsfall auch schmerzhaften Zwangs- und Ordnungsgeldern; mit der Möglichkeit, Unternehmen, die sich nicht kümmern, von der öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen. Sehr wichtig war uns, dass wir die Rechtsposition der Menschen, die tatsächlich von Menschenrechtsverletzungen getroffen sind, verstärken und verbessern. Sie haben schon heute die Möglichkeit, vor Zivilgerichten in Deutschland zu klagen. Aber seien wir ehrlich: Das sind meistens sehr arme Menschen, die, wenn sie in ihren Menschenrechten verletzt werden, nicht die Power, nicht das Geld und nicht die Möglichkeiten haben, vor ein deutsches Gericht zu ziehen. Durch dieses Gesetz wird es zukünftig möglich sein, dass deutsche Gewerkschaften und deutsche Nichtregierungsorganisationen im Namen und mit Zustimmung der betroffenen Menschen Rechte einklagen können. Das ist konkreter Menschenrechtsschutz, den dieses Gesetz mit sich bringt. ({3}) Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass wir dieses Gesetz nach zähem Ringen – ich weiß, vielen in der CDU/CSU ist das nicht leichtgefallen – im parlamentarischen Verfahren noch verbessert haben; beispielsweise indem auch ausländische Unternehmen einbezogen werden, die größere Niederlassungen und Beschäftigtenzahlen in Deutschland haben – also nicht nur Adidas, sondern auch Nike. Meine Damen und Herren, es ist auch gelungen, die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten in solchen Prozessen zu stärken. Das verstärkt dieses Gesetz zusätzlich. ({4}) Wir haben mit diesem Lieferkettengesetz heute die Möglichkeit, ein Stück Rechtsgeschichte zu schreiben. Wir haben auch die Möglichkeit, ein starkes Signal an die Europäische Union zu senden. Denn wir wollen eine europäische Lösung, auch im Sinne von gleichen Wettbewerbsbedingungen, aber vor allen Dingen, weil wir als Europäerinnen und Europäer unseren Beitrag für eine gerechtere Gestaltung der Globalisierung leisten wollen. Gerd Müller und ich waren 2019 in Äthiopien. Wir haben erlebt, was passieren kann, wenn Unternehmen sich kümmern. Wir haben positive Beispiele gesehen: Textilfabriken, in denen Menschen anständig behandelt wurden, in denen es Mitarbeitervertretungen, Arbeitsschutz, gesunde Arbeitsbedingungen und einigermaßen angemessene Löhne gab. Wir haben aber auch das krasse Gegenteil gesehen: eine Gerberei, in der Frauen ausgebeutet wurden und bis zu den Knien in Chemikalien standen. Meine Damen und Herren, ich sage es noch mal: Unseren Wohlstand können wir nicht dauerhaft auf der Ausbeutung von Menschen aufbauen. Deshalb ist dieses Gesetz ein ganz wichtiger Schritt. Ich bin diesem Parlament sehr dankbar, dass Sie ihn heute mitgehen wollen. ({5}) Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag soll heute das Lieferkettengesetz beschließen. Ich bin, wie gesagt, denjenigen, die sich engagiert haben, sehr dankbar: vielen Parlamentariern, meiner eigenen Fraktion, auch den Berichterstatterinnen und Berichterstattern des Koalitionspartners, namentlich auch Hermann Gröhe ganz persönlich. Aber vor allen Dingen danke ich den Gewerkschaften, den Nichtregierungsorganisationen, den Kirchen und vielen Bürgerinnen und Bürgern, die mit ihrem Druck und mit ihrem Engagement dafür gesorgt haben, dass das heute möglich ist. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege René Springer, AfD. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren hier heute Morgen über das sogenannte Lieferkettengesetz. Worum geht es dabei? Mit dem Lieferkettengesetz will die Bundesregierung Unternehmen quasi staatliche Aufgaben übertragen. Sie sollen zukünftig innerhalb ihrer Lieferkette bei ihren Zulieferern und deren Zulieferern die Einhaltung von Umweltstandards, Menschenrechtsstandards und Sozialstandards durchsetzen – in der gesamten Lieferkette, weltweit. Was Staaten und der internationalen Gemeinschaft in Jahrzehnten nicht gelungen ist, sollen deutsche Unternehmen nun richten. Am deutschen Wesen soll also wieder einmal die Welt genesen. ({0}) Meine Damen und Herren, wie sieht das eigentlich in der Praxis aus? Nehmen wir mal den Automobilzulieferer Continental. Er verfügt über 100 Produktionsstätten, hat 5 700 Lieferanten, und die wiederum haben Zulieferer. Insgesamt verbaut Continental 157 Milliarden Produktkomponenten. Diese werden in aller Welt unter verschiedenen Standards produziert, und diese Standards soll das Unternehmen nun im Blick behalten. Wer das nicht schafft, diese im Blick zu behalten, dem drohen empfindliche Strafen; das wurde ja gerade schon erwähnt. Schlimmer noch: Über die eingeführte Prozessstandschaft ist es nun möglich, dass Gewerkschaften und NGOs in anderen Ländern Betroffene vor deutschen Gerichten vertreten können. Dass es dabei unter Umständen auch zu missbräuchlichen und medienwirksamen Klagen kommen kann, die deutschen Unternehmen schaden, wird hier komplett ausgeblendet. ({1}) Meine Damen und Herren, das ist ein schlechtes Gesetz für deutsche Unternehmen. Es ist ein schlechtes Gesetz für Deutschland. Es ist ein Gesetz, über das sich nur die Konkurrenz freut, und die freut sich gleich doppelt. ({2}) – Hören Sie lieber zu! – Denn das Gesetz gilt nur für Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland. Chinesische Staatsfirmen und die amerikanische Onlineplattform Amazon, die über rechtlich unselbstständige Zweigstellen in Deutschland Geschäfte machen, höre ich in der Ferne schon Beifall klatschen. ({3}) Das Institut für Weltwirtschaft warnt vor Konsequenzen, wenn dieses Gesetz eingeführt wird. Es warnt davor, dass deutsche Unternehmen abwandern, um ihre Wettbewerbsnachteile auszugleichen. ({4}) Großbritannien und die Schweiz sind nicht weit entfernt. Das Institut warnt vor Arbeitsplatzverlusten und – damit einhergehend – vor sinkenden Steuereinnahmen. Aber es passiert noch etwas anderes: Unternehmen würden sich aus Problemregionen zurückziehen, mit einer dramatischen Konsequenz: Die Lücken, die deutsche Unternehmen dort hinterlassen, werden dann von ausländischen Unternehmen gefüllt, von Unternehmen, die weniger Wert auf Menschenrechte, Sozialstandards und ökologische Standards legen. Die Folge wäre eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in diesen Ländern. ({5}) Ich sage Ihnen: Ein Gesetz, das zur Verschlechterung von Menschenrechtslagen führt, werden wir als AfD nicht unterstützen. ({6}) Wie immer bei der Bundesregierung wird im Gesetzentwurf geschrieben, es gebe keine Alternativen. Dabei gibt es die. Es gibt sogenannte Positivlisten, auf die man sich mit europäischen Partnern verständigen könnte. Darauf stünden dann Staaten und Unternehmen, mit denen das Handeln unproblematisch ist. Es gibt Negativlisten, auf denen Unternehmen stehen, mit denen man nicht handeln sollte, wo es ein Handelsverbot geben sollte. Die USA wenden das an. Es gibt auch das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit: Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit, um Staaten in ihrer Entwicklung zu helfen. Davon würden die Staaten profitieren, davon würden deutsche Unternehmen profitieren und nicht zuletzt Deutschland. ({7}) Meine Damen und Herren, zum letzten Punkt, zur Entwicklungszusammenarbeit, hat die AfD-Fraktion zwei Anträge meiner Kollegen Markus Frohnmaier und Dietmar Friedhoff vorgelegt. Ich bin mir aber sicher, dass Sie die Anträge ablehnen werden – nicht weil sie schlecht sind, ({8}) sondern weil sie von der Alternative für Deutschland sind. ({9}) So ist das hier mit den sogenannten demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Dr. Gerd Müller. ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Nie wieder Rana Plaza!“: Das hat mir den Mut gegeben und auch die Kraft beim Besuch an den Trümmern in Bangladesch vor sieben Jahren. „Nie wieder Rana Plaza!“: Das war das Versprechen, nachdem 1 100 Frauen gestorben sind, weil grundlegende Bedingungen der Arbeitssicherheit nicht eingehalten wurden. Heute, acht Jahre danach – es hat acht Jahre gedauert –, sage ich: Wir haben euch nicht vergessen. Wir haben euch nicht vergessen; denn heute kommt das Lieferkettengesetz, ein starkes Signal und ein wichtiger Schritt zur Durchsetzung grundlegender Menschenrechtsstandards in globalen Lieferketten. Hubertus Heil hat es heute früh angesprochen: Hunderte Millionen von Kindern gehen nicht zur Schule, sondern arbeiten in Minen, in Steinbrüchen, auf Plantagen, damit wir unseren Kaffee trinken können. Dieses Lieferkettengesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, war Teamwork gegen extrem starkes Lobbying. ({0}) Ich sage aber auch, wenn ich in die Reihen der Koalitionsfraktionen schaue – ich schließe auch die Grünen mit ein –: Es war aber auch für viele, viele Kolleginnen und Kollegen eine Herzensarbeit. Da nenne ich stellvertretend Bärbel Kofler als Menschenrechtsbeauftragte, Maria Flachsbarth bei uns, Claudia Roth bei den Grünen, die das schon viele, viele Jahre und Jahrzehnte sozusagen zu ihrer politischen Lebensaufgabe gemacht haben. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Nein, danke. – Dafür meinen Dank und meinen Respekt! Christ- und Sozialdemokraten, Peter Altmaier, unser Wirtschaftsminister, und Hubertus Heil, die Kanzlerin und Olaf Scholz, Hermann Gröhe, die Berichterstatterinnen und Berichterstatter, Peter Weiß – ich müsste jetzt viele aufzählen. Ich sage noch mal: Das schaffen nicht einer oder drei Minister, sondern das schaffen nur starke Koalitionsfraktionen, die den Willen haben, hier etwas zu ändern. Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann keiner hier im Haus dagegen sein. Es muss noch mehr passieren; okay, das ist auch meine Meinung. ({0}) Deshalb dürfen wir nicht wegschauen. Ich sage Ihnen: Für Christ- und Sozialdemokraten gilt die Goldene Regel für ethisch-moralisches Handeln, zu Hause und weltweit. Diese Goldene Regel haben wir alle schon im Kindergarten gelernt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Diesen Spruch möchte ich auch in den Büros der Arbeitgeberpräsidenten und ‑verbände in Deutschland hängen sehen. ({1}) „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, in Bangladesch oder in Äthiopien, am Anfang der Lieferketten. Dieses Gesetz ist ein zentraler Baustein auf dem Weg zu einer gerechteren Globalisierung. Es müssen weitere folgen: eine europäische Regelung, eine Neufassung der Welthandelsordnung, nicht freier, sondern fairer Welthandel, ({2}) ökonomische, ökologische und soziale Mindeststandards. Dazu brauchen wir nach GATT und der WTO nicht mehr und nicht weniger als eine neue WTO. Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, das war vielleicht meine letzte Rede hier, aber ganz sicher das wichtigste Gesetz für mehr Gerechtigkeit zwischen Reich und Arm. Wir haben noch viel zu tun. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Carl-Julius Cronenberg, FDP. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die absolute Armut in der Welt sinkt seit 30 Jahren kontinuierlich, Gott sei Dank. Hunderte Millionen Menschen sind in Lohn und Brot gekommen; ihre Lebensbedingungen haben sich dramatisch verbessert. Diesen Fortschritt verdanken wir nicht wohlgemeinten Gesetzen hier, sondern Handel und Investitionen in der Welt. Dazu haben gerade deutsche Unternehmen erheblich beigetragen. Das sollten Sie anerkennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({0}) Herr Heil, Sie haben ja vollkommen recht: Es gibt zu viele, viel zu viele Verletzungen fundamentaler Rechte, zu viel Kinderarbeit in viel zu vielen Ländern und Regionen dieser Welt. Deshalb ist und bleibt es an erster Stelle die Aufgabe der Bundesregierung, sich mit allen Mitteln für die Stärkung der Menschenrechte einzusetzen. Aber bitte machen Sie sich keinen schlanken Fuß, indem Sie die menschenrechtliche Verantwortung auf die Unternehmen abwälzen! Welche Botschaft wird eigentlich in den Präsidentenpalästen des Globalen Südens ankommen? Dass Sie die Wirtschaft in Haftung nehmen, weil Ihre Menschenrechtspolitik ein stumpfes Schwert geblieben ist? Ihr Gesetz liefert doch geradezu den Vorwand dafür, dass sich Zustände nicht da bessern, wo Staaten ihrer Erstverantwortung nicht gerecht werden. Das kritisieren wir. ({1}) Sicher ist dagegen, dass neue Dokumentationspflichten zusätzliche Bürokratie schaffen. Das ist schlimm genug, aber nicht das Hauptproblem. Vielmehr können unbestimmte Rechts- und Reputationsrisiken zum Rückzug aus Problemregionen führen. Dann wird es richtig schlecht, und zwar für die Ärmsten der Armen zuallererst. Rückzug halten die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags im Hinblick auf die chinesische Provinz Xinjiang für angezeigt, wenn das Gesetz kommt. Lieber Herr Minister Heil, wie wird eigentlich Ihr Landesvorsitzender Stephan Weil, VW-Aufsichtsrat und Ministerpräsident in Niedersachsen, damit umgehen? Empfiehlt er die Schließung des VW-Werks in Xinjiang, so wie die Wissenschaftlichen Dienste es raten? Das gefährdet das gesamte China-Geschäft von VW und damit Zigtausende Arbeitsplätze in Deutschland. ({2}) Oder wird man sich in Begleitung der Parteifunktionäre der KP vor Ort darlegen lassen, dass Uiguren in Weiterbildungscamps und nicht in Umerziehungslagern sitzen? Dann liefert Ihr Gesetz die Grundlage für chinesische Propaganda, dass in Xinjiang die Welt in Ordnung ist. VW höchstselbst hätte dann seine gesetzliche Sorgfaltspflicht genügend festgestellt. Wie zynisch ist denn das, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({3}) Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft müssen geschlossen für unsere Werte kämpfen, und zwar zusammen, da wo Menschenrechte verletzt werden, und nicht gegeneinander vor deutschen Gerichten. Ein kluges Gesetz schreckt nicht ab, es motiviert die Anständigen zu mehr Handel und mehr Auslandsinvestitionen. Ein kluges Gesetz ist europäisch, es erkennt Brancheninitiativen an, schafft Safe-Harbor-Lösungen, vermeidet Doppelstrukturen, liefert Negativlisten, die Unternehmen helfen, Risiken zu erkennen und einzudämmen. All das steht im FDP-Antrag. ({4}) Ihr Gesetz liefert es nicht. Es wird den eigenen menschenrechtlichen Ansprüchen nicht gerecht. Ihr Meilenstein droht zum Mühlstein zu werden. Wir lehnen ab. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Eva-Maria Schreiber, Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Geehrte Minister Müller und Heil! Es ist wohl sehr selten, dass Die Linke sich mit Herzblut für einen Gesetzentwurf der Regierung eingesetzt hat. Wir haben es diesmal getan, für ein starkes Lieferkettengesetz, um die Menschen zu schützen, die für uns in Afrika oder Südamerika Kakao oder Bananen ernten oder in Asien Kleider nähen. Heute endlich, zehn Jahre nach Einführung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, stimmen wir darüber ab. Minister Heil, Sie sprechen vom stärksten Gesetz Europas, und Sie, Minister Müller, sprechen von einem Meilenstein zur Durchsetzung der Menschenrechte in globalen Lieferketten. Leider ist das in meinen Augen nur die Verpackung; denn inhaltlich stimmen wir heute über einen Gesetzentwurf ab, der mit Ihrem ursprünglichen, sehr guten Entwurf nicht mehr viel zu tun hat. Und die Verantwortung dafür trägt der Wirtschaftsflügel der CDU als verlängerter Arm der Industrie- und Arbeitgeberverbände. ({0}) In den letzten anderthalb Jahren erlebten wir ein Intermezzo aus Verzögerung, Verschiebung, Blockade und Verwässerung. Kanzlerin Merkel und Minister Altmaier haben sich permanent auf höchster Ebene mit den Unternehmensverbänden getroffen. Von solchen exklusiven Terminen konnten Menschenrechtsverteidiger, Gewerkschaften oder die Zivilgesellschaft nur träumen. Kein Wunder, dass dieses Gesetz nur noch ein blasser Schatten dessen ist, was es ursprünglich einmal war und was es sein könnte. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen! ({1}) Dabei brauchen wir ein starkes Gesetz; denn schwere Menschenrechtsverstöße sind in Lieferketten noch immer alltäglich. Ich denke beispielsweise an Kinderarbeit beim Kakaoanbau in Westafrika. Oder nehmen wir die Katastrophe von Brumadinho in Brasilien im Jahr 2019: Hier bescheinigte der TÜV Süd die Stabilität eines Staudamms, obwohl die Mängel bekannt waren. Der Damm brach, 272 Menschen starben. Ein starkes Lieferkettengesetz hätte deren Tod womöglich verhindert. Aber ob das Gesetz einen substanziellen Beitrag zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt leisten wird, das werden wir sehen; zu groß sind seine Lücken. Erstens fehlt eine zivilrechtliche Haftung. Zweitens wird nicht einmal eines von 1 000 Unternehmen von der Regelung betroffen sein. Drittens gelten für Plantagen oder Minen, also die Teile der Lieferketten, wo die meisten Menschenrechtsverletzungen passieren, eben keine vollumfänglichen Sorgfaltspflichten von Anfang an. Und viertens sucht man Ideen wie Klima- oder Geschlechtergerechtigkeit vergeblich. Trotzdem: Wenn man es sehr wohlwollend meint – und das tue ich –, könnte man von einem ersten kleinen, aber wichtigen Schritt von der Freiwilligkeit zur Verbindlichkeit sprechen. Deswegen werden wir das Gesetz nicht ablehnen; aber wegen der Lücken können wir beim besten Willen auch nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war ja schon ein echter Krimi: Der Wirtschaftsflügel der Union, Bundeskanzlerin Angela Merkel und vor allem Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben in den letzten Jahren so einiges versucht, um das Lieferkettengesetz zu blockieren und abzuschwächen. Es spricht wirklich Bände, wie sich ein mächtiger Teil der Union dagegen wehrt, dass Menschenrechte und Klimaschutz in der Wirtschafts- und Handelspolitik endlich die Bedeutung bekommen, die sie verdienen. ({0}) Viele Menschen aus der Zivilgesellschaft, aus den Kirchen, aus den Gewerkschaften, die EU-Kommission, das EU-Parlament und andere Staaten, Minister Müller, Minister Heil, viele Kolleginnen und Kollegen aus der SPD, aus der Linkspartei und auch wir Grüne haben eine andere Auffassung als große Teile der Union und sind überzeugt: Ausbeutung und Umweltverschmutzung dürfen kein Wettbewerbsvorteil mehr sein. ({1}) So viele Produkte werden längst global hergestellt. Der unmittelbare Blick in den Einkaufskorb offenbart nicht, ob auch Menschenrechtsverletzungen drin liegen. Ein wirksames Lieferkettengesetz würde hier Abhilfe schaffen. Dabei muss ein Prinzip immer gelten: Wer global herstellt und handelt, darf sich global nicht aus der Verantwortung stehlen. ({2}) Das Lieferkettengesetz ist dabei ein sehr wichtiger, wenn auch überfälliger Schritt. Trotzdem bleiben Sie mit diesem Gesetz leider, leider hinter dem zurück, was eigentlich notwendig wäre. Wenn Sorgfaltspflichten nur für die direkten Zulieferunternehmen gelten, dann bleibt bei vielen komplexeren Produktionen ein Großteil der Lieferkette außen vor, obwohl wir wissen, dass die gravierendste Ausbeutung oft am Anfang der Lieferkette stattfindet: auf Plantagen und in Minen. ({3}) Auch mit Blick auf den Anwendungsbereich und den Umweltschutz bleibt Ihr Gesetz hinter den Erwartungen zurück. Das größte Versäumnis ist aber die fehlende zivilrechtliche Haftung, die vor allem der Kanzlerin ein Dorn im Auge war. Damit fehlt den Menschen, die unter Ausbeutung oder Umweltzerstörung leiden, die Möglichkeit, besser vor Gericht dagegen vorzugehen. Aber nur wenn Betroffene eine echte Möglichkeit zur Klage haben, kann ein solches Gesetz seine volle Wirksamkeit entfalten. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben noch die Möglichkeit, diese Fehler zu korrigieren. Dafür müssen Sie einfach nur unseren vier Änderungsanträgen hier im Plenum gleich zustimmen. ({5}) Die meisten Menschen und immer mehr Unternehmen haben längst erkannt: Für eine zukunftsfähige Wirtschaft brauchen wir klare Regeln zur Einhaltung der Menschenrechte und zum Schutz der Umwelt. Dabei ist dieses Gesetz ein wichtiger Schritt. Und deshalb stimmen wir trotz der Schwächen als grüne Bundestagsfraktion heute zu. Aber es darf nur ein Einstieg sein. Wir werden nicht lockerlassen, und wir werden unsere Änderungsvorschläge zu diesem Gesetz nicht in der Schublade verschwinden lassen. ({6}) Wenn im Herbst EU-Kommissar Reynders einen Aufschlag für eine EU-weite Regelung machen wird, wollen wir diese und auch alle weiteren Möglichkeiten nutzen, damit es endlich ein echtes Lieferkettengesetz mit zivilrechtlicher Haftung gibt, damit Menschenrechte und Klimaschutz die Bedeutung bekommen, die sie verdienen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bernd Rützel, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht, dass unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt sind. Für diejenigen Unternehmen, die sich daran halten, die entlang ihrer Lieferketten Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung bekämpfen und verhindern, ändert sich nichts. Die sind übrigens auch oft wirtschaftlich erfolgreich. Es ist also eine Mär, zu sagen: Nur wenn man ausbeutet und nicht so genau hinschaut, dann kann man sein Geschäft machen. – Diejenigen, die nicht so genau hingeschaut haben, müssen jetzt hinschauen, die müssen sich kümmern. Ist das zu viel verlangt? Ich meine, nein. David Beasley ist der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Ich konnte ihn öfters treffen und mit ihm sprechen. Seine Berichte über Hungerkatastrophen, über fehlendes Wasser, über Instabilität haben mich so sehr berührt, dass ich mich frage, was die größere Katastrophe ist: das Elend, in dem Menschen leben müssen, oder die Gleichgültigkeit im Hinblick auf Menschenrechte in manchen Chefetagen. Von nun an heißt es hinschauen, sich kümmern, Anteil haben, Abhilfe schaffen, ein Beschwerdemanagement aufbauen, im wahrsten Sinne sich bemühen. Wer das aber nicht tut, dem drohen empfindliche Strafen. Ich danke allen, die an diesem Gesetz mitgewirkt haben, die das ermöglicht haben, die heute diesem Gesetz zustimmen, allen voran den zwei Freunden auf der Regierungsbank – es sind zwei, nicht drei. Ich danke Kerstin Griese, Bärbel Kofler, die das in den Koalitionsvertrag hineingebracht hat, Kerstin Tack, Katja Mast und allen, die beteiligt waren. Vielen, vielen Dank dafür! ({0}) Von all denjenigen, die das verhindert und mit viel, viel Engagement bekämpft haben, wünsche ich mir, dass sie sich mit dem gleichen Engagement mehr für die Menschenrechte einsetzen, und ich wünsche denen, dass sie irgendwann ihren Frieden damit machen. Wir beschließen heute das schärfste Lieferkettengesetz der Welt, ({1}) und es wird eine Richtschnur sein für ein europäisches Lieferkettengesetz. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Hermann Gröhe, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Freier Handel muss fairer Handel werden, damit er allen Menschen zugutekommt – das ist die Überzeugung Christlicher Demokraten und Christlich-Sozialer. Und deswegen ist die heutige Beschlussfassung eines Lieferkettengesetzes ein großer Fortschritt. Es ist ein Stück Internationalisierung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Denn auch die soziale Marktwirtschaft kennt einen verbindlichen Rahmen für unternehmerische Verantwortung: kein Appell an freiwillige Beachtung notwendiger Regelungen, sondern ein Zusammenhang von Sozialstaatlichkeit und wirtschaftlicher Freiheit. Dies ist kein Wettbewerbsnachteil, sondern nachgewiesenermaßen seit Jahrzehnten ein Wettbewerbsvorteil für dieses Land. ({0}) Deswegen: verbindliche Regeln. Gerade Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich in eindrucksvoller Weise im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten um die Beachtung von Menschenrechten bemühen, haben immer wieder gesagt: Wir brauchen Verbindlichkeit; Wegschauen darf kein Vorteil sein. Meine Damen, meine Herren, ich will aber auch zu den parlamentarischen Beratungen etwas sagen und manchem Gerücht hier entgegentreten. Dieses Gesetz verlässt das parlamentarische Verfahren wirksamer und stärker mit Blick auf die Menschenrechte und zugleich rechtssicherer und umsetzbarer für die beteiligte Wirtschaft. Es ist eben falsch, da ständig einen Gegensatz hineinzulesen. ({1}) Nein, wir brauchen beides: Wir weiten den Anwendungsbereich aus – und das ist gut so – auf ausländische unselbstständige Tochtergesellschaften einer bestimmten Größenordnung. Das ist eine Ausweitung; die Einbeziehung beherrschter deutscher Töchter in den eigenen Geschäftsbereich ist eine Stärkung. Gleichzeitig haben wir natürlich Sorgen ernst genommen, wenn uns Menschen gefragt haben: Wie geht ihr mit dem Grundsatz, dass Unmögliches nicht verlangt werden darf, um? Wenn ein Staat wie die Volksrepublik China keine Gewerkschaften zulässt, dann ist natürlich klar, dass das kein Unternehmen ändern kann, und dann ist es auch richtig, dass wir explizit ins Gesetz aufgenommen haben, dass solche Dinge oder auch die Nichtnachverfolgbarkeit des Ursprungs mancher Produkte natürlich Beachtung finden müssen. – Das waren uns wichtige Anliegen. Insofern weise ich auch den Vorwurf zurück, diejenigen, die hier den Unternehmen zugehört hätten, nähmen es mit Menschenrechten nicht ernst. Wir brauchen ein Gesetz, das vernünftige Handelsbeziehungen und Achtung der Menschenrechte gemeinsam stärkt. ({2}) Das ist uns gelungen, und darauf können wir auch stolz sein. Ich möchte sagen: Die Rechtssicherheit nehmen wir ernst, Sorgen nehmen wir ernst. Ich sage gleichzeitig: Ungerechtfertigte Pauschalkritik an diesem Gesetz weisen wir zurück. Wer erklärt, die Herkunftsgeschichte eines jeden Bleistifts im Büro müsse umfangreich dokumentiert werden, der sagt bewusst die Unwahrheit, und das weisen wir an dieser Stelle genauso deutlich zurück. ({3}) Ja, dieses Gesetz ist eine gute Blaupause für die EU, und es ist vor allen Dingen auch für uns ein Anlass – darauf werden wir auch als Parlament achten müssen –, dass der Staat mit Beratungsangeboten, mit Handreichungen, wie sie das Gesetz ausdrücklich nennt, diesen Prozess unterstützt. Insofern bleiben beide, die Politik und die Wirtschaft, weiterhin gefordert. Mit diesem Gesetz gehen wir einen richtigen, einen wichtigen Schritt auf diesem Weg. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Bärbel Kofler, SPD. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe heute hier auch als Menschenrechtsbeauftragte. Ich sage sehr deutlich: Dieser Tag ist ein guter Tag für die Menschenrechte, und das Lieferkettengesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur Einhaltung der Menschenrechte weltweit. ({0}) Es ist ein Paradigmenwechsel. Es reicht nicht mehr aus, freiwillig anzugeben, man würde Standards beachten, und wegzusehen, wenn die Gesundheit von Menschen gefährdet wird, die Zukunft von Kindern zerstört wird und Menschen unter Arbeitsbedingungen schuften müssen, die sie kaputtmachen und nicht ausreichen, um sich selbst oder ihre Familien zu ernähren oder eine Zukunft zu entwickeln. Das ist vorbei. ({1}) Es ist im Inhalt viel Positives erreicht worden. An der Stelle auch der Dank an alle Berichterstatter, die dafür gekämpft haben! Ich nenne für meine Fraktion Bernd Rützel, der sich hier sehr stark eingesetzt hat. ({2}) Ein wichtiger Punkt in der Debatte ist: entlang der Lieferkette. Ich muss mich für mich selbst um Standards sorgen; ich muss es für meinen unmittelbaren Zulieferer tun; ich muss es aber auch für die mittelbaren Zulieferer tun, wenn Kenntnis erlangt wird. Und Kenntnis wird sehr leicht erlangt. Zum Beispiel wird durch seriöse Berichte von Nichtregierungsorganisationen Kenntnis erlangt. Also gelten die Sorgfaltspflichten und die Pflicht zur Erstellung einer Risikoanalyse entlang der gesamten Lieferkette. ({3}) Selbstverständlich gilt: Der Zugang zu effektivem Rechtsschutz ist ein grundlegendes, unverzichtbares Prinzip einer rechtsstaatlichen Ordnung. Das gilt auch für alle, denen Schaden zugefügt wird. Wir erleichtern diesen Zugang durch die Prozessstandschaft; Minister Heil hat es ausgeführt. Aber auch dort, wo das Haftungsrecht Unklarheiten offenlässt, wird mit diesem Gesetz eines klar: In Zukunft müssen Sorgfaltspflichten beachtet werden. Das ist ein sehr, sehr wichtiges Prinzip. ({4}) Wir haben einen Bußgeldkatalog und behördliche Kontrolle. Das heißt – das ist auch in der Anhörung klar geworden –: Das Gesetz hat Zähne und Biss, das Gesetz gilt in der gesamten Lieferkette, und es lässt niemanden aus der Pflicht. Das ist von entscheidender Bedeutung. ({5}) Ich bitte Sie deshalb alle noch einmal hier um die Zustimmung zu diesem Gesetz. Lassen Sie mich zum Schluss auch noch mal allen danken, die an diesem Gesetz mitgewirkt haben. Ich denke an das Arbeitsministerium.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, aber bitte nicht alle einzeln aufzählen, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nicht alle. Herr Präsident, es fühlen sich hoffentlich alle eingeschlossen. Der letzte Satz: Ich glaube, weil der Kollege Sascha Raabe gestern Geburtstag hatte, können wir ihm dieses Gesetz nachträglich noch zum Geburtstagsgeschenk machen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider haben wir nur eine sehr kurze Redezeit für dieses doch so wichtige Gesetz vereinbart. ({0}) Deswegen haben wir uns etwas aufgeteilt. Ich würde gerne zu den Vorwürfen etwas sagen, die unberechtigterweise auch hier geäußert wurden. Ich sage das nicht nur als Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sondern ich sage das, Herr Cronenberg, weil ich genauso Unternehmer bin – seit 30 Jahren – wie Sie. Ich finde: Die Beachtung der Menschenrechte ist selbstverständlich auch Aufgabe der Wirtschaft und nicht nur des Staates. Ich habe mich über Ihre Rede, ehrlich gesagt, geärgert, weil es dem Ansehen der sozialen Marktwirtschaft schadet, wenn wir sagen: Das ist alles nur eine staatliche Aufgabe. ({1}) Herr Springer, was Sie gesagt haben, ist so zynisch, dass ich gar nicht weiß, was ich sagen soll. ({2}) Sie sind diejenigen, die hier vier Jahre lang gesagt haben, wir sollen die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit kürzen, und jetzt sagen Sie, das Gesetz sollen wir nicht machen, weil wir Entwicklungszusammenarbeit machen sollen? Ehrlich gesagt: Dann bleiben Sie doch wenigstens konsistent. ({3}) Auch Ihr Vorwurf, das sei eine deutsche Idee, ist absurd. Es ist eine Idee, die von den Vereinten Nationen vor zehn Jahren geboren wurde, und wir wirken daran, wie andere Länder, mit, und andere Länder haben vor uns entsprechende Gesetze gemacht. ({4}) Ich würde gerne noch etwas zu der Wirksamkeit sagen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Heilmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Bundestagspräsident! Herr Kollege Heilmann, ich halte heute keine letzte Rede; es wird jetzt nach 19 Jahren meine letzte Zwischenfrage als Entwicklungspolitiker sein. Sie haben, was die Wirtschaft angeht, zu Recht gesagt, Herr Heilmann: Diejenigen, die sagen, dass das Gesetz quasi den Unternehmen auferlegen würde, Dinge zu tun, die Regierungen machen müssten, sind die Gleichen, die immer verhindern, dass bei EU-Handelsabkommen die Nachhaltigkeitskapitel verbindlich sind. Ich glaube, das festzuhalten, ist eigentlich ganz wichtig. Ich möchte an der Stelle einfach nur sagen – genauso wie viele hier, die das 19 Jahre lang vor Ort gesehen haben –: Wenn man gesehen hat, dass Kinder in Löcher runtergelassen werden, um Diamanten zu klopfen, wenn man all das Elend gesehen hat, bin ich wirklich glücklich, dass wir heute diesen historischen Schritt machen. Ich danke hier allen. Wir haben jetzt endlich die ODA-Quote von 0,7 Prozent erreicht; wir haben jetzt das Lieferkettengesetz erreicht. Das ist mir das schönste Geburtstagsgeschenk und das schönste Abschiedsgeschenk. Ich wünsche allen Nachfolgerinnen und Nachfolgern, dass das Gesetz mit Leben erfüllt wird und wir wirklich heute den ersten Schritt in eine Welt ohne Ausbeutung und Hunger machen. In dem Sinne: Vielen Dank für die Zusammenarbeit. Das war mein letzter Satz, mein letztes Wort. Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die freundschaftliche, gute Zusammenarbeit und wünsche dem Parlament eine gute Zukunft. Danke. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vorweg: Ich glaube, ich spreche im Namen nahezu aller Mitglieder des Hauses, dass man Ihnen für die 19 Jahre im Deutschen Bundestag und für Ihr Engagement für die Menschenrechte danken kann. ({0}) Ich habe die Frage noch gar nicht beantwortet. Ich bin in einer Nuance anderer Meinung als Sie. Das ist nicht der erste Schritt, den wir tun; aber es darf und wird ganz gewiss auch nicht der letzte sein. 1859 hat Preußen die Buchprüfungspflicht eingeführt, weil man damals zu der Erkenntnis kam, dass die Erstellung richtiger Bilanzen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht nur eine Verpflichtung ist; das war auch sehr wirksam. Aber wir haben – bis wir zu unserem heutigen Wirtschaftsprüfungsrecht gekommen sind, das, wie wir bei Wirecard gesehen haben, nach wie vor noch Lücken hat – diese gesetzliche Grundlage – ich weiß nicht, wie oft – in der Welt modifiziert und verbessert. Und so werden wir ganz sicher bei dieser schwierigen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte überall in der Welt zur Geltung kommen, noch ganz oft – und sicher nicht nur im Deutschen Bundestag – nachbessern müssen. Auch das ist Teil dieser Aufgabe. Wenn ich das sagen darf, lieber Hubertus Heil: Sie haben gesagt, Nike sei auch verpflichtet. Das stimmt leider – und ich sage bewusst: leider – nicht; denn die UN hat vor zehn Jahren aus meiner Sicht den Fehler begangen, entsprechende Verpflichtungen an Mitarbeiterzahlen festzumachen und nicht am Umsatz, was ich persönlich für besser gehalten hätte. Zurück zu den Einwänden. Frau Brugger, ich wollte Ihnen sagen: Es stimmt einfach nicht, was Sie sagen. Ich selber bin seit zwölf Jahren in einer NGO engagiert. Wir haben sehr viel mit NGOs geredet, auch der Wirtschaftsflügel. Aber es ist wichtig, dass ein Gesetz handhabbar und praktisch ist. Dazu gab es Bedenken, und die muss man auch verstehen. So schafft man gesellschaftlichen Konsens und ein Miteinander. Jetzt steht auch der Wirtschaftsflügel hinter dem Gesetz, ({1}) das Sie selber als vielleicht noch nicht wirksam genug, aber immerhin als wirksam bezeichnet haben. Meine Redezeit ist zu Ende; deswegen möchte ich nun abschließen. Ich bin persönlich als Unternehmer, als Mitglied dieser CDU/CSU-Bundestagsfraktion und als jemand, der seit zwölf Jahren für die älteste Kinderrechtsorganisation der Welt, Save the Children, arbeitet, stolz darauf, dass wir heute diesen Meilenstein verabschieden können. Ich freue mich über jede und jeden, die oder der heute zustimmt. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, für die Möglichkeit, eine Erklärung zur Abstimmung abzugeben. – Es ist erstaunlich, was wir hier heute gesehen haben: Zwei deutsche Minister sowie die Regierungsparteien haben mit keinem Wort darüber gesprochen, was dieses Gesetz eigentlich für die deutschen Unternehmen bedeutet. ({0}) Sie alle haben moralisiert, auf die Welt geblickt; aber keiner hat darüber gesprochen, was das eigentlich konkret für den deutschen Unternehmer bedeutet, nämlich – es wurde angesprochen – eine Verschiebung der Verantwortlichkeit weg von Staaten, hin zu ausschließlich deutschen Unternehmen, die zukünftig in einer Art weltweiten Lieferkettenpolizei für ökologische und soziale Standards sorgen müssen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Frohnmaier, das Instrument der Erklärung zur Abstimmung dient eigentlich dazu, Ihr persönliches Abstimmungsverhalten abweichend von der Argumentation Ihrer Fraktion zu erläutern. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Darauf komme ich gleich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wir sind sehr in einem Grenzbereich. Ich war großzügig und habe Ihnen die Möglichkeit geben, diese mündliche Erklärung abzugeben. Aber bitte versuchen Sie nicht, die Debatte zu verlängern; sonst muss ich Ihnen das Wort entziehen. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident. – Daher lehne ich dieses Gesetz ab. Ich will nur auf einen einzigen Punkt noch hinweisen dürfen: ({0}) Dieses Gesetz wird dazu führen, dass insbesondere kleine Unternehmen benachteiligt werden, weil sie die Standards nicht einhalten können. – Vielen Dank. ({1})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Ein neuer Aufbruch für Europa“ – damit war dieser Koalitionsvertrag überschrieben. Und als er unterschrieben wurde, konnte keiner von uns ahnen, in welche herausfordernden Zeiten Europa gehen wird, welche Dinge wir bewältigen mussten. Es ist schon bemerkenswert, dass wir heute sagen können: Europa ist in dieser Krise nicht auseinandergefallen. Europa ist in den letzten Monaten solidarisch zusammengewachsen. Das ist wahrlich ein Aufbruch in Europa gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es ist bemerkenswert, dass es in vielen Verhandlungen gelungen ist, sich auf große Pakete innerhalb der Europäischen Union zu einigen, um den gesamten europäischen Binnenmarkt zu stabilisieren. Da war das erste Paket gleich zu Beginn der Pandemie, 540 Milliarden Euro schwer, aus dem unter anderem das europäische Kurzarbeitergeld finanziert wurde, ein Projekt, welches das deutsche Kurzarbeitergeld zum Vorbild hat, das ein Erfolgsgarant dafür ist, dass wir heute wesentlich besser durch die Krise gekommen sind als viele andere Länder, und welches in anderen Ländern adaptiert wird. Ich habe in der letzten Sitzung des Haushaltsausschusses gelernt, dass der Begriff „Kurzarbeitergeld“ mittlerweile auch im Englischen ein stehender Begriff für das deutsche Erfolgsrezept ist. Es war richtig und wichtig, das nach Europa zu transformieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Es ist in einer Zeit, in der wir ja nicht nur Corona hatten, sondern auch noch den Brexit, gelungen, einen europäischen Haushalt auf den Weg zu bringen, 1 Billion Euro schwer, und auch das einstimmig innerhalb der Europäischen Union. Am Ende steht der große Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ und damit die klare Botschaft, dass auch wir wissen: Wir werden als Bundesrepublik nur dann wieder wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn die gesamte europäische Wirtschaft wieder erfolgreich ist. Auch das ist gelungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Mein Dank gilt an dieser Stelle ganz ausdrücklich denjenigen, die das verhandelt haben, und vorneweg dem deutschen Finanzminister, der dafür gesorgt hat, dass Europa solidarisch zusammengewachsen ist. Das war eine Leistung mit viel Beharrlichkeit. Ich finde, das verdient unsere Anerkennung. ({3}) Solidarität endet ja nicht an der europäischen Außengrenze. Viele von uns haben es nicht für möglich erachtet, dass sich am Ende die G‑7-Staaten darauf verständigen, dass es eine globale Mindeststeuer geben wird, dass Unternehmen wie Amazon, wie Ebay endlich auch dort Steuern zahlen, wo sie Gewinne erwirtschaften. Dass wir jetzt an diesem Punkt sind, dass es diese Vorlage für die G‑7-Konferenz gibt, ist das Verdienst des deutschen Bundesfinanzministers Olaf Scholz. Das ist eine historische Wendung in der globalen Finanzpolitik, ({4}) und ich finde, das gehört in dieser Debatte auch erwähnt. ({5}) Abschließend: Heute beraten wir eine weitere Reform des ESM; das ist erneut Ausdruck der Handlungsfähigkeit der europäischen Solidargemeinschaft. Es gibt zwei Änderungen, die für viele sehr technisch sein mögen. Das sind Haushälter gewohnt; wir arbeiten viel mit Technik. Aber am Ende bedeutet diese Technik für viele Menschen im Zweifel sehr viel. Wir vereinfachen den Zugang zur vorsorglichen Kreditlinie; denn wir wollen, dass Staaten, die ins Straucheln kommen, sich beim ESM bedienen können und nicht die ganze Zeit das Damoklesschwert der Troika im Nacken haben und die Angst, in ihrem Land abgewählt zu werden, weil sie versuchen, ihren Staatshaushalt, ihre Wirtschaft zu retten. Deshalb verabschieden wir uns von der Troika und regeln ab sofort den Zugang über ein Memorandum of Understanding. Das ist der richtige Schritt. Wir brauchen diese vorsorgliche Kreditlinie; aber sie muss auch funktionieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wir machen den ESM am Ende zur Letztsicherung für den europäischen Bankenrettungsschirm. Das klingt auch technisch, bedeutet aber, dass in einer Haftungskaskade erst mal die Gläubiger für die Bank einstehen müssen und der ESM quasi der Letztsicherungsmechanismus ist, man also nicht mehr Wetten darauf abschließen kann, dass eine Bank „too big to fail“ ist. Das sorgt für Stabilität im Euro-Raum. Das ist auch eine wichtige Entscheidung, die getroffen wurde, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir haben in dieser Legislaturperiode einen neuen Aufbruch für Europa initiiert, so wie der Koalitionsvertrag überschrieben war, in Zeiten, die wir bei Unterschrift des Koalitionsvertrages nicht vorhersehen konnten. Europa ist in dieser Krise solidarisch zusammengewachsen. Auch das bringt der heutige Beschluss zum Ausdruck. Oder um es mit Friedrich Schillers „An die Freude“ zu sagen: „Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwert geteilt.“ ({8}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Ich wollte eigentlich zur Sache sprechen, ({0}) nämlich zum Stabilitätspakt. Aber: Der Jubel über die Billionen-Schulden-Arie, die jetzt Herr Rohde angestimmt hat, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird uns allen und der nächsten Generation, von der immer die Rede ist, auf die Füße fallen, sodass uns Tränen in den Augen stehen werden. ({1}) Insofern können wir diesen Jubel leider überhaupt nicht teilen. Wir beraten heute vier Gesetze zur Reform des ESM, einer Euro-Rettungseinrichtung für Euro-Mitgliedsländer, die in finanzielle Not geraten sind, eine Einrichtung, die 2012 geschaffen worden ist im Nachgang zur Staatsschuldenkrise. Im Kern geht es um die vorzeitige Vergemeinschaftung der nationalen Bankenabwicklungsfonds, um die Einrichtung einer Letztsicherung für den Fall, dass die Mittel des einheitlichen europäischen Bankenabwicklungsfonds nicht ausreichen, um die Befähigung des ESM, die finanzielle Situation aller ESM-Mitgliedsländer zu überwachen, um die Einführung von standardisierten und identischen Umschuldungsklauseln für Staatsanleihen sowie um die weitere Aufweichung der Konditionalität bei den sogenannten vorsorglichen Kreditlinie des ESM für notleidende Euro-Staaten. In den Ausschussberatungen traten erwartungsgemäß erhebliche Probleme zutage. So attestierte der Bundesrechnungshof vorgestern wieder eindrücklich, dass die vorzeitige Einführung der Letztsicherung ohne Not geschieht und Fehlanreize zur Inanspruchnahme des Abwicklungsfonds setzt. Die faulen Kredite, die Non-performing Loans, der südeuropäischen Banken sind nicht hinreichend abgebaut. Die Situation hat sich durch die Coronakrise noch weiter verschärft; wir kennen sie eigentlich gar nicht ganz genau. Deshalb hatte bis vor Kurzem auch die Bundesregierung die vorzeitige Einführung der ESM-Letztsicherung für den privaten Bankenabwicklungsfonds verweigert. Leider hat sie diese Haltung aufgegeben. Die vorsorglich konditionierte Kreditlinie des ESM, die PCCL, soll nun ohne verbindliche Konditionen gewährt werden. Der Kollege bejubelt das. Wir bedauern das. ({2}) Es sollen reine Absichtserklärungen, Letters of Intent, ausreichen. Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt ist etwa 400-mal gerissen worden, ohne dass die EU je eingeschritten wäre, was sie nach dem Gesetz und nach den Verträgen tun muss. Sie können sich also vorstellen, was mit Letters of Intent passiert. Die gehen vom Posteingang in den Papierkorb. Auch das also ist ein Fehler. Weder die Einrichtung der vorsorglichen Kreditlinien noch die Niederschwelligkeit des Kreditzugangs ist mit Artikel 136 Absatz 3 AEUV, der seinerzeit nach dem ESM-Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffen wurde, vereinbar. Ich zitiere: Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Und jetzt kommt es: Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen. Ist der Letter of Intent eine strenge Auflage, meine Damen und Herren? ({3}) Wollen Sie das EU-Recht mit Füßen treten und dann hier anschließend eine Parole über die Rechtsstaatlichkeit ablassen? Einer der Sachverständigen vertrat darüber hinaus im Ausschuss den Standpunkt, dass die Inhalte des ESM-Änderungsvertrags Verfassungsrelevanz im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz haben und daher die Notwendigkeit für eine Zweidrittelmehrheit besteht. Die wollen Sie aber heute nicht. Die ist nicht Gegenstand des Verfahrens. Also nicht einmal diesen Schritt der Rechtsstaatlichkeit mögen Sie gut leiden. Ein solches Vorgehen hier und heute ist nicht vorgesehen. Die hier zur Abstimmung stehende Reform des ESM widerspricht dem Schutzgedanken des Artikels 36, Absatz 3, der die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages gegenüber dem ESM schützt. Meine Damen und Herren, die Endverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten geht also ungebrochen weiter. Die Haftungsgemeinschaft wird ausgebaut. Der Euro wird dies alles nicht aushalten, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir von CDU und CSU teilen die BRH-Kritik ausdrücklich nicht. Was hat es mit der Letztsicherung auf sich? Es wird ja immer verschwiegen, dass es zwei Vorstufen gibt – das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Situation –: Erstens. Zunächst müssen Eigentümer und Gläubiger die Restrukturierung der Bank leisten. Dieses Bail-in-Instrument umfasst über 8 Prozent der Bilanzsumme; dafür wird kein Steuergeld in Anspruch genommen. ({0}) Zweitens. Der europäische Abwicklungsfonds wird mit einer Bankenabgabe in einer Größenordnung von 68 Milliarden Euro gefüllt. Und dann erst kommt die dritte Stufe, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages kann es kein Darlehen des ESM an den Abwicklungsfonds geben; das ist einfach die Tatsache. Ich bin schon dafür, dass man hier faktenbasiert argumentiert. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese ESM-Reform ist ein Stück Weiterentwicklung von Europa. Wenn es 1990 kein friedliches und geeintes Europa gegeben hätte, wären die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen und könnte ich heute nach 31 Jahren Politik, 15 Jahre im Landtag und 16 Jahre im Bundestag, nicht meine letzte Rede halten. Ich schließe mich dem an, was Thomas de Maizière gestern in seiner Rede gesagt hat: Wir sollten ein wenig mehr stolz auf Erreichtes sein. ({2}) Heute wurde ein Interview mit Robert Habeck veröffentlicht. Sein Fazit war: Die Wende ist nicht positiv besetzt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist keine Wende gewesen. Es war eine Friedliche Revolution. Das ist die erste Bemerkung von meiner Seite. ({3}) Natürlich kann man Dinge kritisch sehen – ich bin wahrlich nicht als Schönredner bekannt –; aber nehmen wir das Thema Lebenserwartung. Noch nie in drei Jahrzehnten gab es in einer Region auf dieser Welt eine so stark gestiegene Lebenserwartung wie in den fünf neuen Bundesländern – nirgendwo. Oder nehmen wir die Umweltbelastung. Ich habe noch den Geruch meiner Schwerkraftheizung, in die Braunkohlengrus geschmissen werden musste, weil nichts anderes da war, aus dem Jahr 1989 in der Nase. Oder sehen wir uns Daten aus der Region Leipzig/Bitterfeld zur Umweltbelastung an. Oder nehmen wir die Frage, wie man mit den Schwächsten der Gesellschaft umgeht. War jemand von Ihnen 1990/91 mal in einem Pflegeheim, wo 40 zu Pflegende eine Toilette und ein Waschbecken hatten und auf einem Flur gelegen haben? ({4}) Heute ist das gänzlich anders. Heute gibt es auch moderne Krankenhäuser. Oder nehmen wir die Forschungseinrichtungen. Im letzten Jahrzehnt sind in den neuen Bundesländern mehr als ein Dutzend Forschungseinrichtungen gegründet worden, allein fünf in Mecklenburg-Vorpommern: drei Fraunhofer-Institute, ein DLR-Institut und ein Helmholtz-Institut in Greifswald. – Auch das, finde ich, gehört zur Wahrheit dazu. ({5}) Viele sind überrascht; aber es ist ein Fakt – man sollte sich auch hier nicht von Gefühlen leiten lassen –: Die Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter ist im Osten Deutschlands nur ein Drittel so hoch wie im Westen Deutschlands. Das hat Gründe. Oder nehmen wir das Thema Rente. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind heute bei einer Ost-West-Rentenangleichung von fast 98 Prozent. Man muss sich einmal den Rentenbericht der Bundesregierung anschauen, um sich zu vergegenwärtigen, was die westdeutschen Steuer- und Beitragszahler geleistet haben, damit wir in 30 Jahren von 40 Prozent auf diese 98 Prozent gekommen sind. ({6}) Man muss nicht ständig – aus meiner Sicht jedenfalls nicht – eine Negativdebatte führen. – Ich hätte auch ein anderes Zitat als das von Robert Habeck nehmen können; aber es passte, weil das gerade heute in der „Ostsee-Zeitung“ stand. ({7}) Viele Dinge, die die Friedliche Revolution hervorgebracht hat, werden gar nicht mehr genannt: Demokratie, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, ja, auch Religionsfreiheit. Ich kann da Geschichten erzählen: Ich bin in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, Stichwort „Jugendweihe“ usw. usf. Das ist heute alles kein Thema mehr. Deswegen kann ich nur sagen: Aus meiner Sicht sollten wir insgesamt wirklich stolzer auf das sein, was wir erreicht haben, ohne schönzureden. Lassen Sie mich noch eine letzte Anmerkung als Haushälter machen: Es gab am 5. Mai in Karlsruhe ein sehr interessantes Urteil zum Klimaschutz. Ich habe das dann noch mal in Artikel 20 a, Staatszielbestimmung, und Artikel 115 Absatz 2 Satz 1 nachgelesen. ({8}) Das sollte zum Thema Schuldenmachen jeder mal tun. ({9}) Ich finde, Schuldenmachen bedarf keiner Kraftanstrengung. Der Schuldenabbau wird aber einer großen Kraftanstrengung bedürfen. ({10}) Ich werde immer wieder gefragt, was tolle, gute Momente waren. Das war eine November-Bereinigungssitzung, wo wir im Soll-Haushalt 2015 keine neuen Schulden mehr gemacht haben. Ich werde auch immer wieder gefragt, was ich vermissen werde. Vermissen werde ich die Kollegialität aus dem Haushaltsausschuss. ({11}) – Ja, Kollegin Lötzsch, die vielleicht auch. ({12}) Aber besonders vermissen werde ich das Bierchen und das Weinchen, das wir nach der Bereinigungssitzung gemeinsam getrunken haben, über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg. Danke. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lieber Herr Kollege Rehberg, ich bin nicht ganz unbefangen; dafür haben wir zu lange und zu eng in anderer Funktion zusammengearbeitet. Der fraktionsübergreifende Beifall und die stehenden Ovationen drücken mehr aus, als man mit Worten sagen kann. Sie waren eine starke Stimme für das vereinte Deutschland. Sie waren eine starke Stimme für eine nachhaltige Finanz- und Haushaltspolitik. Sie waren ein toller Kollege, von allen Fraktionen angesehen. Wir werden Sie vermissen. Sie haben sich um dieses Parlament und auch um den Parlamentarismus wirklich verdient gemacht. Herzlichen Dank und alle guten Wünsche! ({0}) Otto Fricke, FDP, ist der nächste Redner. ({1})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Nach Ecki Rehberg zu reden und nach den von Ihnen ja vollkommen zutreffenden Worten zu Ecki Rehberg will ich nur zwei, drei Sätze ergänzen, und ich glaube, ich spreche sowohl im Namen der Haushälter als auch aller anderen, die dich kennen. Ich danke dir für sehr viele Jahre Zusammenarbeit, mal miteinander, mal gegeneinander. Dir war es wichtig – das hast du als Parlamentarier und auch als Haushälter verstanden –, danach immer in der Lage zu sein, wie du es gesagt hast, „das Weinchen oder das Bierchen“ – wer keinen Alkohol trinken wollte, konnte auch etwas anderes trinken, bekam dann aber eine Spruch von dir – zusammen zu trinken. ({0}) Ich möchte dir für meine Fraktion sagen: Wir werden dafür sorgen, dass du sicherlich auch in den nächsten Jahren eine Einladung bekommst, an einer Bereinigungssitzung teilzunehmen, wenn du Lust und Laune hast; denn dein Rat ist uns wichtig. Deine Erfahrungen sowohl aus dem Landtag, aus deiner Geschichte als auch aus den Jahren hier im Bundestag haben uns am Ende immer geholfen, zu Lösungen zu kommen. Notfalls laden wir dich als Sachverständigen ein; das würde, glaube ich, dem Haushaltsausschuss auch in Zukunft ganz guttun. Meine Damen und Herren, wir beschließen heute vier Gesetzentwürfe sowie Änderungen von weiteren Gesetzen; der Präsident hat es zu Beginn der Debatte gesagt. Das in einer Rede von drei Minuten oder in einer halbstündigen Debatte abzuhandeln, ist eigentlich unverantwortlich. ({1}) Andere Parlamente diskutieren hier mehrere Stunden und mehrere Tage; das wird dieser wichtigen Aufgabe nicht gerecht. ({2}) Die Zeit, in der wir uns gerade befinden, ist hinsichtlich der Finanz- und Haushaltspolitik entscheidend. Ich bin mir sicher, dass man in wenigen Jahren auf dieses Jahr zurückschauen und fragen wird: Was ist da passiert? Was wurde da falsch gemacht? Warum ist mit dem Geld so umgegangen worden? – Die Berichte und Meldungen zu den Masken und Intensivbetten sind ja nur ein Teil davon. Ich frage den Finanzminister: Wo sind Sie eigentlich, wenn es darum geht, wofür von dieser Bundesregierung Geld ausgegeben wird? Ich hätte mir von Ihnen viel, viel mehr Kontrolle, viel mehr Überprüfung erwartet, statt immer nur zu sagen: Ach, das macht der jeweilige Fachminister. – Sie sind nicht nur einfach Finanzminister; Sie sind auch Haushaltsminister. Sie müssen auf das Geld achten. Das tun Sie zu wenig. ({3}) Meine Damen und Herren, die derzeitige Lage ist eine Kombination aus expansiver Geldpolitik und expansiver Finanzpolitik, einhergehend mit einem im Moment doch lebhaften Konjunkturaufschwung. Gleichzeitig redet aber niemand über Stabilität. Es geht nur um Wachstum, Wachstum, Wachstum. Ich finde es immer interessant, wenn die linke Seite das tut. Ich halte meine Ausführungen zu diesem Gesetzentwurf sehr kurz; denn wenn man ins Detail ginge, müsste man lange reden. Das, was hier beim ESM passiert, ist viel zu wenig. Wir brauchen einen ESM, der wirklich funktioniert, aber nicht einen, der nur Geld vergibt, sondern einen, der auch vorgibt, was zu tun ist, welche Reformen notwendig sind, was Wachstum erzeugt, aber eben auch Stabilität. Dafür reichen die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht aus. Das ist viel zu wenig. Es findet kein Beschluss mit Zweidrittelmehrheit statt, obwohl alle immer betonen, wie wichtig und entscheidend das ist. Das Memorandum of Understanding fehlt; man einigt sich nicht auf eine Position, sondern es gibt einen Brief, in dem gesagt wird, was man vorhat. Wir alle wissen, was passiert, wenn jemand Geld haben möchte und sagt, was er damit vorhat, aber zu nichts verpflichtet ist. ({4}) Das Vorziehen der Bankenletztsicherung ist falsch. Es gibt keine seriöse Parlamentsbeteiligung bei zukünftigen Eilentscheidungen, 12 Stunden, 24 Stunden. All das will ich hier nur kurz aufzählen. Da der Kollege Rhode mit Schiller geendet hat, will ich das auch tun. „Die Räuber“, erster Akt, zweite Szene: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug hätte werden können.“ Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind nun am Ende der Legislaturperiode, und da fällt besonders auf, was von der Regierung vorangetrieben und was vernachlässigt wurde. Heute hat uns die Regierung eine Bankengrundsicherung vorgelegt. Ich und meine Fraktion hätten heute lieber über eine Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut diskutiert. Das wäre die richtige Schwerpunktsetzung gewesen. ({0}) Ja, es ist eine Bankengrundsicherung. Die Bundesregierung behauptet zwar, die Casino-Banken könnten in Zukunft ihre Spielschulden nicht mehr bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern abladen. Das Gegenteil ist die Wahrheit. Der aktuelle Bericht des Bundesrechnungshofes sagt deutlich, dass auch bei einer nächsten Finanzkrise letztlich die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Rechnung bezahlen müssen, und das können wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren. ({1}) Die ganze Reform ist eine Nebelkerze. Während der Finanzkrise 2008 beschrieb ich Spekulanten als „Taliban im Nadelstreifen“. Der damalige Bundestagspräsident hat mir dafür einen Ordnungsruf erteilt. Aber das Leben hat mir recht gegeben. Es ist doch offensichtlich, dass uns die großen Banken terrorisieren, und das muss ein Ende haben, meine Damen und Herren. ({2}) Ein Beispiel: Die Zentralbank in Taiwan hat die Deutsche Bank für zwei Jahre vom Handel mit Devisenderivaten ausgeschlossen. Warum? Die Banker der Deutschen Bank halfen Spekulanten, die Getreidepreise zu manipulieren, und so wurden die Getreidepreise in astronomische Höhen getrieben. Menschen in armen Ländern können sich ihr Brot nicht mehr leisten. Das ist menschenverachtend. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren. ({3}) Ein Blick zurück. Die Banken wurden vor der Finanzkrise 2008 mit Unterstützung von Union und SPD zu Spielcasinos umgebaut. Die Deregulierung der Finanzmärkte hat zur schwersten Finanzkrise nach dem Zweiten Weltkrieg geführt. Und nun? Die Antwort ist eine Bankengrundsicherung. Was wir wirklich brauchen, ist eine klare, eine strenge Regulierung der Finanzmärkte. Nur so können wir künftige Krisen verhindern, meine Damen und Herren. ({4}) Auch die Spekulation mit Lebensmitteln muss endlich verboten werden. Was tun Sie, Herr Finanzminister, damit die Deutsche Bank von Frankfurt aus nicht weiter ihre schmutzigen Geschäfte betreiben kann? Gibt es eigentlich so etwas wie eine wirksame Finanzaufsicht in unserem Land? Sogar die US-Notenbank hat die Deutsche Bank für ihre unzureichenden Compliance-Regeln kritisiert. Meine Damen und Herren, schon lange warten wir auf die ewig versprochene Finanztransaktionsteuer. Auch hier besteht Handlungsbedarf. Es gibt viel zu tun für die nächste, für eine neue, für eine bessere Regierung. Packen wir es an! ({5})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus ist in einem Punkt ein entscheidender, überfälliger Schritt nach vorn. Die Letztsicherung für den Bankenabwicklungsfonds kommt. Damit machen wir das europäische Abwicklungsregime endlich glaubwürdig. Das macht es wesentlich wahrscheinlicher, dass Banken in Zukunft nicht wieder mit Steuergeld gerettet werden müssen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir den europäischen Bürgerinnen und Bürgern eigentlich schon lange schuldig. ({0}) Deshalb werden wir Grüne dieser Reform auch zustimmen. Aber neben diesem einen Lichtblick gibt es bei dieser Reform auch viel Schatten. Die Bundesregierung hatte gemeinsam mit Frankreich in Meseberg, Herr Scholz, den Anspruch formuliert, die Wirksamkeit der vorsorglichen Kreditlinien für unschuldig in Not geratene Staaten zu verbessern. Hier sind Sie wirklich krachend gescheitert. Die Reform erschwert den Zugang und schreibt realitätsferne Kriterien fest, die kaum ein Land in einer Krise wird erfüllen können. Damit machen Sie den ESM für die Zukunft weniger handlungsfähig. Das ist nicht nur eine verpasste Chance. Das ist echt ein Stabilitätsrisiko für die Euro-Zone. ({1}) Außerdem hat die Pandemie gezeigt: Es gibt eine extreme Zurückhaltung in vielen Ländern, auf die Kredite des ESM auch wirklich zurückzugreifen. Gleichzeitig wurden die Kredite aus dem SURE-Programm breit angenommen. Das zeigt: Der ESM hat ein echtes Akzeptanzproblem. Das muss uns sorgen; denn wir können kein Interesse daran haben, dass in einer zukünftigen Krise Länder zu spät Hilfe beantragen. Das macht es nämlich für alle unnötig teurer. Deswegen kann diese Flickwerkreform nicht das Ende der Diskussion sein. Im Gegenteil: Wir brauchen einen echten Umbau des ESM in einen Europäischen Währungsfonds: ({2}) im Rechtsrahmen der EU, unter Kontrolle des Europäischen Parlaments, mit einem kohärenten Instrumentenkasten, der Ländern in Krisensituationen wirklich die Hilfen zur Verfügung stellt, die sie brauchen, und die Bedingungen stellt, die der jeweiligen Situation angemessen sind. Davon, Herr Scholz, ist der ESM nach dieser Reform weiter entfernt als vorher. Sehr geehrte Damen und Herren, diese Reform ist das beste Beispiel für die europapolitische Mutlosigkeit, die diese Koalition vor der Pandemie ausgezeichnet hat. Gott sei Dank sind Sie wenigstens in der Krise aufgewacht und haben mit dem Wiederaufbauinstrument die richtigen Reflexe gezeigt. Doch für die nächsten Jahre ist klar: Wir dürfen hier in Deutschland nicht wieder in den Schlafwagenmodus zurückfallen. Europa braucht hier wirklich die Reform, um es für unsere Bürgerinnen und Bürger sicher aufzustellen. Ich hoffe, dass wir das in der nächsten Legislaturperiode angehen können. An dieser Stelle ein Dank an Ecki Rehberg. Ich bin nicht im Haushaltsausschuss und habe Sie trotzdem sehr geschätzt. Von daher: Herzlichen Dank! Ich danke Ihnen. ({3})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung der EU für seine Mitgliedstaaten zeigt sich nicht in Gutwetterperioden, sondern in Krisenzeiten. Die Finanzkrise 2008/2009 und auch die Griechenlandkrise haben erneut zu der Einsicht geführt, dass wir als Gemeinschaft nur in Solidarität überleben können, auch in der Finanzwelt. Deshalb wurde von den 19 Euro-Staaten ein Schutzschirm, EFSF, eingerichtet. Dieser wurde durch die Gründung einer internationalen Finanzinstitution, des ESM, abgelöst. Aber keine Institution ist von vornherein so perfekt, dass man sie nicht noch verbessern könnte. 2014 einigten sich die Euro-Staaten darauf, dass der ESM auch Banken direkt rekapitalisieren darf. Jetzt wird gerade dieses Finanzhilfsinstrument weiter verbessert. Vielen Dank, Olaf Scholz. ({0}) Wir wollen schließlich nicht mehr erleben, dass eine nächste Finanzkrise wie ein Tsunami die ganze EU bzw. einzelne Mitgliedstaaten überrollt und nachhaltig schädigt. Die Schuldentragfähigkeit in der EU müssen und werden wir stärken. Der ESM bedeutet in der Tat auch ein weiteres Stück des Zusammenwachsens der Mitgliedstaaten. Solidarität ist hier das Zeichen der Zeit, nicht Individualismus: Der führt ins Abseits. Ich bin jetzt seit fast drei Jahrzehnten Mitglied dieses Hohen Hauses und habe daran mitarbeiten dürfen, dass sich unter dem Vorzeichen der Solidarität unsere Gesellschaft in vielen, wenn auch kleinen Schritten zum Besseren veränderte. Ein Land mit weit über 80 Millionen Einwandern verändert man nicht mit ein, zwei großen Würfen. Dazu bräuchte man eine Revolution, und oft sind die ziemlich blutig. Wir Sozialdemokraten waren und sind immer bemüht, Konsens herbeizuführen, weil sich nur dann Veränderungen tatsächlich bewerkstelligen lassen. Eine der ersten Veränderungen für mich war 1995 die Einführung der Pflegeversicherung. Ob Sie es glauben oder nicht: Diese Versicherung ist eine Bürgerversicherung, weil sie von Anfang an alle mit einbezogen hat. Rentenreform, Mindestlohn, Kinderbetreuung, Gleichstellung und viele andere Stichworte könnte ich nun nennen, bei denen ich in den 27 Jahren erlebt habe, dass sie zum Gesetz wurden und das Leben vieler veränderte, ich sage: verbesserte. ({1}) Dass ich daran mitarbeiten durfte, gibt mir noch immer ein unglaublich gutes Gefühl. Als Abgeordnete konnte ich wirklich mitgestalten. Eine von 709 Menschen aus einer Bevölkerung von 83 Millionen: Dafür möchte ich mich von Herzen bei all den Menschen bedanken, die mir mit ihrer Stimme ihr Vertrauen gegeben und mich hierhergebracht haben, bei meiner Partei und meiner Fraktion, die mich getragen haben. Danken möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppen und Ausschüsse, denen ich angehörte und angehöre, jetzt zuletzt dem Haushaltsausschuss und dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit, wo wir über Fraktionsgrenzen hinweg gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet haben. Die Weichen stellen, Veränderungen im Haushalt vornehmen, über Hunderte von Milliarden Euro abzustimmen, das ist schon eine große Herausforderung und auch eine große Verantwortung. Es war eine tolle, aufregende, anstrengende Zeit. Aber ich habe gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und ich kann mich auch auf die Mitarbeiter/-innen der Fraktion und der Bundestagsverwaltung und der Ministerien verlassen. Besonders herausfordernd war die Arbeit als Delegationsleiterin der OSZE-PV. Mit einem neuen Format, super unterstützt vom Auswärtigen Amt, dem Leinsweiler Seminar, konnte ich Konfliktparteien zusammenbringen und ihnen die Möglichkeit bieten, sich anzunähern und somit Konfliktlösungen auszuloten. Den ganzen Stress kann niemand lange ertragen, wenn er oder sie nicht Menschen im privaten Bereich hat, die einfach nur da sind. Meinen Mann habe ich in den 27 Jahren höchstens die Hälfte der Zeit gesehen, wusste ihn aber immer zu 100 Prozent an meiner Seite. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, achten Sie darauf, dass Sie sich diese Stärke in Ihrem Privatleben bewahren. Dann können Sie auch viel mehr Stress ertragen. Ich wünsche Ihnen von dieser Stelle aus alles Gute, bleiben Sie gesund und eine gute Zukunft für dieses Land! Mir war es eine große Ehre, hier mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Frau Kollegin Barnett, der fraktionsübergreifende Dank drückt den Respekt und das Ansehen und die Sympathie, die Sie sich in Ihrer langen parlamentarischen Amtszeit bei allen Fraktionen erworben haben, besser aus, als es Worte sagen können. Ich möchte als Bundestagspräsident zu Ihrer Tätigkeit noch hinzufügen: Sie haben sich in den letzten Legislaturperioden für uns alle auch in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sehr stark engagiert. Auch dafür möchte ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses danken. Jedenfalls wünschen wir Ihnen und Ihrer Familie für Ihren neuen Lebensabschnitt von Herzen alles Gute und danken Ihnen für diesen Dienst an der Demokratie in fast drei Jahrzehnten. ({0}) Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU. ({1})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Rängen! Ich grüße Sie herzlich, insbesondere auch meine Frau, die zu meiner letzten Rede hergekommen ist; das freut mich natürlich besonders. Es ist wirklich meine letzte Rede. „Annuntio vobis gaudium magnum“, sagt man in der katholischen Kirche: Ich verkünde euch eine große Freude. ({0}) Sie brauchen mich künftig hier nicht mehr sehr oft zu ertragen. Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr gefreut, hier in den letzten 16 Jahren mitzuwirken. Insbesondere hat es mich auch gefreut, dass ich meine Reden doch manchmal mit etwas Humor und auch mit einer gewissen Heiterkeit anreichern konnte. Das hat mir durchaus auch manche Sympathie eingetragen. Ein nicht genannt werden sollendes Nachrichtenmagazin aus Hamburg, das meine politischen Zielsetzungen nicht immer teilt, hat mich in einer Liste der Redner, die Heiterkeit im Bundestag verbreiten können, an vorderer Stelle mitgelistet. Das hat mich wiederum gefreut und manche von euch auch. ({1}) Das heutige Thema, über das wir zu reden und zu diskutieren haben – die Änderungen der ESM-Gesetze –, neigt nicht dazu, besondere Heiterkeit hervorzurufen. Aber der ESM, meine Damen und Herren, ist eine solidarische Antwort Europas auf die Weltfinanzmarktkrise der Jahre 2007, 2008 und 2009 gewesen. Damals haben große Immobilienfinanzierer in den USA – sie hießen Fannie Mae und Freddie Mac; Herr Bundesfinanzminister Schäuble hat das ab und zu ausgeführt – 4,1 Billionen US-Dollar ungedeckte Hypotheken ausgegeben und mussten nach dem Zusammenbruch mit 187 Milliarden Dollar Staatsmittel in den USA gerettet werden. Als dann die Lehman Brothers Bank insolvent wurde, haben die Amerikaner jede Hilfe verweigert. Damit standen wir vor einer wirtschaftspolitischen und finanzmarktpolitischen Kernschmelze – so haben wir gesagt – und haben in diesem Haus an einem einzigen Tag Garantien von über 840 Milliarden Euro ausgesprochen – ein Beschluss, der niemals vorher und niemals nachher in diesem Bundestag gefasst werden musste. Wenn jemand aus der Kommunalpolitik kommt wie ich, dem ist da schon etwas flau geworden im Magen, aber es ist alles gut gegangen. Europa war damals auf solche Ereignisse nicht vorbereitet. Über die Rettungsschirme, über die heute schon gesprochen worden ist, gerade über den ESM, haben wir diese Vorbereitungen getroffen. Diese guten Vorbereitungen, der ESM, müssen jetzt heute auch weiter entwickelt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der ESM hat vielen hervorragend geholfen. Irland, Portugal und andere Staaten könnte ich nennen, die aufgrund der ausgereichten ESM-Darlehen wieder zu blühenden Volkswirtschaften zurückgekehrt sind. Der ESM wird künftig auch vorsorglich für Banken und Staaten Finanzierungen machen können. Das Kind muss nicht erst in den Brunnen fallen, bis es gerettet wird. Häufig ist über den Letztsicherungsgedanken, den Common Backstop, gesprochen worden. Ecki Rehberg hat das getan, sodass ich dazu nicht sehr viel mehr ausführen muss. Die Haftungskaskade, die wir haben, sieht vor, dass Bankengelder die Rettungen vollziehen und auch die Darlehen, die dann vom ESM geleistet werden, durch Bankengelder wieder aufgefüllt werden, nicht durch Steuergelder. Wir finden das einen guten Fortschritt gegenüber dem, was wir bisher sehen. Dadurch, dass der ESM keine direkten Bankenkapitalisierungen mehr machen darf, verringert sich das Risiko dramatisch. Daher stimmen wir diesen Gesetzen heute zu. Meine Damen und Herren, ich danke allen ganz herzlich, die mit mir zusammen in diesen letzten 16 Jahren gewirkt haben. Es waren 16 gute Jahre, glaube ich. Ich war 16 Jahre vorher Oberbürgermeister, und auch das waren 16 gute Jahre für meine Stadt. ({2}) Wie gut ich war, meine Damen und Herren, das wird man erst bei der Grabrede erfahren, hat Franz Josef Strauß gesagt. ({3}) Wie oft ich versagt habe, habe ich jedes Mal in allen Wahlkämpfen gehört. Das muss man mir jetzt nicht noch einmal sagen. Das wird überall aufgelistet. Dennoch war es eine gute Zeit. Lieber Otto Fricke, es war ein vergiftetes Angebot an Ecki Rehberg, ihn zur Bereinigungssitzung und dann zu einem Glas Bier einzuladen. ({4}) Vor dem Glas Bier stehen ungefähr 14 Stunden Beratung – und dafür ein Bier. Also, das ist eine schwache Aussage gewesen. ({5}) Das hättest du schon etwas besser machen können. Bei Ihnen, lieber Herr Präsident Schäuble, bedanke ich mich auch. Sie waren vier Jahre Innenminister, und ich war vier Jahre im Innenausschuss, dann waren Sie acht Jahre Finanzminister und ich acht Jahre im Haushaltsausschuss. So verbindet doch Etliches, und heute bin ich gnädiger Untertan. ({6}) Lieber Herr Präsident Schäuble, ich wünsche Ihnen, ich wünsche euch allen alles Gute in der Zukunft, viele gute Entscheidungen, und nach einem alten Oberpfälzer Spruch sage ich: Gott gebe Glück und seinen Segen drein. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Offensive für Transfer und unternehmerisches Handeln aus Wissenschaft und Forschung heraus ist seit Amtsantritt überfällig, Frau Karliczek. Die Große Koalition samt ihrer sogenannten Forschungsministerin ist gefesselt beim Transfer und im Tiefschlaf bei der New Economy. Wir haben fähige Forscherinnen und Forscher, tüchtige Unternehmer, tatendurstige Macherinnen und Macher, leider eingepfercht in eine Bürokratie, die Ralph Brinkhaus den „Staub von 200 Jahren“ nennt. Wie schade, wie durchsichtig, dass er sich einen solchen Satz erst zur Dämmerung der Ära Merkel traut. ({0}) Experimentierterritorien, Freiheitszonen sind hierzulande überfällig. Es ist überfällig, German Valleys – gerade in mittelständisch geprägten Regionen und Hightech-Clustern wie Ostwestfalen-Lippe und Jena – im Innovationswettlauf zu unterstützen, um in automobilgeprägten Regionen Technologie- und Geschäftsmodellsprünge zu forcieren, aber auch, um den Strukturwandel in Braunkohleregionen zu erleichtern. Wir brauchen nicht von Shenzhen zu lernen, sondern nur um die Ecke zu schauen: der Megatechnologiepark Sophia Antipolis in Südfrankreich, 48 Free Enterprise Zones in Großbritannien, das Silicon Wadi Israels. Seit Jahrzehnten greifen dort die Hebelkräfte unbürokratischer Gründungen, anwendungsstarker Hochschulen und Forschungsinstitute, incentivierte Industrieansiedlungen, Steuerboni auf Innovationsprojekte, vereinfachtes Arbeits-, Bau- und Umweltrecht, regionales Wagniskapital. Meine Damen und Herren, digitale und Deep-Tech-Ökonomie ist eben keine luftige, virtuelle Veranstaltung, sondern räumlich in spezifischen Regionen konzentriert und vernetzt dabei alle Akteure. So wachsen Start-ups zu Scale-ups. So transformieren Mittelständler ihre Geschäftsmodelle. So wandeln sich auch Kommunen zu E‑Service-Anbietern. So bauen Forscher und Wissenschaftler ihre Anwendungsbrücken: agil, unbürokratisch und innovativ. ({1}) Technologischer und sozialer Wandel sind eng miteinander verwoben. Deshalb sind soziale Entrepreneure und soziale Innovation bei Techvorhaben Geschwister, aber nicht wie bei den Grünen mit rechthaberischer Ausschließeritis für die eigenen Lieblings- und Erlösungsprojekte, sondern technologieoffen, indem wir Ökologie, Ökonomie und Soziales eng miteinander verdrahten. ({2}) Unternehmen machen es uns schon längst vor mit den Innovationsräumen, wie schon damals mit dem i3 von BMW: separates Betriebsgelände, eigene Werksausweise, souveräne Arbeitszeit, eigene Vergütungsstruktur, flache Führungsstruktur, geschützt von Controllern und Arbeitsweltnormierern. Meine Damen und Herren, unser durchreglementiertes Land dürstet nach Neuem, nicht nur in Wissenschaft und Wirtschaft, sondern auch und gerade in der Bundesregierung. Frau Karliczek, der Speck ist weg. Wir Freien Demokraten machen uns ran, mit Vorfreude auf die neue Legislatur ({3}) und einen Neuanfang nicht nur im BMBF. Recht herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gleich zuvorderst eines festhalten: Deutschland ist Spitzenreiter bei Innovationen. Wenn wir uns den Bloomberg Innovation Index für 2020 anschauen, dann bekommen wir Platz 1 bestätigt, und zwar eine besondere Stärke in der Pharmazeutik, im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. Die FDP hat einen Antrag vorgelegt und möchte „Freiheitszonen“ einrichten. Da muss man sich erst einmal anschauen, was denn mit Freiheitszonen überhaupt gemeint ist. Es bedeutet nämlich nichts anderes als Sonderwirtschaftszonen; aber die FDP ist gut darin, einfach einmal schnell ein neues Etikett auf etwas zu kleben. Besonders spannend ist – das ist auch ganz interessant –, dass die FDP offenbar nicht in der Lage war, Google zu bedienen; sonst hätten Sie nämlich herausgefunden, dass bereits 2015 die CSU-Zukunftskommission Sonderwirtschaftszonen für Digitalisierung gefordert hat, mit MINT-Förderung, mit weniger Regulierung, mit weniger Bürokratie, mit weniger Steuern etc. ({0}) Bayern, lieber Herr Kollege Sattelberger – das sollten Sie wissen; Sie kommen schließlich wie ich aus München –, hat bereits verschiedenste MINT-Programme, Technikprogramme und Gründerförderungen auf den Weg gebracht, so wie Sie das im Antrag fordern. Im Übrigen hat Bayern auch ein eigenes Digitalministerium. Ihr Antrag ist ein Wahlkampfantrag. Darin wird deutlich, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, einfach mal Gutachten anzuschauen, beispielsweise vom Wissenschaftlichen Dienst aus dem Jahr 2018, worin gerade solche Sonderzonen genauer untersucht wurden und worin auch auf die Probleme mit dem EU-Beihilferecht hingewiesen wurde. Im Übrigen hat auch das ifo-Institut festgestellt, dass solche Sonderregionen gar nicht helfen, insbesondere nicht mit entsprechenden Steuererleichterungen, so wie Sie das fordern; denn das führt einzig und alleine dazu, dass sich Briefkastenfirmen ansiedeln, um dort Steuern zu sparen. ({1}) Ich sage Ihnen eines: Die strukturschwachen Regionen in unserem Land brauchen nicht mehr Briefkästen, sondern sie brauchen gutbezahlte Arbeitsplätze. Und dafür steht die Union. ({2}) Ich stimme Ihnen zu, dass sich im digitalen Bereich einiges verbessern muss; das hat auch die Pandemie ganz klar gezeigt. Die Verwaltungen und Behörden müssen schlanker, effizienter und moderner werden. Die Infrastruktur muss sich weiter verbessern, ebenso die Anwendungskompetenz und Ausstattung. Hier ist in den vergangenen Jahren aber schon sehr viel passiert. Denken Sie doch mal an die massive Förderung des Breitbandausbaus. ({3}) Denken Sie an den DigitalPakt Schule, an die Datenstrategie, die Hightech-Agenda, um nur einige Punkte zu nennen. Vielleicht lesen Sie auch das von unserer Fraktion verabschiedete Papier zum Thema Neustaat. Vor allem möchte ich auf das Thema Spitzenforscher eingehen; das ist ein sehr wichtiges Thema. Aber bevor wir über das Thema Abwerben sprechen, wie Sie es tun, möchte ich über das Thema Zusammenarbeit mit Ihnen sprechen, und zwar Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg, Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn, Zusammenarbeit von Europa mit anderen Industrienationen, Zusammenarbeit weltweit und – das sage ich als Entwicklungspolitiker – gerade auch mit Entwicklungsländern. Denken wir an die Chancen der Zusammenarbeit, der gemeinsamen Forschung in Europa, beim Kampf gegen den Krebs beispielsweise. Was ist hier schon alles angestoßen und erreicht worden, und welcher Mehrwert, vor allem für die Erkrankten, ist dabei entstanden! Denken wir an die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas beim Thema Wasserstoff. Hier tun sich ungeahnte Chancen für uns alle auf. Die Zusammenarbeit in der Forschung, vor allem mit anderen Staaten und insbesondere mit dem globalen Süden, halte ich persönlich für extrem wichtig, weil weitere Herausforderungen auf uns zukommen. Man könnte hier noch verschiedenste Projekte anführen. Wieso betone ich die Zusammenarbeit so sehr? Ich bin überzeugt davon, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit nicht im Klein-Klein und im Nationalstaatendenken lösen, sondern nur im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit. Deshalb brauchen wir eine Konzentration auf die Zusammenarbeit in der Forschung und nicht ein gegenseitiges Abwerben. Wir brauchen mehr Miteinander statt Gegeneinander. Vom gemeinsamen Austausch können wir nur profitieren. ({4}) Als Beispiel möchte ich die Arktisexpedition MOSAiC anführen. 80 Institutionen aus 20 Ländern unter deutscher Flagge auf der „Polarstern“ – sprichwörtlich alle in einem Boot. Die Erkenntnisse aus dieser Expedition sind für die Klimaforschung extrem wichtig, im Übrigen nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Welt. Erlauben Sie mir den Hinweis: In den vergangenen Wochen – wir werden es auch noch in den nächsten Wochen erleben – hatte ich bei so mancher Diskussion und Debatte den Eindruck, Deutschland alleine könnte das Klima retten. In Richtung der Grünen möchte ich sagen: Mit Verboten wird es schon gar nicht funktionieren, sondern es braucht Technologie, es braucht Innovation, und es braucht vor allem eine Offenheit für neue Technik. ({5}) Denken wir doch mal zurück in die 70er- und 80er-Jahre und die FCKW-Kühlschränke. Ich traue mich fast, eine Wette einzugehen: Wenn wir heute darüber diskutieren würden, hieße es wahrscheinlich: Kühlschränke verbieten. – Aber Gott sei Dank haben wir das damals nicht gemacht, sondern wir haben die Technik verändert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pandemie hat auch gezeigt, dass sich langfristige Forschungsnetzwerke auszahlen. Ich werde – gestatten Sie mir diesen Hinweis – auch in meinem Wahlkreis gefragt: Sagt mal, warum gebt ihr denn so viel Geld für die internationale Zusammenarbeit und für die Entwicklungszusammenarbeit aus? Meine Antwort ist: Weil wir eine Welt sind, weil wir voneinander lernen und profitieren können und weil wir nur miteinander die Herausforderungen unserer Zeit lösen können – nein: lösen müssen. Wir sitzen sprichwörtlich alle in einem Boot. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael Espendiller für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei Youtube! Nirgendwo liegen Glanz und Elend so nah beieinander wie in der deutschen Forschungspolitik; denn eines ist trotz aller Unkenrufe immer noch der Fall: Wir haben in diesem Land die klügsten Köpfe der Welt. Die wissenschaftlichen Leistungen unserer Forscher sind brillant und bewegen sich auf Spitzenniveau. Wenn man sich diese Fähigkeiten und unsere Forschungserfolge ansieht, könnte man meinen, wir gingen einer glänzenden Zukunft entgegen. Doch das ist leider nicht der Fall; denn unsere hart erarbeiteten Forschungsleistungen werden häufig andernorts, im Ausland, kommerzialisiert. Es scheint, als hätten wir noch immer einen starken Wissensdrang und eine ausgeprägte Tüftlerkultur, jedoch fehlt der Unternehmergeist. Im Ausschuss für Bildung und Forschung haben wir in dieser Wahlperiode oft über den Transfer von Forschungsergebnissen in zukunftsweisende und marktfähige Produkte gesprochen; doch so richtig weitergekommen sind wir nicht. Das liegt hauptsächlich an einer zentralen Fehlvorstellung, die auch allen heute vorliegenden FDP-Anträgen innewohnt. Und zwar meine ich damit den Irrglauben an eine Art wissenschaftliche Planwirtschaft, den hier alle Parteien außer der AfD pflegen. Schauen wir uns mal an, welche Rohrkrepierer die Altparteien so vorschlagen und angeschoben haben: Da gab es von der Bundesregierung die vielgepriesene Agentur für Sprunginnovationen. Diese Agentur soll entscheiden, welche Forschungsprojekte gefördert und zu marktfähigen Produkten gepusht werden sollen. Da sitzt also ein Gremium von zehn Leuten, das munter das Geld unserer Steuerzahler zum Fenster rauswirft, und zwar 100 Millionen Euro, jedes Jahr. Sie fragen nach Erfolgen? Die gab es bisher nicht. Man kann diese Agentur also mit Fug und Recht als wahre Geldverbrennungsmaschine bezeichnen. ({0}) Und sonst so? – Die FDP will unbedingt ihre Deutsche Transfergemeinschaft. Was ist das jetzt schon wieder? Die Magenta-Sozialisten wollen eine superbürokratische Behörde schaffen, die eine Art Fünfjahresplan für die Produktion von Innovationen herausgibt und überwacht. ({1}) Und das ist auch der Grund, warum ich Sie immer Magenta-Sozialisten nenne, liebe Kollegen: Sie sind – und das haben Sie in dieser Legislaturperiode zur Genüge gezeigt – pink angemalte Sozialisten. Mehr noch: Anstatt wissenschaftliche Exzellenz zu fördern und kompromisslos durchzusetzen, sind Sie auch noch dem Wahn verfallen, Gendergerechtigkeit und höhere Diversityquoten über alles andere zu stellen. Diese Quoten helfen nicht, wenn Sie mehr Ausgründungen haben wollen. Sie behindern nur! Aber egal, ob wir hier über Ausgründungen reden, über die Qualität bei der wissenschaftlichen Lehre, über sinkende Standards im Schulbildungsbereich oder über das leider erfolglose Dauerprojekt MINT-Bildung: Sie alle reden, reden und reden, aber Sie kriegen nichts zustande. Wobei: Das ist jetzt nicht so ganz fair; denn Sie haben es mittlerweile geschafft, die Forschungsfreiheit in Deutschland zu beerdigen, und ganz nebenbei haben Sie auch noch die zukunftsweisende Kernenergieforschung plattgemacht. Sie kämpfen absolut verbissen für Quoten statt für Qualität, und Ihnen fällt nicht mal mehr auf, wie Sie den Niedergang dieses Landes dadurch immer mehr beschleunigen. ({2}) Sie ignorieren das, was Erfolg bringt, zugunsten von Klimagedöns und wohlfeilem Gerede von angeblich benachteiligten, tagesaktuell wechselnden Opfergruppen. Aber es gibt auch noch einen anderen Weg. Sie wollen Ausgründungen und Unternehmergeist? Dann hören Sie auf, die Leute mit Ihren realitätsfremden Anträgen und Initiativen zu nerven, und machen Sie den Weg frei für eine selbstbestimmte Forschungslandschaft! Stoppen Sie den Quotenwahn, und machen Sie wieder Platz für echte wissenschaftliche Brillanz! Dann wandern Ihre herbeigesehnten Spitzenforscher auch nicht mehr ins Ausland ab. ({3}) – Das habe ich nicht behauptet. ({4}) In Berlin gibt es einen Mathe-Prof; der wurde nicht angenommen, weil er ein Mann war. Der ist jetzt im Ausland Spitzenforscher. ({5}) Das ist die Wirkung Ihrer Quoten, und das wollen wir eben nicht haben. ({6}) Bauen Sie die bürokratischen Hürden ab, und hören Sie auf, die Forschungseinrichtungen zu gängeln und zu quälen; denn Sie wissen es nicht besser als unsere Wissenschaftler und unsere Forscher. Also, gehen Sie einfach allen aus dem Weg, die etwas leisten können und leisten wollen. Damit wäre ja allen geholfen. Und an dieser Stelle möchte ich mich bei Ihnen wie immer für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. – Allerdings möchte ich auch eine sehr wichtige Sache noch loswerden: Georg Thiel ist seit 106 Tagen wegen nicht bezahlter Rundfunkbeiträge im Gefängnis. Das ist absolut unverhältnismäßig. Also, lassen Sie Georg Thiel frei, Herr Buhrow! Danke. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Katzmarek für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Katzmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade die vergangenen anderthalb Jahre haben deutlich gemacht, wie wichtig Innovationen, wie wichtig Forschung und Entwicklung sind, ebenso, dass es sie in Deutschland gibt. Ein bis dato recht unbekanntes Unternehmen aus Mainz hat innerhalb eines halben Jahres einen höchst wirksamen Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt und auf den Markt gebracht. Mithilfe kleinerer und größerer Unternehmen konnte das Mainzer Unternehmen bis heute rund eine halbe Milliarde Impfstoffdosen weltweit liefern. Weltweit wird dieser Impfstoff aus Deutschland am meisten verimpft. Ohne diese Innovation hätte es – ich glaube, das wissen wir alle; nein, nicht alle: der größte Teil dieses Hauses – mehr Tote, mehr Schwererkrankte mit Langzeitfolgen und sicherlich auch viel größere wirtschaftliche Verwerfungen gegeben. ({0}) Die Pandemie hat eine Branche in den Fokus gerückt, die sonst wenig Aufmerksamkeit erfährt: die industrielle Gesundheitswirtschaft. Sie ist eine der größten und innovativsten in Deutschland. Hier arbeiten Hunderttausende gut ausgebildete Fachkräfte zu guten Löhnen. Hier arbeiten auch überdurchschnittlich viele Frauen in Führungspositionen. Hier arbeiten Menschen in vielfältigen Bereichen in unserem Land, sind innovativ und aktiv. In keiner anderen Branche sind die Innovationen in Forschung und Entwicklung höher. Biotechfirmen, Arzneimittelhersteller und Hersteller von Medizintechnik investieren 15 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung. Mehr als 50 000 Beschäftigte forschen und entwickeln neue Arzneimittel, Therapieformen, Medizintechnik und Medizinprodukte. Gute Arbeit, viele Innovationen und eine außerordentlich hohe Wertschöpfung, das zeichnet diese Branche aus. Eine starke Forschungs- und Entwicklungslandschaft ist die Basis für eine zukunftsfähige wirtschaftliche Entwicklung. Ob es um die Klimaziele geht, ob es um Ernährung, ob es um Mobilität geht, aber auch um Heilung und Vermeidung von Krankheiten – immer stehen am Anfang Innovationen. In Forschung und Entwicklung zu investieren, bedeutet, die Zukunft zu gestalten. ({1}) Und genau darum geht es uns als SPD, darum geht es in unseren Zukunftsmissionen mit Olaf Scholz. Unter Federführung des Finanzministers haben wir die steuerliche Forschungszulage eingeführt, ein wichtiger Schritt in der Pandemie. ({2}) In der Pandemie haben wir sie sogar noch mal erhöht. Diese Zulage ist ein wirksames Mittel, damit Unternehmen mehr in Forschung und Entwicklung investieren können. Und das ist gut so! Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht auch um Fachkräfte. Ja, das konnte man auch Ihren Anträgen entnehmen, und das kann man auch teilweise unterschreiben – das ist gar keine Frage –; denn wer Innovationen fördern will, muss in Fachkräfte investieren, ({3}) ja, auch im akademischen Bereich, aber nicht nur. Wir brauchen auch in der betrieblichen Ausbildung mehr Anstrengung. Wir brauchen viele gute Ausbildungsplätze, Angebote für Weiterbildung und Qualifikation, um die Beschäftigten für die digitale Arbeitswelt fit zu machen. Auch in diesem Feld hat die Koalition schon viel auf den Weg gebracht. Aber auch dort gilt es: Wir brauchen mehr, zum Beispiel ein Recht auf Weiterbildung. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit den Zukunftsmissionen und mit Olaf Scholz werden wir unsere erfolgreiche Politik fortsetzen; wir werden daran anknüpfen. Die SPD wird die Zukunft des Landes weiterhin erfolgreich gestalten. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liest man FDP-Anträge – nicht nur diesen Antrag –, spürt man die Angst, der Untergang des Abendlandes stünde bevor, wenn wir in Deutschland Tarifverträge, Arbeitsrecht und Unternehmensteuern stärken. Zur Beruhigung: Der Untergang bleibt aus; er ist auch ausgeblieben. Bereits seit 70 Jahren sind diese gelebte Realität in diesem Land oder, um es mit den Worten der FDP zu sagen: Leistung muss sich lohnen. ({0}) Zugleich staunt man, wie selbstverständlich Sie in diesem Antrag zugleich fordern, der Staat möge Unternehmen Liegenschaften bereitstellen, er möge für bessere Bildung sorgen, er möge attraktive Wohnungen und Wohnumgebung bereitstellen, er möge Breitbandleitungen verlegen. ({1}) Ja, alles richtig. Das sind wichtige Ziele; da muss sich die öffentliche Hand engagieren. Immerhin: Ihr gelobter Markt hat in diesen Bereichen versagt. ({2}) Wenn Wirtschaft, wenn Gesellschaft, wenn Menschen – ja, auch die Wirtschaft – Nutznießer sein sollen, muss sich die öffentliche Hand rühren. Das haben wir als Linke schon seit vielen Jahren in diesem Hause vertreten. Aber was wir nicht brauchen, sind Sonderwirtschaftszonen in Deutschland. Wir brauchen auch keine sogenannten Maquiladoras. Das sind diese Fabriken entlang der mexikanischen Grenzlinie zur USA. Dort werden zu Niedrigstlöhnen Einzelteile für multinationale Konzerne zusammengesetzt. ({3}) Verlängerte Werkbänke, meine Damen und Herren, kennen wir auch im Osten sehr gut. Wollen wir nicht mehr. Wir wollen mehr! ({4}) Und ich will es noch einmal in Richtung der FDP ausdrücklich sagen: Erstens. Erfindungen und Innovationen brauchen auch Zeit. Sie brauchen auch verlässliche Rahmenbedingungen. Und deshalb müssen kurze Projektförderungen und teils noch kürzere Arbeitsverträge endlich überwunden werden. ({5}) Zweitens. Öffentlich geförderte Forschung ist eben mehr als Industrie- und Produktforschung. Gerade öffentlich geförderte Forschung muss auch dem öffentlichen Interesse, dem Gemeinwohl, dienen – gerade jetzt! Wir stehen mitten vor gesellschaftlichen Herausforderungen: Klimawandel, Coronakrise – sie meinen wir gerade fast überwunden zu haben – oder knapper werdende natürliche Ressourcen lösen eben auch eine sozioökonomische Transformation aus. Sie müssen wir meistern. Aber wer da glaubt, dass vor allem geändertes Verbraucherverhalten oder technisch-technologische Innovationen die Lösung sind, der führt in die Irre. Wir haben es mit einem systemischen Problem zu tun. ({6}) Ihr Wachstumsmodell, das Sie seit vielen Jahren verfolgen und an dem Sie festhalten, hat doch genau zu dieser Vernutzung von Umwelt und Natur geführt, hat zu genau den ungerechten Verteilungsverhältnissen geführt. Wir werden nur gesellschaftliche und menschliche – um bei dem Begriff von der FDP zu bleiben – Freiheitszonen gewinnen, wenn wir an die Wurzeln des Übels gehen. Unser Fortschrittsbegriff muss sich ändern. Darin muss der Beitrag kritischer Wissenschaft und auch der Transformationsforschung bestehen. Denkmuster müssen sich an den Interessen, Ideen und Werten einer gerechteren und damit eben auch zukunftsfähigen Gesellschaft ausrichten. ({7}) Gemeinschaftliches Wissen hervorbringen, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Sitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– es teilen, erklären und gemeinsam umsetzen, das muss die Aufgabe in diesem Land sein. Danke schön. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land lebt von den klugen Ideen der Menschen in Hochschulen, Unternehmen, Start-ups und auch Vereinen. Denn in den Laboren und Werkshallen sind sie schon längst bereit, die notwendige Erneuerung umzusetzen, die wir für den Klimaschutz, für eine gerechte Gesellschaft und für eine nachhaltige Wohlstandssicherung brauchen. ({0}) Nur war die Bundesregierung in den letzten Jahren leider nicht bereit, ihnen endlich die besten Rahmenbedingungen zu bieten. Es gab hier und da ein paar kleine Trippelschritte – aber keinen innovationspolitischen Aufbruch. ({1}) Diesen brauchen wir dringend in den nächsten vier Jahren. ({2}) Ihr einziges sichtbares Ergebnis war die Gründung der Agentur für Sprunginnovationen; wir haben das schon gehört. Diese wird aber von gleich drei Ministerien so eng beaufsichtigt, dass sie keine Sprünge machen kann, sondern auch nur in Kleinstschritten vorangehen kann. So verhindert man eher Innovation, als Innovation wirklich zu fördern. Dabei ist das Bundesforschungsministerium doch eigentlich ein echtes Gestaltungsministerium. Dort können entscheidend die Weichen für unsere Zukunft gestellt werden. Aber dazu darf man halt nicht im Schlafwagen auf alten Gleisen unterwegs sein, sondern muss neue Schienen verlegen, auf denen neue Züge fahren. Das haben Sie versäumt, Frau Ministerin. ({3}) Nun diskutieren wir heute über einige FDP-Anträge, und darin sind ein paar ganz gute Ideen enthalten, mit denen wir aus dem Schlafwagen herauskommen könnten. Der Begriff „Valley“ ist schon gefallen. Da denke ich natürlich an Cyber Valley, von einer grünen Wissenschaftsministerin in Baden-Württemberg ausgebaut. Da kommen Wissenschaft, Wirtschaft, Start-ups und Gesellschaft zusammen und arbeiten daran, wie man eine Technologie wie künstliche Intelligenz auch zum Wohl der Gesellschaft einsetzen kann. Das sind wichtige Orte. ({4}) Wir wollen natürlich auch mehr Freiheit für Gründerinnen und Gründer, mehr Unterstützung, mehr Gründungskompetenzen im Studium, Gründungen zum Chef/‑innenthema in den Wissenschaftseinrichtungen machen, die Beteiligung im einstelligen Prozentbereich für Spin-offs. All das sind Vorschläge, die wir als Grüne auch schon gemacht haben und teilen. Da muss was vorangehen. ({5}) Aber eine Feinjustierung hier und da, das reicht eben nicht. Als Grüne wollen wir den echten innovationspolitischen Aufbruch, den wir auch in unserem Projekt Zukunftsland beschreiben. Wir müssen eben heraus aus eingefahrenen Mustern und starren Förderstrukturen – hin zu einem umfassenden Verständnis von technologischen, sozialen und ökologischen Innovationen. In diesem Zusammenhang ist das Beispiel FCKW ein ganz wunderbares. Da wurde nämlich ein Ausstiegspfad politisch festgelegt. Daraufhin sind Innovationen geschehen, die ökologisch wirkten. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie ökologische Innovationen passieren können. Wir denken, es braucht in Deutschland unbedingt einen neuen Innovationsakteur. Wir schlagen die neue Agentur D.Innova vor. Sie schließt ein bisschen an die Debatte um die Deutsche Transfergemeinschaft an, um die es heute auch ging. Aber sie ist mehr. Sie bezieht alle gesellschaftlichen Akteure ein, beschränkt sich nicht auf Wirtschaft und Hochschulen, sondern will Nachhaltigkeitsziele verfolgen und dafür neue Formate ausprobieren. Einen solchen neuen Innovationsakteur, den brauchen wir; dafür stehen wir als Grüne. Wir freuen uns darauf, diese Aufgaben in den nächsten vier Jahren anzupacken. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Andreas Steier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem sind wir uns schnell einig: Der Transfer aus der Forschung in die Anwendung ist eines der zentralen Themen der deutschen Forschungs- und Innovationspolitik. Wichtig dabei: Unser Anspruch muss dabei immer sein, dass wir Schnelligkeit und Qualität vereinen. Nur so sichern wir nachhaltig Wohlstand und Lebensqualität bei uns in Deutschland und Europa. Grundvoraussetzung dabei ist eine breite und exzellente Forschungslandschaft – von der Grundlagenforschung bis zur angewandten Forschung. Hier wurde in den letzten 16 Jahren bei uns viel investiert und auch viel erreicht. Eines von vielen Beispielen: die Entwicklung des hochwirksamen Coronaimpfstoffs von BioNTech bei uns in Deutschland. Seit der frühen Gründungsphase wurde BioNTech vom Bund gezielt unterstützt. Die mRNA-Technologie stand dabei besonders im Fokus. Nur durch diesen langen Vorlauf ist es uns letztendlich gelungen, in einer nie dagewesenen Schnelligkeit einen neuen Impfstoff zu entwickeln. Darauf können wir auch mal stolz sein! ({0}) Am Beispiel der Zusammenarbeit mit der Firma Pfizer können wir aber noch etwas anderes sehen. In Rekordzeit wurde die Neuentwicklung von der Forschung auch in die Produktion gebracht. Diese Entwicklung ist, wie wir gesehen haben, nicht nur im kleinen Maßstab geschehen, sondern ist gleich auf Weltniveau hochskaliert worden. Das, wofür wir früher vielleicht vier Jahre oder mehr gebraucht haben, ist hier in weniger als einem Jahr gelungen – inklusive Einkauf von Grundstoffen, Entwicklung von Produktionsstätten, Logistik und Vertrieb. Gerade wenn man an die Randbedingungen denkt, die auf dem Weltmarkt geherrscht haben – ich erinnere nur an die Exportverbote der USA und von Großbritannien –, können wir auf diese Entwicklung stolz sein. Was uns hier gelungen ist, sollte uns ein Maßstab dafür sein, wie wir einen solchen Transfer auch in anderen Bereichen schaffen können. Leider muss man aber auch feststellen, dass es in anderen Bereichen nicht immer so rundläuft. Wenn man sich die außeruniversitären Forschungseinrichtungen anschaut, dann stellt man fest, dass man dort schnell auf regulatorische Beschränkungen stößt. Das Wettbewerbsrecht, das Gemeinnützigkeitsrecht, das Patentrecht setzen hier oft enge Grenzen. Da gilt es, die Rahmenbedingungen gerade in diesen Bereichen flexibler zu gestalten. Das Ziel sollte sein: Wir müssen eine Gründungskultur auch hier in Deutschland weiter fördern. ln den Eckpunkten zum Pakt für Forschung und Innovation haben wir genau das Thema Transfer an die Spitze gestellt und fordern unsere Forschungseinrichtungen auf, dass sie den Transfer auch in ihrer Kultur entsprechend fördern. Der Staat macht nicht alles, sondern der Staat unterstützt die Macher; das muss die Devise sein, auch in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. ({1}) Denn da, wo wir die Eigeninitiative vor Ort gefördert haben, entstehen oft Standorte mit internationaler Strahlkraft. Ich möchte ein Beispiel nennen: das CISPA in Saarbrücken. Diesem Institut ist es gelungen, innerhalb weniger Jahre auf Platz 1 des Rankings in der Welt auf dem Gebiet der Cybersicherheit zu kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist New Tech, das ist eine Errungenschaft, die durch unsere Forschungslandschaft entstehen konnte. ({2}) In dem Ziel, Transfer weiter zu stärken, sind wir uns bestimmt alle einig. Allerdings sieht man schon, dass der Weg, der eingeschlagen werden soll, doch sehr unterschiedlich ist, je nachdem, wo man hier im Plenum sitzt. Wenn ich mir all die positiven Fälle anschaue, dann möchte ich drei Dinge nennen, die dafür gesorgt haben, dass sich Institute mit Strahlkraft entwickelt haben. Der erste Punkt ist Eigeninitiative. Der zweite Punkt ist die Freiheit, Dinge zu entwickeln. Der dritte Punkt ist Mut, entsprechende Dinge bis zur Marktreife voranzutreiben. Das gilt es zu fördern. Liebe FDP, wir brauchen nicht mehr Bürokratie oder mehr Verwaltung. Da habe ich mich schon ein bisschen gewundert, dass in Ihrem Antrag wieder die alte Klamotte von der Transfergemeinschaft kommt. Wir brauchen keine neue Verwaltung, sondern müssen den Willen der Leute stärken, dass sie eben auch neue Dinge entwickeln. Wir haben in den letzten vier Jahren viele intelligente Maßnahmen auf den Weg gebracht: Erstens möchte ich hier nennen: Wir schreiben den Pakt für Forschung und Innovation fort und erhöhen sogar die Mittel jährlich um 3 Prozent. ({3}) In diesem Pakt investieren wir in den nächsten zehn Jahren rund 17 Milliarden Euro zusätzlich für die Forschung und Innovation. Das ist gut, und das müssen wir weiter forcieren. ({4}) Zweitens ist die Gründung der Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen hier anzuführen. Liebe Kollegen der AfD, wir fördern hier bahnbrechende Innovationen. ({5}) Das Geld ist gut angelegtes Geld. Wir fördern den Unternehmergeist und ermutigen Innovatoren, hier mutig voranzugehen. ({6}) Drittens. Zum 1. Januar 2020 ist das Forschungszulagengesetz in Kraft getreten. Seitdem können Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, eine steuerliche Forschungsförderung erhalten. Sie sehen: Transfer geht, auch ohne dass wir doppelte Strukturen in Verwaltung und Behörden schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, in einem anderen Antrag fordern Sie sogar die Schaffung einer neuen nationalen Agentur für zentrales professionelles Recruiting. Aber genau das haben wir doch schon längst gemacht. Wir haben die Programme der Alexander von Humboldt-Stiftung entsprechend ausgebaut, zuletzt um weitere 2 Millionen Euro jährlich. ({7}) Wir haben im Rahmen der KI-Strategie die Alexander von Humboldt-Professur für KI angelegt. Wir haben die Tenure-Track-Professuren und mehr Planbarkeit und Transparenz gerade auf akademischen Karrierewegen geschaffen. Das alles sind wichtige Anreize für die Gewinnung der besten Wissenschaftler hier vor Ort. ({8}) Über den Deutschen Akademischen Austauschdienst finanzieren wir Programme zur internationalen Mobilität, gerade bei Wissenschaftlern. Und wir haben die Max Planck Schools, eine weitere organisationsübergreifende Initiative aus der Wissenschaft, geschaffen. Das heißt, wir brauchen keine zusätzlichen Verwaltungsstrukturen. Wir setzen auf Anreize, gerade den Unternehmergeist bei uns in der Bevölkerung zu stärken. Last, but not least: Wir setzen auf die vielen schlauen Köpfe hier bei uns, die mutig unser Land voranbringen. ({9}) In diesem Sinne haben wir die richtigen Weichen gestellt. Wir bauen auf unsere Zukunft. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege Steier, Ihrem Selbstlob möchte ich mal ein bisschen Cicero entgegensetzen. Der sagte einmal: „Am weisesten ist, wem selbst einfällt, was er braucht.“ An dieser Weisheit fehlt es aber leider der Bundesregierung und offensichtlich den Koalitionsfraktionen. Denn Deutschland hat im Bereich der Spitzenforschung und der Innovation nicht, was es braucht; und dafür zu sorgen, fällt der Bundesregierung auch nicht ein. Klar ist: In der Spitzentechnologie und Spitzenforschung zählen vor allem die klugen Köpfe. Aber Deutschland hat ein Qualitätsproblem, und Deutschland hat ein Abwanderungsproblem. ({0}) Die deutsche Politik jedoch – das nervt mich langsam; dieses Problem wurde auch bei den Reden der Kollegen Steier und Stefinger deutlich – löst die Missstände nicht, sondern sie redet sie schön, als sei Wissenschaft eine Frage des Marketings. Das beste Beispiel dafür sind diese vielen Agenturen oder auch die Exzellenzinitiative. Sie sollte deutsche Unis klasse machen; Harvard und Stanford waren die Messlatten für die neuen deutschen Spitzenunis. Tja! Nach 15 Jahren dümpeln die deutschen Unis in den internationalen Vergleichsrankings immer noch auf mittelprächtigen Plätzen. In den meisten Rankings schaffen sie es nicht mal unter die ersten 50 Plätze. Ich sage Ihnen: Das ist peinlich für ein Land, das sich technisch ganz vorne wähnt. Es ist auch eine Gefahr für die Zukunft; denn wirkliche Spitzenkräfte wollen nicht an mittelmäßigen Institutionen forschen. ({1}) Diese Abwanderung von Spitzenforschern ist wissenschaftlich erwiesen. Die Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI, stellte schon 2014 und wiederholt 2017 fest: Mehr Hochqualifizierte wandern aus als ein. ({2}) Deutsche Forscher im Ausland erbringen außerdem höherwertigere wissenschaftliche Leistungen als in Deutschland. Das heißt auf Deutsch, das heißt in klare, einfache Sprache übersetzt – dann verstehen vielleicht auch Sie es –: Die Besten ziehen weg, und das Mittelmaß bleibt. ({3}) Daran ändert auch das teure GAIN-Programm nichts. Das hat die Dynamik letztendlich nicht verändern können, werte Frau Kollegin. ({4}) Die Bundesregierung übt sich vielmehr in Ignoranz bei diesem Thema und antwortete auf unsere Anfrage: Nach Einschätzung der Bundesregierung ist Deutschland ein für hoch qualifizierte Arbeitskräfte attraktives, weltoffenes Land. Eine „Abwanderung hochqualifizierter Deutscher“ ist nicht Gegenstand der amtlichen Statistik. Die Bundesregierung teilt nicht die Einschätzung der Fragesteller, dass internationale Wissenschaftlermobilität zu einer Reduktion der Forschungsqualität in Deutschland beiträgt. Ja, meine Damen und Herren, da kennt die Bundesregierung nicht einmal die entsprechenden Statistiken der OECD und leugnet sogar die Existenz des von der EFI klar beschriebenen Phänomens, dass eben deutsche Spitzenforscher abwandern. Was nicht ins eigene Weltbild passt, wird von Ihnen ignoriert; und das ist wirklich traurig. ({5}) Es ist an der Zeit, dass Sie endlich mal die Befunde analysieren, dass Sie rausfinden, was man eigentlich in den anderen Ländern – USA, Großbritannien, Schweiz – besser macht als in Deutschland. Schiller trendet ja im Moment. Da möchte ich Ihnen frei nach Don Carlos zurufen: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ Wir brauchen Hochschulautonomie, Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung. ({6}) Die Hochschulen brauchen die Freiheit. Den Unternehmergeist braucht man nicht unbedingt die ganze Zeit zu fördern. Es reicht, wenn man ihn nicht beschränkt. Und wir brauchen attraktive Rahmenbedingungen für die Wissenschaftler. Machen Sie Lehre und Forschung finanziell attraktiv. ({7}) Sichern Sie eine persönliche Perspektive, weg von diesen prekären Arbeitsverhältnissen. Das ist das, was nötig ist. Omnia praeclara rara – alles Vortreffliche ist selten, schrieb Cicero mal. Das gilt insbesondere für Spitzenforscher. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kleinwächter.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Behandeln Sie sie auch so. Vielen Dank, Frau Präsidentin. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach 23 Jahren Plenarzugehörigkeit ist das meine letzte Rede. Viele und vieles werden mir fehlen, einiges nicht. Ich wollte zunächst auf die FDP-Anträge zu sprechen kommen, aber das wäre der Reihenfolge nicht angemessen. Nicht fehlen werden mir die Reden und die Zwischenrufe der AfD. ({0}) Ich habe schon in meiner Jugend viele Protokolle und Debatten aus der Weimarer Republik gelesen. ({1}) Ihr Bild eines düsteren Deutschlands, Ihr Hass und Ihre Hassreden ({2}) gegenüber Minderheiten und Menschen, die sich nicht wehren können, erinnert fatal an die Zeiten der NSDAP und die Protokolle, die ich gelesen habe. ({3}) Ich sage ausdrücklich: Ich werde das hier im Parlament nicht mehr bekämpfen. Aber außerhalb des Parlaments werde ich mich mit vielen Menschen, von denen ich weiß, dass ihnen Demokratie, Freiheit und Toleranz wichtig sind, ({4}) zusammenraufen und gegen Ihr Deutschland, das Sie wollen, weiterhin kämpfen. ({5}) Nicht fehlen werden mir auch – das liegt aber viele Ebenen darunter; das muss ich der FDP zugestehen – die Anträge der FDP. Warum? Ich bin als Nordrhein-Westfale sozialisiert worden, auch mit Johannes Rau, der viele wichtige Worte gesagt hat; und Matthäus 7, Vers 12 ist ja schon von Gerd Müller zitiert worden. Johannes Rau hat aber einen wichtigen Leitsatz gehabt: „Sage, was du tust, und tue, was du sagst.“ Das ist der Anspruch: Prüfe deine Versprechungen, ob und wie du sie halten kannst. – Das war tatsächlich für uns handlungsleitend. Das ist immer schwer, wenn man in eine Regierungskoalition geht, wo man verhandeln muss: Welche Versprechen kann man umsetzen und welche nicht? Aber es ist gelungen. ({6}) Wir haben 1998 ganz schnell Dinge durchgesetzt ({7}) wie die Wiedereinführung der gesetzlichen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und den Zahnersatz für Jugendliche – all das muss man sich vor Augen führen – und das Schlechtwettergeld. Für manche Versprechungen wird man nicht belohnt oder gelobt. Meistens gibt es dort Schwierigkeiten, wo man Versprechen nicht oder auf lange Frist nicht einhalten kann. Auch da sind wir relativ gut gewesen, glaube ich – natürlich immer auch mit Problemen. Ich hätte mir vor 20 Jahren nicht vorstellen können, dass heute fast die Hälfte unseres Stroms aus erneuerbaren Energien kommt – ein großer Erfolg! Und: Wir als Rot-Grün haben 1998 Deutschland als kranken Mann übernommen, und heute stehen wir wieder als Forschungsstandort da, der international Reputation hat, ({8}) wo es der Alexander von Humboldt-Stiftung gelingt, renommierte KI-Professoren aus dem Ausland zu uns zu holen, und wo Nobelpreise gewonnen werden von Menschen, die nicht nur zu uns gekommen sind – ich denke an Emmanuelle Charpentier und andere –, sondern auch hier bleiben und nicht wieder gehen. ({9}) Dieses „Sage, was du tust, und tue, was du sagst“ haben wir tatsächlich auch für die vier Jahre Oppositionszeit, die ich habe mitmachen müssen – das ist übrigens Mist –, als SPD angewandt. Das war nicht immer einfach. All unsere Anträge, die wir geschrieben oder entwickelt haben, haben wir mit den Haushältern in schwierigen Diskussionen geprüft und uns gefragt: Können wir das auch finanzieren und umsetzen? An der Stelle – das muss ich sagen – hat die FDP tatsächlich einen großen Nachholbedarf. ({10}) Die Rede, die Otto Fricke heute gehalten hat, hätte er mal nicht nur hier im Hause halten sollen, sondern vielleicht auch vor der Fraktion. Sie fordern viele spannende Sachen in Ihren Anträgen: mehr Wagniskapital, 1 Milliarde Euro mehr für eine Transfergesellschaft, mehr Risikoförderung, mehr Investitionen in Infrastruktur, Verdoppelung der Humboldt-Professuren, mehr Stipendien. Aber all das passt nicht mal in den bisherigen Etatansatz für Bildung und Forschung. Es wäre spannend, zu sehen, wie Sie solche Versprechen umsetzen. Ziehen wir den Kreis mal noch weiter. Wir hatten gestern die Debatte über ein neues Rentenreformmodell der FDP. Es führt dazu, dass es entweder künftig Rentenkürzungen gibt oder Sie mit 25 Milliarden Euro von staatlicher Seite die Lücken ausgleichen müssen. Wo finanzieren Sie das eigentlich? ({11}) Und nicht nur das: Sie wollen auch noch Steuern senken und 10 Milliarden Euro über den Soli den richtig Reichen hinterherschießen. ({12}) Deswegen sage ich: Wenn man Sie an Johannes Raus Worten „Sage, was du tust, und tue, was du sagst“ misst, können Sie das nicht halten. Deswegen sind Ihre Anträge in Teilen nicht schlecht, aber sie werden von uns abgelehnt, weil Sie Ihr Versprechen nicht halten können; und wir wollen Versprechen halten. ({13}) Es gibt aber auch viele gute Punkte. Sie sagen, wir brauchen mehr Frauen in Führungsverantwortung und in Leitungspositionen. Dem können wir zustimmen. Sie machen da keine harten Kriterien. Wenn wir manchmal erleben, Herr Sattelberger, wie gnadenlos – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Röspel, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP-Fraktion?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Kollege, der Bundeshaushalt 2020 hatte im Bildungsbereich eine Steigerung von, glaube ich, 0,1 oder 0,2 Prozent. ({0}) Ich würde Sie gern fragen: Würden Sie mir nicht zustimmen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Bereich Bildung insgesamt zu wenig Geld ausgibt? Und würden Sie mir auch zustimmen, dass es unser gemeinsames Ziel sein müsste, mehr Geld in diesem Haushalt in den Bildungsetat umzuschichten? Wenn wir das tun würden, dann hätten wir auch Geld für viele der innovativen Projekte, die wir hier in unseren Anträgen vorschlagen.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke für die Fragen. – Dem ersten Punkt kann ich unumwunden zustimmen. Natürlich haben wir immer viel zu wenig Geld für Bildung und für Forschung; das ist gar keine Frage. Da kämpften wir hier übrigens in den letzten Jahren alle gemeinsam dafür, dass das mehr wird. ({0}) Der zweite Fehler ist, glaube ich, dass man, wenn man die Gelder für Bildung betrachtet, nicht auch die Zuständigkeiten betrachtet. Da gibt es eben den Bund mit einer begrenzten Zuständigkeit für Bildung und die vielen Länder. Wenn man das einrechnet, wird das auch ein ziemlich großer Topf. Tatsächlich muss man es trotzdem seriös finanzieren. Wir haben da gute Vorschläge. Wir haben einen Bundesfinanzminister, der sich bei seiner Prozedur tatsächlich genau an Johannes Rau hält: am Anfang nicht zu viel zu versprechen, aber dann eben doch Erfolge vorzuweisen, zum Beispiel, indem internationale Konzerne hoffentlich möglichst bald besteuert werden und dann Geld reinkommt, das wir für sinnvolle Ausgaben wie die für Bildung und Forschung verwenden können. Ausdrücklich lehne ich ab, im Bereich von Sozialem oder anderem zu sparen, um dann eben Bildung und Forschung zu unterstützen. Das halte ich für einen Weg, der die sozialen Disparitäten in unserer Gesellschaft eher vertiefen würde. Und das ist der falsche Weg. ({1}) Deshalb sagen wir: Es ist richtig, sich immer zu prüfen, inwieweit man Versprechen einhalten und sich an seine Worte halten kann. Frau Präsidentin, es ist meine letzte Rede. Sie erlauben mir, noch ein paar Gedanken und Dankesworte zu sagen. Ich habe übrigens am 19. Januar 2006 in meiner Rede dem Deutschen Bundestag drei Minuten Redezeit gespendet. Vielleicht kann ich jetzt eine halbe Minute davon wieder verwenden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die sind sicherlich der Diskontinuität verfallen.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darüber diskutieren wir noch. Aber Sie haben natürlich recht. Danken möchte ich ganz zuallererst den Menschen, die diesen Betrieb aufrechterhalten, häufig ohne überhaupt gesehen zu werden. Das ist die Verwaltung, das sind die Menschen, die an der Pforte stehen, in der Garderobe arbeiten, bei der Polizei sind, oder die, die den Putzdienst machen und längst schon wieder aus unseren Büros weg sind, wenn wir ankommen. Deswegen, finde ich, möchte ich auch von meiner Seite für die Freundlichkeit, der ich da begegnet bin, meinen großen Dank ausrichten, auch für die Arbeit – das kann ich wahrscheinlich auch in Ihrem Sinne sagen –, die dort verrichtet wird. ({0}) Sehr dankbar bin ich dafür, dass ich immer Glück hatte, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben; denn sie sind ja für unsere Arbeit wichtig und unverzichtbar. Wir kriegten alles gar nicht richtig hin, wenn wir nicht gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten. Deswegen danke an Jacqueline Puci, Antonia Elshiewy, Henning Kampherbeek, Jochen Milde, Jürgen Taake, Inger Eiben und viele andere. Ohne euch hätte ich das alles nicht hingekriegt. ({1}) Um Verzeihung muss ich meine Familie bitten, insbesondere meine Kinder Steffen, Tobias, Randi und Daniel, wenn ich vielleicht zu häufig nicht zu Hause war. Ich kann aber jetzt versprechen: Ich werde die Zeit nicht nachholen. Keine Sorge! ({2}) Aber das geht wahrscheinlich uns allen so, die Familie haben, dass man häufig hin- und hergerissen ist zwischen den Verantwortungen, die man hat. Ganz herzlich möchte ich auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, danken für den Streit, den wir haben durften. Ich will ausdrücklich sagen, dass ich in vielen Fraktionen – ich will gar keine Namen nennen – ganz viele engagierte Kolleginnen und Kollegen kennengelernt habe, mit denen es Spaß gemacht hat zusammenzuarbeiten. Dafür bedanke ich mich recht herzlich. Das werde ich in guter Erinnerung mitnehmen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und Glück auf! Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Röspel, wir wünschen Ihnen natürlich alles Gute für diesen neuen Lebensabschnitt. 23 Jahre sind eine lange Zeit. Gleichzeitig – ich weiß, das verhallt mit wenig Nachdruck – bitte ich aber: Wir haben heute und auch in der folgenden Sitzungswoche noch einige Kolleginnen und Kollegen, die das letzte Mal hier ans Pult treten. Versuchen Sie doch wenigstens, die Danksagungen und sonstigen Dinge ein wenig mit einzupreisen in die Redezeit, die Ihnen die Fraktionen geben. Wir kommen ansonsten tatsächlich auch auf dem Rücken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr, sehr spät hier raus. ({0}) – Das weiß ich; das ist geklärt. Aber bitte, bitte. Das Wort hat der Kollege Mario Brandenburg für die FDP-Fraktion. ({1})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Herr und Frau Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber René, dir für dein neues Leben alles Gute! Jetzt aber zum Thema. Ich hatte am Dienstagabend das Vergnügen, mit dem Präsidenten der National Security Commission on Artificial Intelligence, also dem Beratungskreis von Joe Biden, über künstliche Intelligenz zu diskutieren. Die Grundlage ist ein 800-Seiten-Bericht, den die USA haben anfertigen lassen, unter anderem von Leuten wie Eric Schmidt, einem langjährigen Google-CEO. Ich möchte kurz den ersten Satz daraus zitieren: The U.S. government is not prepared to defend the United States in the coming artificial intelligence (AI) era. Frei übersetzt: Die USA sind nicht vorbereitet auf alles, was da kommt durch KI. Dann habe ich mir als guter Bundesbürger natürlich direkt die Fortschreibung 2020 der KI-Strategie der Bundesregierung zur Hand genommen und dort gelesen: Die bisherige Umsetzung der KI-Strategie der Bundesregierung hat dazu beigetragen, den Innovationsschub, der mit der Entwicklung von KI einhergeht, für die Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist politische Selbstzufriedenheit at its best. ({0}) Sie müssen in dem gleichen Report zugeben, dass gerade mal 6 Prozent der Firmen, mit denen Sie geredet haben, KI einsetzen. Das ist der deutsche Innovationsschub, während die USA mit dem Silicon Valley, Amazon, Facebook, wie sie alle heißen, im Rücken sagen: Wir sind hier nicht bereit. Jetzt sind wir nämlich bei dem Grundproblem: Vier Jahre lang weigern Sie sich, sauber und sachlich zu analysieren, wo der Fehler liegt. Wir reden hier nichts schlecht. Auch wir wissen, dass wir eine vielfältige Forschungslandschaft haben, und sind allen Forscherinnen und Forschern dankbar. Wir haben einen diversifizierten Industriesektor, wir haben hier alles. Trotzdem kommt zum Schluss zu wenig in Sachen Dienstleistungen und Produkte auf die Straße. Seien Sie mal so ehrlich wie andere Länder und lassen Sie mal nachkontrollieren. ({1}) Wir haben hier wieder vier Anträge gebracht. Es geht aber eigentlich auch mit vier Wörtern: Es geht um Stärken, Incentivieren, Entschlacken und Deregulieren. Stärken: Analysieren und dann Stärken stärken, und nicht in jedem politischen Papier in allen Bereichen Erster werden wollen. Das ist nicht realistisch. Incentivieren: Es gibt – wir haben es gehört – die natürliche Clusterbildung rund um Deep-Tech, rund um Bio-Tech. Das muss incentiviert werden, statt jedem Abgeordneten ein Institut in seinen Wahlkreis oder eine Batteriefabrik in den Vorgarten. So funktioniert das nicht. Unterstützen Sie die, die was können! ({2}) Entschlacken: Entschlacken Sie Ihre eigenen Entscheidungsprozesse! Sie sind politisch zu langsam, Sie sind aber auch in den Häusern zu langsam. Eine internationale Topprofessorin ist woanders eingezogen, hat wahrscheinlich schon einen Fitnessstudiovertrag, bevor Sie das Stempelkissen fürs Berufungsverfahren nachgefüllt haben. So wird das nichts! Letzter Punkt, Frau Präsidentin, weil meine Redezeit leider sehr spärlich ist: Deregulieren. Greifen Sie den Gründerinnen und Gründern unter die Arme, lassen Sie sie das tun, was sie wollen, und schaffen Sie ein auskömmliches, international konkurrenzfähiges Finanzierungselement, das vor allem privates Kapital hebelt; denn noch ist es hier. Wir haben alle Chancen. Aber wachen Sie endlich auf, oder lassen Sie es uns machen! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Anke Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Antrag will die FDP digitale Innovationen vor allem in Sonderwirtschaftszonen fördern. Die Linke verfolgt einen ganz anderen Ansatz. Wir wollen eine digitale Gesellschaft, in der alle so viel wie möglich davon haben. ({0}) Uns liegen deshalb vor allem soziale Innovationen am Herzen, Innovationen, die gesellschaftliche Probleme lösen, zum Beispiel die Klimakrise oder Bildungsungerechtigkeit. Deshalb hat die Linksfraktion einen Antrag eingebracht, mit 50 Millionen Euro einen Social-Innovation-Fonds zu finanzieren. Die GroKo hat ihn leider abgelehnt; aber zum Glück ist sie bald Geschichte. Gemeinwohlorientierte Digitalisierung ist allerdings auch nicht möglich ohne einen Zugang zum schnellen Internet für alle. Deshalb haben wir den Antrag „Recht auf schnelles Internet für alle“ eingebracht mit der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Gigabitanschluss bis 2030. Auch dieser wurde von der Großen Koalition abgelehnt. In Spanien haben bereits 80 Prozent der Haushalte Glasfaserversorgung; 100 Prozent werden in Spanien schon im Jahr 2025 erreicht. Aber es geht nicht nur um den Zugang; auch die Preismodelle sind relevant. In Schweden konnte man 10 Gigabit symmetrische Bandbreite schon vor zwei Jahren für unter 100 Euro kriegen, da hat das bei uns noch 9 999 Euro gekostet. Das killt Innovationen. Deshalb sollen nicht Konzerne über Zugang und über Preise entscheiden. Glasfasernetze gehören als Teil der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. ({1}) Dann gibt es wie in Schweden auch bei uns überall schnelles und preiswertes Netz. Teilhabe heißt für uns aber auch viel Mitgestaltung der digitalen Gesellschaft. Und eine innovationsfreundliche Kultur braucht freien Zugang zu Wissen und Informationen, zu lebenslanger Bildung – kostenfrei, barrierefrei. Den Zugang zu freiem Wissen brauchen wir in Bildung und Wissenschaft. Wir brauchen offene Daten in der Verwaltung. Wir brauchen Open-Source-Software – viel mehr davon. Deshalb haben wir auch dazu einen Antrag eingebracht; er nennt sich „Öffentliches Geld – Öffentliches Gut“, kurz ÖGÖG, also öffentliches Geld gleich öffentliches Gut. Denn ganz egal, ob Impfstoffentwicklung oder Softwareentwicklung: Wenn etwas mit öffentlichen Geldern finanziert worden ist, gehört es der Allgemeinheit. Auch dieser Antrag wurde von der Großen Koalition abgelehnt. Das ist doch Irrsinn, meine Damen und Herren! ({2}) Innovationen brauchen aber auch fairen Wettbewerb. Deshalb heißt es für uns auch: Digitale Monopole muss man entmachten. – Daher haben wir auch dazu einen Antrag eingebracht, nämlich „Digitales Monopoly beenden“. Und Überraschung: Er wurde von der Großen Koalition abgelehnt. Die Verbindung von Innovationskultur mit Gemeinwohlorientierung der Digitalisierung, das macht linke Digitalpolitik aus. Deshalb braucht es eine linke Regierung. ({3}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nobelpreisträger/-innen, kreative Start-ups, exzellente außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Hochschulen als Herzstück: Unser Innovationssystem ist sehr gut aufgestellt und hat es überhaupt nicht verdient, von der FDP auf Mittelmäßigkeit heruntergeredet zu werden. ({0}) Nachhaltige Baustoffe, klimaneutrale Antriebe oder Impfstoffe, die unzählige Leben retten: Hierzulande werden tagtäglich Innovationen erdacht, technische und digitale, aber eben auch soziale und ökologische – alles Innovationen, die helfen, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Von diesen Innovationen schaffen aber noch nicht genug den Sprung in die breite Anwendung. Diese Innovationslücken wollen wir als Grüne im Bundestag schließen; denn großartige Ideen haben auch bestmögliche Unterstützung verdient. ({1}) Dass CDU/CSU-Kollegen nach 16 Jahren des Regierens auch heute hier ein Modernisierungsjahrzehnt einfordern, ist ziemlich ulkig, aber auch Ausdruck von kritischer Selbstreflexion. Denn die Innovationsförderpolitik des BMBF ist alles andere als agil, und das schon seit längerer Zeit. Während die FDP mit ihren Anträgen heute vor allem wieder ihr altbekanntes Buzzword-Bingo spielt, haben wir als Grüne im Bundestag in dieser Wahlperiode viele handfeste Konzepte vorgelegt, um Innovationen weiter zu entfachen. Denn neue Ideen entstehen vor allem und am besten dort, wo vielfältige Perspektiven zusammenkommen. Darum braucht unser Forschungs- und Innovationssystem Vielfalt, Diversität, Weltoffenheit und Chancengerechtigkeit für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Mit Talenten und Toleranz gelingt Technik viel besser. Zur Perspektivenvielfalt gehört neben der Wirtschaft auch die Zivilgesellschaft: über Citizen Science, Bürger/-innenwissenschaften, Partizipationsformate in der Forschung. Nicht nur Transfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zählen, sondern eben auch der gesellschaftliche Transfer. ({2}) Oft sind es gerade vor Ort die Hochschulen für angewandte Wissenschaften und die Fachhochschulen, die im Zentrum von Innovationsökosystemen stehen. Oft tüfteln gerade Menschen vor Ort landauf, landab an Lösungen für die Probleme unserer Zeit. All diese zusammenzubringen, auch mit der Expertise von KMU, haben wir mit unserem Konzept für eine Innovationsagentur D.Innova zu bündeln versucht. Denn gerade auch die Hochschulen und die KMUs müssen noch stärker unterstützt werden beim Transfer ihrer Forschung. Die FDP zeigt in ihren Anträgen, dass sie bei der Exzellenzinitiative und beim Pakt für Forschung und Innovation alles noch mal durcheinanderwirbeln will und Output-Indikatoren darüberlegen will, also etwas, was man vielleicht bei Unternehmen machen würde, aber doch nicht bei freien Wissenschaftseinrichtungen. Da steckt unheimlich viel Unternehmenssprech und ganz wenig Verständnis für die Vielfalt und Leistungsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems dahinter. Es wäre gut, wenn wir die nächste Wahlperiode endlich dafür nutzen, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gehring.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– unser Wissenschaftssystem noch stärker auf Nachhaltigkeit und auf Klimaneutralität auszurichten. Ein paar sehr gute Ideen kommen da von uns. Also: Wir sind bereit und die Gesellschaft sowieso. Packen wir es an! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Michael von Abercron das Wort. ({0})

Dr. Michael Abercron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Liberalen beglücken uns am Ende der Legislaturperiode mit einem politischen Schaufenster aus enthemmter Deregulierung einerseits und maßloser Überregulierung andererseits. Das reicht bezogen auf den Wissenschaftstransfer vom sich vollkommen kümmernden Nanny-Staat bis hin zu einer Dystopie einer ausufernden Selbstständigkeit. Mit Blick darauf glaube ich, dass einige Vertreter von ihnen zu häufig auf Mandatsreise in Kalifornien waren, ohne sich mit der Kehrseite eines allzu freizügigen Arbeitsmarktes auseinandergesetzt zu haben, der sehr schnell zu einer sozialen Schieflage führen kann. Das sind für mich und meine Freunde der Union keine großartigen Beispiele im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft, für die wir stehen. ({0}) Klar ist aber: Wer viel arbeitet, wer viel leistet, wer viel entwickelt, wer viel forscht, der darf und soll auch viel Geld verdienen. Gleichzeitig darf der Wohlstand der einen aber nicht auf dem Rücken der anderen aufgebaut werden, die sich mit geringfügiger Beschäftigung als Kuriere, Callcentermitarbeiter ohne Sozialversicherung ihre schmale Existenz sichern müssen. Doch bei diesem Ansatz – und der Hinweis gilt ja auch für die Sonderwirtschaftszonen – hört der Liberalismus im vorliegenden Antrag leider auf. Alles Weitere strotzt leider vor staatlicher Übergriffigkeit. Das heißt: Während die einen in eine Scheinselbstständigkeit entlassen werden, bekommen die anderen eine staatliche Rundumversorgung, die selbst den Vergleich zum real existierenden Sozialismus nicht zu scheuen braucht. Dazu ein Beispiel: Die aus dem Ausland angeworbenen Professoren und Gründer werden nach den Ideen der FDP vom Staat bei der Suche nach Kindergartenplätzen, der Planung des eigenen Lebens, der Findung von Wohn- und Arbeitsraum oder auch mit Blick auf jedwede sonstige Bedürfnisse betreut und gefördert. ({1}) Auf Kosten des Steuerzahlers sollen aber auch Beratungsbüros, Hilfseinrichtungen, Transfergremien etabliert werden. Ein solcher staatlich vorgegebener Weg erinnert eher an Lebensläufe eines immobilen Berufsbeamtentums und nicht an innovative, mobile Spitzenforscher und Firmengründer. Der Erfindungsreichtum für weitere Staatseingriffe hört hier aber noch lange nicht auf. Insgesamt habe ich 23 Indikatoren – Evaluationen, Plattformen, Agenturen, Labore, Fonds, Gemeinschaften, Transfersysteme, Büros, Zentren usw. – gefunden, die es in Ihre hier vorliegenden Anträge geschafft haben. Wie man bei diesem Schwall an staatlichen Einrichtungen ernsthaft von Bürokratieabbau sprechen kann, darüber sollten wir nicht nur reden, darüber sollten Sie auch wirklich noch einmal intensiv nachdenken. Es kommt einem so vor, als ob für die diversen Beratungsagenturen irgendwelche AB-Maßnahmen gestaltet werden sollen. Die Kleinteiligkeit, in der dieses Hohe Haus, aber auch die Bundesregierung hier tätig werden soll, ist kaum zu überblicken. So sollen nicht nur Räumlichkeiten für Start-ups geschaffen und gesetzliche Maßnahmen angepasst werden; nein, auch die Ansiedelung einzelner neugegründeter Unternehmen soll bis aufs Stockwerk genau geregelt werden, damit Transfereffekte überhaupt möglich werden. Ein Unternehmen, das schon in der Gründungsphase nur durch staatliche Interventionen den Kontakt zu anderen, gleichwertigen Unternehmen herstellen kann, scheint mir nicht geeignet zu sein, um sich im wirklichen Wettbewerb durchzusetzen. Es wirkt reichlich befremdlich, wenn Sie in Ihren Anträgen bedauern, dass ein Großteil der deutschen Hidden Champions über 50 Jahre alt ist. Deutsche KMU als Weltmarktführer, die in ihren Branchen unangetastet Maßstäbe setzen, sind eben oft schon länger im Geschäft. Das bedeutet aber doch nicht zwangsläufig, dass sie nicht erfolgreich sein können und dass ihnen die Innovationskraft verloren geht. Dieses Erfolgsmodell zu beklagen oder es gar anzugreifen, halte ich für ein fatales Signal an unsere KMU, an unsere mittelständischen Unternehmen, meine Damen und Herren. Bei aller umfangreichen Kritik gibt es aber sicherlich auch positive Anzeichen im Hinblick auf den Wissenstransfer – das wollen wir nicht vergessen, das ist mir sehr wichtig –: Deutschland ist mit fast 26 000 EU-Patentanmeldungen nach den USA auf Platz zwei. Die Programme EXIST und Innovative Hochschule haben zu konstanten Zahlen bei Ausgründungen geführt. Allein bei den Forschungseinrichtungen sind es immerhin 50 pro Jahr. ({2}) Und da muss man beachten, dass diese Unternehmen relativ stabil sind. Es nützt ja nichts, wenn wir Unternehmen gründen, die am Ende gar nicht durchhalten. Und das ist angesichts einer Quote von über 90 Prozent, die durchhalten, hier nicht der Fall. ({3}) Eine andere Zahl ist genauso interessant: Die Hälfte aller Hidden Champions, insgesamt 1 300, kommt aus Deutschland. Ich halte das für eine enorme Leistung und ein ganz großartiges Ergebnis unserer KMUs, meine Damen und Herren. ({4}) In einem Ihrer Anträge wird auch beklagt, dass 70 Prozent der Institute in elf Jahren keine Ausgründungen hatten. Nun kommt es natürlich immer darauf an, welche Institute und Hochschulen ich untersuche. Dass es hier bei Geisteswissenschaften erheblich anders aussieht als in naturwissenschaftlichen und technischen Fachbereichen, liegt doch auf der Hand. Daraus kann man aber einen Umkehrschluss ziehen, nämlich dass unsere Hochschullandschaft außerordentlich vielfältig ist. Und das halte ich für ein sehr positives Zeichen, meine Damen und Herren. ({5}) Trotzdem: Es bleibt viel zu tun, und es gibt auch sinnvolle Ansätze in Ihren Anträgen. Das gilt für die Idee, frisch gegründete Unternehmen von den Gebühren für Verwaltungsakte zu befreien. Auch darüber intensiv nachzudenken, welche Überregulierungen solchen Wissenstransfer und auch solche Ausgründungen behindern, macht Sinn. Das sollten wir zusammen in der nächsten Periode wirklich anpacken. Das gilt auch für den Vorschlag, die Gründerkultur durch eine Gründungsausbildung zu stärken. Das könnte ein wichtiger Schlüssel sein; aber man sollte vielleicht auch schon in den Schulen damit anfangen. Denn schon hier stellt sich die Frage: Wie kann man jungen Menschen klarmachen, dass Existenzgründungen einen großen Wert für die Gesellschaft haben? Lassen Sie mich zum Schluss – das ist bei dem Thema ungewöhnlich – mit einem Zitat von Goethe schließen. Goethe hat gesagt: Die Deutschen, und sie nicht allein, besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen. Setzen wir alles dran, Wissenschaft und Forschung für alle Menschen besser zugänglich zu machen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Schluss der Debatte ist zugleich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Sie erlauben, dass ich mich mit drei Punkten in die Debatte einbringe. Erstens. Im Respekt vor parlamentarischer Arbeit und vor der FDP soll der erste Punkt auf Ihre Anträge zielen. Ich habe sie alle gelesen und übereinandergelegt und bin auf 37 Seiten Text gekommen. Dann hat Herr Mario Brandenburg, Südpfalz, es in vier Begriffen gebündelt. Ich glaube, dazwischen müssten Sie einen Weg finden, um bei den Quellen nicht nur auf die Berichte der Expertenkommission Forschung und Innovation der Jahre 2016 und 2017 und 2018 abzuheben. Wir sind nämlich im Jahr 2021, und da gibt es einen aktuellen Bericht. Und in diesem Bericht sehen Sie, dass all die kritischen Punkte aus der Vergangenheit, die Sie angesprochen haben, nun positiv bewertet werden und was sich alles getan hat. Das muss ausdrücklich anerkannt werden. ({0}) Es ist trotzdem kein unkritischer Bericht, sondern einer, der appellativ sagt: besser werden in der technologischen Anschlussfähigkeit, mehr Augenmerk auf die Fachkräftebasis, Innovationsbeteiligung und ‑transfer in den Mittelpunkt stellen, Agilität und eine neue Missionsorientierung. Das erste Werben geht dahin: Eine gute Innovationspolitik sieht die Dinge zusammen und hält sie zusammen. Das haben wir in der Regierungs- und Parlamentsarbeit versucht, und da ist viel Gutes gelungen. ({1}) Das Zweite ist eine Referenz gegenüber dem Parlament. Wenn ich hier eben einen Regierungsvorschlag angesprochen habe – die Expertenkommission Forschung und Innovation wird ja von der Regierung berufen –, dann möchte ich jetzt aus dem Parlament heraus doch daran erinnern, dass wir – auch wir vom Bildungs- und Forschungsausschuss – eine besondere Institution nutzen können: das rein parlamentsgetragene Büro für Technikfolgen-Abschätzung, das sich mit den Chancen und Risiken von Innovationen befasst. Ich möchte dem Parlament ausdrücklich ans Herz legen: Nehmen Sie diese Institution ernst. Stützen Sie sie, geben Sie ihr die Unabhängigkeit, geben Sie ihr den Spielraum, und respektieren Sie sie vor allen Dingen in ihrer inhaltlichen Arbeit. ({2}) Denn das, was die Arbeit des Büros für Technikfolgen-Abschätzung insbesondere auszeichnet, ist, dass sie von den Inhalten her kommt. Ich darf mich auf Frau Sitte und auf andere Kollegen dort noch mal beziehen: Es geht darum, was den Menschen nützt, welche Chancen, aber auch welche Gefährdungen da sind. Ich könnte jetzt – das will ich dann auch gerne tun – als altgewordener Jungsozialist sagen: Es geht vor allen Dingen um den Gebrauchswert, nicht nur um den Tauschwert. Wir müssen die Gebrauchswerte von Innovationen in den Mittelpunkt stellen. ({3}) Und die Tauschwerte sind dann etwas, was selbstverständlich dazugehört. Ich will einen letzten, einen dritten, auch persönlichen Punkt ansprechen. Frau Präsidentin, ich war auch mal Vizepräsident eines Landtags und weiß, dass man so etwas nicht zu sehr zu einer Art verbundenen Debatte ausdehnen darf. ({4}) Ich möchte mich auf das beziehen, was der von mir sehr geschätzte Kollege und Minister Müller in seinem Beitrag heute angesprochen hat. Er hat nämlich daran erinnert, dass er aus der Kindergartenzeit etwas für ihn sehr Wichtiges gelernt hat: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu. – Diese Übersetzung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant in kindliche Weisheit will ich insoweit ergänzen, als auch ich eine Erinnerung an etwas sehr Frühes im eigenen Leben habe: Ich bin 1957 an einer Grundschule eingeschult worden, das war die Koppeldamm-Schule. Sie hatte einen großen Einzugsbereich, mit Kindern aus allen sozialen Schichten, den Akademikerkindern, den Unternehmerkindern – nomen est omen – aus der Roonstraße und aus der Moltkestraße und den Kindern aus den einfacheren Verhältnissen vom Stadtrand. Und wie das damals war: Es gab keine Handys und anderes; aber es gab den Fotografen, der sich nach zwei Wochen in dieser Klasse mit 28 Kindern, die sich bisher gar nicht kannten, einfand, um ein großes Foto für uns – zusammen mit unserer Klassenlehrerin Fräulein Reh, wie man sie damals respektvoll nannte – anzufertigen, damit wir es stolz den Eltern und Großeltern zeigen konnten. Wie wurden diese 28 Kinder gruppiert? In drei Reihen. Es gab eine erste Reihe, in der saßen die Kinder, eine zweite Reihe, da standen sie, und eine dritte Reihe, da wurden sie auf kippelige Stühle gestellt. Diejenigen aus der Roon- und aus der Moltkestraße und diejenigen mit dem akademischen und dem unternehmerischen Hintergrund saßen in der ersten Reihe, die Facharbeiter- und Handwerkerkinder standen in der zweiten Reihe, und diejenigen aus den Barackensiedlungen, die kippelten in der dritten Reihe. Das war damals die Umsetzung einer Erwartung, dass die einen auf das Gymnasium, die anderen auf die Realschule und die dritten auf die Haupt- oder auf die Sonderschule gehen sollten. Das hat mich beschäftigt, und es sollte uns immer noch beschäftigten. Es hat schon ganz viel stattgefunden, damit dies heute nicht mehr so ist. In der nächsten Debatte heute werden Sie einen Schwerpunkt setzen und dafür sorgen können, damit die Chancengleichheit, das gemeinsame Lernen und Leben von Kindern in ihrem Respekt gegenüber ihren eigenen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, einen zusätzlichen Baustein bekommt. Dafür werben wir. Dafür kämpfen wir. Das müssen wir jetzt gut machen. Und wenn ich sage: „Das müssen wir jetzt gut machen“, dann muss ich ehrlich bleiben: Sie müssen noch ganz vieles gut machen. Dafür wünsche ich Ihnen alles Glück in diesem wunderbaren Parlament, dem Weinberg der Demokratie. Danke schön. ({5})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Lehrerin aus Bayern und als ehemalige Augsburger Kommunalpolitikerin ist es heute für mich ein guter Tag nach einem sehr langen Weg. Wir beschließen den Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung für Grundschulkinder ab 2026. Das ist bitter nötig; denn die bisherige objektiv-rechtliche Verpflichtung im Kinder- und Jugendhilferecht hat leider nicht dazu geführt, dass überall ein bedarfsgerechtes Angebot zur Verfügung steht. Besonders gilt das für die großen süd- und westdeutschen Flächenstaaten, auch für meine Heimat Bayern. Es hapert sowohl noch bei der Zahl der Plätze als auch bei der Qualität der Angebote. Beides gehen wir jetzt an, und wir sollten es weiterhin miteinander tun, fraktionsübergreifend und im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen. ({0}) Wir haben unseren Teil erfüllt: Der Bund stellt einen großen Teil der Investitionskosten zur Verfügung. Mit unserem Änderungsantrag sorgen wir dafür, dass die Kommunen die Investitionsmittel flexibel einsetzen können, zum Beispiel auch für Ausstattung, und ausreichend Zeit bekommen, um sie auch komplett abzurufen. Damit gehen wir auf die Sorgen und Bedenken ein. Damit sollten sie dann aber auch schnell loslegen können. Die Familien haben kein Verständnis mehr dafür, noch länger auf ein Angebot warten zu müssen, das eigentlich schon längst vorhanden sein sollte. ({1}) Auch an den Betriebskosten wird sich der Bund nun dauerhaft in erheblichem Umfang beteiligen. Er stellt sich dieser gemeinsamen Aufgabe. „Gemeinsam“ kann aber nicht heißen, dass die Länder aus der Pflicht entlassen werden. Wir haben als Koalition daher noch einmal sehr deutlich unsere Erwartung formuliert, dass die Kommunen bei dieser Aufgabe unterstützt werden und nicht auf den Kosten sitzen bleiben. Lassen Sie uns doch wie bisher am gut gefundenen Kompromiss zwischen Ministerpräsidenten und Bundesregierung festhalten, weiter daran arbeiten und dranbleiben. Sehr froh bin ich, dass wir ein Gesetz zur Förderung im Ganztag beschließen. Denn Qualität zählt, und dabei geht es nicht nur um Betreuung von Kindern. Ganztagsplätze sind wichtig für die Eltern, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit auch für die Wirtschaft; das hat auch unsere Anhörung noch einmal klargemacht. Eine umfassende Förderung ist aber vor allem eine Chance für Kinder, eine gute Gelegenheit, die Verkettung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu entkoppeln. Dazu müssen Angebote dem Dreiklang von Bildung, Erziehung und Betreuung folgen. Es geht auch darum, den Kindern partnerschaftlich zu begegnen. Die Regelung im SGB VIII bietet jetzt Möglichkeiten für Formate, die jedem Kind Raum für seine individuelle Entwicklung geben, die neben der schulischen auch die sportliche und musische Bildung berücksichtigen und daneben Freiräume und Anregungen für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bieten, wie es unser Kinder- und Jugendhilferecht als Leitbild vorgibt. ({2}) Viele kluge Menschen haben in den letzten Jahren engagiert gearbeitet und Konzepte entwickelt, wie so eine gute und kindorientierte Ganztagsförderung aussehen kann. Stellvertretend nenne ich die Projekte beim Deutschen Verein und des AWO Bundesverbandes mit der Bertelsmann- und der Bosch-Stiftung sowie der Stiftung Mercator. Was uns dazu momentan noch fehlt, sind die Menschen, die den Ganztag vor Ort umsetzen, also Lehrer/‑innen, Erzieher/-innen, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, gut ausgebildet und tariflich fair bezahlt. Daran hängt alles. ({3}) Das nächste Parlament und die nächste Bundesregierung sind deshalb weiterhin gefragt, Länder und Kommunen mit Ideen, Projekten und Initiativen zur Fachkräftegewinnung zu unterstützen. Ich darf an dieser Stelle zum Schluss auch noch mal allen danksagen, die bis zu diesem Punkt so erfolgreich mitgewirkt haben. Ich danke den Ministerien, deren Mitarbeiterstäben. Ich danke auch den Grünen für die konstruktiven Vorschläge und Einbringungen. Ich danke aber vor allem unserem Koalitionspartner für die konstruktiven, guten, ehrlichen und offenen Gespräche. Ich danke an dieser Stelle Sönke Rix, der intern ein unermüdlicher Brückenbauer in diesem Sinne für die Ganztagsförderung ist. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bahr, Sie können weiterreden, tun das aber auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, keinesfalls. Ich komme zum Ende. – In diesem Sinne hoffe ich auf Ihrer aller Unterstützung und auf die Zustimmung des Bundesrats in der nächsten Woche. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lange hat es gedauert: Nun steht der Gesetzentwurf für einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder zur Abstimmung, zwar erst ab dem Jahr 2026 stufenweise, aber immerhin. Die AfD begrüßt, dass Familien unterstützt werden sollen. Die AfD begrüßt, dass für Familien und Kinder Geld in die Hand genommen werden soll. Familien brauchen Unterstützung. Familien brauchen verlässliche Kinderbetreuung. Familien brauchen echte Wahlfreiheit. Der Rechtsanspruch ist überfällig. ({0}) Aber die Regierung macht es sich bei der Finanzierung einfach. Dafür zahlen sollen überwiegend andere. Die Frage, ob die Bundesregierung überhaupt die Gesetzgebungskompetenz für das Ganztagsförderungsgesetz besitzt, steht im Raum. 80 Prozent der Betreuung werden in Grundschulen geleistet. Man kann also schon diskutieren, ob dieser Rechtsanspruch nicht in die Schulgesetze der Länder gehört. Das funktioniert ja auch: Vier Bundesländer haben diesen Rechtsanspruch bereits eingeführt. Ich frage die GroKo und die Grünen: Warum haben Sie nicht längst auf Länderebene diesen Rechtsanspruch bundesweit eingeführt? Seit Jahren, seit Jahrzehnten regieren Sie dort. Wir warten auch gespannt darauf, wann Ministerpräsident Kretschmann die Forderungen der Grünen hier im Bundestag im Baden-Württembergischen umsetzt. Schauen wir mal, wie weit dann die Forderungen von hier in der Realität ankommen. Familien kommen aber bei dieser Regierung auch oft erst dann zum Zuge, wenn es vor allem der Wirtschaft nützt. Mit der Fachkräfteeinwanderung aus dem Orient hat es nicht ganz so geklappt. ({1}) Um es mit Frau Göring-Eckardt zu sagen: Es sind noch mehr Leute gekommen, die unsere Sozialsysteme bereichern und sich dort wohlfühlen. Jetzt sollen Mütter herhalten und nach dem Willen der Regierung am besten Vollzeit arbeiten. Gut 1 bis 2 Milliarden Euro jährlich an Sozialleistungen und Steuern sollen Mütter demnächst also erwirtschaften – alles Geld, das hauptsächlich dem Bund zugutekommt. An den 7,5 Milliarden Euro Investitionskosten beteiligt sich der Bund noch zur Hälfte, aber an den 4,5 Milliarden Euro Betriebskosten pro Jahr nur noch mit 20 Prozent. Den großen Rest bürdet man den Ländern und den Kommunen auf. Und von den 100 000 zusätzlichen Stellen für Betreuer, die noch gefunden und eingestellt werden müssen, spricht man am besten gar nicht. Das ist so nicht zielführend. ({2}) Länder und Kommunen ächzen unter der Lockdown-Krise, die ihnen diese Regierung eingebrockt hat. Länder und Kommunen ächzen immer mehr unter den Aufgaben, die ihnen der Bund aufbürdet. Wenn dieses Gesetz so verabschiedet wird, dann werden Familien vermutlich durch Grundsteuer- und Grunderwerbsteuererhöhungen den neuen Rechtsanspruch kräftig mitbezahlen. Dann gibt es halt für Paul und Sophie einen Ganztagsplatz, aber für Mama und Papa vielleicht eine kleinere Wohnung oder eben kein Häuschen im Grünen. ({3}) Ein Kinderfreizeitbonus vor der Wahl. Das ist schön; das ist gut für die Kinder. Aber natürlich kann man da auch an Wahlgeschenke denken oder an Helikoptergeld, das zur Ankurbelung der Wirtschaft dienen soll. Wir werden trotzdem dem Kitafinanzhilfenänderungsgesetz zustimmen und uns beim Ganztagsförderungsgesetz aus besagten Gründen enthalten. Die Bundesregierung lindert hier einen Teil der Folgen ihrer missratenen Lockdown-Politik, aber sie schafft immerhin Verbesserungen. Das muss man anerkennen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bahr war ja sehr bescheiden in ihrer Bewertung dieses Gesetzes. Ich bin im Grunde auch bescheiden. Aber ich sage mit Blick auf die Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden Familien eines: Dieses Gesetz, mit dem der Rechtsanspruch festgeschrieben wird, ist eines der wichtigsten Gesetze dieser Legislaturperiode. Wir können stolz sein, dass wir es heute noch verabschieden werden, ({0}) Weil es für die Familien mehr Möglichkeiten und mehr Freiheiten schafft. Keiner will sie zwingen, die Ganztagsbetreuung zu nutzen. Aber den Rechtsanspruch zu schaffen, das ist wichtig, damit die Familien frei entscheiden können. Es gibt nicht nur eine familienpolitische, sondern auch eine bildungspolitische Komponente; darauf werde ich gleich eingehen, auch mit Blick auf die Rede von Herrn Rossmann. Für uns ist wichtig, dass Familien, gerade auch in ländlichen Gebieten, selbst entscheiden können. Sie sollen nicht mehr sagen müssen: Wir haben eine tolle Ganztagsbetreuung in der Kita. Aber dann kommt das Kind in die Grundschule, und auf einmal muss ich mein Berufsleben, mein Familienleben wieder umstellen, weil ich keine Ganztagsbetreuung habe. ({1}) Deswegen ist dieses Gesetz richtig, weil es den Anschluss schafft von der Kita in die Grundschule, damit Familien Planungssicherheit haben und das umsetzen können, was sie in ihrem Familienleben gemäß ihres Familienmodells gern umsetzen wollen. ({2}) Das ist familienpolitisch wichtig. Dass es auch bildungspolitisch wichtig ist, brauche ich Ihnen in dieser Runde, glaube ich, nicht zu erzählen. Mit Blick auf kognitive Fähigkeiten, emotionale Fähigkeiten, soziale Fähigkeiten wissen alle Bildungsforscher und Bildungsinteressierte: Die frühe Förderung ist das Entscheidende. Wenn ich 1 Euro investiere, dann möglichst früh, ({3}) weil ich dort einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft entwickle. Wir reparieren zu viel. Wir müssen investieren. Deswegen ist das richtig. ({4}) Dritter Punkt. Es ist sozialpolitisch wichtig. Jetzt bin ich bei Dr. Rossmann: Ob man sitzen darf, stehen kann oder kippeln muss – entscheidend ist, wie Kinder zusammen groß werden und wie sie aufwachsen. Deswegen ist es sozialpolitisch wichtig, dass sich die Kinder aus verschiedenen Milieus über eine längere Zeit den Tag hinweg im Rahmen besonderer Angebote besser kennenlernen. Das ist sozialpolitisch und integrationspolitisch wichtig. ({5}) Denn wo lernt man Sprache? Man lernt Sprache mit anderen Kindern. Wir reden hier über Acht-, Neun- und Zehnjährige. Es ist gut und richtig so, dass wir jetzt dieses Angebot erweitern. ({6}) Deswegen haben wir in der Koalition – das ist auch Teil unseres Wahlprogramms – gesagt: Das umzusetzen, ist eine zentrale Aufgabe. Es ist ja ein Gesamtkonstrukt, das wir entwickeln. Wir haben gesagt: Beim Gute-Kita-Gesetz geht es um die Qualität in der Kita. Wir haben gesagt: Beim Familienstärkungsgesetz geht es um die Situation von Familien, gerade auch aus schwächeren Milieus. Bei der Ganztagsbetreuung geht es um die Familien und um die Bildung der Kinder. Das ist das Wichtigste für Familien. Die Eltern wollen ihre Kinder gut betreut wissen, nicht nur satt und sauber, sondern mit einer hohen Qualität. Das soll gewährleistet sein mit der Umsetzung des Gesetzes. Und weil das so ist, ist das nicht nur die Aufgabe des Bundes oder der Länder oder der Kommunen; das ist eine nationale Aufgabe. Jetzt aber – wie sagt man in Hamburg? – Butter bei die Fische! Jetzt muss jeder etwas liefern für diese Aufgabe und für die Familien. Es darf nicht passieren, dass wir als Politik – damit meine ich nicht nur uns als Koalition oder Opposition – das nicht hinbekommen. Deswegen ist es die große Bitte an die Länder und die Kommunen, zu sagen: Ja, auch wir nehmen unsere Verantwortung wahr und setzen das um. – Die Länder und Kommunen leisten Großartiges; in vielen gibt es übrigens schon diesen Rechtsanspruch. Aber es kommt darauf an, dass jetzt alle mitziehen. Wir als Bund haben gesagt: Wir übernehmen 30 Prozent der Betriebskosten. Noch vor 15 Jahren hätte man gesagt: Das ist doch gar nicht unser Thema; das ist nicht unsere Kompetenz – Stichwort „föderatives System“. Wir sagen aber: Es ist eine nationale Aufgabe. Deswegen beteiligen wir uns an den Investitionen mit 3,5 Milliarden Euro und an den Betriebskosten mit bis zu 1 Milliarden Euro. Dann haben wir noch eins draufgelegt – das ist jetzt so ein bisschen wie auf dem Fischmarkt –: Wir haben uns auch um die Fristverlängerung um ein Jahr gekümmert. Bei der Ausschreibung haben wir sogar gesagt: Ihr könnt diese Mittel auch für die Ausstattung im Ganztagsbetreuungsbereich einsetzen. – Das ist das Angebot, das wir entwickelt haben. Jetzt kommt es darauf an, dass Länder und Kommunen sagen: Wir machen das. Wir haben fünf Jahre Zeit, dies umzusetzen, also fünf Jahre, um uns um die Fachkräfteausbildung zu kümmern und Qualitätsstandards zu setzen. Die Familien warten darauf. Die Familien – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, die kleine Kinder von ein, zwei oder drei Jahren zu Hause haben, wollen in fünf Jahren einen guten Betreuungsplatz mit einer guten Betreuung haben. Das ist unsere Aufgabe, und dafür kämpfen wir. Deswegen ist dieses Gesetz ein gutes Gesetz. Wir bitten um Unterstützung. Wir bitten um eine gute Umsetzung dieser Maßnahmen in den Ländern und in den Kommunen – für unsere Familien. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias Seestern-Pauly für die FDP-Fraktion. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerinnen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist leider nichts anderes als ein leeres Versprechen. Denn was Sie nicht vorlegen, sind konkrete Qualitätsstandards, auch wenn das hier vielfach angepriesen wurde, und ein umsetzbarer Fahrplan zum Ziel. Was somit bleibt, ist ein Rechtsanspruch auf dem Papier. Ein solcher Rechtsanspruch ist aber nichts wert, wenn er nicht auch realistisch umgesetzt werden kann. Genau das geschieht aber hier, und deswegen droht dieser Rechtsanspruch zu einer riesigen Hypothek für unsere Familien zu werden. Denn Eltern werden enttäuscht sein, wenn sie nicht, wie versprochen, einen Ganztagsplatz für ihre Kinder erhalten werden. Es fehlen schlicht die Fachkräfte – das ist angesprochen worden –, und auch zukünftige und absehbare Gerichtsurteile – die wird es dazu geben – werden keine weiteren Plätze zaubern können. Besonders aber unsere Kinder werden für Ihren Flug ins Blaue die Zeche zahlen. Denn mit diesem Gesetzentwurf vertun Sie eine große Chance für wirklich gute und klare Rahmenbedingungen in der Ganztagsbetreuung, und zwar, weil Sie Qualitätsstandards schlicht aussparen. ({0}) Diese fundamentalen Schwächen des Gesetzentwurfes sind uns auch allen bekannt. Auch in der öffentlichen Anhörung haben die Verbändevertreter keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den Gesetzentwurf an sich zwar begrüßen, aber nicht, weil der Gesetzentwurf gelungen wäre, sondern weil sie schlicht die Befürchtung haben, dass ansonsten überhaupt kein Rechtsanspruch zustande kommt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist keine Unterstützung. Das ist ein Misstrauensvotum gegenüber einer Regierung, von der man nichts mehr erwartet. Deswegen wird es auch die nächste Bundesregierung richten müssen. Die nächste Bundesregierung wird diese Gesetzesbaustelle übernehmen müssen, die Sie uns hier hinterlassen; das ist ja auch in den Reden der Vorredner und Vorrednerinnen der Großen Koalition angesprochen worden. Wir Freie Demokraten scheuen uns nicht vor harter Arbeit. Wir wollen in der nächsten Bundesregierung alles daransetzen, dass die Fehler dieses Gesetzes korrigiert werden. Wir Freie Demokraten wollen nämlich einen starken und qualitativ hochwertigen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. ({1}) Schauen Sie gerne in unseren Entschließungsantrag, den wir heute eingebracht haben. Da bekommen Sie auch einen ersten Überblick über all die Leerstellen, die Sie mit ihrem Gesetz hier hinterlassen. Oder Sie lesen einfach Ihren eigenen Entschließungsantrag. Der liest sich nämlich wie ein Offenbarungseid. Es ist eine Auflistung dessen, was in ihrem Gesetz alles fehlt. Oder Sie fragen ihre eigenen Ministerpräsidenten, warum dieser Gesetzentwurf wohl nicht durch den Bundesrat kommen wird. Meine Damen und Herren, es ist bezeichnend, wie Sie bei diesem wichtigen Thema noch einmal mehr zeigen, dass Sie entweder nicht mehr können oder nicht mehr wollen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen und sagen, ich hätte keine Wette mehr darauf abgeschlossen, dass die Koalition noch in der Lage sein wird, zum Ende der Wahlperiode den Rechtsanspruch auf den Weg zu bringen und hier auch abzuschließen. Jetzt kommt der Anspruch auf Ganztagsbetreuung. Er kommt später, als im Koalitionsvertrag angekündigt, aber dafür mit mehr Bundesgeld, und das ist, finde ich, im Grundsatz eine gute Sache. ({0}) Dennoch sind im Gesetzentwurf Defizite enthalten, und die kriegen Sie nicht wegdiskutiert. Der Kollege Seestern-Pauly hat es gesagt: Ihr eigener Entschließungsantrag liest sich ja schon fast wie ein Entschuldigungsschreiben an Eltern, an Schülerinnen und Schüler sowie an Fachkräfte, die später dort arbeiten sollen, weil wir wie beim Kitaausbau keine bundesweiten Regeln für die Qualität festsetzen und noch nicht mal in Aussicht stellen – das gilt zum Beispiel für den Fachkraft-Kind-Schlüssel – und weil keine Vorsorge getroffen wurde für die notwendigen Fachkräfte, die ab 2026 definitiv fehlen werden; das wissen wir. Diese beiden Defizite müssen dringend ausgeräumt werden, und wenn nicht mehr am heutigen Tage, dann muss das zu Beginn der nächsten Wahlperiode passieren; denn sonst wiederholen wir alle Fehler aus dem Kitaausbau. ({1}) Deswegen werden wir uns als Fraktion an dieser Stelle nur enthalten können. Aber wir gehen mit Ihnen mit. Das Ziel des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung ist ein richtiges, und das unterstützen wir auch weiterhin. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich beabsichtige, am 26. September den Potsdamer Bundestagswahlkreis gegen Olaf Scholz und Annalena Baerbock direkt zu gewinnen. ({2}) Für den unwahrscheinlichen Fall, dass dies nicht gelingt, wäre dies heute hier meine letzte Rede. Deswegen will ich die Gelegenheit nutzen, insbesondere den Kolleginnen und Kollegen Sprechern und Obleuten aus den demokratischen Fraktionen im Familienausschuss für die Zusammenarbeit in den letzten Jahren zu danken. Ich will mich insbesondere auch namens meiner Fraktion bei Ihnen bedanken, dass Sie unsere politischen Initiativen, Anträge und Gesetzentwürfe ernst genommen und wertgeschätzt haben. Sie haben Sie alle abgelehnt, aber wir haben viele unserer Forderungen in der Regierungspolitik wiedergefunden. Das werden Sie nicht unbedingt zugeben, aber ich finde, da hat sich unsere Arbeit gelohnt. Deswegen geht mein Dank für die gute Zusammenarbeit an Sie. ({3}) Mein besonderer Dank geht an die Kolleginnen und Kollegen in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, der ich seit sieben Jahren angehöre, er gilt der Kollegin Wiesmann, die hier in meinem Nacken sitzt, er gilt Susann Rüthrich, Matthias Seestern-Pauly, Charlotte Schneidewind-Hartnagel und Sven Lehmann. Ich will sie deswegen ausdrücklich erwähnen – viele Kollegen wissen das nicht –, weil die Kinderkommission völlig anders funktioniert als alle anderen Gremien des Deutschen Bundestages. Es gelten bei uns die Spielregeln nach Opposition und Koalition nicht. Wir müssen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, und wenn dies nicht gelingt, ist die Kinderkommission nicht produktiv. Sie war in dieser Wahlperiode sehr produktiv. Wir haben gute Stellungnahmen zustande gebracht. Wir haben auf Augenhöhe zusammengearbeitet. Deswegen will ich mich bei euch ausdrücklich für diese wirklich hervorragende Zusammenarbeit bedanken und das Ganze mit einem Wunsch verbinden, nämlich in der nächsten Wahlperiode darum zu kämpfen, dass die Kinderkommission weiter existiert und nicht sang- und klanglos verschwindet. Die Debatten haben wir alle vier Jahre. ({4}) Kein Dank gilt der rechtsextremen Trümmertruppe hier auf der äußeren Seite des Hauses. Ich will das ganz klar sagen: Sie sind Faschisten und Antidemokraten. Das haben Sie ausreichend unter Beweis gestellt. Ihrer Politik, die Sie in den letzten Jahren in aller Menschenverachtung hier ausgebreitet haben, ({5}) werden sich alle Demokratinnen und Demokraten auch in Zukunft entgegenstellen, und zwar so lange, bis Ihr politischer Einfluss weiter eingedämmt wird, ({6}) bis Sie weniger werden und bis Sie schlussendlich von der politischen Bühne verschwinden, auch aus dem Deutschen Bundestag. Ich gebe Ihnen mein Wort: Ich werde hier im Bundestag und draußen auf der Straße dafür kämpfen, dass der Faschismus in Deutschland und Sie niemals mehr eine Chance haben. ({7}) Allen anderen wünsche ich: Auf Wiedersehen und vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich beginne bei Norbert Müller und komme dann zu Frau von Storch: Sie haben zwar keine einzelnen Personen aus der AfD-Fraktion angesprochen, ich rüge aber trotzdem die Bezeichnung, die Sie hier gewählt haben; ich werde sie jetzt nicht wiederholen. Genauso rüge ich den Zwischenruf der Abgeordneten Beatrix von Storch. Auch diese Bezeichnung werde ich nicht wiederholen. Wir finden das alles im Protokoll wieder. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Margit Stumpp für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zeit läuft uns davon, nicht nur, was die Umsetzung der Koalitionsversprechen angeht – da sind wir es inzwischen gewohnt, dass Sie Vorhaben auf die lange Bank schieben, wie zum Beispiel den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule, der jetzt am Ende der Legislatur hechelnd unter Zeitdruck noch auf den Weg gebracht wurde –, die Zeit läuft uns insgesamt davon, weil die Bildungschancen unserer Kinder und Jugendlichen immer noch vom Status des Elternhauses abhängen. Die Pandemie hat diese Situation noch verschärft. Diesen Missstand beklagen wir schon lange; er muss endlich angegangen werden, nicht nur mit kurz- und mittelfristigen Maßnahmen, sondern strukturell. ({0}) Zwei Instrumente dafür stehen heute zur Debatte: Der Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule und die Förderung von Schulen in benachteiligten Quartieren. Wie gesagt, er kommt spät, aber er kommt, der Rechtsanspruch auf Ganztag. Ein gutes Ganztagsangebot ist essenziell für die Bildungschancen aller Kinder und für die Wahlfreiheit von Familien. ({1}) Das ist nicht neu. Die Länder hätten sich spätestens seit dem Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz darum kümmern müssen; zur Erinnerung: Der ist fast schon ein Vierteljahrhundert alt. Allein passiert ist in dieser Zeit viel zu wenig; deswegen sind wir gemeinsam gefordert – Bund, Länder und Kommunen –, das Recht auf Ganztag jetzt zügig und in angemessener Qualität umzusetzen. Quantität, also nur zusätzliche Plätze, helfen uns bei der Bildungsgerechtigkeit nicht weiter. Was die Qualität betrifft, mache ich aus meinem Herzen keine Mördergrube: Als Teil eines Elternpaares, das zwei Kinder ohne Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz und ohne Rechtanspruch auf Ganztag in der Grundschule großgezogen hat, ist mir im Moment der Spatz in der Hand wichtiger als die Taube auf dem Dach. Ich komme zu unserem Antrag „Jedes Kind ist exzellent …“. Damit gehen wir eine wesentliche Ursache für ungleiche Bildungschancen an. Gerade die Schulen in finanziell schlecht aufgestellten Kommunen und Quartieren sind sowohl finanziell als auch personell am schlechtesten ausgestattet und sollen gleichzeitig die größten Herausforderungen im Hinblick auf gleiche Bildungschancen bewältigen. Das ist ein Widerspruch, und dieser muss dringend aufgelöst werden. ({2}) Deswegen fordern wir in der festen Überzeugung, dass gute Bildung für jedes Kind eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, dass der Bund dort unterstützt, wo die Not am größten ist. Wir legen heute ein praktikables Konzept vor, damit Schulen dort gestärkt werden, wo sich die Problemlagen häufen, damit sie die Kinder und Jugendlichen angemessen begleiten können, die diese Begleitung am dringendsten brauchen. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit Schulen in benachteiligten Quartieren und Regionen zu Leuchttürmen der Bildungsgerechtigkeit werden können. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Dietlind Tiemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ganztagsförderungsgesetz ist in der ersten Lesung als gesamtgesellschaftlicher Meilenstein bezeichnet worden; wenn wir die Reden heute ein bisschen zusammenfassen, dann kann man das schon so sagen. Viele haben nicht nur darauf gewartet, sondern aktiv daran mitgearbeitet. Wir sind froh, dass wir heute darüber abstimmen. Ich möchte das Augenmerk auf den Bereich Bildung legen und ganz kurz zusammenfassen, was ich darunter verstehe: Bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe muss zum Ziel haben, qualitativ hochwertig, vergleichbar und transparent zu sein. Ich gehe kurz auf die bildungspolitischen Aspekte der Ganztagsbetreuung ein: Wir haben die Definition des Deutschen Jugendinstituts eins zu eins übernommen, das heißt, Betreuung an allen Werktagen, acht Zeitstunden Schule und Betreuung pro Tag, definierte Schließzeiten, und – das ist aus meiner Sicht das Wichtigste – Einrichtungen brauchen eine Betriebserlaubnis oder müssen unter Aufsicht des Schulgesetzes stehen. Wichtig für mich ist die freie Wahl. Es geht um unsere Kinder und um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf; dabei müssen die Kinder immer im Vordergrund stehen. ({0}) Dieses Qualitätsmerkmal, das ich eben ansprach, garantiert, dass der Rechtsanspruch in allen Bundesländern gleich umgesetzt werden muss. Das ist für sich ebenfalls ein Meilenstein; denn wie wir alle wissen, diskutieren wir nicht zu Unrecht über den Flickenteppich im Bildungssystem in den Bundesländern. Mit diesem Gesetz sind wir, glaube ich, einen Schritt weiter in die richtige Richtung – hochwertig, vergleichbar und transparent – gegangen. Dafür sind wir mit den Koalitionsanträgen auf die Länder und besonders auf die Kommunen zugegangen. Wir haben die Antragsfrist für die Bonusmittel verlängert – vieles wurde angesprochen –, nicht nur Neuinvestitionen, sondern auch Ausstattungsinvestitionen sind möglich. Wir erwarten eines: dass das Geld, das wir zur Verfügung stellen, auch wirklich bei den Trägern, bei den Kommunen ankommt. Das ist aus meiner Sicht ganz wichtig und hier noch mal hervorzuheben. ({1}) Lassen Sie mich noch einen Gedanken herausstellen. Es geht darum, dass alle Akteure, die für den Ganztag verantwortlich sind, vor Ort zusammenarbeiten, dass es kein Stückwerk gibt, sondern dass alle in die gleiche Richtung arbeiten, um die beste Qualität zu sichern. Ich will noch einen weiteren Gedanken ansprechen, der sich insbesondere aus den Gesprächen mit entsprechenden Trägern in den letzten Wochen herausgebildet hat, nämlich die Tatsache, dass die Qualität von Ganztagsschulen und Hortangeboten zu vereinheitlichen ist. Ich meine, dass das Thema Inklusion gerade auch in diesem Bereich eine große Rolle spielen muss. Die Anforderungen für Schulen sind definiert, im Hortbereich und bei der Ganztagsbetreuung haben wir noch Nachholbedarf. ({2}) Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, finde ich es richtig und wichtig, dass wir heute gemeinsam darüber abstimmen. Wir werden in unseren Kommunen, in den Ländern die Qualität, die wir für die freie Wahl der Ganztagsbetreuung wollen, gewährleisten. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marja-Liisa Völlers das Wort. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist ein wichtiger Tag für viele Kinder und Eltern. Mit dem Ganztagsförderungsgesetz schaffen wir bis 2026 für jedes Grundschulkind einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und sorgen bundesweit für gleichwertige Lebensverhältnisse für Kinder und Familien. ({0}) Dies ist ein ganz großer Schritt nach vorne, schon fast historisch, hin zu einer noch besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem ein Motor für bessere, für gleiche Bildungschancen für alle Kinder in unserem Land. ({1}) Ja, wir wollen Wahlmöglichkeiten für die Familien schaffen; das wurde heute schon mehrfach angesprochen. Man kann den Ganztag nutzen, man muss es aber nicht. Gerade die Coronazeit hat uns noch einmal deutlich gezeigt, wie stark die Lernchancen und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen von ihrer Herkunft, ihrem Wohnort oder ihren Lebensumständen abhängig sind. Hier müssen wir Angebote schaffen, die dazu beitragen, die soziale, kulturelle, gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder sicherzustellen. Der Ganztag ist an dieser Stelle eines der stärksten Instrumente, das wir haben. ({2}) Die Ganztagsbetreuung – das wurde heute auch deutlich – muss qualitativ hochwertig, aber auch ein ganzheitlicher Ansatz sein. Neben der schulischen Bildung müssen wir in Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe, den Schulen, Horten, Musikschulen, Sportvereinen Raum schaffen für qualitativ gute Angebote. Nur gemeinsam wird es gehen. Ich möchte zwei Beispiele aufzeigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von Menschen, die hiervon profitieren werden. Das ist zum einen eine alleinerziehende Mutter dreier Kinder, nennen wir sie Melanie, sie kann nur Teilzeit arbeiten, Vollzeit geht momentan nicht, sie strampelt sich ab, geht zur Arbeit, versorgt ihre Kinder, kocht Essen und betreut die Hausaufgaben. Für sie ist das ein ständiger Balanceakt. Sie braucht den Ganztag. ({3}) Die Folgen der noch fehlenden flächendeckenden Ganztagsbetreuung sind offensichtlich: weniger Einkommen für die Familie und weniger Rente im Alter. Mit diesem neuen Rechtsanspruch für Grundschulkinder schließen wir diese gravierende Lücke in der Kindertagesbetreuung. ({4}) Zum anderen ist da Carlos, zehn Jahre, das jüngste Kind in der Familie. Wenn Carlos von der Schule nach Hause kommt, sind er und sein Bruder meistens alleine. Warmes Mittagessen gibt es nicht. Die Eltern müssen arbeiten. Die Hausaufgaben müssen, auch bei Fragen, alleine geschafft werden. Wie Carlos geht es vielen Kindern in unserem Land. Durch den Rechtsanspruch geben wir zukünftigen Kindern wie ihm die Möglichkeit auf eine gute Ganztagsbetreuung: Hilfe bei den Aufgaben, jeden Tag ein warmes Mittagessen, aber eben auch individuelle Förderung und kreative Angebote. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Recht auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, von Ländern und von unseren Kommunen. Wir haben alle auf unterschiedlichsten Ebenen lange und gut miteinander gestritten, hart verhandelt, und der Prozess – das wissen viele hier im Haus – war nicht einfach. Aber wir haben es geschafft, und wir waren erfolgreich. Wir als SPD-Bundestagsfraktion gehen gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, mit der Union, mit einem erheblichen finanziellen Beitrag, fast 1 Milliarde Euro pro Jahr, in die Mitverantwortung ({6}) und schaffen damit wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ganztagsbetreuung. Es gilt nun – das ist nur eine kleine Mahnung, das wurde heute auch schon mehrfach angesprochen –, den letzten Kraftakt zu meistern und diese historische Chance, die wir heute und in den nächsten Wochen miteinander haben, ebendiesen Ganztagsanspruch in einer Grundschule zu verankern, nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. ({7}) Meine Damen und Herren, der Bundestag verabschiedet viele, viele Gesetze. Einige geraten leider allzu schnell in Vergessenheit. An diesem Gesetz mitgearbeitet zu haben, war für mich eine sehr große Ehre: für die zukünftigen Melanies, für die zukünftigen Carlos’, für alle Kinder und Familien in diesem Land. All das wird bleiben. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Maik Beermann das Wort. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns Politikern wird oft vorgeworfen, dass wir uns in Sonntagsreden hinstellen, große Versprechungen machen, auch viele Dinge loben. Aber dann bei der Umsetzung, wenn es zum Schwur kommt, fängt es oftmals an zu hapern. Der Weg zu dem Gesetz, das wir heute hier verabschieden, war anstrengend. Das waren harte und zähe Verhandlungen: Ich gucke zu meinem Kollegen Christian Haase, der mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen den kommunalen Bereich in meiner Fraktion vertritt. Ich gucke in die Richtung der Bildungspolitikerinnen und ‑politiker, aber auch in die Augen meiner Kolleginnen und Kollegen im Familienausschuss. Das war garantiert nicht immer einfach. Aber heute bringen wir das zu Ende, was wir lange vorbereitet haben. Es ist auch gut so, dass es heute eben genau zu diesem Schwur kommt und wir dieses Gesetz verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich möchte aber auch voller Überzeugung und auch Stolz sagen, dass sich, so glaube ich, die Große Koalition in diesem Falle an der einen oder anderen Stelle bei den Familienpolitikerinnen und ‑politikern durchaus etwas abgucken kann. Gemeinsam mit unseren Sprechern Sönke Rix und Marcus Weinberg, haben unsere Fraktionen in den letzten Jahren viele gute Dinge für die Familien auf den Weg gebracht – oftmals einvernehmlich, auch mit Zustimmung der Opposition. Ich glaube, das ist für dieses Haus einfach mal beispielhaft. ({1}) Wir twittern, wir sind in den sozialen Netzwerken unterwegs. Bei Twitter haben wir als Fraktion auch schon unsere Pressemitteilung zu diesem Gesetz veröffentlicht. Darunter hat jemand kommentiert, wie schön, dass das jetzt auf den Weg gebracht würde. Wir würden schon seit dem Jahre 2000 darüber reden. Jetzt komme es endlich, die Tochter sei mittlerweile 21 Jahre alt. Das macht genau das deutlich, was eben noch meine Kollegin Marja-Liisa Völlers zum Ausdruck gebracht hat, indem sie Beispiele dazu genannt hat: Der Bedarf ist da, und diesen Bedarf müssen wir decken. Wir gehen nun diesen Weg, und wir müssen diesen Weg, lieber Kollege Seestern-Pauly, mit den Ländern gehen. Deswegen ist es auch meine eindringliche Bitte, dass die Länder ein Einsehen haben und dass dieser ausgehandelte Kompromiss – das ist wirklich ein Kompromiss – eben auch die Unterstützung der Länderkammer findet, damit die Länder rechtzeitig mit der Ermittlung der Bedarfe anfangen können, die im Bereich des Ausbaus, im Bereich der Fachkräftesicherung notwendig sind. Das ist jetzt eben einfach ein Schritt, der gegangen werden muss. Ich würde mich freuen, wenn ebendieser Weg gemeinsam gegangen werden kann. ({2}) Lieber Kollege Norbert Müller, eure Forderungen sind manchmal eben etwas schwierig. Wir wissen doch, dass wir im Hinblick auf einen konkreten Ausbauplan oder beispielsweise im Hinblick auf die Festschreibung der Qualitätsstandards verfassungsrechtlich Probleme kriegen; das geht eben nicht so einfach. Die Länder haben ja auch einen Auftrag. Wir haben immer gesagt, dass wir eine gewisse Freiheit wollen. Wenn wir den Ländern zu viel vorschreiben, dann wird es noch schwieriger, hierfür die Zustimmung zu bekommen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss: Das ist ein Gesetz, das nicht nur notwendig, sondern auch gut ist. Denn gerade in den letzten Monaten der Pandemie haben wir unseren Familien und den Kindern sehr, sehr viel zugemutet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beermann.

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Es geht nicht immer nur ums Geld, sondern es geht gerade bei Familien auch um gute Infrastruktur. Hier sorgen wir sogar für beides. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist voraussichtlich meine letzte Rede als Bundestagsabgeordnete, weil ich mich nach 23 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag dazu entschieden habe, nicht erneut anzutreten. ({0}) Deswegen ist bei dieser Rede ein bisschen Wehmut dabei. Aber ich muss sagen: Ich bin meiner Fraktion sehr, sehr dankbar, dass ich ausgerechnet zu diesem wichtigen Thema meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag halten darf, ({1}) einem Thema, bei dem wir deutlich machen: Wir durchstoßen erneut eine gläserne Decke, durch die qualifizierte Frauen davon abgehalten wurden, in Führungspositionen zu kommen. Wir verschaffen dem Grundsatz, dass bei der Besetzung von Positionen die Qualifikation das Alleinentscheidende sein muss – und eben nicht das Geschlecht –, weiter Durchbruch, meine Damen und Herren. ({2}) Es hört sich so einfach an und es hört sich auch so selbstverständlich an, dass die Qualifikation das Allesentscheidende ist, aber das war ein harter Kampf.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Entschuldigen Sie, Frau Ministerin. – Darf ich um etwas mehr Ruhe und Anstand bitten. – Danke. ({0})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Das hört sich so einfach und so selbstverständlich an, aber ich kann Ihnen aus diesen 23 Jahren berichten, dass das ein harter Kampf war. In meiner ersten Legislaturperiode waren wir im Jahr 2001 schon mal fast davor, eine Quote für Aufsichtsräte zu beschließen – noch nicht mal das war damals der Fall –, und dann gab es ganz viele Stimmen aus der Wirtschaft, die gesagt haben: Das braucht ihr nicht gesetzlich zu regeln; so eine Quote brauchen wir nicht. Das machen wir schon aus eigenem Interesse, weil wir die vielen gut qualifizierten Frauen in unseren Unternehmen haben wollen. – Wir haben uns damals davon überzeugen lassen. Danach ist lange, lange nichts passiert. Deswegen haben wir dann im Jahr 2015 die Quote für Aufsichtsräte beschlossen, ein ganz wichtiger Schritt. Heute gehen wir mit der Quote in Vorständen einen Schritt weiter. ({0}) Es ist ein ganz wichtiges Signal an Frauen: Euch steht alles offen. Ihr könnt jeden Beruf ergreifen. Euch steht die Welt offen, wenn ihr entsprechend qualifiziert seid. Nutzt die Chance! – Das ist ein wichtiges Signal, das ich auch gerne von dieser Stelle aus senden möchte. ({1}) Das alleine reicht aber nicht, sondern es ist noch viel Arbeit zu leisten, dass dann auch die Bezahlung stimmt, damit es dann nicht wieder daran hapert und Unterschiede gemacht werden. Auch hier muss der Grundsatz gelten: Die Qualifikation und nicht das Geschlecht entscheidet. Da haben Sie für die Zukunft noch richtig viel zu tun. Wir sind noch lange nicht da, wo wir eigentlich schon längst sein sollten. Dafür wünsche ich Ihnen allen alles Gute, viel Erfolg und genauso konstruktive Verhandlungen, wie ich sie in diesen 23 Jahren erleben durfte. Es waren immer gute Verhandlungen. ({2}) – In den meisten Fällen waren sie konstruktiv, und in den meisten Fällen ist man auch fair mit mir umgegangen. Ich wiederum hoffe, dass ich ebenfalls fair mit all denjenigen umgegangen bin, die mit mir verhandelt haben. Ich weiß, ich kann manchmal sehr beharrlich sein und immer wieder mit dem gleichen Thema kommen. Das nervt vielleicht manchmal, aber es ist auch notwendig, denn nur Beharrlichkeit führt zum Ziel. Das kann man gerade auch bei diesem Thema sehen. ({3}) Sollte ich dennoch jemandem mal auf den Fuß getreten sein, dann bitte ich dafür um Entschuldigung. Es war nie persönlich gedacht, sondern hatte etwas damit zu tun, dass ich für diese Themen brenne. Präsidentin Pau hat vorhin aufgefordert, bei den letzten Reden nicht allzu viele Dankesworte zu verlieren. Ich sage Danke an alle. Das werde ich ganz vielen auch noch persönlich sagen. Ich möchte mich mit einem Satz aus einem Lied der wunderbaren Trude Herr verabschieden: „Niemals geht man so ganz“. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank, liebe Frau Ministerin. Alles Gute, auch von unserer Seite aus. Bis Oktober halten wir hier stramm die Stellung. – Ich gebe das Wort an Mariana Harder-Kühnel von der AfD-Fraktion. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundestagswahl wirft ihre Schatten voraus. In einem der letzten Gesetzentwürfe dieser Legislaturperiode soll den Vorständen von Unternehmen vorgeschrieben werden, wie sie künftig besetzt sein müssen. ({0}) Ist der Vorstand eines börsennotierten Unternehmens mit mehr als drei Mitgliedern besetzt, muss mindestens eines davon eine Frau sein. Damit greift die GroKo nicht nur erneut schamlos in die unternehmerische Freiheit ein, sondern ebnet einmal mehr den Weg in Richtung Sozialismus. ({1}) Das entscheidende Merkmal, die Qualifikation, spielt künftig keine Rolle mehr. Einzig das Geschlecht entscheidet über die Besetzung der Unternehmensführung. Eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist durch solche Eingriffe kaum zu erwarten. ({2}) Dass ausgerechnet die Union dabei mitmacht, ist auch keine Überraschung. Sie biedert sich damit ihrem zukünftigen Koalitionspartner an; denn schließlich haben sich die Grünen laut Wahlprogramm die Etablierung einer feministischen Regierung zum Ziel gesetzt. Zum wiederholten Male wird deutlich: Wer Schwarz wählt, der bekommt Grün. Wer dagegen Freiheit statt Bevormundung will, der sollte Blau wählen, meine Damen und Herren. ({3}) Frauenquoten sind ein Mittel des Zwangs. Sie greifen zutiefst in die grundrechtlich garantierte Eigentumsfreiheit des Artikels 14, in die Berufsfreiheit in Artikel 12 sowie in die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz ein. Namhafte Staatsrechtler lehnen sie daher ab. Es lässt sich verfassungsrechtlich einfach nicht rechtfertigen, Unternehmen in Bereichen, in denen es keine ausreichend qualifizierten Frauen gibt, zu verpflichten, untaugliches Personal einzustellen. ({4}) Man sieht, die ganze Debatte um Frauenquoten stiftet nur Chaos und Widersprüche, und sie ist darauf ausgerichtet, grundlegende Rechtsprinzipien wie die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie zugunsten einer feministischen Planwirtschaft abzuschaffen; denn um nichts anderes handelt es sich hier. Quotenregelungen und Sanktionen bei Nichtbefolgung sind mit den Prinzipien der Marktwirtschaft und einer freiheitlichen Gesellschaft nicht zu vereinbaren. ({5}) Eigentlich müsste ja hier auch die FDP aufbegehren, die sich ja die unternehmerische Freiheit ans Revers geheftet hat. Aber was Sie, liebe Freie Demokraten, in Ihrem Antrag fordern, das lässt einem wirklich die Kinnlade herunterfallen. Sie schlagen ein Verbot von Arbeitsmeetings nach 16 Uhr vor. ({6}) Sie streben mehr Geschlechtervielfalt in Führungsetagen an, und Sie fantasieren von Diversity als Erfolgsfaktor. ({7}) Das ist Anpassung an den kulturmarxistischen Zeitgeist. ({8}) Dass man Frauen auch ganz ohne Zwang, ganz ohne Ultrafeminismus, ganz ohne Genderismus in Führungsetagen bringen kann, zeigt übrigens das angeblich ach so reaktionär-konservative, ach so erzkatholische Polen. Dort werden Mütter und Hausfrauen nicht von einem linken Mainstream zu Menschen zweiter Klasse degradiert. Dort wird nicht durch einen übergriffigen Staat propagiert, welche Rollen Mann und Frau in Familie und Beruf zu spielen haben. Das Ergebnis: In Polen liegt der Anteil der Frauen in Führungspositionen bei 44 Prozent, ({9}) im bunt-diversen Deutschland hingegen nur bei 28 Prozent. Wenn Sie also schon möglichst viele Frauen in Vorstandspositionen bringen wollen, dann nehmen Sie doch bitte frauenpolitischen Nachhilfeunterricht bei unserem östlichen Nachbarn! ({10}) Aber auf keinen Fall sollte man, wie vorliegend, auf Mittel des Zwangs setzen. Frauenquoten sind ein solches Mittel. Frauenquoten produzieren Quotenfrauen. Glauben Sie mir: Keine Frau will als bloße Quotenfrau abgestempelt werden. Wir von der AfD sagen ganz klar: Starke Frauen brauchen keine Quoten. ({11}) Vielen Dank. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Nadine Schön. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Erst mal will ich auch seitens unserer Fraktion Ministerin Lambrecht alles Gute für ihre Zukunft wünschen. Vielen Dank für die Zusammenarbeit in den letzten vier Jahren, meistens in Ihrem Amt als Justizministerin, wo wir ja auch Überschneidungen hatten, und in den letzten Wochen auch als Familienministerin. Nehmen Sie die Grüße gerne auch an Franziska Giffey mit, von der wir uns im Hohen Haus leider nicht mehr verabschieden konnten. ({0}) Auch für sie alles Gute. Wir setzen heute ein sehr, sehr wichtiges Gesetz um. Deshalb bin ich ein bisschen traurig, Frau Ministerin, dass Sie nicht darauf Bezug genommen haben, was wir an diesem Gesetz im parlamentarischen Verfahren noch geändert haben. Wir haben nämlich ein gutes Gesetz noch ein gutes Stück besser gemacht. Es ist ja leider so: Wenn man Vorstand in einem Konzern, in einem Unternehmen oder in einem Start-up ist, schwanger wird und ein Kind bekommt, dann kann man nicht in Mutterschutz gehen. Ist das unfair? Ja. Denn diese Schutzfrist in den ersten Wochen braucht jedes Baby und jede Frau. Deshalb haben wir das in diesem Gesetzentwurf geändert. ({1}) Diese Änderung geht auf die Initiative #StayOnBoard zurück – ihre Mitbegründerin Verena Pausder ist heute auch hier –, mit der sich viele Frauen und Männer aus der Wirtschaft dafür eingesetzt haben, dass wir es ermöglichen, familienbedingte Auszeiten zu nehmen, für den Mutterschutz, aber zum Beispiel auch für die Pflege von Angehörigen. Das nutzt Frauen wie Männern in Konzernen. Damit machen wir die Konzerne, die Unternehmen, auch die Start-ups familienfreundlicher. ({2}) Wir bringen damit einen kulturellen Wandel in den Unternehmen in Gang, den wir auch mit anderen Teilen dieses Gesetzes voranbringen wollen, zum Beispiel mit der Vorstandsquote, die wir nun zum ersten Mal auf den Weg bringen. Diese gleichzeitigen Veränderungen von oben, von der Spitze, wie auch von unten – durch strukturelle Rahmenbedingungen, die wir mit der Politik schaffen, durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – wirken zusammen und führen dazu, dass mehr Frauen in Führungspositionen kommen. Das ist kein Selbstzweck, sondern es führt dazu, dass in Unternehmen bessere Entscheidungen getroffen werden, dass Unternehmen nachweislich erfolgreicher sind. Und es zeigt gerade den jungen Frauen, den Mädchen: Man kann alles werden. Man kann in Führungspositionen kommen, Führungspositionen auch mit Familie vereinbaren. Auch Frauen führen große Konzerne gut und erfolgreich, nur sind es bisher noch zu wenige. Das wird sich in Zukunft ändern. ({3}) Ein Punkt, der uns ganz wichtig war, ist, dass wir als Staat mit gutem Beispiel vorangehen. Deshalb bin ich Annette Widmann-Mauz so dankbar, dass sie als Vorsitzende der Frauenunion beim Thema „Krankenkassen, Krankenversicherungen, Sozialversicherungen“ den Finger in die Wunde gelegt hat. Das ist nämlich ein Bereich, in dem sehr viele Frauen arbeiten, der für das Leben vieler Frauen verantwortlich ist, in dem aber besonders wenig Frauen in den Führungsetagen sind und in dem wir als Staat eine Verantwortung bei der Besetzung dieser Posten haben. ({4}) Deshalb haben wir auf ihre Initiative hin diesen Punkt in unsere Gespräche mit dem Koalitionspartner eingebracht. In diesem Bereich machen wir viel strengere Vorgaben als bei der Wirtschaft. Hier gelten Quoten schon bei Vorständen mit zwei oder mehr Mitgliedern. Das finde ich richtig. Da, wo der Staat Verantwortung trägt, hat er auch eine besondere Verantwortung, für mehr Frauen in Führungspositionen zu sorgen. Auch das machen wir mit diesem Gesetz. Deshalb: ein rundherum gutes Gesetz. Ich freue mich, dass wir es heute verabschieden können. Herzliches Dankeschön an alle, die daran mitgewirkt haben. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank. – Das Wort geht an Nicole Bauer von der FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer immer komplexer werdenden Welt. Wenn wir dieser auch in Zukunft erfolgreich begegnen wollen, brauchen wir unterschiedliche Perspektiven und gemischte Teams für die besten Lösungen. Daher teilen wir Ihr Ziel, künftig mehr Frauen für Führungspositionen und Vorstände gewinnen zu können. ({0}) Aber für uns Freie Demokraten ist auch klar: Ein echter, nachhaltiger und innovativer Wandel gelingt nur miteinander. Statt einer Quote brauchen wir überzeugtes Handeln. Unser Ansatz will ermöglichen. Er ist zukunftsfähig, berücksichtigt die unternehmerische Freiheit und die Interessen meiner Generation und die der folgenden. Wir und sie sind die Arbeits- und Führungskräfte von morgen. Fragen wir uns also: Wie wollen wir in Zukunft leben und arbeiten? Was tun die Unternehmen im Wettbewerb um die besten Köpfe? Und welche Rahmenbedingungen fördern Vielfalt und Vereinbarkeit? ({1}) Damit meine ich Beruf und Privatleben ganz allgemein, ob Hobby, Ehrenamt oder die eigene Familie, sprich: Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. Und natürlich wünschen sich das Männer genauso wie Frauen. Deshalb wollen wir Entscheidungsfreiheit für beide und in beide Richtungen: Frauen, die Mütter sind, sollen auch Karriere machen können, und Männer, die in Führungspositionen sind, sollen Zeit für die Familie haben können. Frauen nehmen Männern nichts weg – nein, ganz im Gegenteil: Wir alle profitieren davon, meine Damen und Herren. ({2}) Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass die familienbedingten Auszeiten für Führungskräfte nun im Gesetz verankert werden. Das großartige Engagement von #StayOnBoard – Verena, du bist heute bei uns – und unser Antrag tragen jetzt Früchte. Wie viel wir gemeinsam erreichen können, liebe Bundesregierung, das sehen wir, wenn Sie gute Anträge der Opposition in die Tat umsetzen. Führungskräfte haben eine enorme Strahlkraft ins eigene Unternehmen und gegenüber den Stakeholdern. Genau diese Vorbilder braucht unser Land. Zugleich liegt eine große Chance in mehr Flexibilität. Wir brauchen endlich eine Reform des Arbeitszeitgesetzes für mobiles Arbeiten, aber auch neue Modelle wie Jobsharing und Topsharing. Wir brauchen Talentmanagement und Diversitymanagement von Anfang an und auf allen Ebenen. Darüber hinaus brauchen wir Arbeitgeber und Vorgesetzte, die dieses moderne Rollenverständnis in die Tat umsetzen und aktiv fördern. Nur so können wir den Kulturwandel einleiten und erreichen nachhaltige Veränderungen. ({3}) Und nein, lieber Herr Weinberg, liebe Union, wir haben das Ende dieses Kulturwandels noch nicht erreicht. Das haben wir erst, wenn Frauen ohne Quoten und Männer mit längerer Elternzeit bis ganz nach oben in die Führungsetagen vordringen können. Dafür macht sich die FDP, die Fortschrittspartei, stark. ({4}) Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Führungspositionen-Gesetz von 2015 wird heute erneuert, damit Frauen bessere bzw. teilweise überhaupt Chancen haben, in die Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Unternehmen zu kommen. Die Situation ist teilweise wirklich mittelalterlich. Das Gesetz ist konsequenter als sein Vorgänger, was es auch sein muss, und es widerspricht falschen Glaubenssätzen wie denen, dass es Frauen an der nötigen Qualifikation fehlte, dass sie sich besser behaupten müssten oder dass sie durch Quoten übervorteilt würden. Für einen echten Meilenstein allerdings bleibt die Reichweite des Gesetzes aus unserer Sicht doch noch ein bisschen zu bescheiden. Die Privatwirtschaft muss das Führungspositionen-Gesetz überhaupt nicht fürchten. Es betrifft bundesweit nur ein paar Dutzend Vorstände, die jetzt mindestens eine Frau nachbesetzen müssen, weil sonst nichts passiert. Das ändert Selbstverständlichkeiten – für manche ein Tabubruch, aber ein überfälliger. Hier hätten wir uns einfach noch mehr Konsequenz gewünscht. ({0}) Zum Ausgleich von Lohnunterschieden braucht es größere Hebel, sicherlich. Zum Vergleich: Unter den Spitzenverdienenden, wo sich der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern besonders niederschlägt, gibt es hierzulande fast 160 000 Männer und knapp 23 000 Frauen. Nur, an dieser Schieflage wird das Führungspositionen-Gesetz erst mal sehr wenig ändern. Auch hier hätten wir uns mehr gewünscht. ({1}) Die Zielgrößenregelung, von der viel in den Medien zu lesen war, wurde verschärft. Bislang konnten Unternehmen, die in Berichten geschlechtergerechte Zielgrößen nachweisen mussten, einfach „null“ angeben – Frauen nicht vorgesehen. Diese Haltung läuft so nicht mehr durch. Ausnahmen von der Regel müssen nun ernsthafter begründet und offengelegt werden. Bei Pflichtverletzung drohen Bußgelder, was wir auch richtig finden. Inwiefern aber die Einhaltung des Gesetzes angemessen überprüft und sanktioniert wird, das bleibt noch etwas zu vage. Bis heute sind die Vorstände börsennotierter Unternehmen zu fast 90 Prozent männlich. In Aufsichtsräten konnte diese Monokultur durch eine verbindliche 30-Prozent-Quotierung ein Stück weit aufgebrochen werden. Nur dort, wo fest quotiert wird – so ist es einfach –, gibt es Bewegung über Schneckentempo und Stillstand hinaus. ({2}) Was nun für die Vorstände kommt, ist allerdings keine Quote, sondern eine Mindestbeteiligung – schon allein das Wort! – von einer Frau pro Vorstand ab drei Personen. Egal wie groß das Gremium ist, eine Frau muss zur Not reichen. Das kann es nicht sein! Auch die sinnvollerweise noch nachgearbeitete Regelung – vielen Dank auch von uns –, Vorstandstätigkeiten unter Mutterschutz zu stellen, hat eine Kehrseite, weil Väter mit Elternzeitansprüchen anders behandelt werden und das allgemein vermittelte Geschlechterbild doch eher traditionell ist. Insgesamt weist dieses Gesetz noch nicht ausreichend über die Gleichstellungspolitik dieser Legislaturperiode hinaus. Die Aufgabe wurde bewältigt, aber es braucht noch stärkere Effekte, um Frauen tatsächlich gleichzustellen. An der Wirkung und Ausstrahlung des Gesetzes muss noch weiter gearbeitet werden, auch wenn ich mir wirklich vorstellen kann, dass das alles schon reichlich Arbeit gemacht hat und das Maximum dessen war, was in dieser Legislaturperiode zu erreichen gewesen ist. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Ulle Schauws von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, auch von meiner Fraktion alles Gute für Sie und Ihre Zukunft. Danke für die gute Zusammenarbeit! ({0}) Kurz vor Ende der Wahlperiode ringt sich die Koalition dazu durch, das Führungspositionen-Gesetz II zur Abstimmung zu bringen. Das war knapp. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde durch weitere Kompromisse nochmals abgeschwächt. Das, liebe CDU/CSU-Fraktion, gleicht einem Unterbietungswettbewerb zur Frage, wie wenig Frauenförderung in einem Gesetz stecken kann. ({1}) Um es klar zu sagen: Mit der neuen Gesetzesfassung wird es in den Vorständen keine echte Quote geben, sondern nur eine Mindestbeteiligung von einer Frau pro Vorstand, egal wie groß der Vorstand ist. Reine Männervorstände bleiben so weiterhin möglich. Auch die Übergangsfristen wurden noch mal verlängert. Welches Signal wollen Sie damit eigentlich an die vielen Frauen im Land senden, die endlich gleiche Chancen wollen? ({2}) Es ist höchste Zeit für eine Modernisierung unserer Wirtschaft. Wenn alle Talente berücksichtigt werden und Vielfalt in den Führungsetagen abgebildet wird, sind die Entscheidungen ausgewogener. Diversität ist ein Gewinn, und #StayOnBoard ist auch einer. Deutschland hinkt um Jahrzehnte hinterher. Ein echter Kulturwandel in Chefetagen ist überfällig. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wie in den vergangenen Monaten die Lage und Nöte der Frauen viel zu spät in den Blick genommen wurden, lag auch daran, dass in den Entscheidungspositionen noch immer überwiegend Männer sitzen, auch hier im Bundestag. Wer entscheidet, ist eben nicht egal. Wir wollen den Kulturwandel jetzt. Dafür braucht es die kritische Masse von mindestens einem Drittel Frauen. Das zeigt die Forschung sehr klar. Das bestätigen auch die Erfahrungen von Vorstandsfrauen. ({4}) Wir haben in der Vergangenheit leider schon zu häufig gesehen, dass eine Frau alleine es nicht richten kann, die männlich geprägte Kultur zu durchbrechen. Darum haben wir Grünen einen konkreten eigenen Vorschlag formuliert. Wir fordern in unserem Antrag eine feste Quote von mindestens 33 Prozent für alle börsennotierten und mitbestimmten Unternehmensvorstände. ({5}) Die Quote soll auf dem Weg zur paritätischen Repräsentanz ab dem Jahr 2025 auf 40 Prozent ansteigen. Wir Grünen wollen zudem, dass die Unternehmen verbindliche Pläne für alle, auch für die unteren Führungsebenen, aufstellen. Denn faire Chancen müssen alle Frauen bekommen, egal auf welcher Stufe der Karriere sie sich befinden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch ein Wort zu den Aufsichtsräten. Warum sind Sie hier so zaghaft? Die Quote für Aufsichtsräte wirkt, die Unternehmen kennen diese Quote, und sie haben mit einer Ausweitung gerechnet. Das ist genau der Zeitpunkt, endlich diese Ausweitung auf den Weg zu bringen; denn bislang ist nur eine Gruppe von gut 100 Unternehmen betroffen. Wir wollen in der nächsten Legislatur eine Ausweitung auf mehr Unternehmen und eine Erhöhung auf 40 Prozent erreichen. Der Weg für eine moderne Wirtschaftspolitik muss geebnet werden; denn das ist jetzt dran. Vielen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank. – Das Wort geht an Katja Mast von der SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frauen kommen überallhin. – Das gilt in der Theorie, aber nicht in der Praxis, und zwar, besonders wenn es um Führungspositionen geht, und das, obwohl Frauen im Schnitt bessere Abschlüsse machen als Männer. An der Qualifikation liegt es also nicht. Deshalb liegt es an anderen Dingen: an Strukturen und Netzwerken. Das nennt man gläserne Decke – sieht man nicht, gibt es aber. Viele sagen: Frauen bekommen Kinder, und es mangelt an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Manche sagen sogar: Die Frauen sind selbst schuld. – Das ist alles einfach nur Quatsch. Hauptverantwortlich sind die Strukturen, und genau deshalb ändern wir heute die Strukturen per Gesetz. ({0}) Zu lange hat die Wirtschaft gesagt: Das ändern wir selbst. Es ist nichts passiert; denn sonst wären mehr als 12 Prozent Frauen in Vorständen der DAX-Unternehmen. ({1}) Das ist auch deshalb fatal, weil Unternehmen mit Frauen in Vorständen wirtschaftlich erfolgreicher sind. Also muss politisch gesteuert werden, und deshalb führen wir heute die erste Mindestquotenregelung für die Vorstände in der Wirtschaft ein. Das ist ein historischer Erfolg, den wir künftig ausbauen können. ({2}) Und wieso historisch? – Erstens weil wir Jahrzehnte dafür gekämpft haben. Mit „wir“ meine ich nicht nur Frauen und Männer, sondern auch die vielen Verbündeten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und natürlich auch meine Partei, die SPD. ({3}) Zweitens weil von einer Quote in der Wirtschaft nichts im Koalitionsvertrag steht. Im Wahlprogramm von CDU/CSU stand lediglich, dass sie konkret im öffentlichen Dienst etwas ändern wollen, kein Wort von der Wirtschaft und den Vorständen. Und weil ich ebenso wie Caren Marks und Sönke Rix bei den Koalitionsverhandlungen dabei war, weiß ich: Es gab in den Koalitionsverhandlungen null Spielraum. Drittens weil unsere Ministerinnen Franziska Giffey und Christine Lambrecht mit Klarheit, Beharrlichkeit und viel Unterstützung am Ball geblieben sind. ({4}) Eins ist klar: Ohne SPD in dieser Bundesregierung gäbe es diese Vorstandsquote heute nicht. ({5}) Ach ja, und dann höre ich leider viel zu oft, das helfe nur wenigen, nur Spitzenmanagerinnen. Das ist völlig falsch und auch Quatsch; denn wer Frauen in Vorständen braucht, muss einen Kulturwandel einläuten: Konkrete Frauenförderung auf allen Ebenen im Unternehmen. Wir machen noch viel mehr mit diesem Gesetz. Das ist in dieser Debatte schon zur Sprache gekommen. Und deshalb: Das Führungspositionen-Gesetz II ist ein historischer Meilenstein. ({6}) Die Mindestquote in Vorständen ist da. Wir als SPD werden weitermachen: mit Klarheit, Beharrlichkeit und der Unterstützung aus der Gesellschaft. Ich freue mich darauf. Denn unser Ziel ist fifty-fifty und muss es sein. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit; nein, das ist auch gut für unsere Unternehmen und die gesamte deutsche Wirtschaft. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Professor Dr. Heribert Hirte von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! #stayonboard, bleib dabei, in Führungsposition mit Familie. Das ist der zentrale Punkt, den wir auch in dem Gesetzgebungsverfahren geändert haben und wo wir ein bisschen, so hatte ich das Gefühl, die beiden Ministerinnen zum Jagen tragen mussten. ({0}) Worum ging es? Oder worum geht es? Drei Punkte möchte ich hervorheben – Nadine Schön hat es eben schon angesprochen –: Der erste Punkt. Vorstände sind keine Arbeitnehmer, und deshalb mussten wir den Mutterschutz auf Vorstände erstrecken. Hier gibt es jetzt einen gesetzlichen Anspruch. Der zweite Punkt. Es geht um Familie, es geht um die typischen Lebenssituationen in der Familie: Schwangerschaft, Geburt, Pflegebedürftigkeit, Krankheit. Für diese Zeiten führen wir einen Anspruch ein, der nur noch durch wichtige Unternehmensgründe in den ersten drei Monaten infrage gestellt werden kann – ein riesiger Schritt nach vorne. Und für bis zu zwölf Monate führen wir eine Ermessenslösung ein, bei der gesagt werden kann: Auch da kann noch etwas für die Kompatibilität von Familie und Beruf getan werden. Wir gehen hier einen ganz großen Schritt nach vorne. Ich möchte Verena Pausder, die oben auf der Tribüne sitzt und die auch ich begrüßen möchte, herzlich dafür danken, dass sie diese Initiative öffentlich groß unterstützt hat. Denn ich glaube, sonst hätten wir die breite Unterstützung des Hauses in diesem Punkte nicht gehabt. Herzlichen Dank! ({1}) Natürlich geht auch mein Dank an die Ministerinnen; denn die gesetzestechnische Umsetzung auch dieses Ergänzungspunktes war nicht ganz einfach. – Alles Gute für die Zukunft auch bei dieser Gelegenheit! Lassen Sie mich drei Punkte nennen: Der erste Punkt. Es ist von vielen Praktikern aus dem Bereich der Unternehmensberatung gesagt worden: Das braucht es alles nicht; das kann man vertraglich regeln. – Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man eine gesetzliche Regelung hat, von der man ausgeht und die man dann modifiziert – auch für die durchaus regelungsnotwendigen Fälle, wo man sagt, man bleibt vielleicht teilweise dem Unternehmen erhalten –, oder ob man die Regelung erst erkämpfen muss. Der zweite Punkt. Wir haben auch über die Frage nachgedacht: Braucht man eine solche Regelung auch für Aufsichtsräte? – Da haben wir gesagt: Nein, das braucht man nicht, weil Aktivitäten in Aufsichtsräten typischerweise Nebentätigkeiten sind. Der dritte Punkt, über den wir nachgedacht haben, ist: Könnte man nicht eine Regelung des Ruhens einführen? – Da haben die Gesellschaftsrechtler aus dem Hause auch mich am Ende überzeugt: Wir sollten in der Systematik, die wir haben, bleiben: Widerruf der Bestellung und Neubestellung. Das ist das, was wir gemacht haben: Ein gutes Gesetz! Und dafür bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte hören wir Dr. Silke Launert von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Wir haben uns ja wirklich bemüht, aber trotz aller Anstrengungen konnten wir leider keine passende Bewerberin finden.“ „Wir würden ja gerne mehr Frauen in unsere Führungsetage holen; aber leider gibt es nicht ausreichend qualifizierte Bewerberinnen, deren Profile auf diese Stellen passen.“ – Ich glaube, das sind Sätze, die wir jetzt viel zu oft und viel zu lange gehört haben, und ich hoffe, dass damit endlich Schluss ist. Die Zeit der Ausreden ist vorbei. ({0}) Denn – auch wenn es immer wieder behauptet wird –: Es gibt sie, die qualifizierten, motivierten, engagierten Frauen, die gerne in Spitzenpositionen wollen und die da auch hingehören; es gibt sie. Man muss sie nur suchen, fördern, aufbauen. ({1}) Vor einigen Jahren haben wir den ersten Schritt gemacht mit dem Führungspositionen-Gesetz I. In einem Rechtsstaat hat im Rahmen der Verhältnismäßigkeit den Vorrang aber immer erst das mildere Mittel, wenn es geeignet ist. So haben wir uns darauf eingelassen und haben den Unternehmen vertraut, dass man es freiwillig hinkriegt. Wir nehmen Rücksicht auf die Unternehmen – immer wieder –, weil auch sie eine Grundrechtsposition haben. Aber wir haben auch den Auftrag aus der Verfassung, auf die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung hinzuwirken, und leider hat dieser freiwillige Weg nicht geklappt. ({2}) Besonders ärgerlich ist immer wieder dieser hohe Anteil an Quote null. Nur Männer sagen: Nur Männer sind immer der qualifiziertere Weg; wir geben uns eine Quote null. – Deutlicher kann es nicht sein, dass es eine gläserne Decke gibt. Deshalb diese Durchbrechung. ({3}) Es ist eine Durchbrechung, die dem einen nicht weit genug, dem anderen viel zu weit geht. Ich habe nicht mehr viel Zeit; ich habe leider immer als letzte Rednerin der CSU sozusagen die „Arschkarte“ gezogen. Aber ich möchte diese Ausdrücke nicht stehen lassen. Ich möchte hier nicht stehen lassen, dass man sagt: Und Unternehmen verpflichten untaugliches Personal. – Ich verstehe nicht, dass sich die Frauen nicht massenhaft unglaublich beleidigt fühlen von solch einem Ausdruck. Das ist eine Frechheit! ({4}) „Untaugliches Personal“! Die Unternehmen können Ihre eigenen Frauen fördern und qualifizieren. Frauen sind nicht „untaugliches Personal“. ({5}) Ein weiterer Ausdruck: die Frau als Quotenfrau abstempeln. – Sie stempeln Frauen als Quotenfrau ab, Sie stempeln Ministerinnen als Quotenministerinnen ab. ({6}) Wir brauchen Frauen. Die machen ihren Job, und die machen ihn gut, und die bewähren sich in ihrem Job ({7}) und dürfen nicht abgestempelt werden als Quotenfrau. ({8}) Man kann eine andere Meinung haben zur Quote, das kann man – wenn für einen die Wirtschaft an erster Stelle steht und es einem nicht um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Verfassungsgütern geht. Aber man sollte Frauen nicht dermaßen abstempeln. Das fand ich schrecklich. Es hat mich zutiefst getroffen in einer der letzten ganz, ganz wichtigen Debatten in diesem Hause in dieser Legislaturperiode. Schönen Tag. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst vielleicht wegen zahlreicher Briefe und Anfragen, die wir kriegen, noch mal die notwendige Differenzierung: Wenn wir heute über eine epidemische Lage von nationaler Tragweite beschließen, ({0}) dann hat das nichts zu tun mit der Frage, ob die sogenannte Bundesnotbremse fortgesetzt wird oder nicht. Ich habe Briefe bekommen, in denen steht drin: Wie kann das sein? Es ist doch angekündigt worden, die Bundesnotbremse läuft aus, am 30. Juni ist es so weit. Sie war von vornherein befristet. – Wir haben sie eingeführt, als die Not groß war und die Bremse nicht so groß. Wir haben dadurch eine Vereinheitlichung der Bremswirkung erreicht. Jetzt kann man sich über die Effekte streiten, darüber, ob möglicherweise die Diskussion über die Bundesnotbremse auch einen wichtigen Beitrag geleistet hat, das Bewegungsgeschehen, das Getümmel, die Treffen der Menschen zu verringern. Jedenfalls sind wir jetzt in einer Situation, in der keiner daran denkt, die Bundesnotbremse zu verlängern. ({1}) Das Zweite ist die Frage: Ist das, was wir hier beschließen, gleichbedeutend mit Wiedereinführung oder Fortdauer – oder was auch immer – eines Lockdowns? ({2}) Auch das ist natürlich nicht der Fall, sondern das Thema Lockdown richtet sich einzig und allein nach der Situation, die wir vorfinden. In die Beurteilung dieser Situation – das haben wir gesetzlich so geregelt – fließt nicht nur die sogenannte Inzidenz, also die Anzahl der festgestellten Virennachweise in den Rachenräumen betroffener Menschen, ein, sondern da fließt natürlich auch die Frage der Entwicklung des Impfgeschehens ein, und da fließt die Frage der Belegung der Intensivstationen ein. ({3}) Das, was wir hier machen, ist auch kein Hinderungsgrund für die Fortsetzung sommerlicher Lockerungen, sondern wir ermöglichen den Ländern über § 28a Infektionsschutzgesetz bestimmte, je nach Lage anzupassende Schutzmaßnahmen. Um diesen Katalog von Coronamaßnahmen und die damit verbundene Rolle des Bundesgesetzgebers haben wir im Oktober und November sehr hart gerungen, auch auf Anregung von Gerichten, auch auf Anregung des Bundestagspräsidenten. Wir wollen das beibehalten, damit die Länder dort eine rechtliche Sicherheit haben für die allgemeinen Anordnungen, die sie treffen müssen ({4}) in der unterschiedlichen Lage, in der die Länder jeweils sind. Wie wir ja alle derzeit in den Wahlkreisen spüren, sind in der erreichten Lage allein die Landesregierungen zuständig und gestalten. Deren Aufhebung von Schutzmaßnahmen ist unter anderem einem Parameter zu verdanken, den wir hier Anfang März – ich habe es gesagt – in § 28a Infektionsschutzgesetz eingefügt haben: der Anzahl der gegen Covid-19 geimpften Personen. Auch in der gestrigen Anhörung des Parlamentarischen Begleitgremiums Covid-19-Pandemie gab es starke Signale, wie wichtig die Fortschritte der Impfkampagne sind. Fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung ist inzwischen vollständig geimpft. Wir bewegen uns darauf zu, dass die Hälfte der Gesamtbevölkerung wenigstens einmal geimpft ist. Dennoch zeigt sich – etwa in England –: Erfolge sind fragil, Varianten unberechenbar. Man wird diese Pandemie – und damit möchte ich schließen – bei aller Überdrüssigkeit zu keinem Zeitpunkt durch einen politischen Beschluss abschaffen können. Ich würde hier gerne ein Gesetz einbringen, in dem wir schreiben: Das Coronavirus wird kraft Beschlusses des Deutschen Bundestages abgeschafft. ({5}) Die Infektiosität wird abgeschafft. Die Möglichkeit, daran krank zu werden, wird abgeschafft. Aber das ist eine lächerliche Vorstellung. ({6}) Deswegen ist das, was wir machen können, lediglich, dafür zu sorgen, dass die Länder alle Möglichkeiten haben, zu reagieren. Dafür sind die heutigen Oppositionsanträge realitätsnäher als früher. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite, die wir heute beschließen wollen, wird bis längstens zum 11. September andauern. Ich denke, wir werden uns auch noch ein weiteres Mal mit der Frage befassen, weil ich annehme, dass der Deutsche Bundestag im September noch mal zusammentritt. Herzlichen Dank. Ich empfehle die Annahme des Antrags. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Detlev Spangenberg von der AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage ist das Thema. Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite liegt laut § 5 Infektionsschutzgesetz vor, „wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht“, weil – erstens – „die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht“ oder weil – zweitens – „eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet“, meine Damen und Herren. Die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Verbindung mit dem Infektionsschutzgesetz und die damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen wurden untermauert mit Horrorbegriffen wie dem „Reproduktionswert R0“, mit der „Überlastung des Gesundheitswesens“, mit der Nichtverfolgungsproblematik der Infizierten, mit fehlenden Intensivbetten. Sie wissen, was jetzt kommt, nämlich der heutige Artikel aus der „Bild“-Zeitung: „Der große Betrug mit den Intensivbetten“. Wir von der AfD hatten dazu schon am 20. Mai eine Aktuelle Stunde angesetzt und hatten auf das Thema hingewiesen; aber in Ihrer unendlichen Arroganz haben Sie das natürlich weggewischt. Jetzt kriegen Sie es von der Presse um die Ohren gehauen. Mich persönlich freut das. Sehr gut! ({0}) Sie hatten die epidemische Lage weiterhin mit hohen Inzidenzwerten sowie der notwendigen Herdenimmunisierung begründet, wobei dieser Begriff erst später als Lösungsziel formuliert wurde. Die Inzidenzwerte gaben die Grundlage für die massiven Grundrechtseinschränkungen, die bundesweit zu heftigen Protesten Anlass gaben und geben. All diese Bemühungen, meine Damen und Herren, die teilweise für sich schon sehr strittig zu sehen sind, können eine Weiterführung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht begründen. ({1}) Denn: Der R-Wert liegt konstant unter 1. Eine Überlastung des Gesundheitswesens ist nicht festzustellen. Die Nachverfolgung des Infektionsgeschehens bei Infizierten ist möglich. Die Intensivbetten sind lediglich zu 6 Prozent mit Coronapatienten belegt. Die geforderte Durchimpfung bewerten Sie selbst als positiv. Hinzu kommt der Dauerbrenner, der heute noch anhält: Die Sieben-Tage-Inzidenzwerte liegen teilweise weit unter 20, weit unter den im Gesetz verankerten Werten. ({2}) Meine Damen und Herren, wie begründen Sie also diese abenteuerliche Forderung der weiteren Beibehaltung der Einschränkungen der persönlichen Freiheiten? Jetzt müssen Sie was ganz Neues rausholen; das ist Ihnen auch gelungen. Interessant: Die Mutationen kommen jetzt dran. – Mit dieser Begründung ist es möglich, den Bürgern in Deutschland nach Belieben ihre Grundrechte, ihre persönliche Freiheit zu beschränken; denn die Gefahr von Mutationen – das wissen die Mediziner natürlich alle – ist jederzeit als Argument für Einschränkungen zu gebrauchen. Denn hier greift die Feststellung: Mutationen gab es schon immer, sie begleiten uns immer, und sie werden auch in Zukunft unser Leben mitbestimmen, also können wir immer Einschränkungen durchführen. Wunderbare Lösung! ({3}) Als weiteres wichtiges Argument für die Beibehaltung der epidemischen Lage betonen Sie ständig die Notwendigkeit der Impfung. Vorhin hatten Sie erklärt, das klappt ganz gut. Trotzdem bemühen Sie das RKI in Ihrem Antrag, indem dort gesagt wird, dass Impfungen doch nicht als Weg für mehr Freiheit zu werten sind. Na, was sagen denn nun alle die, die geimpft worden sind? Die werden sich sehr freuen, wenn sie das lesen. ({4}) Die durch das Parlament festgestellten Fristen für die Beendigung der damit verbundenen Maßnahmen werden durch anlasslose Verlängerungen der Befristung der epidemischen Lage ad absurdum gestellt. ({5}) Meine Damen und Herren, es liegt in der Verantwortung der Bundesregierung, dass mit dem Wegfall der Feststellung der epidemischen Lage auch rechtliche Einschränkungen wegfallen, wie notwendige Einreisebeschränkungen für Menschen mit Risiken für unsere Bevölkerung. Das ist aber nicht unser Problem. Es ist Ihre Aufgabe, dies zu regeln, ohne dass dafür die Begriffskeule einer epidemischen Lage mit all diesen Einschränkungen fortbestehen muss. Ich komme zum Schluss. Sie haben viele Bürger dazu bewegen können, viele unsinnige, strittige Maßnahmen mitzutragen. Damit muss jetzt Schluss sein, endgültig und für alle Zeiten. Vielen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Sabine Dittmar. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, und das hoffentlich zum letzten Mal. ({0}) Ich kann verstehen, dass sich viele fragen: Ist das zum jetzigen Zeitpunkt wirklich noch nötig? ({1}) Aktuell haben wir eine bundesweite Inzidenz von 18,6. Es gibt, Stand heute, 2 440 Neuinfektionen, ({2}) und 1 510 Covid-19-Patienten werden auf Intensivstationen behandelt. Das Impfen geht gut und stetig voran. Fast 48 Prozent unserer Bürgerinnen und Bürger haben eine Erstimpfung erhalten, und immerhin 25 Prozent haben schon einen vollen Impfschutz. ({3}) Man könnte also mit Blick auf die nackten Zahlen zu der Überzeugung gelangen, dass wir die epidemische Lage komplett überwunden haben. ({4}) Das ist aber leider noch nicht der Fall. Ja, die Pandemie ist auf dem Rückzug. Die ergriffenen und zum Teil auch umstrittenen Maßnahmen, also stringente Kontakt-, Mobilitäts- und Ausgangsbeschränkungen, zeigen Wirkung. ({5}) Sie zeigen Wirkung, weil die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger durch ihr umsichtiges Verhalten dazu beigetragen hat. Deshalb an dieser Stelle auch einmal dafür ein herzliches Dankeschön! ({6}) Aber auch wenn es derzeit gut aussieht, so ist das Virus nicht einfach verschwunden. Es ist in Lauerstellung ({7}) und versucht, mit neuen aggressiven Mutationen wieder Boden gutzumachen. Gerade die Deltavariante, also die indische Variante, mit ihrer hohen Infektiosität bereitet den Virologen und Epidemiologen große Sorgen. ({8}) Großbritannien zeigt uns, wie fragil die Situation ist und dass das Pendel jederzeit wieder in die andere Richtung schwenken kann. Die Inzidenz hat sich dort innerhalb weniger Tage verdoppelt. Auch wir können nicht vorhersehen, was in den nächsten Wochen und Monaten geschieht, wenn das Leben jetzt erst mal – Gott sei Dank – wieder leichter und geselliger wird. Wir benötigen einen wohlaustarierten Balanceakt zwischen „Öffnen“, „Lockern“ und „Achtsam bleiben“. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt: Wenn wir in den nächsten Wochen dem Großteil unserer Bevölkerung ein Impfangebot gemacht haben, dann haben wir eine breite und solide Basis, um Covid-19 dauerhaft in die Schranken zu weisen und zum Alltag zurückkehren zu können. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenrede zu?

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. – Aber bis dahin gilt es, weiterhin die AHA-Regeln, das Lüften und auch das Testen beizubehalten. Meine Damen und Herren, wenn wir heute hoffentlich zum letzten Mal die epidemische Lage feststellen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass wir vorsichtig agieren. Das bedeutet nicht, dass automatisch alle Kontaktbeschränkungen und Schutzmaßnahmen verlängert werden – die hängen immer vom aktuellen Infektionsgeschehen ab; wir erleben ja zurzeit, wie das Leben zurückkehrt –; aber es bedeutet, dass wir weiter die gesetzlichen Grundlagen haben, um schnell und effizient handeln zu können, wenn es das Infektionsgeschehen erfordert. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. ({0}) Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Die Bundesnotbremse endet am 30. Juni. Achten Sie weiter aufeinander, und bleiben Sie gesund! Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind jetzt in einer neuen Phase der Pandemie angekommen. Es wurde schon gesagt: Die bundesweite Inzidenz beträgt 18. In meinem Bundesland Schleswig-Holstein liegt sie bei 9,4; gestatten Sie mir, das als Lokalpatriotin zu erwähnen. Jeden Tag nimmt die Zahl der Intensivpatienten ab. Selbst Herr Spahn hat am Mittwoch im Ausschuss gesagt: Die Daten sehen gut aus. – Meine Damen und Herren, auch wenn die Regierung bei der Impfstoffbeschaffung geschlafen hat, zeigt sich jetzt deutlich: Das Impfen entfaltet Wirkung, und das ist gut so. ({0}) Selbstverständlich ist die Pandemie noch nicht vorbei; das sage ich hier ganz ausdrücklich. Covid-19 wird uns noch lange beschäftigen. Deswegen benötigen wir weiterhin Maßnahmen des Gesundheitsschutzes; das steht für uns völlig außer Frage. Aber was wir nicht brauchen, sind die Pauschalvollmachten für eine Regierung, die auf ein fehlerhaftes Fundament gebaut sind, meine Damen und Herren. ({1}) Dass Pauschalvollmachten für Rechtsverordnungen höchst problematisch sind, hat der Bundesrechnungshof gestern bestätigt. Er sieht die Gefahr einer Aushöhlung des parlamentarischen Budgetrechts, wenn der Bundestag über die Angemessenheit der Ausgaben nicht mehr selbst entscheiden kann. So ist es, meine Damen und Herren. ({2}) Wir von der FDP haben von Anfang an kritisiert, dass jeder Schutzschirm und jede Hilfsmaßnahme immer an das Vorliegen einer epidemischen Lage gekoppelt ist. Es ist doch absurd, wenn zur simplen Anordnung einer Maskenpflicht die Feststellung der epidemischen Notlage erforderlich ist. Die Bundesregierung hat es hier selbst versäumt, Rechtssicherheit zu schaffen. Sie haben hier gesetzgeberisches Chaos geschaffen, meine Damen und Herren. ({3}) Wenn wir also der Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht zustimmen, dann ist das keine gesundheitspolitische Entscheidung, sondern eine rechtspolitische Entscheidung. ({4}) Die weiterhin notwendigen Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln lassen sich doch genauso außerhalb der epidemischen Lage realisieren, und zwar ohne die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Vorrat zu beschränken. ({5}) Wir haben in der gesamten Pandemiepolitik immer konkrete und konstruktive Vorschläge in die Debatte eingebracht, meine Damen und Herren. Daran halten wir mit unserem heute vorliegenden Antrag fest. Darin schlagen wir vor, dass es unterhalb der Schwelle der epidemischen Lage gesetzliche Grundlagen für die Pandemiebekämpfung geben muss. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von der AfD-Fraktion?

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sonst immer, heute nicht, weil die Grünen zu ihrem Parteitag müssen. ({0}) Wir können doch die Feststellung der epidemischen Lage nicht verlängern und den Impffortschritt und die niedrigen Inzidenzen einfach ignorieren. Die verfassungsrechtliche Legitimation für die Grundrechtseingriffe fällt jeden Tag ein Stück weiter in sich zusammen. Sie können doch den nationalen Ausnahmezustand nicht als Dauerschleife aufrechterhalten. Das akzeptiert die Bevölkerung nicht, und das machen wir als FDP-Bundestagsfraktion auch nicht mit, meine Damen und Herren. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir lehnen deswegen die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage ab und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag. Herzlichen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Frau Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt in unserem Land die klare Überzeugung, dass in den Krankenhäusern, in den Impfzentren, in den Pflegeheimen und Arztpraxen Großartiges geleistet wurde. Dafür sagen wir Danke. ({0}) Es gibt aber auch die ebenso klare und richtige Überzeugung, dass die Bundesregierung in der Pandemiezeit für viel Verwirrung gesorgt hat und auch handwerklich der Aufgabe nicht gewachsen war, um es mal ganz höflich zu sagen, meine Damen und Herren. ({1}) Ich war gestern bei einer Demonstration vor dem Krankenhaus Friedrichshain. Die Berliner Krankenhausbewegung hatte dazu aufgerufen; ich grüße diese Bewegung von hier aus. ({2}) Die Pflegerinnen und Pfleger haben ganz deutlich gesagt, was der springende Punkt ist. Der springende Punkt ist: Es gibt zu wenig Personal im Pflegebereich. Das ist eine politisch herbeigeführte Situation, und das muss endlich beendet werden, meine Damen und Herren. ({3}) Wir müssen hier also vor allen Dingen über die politische Lage in unserem Land sprechen. Das Gesundheitssystem ist über Jahre auf Verschleiß gefahren worden. Das ist verantwortungslos. Hier muss die Richtung gewechselt werden, meine Damen und Herren. ({4}) Natürlich geht es uns auch um Gesundheitsschutz. Ja, das Virus muss weiter bekämpft werden, Hygieneregeln müssen eingehalten werden, Gesundheitsschutz muss gewährleistet werden, vor allen Dingen in der Arbeitswelt; das ist bei all diesen Beschlüssen vernachlässigt worden, meine Damen und Herren. ({5}) Aber – und da kann ich mich in vielem meiner Vorrednerin anschließen – die Feststellung der epidemischen Lage muss beendet werden; denn wir sehen doch, dass dieser rigide Zentralismus, dass Durchregieren mehr Schaden als Nutzen gebracht hat. ({6}) Der aktuelle Bericht des Bundesrechnungshofes hat das noch einmal sehr deutlich gemacht. Einige Beispiele daraus: Der Bundesminister hat den Apotheken für Masken 6 Euro pro Stück gezahlt. Im Großhandel wurden die Masken damals für 1,62 Euro gehandelt. Herr Spahn, wo haben Sie eigentlich Marktwirtschaft gelernt? Das würde ich gern mal wissen. ({7}) Für die Intensivbetten wurden 10 Milliarden Euro gezahlt. Auch hier wurde, so sagt es der Bundesrechnungshof, das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Es kann doch nicht sein, dass über eine Verordnung 10 Milliarden Euro ausgegeben werden, ohne dass das Parlament im Detail darüber beschließen kann. So kann das nicht weitergehen, meine Damen und Herren. ({8}) Zum Vergleich: 10 Milliarden Euro ist die Hälfte der Summe, die wir in einem Jahr für Bildung und Forschung ausgeben. Das sind doch keine Peanuts; das müssen wir doch ernst nehmen. ({9}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat anschaulich bewiesen, dass ohne eine effektive Kontrolle des Parlaments alles völlig aus dem Ruder läuft. Es gibt in unserem Land politische Kräfte, die die Demokratie lieber heute als morgen abschaffen wollen. Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, dass das Parlament endlich wieder alle Rechte bekommt. Auch in der Krise geht es nur demokratisch, nicht anders, meine Damen und Herren. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Frau Dr. Manuela Rottmann. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Aschenberg-Dugnus, es ist sehr nett, dass Sie an uns denken. ({0}) – Kollegial. – Sie können ab 16 Uhr den Parteitag digital nachverfolgen, und ich bin optimistisch, dass es klappt. Bei der FDP Frankfurt ist der digitale Parteitag ja letzte Woche an technischen Problemen gescheitert. ({1}) 15 Monate nach Feststellung der epidemischen Lage kommen wir voran. Allerdings tritt die Koalition immer noch auf der Stelle. Ein Stufenplan mit nachvollziehbaren Regeln von Garmisch bis Sylt hätte die Bekämpfung der dritten Welle deutlich einfacher gemacht. ({2}) Bekommen haben wir nur die sogenannte Bundesnotbremse aus willkürlich zusammengezimmerten Inzidenzwerten. Die läuft jetzt immerhin aus; das ist gut. Aber Ihnen fehlt der Ausstiegsplan. Ihnen fällt nichts anderes ein als immer wieder die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage. Ihr Coronasonderrecht ist ein heilloses Durcheinander, überstürzt zusammengeschustert, immer wieder hektisch geändert. Sie selbst blicken doch nicht mehr durch. Das merkt man am Regierungssprecher. Der hat gesagt: Wir brauchen die Fortgeltung der epidemischen Lage als Voraussetzung für Regelungen für Impfungen und Tests. – Das stimmt nicht; denn Impf- und Testverordnungen gelten ein Jahr nach dem Auslaufen weiter. ({3}) Woran Sie aber nicht gedacht haben, ist, dass mit dem Auslaufen der Geltung der epidemischen Lage auch die Reiseregelungen wegfallen. Das haben Sie versemmelt. Das ist der einzige Grund für uns, dieser Verlängerung noch einmal zuzustimmen; denn ohne solche Regelungen, die Sie verbaselt haben, kommen wir nicht über diesen Sommer. ({4}) Danach ist die Impfkampagne hoffentlich so weit fortgeschritten, dass wir auch mit aggressiven Mutationen zurechtkommen. 14 Bundesminister stehen Ihnen zur Verfügung, 14 Ministerien. Sie schaffen es auch heute nicht, auf verfassungsrechtliche Füße zu stellen, was wir für die Gesundheitsvorsorge, für die Gefahrenabwehr noch brauchen. Das wirft für mich die Frage auf: Was machen Sie eigentlich in diesen 14 Ministerien? Räumen Sie endlich Ihren regulatorischen Saustall auf! ({5}) Das Schlimmste ist für mich: Seit über einem Jahr entscheidet Jens Spahn alleine über die Verteilung von Mitteln in Milliardenhöhe – ein verfassungsrechtlich unhaltbarer Zustand. Und was dabei herauskommt, ist nicht lässig, es ist fahrlässig. ({6}) Mit jeder neuen Spahn-Verordnung wird das Geld säckeweise aus dem Fenster geworfen. Stoppen Sie endlich diese Stümperei! ({7}) Ich habe fast lachen müssen, als ich die Debatte über mehr Frauen in Führungspositionen verfolgt habe. Ich kann sagen: Seit der Scheuer/Spahn-Test-Taskforce weiß ich, dass in dieser Regierung jeder als ministrabel gilt, der einen Anzug anhat und ein Unionsparteibuch besitzt. ({8}) Am 26. September können die Wählerinnen und Wähler Gott sei Dank darüber entscheiden, ob sie das auch noch so sehen. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dietrich Monstadt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Stand heute haben wir eine bundesweite Inzidenz von 18,6. Innerhalb eines Tages haben sich in Deutschland 2 747 Menschen neu mit Corona infiziert, 5 320 sind – Gott sei Dank – genesen, 101 verstorben. Ja, die Zahlen gehen zurück. Dies ist einer Vielzahl von Maßnahmen zu verdanken. Entscheidend ist aber sicherlich die voranschreitende Impfquote. ({0}) In Deutschland sind mittlerweile 23,9 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft; fast die Hälfte hat die erste Impfdosis erhalten. Durch den Einsatz der Hausärzte, der Betriebsärzte und der Impfzentren konnten gestern circa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland geimpft werden – eine, wie ich finde, enorme Leistung des medizinischen Sektors, für die ich mich hier und heute ausdrücklich bedanken möchte. ({1}) Meine Damen und Herren, trotzdem wollen und müssen wir heute die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite bis zum 11. September verlängern. Das ist wichtig und richtig, da wir es trotz rückläufiger Zahlen leider noch nicht geschafft haben, die Pandemie zu überwinden. § 5 Absatz 1 Satz 6 des Infektionsschutzgesetztes beschreibt die Voraussetzungen für eine epidemische Lage von nationaler Tragweite. Sie kann festgestellt werden, wenn ein internationales Infektionsgeschehen vorliegt oder eine Ausbreitung über mehrere Bundesländer in der Bundesrepublik stattfindet. Weltweit sind die Infektionszahlen noch lange nicht unter Kontrolle gebracht. Uns erreichen Meldungen über neue Mutationen. Da kann man nur hoffen, dass wir nicht das komplette griechische Alphabet nutzen müssen. Und natürlich ist es nicht so, dass das irgendwo passiert und Deutschland nicht erreicht. Die Ferien stehen vor der Tür. Nach dieser langen Zeit sehnen sich die meisten nach einem verdienten Sommerurlaub. Ich hoffe, dass die Zahlen nach der Rückkehr aus der Ferienzeit nicht ein gänzlich anderes Bild vermitteln als die heute aktuellen. Meine Damen und Herren, alle Bundesländer sind nach wie vor betroffen. In einigen herrscht ein diffuses Ausbruchsgeschehen. Gerade erst erreichten uns wieder Meldungen aus Bonn und Hagen. Daher müssen wir den Ländern und Kommunen weiterhin die Möglichkeit geben, lokale Ereignisse anzugehen. Dabei sind alle Maßnahmen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Sie müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dies ist jederzeit gerichtlich überprüfbar; solche Überprüfungen hat es in der Vergangenheit ja auch häufiger gegeben. Die Behörden werden berechtigt – nicht verpflichtet –, zu handeln. Wir dürfen diese heutige Entscheidung nicht als Belastung für alle begreifen, sondern als Möglichkeit, den Schutz für alle optimal sicherzustellen. Und: Die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite kann durch den Deutschen Bundestag jederzeit vorzeitig beendet werden. ({2}) Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle nochmals ganz klar betonen – es ist hier heute schon angesprochen worden –, dass die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht im Zusammenhang mit der Bundesnotbremse steht. Diese wird planmäßig zum 30. Juni 2021 auslaufen. In der Aktuellen Stunde am Mittwoch ging es hier hoch her. Man hatte doch stark den Eindruck, dass es in dieser Debatte mehr um Wahlkampf und um belastete Beziehungen als um Masken ging. Daher möchte ich hier und heute die Chance nutzen, mich ganz persönlich bei unserem Gesundheitsminister Jens Spahn zu bedanken. ({3}) Lieber Jens, ich bin froh und überaus dankbar, dass du als unser Gesundheitsminister mit deiner Erfahrung, ({4}) mit deinen ganz persönlichen Fähigkeiten uns durch diese anstrengende, schwere Zeit der Pandemie geleitet hast. Ich wüsste niemanden, der dies besser gemacht hätte als du. Die heutigen Zahlen sind auch dein Verdienst. Herzlichen Dank dafür! ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen, meine Herren, wir alle sehnen die Zeit nach der Pandemie herbei. Wir sind fast am Ziel. Lassen Sie uns das nicht durch voreilige Schritte verspielen! Ich bitte um Zustimmung für den Koalitionsantrag. Die Anträge der Opposition lehnen wir ab. Danke sehr. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die fraktionslose Kollegin Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Freuen Sie sich nicht zu früh. – Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sollen heute die Verlängerung der Feststellung der epidemischen Lage beschließen. Glaubt man den Befürwortern, ist die Bekämpfung des Covid-19-Virus und seiner Mutanten nur möglich, wenn wir weiterhin der Aussetzung zahlreicher Grundrechte zustimmen, und das, obwohl weder die sogenannten Inzidenzen noch die Zahl der Todesfälle oder die Belegung der Intensivstationen diese Behauptung stützen. Fakt ist auch: Sie, liebe Bundesregierung, haben es innerhalb eines Jahres geschafft, den Einzelhandel und erhebliche Teile der Wirtschaft finanziell zu strangulieren, Künstler und Musiker ihres Lebenselixiers weitgehend zu berauben, und – noch viel schlimmer – Sie haben statt Hoffnung vor allem Angst in der Bevölkerung verbreitet. Statt sauberer wissenschaftlicher Fakten als Basis Ihrer Entscheidungen haben Sie neue autoritäre Glaubensregeln zum Maß aller Dinge gemacht. Heute glauben viele Bürger, dass man durch das Tragen der eigenen Maske andere, also Dritte, schützen kann. Dabei ist die Maske immer maximal ein Selbstschutz. ({0}) Sie glauben auch, dass positive PCR-Tests Inzidenzen, nein, Infektionen nachweisen, und benutzen diesen Parameter, obwohl wir es viel besser wissen. Ihre Fehlentscheidungen an sich sind die eine Sache; aber Sie vergiften vor allem das gesellschaftliche Klima. Sie haben Bürger und Bürgerinnen gegeneinander aufgehetzt. Wenn Sie jetzt die Feststellung der epidemischen Lage ohne jede Notwendigkeit verlängern wollen, dann machen Sie sich endlich ehrlich! Wir wissen, dass Covid-19 saisonal auftritt; das wird sich auch in den kommenden Jahren nicht ändern. Wie bei anderen grippalen Infektionen werden wir, wenn wir heute verlängern, ehrlicherweise bis Frühjahr 2022 verlängern müssen, also nicht um drei Monate, nicht bis kurz vor der Bundestagswahl, sondern bis Frühjahr 2022. Das zumindest sollten Sie den Bürgern gönnen: ein bisschen Ehrlichkeit vor der Bundestagswahl. Das wäre wichtig nach einer solch langen Zeit. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort zu ihrer letzten Rede erhält Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will hier mal ein paar Punkte von der Opposition aufgreifen. Die erste Frage, die ich beantworten möchte, ist: Kann man mit dem Infektionsschutzgesetz das komplette Gesundheitssystem reformieren? Nein, kann man nicht. ({0}) Wir haben gesehen, welche Defizite wir in unserem System haben. Ich bin da ganz bei Ihnen: Mehr Daseinsvorsorge täte uns gut; mehr Öffentlicher Gesundheitsdienst täte uns gut. Das brauchen wir. ({1}) Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Regierung beauftragt haben, externen Sachverstand einzuholen und zu evaluieren und diesem Parlament bis Ende des Jahres einen Bericht vorzulegen, welche Lehren man aus dieser Pandemie ziehen muss, damit wir bei ähnlichen Situationen, die hoffentlich nicht eintreten, besser vorbereitet sind. Das ist ein wichtiger Punkt. Dazu gehört meines Erachtens auch, dass wir uns auf den Weg machen müssen, dieses Gesundheitssystem nicht an ökonomischen Gesichtspunkten auszurichten, sondern an den Bedürfnissen der Menschen. Das muss die Lehre aus der Pandemie sein. ({2}) Die zweite Frage, die ich beantworten möchte, ist: Nimmt die Demokratie Schaden? Wir haben als Regierungsfraktionen – und das hat die SPD wirklich forciert eingebracht – hart für den Satz gekämpft, dass das Parlament entscheidet, ob diese epidemische Lage nationaler Tragweite existiert oder nicht. Das macht das Parlament. ({3}) Wenn wir uns jetzt entscheiden, diese Lage fortbestehen zu lassen, dann tun wir das, weil wir mit Vorsicht und Umsicht agieren wollen. Ein Vorredner hat es schon gesagt: Der Blick auf Großbritannien hilft dabei. Innerhalb von wenigen Wochen haben sich die Inzidenzwerte dort mehr als verdreifacht. ({4}) Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns nicht in Sicherheit wiegen, so gern wir alle wieder ein normales öffentliches Leben hätten. Aber diese Sicherheit gibt es noch nicht. Und im Antrag steht ja auch: Wir können die Feststellung der pandemischen Lage jederzeit vor September aufheben, ({5}) und zwar wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier. ({6}) Aber wir müssen eine Abwägung treffen. Und die Frage, ob es jetzt an der Zeit ist, das Fortbestehen der pandemischen Lage aufzuheben, ({7}) ist im Moment mit Nein zu beantworten. ({8}) Warum? Weil wir Maßnahmen brauchen, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Kollegin, es gibt zwei Zwischenfragen von der AfD-Fraktion.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Übrigens: Genau vor einem Jahr hat die FDP-Fraktion hier einen fast wortgleichen Antrag eingebracht, in dem sie gefordert hat, die Feststellung der pandemischen Lage aufzuheben. Ich glaube, die nachfolgenden Monate haben gezeigt, dass das ein schwerer Fehler gewesen wäre. ({0}) Ein dritter Punkt, auf den ich hier eingehen möchte, ist das Thema Entwarnung. Können wir Entwarnung geben? Auch da sage ich Nein, nicht nur, weil es Mutanten gibt, die jetzt auch in Europa die Bevölkerung wieder gefährden, sondern auch, weil wir noch keine ausreichende Impfquote haben. Abschließend komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt, den wir noch mal auf die Agenda setzen müssen: die Eigentests. Wir haben das vernachlässigt. Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir neben einer Teststrategie auch eine Eigenteststrategie auf die politische Agenda nehmen. ({1}) Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, liebe Kollegin. – Ich gebe das Wort an Herrn Hilse für eine Kurzintervention. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Glücklicherweise entscheidet die Präsidentin, nicht Sie. – Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. Bisher haben alle Redner der Regierungskoalition davon gesprochen, dass wir die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite noch nicht beenden können, haben aber vergessen, den Leuten draußen zu sagen – Sie wollen ja den Leuten Mut machen und Hoffnung geben; das war sarkastisch –, wann das der Fall sein wird. Ich hoffe, dass der letzte Redner der Koalitionsfraktionen mal darauf eingeht, unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufgehoben bzw. außer Kraft gesetzt wird? Sagen Sie es bitte konkret, mit Inzidenzwert, R-Wert, Intensivbettenauslastung usw. usf. Sie sagen immer, es sei Licht am Horizont. Schauen Sie mal bei Wikipedia, was „Horizont“ heißt. Das ist nämlich eine imaginäre Linie; je näher man ihr kommt, desto weiter rückt sie nach hinten. Wahrscheinlich wollen Sie nicht darauf antworten, weil Sie die Menschen ewig in dieser epidemischen Lage von nationaler Tragweite halten wollen. Sie werden ihnen nicht sagen, wann sie ganz konkret beendet wird, unter welchen Voraussetzungen. Das haben Sie bis jetzt nicht gemacht. Ich hoffe, dass der letzte Redner – das ist Herr Pilsinger – darauf eingeht, um den Menschen vielleicht doch Hoffnung zu machen. Ich bezweifle es aber. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich gebe das Wort an Frau Mattheis zur Beantwortung der Kurzintervention.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich hier am Pult nicht ständig Ihre Anträge besprechen müsste, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Aber wenn Sie mal Ihre eigenen Anträge angucken, dann sehen Sie, dass wir in der letzten Sitzungswoche einen Antrag von Ihnen diskutieren mussten, der beinhaltet, welche effektiven Schutzmaßnahmen diese Regierung und dieses Parlament bald mal einführen sollen. Sie sollten also erst mal in Ihrer Argumentation stringent sein und nicht nur populistisch für die Balkone irgendetwas rausposaunen, sondern sich mit der Sachlage befassen. ({0}) Wir können die Feststellung der pandemischen Lage verlängern oder auch abkürzen bzw. aufheben. ({1}) Das kann dieses Parlament tun, und zwar dann, wenn wir alle miteinander der Auffassung sind, dass die Gefahren der Pandemie weltweit behoben sind ({2}) und wir vor allen Dingen den Schutz der Bevölkerung in Deutschland entsprechend gewährleisten können. Das ist unsere Richtschnur. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, liebe Kollegin. Das Präsidium und – davon gehe ich aus – das gesamte Haus bedanken sich für die langjährige parlamentarische Arbeit und die wunderbare Zusammenarbeit. Herzlichen Dank! ({0}) Zum Abschluss der Debatte geht das Wort an Stephan Pilsinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie zerbrechlich das Leben ist, ist mir heute wieder bewusst geworden, als ich vom Tod des bekannten Internet-Influencers Philipp Mickenbecker erfahren habe. Er ist bekannt aus dem Youtube-Kanal „The Real Life Guys“, in dem er auch über seine Diagnose Krebs und seinen Leidensweg berichtete. Er verstarb am 9. Juni mit nur 23 Jahren. Seine Tapferkeit und Hoffnung haben mich tief bewegt. Ich finde, sein Beispiel verdeutlicht uns: Das Leben ist wertvoll, aber auch zerbrechlich. – Das weiß ich als Arzt nur zu genau. Deswegen appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam das Leben schützen, an jeder Stelle, wo es nur geht. ({0}) Erlauben Sie mir zwei Anmerkungen aufgrund von Zwischenbemerkungen zweier Kollegen aus dem Parlamentskreis. – Frau Lötzsch, Sie sagten, dass hier im großen Stil ein Schattenhaushalt aufgemacht wird und ohne jegliche parlamentarische Kontrolle Milliarden Euro ausgegeben werden. ({1}) Ich möchte Ihnen sagen: Jede Verordnung ist mit mehreren Ressorts, also anderen Bundesministerien, abgestimmt worden, und der Bundesminister hat zu jeder größeren Ausgabe dem Haushaltsausschuss Rede und Antwort gestanden. Deswegen muss ich Ihnen sagen: Was Sie da behauptet haben, ist einfach unrichtig. ({2}) Herr Hilse von der AfD, wenn Sie mich fragen, was die Voraussetzungen dafür sind, dass die Feststellung der epidemischen Lage aufgehoben wird, muss ich Ihnen sagen: wenn die Voraussetzungen nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes nicht mehr vorliegen. Das wird von Experten festgelegt und nicht von Ihnen. ({3}) Aber wenn Sie wollen, dann lesen Sie doch den entsprechenden Paragrafen durch. Dann verstehen auch Sie, wann das der Fall sein wird. – Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Lötzsch von der Fraktion Die Linke?

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Wir haben es schon gesagt: Die Grünen müssen zum Parteitag. Deswegen wollen wir nicht so lange machen. ({0}) Auch wenn wir in Deutschland den exponentiellen Anstieg der Fallzahlen erneut unter Kontrolle gebracht haben: Das Virus wird so schnell nicht aufgeben, und die Pandemie ist erst dann vorüber, wenn das Virus in allen Teilen der Welt besiegt ist. Aber schon jetzt drohen neuartige Virusvarianten unsere Erfolge bei der Pandemiebekämpfung zunichtezumachen. Bereits bei der sogenannten Alpha-Variante des Virus, also der britischen Variante B.1.1.7, haben wir gesehen, wozu das Virus fähig ist. Innerhalb weniger Wochen konnte diese ansteckende, gefährliche Virusvariante den bisherigen Wildtyp in vielen Ländern der Welt verdrängen. Dieser Vorgang wiederholt sich gerade in Großbritannien: Trotz einer Erstimpfungsquote von weit über 60 Prozent breitet sich die indische Variante dort rasant aus und sorgt erneut für steigende Inzidenzen. Diese Zahlen zeigen uns umso mehr, dass wir wachsam sein müssen. Der Kampf ist noch nicht gewonnen, meine Damen und Herren; das Virus gibt sich nicht so leicht geschlagen. Lassen Sie uns also die Erfolge der vergangenen Wochen nicht leichtfertig verspielen. Die Impfungen sind unser Weg heraus aus dieser Krise. Aber ohne entsprechende Regeln, ohne die Feststellung der epidemischen Lage, werden wir unseren Vorsprung verlieren. Wir brauchen eine gesetzliche Grundlage für den Erhalt der Coronaschutzmaßnahmen. Nur so haben wir als Land gemeinsam die Chance, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen. Deshalb bitte ich Sie heute um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort für eine Kurzintervention geht an Frau Dr. Lötzsch von der Fraktion Die Linke.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege, Sie haben mich bezichtigt, hier Behauptungen aufgestellt zu haben. Ich will das entschieden zurückweisen. Ich habe mich – genauso wie die Kollegin von der FDP, Frau Aschenberg-Dugnus – auf einen Bericht des Bundesrechnungshofes bezogen; dieser Bericht des Bundesrechnungshofes ist übrigens gestern auch in den Medien breit widergespiegelt worden. Soweit ich mich erinnere, hat selbst Minister Spahn eine gewisse Einsicht gezeigt. Also weise ich Ihre Anschuldigung zurück, ich würde hier irgendwelche Märchen erzählen. Ich habe aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes zitiert. Ich glaube, wir tun alle gut daran, die Aussagen des Bundesrechnungshofes, wie andere auch, ernst zu nehmen, ({0}) ernsthaft zu bewerten und nicht blind zu übernehmen. Es dient der Redlichkeit hier, auf die Reden der Kolleginnen und Kollegen entsprechend zu reagieren und sie nicht zu diffamieren. Ihre Behauptung weise ich zurück. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Der Abgeordnete Pilsinger möchte reagieren. Bitte sehr.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Lötzsch, das sollte keine Bezichtigung sein, nur eine Aufklärung über die Tatsache, dass Bundesminister Spahn dem Haushaltausschuss, also dem Hohen Haus hier, über jeden höheren Beitrag, über jede Ausgabe ausführlich Rede und Antwort gestanden hat. Es ist eine Sache der Redlichkeit, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass wir als Union und als Regierung keinesfalls größere Ausgaben ohne Beteiligung des Parlaments machen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich noch einmal zu Wort gemeldet haben, damit auch ich das deutlich machen konnte. – Vielen Dank. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Pandemie da vielleicht ein wenig entgegengewirkt hat, ist die Entwicklung der vergangenen Jahre klar: Die Lebenswelten vieler Menschen driften auseinander, abhängig davon, wo sie in unserem Land leben. Auf der einen Seite haben wir boomende Städte, wo es immer mehr Menschen hinzieht und die auch mit den Folgen des Zuzugs zu kämpfen haben. Auf der anderen Seite haben wir Regionen, aus denen die Menschen verschwinden und mit ganz anderen Problemen umgegangen werden muss. Deshalb ist das Thema „gleichwertige Lebensverhältnisse“ nicht nur für die Prosperität der betroffenen Regionen extrem wichtig, es ist auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im ganzen Land von großer Bedeutung. ({0}) Mancherorts hat sich das Gefühl eingestellt, nicht gehört und nicht wahrgenommen zu werden. Wir haben als Grüne-Bundestagsfraktion deshalb vor anderthalb Jahren das Projekt „Stadt-Land-Zukunft“ gestartet. Wir wollten den Menschen in den strukturschwachen Regionen noch intensiver zuhören und mit ihnen über ihre Wünsche und Bedürfnisse sprechen. Wir haben eine Reihe von Regionalkonferenzen durchgeführt. Viele Menschen aus den Regionen sind dabei zu Wort gekommen, haben diskutiert und sich vernetzt. In diesem Diskussionsprozess ist einmal mehr sehr deutlich geworden, dass gerade die Frage der Mobilität eines der drängendsten Themen ist. Gerade mit dem ÖPNV, mit der Alltagsmobilität sind Menschen in ländlichen, in strukturschwachen Räumen extrem unzufrieden. Hier ist der Handlungsbedarf am dringlichsten. ({1}) Gerade im Mobilitätssektor werden die Unterschiede zwischen Stadt und Land für die Menschen unmittelbar erfahrbar. Während in Städten neue, meist gut digitalisierte Mobilitätsdienste an den Start gehen und das Angebot bei Bussen und Bahnen ausgebaut wird, hat in vielen ländlichen Regionen über Jahre und Jahrzehnte ein Rückzug des Angebots und im Übrigen auch der öffentlichen Hand stattgefunden: Bahnstrecken wurden stillgelegt. Busverkehre wurden oft auf den Schülerverkehr reduziert. Unter all dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, leidet die Attraktivität der Regionen. Der Trend zur Abwanderung verstärkt sich. Wir brauchen – das ist das Fazit – endlich zeitgemäße Antworten auf diese Mobilitätsmisere in vielen strukturschwachen ländlichen Räumen. Wir wollen eine Mobilitätsgarantie für den ländlichen Raum. Alle Menschen sollen Zugang zu einem zuverlässigen und attraktiven ÖPNV-Angebot bekommen. Bund, Länder und Kommunen müssen dafür eine ÖPNV-Strategie mit Mindeststandards für das ÖPNV-Angebot entwickeln. ({2}) Es geht nicht darum, jetzt überall rund um die Uhr große Gefäße fahren zu lassen. Vielmehr müssen wir das Nahverkehrssystem so umbauen, dass starke Buslinien zwischen den Zentren durch ein Netz neuer Mobilitätsangebote für die letzte Meile ergänzt werden. Die Bahn muss wieder zurück in den ländlichen Raum. Dazu müssen stillgelegte Schienenwege wieder reaktiviert werden, und alle Oberzentren müssen auch wieder an den Fernverkehr angeschlossen werden. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auch den Fuß- und Radverkehr im ländlichen Raum attraktiver und vor allem sicherer machen. Mehr und bessere Radwege sind das Gebot der Stunde, gerade für den Alltagsradverkehr. ({3}) Uns ist aber auch klar, dass das Auto im ländlichen Raum weiter eine wichtige Rolle spielen wird. Deshalb wollen wir den Ausbau der Elektromobilität im ländlichen Raum vorantreiben und auch auf dem Land ein flächendeckendes Ladesäulennetz, aber auch Sharingangebote in der Fläche fördern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Erfahrung der Coronakrise haben ländliche Räume tatsächlich wieder an Attraktivität gewonnen. Dieser Trend wird sich aber nur verstetigen, wenn sich die Lebensverhältnisse gerade in strukturschwachen ländlichen Räumen langfristig verbessern. Dazu gehört neben anderen Aspekten auch eine Verbesserung der Mobilitätsverhältnisse. Wir müssen deshalb die Mobilitätswende auch auf dem Land angehen, damit in ländlichen Räumen neue Perspektiven entstehen. Das wird eine der großen Aufgaben für die nächste Legislaturperiode, und dafür haben wir heute auch einen Plan vorgelegt. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir zum Schluss meiner Rede ein paar Sätze in eigener Sache. Die Präsidentin hat es eben gesagt: Dies war mutmaßlich meine letzte Rede an diesem Pult. Ich habe mich nach zwölf Jahren Zugehörigkeit zu diesem Hohen Haus entschlossen, nicht wieder zu kandidieren und auch und vor allem mehr Zeit für meine Familie zu haben, die in den vergangenen Jahren oft das Nachsehen hatte. Noch freuen die sich sehr, dass ich jetzt mehr Zeit für sie habe, ich bin gespannt, ob es so bleibt. ({5}) Es ist und war immer eine große Ehre für mich, diesem Deutschen Bundestag, unserem Parlament anzugehören. Ich habe viele großartige Menschen innerhalb und außerhalb dieses Hauses kennenlernen, ich habe an tollen Themen und Projekten arbeiten dürfen. Deshalb möchte ich allen danken, mit denen ich im Interesse unseres Landes zusammenarbeiten durfte, auch – das möchte ich betonen – über Parteigrenzen hinweg. Herzlichen Dank für das kollegiale Miteinander und für die gemeinsame Suche nach Lösungen. Das war nicht immer einfach. Herzlichen Dank aber auch und vor allem an die vielen guten Geister – das muss ich an dieser Stelle auch einmal sagen –, die meistens unsichtbar diesen Betrieb hier ermöglichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Die vergangenen Jahre, insbesondere die vergangenen vier Jahre, waren geprägt von großen Herausforderungen, auch und gerade für die Demokratie. Ich fürchte, die Herausforderungen werden in den kommenden Jahren nicht weniger werden. Die Klimakrise, die Transformation der Wirtschaft, die Bewältigung der Coronakrise, das werden Mammutaufgaben für Jahrzehnte werden; dessen bin ich mir sicher. Diese Aufgaben brauchen den vollen Einsatz des Parlamentes, gerade auch im Interesse unserer Kinder und Enkel. Ich wünsche allen, die künftig hier in diesem Hause daran mitarbeiten werden, vieles zum Guten zu entwickeln, viel Kraft und Durchsetzungsvermögen. Ich wünsche dem ganzen Haus vor allem eine glückliche Hand dabei, diese Schritte auch gut zu kommunizieren. Alles Gute und herzlichen Dank für die Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren! ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege Tressel, herzlichen Dank vom Hohen Hause, wie Sie uns genannt haben, und alles Gute für Ihre Zukunft. Sie sind ein junger Mann; genießen Sie die Familienphase. Ihnen natürlich auch beruflich viel Erfolg und noch einmal alles Gute! Das Wort geht an Torsten Schweiger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Torsten Schweiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004889, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über rund zehn Anträge zu verschiedenen Themen, die aber alle eine Gemeinsamkeit haben, nämlich den ländlichen Raum, um den es hier geht. Hier wiederum geht es letztendlich darum, wie es gelingen kann, ein Stück weiterzukommen, um gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu schaffen. Dieses Ziel ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Ziele überhaupt und eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Weil das so ist, hat die unionsgeführte Bundesregierung Mitte 2019 den Plan für Deutschland vorgelegt, der nun seit rund zwei Jahren ressortübergreifende Handlungsrichtlinie ist. Erst vor einigen Tagen haben wir dazu die Zwischenbilanz diskutiert. Bei aller Unterschiedlichkeit, die wir in der Bewertung hatten, wurde aber eines meiner Meinung nach sehr deutlich: Gleichwertige Lebensverhältnisse sind als Ziel richtig. Die Umsetzung wird noch weitere Legislaturperioden brauchen, und einzelne Ansätze werden der komplexen Zielstellung wahrscheinlich schwer gerecht. Die Zwischenbilanz hat aber auch gezeigt, wo nachgeschärft werden muss und wo es Umsetzungsdefizite gibt. Beispielsweise will ich hier den Dezentralisierungsansatz nennen. Da heißt es im Plan für Deutschland, dass zum Beispiel Behördenansiedlungen vorrangig in kleinen und mittleren Städten erfolgen sollen. Schaut man sich nun die Zwischenbilanz an, so wird man nicht ganz zufrieden sein, denke ich; denn die Ansiedlungen erfolgten tatsächlich überwiegend im Bereich von Großstädten und eben nicht in den zuvor genannten kleinen und mittleren Städten. Hier brauchen wir – das ist klar – vor allem in der Umsetzung mehr Konsequenz, aber nicht nur vonseiten des Bundes, sondern auch der Länder, die aufgrund der Föderalistik zum Schluss für die Städte zuständig sind. Gleichwertige Lebensverhältnisse tangieren viele Bereiche, egal ob es, wie gerade beim Vorredner, um die Mobilität geht oder um die Infrastruktur, um die Wohnbedingungen oder um die Kultur. Die Aufzählung könnte man sicherlich noch weiter fortführen. Unser Blick geht sehr oft auf die Großstädte mit ihren, ja, ebenfalls sicher drängenden Problemen. Aber – das muss man, denke ich, immer wieder deutlich betonen –: Die weit überwiegende Fläche unseres Landes liegt nun einmal im ländlichen Raum, und auch die überwiegende Anzahl der Menschen wohnt im ländlichen Raum. Wenn ich das sage, geht es mir keineswegs darum, Konflikte zwischen Stadt und Land weiter zu postulieren, sondern im Gegenteil: Ich bin der Meinung, dass der ländliche Raum helfen kann, Probleme der Ballungsräume zu lösen. Ich denke hier an das Wohnungsmarktproblem, oder ich denke an Infrastrukturüberlastungen, die wir dort haben. Genau deshalb, weil diese Problemlösungen an verschiedenen Stellen nur gemeinsam gelingen können, darf es keine entkoppelte Betrachtung und Entwicklung von Stadt und Land geben. Ebenso wichtig ist aber auch, dass der Strukturwandel, mit dem wir den Ausstieg aus der Kohleverstromung eingeleitet haben, nicht zu einer Quasidoppelbelastung des ländlichen Raumes wird. Wenn es gelingt, hier sehr, sehr zielgerichtet, auch durch die geänderte Fördersystematik, Impulse in den betroffenen Regionen zu setzen, dann kann die Zielsetzung der gleichwertigen Lebensverhältnisse sicherlich einen guten Schub bekommen. Aber es gilt, kein Strohfeuer zu entzünden, sondern Kontinuität zu erreichen. Daher wird es zum Beispiel außerordentlich wichtig sein, die Städtebauförderung auf einem gleichbleibend hohen Niveau zu halten. Auch die von mir genannte geänderte Fördersystematik ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Anpassungen werden aber auch hier notwendig sein. Eine dieser Anpassungen, die ich schon jetzt für nötig erachte, ist beispielsweise eine stärkere Differenzierung nach der Wirtschaftskraft. Wie diese dann genau aussehen kann, das werden wir sicherlich noch gemeinsam ausführlich diskutieren. Ich komme zurück auf die eingangs gemachten Bemerkungen und werde damit dann auch enden. Die Anträge der heutigen Debatte haben viele gute Solitäransätze gegeben, aber eben nur Solitäransätze. Eine erfolgreiche Umsetzung jedoch ist meiner Meinung nach zumindest nur in der Gesamtstrategie möglich, die eben zum Beispiel der Plan für Deutschland bietet. Daher muss das Ziel sein, gute Ansätze in die Fortschreibung, die es sicherlich geben wird, zu integrieren und bei einer Umsetzung einen langen Atem zu haben, der sicherlich über mehrere Legislaturperioden hinausreicht. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Dirk Spaniel von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, der Wahlkampf verlagert sich hier in den Deutschen Bundestag. Heute erleben wir das in Form dieses unsinnigen Antrags der Grünen „Mobilität in ländlichen Räumen verbessern“. Für die Verbesserung der Mobilität in den ländlichen Räumen sind wir alle. Aber wir haben völlig unterschiedliche Rezepte. Nachdem die Grünen kein Mittel unversucht lassen, dem Kraftverkehr in den Innenstädten den Garaus zu machen, soll jetzt den Menschen auf dem Land das Auto endgültig madig gemacht und final genommen werden. ({0}) – Moment! Moment! – Die Grünen schreiben in ihrem Antrag, die Unzufriedenheit der Menschen über die eigene Abhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr sei groß. Also: Die in ländlichen Regionen lebenden Menschen, die ich kenne, sind sehr glücklich, ein eigenes Auto zu besitzen. ({1}) Die Grünen schreiben weiter: Die Notwendigkeit, in der Regel zwei oder mehr Fahrzeuge pro Familie vorhalten zu müssen, sei eine erhebliche finanzielle Belastung. Ja, das ist ja wohl der absolute Hohn! Die Politik der Grünen ist die Ursache für die finanzielle Belastung der Menschen in den ländlichen Regionen, die Auto fahren. ({2}) Es ist doch Ihre Spitzenkandidatin, die permanent Spritpreiserhöhungen fordert, wenn sie nicht gerade ihren Lebenslauf korrigiert. ({3}) Die AfD hat einen Sofortvorschlag: die Steuer für Taxis auch auf dem Land zu reduzieren. Das würde den Menschen übrigens helfen und tatsächlich die Kosten reduzieren. ({4}) – Ja, haben wir nicht gemacht. Sie haben ja nicht zugestimmt. Gerne nehme ich mich auch der Motorradfahrer an. Auf Initiative des ausgerechnet von Herrn Laschet zusammen mit der ach so freiheitlichen FDP regierten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen hat der Bundesrat einen Beschluss gefasst, der Motorrädern mit Verbrennungsmotoren perspektivisch ein Ende setzt. Liebe Kollegen von CDU/CSU, Sie haben heute die wunderbare Gelegenheit, Ihren eigenen Verkehrsminister – der ist Gott sei Dank auch da – zu unterstützen, indem Sie dem AfD-Antrag zum Erhalt des Motorradfahrens zustimmen. Ich bin da nicht allzu optimistisch; denn im Geheimen sind Sie längst vor den Grünen eingeknickt. Die schwarz-rot-grüne Koalition in der Verkehrspolitik ist schon lange Realität. ({5}) In Ihrer Politik gegen das Auto übersehen Sie aber: Die Menschen, die auf ein Auto angewiesen sind, tun dies nicht, um anderen Menschen zu schaden, sondern weil es nicht anders geht. Was macht denn eine Ärztin, die nachts zu einem Notfallpatienten gerufen wird? Die Frau, um die es hier geht, nutzt keine öffentlichen Verkehrsmittel, nicht nur, weil es die Verbindungen nicht gibt, sondern weil sie nachts auf dem Land auch noch Personenschutz bräuchte. Diese Frau hat es satt, permanent als Klimasünderin diffamiert zu werden. Wenn die Grünen gemeinsam mit der Union dazu auch noch die Benzinpreise erhöhen, dann ist sie eben weg, dann wird sie als Ärztin in die Schweiz gehen. ({6}) Das ist diese grüne Unehrlichkeit: In der Coronakrise werden Krokodilstränen für Pflegepersonal geheult, und nach der Coronakrise werden Fahrverbote und Benzinpreiserhöhungen gefordert, sodass sich viele in den medizinischen Pflegeberufen und anderen Berufen mit Schichtdiensten ihren Job gar nicht mehr leisten können, weil sie nämlich auf das Auto angewiesen sind. Die AfD steht für bezahlbare Mobilität – auch und gerade auf dem Land. ({7}) Das geht nur mit dem Erhalt und dem Ausbau der Nutzung des privaten Automobils. Die Menschen wollen wirklich Umgehungsstraßen, schnellere Verbindungen und tatsächlich niedrigere Kosten ihrer Mobilität. Spritpreise runter, das ist das, was die Menschen wirklich wollen und was den Menschen auf dem Land richtig helfen würde. Sie verfolgen hier Ihre ideologischen Konzepte. Die führen einfach ins Garnichts. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Bela Bach. ({0})

Bela Bach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004957, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Grünen fordern eine Strategie für den öffentlichen Verkehr, die alle Entscheidungsträger, also Bund, Länder und Kommunen, einbezieht. Sie fordern die Erhöhung der Regionalisierungsmittel. Fakt ist: Wir haben als Koalition die Regionalisierungsmittel schon wesentlich erhöht. ({0}) Anfangen bei 8,6 Milliarden Euro im Jahr 2019, werden die Mittel bis 2031 auf 11,3 Milliarden Euro ansteigen. Zusätzlich haben wir letztes Jahr noch einmal 2,5 Milliarden Euro für die Pandemie zur Verfügung gestellt und gedenken, das auch dieses Jahr wieder zu tun. Die Mittel nicht erhöht zu haben, kann man der Koalition also nicht vorwerfen. ({1}) Mit der Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes haben wir als Bund auch die zweite Säule der ÖPNV-Finanzierung gestärkt. Wir haben die Fördermöglichkeiten ausgeweitet und die Mittel verdreifacht. Auch hier fördert der Bund also Investitionen in umweltfreundliche Alternativen zum privaten Pkw. Ich freue mich sehr – da spreche ich auch im Namen meines sehr geschätzten Kollegen Detlef Müller –, dass wir als SPD mit dem wichtigsten Punkt bei der Union, beim BMVI und allen voran auch bei Herrn Staatssekretär Ferlemann auf offene Türen gestoßen sind, und das ist die standardisierte Bewertung. Dahinter steht ein Paradigmenwechsel; denn bei der Kosten-Nutzen-Untersuchung, ob also ein Projekt aus Bundesmitteln gefördert werden konnte oder nicht, waren bis zuletzt hauptsächlich wirtschaftliche Erwägungen entscheidend. Niedrigere Fahrgastzahlen auf dem Land haben aber dazu geführt, dass Projekte eben oft nicht gefördert werden konnten. Das kann aber nicht sein, wenn es um öffentliche Daseinsvorsorge geht. Das ist unsere tiefste Überzeugung als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Das wird sich jetzt ändern, wenn ein neues Parlament auch über die Änderung des GVFG abstimmt. Aber Fakt ist: Kommunen können schon jetzt nach den neuen Kriterien Projekte beantragen. Im Rahmen dessen werden dann auch Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt, und das ist eine erhebliche Erleichterung. ({2}) Der private Pkw ist auf dem Land leider noch nicht wegzudenken. Was die Grünen zuletzt gefordert haben, ist eine Spritpreiserhöhung bzw. eine Benzinpreiserhöhung um 16 Cent. Damit haben sie kollektive Emotionen hervorgerufen. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht und nachgerechnet. Wenn ich zugrunde lege, dass ein Arbeitnehmer aus dem Landkreis München etwa 8 000 Kilometer im Jahr pendelt, dann komme ich auf ungefähr 400 Liter Benzin. Lege ich für das Jahr 2023 den Vorschlag der Grünen, also eine Preiserhöhung um 16 Prozent, neben das, was wir als Koalition beschlossen haben, nämlich eine Preiserhöhung um 10 Prozent, dann komme ich auf eine Preisdifferenz von 24 Euro im Jahr. Jeder Arbeitnehmer, für den es sich finanziell rechnet, mit seinem privaten Pkw täglich zur Arbeit zu pendeln, kann sich, so behaupte ich, 24 Euro im Jahr – von Ausnahmen einmal abgesehen – schon leisten. Das sind 10 Cent an einem Arbeitstag. Nur zum Vergleich: Die Schwankungen auf dem Rohölmarkt lagen in den vergangenen 10 bis 15 Jahren bei bis zu 50 Cent pro Liter. Was folgt jetzt daraus? Daraus folgt, dass die mediale Debatte, die geführt worden ist, und der Vorschlag der Grünen eigentlich völlig lächerlich sind, weil es nämlich keine ernsthafte Incentivierung ist, um die Menschen vom privaten Pkw zum umweltfreundlichen ÖPNV zu bewegen. Stattdessen müssen wir zwei Dinge angehen. Das sind erstens echte Alternativen, indem wir den ÖPNV stärken, vor allem auf dem Land. Dazu gehört auch, dass man sich Gedanken darüber macht, was man mit den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung macht, ob wir die Kommunen etwa nicht stärker unterstützen; denn ich als Kommunalpolitikerin erlebe, dass wir ständig die Preise erhöhen müssen, ohne auf der anderen Seite das Angebot verbessern zu können. Aus Verbrauchersicht ist es dann eben nicht attraktiv, statt 30 Minuten mit dem Auto 60 Minuten öffentlich unterwegs zu sein. ({3}) Wir brauchen zweitens ein Zusammenspiel von Arbeit und Klimaschutz. Denn soll der Arbeitnehmer aus meinem Rechenbeispiel einen signifikant besseren CO2-Fußabdruck haben, dann muss er auch von zu Hause aus arbeiten können. Deswegen war es richtig, dass wir als SPD mit Hubertus Heil den Anspruch auf Homeoffice gefordert haben. Das hat die Union verhindert; aber wir haben jetzt zumindest Erleichterungen geschaffen. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind die Alternativen, die wir nicht nur dem ländlichen Raum bieten müssen, sondern den Menschen insgesamt, wenn wir die Mobilitätswende wirklich ernst meinen. Denn, mit Verlaub, 6 Cent oder 24 Euro im Jahr werden das Klima nicht retten können. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Das Wort hat der Kollege Bernd Reuther von der FDP-Fraktion. ({0})

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Knapp ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land lebt im ländlichen Raum. Damit haben circa 20 Millionen Menschen ein anderes Mobilitätsbedürfnis als die Menschen in Ballungszentren. Lange Wege zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen, zum Arzt gehören hier zum Alltag. Für uns Freie Demokraten gilt: Gute Mobilität ist Standortfaktor und Lebensqualität, besonders außerhalb der großen Metropolen. ({0}) Deshalb wollen wir die Mobilität im ländlichen Raum verbessern. Dazu gehört natürlich auch ein besseres Angebot im ÖPNV. Gerade Staatsunternehmen müssen eine Vorbildfunktion einnehmen und die Vernetzung der Verkehrsträger aktiv vorantreiben. Das geht allerdings nur, wenn man auch die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzt. Gerade auf der letzten Meile ist es wichtig, Carsharing- und Taxidienste flexibel anbieten zu können. Dafür bedürfte es allerdings einer Reform des Personenbeförderungsrechtes. Das hat die Große Koalition auch mit Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen der Grünen leider komplett versemmelt. ({1}) Dabei gibt es Landesregierungen, die mit gutem Beispiel vorangehen, so die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen. Mit der Kampagne „mobil.nrw“ erprobt sie seit letztem Jahr ein On-Demand-Shuttle-System im ländlichen Raum. Das ist ein innovativer Ansatz, der kleine Siedlungen und Dörfer besser anbindet. Die Regierung in NRW stellt dafür 120 Millionen Euro zur Verfügung. Ginge es nach den Freien Demokraten, müsste es bundesweit viel mehr solcher Initiativen geben. Kollege Spaniel, weil Sie auch gerade die nordrhein-westfälische Landesregierung angesprochen haben: Das mit den Motorrädern, was Sie angeführt haben, ist schlicht die Unwahrheit. Aber das kennen wir ja von Ihnen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Schade. ({0})

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Tressel hat gesagt, man sei auch weiterhin auf den Individualverkehr, auf das Auto angewiesen. Leider ist davon bei den Grünen und auch in ihrem Antrag nicht viel zu spüren. In den letzten Tagen ist viel über die Benzinpreiserhöhung um 16 Cent gesprochen worden. Wir wollen mal sehen, wie viel am Wochenende noch dazukommt. Diese Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, richtet sich leider gegen den ländlichen Raum. Sie führen ja sozusagen schon einen Feldzug gegen den ländlichen Raum. Denn der Facharbeiter, der zur Spätschicht zu seinem 30 Kilometer entfernten Betrieb fahren muss, kann nicht den ÖPNV nutzen. Ich komme selber aus einem Flächenkreis; ich weiß, wovon ich spreche. Sie wollen Fahrradwege auf dem Land massiv ausbauen. ({0}) Das unterstützen wir natürlich; denn dann kann man tolle Touren machen. Aber die Krankenschwester, die 30 Kilometer zur Nachtschicht fahren muss, kann zwar am Wochenende auf dem Fahrradweg ausspannen, aber für den Weg zur Arbeit braucht sie nach wie vor das Automobil. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben, so scheint es uns, Angst vor dem Wettbewerb. Er bringt nämlich innovative und digitale Angebote aufs Land; das müssen Sie auch mal anerkennen. Kurzum: Ihre Politik hat nichts mit den Bedürfnissen der Menschen im ländlichen Raum zu tun. Sie machen gerne Politik, die auf dem Rücken der hart arbeitenden Bevölkerung in diesen Regionen ausgetragen wird. Im Gegensatz dazu wollen wir Freien Demokraten den Menschen im ländlichen Raum nicht ihr Hauptfortbewegungsmittel wegnehmen und unbezahlbar machen. Wir setzen auf digitale Angebote. Wir setzen auf Vernetzung; dazu gehört auch der Individualverkehr. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Reuther. – Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, unterbreche ich kurz die Aussprache.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Immer mehr Menschen wollen der Hektik der großen Städte, der intensiven Arbeitswelt, den lauten Geräuschen und der geistigen Überflutung entfliehen. Idyllische Vorstellungen nach Ruhe und aufrichtiger Gemeinschaft erfassen uns immer öfter. Wir wollen arbeiten, um uns persönlich zu verwirklichen und vom Ertrag der Arbeit auskömmlich leben zu können. Wir wollen den Einklang mit der Natur und eine gesunde Umwelt, die durch Artenvielfalt und gute Luft gekennzeichnet ist. Wir wollen glückliche Kinder, die sich frei entwickeln, ihre Entwicklungschancen nutzen und geborgen in ihren Familien aufwachsen können. Wir wollen das Wesentliche in unserem Ort selbst in die Hand nehmen können und vor allem mitbestimmen. Wir wollen kein Gegeneinander der Nachbargemeinden, keine ruinöse Konkurrenz unserer Kommunen in der Region. Wir wollen, dass unser Ort, auch über die landwirtschaftliche Produktion und Verarbeitung hinaus, produktive Wertschöpfung entsprechend den vorhandenen geografischen, gesellschaftlichen und individuellen Möglichkeiten hervorbringt. Viele Orte können sich heute schon autark mit regenerativer Energie und Wärme versorgen, regionale und saisonale Produkte in einem Wirtschaftskreislauf für die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln produzieren und auch verteilen. Um das zu gewährleisten, muss viel stärker an die Anforderungen der Daseinsvorsorge gedacht werden, und die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen müssen darauf ausgerichtet sein. ({0}) Deshalb gehören diese Aufgaben allesamt vergesellschaftet und vor allem entsprechend ausfinanziert. ({1}) Wohnen, Gesundheit, Bildung, Kultur und Sport sind besser in der Kommune zu organisieren als anderswo. Wir wollen in einer Gemeinschaft mit Menschen leben, die sich ihren eigenen Lebensraum schaffen können, die ihre eigenen Vorstellungen vom Leben auch verwirklichen und ganz demokratisch immer weiterentwickeln. Darin sind auch Traditionen und der Erhalt der vorhandenen Kulturlandschaften immer einbezogen und ganz selbstverständlich Grundlage der sich entwickelnden Wertevorstellungen der Menschen im Ort. Das steht für uns aber nicht im Widerspruch zu Weltoffenheit, Toleranz oder Solidarität. ({2}) Die neue Art zu leben und zu arbeiten, ist flexibel und familienfreundlich und vor allem auch durch Digitalisierung möglich geworden. Durch digitale Angebote überall kann lebenslanger Wissensdurst von Kindesbeinen an sehr gut gefördert werden. Dadurch werden neue und innovative Schul- und Bildungsformen entstehen. Lange Schulwege gehören dann irgendwann der Vergangenheit an. Es wird darauf ankommen, den öffentlichen Personennahverkehr auf diese Bedürfnisse auszurichten und ihn flexibel an den Fernverkehr anzubinden und damit die private Pkw-Nutzung immer weiter zurückzudrängen; wobei wir alle wissen, dass sie heute noch nicht entbehrlich ist. Auch bei der gesundheitlichen Versorgung sind Digitalisierung und Mobilität die Grundpfeiler für gleichwertige Lebensverhältnisse in der ländlichen Region. Um das Theater, das Kino, die Disco, das Museum und das Fußballspiel des Regionalvereins besuchen zu können, können Rufbusse, Fahrgemeinschaften und Share-Taxen im ländlichen Raum selbstverständlich von jedermann in Anspruch genommen werden. Das ist aber noch ein Wunsch. Gemeinschaft in ländlichen Räumen wird neu gedacht; denn immerhin lebt über die Hälfte der Bevölkerung schon heute dort. Wenn Schulabschlüsse gleichwertig sind, die medizinische Versorgung überall gegeben und möglich ist und die demokratische Mitbestimmung ohne finanzielle Mangelwirtschaft in den Gemeinden gelebt werden kann, dann werden noch mehr Menschen in Deutschland in kleinen Städten und in Dörfern leben wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu, einiges von dem Vorgetragenen hört sich an wie ein schöner Traum. Das muss aber nicht so bleiben. ({3}) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunkts uns die Gelegenheit gegeben, unsere Anträge für den ländlichen Raum beizulegen und hier darzustellen, was wir uns darunter vorstellen. In meinen vorangegangenen Ausführungen habe ich versucht, aufzuzeigen, wie wir uns das wünschen. Dazu sind Vorschläge in unseren Anträgen enthalten; ich nenne einige Stichworte: auskömmliche Kommunalfinanzen, gute Ausstattung der freiwilligen Feuerwehren oder auch die Ansiedlung von Bildungsstrukturen für die wissenschaftliche Erforschung des ländlichen Raums selbst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten aber auch nicht so tun, als ob die Regierung untätig gewesen wäre. Das ist nicht so, nein; vor allem bei der Analyse der vorhandenen Bedingungen in Stadt und Land waren die verantwortlichen Ministerien wirklich fleißig. Es gibt den aktuellen Dritten Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der ländlichen Räume, vorgelegt von Ministerin Klöckner. Es gibt die Ergebnisse der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, sogar mit Handlungsempfehlungen, und den Heimatbericht aus dem Ministerium von Horst Seehofer. Selbst der Maut-Minister Scheuer hat brauchbare und sinnvolle Infrastrukturentwicklungsvorschläge für die ländlichen Räume gemacht. ({4}) Auch in den Haushaltsplänen ist eine Menge Geld vorgesehen, sodass wir ganz vieles davon auch umsetzen können. Es bleibt aber zum Schluss die große Frage, warum das in der Fläche nicht zu spürbaren Entwicklungsschüben für gleichwertige Lebensverhältnisse führt, warum die Kommunen immer noch den Mangel verwalten müssen, und warum die Menschen immer noch in die Städte ziehen. Vieles ist hausgemacht, wie zum Beispiel durch die Privatisierung der Daseinsvorsorge. Profite wurden privatisiert und Risiken sozialisiert. Wenn hier die Weichen nicht grundsätzlich umgestellt werden, dann kann keine Regierung, die nach dem Grundgesetz dazu verpflichtet ist, gleichwertige Lebensverhältnisse zu verwirklichen, das auch realisieren. Deshalb werbe ich für unsere Anträge. ({5}) Mit Verlaub, Herr Präsident, da das heute meine letzte Rede ist, möchte ich meine Redezeit gern ein bisschen überziehen ({6}) und ein kurzes Wort an Sie alle richten. Ich möchte zuallererst meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken; denn ohne sie wäre ich niemals in der Lage gewesen, hier das abzuliefern, was ich abgeliefert habe. ({7}) Ich möchte zweitens vor allem meinen Kritikerinnen und Kritikern, auch aus den anderen Fraktionen, danken, dass sie mich immer so kritisch begleitet haben; denn das hat immer mal dazu geführt, dass ich mich hinterfragt und unter Umständen auch korrigiert habe. ({8}) Als ich 2005 in den 16. Deutschen Bundestag gewählt worden bin, hat mich mein Vater beiseitegenommen und hat gesagt: Mädel, du bist jetzt unter über 82 Millionen Menschen eine von 600, denen es vergönnt ist, so eine Aufgabe zu lösen. Ich erwarte von dir, dass du erstens stolz darauf bist, dass du diese Verantwortung übernehmen darfst, und dass du dir zweitens dieser Verantwortung aber auch immer bewusst bist und dass du uns, um Gottes willen, als Familie bitte nicht blamierst. ({9}) Ich hoffe, das ist gelungen. ({10}) Der letzte Satz. Wenn die Legislatur zu Ende ist, dann werde ich mich einer neuen Aufgabe widmen. Ich habe mir einen Kleingarten angeschafft und möchte versuchen, mich mit einem möglichst geringen ökologischen Fußabdruck selbst zu ernähren und ökologische Produkte herzustellen. Denn im Vergleich zu dem Politikerleben ist das Gärtnerleben insofern interessant, als der Gärtner vor der Saat bereits weiß, was ihm blüht. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne: Machen Sie es gut! Und tschüss! ({12})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine große Freude für mich, heute zu Ihnen zu sprechen. Es ist nämlich nach 16 Jahren intensiver Parlamentsarbeit meine letzte Rede. Dass ich ausgerechnet noch zu den Lebensverhältnissen im ländlichen Raum hier Stellung nehmen kann, freut mich umso mehr, weil ich mich als langjähriges Mitglied des Agrarausschusses – so wie alle Agrarpolitiker – für den ländlichen Raum immer verantwortlich gefühlt habe. Es liegen zwei Anträge der Opposition vor, zu denen ich Stellung nehmen möchte. Da ist zum einen der Antrag der Linken „Bundesförderfonds für Forschung und Lehre im ländlichen Raum auflegen“. Die Linke will mithilfe von Bundesförderfonds für Forschung und Lehre mehr Bildungseinrichtungen und Forschungseinrichtungen in den ländlichen Raum bringen. Das begrüße ich ausdrücklich. Arbeits- und Lebensverhältnisse dann von diesen Institutionen überprüfen und analysieren zu lassen, halte ich allerdings für überflüssig. Das wissen die Menschen auf dem Land selber am besten und ist auch nicht Aufgabe des Bundes. Denn den ländlichen Raum gibt es ja gar nicht. Ländliche Räume sind sehr verschieden. Da hilft nämlich keine Pauschalstrategie von oben. Zum anderen ist da der Antrag der Grünen für ein Förderprogramm „Neues Leben auf dem Land“. Das ist mir viel zu sehr die Haltung einer Großstadtpartei; denn der Titel „Neues Leben auf dem Land“ impliziert ja im Grunde, dass altes Leben ersetzt werden muss. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dabei könnten wir von den Menschen auf dem Lande sehr viel lernen. Wenn Sie zum Beispiel Ortskerne reaktivieren wollen und Probewohnen anbieten wollen, wie in Ihrem Antrag vorgeschlagen: Wie soll das aus Berlin gehen? Dieser Antrag ist übrigens im Bauausschuss auch schon abgelehnt worden. Es gibt aber schon Fördermöglichkeiten: Ich weise auf die Regelförderung der GAK „Integrierte ländliche Entwicklung“, aber auch auf das Sonderrahmenprogramm „Förderung der ländlichen Entwicklung“ hin. ({0}) Vernünftiger wäre es, die bewährten Instrumente finanziell besser auszustatten. Daher lehnen wir beide Anträge ab. ({1}) Wäre es nicht viel sinnvoller, die Menschen vor Ort zu befähigen, ihre Region selbst zu gestalten und attraktiver zu machen? Strukturen und Förderung gibt es ja. Wir müssen sie nur besser bewerben, vernetzen, damit sie dann auch genutzt werden. ({2}) Wie immer ist auch hier ein wichtiger Schlüssel: weniger Bürokratie, mehr Vertrauen in die Akteure vor Ort. ({3}) Hier im Parlament werden oft die Anliegen von Metropolregionen diskutiert. Das Land wird oft benachteiligt, schlimmer noch: manchmal bemitleidet. Anders kann ich einige Entscheidungen nicht interpretieren, wie zum Beispiel die Ansiedlung des Wolfes in einem bevölkerungsreichen Land wie Deutschland. ({4}) Ich sehe hier romantische Großstadtfantasien. Der Landwirt, der sein Vieh im Frühjahr auf die Weide treibt, hat nur ein Anliegen: Er möchte es im Herbst unversehrt wieder aufstallen. ({5}) Ich hoffe, das neue Parlament und die neue Regierung werden die Menschen im ländlichen Raum im Blick behalten. Dabei ist die Landwirtschaft ein prägender Faktor in vielen Regionen Deutschlands. Jeder zehnte Arbeitsplatz hängt mit der Agrarwirtschaft zusammen, in meiner Region sogar jeder vierte. ({6}) Ich warne davor, diesen Zweig in Zukunft noch stärker zu reglementieren. Er ernährt unser Land. ({7}) Noch ein Hinweis an die Grünen: Reden Sie nicht nur davon, bäuerliche Familienbetriebe zu erhalten, sondern richten Sie Ihr Handeln auch danach aus. ({8}) Die Tatsache, dass immer mehr Menschen wissen wollen, wie ihre Nahrung hergestellt wird und von wem, begrüße ich sehr. Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zum Schluss. Es war mir wirklich eine Ehre, die Menschen aus meinem Wahlkreis hier in diesem Hohen Haus in Berlin 16 Jahre zu vertreten. Ich habe einiges mitgestalten dürfen und wiederhole meine Forderung nach einem Gesellschaftsvertrag mit der Landwirtschaft. Veränderte gesellschaftliche Forderungen müssen mit den berechtigten Anliegen der landwirtschaftlichen Unternehmen versöhnt werden. Herzlicher Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Agrarausschuss, den Unionskollegen aus Nordrhein-Westfalen, insbesondere aus dem Münsterland. Ich danke Ihnen für Ihre Zusammenarbeit. Vergessen Sie nicht die Menschen auf dem Lande, insbesondere die Bauernfamilien! Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Röring. – Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm von Gottberg, AfD-Fraktion. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der ländlichen Räume ist fraktionsübergreifend Konsens. Zwei Anträge der jetzt diskutierten Tagesordnung befassen sich mit den Feuerwehren. Es kann nicht strittig sein: Die freiwilligen Feuerwehren leisten einen unverzichtbaren Dienst für das angestrebte Ziel: gleiche Lebensqualität in Stadt und Land. Sie gewährleisten nicht nur den vorbeugenden Brandschutz und die akute Brandbekämpfung. Die Feuerwehren sind zur Stelle, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet ist. Das reicht von der Beseitigung der Sperren auf Straßen und Bahngleisen durch Windwurf bis zum Leerpumpen vollgelaufener Keller bei Starkregen. Wer ist vor Ort, wenn durch Hochwasser aufgeweichte Deiche geschützt, erhöht oder repariert werden müssen? Es sind die Frauen und Männer der freiwilligen Feuerwehr. ({0}) Wer ist zur Stelle, wenn bei schweren Verkehrsunfällen Verletzte oder Tote aus verunfallten Kfz geborgen werden müssen? Wem obliegt es, Menschen zu bergen, die den Freitod auf den Bahngleisen gesucht haben? Die Angehörigen der freiwilligen Feuerwehr sind zur Stelle. Wenn zur vorbeugenden Gefahrenabwehr trockene Äste aus Bäumen herausgenommen oder alte Bäume gefällt werden müssen, helfen die Männer und Frauen meist im Rahmen einer kostenlosen Nachbarschaftshilfe. Die Würdigung der Leistungen der freiwilligen Feuerwehren wäre unvollständig, wenn man nicht auch ihren positiven Beitrag zum sozialen und kulturellen Gemeinschaftsleben anspräche. Die Feuerwehrmusikzüge unterstützen die zahlreichen Schützenfeste im Lande. Die Kameradschaftsheime der Feuerwehren dienen häufig auch als Dorfgemeinschaftshäuser und gesellschaftliche Anlaufpunkte. Diese Häuser sind zum Teil durch erhebliche Eigenleistungen errichtet worden. Bei den Feuerwehren lernt man Führen. Das gesamte Führungspersonal der Feuerwehren – Truppführer, Löschmeister, Zugführer, Oberbrandmeister, Stadt- und Gemeindebrandmeister, Regierungsbrandmeister – wird aus dem eigenen Nachwuchs rekrutiert. Führen lernt man sonst nur beim Militär oder beim Korps. Die Freiwilligen Feuerwehren leisten einen hervorragenden und unverzichtbaren Dienst in der offenen Jugendarbeit. Die Floriangruppen und die Feuerwehrjugendgruppen ergänzen die öffentliche Jugendarbeit. Mitmenschlichkeit und Verantwortungsbewusstsein sind dabei die zielführenden Aspekte. Deshalb werden wir die vorliegenden Anträge der Linken und der FDP zum Thema Feuerwehren nicht blockieren. Im Detail würden wir andere Schwerpunkte setzen. Verehrte Abgeordnete, der aktive Dienst in der Feuerwehr ist immer auch mit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben verbunden. Deshalb will ich an dieser Stelle an die sechs Feuerwehrkameraden erinnern, die bei der Bekämpfung der umfangreichen Waldbrände in Niedersachsen im August 1975 samt ihrem Fahrzeug ein Opfer der Flammen wurden. Sie starben im Dienst für das Allgemeinwohl ihrer Mitmenschen. Meine Damen und Herren, alle von mir aufgelisteten Leistungen der Frauen und Männer der Feuerwehren habe ich in 35 Jahren Kommunalpolitik mehrfach erlebt. Wir haben allen Grund, den Angehörigen der Wehren, auch den Ehefrauen der Kameraden, die den selbstlosen Dienst ihrer Männer mittragen, ein von Herzen kommendes Danke zuzurufen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie einige von Ihnen wissen, ist mein Wahlkreis Kiel, Altenholz und Kronshagen wahrlich kein ländlicher Wahlkreis, obwohl wir sehr viel Grün haben. Jetzt stellen sich natürlich einige die Frage: Warum spreche ich hier zum Thema „Mobilität im ländlichen Raum“? Zum einen hängt bei der Mobilität vieles mit vielem zusammen. Zum anderen gibt es gerade in Städten wie Kiel ganz, ganz viele Menschen, die täglich mit dem Auto einpendeln und dann im Stau stehen. Das sorgt für schlechte Luft, und es herrscht Frust bei denjenigen, die zu ihrer Arbeitsstelle fahren. Weil das so ist, müssen wir kräftig dafür sorgen, die Menschen vom Stau wegzubewegen. Deshalb hat meine Kollegin Bela Bach ganz deutlich gemacht, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr viel Kraft in das Thema „Schienenverkehr, öffentlichen Nahverkehr“ stecken. Auch mein Kollege Detlef Müller hat in dieser Wahlperiode dafür kräftig etwas getan. Der Kollege Bernd Reuther, der sich jetzt hier nett mit einem anderen Kollegen unterhält, hat das Thema Fahrrad angesprochen. Das ist natürlich ein Nischenthema bei der FDP, was zum Bereich Tourismus gehört, aber für uns als Sozialdemokraten ist das ein ganz wichtiges Herzstück solidarischer Verkehrswende. ({0}) Wir haben immer mehr Menschen, die aufs Fahrrad umsteigen. Im letzten Jahr wurden 2 Millionen E-Bikes gekauft. Es gibt immer mehr Menschen, auch aus dem ländlichen Raum, die dann tatsächlich mit dem E-Bike pendeln. Ich weiß, das ist so in Nordrhein-Westfalen, und das ist auch in Schleswig-Holstein an ganz, ganz vielen Stellen so. Deshalb hat diese Koalition – ich nenne besonders den Kollegen Storjohann von der Union – dafür gesorgt, dass wir kräftig in den Radverkehr investieren, und zwar mit Rekordsummen. Bis zum Jahr 2023 werden wir 170 Millionen Euro in Radfahrschnellwege investieren. Wir werden 400 Millionen Euro für Radwege an Bundesstraßen investieren. Ein ganz wichtiges Kernelement für unsere Kommunen, für unsere Gemeinden und Städte ist das Programm „Stadt und Land“. Hier stellen wir 660 Millionen Euro für eine ordentliche Fahrradinfrastruktur mit bis zu 90 Prozent Förderung zur Verfügung. Das sind gute Nachrichten. ({1}) In einem Punkt war der Verkehrsminister nicht so pragmatisch, wie wir das gerne gehabt hätten; denn wir wissen, wir können nicht immer sofort Radwege bauen. Wir wollten den Kommunen Schutzstreifen außerorts ermöglichen. Hier werden wir nicht müde sein, dies auch in der nächsten Wahlperiode einzufordern. ({2}) Ein ganz wesentlicher Punkt bei Mobilität ist: Wenn wir saubere Luft haben wollen, wenn wir die CO2-Werte senken wollen, dann müssen wir natürlich auch auf E‑Mobilität setzen. Hier haben wir ganz, ganz viele Chancen ergriffen. Wir haben als Koalition dafür gesorgt, dass bei Neuwagen die E-Autos durch eine Prämie billiger werden. Wir haben dafür gesorgt, dass die Ladeinfrastruktur zu Hause durch die Wallboxen möglich wird. Wir haben im letzten Verkehrsausschuss ein Konzept für ein Schnellladenetz beschlossen, sodass man künftig in Deutschland innerhalb von zehn Minuten eine Schnellladefläche erreichen können wird. Das ist wirklich ein gutes Erfolgsmodell, was wir hier auf den Weg gebracht haben. ({3}) Das macht am Ende Mobilität auch billiger; denn gerade im ländlichen Bereich können viele Menschen durch erneuerbare Energien ihr Auto sozusagen kostenlos tanken, und das sind gute Nachrichten für die Menschen. Wir Sozialdemokraten haben insgesamt mehr vor. Wir wollen das modernste Mobilitätssystem Europas haben, und das wollen wir deshalb, weil wir saubere Luft wollen, weil wir die CO2-Ziele beim Klimaschutz erreichen wollen und weil wir eine Erhöhung der Lebensqualität auf dem Land und in den Städten erreichen wollen. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Christopher Gohl, FDP-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Bernd Reuther hat unseren liberalen Antrag schon gewürdigt und die Kritik an grünen Ideen deutlich gemacht. Ich will in meiner wahrscheinlich vorerst letzten Rede in diesem Hohen Haus diese Kritik noch vertiefen. Sie soll aber ein grundsätzliches Gesprächsangebot sein, und zwar über Freiheitspolitik. Als Liberaler freue ich mich, wenn Frau Baerbock mit erfreulicher Stetigkeit Klimapolitik zur Freiheitspolitik erklärt. Aus liberaler Sicht ist alle Politik Freiheitspolitik. Aber der Entwurf Ihres Wahlprogramms bestätigt leider meinen Verdacht, dass Sie die Freiheit nur im Munde führen und nichts davon auf die Straße kriegen. Denn überhaupt nur an einer Stelle spricht Ihr Kapitel zum Schutz der Lebensgrundlagen von Freiheit, und dann so, als sei Freiheit bloß ein statisches Nullsummenspiel und Freiheitspolitik ein Verschiebebahnhof zwischen den Generationen, wo die einen mehr haben, wenn die anderen weniger davon kriegen. Jetzt wollen Delegierte gar Ihren Mobilitätspass umwidmen in eine Abgabe, mit der die dezentrale Preisgestaltung von 120 Verkehrs- und Tarifverbünden gleichgeschaltet und nivelliert wird. Das alles hat mit Freiheitspolitik nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({0}) Freiheitspolitik heißt, das produktive Zusammenspiel verschiedener Freiheiten immer wieder neu zu optimieren, im Dienste von besseren Freiheiten für mehr Menschen. Dann erst gelingt nicht nur die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie im Sinne eines Waffenstillstands, sondern erst dann nutzen wir doch die gebündelte Feuerkraft der Freiheit für die Zwecke nachhaltiger Entwicklung: die Freiheit fairen wirtschaftlichen Wettbewerbs als Treiber von Innovationen – Ordoliberalismus –, die Freiheit der Wissenschaften, der experimentellen Falsifikationen – Karl Popper – und die Freiheit demokratischer Such- und Lernprozesse, mit denen über Kritik und Korrektur friedliche Verständigung für friedliche Veränderung gelingt in der Tradition John Deweys. Solche freiheitlichen Such-, Lern- und Gestaltungsprozesse sind doch das schlagende Herz, der Quellcode nachhaltiger Entwicklung. Das hat übrigens die Enquete-Kommission des Bundestags schon Ende der 90er-Jahre so gesehen; nachlesen lohnt. Unser Antrag zu Seamless Mobility dagegen ist ein echtes Lehrstück der Freiheitspolitik. Der freiheitliche Zweck ist die selbstbestimmte, ökologisch verantwortliche Mobilität der Menschen, egal wo sie leben und wann sie fahren wollen. Zu den freiheitlichen Mitteln, die wir damit stärken wollen, gehören offene Daten und Plattformen, experimentelle Lernprozesse und fairer Wettbewerb sowie eine gestärkte digitale Infrastruktur als Basis digitaler Innovationen. So können neue Unternehmen entstehen, die mit ökologisch verantwortlichen Geschäftsmodellen gute und zukunftssichere Arbeitsplätze, zugleich bessere Mobilität für mehr Menschen schaffen und so auch die Freiheit unserer Kinder sichern. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht die Optimierung von Freiheitsbilanzen. So geht Freiheitspolitik – nicht nur, aber besonders dringlich in Zeiten des Klimawandels. Bitte lernen Sie daraus. Lernen wir alle daraus! Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gohl. – Nächster Redner ist der Kollege Karl Holmeier, CDU/CSU-Fraktion. Er hält seine letzte Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf heute meine letzte Rede zu einem für mich ganz besonderen Thema halten: „Mobilität in ländlichen Räumen verbessern“. Der ländliche Raum ist meine Heimat, und ich bin dort seit Jahrzehnten in der Kommunalpolitik tätig. Daher überrascht es mich schon, dass die Grünen in ihrem Antrag dem ländlichen Raum ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Der ländliche Raum ist viel besser, als Sie alle glauben, und er ist viel besser, als im Antrag dargestellt wird. Der ländliche Raum braucht natürlich Unterstützung und Förderung; das ist ganz klar. Aber die Initiative muss auch von den Verantwortlichen vor Ort ausgehen. Einige wichtige Punkte greifen Sie im Antrag auf. Allerdings sind diese Punkte durch gutes Regierungshandeln hier in Berlin bereits erledigt. Ein Beispiel ist der Radwegebau. Hier haben wir dank der Unterstützung des Bundes schon viel erreicht. Das Bundesverkehrsministerium hat hierzu bereits mehrere Förderprogramme aufgelegt und erst kürzlich den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 vorgestellt. ({0}) Für die Mobilität im ländlichen Raum sind für mich aber zwei Dinge viel wichtiger: erstens Investitionen in die Schiene und in den Schienenverkehr vor Ort und zweitens Investitionen in den Straßenverkehr, das Straßennetz. ({1}) Im Schienenverkehr haben wir mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III mit der Deutschen Bahn dafür gesorgt, dass bis 2030 86 Milliarden Euro in Erhalt und Modernisierung des bestehenden Schienennetzes fließen, auch in den ländlichen Raum. Die Mittel für den Ausbau des ÖPNV wurden durch den Bund kräftig erhöht. Über die Novelle des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes haben wir für das Jahr 2020 die Mittel auf 665 Millionen Euro verdoppelt, für dieses Jahr auf 1 Milliarde Euro erhöht, und ab 2025 werden die Mittel auf 2 Milliarden Euro erhöht. ({2}) Darüber hinaus haben wir die Regionalisierungsmittel – Gelder, die direkt für den Unterhalt des ÖPNV bestimmt sind – ebenfalls aufgestockt. Meine Damen und Herren, der Bund investiert Rekordsummen in den Schienenverkehr und ebenfalls Rekordsummen in den ÖPNV. Vielen Dank dafür an unseren Minister, Herrn Andreas Scheuer. ({3}) Zum zweiten Punkt: Investitionen in das Straßennetz. Das ist ein Punkt, den Sie von den Grünen in Ihrem Antrag bei all Ihren Forderungen und Ideen ignorieren. Das wichtigste Verkehrsmittel im ländlichen Raum ist das eigene Auto. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, dass das auch so bleiben wird. Für das Auto brauchen wir gute Straßen und insbesondere gut ausgebaute Autobahnen und Bundesstraßen, damit die Bürgerinnen und Bürger sicher und schnell zu ihrem Ziel kommen. Bundesweit sehen wir aber, wie sich die Grünen gegen den Ausbau von Bundesfernstraßen stellen und wichtige Infrastrukturen blockieren. Damit erweisen Sie den Bürgerinnen und Bürgern im ländlichen Raum einen Bärendienst; ({4}) denn viele pendeln täglich zur Arbeit und sind auf gut ausgebaute, gut erreichbare und schnelle Straßen angewiesen. Auch die E-Mobilität braucht ein intaktes und gut ausgebautes Straßennetz. Wir brauchen also weiterhin solide Investitionen in die Straße. Jetzt könnte ich noch viele positive Beispiele aufführen, aber die Redezeit lässt das nicht mehr zu. Ich will nur ganz kurz erwähnen, was vonseiten der Bundespolitik alles für den ländlichen Raum getan wurde: erstens die Umsetzung und Verbesserung des Bundesprogramms für die Breitbandförderung, zweitens die Förderung des barrierefreien Ausbaus von Bahnhöfen, drittens die Investition in Lärmschutzmaßnahmen. Der Lärmschutz im Bereich Schiene und im Bereich Bundesfernstraßen ist ein wichtiges Thema. Hier wird viel investiert. Noch ein paar Worte zum Antrag der AfD. Uns als CDU liegen der Lärmschutz der Anwohner und das Fahrvergnügen der Motorradfahrer in besonderer Weise am Herzen. Generelle Fahrverbote für Motorräder wird es von unserer Seite aus nicht geben. Die Bundesregierung geht hier den richtigen Weg und setzt sich auf internationaler Ebene für die Absenkung des Lärmpegels von Motorrädern ein. Sehr verehrte Damen und Herren, mit unserer Politik unterstützen wir den ländlichen Raum dabei, seine eigenen Initiativen und Ideen zu verwirklichen. Der Bund ist dabei immer ein starker und verlässlicher Partner für den ländlichen Raum. Noch ein paar Sätze zur aktuellen CO2-Debatte. Mobilität ist die Grundlage für unseren Wohlstand. Jeder muss sich Mobilität leisten können, auch in Zukunft. Wenn es um die Verteilung der Kosten des Klimaschutzes geht, dürfen wir die Menschen im ländlichen Raum nicht vergessen und auch nicht benachteiligen. Es kommt darauf an, die Kosten fair zu verteilen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir noch ein paar abschließende Worte. Ich bedanke mich recht herzlich für die gute Zusammenarbeit, für die vielen konstruktiven Debatten und vor allem für all die guten Ideen, die wir gemeinsam für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in den letzten Jahren eingebracht haben. Wir haben als Regierung in dieser Wahlperiode viel erreicht. Deutschland steht trotz Coronapandemie gut da. Ich möchte recht herzlich Danke schön sagen an das Bundesverkehrsministerium, Herrn Minister Andreas Scheuer und die beiden Parlamentarischen Staatssekretäre Ferlemann und Bilger. Ich wünsche Ihnen, nachdem es meine letzte Rede ist, alles Gute für die Zukunft, nur gute Beschlüsse für unser Land und vor allem für den ländlichen Raum. Mir war es eine große Ehre, diesem Hohen Haus zwölf Jahre anzugehören. Alles Gute und vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Holmeier. – Sie haben sogar von der Regierungsbank Bekundungen bekommen. Das ist eigentlich unzulässig; aber angesichts der Tatsache, dass das Ihre letzte Rede war, lasse ich das mal durchgehen. – Herr Minister Scheuer, normalerweise sind Bekundungen dieser Art von der Regierungsbank nicht zulässig. Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren diverse Anträge, die gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zum Ziel haben – ein wichtiges Thema. Es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dies fordert auch Ziel 11 der Nachhaltigkeitsziele. Zu Beginn der Legislatur hat die Bundesregierung die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ eingesetzt. Auf Basis der Ergebnisse wurden zwölf Maßnahmen zur Umsetzung beschlossen. Damit haben wir die Weichen für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gestellt. Sämtliche Maßnahmen befinden sich in den federführenden Ressorts in Umsetzung; alle werden regelmäßig evaluiert. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine Aufgabe, die den Alltag der Bürger/-innen wesentlich betrifft. Aufgrund der Coronapandemie wurde ein milliardenschweres Konjunktur-, Krisenbewältigungs- und Zukunftspaket beschlossen. Die Maßnahmen sollen die Entwicklung in unserem Land voranbringen und Strukturbrüche vermeiden. In den Anträgen geht es vor allem darum, die Mobilität und die Verkehrsinfrastruktur in der Fläche zu verbessern. Die Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, mit dem Länder und Kommunen unter anderem den öffentlichen Personennahverkehr ausbauen können, wurden 2020 von 333 Millionen Euro auf 665 Millionen Euro erhöht; das finde ich großartig. 2021 – noch besser – stiegen sie auf 1 Milliarde Euro jährlich. Ab 2025 werden sie auf 2 Milliarden Euro erhöht. Die Beschränkung der Förderung auf Verdichtungsräume wurde aufgehoben. Ländliche Räume können jetzt besser gefördert werden. Wichtig: Die Reaktivierung regionaler Schienenstrecken kann jetzt gefördert werden. Die Regionalisierungsmittel, unter anderem für die Bestellung von Verkehrsleistungen im Schienenpersonenverkehr durch die Länder, werden durch das Klimaschutzpaket bis 2031 um rund 5,2 Milliarden Euro erhöht. Zum Ausgleich coronabedingter Einnahmeausfälle wurden den Ländern 2020 zudem einmalig zusätzliche Mittel in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Die Maßnahmen leisten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Mobilität in der Fläche. Die Ausweitung von Fördermitteln, die gerade auch ländliche Räume stärker berücksichtigen, ist ein wichtiger Beitrag für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. ({0}) Dazu gehört auch die Förderung des Radverkehrs. Die Mittel wurden deutlich aufgestockt. Mit dem Sonderprogramm „Stadt und Land“ stehen bis 2023 Finanzhilfen von bis zu 657 Millionen Euro zur Verfügung, insbesondere für die Realisierung von flächendeckenden, möglichst getrennten und sicheren Radverkehrsnetzen sowie modernen Abstellanlagen und Fahrradparkhäusern. In meinem Frankfurter Wahlkreis sind nach Verbesserung der Infrastruktur viele auf das Rad umgestiegen. Das zeigt, wie wichtig solche Maßnahmen sind. ({1}) Bis 2023 besteht die Möglichkeit, Zuschüsse für den Ausbau und die Erweiterung des Radnetzes Deutschland zu beantragen. Dafür stehen 45 Millionen Euro zur Verfügung. Darüber hinaus fördert der Bund über die Nationale Klimaschutzinitiative mit unterschiedlichen Programmen den Aus- und Aufbau von Radverkehrsinfrastruktur. Seit 2016 wurden im Rahmen des Förderaufrufs „Klimaschutz durch Radverkehr“ insgesamt 143 Millionen Euro für modellhafte Radverkehrsprojekte bewilligt. Zudem werden über das kommunale Breitenförderprogramm Radverkehrsprojekte mit 60 Millionen Euro gefördert, die zur Entwicklung und Anbindung des ländlichen Raumes beitragen können. Zusätzlich werden die Kommunen durch ein gemeinsames Programm von NKI und Deutscher Bahn, die Bike+Ride-Offensive, bei der kurzfristigen Errichtung von Radabstellanlagen in Bahnhofsnähe unterstützt. Auch als Mitglied des Parlamentskreises Fahrrad freue ich mich sehr, dass wir in dieser Legislaturperiode in diesem Bereich viel verbessern konnten. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis zur vollständigen Umsetzung gleichwertiger Lebensverhältnisse steht noch viel an. Lassen Sie uns daran gemeinschaftlich arbeiten! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Nissen. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal muss ich sagen: Es spricht für die Diversity in unserer Fraktion, dass ich als Düsseldorfer Abgeordneter zur Mobilität im ländlichen Raum sprechen darf. ({0}) Ich glaube, wir müssen städtische Randlagen sowie suburbane und ländliche Verkehre gemeinsam denken. Von einigen Kolleginnen und Kollegen der SPD habe ich immer wieder gehört, das Fahrrad sei die Lösung. Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir haben als CDU beim Stadtradeln in Düsseldorf mitgemacht. Sie werden das Ergebnis erwarten können: Von 511 Teams wurden wir Vierzehnter. ({1}) Wir haben die Grünen geschlagen und doppelt so viele Kilometer gemacht wie die SPD. ({2}) Ich selber bin übrigens 500 Kilometer geradelt. ({3}) Wir von der CDU sind also Praktiker und keine Theoretiker. Das Fahrrad ist aber nicht die Lösung für alle Mobilitätsanforderungen im ländlichen Raum. Das Auto wird – das kann man so deutlich sagen – für die Menschen im ländlichen Raum weiterhin das wichtigste Verkehrsmittel bleiben. Deshalb sage ich zu den Grünen, die gleich zum Parteitag fahren: Vorsicht an der Bahnsteigkante, wenn es um die Erhöhung der Spritpreise geht! Natürlich kann jemand, der in Düsseldorf-Mitte oder in Berlin-Mitte wohnt, das Fahrrad nehmen und sich das Auto sparen, weil die Entfernungen kurz sind. Wer aber im ländlichen Raum lebt, kann die Budgets, die Sie andenken, nicht ohne Weiteres in alternative Verkehrsmittel umsetzen. ({4}) – Ich höre gerade: „Die CDU hat …“. Die CDU hat, übrigens gemeinsam mit der SPD, nach dem rheinischen Motto „Mer muss och jünne künne“, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch hier ganz deutlich entlastet. Wir haben nämlich die Pendlerpauschale angehoben auf 30 Cent, ab dem 21. Kilometer auf 35 Cent und in einem weiteren Schritt sogar auf 38 Cent ab dem Jahr 2025. Das hat übrigens dazu geführt, dass wir insgesamt 11,6 Millionen Steuerzahler um 5,1 Milliarden Euro entlasten. Das sind immerhin 440 Euro pro Kopf. Das gilt auch dann, wenn sie mit Bus und Bahn fahren – das ist sicher auch eine gute Information für die Grünen –; ({5}) das gilt auch für diejenigen, die mit dem Fahrrad fahren, und das gilt auch für diejenigen, die mit dem Elektroauto fahren. Das ist eine Technologie, die mehr und mehr auch im ländlichen Raum Einzug halten wird. Wir unterstützen das konkret mit einem Zuschuss von 900 Euro pro Ladepunkt im Rahmen eines sehr unkomplizierten Programms. Wir werden 1 000 neue Ladestandorte mit einer ganzen Reihe von Ladestationen entlang von Bundesfernstraßen errichten; das haben wir mit dem letzte Sitzungswoche verabschiedeten Gesetz zum Aufbau von Schnellladesäulen beschlossen. ({6}) Wir zahlen 9 000 Euro Kaufpreisprämie mit 6 000 Euro staatlichem Anteil beim Kauf eines Elektroautos, und das schlägt im Markt ein. Damit können die Menschen tatsächlich konkret Geld sparen. Es wurde schon gesagt: Der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat eine unglaubliche Offensive für den Bahnverkehr gestartet: 86 Milliarden Euro für die Schieneninfrastruktur bis zum Ende dieses Jahrzehnts, ungefähr 9 Milliarden Euro pro Jahr für die Regionalisierungsmittel; das sind 2 Milliarden Euro jährlich bis 2025 für das GVFG. Aber auch örtlich wird der öffentliche Nahverkehr unterstützt; allein in Düsseldorf wird mit 87,5 Millionen Euro das Defizit der Rheinbahn ausgeglichen. Das bringt mich zu dem Punkt, den die Grünen in ihrem Antrag thematisiert haben: Was ist eigentlich mit der neuen Mobilität, mit Carsharing und Bikesharing, mit Scootern? Natürlich ist das ein Problem, das wir schon in Düsseldorf und in anderen Städten sehen, nämlich dass es in der Innenstadt funktioniert, aber nicht am äußeren Stadtrand und schon gar nicht im ländlichen Raum. Wenn wir aber glauben, dass das gute Mobilität ist, dass sie hilft und umweltfreundlich ist – natürlich ist ein Leihfahrrad umweltfreundlicher als ein Taxi oder andere Fahrzeuge –, dann müssen wir uns an der Stelle auch mal ehrlich machen und sagen: Auch das müssen wir fördern. Wir können die Milliarden nicht nur für Bus und Bahn ausgeben und am Ende sagen: Für die Leihfahrräder haben wir nichts mehr übrig. – Ich glaube, das passt nicht zusammen. Dieser öffentliche Verkehr wird nicht komplett ohne Unterstützung auskommen. ({7}) – Beifall von der SPD; finde ich gut. Deshalb werden wir auch nicht, wie die Grünen es vorhaben, per Gesetz die Anbieter zu irgendwas zwingen. Meine Damen und Herren, wir sind doch froh, dass private Anbieter solche Dienste bisher ohne Zuschüsse anbieten. Was wir tun müssen, ist, hier die Bedingungen zu verbessern. Dazu gehört zum Beispiel das Thema Datenaustausch. Es geht um öffentliche Daten. Das Open-Data-Gesetz II werden wir in der nächsten Sitzungswoche hier verabschieden, um damit auch öffentliche Nahverkehrsdaten zugänglich zu machen; das nur als ein Beispiel. Das Gesetz zum autonomen Fahren haben wir in der letzten Sitzungswoche beschlossen. Wir sind das erste Land auf der Welt, wo in der Fläche autonom gefahren werden kann. Das Ganze muss den öffentlichen Nahverkehr unterstützen – als Zubringer. Wir haben also schon eine Menge gemacht, und wir haben noch viel mehr vor für die nächste Legislaturperiode. Ich freue mich darauf und hoffe: Das war heute nicht meine letzte Rede hier. – In diesem Sinne: Alles Gute! ({8})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, dass wir mit Krankenhausinfektionen nach wie vor ein Problem haben; aber die Zahlen gehen zurück. Umso wichtiger war es, dass wir in den letzten 10 bis 15 Jahren in diesem Haus wichtige Maßnahmen getroffen haben, um zumindest diesen Zwischenschritt zu erreichen. ({0}) Natürlich dürfen wir nach wie vor nicht die Hände in den Schoß legen. Es ist notwendig, dass sich auch die Wissenschaft weiterhin intensiv mit diesem Problem befasst, um daraus weitere, noch besser strukturierte Vorsorge als Grundlage für die Krankenhäuser und für die Arztpraxen abzuleiten. Was ist diese Vorsorge? Zur Vorsorge ein paar Stichworte: Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie, kurz: DART; 2008 aufs Gleis gesetzt; schon eine ganze Weile her. „Aktion Saubere Hände“. DART 2020, im Jahr 2015 aufs Gleis gesetzt. Und was beinhalten diese Strategien? Es geht um die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Humanmedizin. Alles, was Humanmedizin betrifft, ist beim BMG angesiedelt, natürlich auch, was die Finanzierung betrifft; mit einbezogen ist aber auch das Landwirtschaftsministerium, weil es auch um Tiermedizin und den Antibiotikaeinsatz in der Tiermedizin geht. Hinzu kommt natürlich das Forschungsministerium, die Wissenschaft. Und dann geht es um den Antibiotikaverbrauch insgesamt, darum, diesen weiter zurückzuführen. Und dies alles ist in einem Zusammenhang zu sehen. Das ist unter „Vorsorge“ zu verstehen, und es machen alle mit. Es haben alle ein Interesse daran, dass die Zahlen zurückgehen. Jedes Krankenhaus hat ein Interesse daran, möglichst keine Infektionen im Haus zu haben; das ist doch klar. Es geht in erster Linie um den einzelnen Patienten. Es geht aber auch um die Qualitätsperformance des Krankenhauses insgesamt. Es wird gescreent, wo es notwendig ist, bei planbaren Eingriffen und bei anderen wichtigen Dingen. Als Weiteres kommt das Hygieneförderprogramm hinzu. 2013 ins Leben gerufen, wurde es 2016 verlängert und 2019 erneut verlängert. All dies hat hohe Priorität in der jetzigen Bundesregierung und hatte es auch in den Regierungen zuvor, auf nationaler Ebene, aber auch global. Und deswegen war es richtig, dass die Bundeskanzlerin bei G 7 und G 20 diese Themen ebenfalls auf die Tagesordnung gesetzt hat. Weil dies so ist, ist dieser Antrag überflüssig, und wir werden ihn deswegen ablehnen. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch meine letzte Rede. Es war mir eine große Ehre, meinen Wahlkreis Bodensee zwölf Jahre lang in diesem Hohen Haus vertreten zu dürfen. Das hat mir große Freude gemacht, auch wenn die Meinungen manchmal auseinandergehen. Aber das liegt in der Natur der Sache. Besonders gefreut hat es mich natürlich, wenn wir gemeinsam Entscheidungen getroffen haben. Da möchte ich doch den nächsten Tagesordnungspunkt, das GVWG, noch nennen. Da geht es unter anderem um die Kurzzeitpflege. Da hatte ich den Eindruck, dass nicht nur der Koalitionspartner – Heike Baehrens, wir haben zusammen einen Antrag gemacht – mitgezogen hat, sondern dass auch über die Fraktionsgrenzen hinweg dieses spezielle Thema Kurzzeitpflege allen ein großes Anliegen war, und ich freue mich sehr, dass wir dies heute, am Tag zumindest meiner letzten Rede, beschließen werden. Herzlichen Dank dafür! ({1}) Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. Ich wünsche unserem Land alles Gute für die Zukunft. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Riebsamen. – Ich bedaure sehr, dass ich nicht ankündigen konnte, dass es Ihre letzte Rede ist; aber das stand nicht auf meinem Zettel. Aber der Applaus war umso herzlicher. Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr. Axel Gehrke, AfD-Fraktion, tatsächlich zu seiner letzten Rede. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Riebsamen, es war interessant, was Sie alles Bemerkenswertes gesagt haben. Sie haben vor allen Dingen gesagt: Die Zahlen gehen zurück. – Leider haben Sie nicht genau gesagt, welche Zahlen zurückgehen. Jedes Jahr sterben etwa 30 000 Menschen an im Krankenhaus erworbenen Keimen und 95 000 Menschen an einer schweren Infektion, der Sepsis. Und genau diese Zahl ist bis heute nicht zurückgegangen. Sie sind seit über 15 Jahren in Regierungsverantwortung, und nichts, aber auch gar nichts hat sich in dieser Richtung verbessert. ({0}) Damit wird die Sepsis zu der derzeit dritthäufigsten Todesursache und bei Kindern sogar zur zweithäufigsten. Kein Wunder, dass etwa 62 Prozent der Bevölkerung befürchten, sich im Krankenhaus mit solchen Keimen anzustecken. An Lösungsansätzen aus Politik und Fachverbänden mangelt es nicht; das haben wir gerade gehört. Aber was wurde bisher umgesetzt? Das haben wir in einer Großen Anfrage die Bundesregierung gefragt. Die Auswertung unserer Großen Anfrage zeigt mutige Schritte. Es war auch interessant, wie Sie DART interpretieren. Wir interpretieren das ganz und gar umgekehrt. Sie sprechen von Erfolgen; wir sehen das DART 2020 zum Ziel hatte, die Ergebnisse 2020 vorzulegen. Was macht die Bundesregierung? Sie macht aus DART 2020 DART 2030 – und fertig. Und überhaupt: Wir sehen viele Initiativen, große und kleine Klecker-Geldspritzen hier und dort, aber – wie gesagt – Ergebnisse? Fehlanzeige. Ich kann es nur wiederholen: Die Zahl der Toten ist trotz allem, trotz aller Interventionen, trotz aller Ergebnisse bisher nicht zurückgegangen. Deswegen ist der wichtigste Punkt unseres heutigen Antrags ein Vorschlag, wie wir statt Schätzungen zur Grundlage zu nehmen, endlich zu konkreten Zahlen kommen können – und das finanziell weitgehend neutral. Nach § 23 des Infektionsschutzgesetzes sind die Leiter von medizinischen Einrichtungen zur Dokumentation nosokomialer Infektionen verpflichtet und müssen diese für zehn Jahre aufbewahren. Wir fordern, dass alle seit 2011 erhobenen Daten rückwirkend über die jeweiligen Landesgesundheitsämter an ein Bundesinstitut geschickt werden, welches daraus einen jährlichen Atlas des nosokomialen Geschehens in der Bundesrepublik erstellt. Man sähe sofort, ob das Problem homogen verteilt ist und zum Beispiel die Krankenhausfinanzierung, der Umgang mit Antibiotika in allen Einsatzbereichen sowie die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe unterstützt werden muss. Oder es zeigen sich Hotspots, dann gelten lokale Maßnahmen wie Screening auf multiresistente Keime, besser geschulte Reinigungskräfte, Verstärkung der medizinischen Aus- und Weiterbildung sowie Aufnahme in die Schullehrpläne. Allein dies umzusetzen, würde laut Berechnungen der Fachverbände etwa 30 000 Menschen pro Jahr das Leben retten. Aber außer gegenseitigen Schuldzuweisungen geschieht nichts. In meinem Archiv fand ich dazu ein bemerkenswertes Interview vom Herrn Kollege Lauterbach, den ich leider heute hier nicht sehe. ({1}) Aus dem Interview möchte ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren. Herr Lauterbach sagte: Ein sehr, sehr wichtiges Problem in allen Krankenhausreformen der letzten Jahre war auf Bundesratsebene, wie auch auf Regierungsebene, wenn sie mitregiert hat, die FDP. Die FDP ist die Speerspitze der Krankenhauslobby in der Politik gewesen und hat durch ihre Arbeit in Koalitionen und durch die Verwässerung von bereits beschlossenen Gesetzen in wichtigen Punkten in den letzten 15 Jahren einen wesentlichen Anteil daran gehabt, dass wir in der Krankenhaushygiene nicht viel weiter gekommen sind. Das muss man leider so sagen. ({2}) Nun mag das ja alles richtig gewesen sein. Aber jetzt war die SPD selber vier Jahre verantwortlich. Und was haben Sie erreicht? ({3}) Wir sind gespannt. Es gibt nur zwei Parameter, die wirklich zählen, und das sind die Zahlen der Erkrankungen und der Toten, und beide Zahlen – ich kann es immer nur wiederholen – sind bis heute keinen Deut zurückgegangen, im Gegenteil. In Relation zu dem gewaltigen finanziellen und medialen Aufwand bei Corona mit täglichen Todesmeldungen, einschließlich Pleiten, Pech und Pannen, müsste das der gesamten Regierung die Schamesröte ins Gesicht treiben. ({4}) Es gibt, meine Damen und Herren, keine zwei Arten von Toten. Auch bei Krankenhauskeimen gilt: Jeder Tote ist ein Toter zu viel. Sie werden auch diesen Antrag wieder ablehnen. Aber handeln Sie trotzdem in diesem Sinne; das ist meine eindringliche Bitte am Ende meines politischen Mandats an Sie alle, die Sie weiter gesundheitspolitische Verantwortung tragen. Glück auf und vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Gehrke. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke, SPD.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD schickt sich mal wieder an, zu versuchen, sich thematisch breiter aufzustellen, und scheitert wieder einmal kläglich. Mit Ihrem Antrag haben Sie die Themen „nosokomiale Infektionen“, „Sepsis“, „Resistenzentwicklung“ auf die Tagesordnung gebracht – mit alten Forderungen, die einer unreflektierten Google-Suche gleichen, ohne sich die Mühe zu machen, den aktuellen Bezug herzustellen. ({0}) Ich empfehle der Fraktion der AfD, einfach mal eine Publikation zu lesen. Um es einfach zu machen: von Emanuele Cerulli Irelli aus Rom aus dem letzten Jahr. Als Quintessenz seiner Arbeit hatte er ganz klar definiert: Die konsequente Einhaltung von Hygieneregeln sorgte für eine dramatische Reduktion von nosokomialen Infektionen in den Krankenhäusern. ({1}) Das Ergebnis ist – schauen Sie sich das als Fraktion mal an –: Von den insgesamt sieben anwesenden Fraktionsmitgliedern trägt keiner eine Maske. Sie stellen die Hygieneregeln, die wir hier im Bundestag aufgestellt haben, infrage, halten keinen Abstand, Sie sagen, Impfungen seien unnötig, die Zahlen könnten nicht stimmen, die Laborteste stimmten ja auch nicht, es handele sich um Fake News. Ich meine, das ist so was von scheinheilig, was Sie hier im Bundestag machen, dass es eigentlich kaum noch wert ist, darüber zu debattieren. ({2}) Die AfD fordert unter anderem in ihrem Antrag die Schaffung von Lehrstellen für die Mikrobiologie. Wie schön das auch klingt: Die Unikliniken in Deutschland haben überall Lehrstühle für die Mikrobiologie. ({3}) Statt wahrzunehmen, dass beim letzten Bundesärztetag der Facharzt für Infektiologie eingeführt wurde, und hierfür W3-Lehrstühle zu fordern, kam von der AfD gar nichts. Wieder keine gründliche Recherche und ein weiterer Punkt eines mangelhaften Antrages. ({4}) Immerhin fordern die Gesundheitspolitiker zu meinem Erstaunen eine qualifizierte Einwanderungspolitik, obwohl dies in Ihrem Wahlprogramm als wirtschaftspolitische Propaganda abgetan wird. Das finde ich schon fast lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Meine Damen und Herren, wir als FDP-Bundestagsfraktion sind da viel weiter. ({5}) Anstatt alte Daten aufzuarbeiten, schauen wir wirklich nach vorne. Wir setzen uns ein für eine Stärkung des internistischen Infektiologen mit den Schwerpunkten der klinisch-translationalen Forschung und vor allem der Versorgung. Wir setzen uns für die Stärkung der One-Health-Politik ein, um der globalen Resistenzentwicklung entgegenzutreten. Wir setzen uns für eine Stärkung der globalen Gesundheit und der WHO durch multilaterale Kooperation ein. Wir sehen auch ein Erstarken der öffentlichen Gesundheitsdienste und des Robert-Koch-Instituts, was wichtig ist, um für die nächsten Pandemien besser vorbereitet zu sein, aber auch, meine Damen und Herren, um gegen Resistenzentwicklungen vorzugehen. ({6}) So geht Gesundheitspolitik, meine Damen und Herren. ({7}) So werden sich die Zahl der nosokomialen Infektionen und die Inzidenz von Sepsis in all ihren Facetten reduzieren. Als logische Konsequenz werden wir den Antrag der AfD ablehnen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Professor Ullmann. – Nächster Redner ist der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema begleitet mich seit Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit. 2009 hat die Linke bereits einen Sechs-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. Er ist damals abgelehnt worden, unter anderem von der FDP, weil sie im Wesentlichen gesagt hat: Dafür müssen die Krankenhäuser im Wesentlichen selber sorgen. Da soll der Staat nach Möglichkeit nicht eingreifen. – Ich erinnere daran nur noch mal; denn solche Sachen darf man insgesamt nicht vergessen. ({0}) 2011 hat die damalige Bundesregierung ein Infektionsschutzgesetz vorgelegt, das deutlich zu spät kam, aber sinnvolle Regelungen vorsah, zum Beispiel verbindliche Hygienefachkräfte mit Befugnissen in den Krankenhäusern. Es gab darauf aufbauend die Fortsetzung der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie, DART 2020. 2015 hat Minister Gröhe einen Zehn-Punkte-Plan auf den Weg gebracht, um die MRSA-Problematik anzugehen. Es hat sich also durchaus einiges getan. Das Grundproblem ist allerdings nicht verschwunden; das muss man auch erst mal ganz nüchtern feststellen. ({1}) Nun hat die AfD dieses Thema für sich entdeckt; etwas spät, aber immerhin. Das Bemerkenswerte an dem Antrag – finde ich zumindest – ist: Begriffe wie „Ausländer“, „Asylmissbrauch“ und Ähnliches kommen in diesem Antrag nicht vor. ({2}) Und er ist immerhin von einer Fachlichkeit, die diskutabel ist. Dennoch gibt es aus unserer Sicht vier Punkte, die wir deutlich anders sehen: Erstens. Der Kostendruck in den Krankenhäusern durch die Finanzierung mit Fallpauschalen und der damit einhergehende Quasiwettbewerb zwischen den Krankenhäusern setzt Anreize, möglichst viele Patienten mit möglichst wenig Personal möglichst schnell zu behandeln. Die Situation und der Arbeitsdruck, der davon ausgeht, sind Gift für die Patientensicherheit. Der AfD-Antrag aber adressiert das nur an einer Stelle und fordert eine aus unserer Sicht viel zu unspezifische „bundeseinheitliche Personalbemessung“. Zweitens. Bei der Ausbreitung von Resistenzen handelt es sich nicht nur um ein Problem in Deutschland, sondern um ein weltweites Problem. In vielen Ländern sind Antibiotika nach wie vor ohne ärztliche Verordnung frei verkäuflich. Das bedeutet jedoch, dass es auch auf der Ebene der EU und der WHO Regelungen und Maßnahmen geben muss, einen solchen extensiven Antibiotikaeinsatz einzudämmen. Da die AfD beiden Institutionen feindlich gegenübersteht, kommt das in ihrem Antrag gar nicht vor. Drittens. In dem AfD-Antrag wird unter Punkt 18 gefordert, „wirtschaftliche Anreize für die Pharmaindustrie zu schaffen, um Arzneimittel und Wirkstoffe in Deutschland zu produzieren und die Forschung zur Entwicklung von neuen Antibiotika und Impfstoffen zur Sepsis-Prävention z. B. durch Änderung des Patentschutzes sicherzustellen.“ Was Letzteres heißen soll, bleibt vage. Ersteres funktionierte in den letzten Jahren definitiv nicht. Deshalb fordern wir bereits seit Jahren in jeder Haushaltsdiskussion, die wir hier haben, eine halbe Milliarde Euro für pharmaunabhängige Forschung, ({3}) um genau so etwas zu machen wie beispielsweise die Entwicklung wirksamer Reserveantibiotika, die für die Pharmaindustrie, weil sie nicht direkt massenhaft zum Einsatz kommen, nicht attraktiv und lukrativ ist. Das ist das Problem dabei. Die AfD lehnt diese Anträge mit ab. Viertens. Eine der Hauptursachen für die Bildung von Resistenzen bleibt in dem Antrag komplett unbenannt, nämlich der häufig präventive Einsatz von Antibiotika in der Tiermast und in der Tierhaltung. Zwar hat sich hier auch einiges getan. Die Kontrollen sind besser geworden. Aber vor allem in der Geflügelzucht ist der Einsatz von Antibiotika immer noch gang und gäbe –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und ein wahres Trainingslager zur Herausbildung von Resistenzen der Antibiotika. Nun ist es am Ende egal, ob das ein Versehen war oder ob sich die AfD absichtlich an die Seite der industriellen Tiermastunternehmen stellt. Alle vier Punkte zusammen reichen aus, dass wir den Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwa 30 Prozent der Bevölkerung tragen den Keim Staphylococcus aureus – eine ziemlich abstrakte Aussage. Wenn wir uns aber klarmachen, dass von den 709 Abgeordneten dieses Deutschen Bundestages vermutlich 236 Personen mit diesem Bakterium in der Nase besiedelt sind, wird die Dimension klar. In der Regel ist das harmlos. Was aber, wenn Sie ins Krankenhaus kommen und sich einer Operation unterziehen müssen? Dann kann der Keim von der Haut in die Blutbahn übergehen und schwere Infektionen verursachen. Aber auch dann gibt es in der Regel Antibiotika, die eingesetzt werden können, um die Infektion zu beherrschen. Doch – das ist das zentrale Problem – viele Bakterienstämme haben eine Resistenz gegen die Wirkung von Antibiotika entwickelt. Und dann kann es gefährlich werden. Menschen mit geschwächten Abwehrkräften können an diesem Staphylococcus aureus versterben, wenn dieser ein MRSA, ein resistenter Staphylococcus aureus geworden ist. Wodurch nun wird eine solche tragische Situation begünstigt, die wir ja verhindern wollen? Erstens. Besonders die Orte, wo Tiere schlecht behandelt werden, in den Fabriken der industriellen Tierhaltung, wo viele Tiere auf viel zu engem Raum gehalten werden, wo übermäßig Antibiotika, Reserveantibiotika eingesetzt werden, sind eine Brutstätte für multiresistente Keime. ({0}) Darum: Tiere brauchen Platz. Wir müssen also raus aus der Massentierhaltung, auch für unsere Gesundheit. ({1}) Zweitens. Wo wegen Bagatellinfektionen Antibiotika eingesetzt werden, wo Antibiotikaregimes nicht eingehalten werden, werden MRSA geradezu gezüchtet. Also beugt ein sorgfältiger Umgang mit Antibiotika multiresistenten Keimen vor. Drittens. Wo Pflege unter Zeitdruck geschieht, löchrige Personaldecken verhindern, dass ausreichend Zeit zum Umziehen, zur sorgfältigen Handdesinfektion bleibt, da steigt die Gefahr von Infektionen. Also sind genügend Pflegepersonal, Zeit für die wichtige pflegerische Arbeit, eine echte Stärkung der Pflege zentrale Bausteine gegen vermeidbare Infektionen im Krankenhaus. ({2}) Und: Die Klimakrise erhöht die Gefahr von Infektionskrankheiten, insbesondere Zoonosen, zusätzlich. Wir müssen endlich ernst nehmen, was Health for Future und andere uns auf die politische To-do-Liste schreiben. Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Schutz vor MRSA erreichen wir nicht durch Schuldzuweisung und Härte – den dauerhaften, fehlgeleiteten Ansatz der AfD –, Schutz erreichen wir durch eine Politik der Tier-, Klima- und Menschenfreundlichkeit. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Dr. Claudia Schmidtke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der AfD-Antrag lautet: „Mehr Schutz der Bürger vor Sepsis und Infektionen“. Ich denke mal, Sie meinen auch die Bürgerinnen. Ich konzentriere mich jetzt mal auf die Sepsis. Was ist Sepsis eigentlich? Das ist das, was wir umgangssprachlich Blutvergiftung nennen. Diese Beschreibung ist auch nicht verkehrt; denn meist ist eine Kontamination durch Erreger wie beispielsweise Bakterien schuld an der Sepsis. Diese besteht in einer Fehlreaktion des Immunsystems auf die resultierende Infektion und kann innerhalb von Stunden zu einem Kreislaufschock und in der Folge auch zu einem Multiorganversagen führen. Die Symptome einer Sepsis sind – das ist ja das Tückische daran – häufig sehr unspezifisch. Sie werden daher nicht schnell genug erkannt, weder von dem, der betroffen ist, noch von einem, der behandelt. Patienten klagen über Abgeschlagenheit, Krankheitsgefühl, Kurzatmigkeit, Luftnot, Verwirrtheit, Schüttelfrost oder hohes Fieber. Ich sage an dieser Stelle auch als Schirmherrin der Initiative „Deutschland erkennt Sepsis“, des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und weiterer Partner für alle Zuschauerinnen und Zuhörer: Wer eine oder mehrere dieser möglichen Sepsissymptome beispielsweise nach einer Verletzung bei sich oder einem Angehörigen feststellt, sollte schnellstmöglich ärztlichen Rat einholen und dann auch direkt nachfragen: „Könnte es eine Sepsis sein?“; denn diese Frage kann konkret Leben retten. ({0}) Die Sepsis ist potenziell tödlich. Wie häufig das passiert – Zahlen haben wir gehört –, zeigt ein Blick in die Statistik: 75 000 Todesfälle, schätzt man, gibt es pro Jahr in Deutschland. Das ist viel, erheblich zu viel. Daher kann ich der AfD heute nicht entgegenhalten, dass sie nicht ein sehr wichtiges Thema anspricht. Im Gegenteil: Wir werden damit heute hier im Bundestag Teil der Aufklärungskampagne „Deutschland erkennt Sepsis“. Ich kann und muss Ihnen aber entgegenhalten, dass Sie nach Monaten der Wissenschaftsleugnung hier keine hohe Glaubwürdigkeit mehr besitzen. Das zeigt sich auch daran, dass ein wichtiger Themenbereich der Prävention bei Ihnen gar nicht angesprochen wird: die schützende Impfung beispielsweise gegen Pneumokokken oder Meningokokken und zum großen Glück nun auch gegen Coronaviren. Denn es gibt schwerste Covid-19-Verläufe, Patienten, die infolge der Infektion mit Coronaviren septisch werden, die eine ECMO benötigen, nicht nur als Ersatz für die Lunge, sondern auch zur Unterstützung des Kreislaufes. Es hilft nicht nur Impfung, sondern auch die tatkräftige Pandemiebekämpfung, gegen die Sie sich im letzten Jahr mit Fake-News-Kampagnen gestellt haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist besser, sich ganzheitlich mit dem Thema „Sepsis und Krankenhauskeime“ zu befassen. So will es auch die WHO, übrigens auf deutsche Initiative hin. Vier Ministerien – wir haben es schon gehört –, BMG, BMBF, BMEL und BMU, erarbeiten derzeit mit Hochdruck die Strategie DART 2030. Wir unterstützen die Länder tatkräftig bei der Krankenhaushygiene. Ich begrüße ausdrücklich den Beschluss des Deutschen Ärztetages zur Einführung der Facharztweiterbildung Infektiologie, für den auch ich mich stark eingesetzt habe. Sie sehen: Die Bekämpfung von Sepsis ist eine Aufgabe, die an vielen Fronten erledigt werden muss, und das machen wir. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Professor Schmidtke. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der heute von der AfD vorgelegt wurde, ist ein Paradebeispiel dafür, wie ich die Arbeit der AfD auch im Ausschuss in den letzten vier Jahren wahrgenommen habe. Ziel ist immer der schnelle populistische Aufschlag, und dann wird das Thema einfach fallen gelassen. Deshalb weiß ich persönlich – aber ich glaube, es geht vielen so – bis heute tatsächlich nicht, für was die AfD im Gesundheitsbereich wirklich steht, für was sie kämpft und für was sie brennt. ({0}) Vom Kollegen Ullmann wurde es schon angesprochen: Dieser Antrag ist in gewisser Weise paradox; denn konsequentes Einhalten von Hygienemaßnahmen ist das A und O, um auch im Krankenhaus weiterzukommen. Gerade Sie als AfD haben in der Coronapandemie bewiesen, dass Sie ebendiese gemeinschaftlich getroffenen Hygienemaßnahmen hier im Parlament schlicht nicht mittragen. ({1}) Gerade in der Hygiene braucht es aber Kontinuität. Das belegen auch die Zahlen, dass wir tatsächlich einen Weg gegangen sind. Die Studien, die Sie zitieren, sprechen von 900 000 Krankenhausinfektionen und 30 000 Todesfällen; das ist passend im Titel adressiert, dass es auch schön wirkt. Es ist deswegen so schwierig; denn es ist ein ernstes Thema, und jede dieser Infektionen ist eine zu viel, und jeder Tote ist einer zu viel. Aber ich hätte mir einfach gewünscht, dass Sie sich aktuelle Zahlen herausgreifen, keine Zahlen aus 2016. Die Frau Professor Gastmeier – sie arbeitet in der Charité um die Ecke – ist eine renommierte Ärztin in diesem Bereich. Sie hat auch die Zahlen für das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten mit erfasst. Da wird eben ganz klar darauf hingewiesen, dass sich die Fallzahlen bei Krankenhausinfektionen zwischen 400 000 und 600 000 bewegen und es zwischen 10 000 und 15 000 Todesfälle gegeben hat. Wie gesagt, jede Infektion ist eine zu viel, jeder Todesfall ist einer zu viel. Aber wir müssen das schon einordnen mit Blick auf die Gesellschaft, in der wir leben: Wir sind die zweitälteste Gesellschaft dieser Welt. Auch bei invasiven Behandlungen, also dem Legen von Kathetern oder Nadeln in den Arm – jeder kennt das –, ist in den letzten Jahren eine Steigerung zu beobachten gewesen. Jede dieser invasiven Maßnahmen hat natürlich auch das Potenzial, Zugang für Infektionen zu bieten. Deswegen ist es doch angesichts des demografischen Wandels, unserer älter werdenden Gesellschaft bemerkenswert, dass die Infektionsrate nicht gestiegen, sondern – im Gegenteil – leicht gesunken ist. Auch der Verbrauch von alkoholischen Desinfektionsmitteln hat sich in den letzten zwölf Jahren verdoppelt. Das sind doch Belege dafür, dass wir als Gesellschaft und auch die Mitarbeiter in den Krankenhäusern dieses Thema sehr, sehr ernst nehmen. Deshalb begrüße ich es, dass der Ärztetag den Weg frei gemacht hat für den Facharzt für Infektiologie. Das ist bemerkenswert; das geht in die Tiefe. Es gibt aber auch Maßnahmen in der Breite, etwa das Programm „RESISTenzvermeidung durch adäquaten Antibiotikaeinsatz“, unterstützt vom Bund seit 2013, wo man den Umgang mit Antibiotika lernt. Denn es ist klar: Hygienemaßnahmen und gute Antibiotikaanwendung gehen immer Hand in Hand.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Schlüssel bleibt wie immer das Personal. Deswegen werden wir uns weiter dafür einsetzen, dass es einen guten Personalschlüssel, dass es gute Pflege gibt. Ich würde mir wünschen, dass wir auch die Reinigungskräfte zukünftig wieder in die Teams integrieren; ({0}) denn die Sorgfalt, die für Hygiene nötig ist, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Zeulner, kommen Sie bitte zum Schluss.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– muss multiprofessionell stattfinden. Danke. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein starker Staat gibt Sicherheit, und ein starker Sozialstaat gibt Sicherheit in dieser Krise. Er gibt Sicherheit in der persönlichen Gesundheitskrise – bei Pflegebedürftigkeit, bei Krankheit –, und er gibt uns Sicherheit in der nationalen Gesundheitskrise, in dieser Pandemie. Unser deutsches Gesundheitssystem, unsere Pflege hat sich als sehr leistungsstark, als sehr robust, als sehr verlässlich in dieser Pandemie erwiesen. Deswegen können wir nur einmal mehr ein herzliches Dankeschön sagen an all diejenigen – über 5 Millionen Menschen –, die jeden Tag mithelfen, dass wir so gut durch diese Krise kommen. Danke schön dafür! ({0}) Aber die Krise zeigt eben auch wie unter einem Brennglas, wo wir noch besser werden können, und zwar im Bereich Gesundheit wie im Bereich Pflege. Eine Lehre – keine überraschende – ist: Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich eine Gesundheitsversorgung in der Nähe, flächendeckend, aber auch von guter Qualität. Eine ganze Reihe von Maßnahmen in diesem Gesetz adressiert genau das, etwa die Einführung von Personalbemessungsverfahren im Krankenhaus. Erstmalig beschreiten wir diesen Weg der gesetzlichen Vorgabe auch für die Krankenhäuser, um dort die Einstellung von mehr Kolleginnen und Kollegen, und zwar bedarfsgerecht, möglich zu machen und Pflegekräfte zu finanzieren. Wir verbessern die Qualität in den Krankenhäusern und sorgen für Transparenz bei der Qualität. Es geht um Mindestmengen, und es geht vor allem um Patientenschutz; denn die Operation in der Nähe ist wichtig, aber eben auch die qualitativ gute Operation. Wir ergreifen viele kleinere, aber doch wichtige Maßnahmen: von der Finanzierung ambulanter Krebsberatungsstellen über Tabakentwöhnung – erstmalig für bestimmte Patienten als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung; ({1}) viele Kolleginnen und Kollegen haben dafür lange geworben – bis hin zu regionaler Hospiz- und Palliativversorgung. Das sind viele, viele kleine und größere Bereiche, die aber jeweils für die Patientinnen und Patienten wichtig sind. Wir geben dem System auch finanzielle Sicherheit. Die Sozialversicherungsbeiträge müssen und sollen auch im nächsten Jahr bei unter 40 Prozent stabilisiert werden für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft in dieser Krise. Gleichzeitig sollen die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Dafür ist der Bundeszuschuss von 7 Milliarden Euro im nächsten Jahr das wichtige Signal. Wir wollen eine gut finanzierte Gesundheitsversorgung, aber wir wollen sie gleichzeitig so finanzieren, dass wir wirtschaftliches Wachstum nicht gefährden, sondern anreizen. Darum geht es. ({2}) Dann geht es um den Bereich der Pflege. Da kommen wir – das wissen wir eigentlich schon seit der Zeit vor der Pandemie; da haben wir auch schon begonnen – mit bloßen Ankündigungen nicht weiter. Es geht darum, konkrete Schritte auf einem Weg für bessere Arbeitsbedingungen zu gehen – bedarfsgerecht, generationenfest und nachhaltig. Ich habe schon gesagt, wir haben vor der Pandemie begonnen; aber wir gehen mit diesem Gesetz weitere wichtige Schritte, zum Beispiel mit einer besseren Bezahlung, gerade auch in der Langzeitpflege, in der Altenpflege, weil vor allem das die Attraktivität eines Berufes bestimmt. Ja, Danke sagen, klatschen, einmalige Prämien – all das ist wichtig. Aber es reicht eben nicht. Es geht darum, dass wir zu strukturellen Änderungen und damit dauerhaft zu einer besseren Bezahlung kommen, zu einer Bezahlung nach Tarif in allen Pflegeeinrichtungen – ambulant wie stationär –, die mit der Pflegeversicherung abrechnen, mit ihr zusammenarbeiten. Das ist für Hunderttausende Beschäftigte in der Pflege in Deutschland jeden Monat ein echter Unterschied in Euro und Cent. Deswegen ist das ein starkes, wichtiges Signal, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Es geht um mehr Personal, Personalbemessung, aber es geht übrigens auch um mehr Kompetenz für die Pflegekräfte. Pflege kann nicht jeder; aber die Pflegekraft kann viel mehr, als wir ihr zutrauen. Und deswegen werden wir es möglich machen, dass die Pflegekraft etwa Pflegehilfsmittel selbst verordnen darf und nicht Ärztinnen und Ärzte fragen muss. Da, wo die pflegerische Kompetenz es zulässt, wollen wir eigenständige Entscheidungen – diese Fähigkeit ist nach der Ausbildung unbedingt erforderlich – möglich machen. So haben wir es vereinbart, und so macht dieses Gesetz genau da einen Unterschied. ({4}) Abschließend, Herr Präsident, gehört dazu auch, dass wir die steigenden Kosten durch bessere Bezahlung und mehr Personal nicht zulasten der Pflegebedürftigen und ihrer Familien gehen lassen und sie nicht überfordern. Wir werden bei den pflegebedingten Eigenanteilen erstmalig ein System haben, das sich an der Länge der Pflegebedürftigkeit in den stationären Einrichtungen orientiert. Gerade bei Angehörigen mit Demenz, wenn es um zwei, vier, sechs Jahre Pflegedürftigkeit geht, können sich viele Familien, auch wenn sie sich etwas erspart haben, das beim besten Willen nicht mehr leisten. Das ist für viele unplanbar geworden. Deswegen sagen wir mit diesem Gesetz sehr, sehr klar – auch mit einer Entlastung in Höhe von 70 Prozent etwa im vierten Jahr, über 600 Euro im Monat –: Wir wollen diese Pflegebedürftigen und ihre Familien nicht alleine lassen, wir wollen sie entlasten. – Auch da setzen wir ein wichtiges Signal für eine starke Pflege in Deutschland. ({5}) Das alles gelingt mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz; der Name ist Programm. Es ist nicht der letzte, aber ein wichtiger Schritt. Für diesen Schritt bitte ich um Ihre Zustimmung. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Spahn. – Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Mit dem Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung möchte die Bundesregierung zahlreiche Vorhaben auf den Weg bringen, die auch aufgrund der Coronakrise liegen geblieben sind. Einige dieser Neuerungen sind notwendig, so die angemessene Entlohnung von Pflegekräften und die finanzielle Entlastung von Pflegebedürftigen. Auch die geplante Kurzzeitpflege in Krankenhäusern und die Verbesserung in der Palliativmedizin erachten wir als dringend notwendig. Wir können dem Gesetz jedoch in der jetzt vorliegenden Form nicht zustimmen. In der öffentlichen Anhörung hagelte es Kritik von allen Seiten: Das Gesetz sei aus der Not geboren, ein Ersatzkonstrukt. Der geplante Zeitraum für die Umsetzung sei zu kurz; es sei akademisch und zu wenig machbar. Ein Beispiel für „gut gedacht und schlecht gemacht“ sind die Qualitätsverträge zwischen den Kassen und den Krankenhäusern. Eine Verpflichtung zum Vertragsabschluss und ein festgeschriebenes Ausgabevolumen mit Sanktionen gegen die Krankenkassen werden gefordert. Dadurch könnten Krankenkassen zum Abschluss von Verträgen gedrängt werden, welche vor allem die finanziellen Interessen von Krankenhäusern bedienen. Zudem ist der Abschluss solcher Verträge bereits mit einem enormen Bürokratieaufwand verbunden. Wir lehnen den Vertragszwang für Krankenkassen entschieden ab. Wir fordern mehr Freiwilligkeit und Eigenverantwortung im Gesundheitssystem. ({0}) Ein weiteres Beispiel ist der Pflegepersonalquotient. Dieser Quotient beruht vor allem auf Fallbeispielen. Nach Auffassung der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind Pauschalen jedoch der falsche Weg; denn Pflegepersonalkosten werden von Pauschalen unabhängig, nämlich von den einzelnen Krankenhäusern finanziert. Eine angemessene Pflegepersonalausstattung kann so nicht ermittelt werden. Krankenhäuser laufen nach dem Gesetzentwurf vielmehr Gefahr, wegen mangelnder Beschäftigung von Pflegepersonal Strafen zu zahlen. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste beklagt Ähnliches. Von der Personalmenge über die Personalqualifikation bis hin zum Gehalt wird alles vorgeschrieben. Nun sollen Pflegekassen nur noch Verträge mit Einrichtungen abschließen, die Tarifverträge einhalten. ({1}) – Ich bin nicht dagegen. Jedoch hat die hohe Nachfrage nach Pflegekräften schon zu wesentlichen Lohnsteigerungen geführt. – Gemeinsam fordern wir: endlich weniger Bürokratie, mehr Flexibilität, insbesondere bei den kleineren Heimen. Auch den Zwang zu einer Berufshaftpflichtversicherung mit einer festgelegten Mindestversicherungssumme für Vertragsärzte lehnen wir ab. ({2}) Dadurch wird nur Druck auf Ärzte ausgeübt; denn bei der Unterschreitung der gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungssumme droht ihnen das Ruhen der Zulassung. ({3}) Dabei ist in § 21 der Berufsordnung für Ärzte klar geregelt, dass sich Ärzte hinreichend gegen Haftpflichtansprüche im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zu versichern haben. Zudem berücksichtigt eine einheitliche Mindesthöhe über alle Arztgruppen hinweg nicht die unterschiedlichen Schadenshöhen und Schadenshäufigkeiten in den verschiedenen Fachrichtungen. In Anbetracht des Ärztemangels ist diese Regelung unnötig wie unverständlich. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Verwaltungsaufwand, Strafzahlungen und der Eingriff in die Vertragsfreiheit führen nie zu einer Weiterentwicklung, auch nicht im Gesundheitswesen. ({4}) Zu einer Weiterentwicklung gehören hingegen mehr Freiwilligkeit, Flexibilität und Eigenverantwortung. Das Gesundheitssystem in seiner jetzigen Form gehört grundsätzlich auf den Prüfstand und reformiert. ({5}) Diese Flickschusterei muss endlich aufhören. ({6}) Der Gesetzentwurf ist billige Wahlkampftaktik. Daher lehnen wir ihn ab. Danke. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster erhält das Wort Herr Bundesminister Hubertus Heil für die Bundesregierung. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, sind unentbehrlich. Sie übernehmen Verantwortung für pflegebedürftige Menschen. Viele von ihnen sind unglaublich belastet, viele machen das auch sehr gerne; aber sie arbeiten hart, körperlich und seelisch. Tatsache ist, dass während der Pandemie tatsächlich Pflegerinnen und Pfleger in Deutschland und auch weltweit sehr viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Sie haben Applaus bekommen, manchmal auch Pralinen, und das alles kam von Herzen und war gut gemeint. Aber, meine Damen und Herren, Applaus reicht nicht. Es geht ganz handfest darum, dass wir aus Gründen des Anstands und der Vernunft die Arbeits- und Lohnbedingungen von Pflegerinnen und Pflegern verbessern. Das ist auch eine Frage des Respekts vor der Arbeit in diesem Bereich. Es ist gut, dass wir hier heute ein klares Signal setzen. ({0}) Die Bundesregierung hat dieses Thema mit vereinten Kräften angepackt, übrigens schon lange vor der Pandemie, mit der Konzertierten Aktion Pflege. Unser Ziel waren greifbare Verbesserungen, nicht warme Worte, sondern spürbare Verbesserungen, auch auf dem Lohnzettel und hinterher bei der Rente – und damit übrigens für viele Frauen, denn es sind oft Frauen, die in der Pflege arbeiten. Wir haben im vergangenen Jahr die Pflegemindestlöhne erhöht, nicht nur für Pflegehilfskräfte, sondern auch für qualifizierte Pflegekräfte, und wir haben eine Ost-West-Angleichung vorgenommen, was längst überfällig war. Aber, meine Damen und Herren, die Pflegekräfte in diesem Land brauchen keinen Mindestlohn, sie brauchen ordentliche Tariflöhne. ({1}) Deshalb haben wir mit Ihrer Unterstützung als Deutscher Bundestag einen zweiten Weg eröffnet. Wir haben dafür gesorgt, dass wir einen Flächentarifvertrag in der Pflege leichter hätten allgemeinverbindlich erklären können. ({2}) Und Tatsache ist: Das ist nicht an der Regierung und auch nicht an den sie tragenden Fraktionen gescheitert, an keinem und keiner Abgeordneten in diesem Haus. Es ist nicht zustande gekommen, weil die Dienstgeber eines kirchlichen Wohlfahrtsverbandes nicht zugestimmt haben. Ich bedaure das nach wie vor. ({3}) Dann war die Frage für uns in der Koalition: Gucken wir jetzt zu, ist es das gewesen, lassen wir das sein, machen wir das später, nach der Wahl? Nein, meine Damen und Herren, wenn wir heute zustimmen, haben wir es gemeinsam in dieser Regierung und auch als Parlament geschafft, zu vereinbaren, dass Leistungen der Pflegeversicherung an Einrichtungen nur dann gezahlt werden, wenn sie die Beschäftigten auch ordentlich nach Tarif bezahlen. Das ist ein ganz, ganz wesentlicher Fortschritt. ({4}) Wir reden hier von rund einer halben Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die davon profitieren werden. Und ich sage es aus vollem Herzen: Das ist nicht nur eine Frage der Vernunft, weil wir hier Fachkräfte brauchen. Ich bin übrigens der festen Überzeugung, dass diese Entwicklung, die, wie gesagt, keinen allgemeinverbindlichen Flächentarifvertrag umfasst, den Weg in solch eine Richtung ebnen kann, weil wir eine Aufwärtsspirale bei den Löhnen erleben werden. ({5}) Auch das wäre eine Frage der Vernunft, weil wir Fachkräfte in diesem Bereich brauchen. Es ist uns auch trotz mancher Debatte, Herr Kollege Spahn, gelungen, hier nicht zuzulassen, dass Pflegekräfte gegen pflegebedürftige Menschen ausgespielt werden: Stichwort „Deckelung der Eigenanteile“. Dafür bin ich den Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern, aber auch den Gesundheitspolitikern der Koalitionsfraktionen, auch meiner Fraktion, sehr dankbar. ({6}) Meine Damen und Herren, wir sind am Beginn dieser Legislaturperiode angetreten, um den Wert und die Würde der Arbeit stärker in den Blick der Gesellschaft zu bringen. Wir sind angetreten, um Arbeitsbedingungen, Löhne und Renten in Deutschland zu verbessern, vor allem für die Menschen, die unser Land am Laufen halten, die sich tagtäglich reinhängen, ohne reich zu werden, übrigens nicht nur in der Pflege, sondern auch in anderen Berufen. Ich rede von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Einzelhandel und in der Logistik, auch in der Fleischwirtschaft. Sie sind Leistungsträger – und das jeden Tag. Ich rede von denen, die jetzt voll im Berufsleben stehen, aber auch von denjenigen, die das schon hinter sich haben. Für die haben wir gekämpft und auch viel erreicht – mit der Grundrente als Anerkennung von Lebensleistung, mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz für besseren Gesundheitsschutz und menschenwürdige Arbeitsbedingungen, mit dem Paketboten-Schutz-Gesetz, um Ausbeutung in der Paketbranche entgegenzuwirken, mit einem gestiegenen Mindestlohn, den wir in Richtung 12 Euro und darüber hinaus weiterentwickeln wollen. Meine Damen und Herren, die Pandemie hat noch mal sehr deutlich gemacht: Die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger in diesem Land tragen manchmal Krawatte, aber ganz oft Kittel und Blaumann. Das sollten wir in diesem Land als Lehre aus der Krise nicht vergessen. Ich bitte Sie um Unterstützung für dieses Gesetz. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine größere Pflegereform sollte es werden, doch das hier ist bestenfalls ein Reförmchen, eher jedoch eine Mogelpackung. Höhere Löhne und mehr Personal bei gleichzeitiger Entlastung der Pflegebedürftigen – wie soll das gelingen? Nach dem Scheitern eines flächendeckenden Tarifvertrags in der Pflege sollen Pflegende nun doch flächendeckend Tariflöhne erhalten. Wenn diese von der Politik verordnet werden, ist das ein Eingriff in die Tarifautonomie. ({0}) Es liegt bei den Sozialpartnern, Tariflöhne auszuhandeln. ({1}) Doch nur 10 Prozent der Pflegenden sind gewerkschaftlich organisiert. ({2}) Deshalb ruft der Pflegebevollmächtigte Westerfellhaus auch zu mehr Engagement auf. Ihm scheint das Problem mangelnder Repräsentativität der Tariflöhne bewusst zu sein. Verdi selbst befürchtet Dumpingtarifverträge und Missbrauch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Tariftreueregelung ist verfassungsrechtlich fragwürdig und verfehlt ihre Wirkung. Wir lehnen sie ab. ({3}) Wie wirksam die stufenweise Entlastung der Pflegebedürftigen in Heimen ist, ist ebenfalls fraglich. Die Eigenanteile ließen sich jedoch sofort und spürbar senken, wenn die GroKo die Kosten für die medizinische Behandlungspflege dort konsequent in den GKV-Bereich überführen würde. Das geschieht jedoch nur halbherzig. Und bei alldem ist diese Reform nicht solide gegenfinanziert. „Die Welt“ spricht von einem neuen Finanzloch und beziffert den notwendigen Steuerzuschuss auf rund 10 Milliarden Euro bis 2030. Das geht zulasten nachfolgender Generationen. ({4}) In seinem bemerkenswerten Urteil zum Klimaschutzgesetz hat das Bundesverfassungsgericht angemahnt, die Freiheitsrechte künftiger Generationen besser zu schützen. Was aber für unsere natürlichen Lebensgrundlagen gilt, sollte in gleichem Maße für die Nachhaltigkeit unserer Finanzen gelten. ({5}) Wir dürfen unseren Kindern nicht noch mehr Schulden hinterlassen. Deshalb lehnen wir Freien Demokraten einen Steuerzuschuss zur Pflegeversicherung ab. Die Pflegeversicherung ist als Teilleistung angelegt; diese Teilleistung müssen wir verteidigen. Wir brauchen mehr Elemente zur Kapitaldeckung. ({6}) Wir brauchen mehr private Vorsorge für die Pflege. Wir brauchen den Ausbau betrieblicher Modelle für eine Pflegevorsorge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Pflegereform gibt kein Signal an all die Pflegebedürftigen, die nicht in Heimen leben. Dabei verlangt die alternde Gesellschaft nach mehr Vielfalt, nach sektorenübergreifenden Versorgungsformen, nach Lösungen vor Ort, damit auch Menschen mit Pflegebedarf länger in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können und nicht vereinsamen, und nach mehr Unterstützung für pflegende Angehörige, zum Beispiel durch ein Entlastungsbudget, über das sie flexibel verfügen können. Eines ist klar: Es gibt viel zu tun für eine neue Bundesregierung. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. ({0}) – Tja, darüber streiten sich die Gelehrten, Frau Kollegin. Nächster Redner ist der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Linke. ({1})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Westig, ich habe gerade zwischendurch das Gefühl gehabt, ich höre den Präsidenten des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, Herrn Brüderle, der bekanntlich ein FDP-Parteibuch hat. Ich will am Anfang meiner Rede darauf hinweisen: Es war insgesamt ein ganz merkwürdiges Gesetzgebungsverfahren, das wir gehabt haben; das muss man schon sagen. Die 30 Minuten Debattenzeit, die wir jetzt haben, werden eigentlich weder den verschiedenen darin enthaltenen Themen noch dem großen Thema der Pflegereform gerecht. ({0}) Wir werden es nicht schaffen, dem in irgendeiner Art und Weise gerecht zu werden. Ich hoffe, dass die Grünen – Sie haben, glaube ich, für die nächste Sitzungswoche noch einen Antrag angekündigt – uns noch mal Gelegenheit geben, grundsätzlich über das Thema Pflegereform zu reden. ({1}) Wir haben hier jetzt 200 Seiten Änderungsanträge vorliegen, dann noch mal Änderungen der Änderungsanträge usw. usf. und dann 30 Minuten Debattenzeit; das wird hier schon im Schweinsgalopp durchgezogen. Dabei stehen im Gesetzentwurf insgesamt durchaus gute Regelungen. Ich nenne nur einige wenige Beispiele: die Regelung zum Notlagentarif in der privaten Krankenversicherung – Die Linke hat das mit einer Kleinen Anfrage angestoßen –, die Möglichkeit einer Anschlusskurzzeitpflege im Krankenhaus nach Behandlungen – auch das ist durchaus eine gute Sache –, und mehr Kompetenzen für die Pflegefachkräfte finden auch wir erst einmal extrem gut. ({2}) Über einen Änderungsantrag wird plötzlich das Thema „Personalbemessung in den Krankenhäusern“ angepackt; aber wie! Das ist eine der vielen Regelungen in dem Gesetz, mit denen die Erwartungen der betroffenen Pflegekräfte ziemlich enttäuscht werden. „Applaus in Moll“ hat eine Zeitschrift dazu getitelt. Etwa zeitgleich mit dem Änderungsantrag landete eine Broschüre unseres Pflegebeauftragten auf meinem Schreibtisch. Dort heißt es – ich zitiere –: „In den Krankenhäusern muss eine verbindliche, einheitliche Personalbemessung zeitnah Realität werden.“ „Gut gebrüllt!“, möchte man sagen. ({3}) Gleichzeitig erhielt ich einen Hilferuf von einer Kinderintensivstation einer Klinik, und dort hieß es: „Seit Jahren verschlechtern sich unsere Arbeitsbedingungen, sodass schon etliche Krankenschwestern gekündigt haben. Auch in diesem Jahr sind wieder einige Kündigungen erfolgt. Wir haben das Gefühl, dass unsere Station ein Auslaufmodell darstellt.“ – Das ist die Realität in den meisten Krankenhäusern. Nach dem Applaus während der Pandemie sind wir jetzt mit einer massiven Flucht aus dem Beruf konfrontiert. Insofern hat Herr Westerfellhaus durchaus recht: Wir brauchen dringend eine zeitnahe Regelung, um darauf zu reagieren. Aber was steht in dem Gesetz, mit einem Änderungsantrag eingebracht? Da steht: Die Entwicklung und Erprobung eines zu entwickelnden Personalbemessungsinstruments ist spätestens bis zum 31. Dezember 2024 abzuschließen. – Ja, das ist extrem zeitnah, muss ich sagen. ({4}) Das wird der Entwicklung, mit der wir in den Krankenhäusern konfrontiert sind, in überhaupt keiner Weise gerecht; da ist Frust bei den Pflegekräften vorprogrammiert. Das ist ein Skandal, und zwar deshalb, weil schon längst eine Alternative auf dem Tisch liegt: die Pflegepersonalregelung 2.0. Die ist von heute auf morgen einsetzbar; aber sie wird einfach ignoriert. Stattdessen wird das Ganze jetzt in einem langen Prozess in die Zukunft geschoben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, und dann gibt es noch die über Änderungsanträge eingebrachte sogenannte Pflegereform: Da haben Sie es wirklich überhaupt niemandem recht machen können. Frau Bentele vom VdK sagt: „Finanzierung der Pflegereform grenzt an Betrug“.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss?

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Kassen sehen eine Finanzierungslücke von 2 Milliarden Euro. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz meint: Diese Pflegereform wird die Pflegebedürftigen überfordern. – Die Gewerkschaften warnen davor, dass die Regelung zur Tarifentlohnung gelbe Gewerkschaften mit Dumpingtarifen geradezu einlade. Auch wir kommen zu dem Ergebnis, dass es nahezu in jeder Hinsicht eine verunglückte Pflegereform ist.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Weinberg, kommen Sie bitte zum Schluss.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz: Das Problem ist, dass die Reformbaustelle Pflege für die kommende Regierungskoalition durch dieses Gesetz nicht kleiner, sondern größer geworden ist, insbesondere wegen des Sammelsuriums, das wir darin finden. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Pflege ist gesellschaftsrelevant, und das nicht erst seit der Coronapandemie. Aber jetzt wissen viele Menschen, wo überall professionelle Pflege stattfindet, und zwar an vielen Stellen in unserer Gesellschaft: in Krankenhäusern, in der Rehabilitation, in teilstationären oder stationären Einrichtungen, natürlich auch zu Hause in den Familien und mancherorts auch schon in Schulen und am Arbeitsplatz. Pflege ist an vielen Stellen für immer mehr Menschen ein zentrales Thema ihres Lebens. Der demografische Wandel in den nächsten Jahrzehnten erfordert heute eine Reform der Pflegeversicherung: eine Pflegereform, die die Bedürfnisse und Bedarfe der auf Pflege angewiesenen Menschen in den Mittelpunkt stellt, eine Pflegereform, die die Qualifikation und Arbeit professioneller Pflege endlich aufwertet, eine Pflegereform, die Strukturen für Pflege schafft, die im Stadtteil oder im Dorf eine gute Versorgung der pflegebedürftigen Menschen und die Unterstützung ihrer Familien erleichtert. ({0}) Was hier heute entschieden wird, ist keine Pflegereform, sondern aufgrund einiger Maßnahmen bestenfalls ein Pflegereförmchen. Ich möchte das anhand von zwei zentralen Punkten darstellen. Erstens. Natürlich ist es höchste Zeit für bessere Bezahlung von Pflegekräften. Es ist auch zu begrüßen, dass die Tarifbezahlung Standard werden soll. Aber dort, wo heute unter Tarif bezahlt wird, wird das durch Schlupflöcher im Gesetz über Haustarife weiter der Fall sein. Meine Damen und Herren, notwendig als Voraussetzung für einen Versorgungsvertrag wäre das Niveau eines repräsentativen Flächentarifvertrags. Das, Herr Minister Heil, wäre das richtige Mittel. Das hätten Sie als Sozialdemokrat hier heute vorstellen müssen. ({1}) Zweitens. Die veraltete Logik der Pflegeversicherung bedeutet, dass mit jeder Verbesserung – dazu gehören natürlich auch die Gehälter des Personals – die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen durch den Eigenanteil an der Pflege steigt und dass dadurch immer mehr Menschen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen. Das Problem hat diese Regierung erkannt – wenn auch spät. Aber Ihr Vorschlag ist nicht geeignet, die Verarmungsproblematik tatsächlich zu lösen. Was Sie vorschlagen, ist eine Entlastung durch einen 5-prozentigen Zuschlag im ersten Jahr. Aber dieser wird verpuffen; denn gleichzeitig verzichtet diese Regierung auf die Dynamisierung der Leistungen. Deswegen wird es im ersten Jahr überhaupt keinen Effekt geben. Damit haben wir erst im zweiten Jahr eine nennenswerte Entlastung, obwohl auch diese zu niedrig ist. Die volle Entlastung erfolgt erst ab dem vierten Jahr, und das wird mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen gar nicht mehr erleben. Meine Damen und Herren, das ist keine Pflegereform. Nein, Sie hinterlassen der nächsten Bundesregierung ein wirklich explosives Erbe. Wir brauchen eine demografiefeste Lösung ({2}) mit der doppelten Pflegegarantie, wie wir es vorschlagen, und mit einer Bürgerversicherung; denn gute Pflege ist eine Frage von Qualität, von Menschlichkeit und von Solidarität. Ich danke Ihnen. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Karin Maag. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein zentrales Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sind vor allem bezahlbare Sozialversicherungsbeiträge. Für die gesetzliche Krankenversicherung bedeutet das vor allem auch einen konstanten Zusatzbeitrag. Diesen Zusatzbeitrag von 1,3 Prozent sichern wir mit einem ergänzenden Steuerzuschuss in Höhe von 7 Milliarden auch für 2022 ab. Eine flexible Anpassung, wenn die Mittel nicht reichen sollten, ist hier ebenfalls schon angelegt. Wir halten damit die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt unter 40 Prozent, und das ist ein ganz wichtiges Anliegen dieses Gesetzes. ({0}) Persönlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist mir wichtig, dass wir die Krebsberatungsstellen mit unserem Gesetz endlich dauerhaft über die Krankenkasse ausfinanzieren, obwohl sich rund 40 Prozent der Beratungen dort mit Fragen zum Arbeits- und Berufsleben der Krebspatienten befassen. Das BMAS, Herr Minister Heil, hat sich über Monate, sogar Jahre hinweg geweigert, sich adäquat an der Finanzierung zu beteiligen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wertschätzung für die Arbeit der Krebsberatungsstellen drückt sich zuallererst in einer auskömmlichen Finanzierung aus. ({1}) Ein guter und – ich betone es hier ausdrücklich, Frau Kollegin Schulz-Asche – richtiger erster Schritt zur Verwirklichung unserer Pflegeziele sind unsere Änderungsanträge zur Pflege. Ja, klatschen allein genügt nicht; das haben wir gehört und auch verinnerlicht. Deswegen verbessern wir heute vor allem auch die Arbeitsbedingungen für die Pflegeberufe. Nachdem die Erstreckung der Tarifverträge vorläufig gescheitert ist, machen wir Gesundheitspolitiker aus SPD und Union heute gemeinsam den Sack zu: Die tarifvertragliche Entlohnung der Pflegemitarbeiter ist künftig Voraussetzung dafür, dass ein Unternehmen überhaupt die Zulassung als Pflegeeinrichtung erhält, und ich finde, das ist ein ganz, ganz starkes und zentrales Argument. ({2}) Der Pflegeberuf wird künftig nicht nur adäquat bezahlt. Pflege wird vor allem dadurch attraktiver, dass mehr Verantwortung für die anvertrauten Menschen übernommen werden kann. Dazu schaffen wir für die Pflegefachpersonen neue Verordnungs- und erweiterte Handlungskompetenzen. Verpflichtende Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeit können auch die Grundlage dafür sein, dass wir künftig eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen sehen. ({3}) Kolleginnen und Kollege, höhere Gehälter in der stationären Pflege haben bisher stets höhere Kosten für die Heimbewohner bedeutet. Diese Spirale durchbrechen wir heute mit einem gestaffelten Zuschuss zum pflegebedingten Eigenanteil. Das heißt zum Beispiel, Frau Schulz-Asche, bei einer Verweildauer von über drei Jahren – und da rede ich von Demenzpatienten – eine monatliche Entlastung zwischen 500 und 700 Euro für den Pflegebedürftigen. Das ist ein Pfund. ({4}) Wir werden es nicht zulassen, dass die Ehepartner eines Pflegebedürftigen Sozialhilfe beantragen müssen und das Ersparte nicht für einen, geschweige denn für zwei Pflegeheimplätze reicht. Alles in allem ist es ein wirklich gutes Gesetz, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man diesem Gesetz ganz entspannt auch außerhalb der Koalition zustimmen kann. Danke schön. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Heike Baehrens von der SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind erfolgreich mit dem, was wir heute auf der Zielgeraden vorlegen. Diese Pflegereform kann sich sehen lassen. Mit Beharrlichkeit bringen wir noch wichtige Verbesserungen und Weichenstellungen für die Pflege auf den Weg. Die Kurzzeitpflege bekommt ordentliche Rahmenbedingungen, damit Anbieter tatsächlich weitere Plätze schaffen, was wir dringend brauchen, damit pflegende Angehörige auch wirklich entlastet werden können. Vorsorgekuren werden wieder zur Kassenleistung. Das ist gut für die Gesundheitsvorsorge, und das ist gut für unsere Kurorte wie zum Beispiel Bad Ditzenbach und Bad Überkingen in meinem Wahlkreis, die solche Leistungen anbieten. Wir setzen viele der Ergebnisse der Konzertierten Aktion Pflege noch um, indem wir erstmals Verordnungskompetenzen auf Pflegekräfte übertragen, die dafür auch qualifiziert sind. Mit dem Fahrplan für die bundesweit einheitliche Personalbemessung sorgen wir Schritt für Schritt dafür, dass mehr Personal in die Pflegeeinrichtungen kommt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt für gute Pflege und bessere Arbeitsbedingungen. ({0}) Die Bezahlung nach Tarif wird zum Standard. Das ist ein Meilenstein, um die großen regionalen Unterschiede abzubauen. Es ist unserem Finanzminister Olaf Scholz zu verdanken, dass es nun möglich wird, dass jährlich ein Bundeszuschuss in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro in die Kassen der Pflegeversicherung fließt, damit Pflegebedürftige eben nicht von den Kosten überfordert werden. Das hat die SPD schon lange gefordert. ({1}) Wer im Pflegeheim lebt, bekommt spürbare Entlastungen bei den pflegebedingten Eigenanteilen plus Ausbildungsumlage. Es entlastet alle, aber es entlastet diejenigen am stärksten, die lange auf stationäre Pflege angewiesen sind. Entgegen unseren Eindrücken ist das ein großer Teil der Menschen, die heute in den Pflegeeinrichtungen wohnen. Es betrifft jeden Dritten, der heute in einem Pflegeheim wohnt. Sie bekommen unmittelbar ab 1. Januar 2022 diese Entlastung von 70 Prozent der pflegebedingten Eigenanteile plus Ausbildungsumlage. Das entspricht tatsächlich der Größenordnung, die vorhin genannt worden ist. So wird die soziale Pflegeversicherung tatsächlich ein Stück solidarischer. ({2}) Wer diese Reform kleinredet, hat unrecht. Konkrete Verbesserungen für Pflegepersonal und Pflegebedürftige sind enthalten. Es ist ein klares Signal an alle, die mit der Pflege zu tun haben: Es geht voran in der Pflege. Und ja, die Zukunft ist offen. Wir als SPD jedenfalls kämpfen weiter für bessere Bezahlung in der Pflege, für bezahlbare Pflege, für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen und vor allem auch für eine solidarische Finanzierung durch eine Pflegebürgerversicherung; darauf ist Verlass. Dafür steht Olaf Scholz, und dafür stehen wir als SPD. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Als letzten Redner der Debatte hören wir Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Pflege heißt gute Zukunft. Ich möchte schon noch einmal unterstreichen, dass diese Große Koalition Wort hält. Es ist das eine, zu sagen: Ja gut, man verspricht, man macht, man tut. – Aber die Wahrheit liegt in der Tat, und es wird hier geliefert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden es erleben und wir werden sehen, dass die Entlastungen – natürlich auch für die Angehörigen –, die Teil der Maßnahmen sind, die wir heute beschließen werden, greifen werden. Sie werden ankommen, und sie werden erlebbar und spürbar sein. Aber nicht nur das, sondern auch die Beschäftigten, unser Pflegepersonal, das wir gut ausbilden, werden mit noch mehr Kompetenzen versehen. Wir schaffen das nicht, indem wir Ärzteschaft und pflegerische Berufe irgendwie gegeneinander ausspielen, sondern wir schaffen das, indem wir sie zusammenführen und die Gemeinschaft der Zusammenarbeit fördern. Dass wir das mit diesem Gesetz schaffen, ist, denke ich, eine große Leistung. ({0}) Ich schaue zu Lothar Riebsamen. Er war es, der hier nie lockergelassen hat. Ich danke dir, dass du das Thema Kurzzeitpflege in diesen Jahren immer vorangetrieben hast. Du warst derjenige, der uns – Heike Baehrens und auch mich – immer wieder dazu motiviert hat, diesen Weg zu gehen. Wir sind froh, dass es jetzt die Anschlusskurzzeitpflege nach einer Krankenhausbehandlung gibt. Das wird die Angehörigen, aber insbesondere die Betroffenen in der Pflege so weit unterstützen, dass man ihnen dann, wenn sie Reha-Maßnahmen usw. in Anspruch nehmen, wirklich passgenau helfen kann. So greift die Rehabilitation dann auch, und das führt zu einer Verbesserung der Situation. Von daher ein herzliches Vergelt’s Gott für deinen Kampf. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen, dass es sicher auch den einen oder anderen Punkt gibt, den wir noch verhandeln müssen. Ich weiß, dass natürlich gerade bei den privaten Einrichtungen das unternehmerische Wagnis, Gegenfinanzierungen etc. Thema ist. Hier sind wir noch nicht am Ende; das ist klar. Hier bleiben wir im Gespräch. Klar ist aber auch: Bezahlung ist wichtig. Bezahlung ist genauso wichtig wie Wertschätzung, weil gute Bezahlung nach Tarif auch Wertschätzung bedeutet. Das wird hier mit auf den Weg gebracht, und ich bin froh, dass wir im ambulanten und stationären Bereich tarifliche Bezahlung möglich machen. Ich möchte an dieser Stelle auch noch betonen, dass wir das weiterhin breit debattieren müssen und dass wir natürlich auch mit den Ländern über die Pflege diskutieren müssen, zum Beispiel wenn es um Investitionskosten geht. Auch hier brauchen wir Verlässlichkeit, auch hier müssen wir zusammenarbeiten. Abschließend, meine sehr geehrten Damen und Herren, bitte ich Sie um Zustimmung. Ich möchte meinem Kollegen Roy Kühne an dieser Stelle einmal danken. Sie kennen meine Situation und wissen, dass er mich hier auch einige Male vertreten hat. Vielen herzlichen Dank, Roy. Es war wirklich ein Gemeinschaftswerk, das diese Große Koalition mit den Oppositionsparteien auf den Weg gebracht hat. Danke auch an die Ministerriege. Ich glaube, es ist gut und es ist notwendig. Deshalb wird es auch in der Gesellschaft ankommen. Herzlichen Dank. ({2})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Beschlussfassung und die Verabschiedung der Änderungen der parlamentarischen Transparenzregeln sind wichtige Punkte zum Ende dieser Legislaturperiode. Ich will nicht verhehlen, dass es ein langer, mühsamer und sicherlich auch steiniger Weg gewesen ist, auf den sich viele innerhalb, aber auch außerhalb des parlamentarischen Raums gemacht haben. Es ist gut, dass wir heute zu diesem Ergebnis kommen. Ich muss wirklich sagen: Das ist ein Gewinn für die Arbeit dieses Parlaments und auch für die Transparenz dieses Hohen Hauses, und ich bin allen, die daran mitgewirkt haben, die Ausdauer gezeigt haben, die energisch waren, die nie nachgelassen haben, wirklich sehr dankbar, dass wir heute zu diesem Ergebnis gekommen sind. ({0}) Man muss allerdings sagen – das gehört zur Ehrlichkeit dazu –, dass im Endeffekt erst die zahlreichen Korruptionsskandale, auch innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dazu geführt haben, dass wir uns hier gemeinsam auf den Weg gemacht haben und die Änderungen der Transparenzregeln auf den Weg bringen konnten. Das war nicht einfach. Ich bin meinem Kollegen Schnieder von der Unionsfraktion dankbar, dass wir das hinbekommen haben. Sicherlich musste auch in den eigenen Reihen einiges an Widerstand überwunden werden. Ich finde es gut, dass heute eine breite parlamentarische Zustimmung zustande kommt; dafür bin ich den Kollegen der Linken, aber auch den Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dankbar. Dass Sie heute dieses Vorhaben mit einbringen, ist, glaube ich, ein wichtiges Signal. ({1}) Ich möchte es nicht unterlassen, jemanden Danke zu sagen, der heute nicht hier ist. Eigentlich sollte nicht ich hier heute sprechen, sondern mein Kollege Dr. Matthias Bartke, der für uns als SPD-Bundestagsfraktion federführend mit seinem Team diese Verhandlungen geleitet hat; er hat Ausdauer bewiesen. Leider musste er in der letzten Woche feststellen, dass der heimische Garten kein ungefährlicher Ort ist. Ich möchte ihm Danke sagen und auch gleichzeitig hier vom Rednerpult gute Genesung wünschen. ({2}) Lieber Matthias, du hast einen großen Verdienst daran, dass dieses Ergebnis heute vorliegt. Was haben wir auf den Weg gebracht? Anzeigepflichtige Einkünfte aus Nebentätigkeiten und Unternehmensbeteiligungen werden zukünftig beitragsgenau auf Euro und Cent veröffentlicht. Das ist gut, und das ist richtig. Direkte oder indirekte Beteiligungen an Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften werden zukünftig bereits ab 5 Prozent – bislang ist die Regelung 25 Prozent – der Gesellschaftsanteile angezeigt und auch veröffentlicht; auch indirekte Beteiligungen werden erstmals den Veröffentlichungspflichten unterliegen. Einkünfte aus anzeigepflichtigen direkten oder indirekten Unternehmensbeteiligungen – das betrifft Dividenden, aber auch Gewinnausschüttungen – werden ebenfalls anzeige- und veröffentlichungspflichtig. Zudem wird die Einräumung von Optionen auf Gesellschaftsanteile, die als Gegenleistung für eine Tätigkeit gewährt werden, ebenfalls anzeige- und veröffentlichungspflichtig, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie einen bezifferbaren Wert haben. Auch das ist ein Gewinn an Transparenz für die Arbeit von uns als Parlamentarier. Zudem wird von Dritten bezahlte Lobbytätigkeit von Bundestagsabgeordneten gegenüber Bundesregierung oder dem Bundestag ebenso gesetzlich verboten, und auch das ist richtig. Das betrifft allerdings nicht ehrenamtliche Tätigkeiten, die viele von uns neben dem Mandat ausüben; das wird weiterhin möglich sein, das ist auch in Ordnung. Aber – noch mal – bezahlte Lobbytätigkeit wird zukünftig untersagt werden, und das ist auch richtig so. Ich muss schon sagen, dass es mich bei den Fällen in der Vergangenheit manchmal geärgert hat, dass nicht differenziert worden ist, wer was in welcher Form getan hat, sondern wir als Ganzes, als Parlament in Mithaftung genommen worden sind. Das ist ärgerlich, weil die überwiegende Anzahl der Mitglieder dieses Hauses nichts damit zu tun hatte; aber man wurde trotzdem in Mithaftung genommen. Man ist schon überrascht – das muss man ehrlicherweise auch sagen –, was in den vergangenen Wochen und Monaten alles ans Licht gekommen ist, ungeachtet der Konsequenzen, die das nach sich zieht. Ich bin manchmal wirklich überrascht, dass bei dem einen oder anderen Kollegen der Tag mehr als 24 Stunden zu haben schien. Weiterhin werden wir – ich bedauere sehr, dass die FDP heute nicht über ihren Schatten springen kann und einem Mehr an Transparenz zustimmt – Honorare für Vorträge im Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit untersagen. Ich halte das für richtig. ({3}) Wer Mitglied des Deutschen Bundestages ist, bekommt eine Abgeordnetendiät. Das ist verdammt viel Geld. Wer meint, für Vorträge im Zusammenhang mit seinem Mandat noch Geld nehmen zu müssen – Christian Lindner sei gegrüßt! –, dem sei gesagt: Das geht nicht! Das gehört verboten, und es ist gut, dass wir das auf den Weg bringen. ({4}) Des Weiteren wird der Missbrauch der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag zu geschäftlichen Zwecken mit einem Ordnungsgeld sanktioniert. Auch das ist richtig. Gleichzeitig werden wir die Entgegennahme von Geldspenden durch Abgeordnete zukünftig verbieten. Auch das ist richtig und zeigt: Wir haben uns intensiv Gedanken gemacht, hier für ein Mehr an Transparenz zu sorgen, und bringen es auch auf den Weg. Zudem werden die Delikte der Abgeordnetenbestechung und der Bestechlichkeit im § 108e des StGBs zukünftig als Verbrechen mit einer Mindestfreiheitstrafe von einem Jahr geahndet werden. Darüber kann man sicherlich diskutieren – in der Anhörung hat es unterschiedliche Einschätzungen von Experten gegeben –, aber, ich glaube, es ist wichtig, dass man hier so vorgeht und deutlich macht, dass das ein Überschreiten einer roten Linie darstellt. Daher bin ich wirklich dankbar, dass wir das an dieser Stelle so umgesetzt haben. Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass ich glaube, dass das ein wirklich guter Tag für die Transparenz und die Arbeit des Deutschen Bundestages in Zukunft sein wird. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hätte, dass wir auch beim Parteiengesetz parteiübergreifend zu Regelungen gekommen wären. Dazu haben auch gute Gespräche stattgefunden; dafür bin ich auch den Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition dankbar. Am Ende war dann beim CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak doch nicht der große Wille zu erkennen, hier zu einem Ergebnis zu kommen. Ich bedauere das sehr; ich hätte gerne auch die Veröffentlichungspflicht bei Spenden von 10 000 Euro auf 2 000 Euro herabgesetzt. ({5}) Es kann nicht sein, dass es in Ordnung ist, 9 999 Euro für ein Abendessen mit einem CDU-Kollegen zu zahlen. Das wollen wir nicht; auch hier hätte man vorankommen können. Der Wille war letztendlich da. Es ist bedauerlich, dass das nicht geklappt hat. Nichtsdestotrotz: Das ändert nichts daran, dass das heute wirklich ein gutes Ergebnis ist. Ich bin allen dankbar, die über Jahre hartnäckig geblieben sind und daran mitgewirkt haben, außerhalb des Parlaments, aber auch im Parlament. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Thomas Seitz von der AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Stellen Sie doch eine Zwischenfrage; dann kriegen Sie auch eine Antwort. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dem Ausflug des Kollegen Amthor in das Land von Austern, Schampus und Optionen ({1}) und unzähligen anderen Skandalen, ist der Union klargeworden: Geht es so weiter, geht sie unter. Eine Reform war alternativlos. Aber was ist das für eine Reform? Anstatt einer effektiven Ahndung von Verstößen: auch weiterhin Umgehungsmöglichkeiten en masse. Die Abgeordnetenbestechung ist und bleibt wirkungslos durch die Beschränkung auf ein Handeln im Auftrag oder auf Weisung. Wie sagte ein Sachverständiger? … wenn man eine „Null-Vorschrift“ zum Verbrechen macht, bleibt sie eine „Null-Vorschrift“. Am Rande: Nicht nur diese Lücke schließt der Gesetzentwurf der AfD, sondern er erfasst auch nachträgliche Zuwendungen und stuft die Tat zum Verbrechen hoch. Sie hatten sechs Wochen Zeit, um unseren Antrag zu lesen, und dann kommen Sie mit einer Nebelkerze. Auch mit der Veröffentlichung der Nebeneinkünfte auf Euro und Cent täuschen Sie Transparenz nur vor. Jetzt mal ehrlich: Wenn der Bürger weiß, ein Kollege verdient zwischen 100 000 und 125 000 Euro nebenbei, hilft es dann, zu wissen, es sind exakt 113 847 Euro und 58 Cent? Natürlich nicht. Aber Sie jubeln das dem Bürger als ein Mehr an Transparenz unter, damit er weniger auf das Kleingedruckte schaut, zum Beispiel auf die Frist innerhalb derer unzulässige Zuwendungen abgeschöpft werden: drei Jahre ab Erhalt. Ist das Ihre Schamgrenze? Drei Jahre? Warum nicht 10 oder 15 Jahre ab Beendigung des Mandats? Ist es so schlimm, wenn der Täter seine Beute abgeben muss? Oder das leidige Amthor-Thema mit den Optionen. Wer Optionen als Gegenleistung erhält, wird nun veröffentlicht. Beseitigt man damit, allein durch Veröffentlichung, die Verführung zu übermäßigem Gewinnstreben? Wäre da ein klares Verbot nicht besser, so wie im Gesetzentwurf der AfD? ({2}) Interessant ist auch Ihre Schamgrenze bei den Spenden an Abgeordnete. Sachspenden bleiben erlaubt, aber der Geldkoffer soll nun tabu sein, und nicht nur für Herrn Schäuble. Den dicken Wälzer zum Parlamentsrecht und den Kommentar zum Abgeordnetengesetz kennen Sie doch alle. Zwei der Herausgeber wurden als Sachverständige angehört. Professor Austermann kommentierte diplomatisch: „Geldspenden zu verbieten und Sachspenden … nicht, ist nicht wirklich überzeugend.“ Mit Verlaub, ich bin direkter: Das ist wieder einmal nichts anderes als die Anleitung zur Umgehung. Freie Fahrt für korrupte Abgeordnete! Und Professor Wiefelspütz, selbst über 26 Jahre MdB der SPD, führte aus: Die Wahrnehmung von beruflichen Nebentätigkeiten neben Ehrenämtern und sonstigen Aufgaben „ist ... bei der Komplexität der Aufgabe eines Abgeordneten völlig unrealistisch“, unmöglich, unseriös. – Gibt es noch mehr zu sagen? Was hält Sie davon ab, das Dilemma mit einer Verfassungsänderung zu beenden, Nebeneinkünfte bis auf einen Sockelbetrag für die Rückkehr in den Beruf einfach zu verbieten? Oder noch besser: Mehreinnahmen an den Fiskus abführen. Dann arbeitet der Abgeordnete mal für den Steuerzahler und nicht nur umgekehrt. Aber das passt nicht zum Geschäftsmodell der Union. Ein Landwirt sagte mal: Wer den Speck möchte, der muss sich ab und zu um den Schweinestall kümmern und ausmisten. – Sie wollen den Speck, ganz ohne Zweifel, nur ausmisten wollen Sie nicht. Apropos Schweinereien: Nach einer beispiellosen Serie von Skandalen und Selbstbereicherung, aktuell im Zusammenhang mit Corona, hätte Ihr Ausmisten angemessen sein müssen, nämlich ebenfalls beispiellos. Hier vorgelegt haben Sie aber nur das ethische Minimum. Dagegen kann ja niemand etwas einwenden. Aber dass Sie dem Bürger nicht mehr als das Minimum bieten, das ist wieder klassische Amigo-Taktik. Es ist nicht so, dass Sie es nicht besser könnten. Nein, Sie wollen es nicht. Daher enthalten wir uns. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Patrick Schnieder. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Wir werden heute in zweiter und dritter Lesung die größte Reform des Abgeordnetengesetzes seit Bestehen dieses Gesetzes vornehmen. Wir tun dies nach – das will ich ausdrücklich sagen – sehr sachlichen Beratungen; das, was wir jetzt gerade gehört haben, war die Ausnahme. Wir tun das in einer ungewöhnlichen politischen Konstellation. Das deutet darauf hin, dass es um eine besondere Reform geht. Ich möchte mich für die Diskussion, die wir geführt haben, ausdrücklich bedanken. Sie war nicht geprägt von dem Stil, den wir eben gehört haben, sondern sie war geprägt von einer sachlichen und inhaltlich orientierten Debatte. Es ist zwar schade, dass die Fraktion der FDP hier nicht mitgehen kann, aber ich will ausdrücklich konzedieren, dass wir auch mit ihr eine anregende und inhaltlich sehr gute Debatte mit guten Beiträgen geführt haben. Es ist vollkommen in Ordnung, angemessen und erforderlich – ich will das so selbstkritisch sagen –, dass man das Verhalten, das einzelne Abgeordnete unserer Fraktion an den Tag gelegt haben, kritisch und auch sehr kritisch anspricht und begleitet. Ich will deshalb hier noch einmal sagen: Wir haben uns dieses Verhalten noch vor Monaten in dieser Art und Weise nicht vorstellen können. Wir haben gedacht, dass man Anstand nicht gesetzlich regeln muss und dass es Grenzen dessen gibt, was Abgeordnete tun. Wir sind eines Besseren belehrt worden, und wir haben daraufhin konsequent gehandelt. Diese Abgeordneten sind in der Tat ehemalige Mitglieder der Fraktion. Sie sind aus den Parteien ausgetreten und bis auf einen Fall auch aus dem Parlament; sie haben ihr Mandat niedergelegt. Wir haben nicht nur aufgeklärt und unseren Beitrag dazu geleistet, sondern wir haben diese große gesetzliche Reform mit angestoßen. Und wir werden – ich will das an dieser Stelle auch sagen – in der nächsten Sitzungswoche in unserer Fraktion einen Verhaltenskodex verabschieden, mit dem es für die engere Fraktionsspitze ein Verbot von bezahlten Nebentätigkeiten geben wird, zu dem wir einen Integritätsausschuss installieren und mit dem wir auch ein starkes Sanktionsregime einrichten werden. Meine sehr geehrten Damen, meine Herren, wir haben in den Ausschussberatungen und nach der Anhörung das wahrgemacht, was wir vorher angekündigt haben: Wir haben alle die Lücken geschlossen, die wir gesehen haben. Wir haben nochmals Dinge präzisiert. Wir haben Sachen aufgegriffen, die aus den unterschiedlichsten Fraktionen ins Spiel gebracht worden sind. Wir haben intensiv geprüft und diese Dinge dann auch aufgenommen. Ich will nur beispielhaft einige nennen: neue Anzeigepflichten, zum Beispiel für Rückkehrrechte, vertraglicher oder gesetzlicher Art nach der Beendigung des Mandates, Anzeigepflichten für Berichterstatter im Ausschuss, wenn Interessenkonflikte vorliegen können, ein Transparenzbericht an das Plenum des Deutschen Bundestages, der abgegeben werden muss. Und man kann das verspätete Anzeigen von Nebeneinkünften – das soll ja in den besten Häusern schon mal vorkommen, auch wenn das nicht vergleichbar ist mit dem, was bei den Maskendeals passiert ist – nach drei Monaten, nach Überschreitung der Frist, auch nicht mehr heimlich machen. Lassen Sie mich noch zu einzelnen Punkten etwas ausführen. Ein Kritikpunkt an diesem Gesetz ist, dass wir bei der Veröffentlichung der Nebeneinkünfte im Bereich von Selbstständigen zukünftig centgenau den Gewinn vor Steuern und nicht mehr den Umsatz angeben müssen. Ich will einräumen: Das ist keine ideale Lösung. Aber mir sagen viele Selbstständige: Das ist eine viel bessere Lösung. – Es ist auch eine transparentere Lösung, als wir sie im Moment haben, bei der wir nämlich die Umsätze angeben. Das sagt überhaupt nichts darüber aus, was dort an Arbeitsleistung investiert wird und was tatsächlich nachher herauskommt. Nur ein Beispiel. Oft stehen ja die Landwirte bei den Nebeneinkünften ganz oben. Die müssen jemanden engagieren, der den Betrieb weiterführt. In diesen Angaben sind die Futtermittel enthalten, die er beschafft, und, und, und. Da bleibt unterm Strich wahrscheinlich gar nichts oder wenig über. Aber bei diesen Abgeordneten stehen bei den Nebeneinkünften Hunderttausende von Euro. Das ist nicht angemessen, und deshalb halten wir diese Regelung für gut und für richtig. Ich will etwas zum Parteiengesetz sagen. Da sind wir und waren wir natürlich gesprächsbereit. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, indem man zwei Zahlen im Gesetz ändert, löst man nicht die wirklichen Probleme im Bereich des Parteiengesetzes. Die Parteien – das will ich hier nur mal anführen – sind nach dem Grundgesetz und dem Parteiengesetz zur politischen Willensbildung mit berufen und dazu, diese mitzugestalten. Sie sind aber nicht dazu berufen, politische Berichterstattung zu ermöglichen und mitzugestalten. Deshalb müssen wir auch über die Medienbeteiligung von Parteien reden. ({0}) Dass Sie sich dort verweigern, kann ich gut verstehen. Aber dann darf man nicht so tun, als wäre man an Änderungen am Parteiengesetz ganz groß interessiert gewesen. Also, mit kosmetischen Korrekturen ist das nicht zu machen. Ich will auch etwas zum § 108e Strafgesetzbuch sagen, Abgeordnetenbestechung. Ja, wir stufen das zum Verbrechen hoch, gehen aber nicht an den Tatbestand ran. Dennoch wird das dazu führen, dass weitere Handlungen in Zukunft von der Strafbarkeit erfasst werden. Warum? Weil durch die Hochstufung zum Verbrechen in Zukunft auch der Versuch strafbar ist. Damit werden Vorbereitungshandlungen zur Abgeordnetenbestechung, zur Bestechlichkeit in den Fokus rücken. Das hat auch strafprozessuale Folgen. Es wird dazu führen, dass ein Verfahren nicht mehr gegen Geldbuße oder Auflage eingestellt werden kann. Es kann auch kein Strafbefehl mehr erlassen werden, sondern bei entsprechendem Tatverdacht kommt es zur Hauptverhandlung. Generalstaatsanwaltschaften werden dann anklagen müssen. Insofern haben wir schon eine Ausweitung der Handlungen, die darunterfallen. Ich will den ausgewiesenen Strafrechtsexperten aus der Anhörung, Professor Kubiciel, zitieren, der die Änderung vollumfänglich als sinnvoll, ausreichend und als scharfes Schwert erachtet. Ich darf zitieren: Deswegen befürworte ich diese Konzeption, die der § 108e StGB wählt, die Integrität von mandatsbezogenen Handlungen zu sichern und die Sicherung der Integrität des parlamentarischen Betriebes drumherum nicht dem Kernstrafrecht zu übertragen, sondern anderen Regeln, die Sie sich anschicken zu verändern. Das sind die Regeln im Abgeordnetengesetz. Deshalb, meine Damen, meine Herren, klare Aussage: Wir schaffen strengste Verhaltensregeln. Wir, die Unionsfraktion, haben verstanden: Wir handeln. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Schnieder. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Dr. Marco Buschmann. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist durch eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen in Verruf geraten. Die Täter entstammten alle einer Fraktion, aber Opfer waren wir alle. Das war der gesamte Deutsche Bundestag; ({0}) denn die Dinge haben das Vertrauen der Menschen in die Entscheidung dieses Parlaments unterspült. Deshalb ist es richtig, dass wir handeln. ({1}) Ich will ausdrücklich sagen, dass ich großen Respekt davor habe, dass dann tatsächlich schnell ein breit angelegtes Maßnahmenbündel auch von der Koalition auf den Tisch gelegt worden ist. Es ist auch größer ausgefallen, als ich es erwartet habe. Das möchte ich hier ausdrücklich sagen. Trotzdem enthielt auch dieses Maßnahmenpaket noch eine Reihe von Problemen. Wir haben darüber in der Anhörung gesprochen. Wir haben darüber zwischen den Fraktionen gesprochen. Nach der Anhörung hat meine Fraktion einen sehr umfangreichen Änderungsantrag vorgelegt. Darin ging es um die Publizität von Interessenverknüpfungen im Ausschuss. Da ging es um die vorhin angesprochenen Rückkehrrechte. Da ging es um die Schwächen der Vorteilsannahme im Abgeordnetengesetz usw. usf. Ich möchte auch ausdrücklich sagen: Wir finden es gut, dass in dieser Woche ein Änderungsantrag der Antragsteller kam, der sehr viel von dem aufgegriffen hat. Aber zwei Probleme bleiben. Das eine ist unserer Meinung nach, dass sich die Konzeption, insbesondere bezüglich der Angabepflicht von Gewinnen, gegen klassische Mittelständler richtet. Wer ein Unternehmer ist, wer einen Produktionsbetrieb hat, wer ein Personengesellschafter ist, der muss demnächst nicht nur angeben, was er selber bekommt, sondern dadurch wird indirekt klar, was auch seine Mitgesellschafter bekommen, und, was noch viel schlimmer ist, Betriebsgeheimnisse wie Kalkulationsgrundlagen werden öffentlich. Wenn die Geschäfte gut laufen, werden diese Gesellschaften unter Preisdruck ihrer Lieferanten und ihrer Kunden geraten, und wenn die Geschäfte schlecht laufen, dann werden die Geschäftsbeziehungen übermäßig belastet. Das wird dazu führen – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche –, dass solche Mittelständler, wenn sie sich die Frage stellen, ob sie kandidieren sollen – ob erstmals oder noch mal –, von ihren Mitgesellschaftern keinen Applaus bekommen werden. Das ist eine Beeinträchtigung des passiven Wahlrechts. Wir als Freie Demokraten sind der Meinung: Wir haben nicht zu viele Unternehmer im Parlament, wir haben eher zu wenige Unternehmer im Parlament, und das schadet dieser Regelung. ({2}) Ein zweites Problem gibt es bei diesem Paket, und das ist in der Tat der Umgang mit § 108e. Das ist totes Recht. ({3}) Das ist totes Recht, und deshalb ist es gut, dass wir das anfassen. Nur, es ist deshalb totes Recht, weil der Tatbestand untauglich ist. Dazu gibt es auch sehr viel Schrifttum. Sehr viele Strafrechtswissenschaftler haben immer wieder darauf hingewiesen. Deshalb wäre es nötig gewesen, den Tatbestand anzufassen und nicht nur bei der Rechtsfolge etwas zu ändern. Auch dazu haben wir Ihnen gemeinsam mit anderen Fraktionen einen Änderungsantrag vorgelegt. Ich will zum Schluss eines sagen, was Sie nicht wundern wird: Wenn Sie diese Änderungsanträge, die wir Ihnen vorgelegt haben, nicht annehmen, dann werden wir im Ergebnis nicht anders können – bei allem Respekt vor vielen Maßnahmen, die ergriffen werden –, als nicht zuzustimmen und werden uns enthalten. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Buschmann. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, ich teile die Auffassung, mit diesem Gesetz gewinnt die Demokratie; denn heute tun wir etwas gegen Korruption und für mehr Transparenz. Dass die FDP nicht dabei ist, bedaure ich ein wenig. Der eine Teil Ihrer Begründung ist mir zu dünn, die finde ich nicht überzeugend. Den anderen Teil zu § 108 teilen wir ausdrücklich; da hätte mehr getan werden müssen. ({0}) Von der Truppe der Transparenzverweigerer, der AfD, hatte ich, ehrlich gesagt, hier gar nichts anderes erwartet. Sie kassieren lieber illegale Parteispenden. ({1}) Ich hätte mir von Herrn Seitz einen solch engagierten Beitrag durchaus auch in der Ausschussberatung vorstellen können. Insofern ist es schon einigermaßen dreist, im Ausschuss mehr oder weniger ruhig und flockig irgendwas zu sagen und sich dann hier zu dem großen Revolutionär gegen Korruption aufzuschwingen. Ich sage nur: AfD – Ausfall für Demokratie. ({2}) Meine Damen und Herren, gegen Korruption helfen verschärfte Verhaltensregeln für Abgeordnete. Wir sagen jetzt Nein zu bezahlter Lobbytätigkeit von Abgeordneten. Wir sagen mit diesem Gesetz Nein zum Missbrauch des Mandats zu geschäftlichen Zwecken, und wir sagen auch Nein zu Geldspenden an Abgeordnete. Das alles war längst überfällig, aber es wird nun auch transparenter. Dazu zwei Beispiele – es ist schon erwähnt worden –: Jetzt müssen Nebeneinkünfte tatsächlich auf Euro und Cent veröffentlicht werden, statt wie bisher grob gerastert. Und zweitens. Es kommt die Branchenangabe zum Vertragspartner bei beruflichen Verschwiegenheitspflichten dazu. Gemeint sind unter anderem Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Vorgeschlagen hatten wir auch einen öffentlichen Transparenzbericht des Bundestagspräsidenten zur Anwendung der Verhaltensregeln. Das fand in der Anhörung auch Unterstützung der Expertinnen und Experten, und deshalb begrüße ich sehr, dass schließlich Union, SPD, Bündnisgrüne, also kurz gesagt wir alle übereingekommen sind, diesen Vorschlag aufzunehmen und nunmehr mitzutragen. ({3}) Dennoch – es ist gerade gesagt worden – war in dieser Konstellation nicht alles möglich. Da müssen wir nacharbeiten. Das stimmt wohl. Eines wurde schon benannt: die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung und die Beschreibung dieses Tatbestandes. Das Zweite ist die unabhängige Kontrolle der Verhaltensregeln, und schließlich wäre bei der Parteienfinanzierung deutlich mehr wünschenswert gewesen. Schließlich gehören auch Unternehmensparteispenden verboten. ({4}) Deshalb kommt mir vor dem Hintergrund der vielen Unternehmensparteispenden die Begründung der FDP ein wenig hölzern daher. Aber okay, zurück zum Positiven. ({5}) Mehrere Wahlperioden bedurfte es tatsächlich, bis weitere Forderungen, auch meiner Fraktion, endlich hier in diesem Gesetz aufgenommen worden sind. Über viele Jahre hat es in diesem Haus niemanden gejuckt, wenn Deutschland immer wieder von der Antikorruptionsstaatengruppe GRECO abgemahnt wurde. ({6}) Nun waren es ausgerechnet die schon zitierten Skandale aus der CDU/CSU, die der Union keinen Spielraum mehr ließen. Ich will darüber nicht lange philosophieren. Das Ergebnis zählt. Jetzt sind wir an dieser Stelle deutlich weitergekommen. Für uns ist es auch wichtig, dass heute endlich das Lobbytätigkeitsverbot beschlossen wird. Auch das ist gut. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz tatsächlich ein Stück deutsche Parlamentsgeschichte schreiben. Möge das Signal daraus eindeutig sein: Erstens. Korrupte Abgeordnete haben hier nichts zu suchen. Und zweitens. Darauf sollten sich die Menschen in diesem Land verlassen können. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Bündnis 90/Die Grünen mit Dr. Konstantin von Notz. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von den Amigos über die Kohl-Spenden, Ehrenworte und – ich zitiere – „jüdischen Vermächtnisse“ der hessischen CDU bis hin zu den aktuellen Aktienoptionen von Augustus Intelligence, Geld aus Aserbaidschan und den empörenden Maskendeals: Die Liste der Korruptionsskandale von CDU und CSU ist sehr lang, meine Damen und Herren. Allein dieses Jahr, wenige Wochen ist es her – ich sage es nur mal: wenige Wochen –: strafrechtliche Ermittlungen gegen mindestens fünf namhafte Unionspolitiker, Vermögensarreste in Millionenhöhe, Durchsuchungen von Büros hier im Deutschen Bundestag. Was sich Vertreter Ihrer Fraktion mit Maskengeschäften geleistet haben, sind keine Ausrutscher; es ist und bleibt ein Skandal, meine Damen und Herren. ({0}) Aber es ist richtig, Herr Kollege Schnieder: Man kann nicht nur von einigen wenigen auf Ihre große Fraktion schließen, und es verbieten sich Generalverdächtigungen und pauschale Verurteilungen gegen andere. Das ist immer richtig. Von einigen wenigen auf viele zu schließen, ist in einem Rechtsstaat immer falsch. ({1}) Aber zur Wahrheit, meine Damen und Herren, gehört auch: Diese Strukturen, die Lücken bei der Transparenz und Strafbarkeit sind im Schutz Ihrer ganzen Fraktion gewachsen. Sie alle von CDU und CSU haben hier im Deutschen Bundestag Jahre und Jahrzehnte die Intransparenz, die Schutzlücken, die Einfallstore für Korruption mit allen parlamentarischen Mitteln verhindert, und das geht voll auf Ihr Konto, meine Damen und Herren. ({2}) All das trotz der Skandale, gegen die Stimmen aus der Fachwelt und Zivilgesellschaft, trotz unzähliger Anträge hier im Deutschen Bundestag von meiner Fraktion, aber auch den anderen Fraktionen. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich Ihnen aus Ihren Reden der letzten Jahre vorlesen. Es sind zynische, vor Hybris und Selbstgefälligkeit strotzende Reden angesichts des Umstandes, dass sich Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion in der schwersten Krise der Bundesrepublik unter Ausnutzung des Mandats persönlich und mit riesigen Summen bereichert haben. Es ist schlicht beschämend, meine Damen und Herren. ({3}) Proaktiv waren Sie nicht bereit und in der Lage, dieses Thema anzugehen. Das machen Sie jetzt, getrieben von Skandalen oder dem Druck der Öffentlichkeit und mit dem Blick auf die anstehende Bundestagswahl. Aber da, wo Sie selbst Aufklärung versprochen haben, rühren Sie keinen Finger. Sie haben Leute aus Ihrer Fraktion rausgeschmissen – okay. Sie haben Ehrenerklärungen abgegeben – meinetwegen. Aber die Aufklärung, welche Logiken, welche Strukturen hinter all dem stecken, betreiben bis zum heutigen Tage nur die Staatsanwaltschaften und Medien, nicht Sie. Das ist einfach zu wenig, meine Damen und Herren. ({4}) Aber ich will auch sagen – ich komme zum Schluss –: Herr Schnieder, es ist vollumfänglich sinnvoll, das zu tun; da haben Sie recht. Es ist gut und richtig, was wir hier heute verabschieden, aber es kommt zu spät, und es ist zu wenig. Es fehlt die Parteienfinanzierung, es fehlt die Verschärfung des Tatbestandes bei der Abgeordnetenbestechung. Insofern bleibt viel zu tun. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte hören wir Michael Frieser von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr von Notz, es ist schon einige Zeit her, dass wir das Vergnügen hatten, in einer Debatte aufeinanderzutreffen. Ich hatte es bisher vermisst, heute aber nicht unbedingt. Zur Frage, was alles notwendig war, darf ich mal ins Gedächtnis rufen: Auch die Union hatte, zusammen mit der SPD, das Thema Lobbyismus und das Thema Transparenz, ausgehend vom Koalitionsvertrag, schon während dieser Legislatur nicht nur auf der Tagesordnung, sondern ist es auch schon angegangen; das wollen wir mal deutlich sagen. ({0}) Also, jeder sollte vor seiner Haustüre kehren. Ich bin weit davon entfernt, Parallelen zu ziehen; aber ich kann für mich sagen: Mein Lebenslauf ist in Ordnung. Ich kann auch sagen, dass meine Angaben funktionieren. ({1}) Deshalb: Immer wie der Prediger in der Kirche zu stehen und zu sagen, was man hätte tun sollen, damit wäre ich ein Stück weit vorsichtig. ({2}) Wir legen heute die weltweit größtmögliche Reform beim Thema Transparenz im Abgeordnetenrecht vor. Nennen Sie mir ein Land auf dieser Welt, das so intensiv, so tief, so weitgehend und so konsequent darüber debattiert, wie wir als Abgeordnete mit unseren – nicht nur – Nebentätigkeiten umgehen, und das vor allem auch die Fragen von Interessenskollisionen diskutiert: Wie gehen wir damit um, dass die Menschen einen Anspruch darauf haben, zu wissen, was ihre Abgeordneten nicht nur politisch tun, sondern auch, was sie in ihrer Freizeit oder in ihrem Beruf tun? Dazu sage ich an dieser Stelle: Alle Achtung, dass das nicht nur mit dem Koalitionspartner funktioniert, sondern dass auch die Kolleginnen und Kollegen, die ein Interesse daran haben, dass dieses Abgeordnetengesetz wirklich Transparenz fördert, mit dabei sind. Es bleibt der SPD benommen, mit ihren Medienrechtsbeteiligungen auch noch irgendwann für Transparenz zu sorgen. Wir werden uns das noch mal für eine Legislatur vornehmen und dann am Ende des Tages auch darüber entscheiden können, wer an welcher Stelle durch welche Beteiligungen Einfluss auf Berichterstattung nimmt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir werden auch die entscheidenden Punkte – sie wurden alle schon benannt –, durch genaueste Angaben transparent gestalten: welche Beteiligungen zu welchem Ergebnis führen, welche Dividenden es gibt, ob es Gewinne, ob es Ausschüttungen, ob es Optionen gibt. Auch die Frage des Verbotes jeglicher Form von Interessensvertretung oder Lobbytätigkeit ist dabei. Wir greifen die Frage der Einschränkung auf: Auch für Reden im Zusammenhang mit dem Parlament gibt es kein Geld mehr, weil der Abgeordnete in diesem Land tatsächlich genug verdient. Deshalb ist es notwendig, dass wir diesen gesamten Komplex – warum überhaupt? – so deutlich auf den Weg bringen. Natürlich – Kollege Schnieder hat es angesprochen –: Die Vorfälle, die nicht nur bedauerlich sind, sondern für die wir uns an diesem Pult auch haben entschuldigen müssen und wollen, haben dazu beigetragen, dass wir jetzt einen sehr großen Bogen spannen, angefangen mit der Frage zum Lobbyregister- obwohl es nichts damit zu tun hat –, bis hin zur Einflussnahme von außen und der Frage: Wo tauchen überhaupt Interessenskollisionen auf? Wo gibt es Abhängigkeiten, übrigens auch nach der Tätigkeit als Abgeordneter in diesem Haus? Wo gibt es vertraglich zugesicherte Rückkehrrechte? All das werden und können wir mit diesem Gesetz regeln. Ich komme immer mehr zu dem Ergebnis, dass nur diese Art von Verhalten am Ende des Tages geeignet ist, das verlorengegangene Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, aber auch zeitgemäß Auskunft zu geben, was der Abgeordnete tut, weil die Tätigkeit als Abgeordneter im Zentrum, im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen soll. Das heißt gerade nicht, dass wir nicht selbstständige Landwirte, Unternehmer in diesem Hause brauchen. Wir brauchen sie so dringend wie die Luft zum Atmen, weil nur sie auch ein Spiegel der Gesellschaft sein und das Bild der Gesellschaft vervollständigen können. Im Ergebnis heißt es – es bleibt dabei –: Diese Art von Vertrauen passt in eine große Reform beim Thema Lobbyismus, Transparenz im Abgeordnetengesetz bis hin zu der Vereinbarung von Verhaltenskodizes zwischen Bundesregierung und diesem Parlament. Auch unsere Fraktion wird am Ende des Tages dafür sorgen, dass auch wir unsere Haltung deutlich machen bei der Frage, wie wir mit unseren Rechten und Pflichten als Abgeordnete umgehen. Deshalb bitten wir um Zustimmung. Vielen Dank. ({4})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich am Anfang deutlich zu sagen: Rechtsterrorismus ist eine der größten terroristischen Bedrohungen in unserem Land. Leider hat auch der politische Rechtsextremismus in den letzten Jahren zugenommen. Der politische Arm des Rechtsextremismus sitzt hier in Form der AfD sogar im Parlament. ({0}) Ja, wir sind uns sicher weitestgehend einig, dass wir Rassismus jeglicher Art und Zielrichtung bekämpfen müssen. Nicht zuletzt die schrecklichen Anschläge in Hanau und Halle oder auch der Mord an Walter Lübcke haben gezeigt, dass wir hier noch mehr Engagement zeigen müssen als in der Vergangenheit. Deswegen haben die Koalition und die Bundesregierung auch reagiert. Wir haben für eine verschärfte Beobachtung der rechten Szene in Deutschland jetzt mehr Personal in diesem Bereich bei Verfassungsschutz und BKA. Wir haben ein Gesetz gegen Hass und Hetze beschlossen; denn gerade die sozialen Medien sind der Durchlauferhitzer für Rassismus und rechtes Gedankengut in unserem Land. Erst gestern haben wir das Bundesverfassungsschutzgesetz novelliert und zusätzliche Aufgaben und zusätzliche Befugnisse aufgenommen, etwa bei der Beobachtung von sich radikalisierenden Einzeltätern. Wer sich da verweigert hat, sind die Antragsteller vom heutigen Tag: Linke, Grüne und FDP. Es geht nicht nur darum, Anträge zu schreiben, sondern man muss auch handeln, wenn es um Gesetze geht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Regierung hat einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus gebildet. Dieser Ausschuss hat eine Vielzahl von Maßnahmen und einen Maßnahmenkatalog auf den Weg gebracht, der sich schon in der Abarbeitung befindet. Ich hoffe, das wird auch von der zukünftigen Regierung fortgeführt. Das deckt sich teilweise durchaus mit den Anträgen, die heute vorliegen. Aber Sie, insbesondere liebe Linke und liebe Grüne, gehen weit darüber hinaus, auch mit nicht angemessenen Vorgehensweisen und mit unvernünftigen Vorschlägen. Da ist sehr viel pure Ideologie dabei, die weit über das Ziel, über das wir uns einig sind, hinausgeht. Wenn beispielsweise Die Linke die Bundesregierung dazu auffordert, sie möge sich zukünftig bei öffentlichen Äußerungen der Mäßigung unterwerfen und nicht selbst eine in Teilen ausgrenzende rassistische Stimmung befördern, dann disqualifizieren Sie sich selbst. Glauben Sie denn ernsthaft, dass irgendein Mitglied der Bundesregierung eine rassistische Stimmung befördern würde? Das ist einfach nur absurd. ({2}) Die Idee der Linken und Grünen, Opfern rechter Gewalt quasi als Entschädigung ein dauerhaftes Bleiberecht zu verleihen, ist ebenso sachfremd. Das deutsche Aufenthaltsgesetz ist kein Opferentschädigungsgesetz. Alle Sachverständigen – jedenfalls diejenigen, die aus der Wissenschaft kommen und nicht von entsprechenden Interessenvertretungen – haben Ihnen das bei der Anhörung auch ins Stammbuch geschrieben. Die Linken haben das wenigstens verstanden und ihren eigenen Gesetzentwurf jetzt durch einen neuen Antrag abgeschwächt. Nur, dann müssten Sie eigentlich auch Ihren Gesetzentwurf zurückziehen, wenn Sie ihn selber nicht mehr aufrechterhalten. Die Grünen haben das gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Grünen benutzen vielmehr das Thema Rassismus – weit über die Rassismusbekämpfung an sich hinaus – ein Stück weit als Beförderungsmittel, vielleicht sogar als Trojanisches Pferd, um ihrem Ziel einer totalen Änderung, nämlich eines Systemwechsels in der Migrations- und Integrationspolitik, näherzukommen. Beispielsweise steht in ihrem Antrag die generelle Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Schnellere Einbürgerungen sollen stattfinden. In Ihrem Wahlprogramm – das werden Sie ja dieses Wochenende beschließen – kommt es noch nicht einmal auf die Identitätsklärung der Einzubürgernden an. Darüber hinaus werden Forderungen erhoben, eine Migrantenquote im öffentlichen Dienst und in Gremien sowie das kommunale Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer einzuführen. Sie wollen auch hier bevormunden und nicht überzeugen. Sie pflegen letztlich Ihre eigenen Vorurteile, die Sie seit Langem haben, indem Sie erneut einen Bundespolizeibeauftragten oder eine Rassismusstudie, die sich auf die Polizei bezieht, fordern. Sie sollten lieber denen den Rücken stärken, die wir alle brauchen, um Rassismus und Rechtsterrorismus zu bekämpfen, statt ihnen auch noch in den Rücken zu fallen. Deswegen können wir Ihre Anträge heute nur ablehnen. Ich habe jetzt nichts zum Antrag der FDP gesagt. ({3}) Ich habe die Redezeit für die Anträge der Grünen und der Linken gebraucht. ({4}) Aber es steht auch nicht so viel Wesentliches und Neues darin, als dass es sich gelohnt hätte. Insofern lehnen wir auch diesen Antrag ab. Herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Die Redezeit wurde unerheblich verlängert. – Das Wort geht an Fabian Jacobi von der AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Tagesordnungspunkt 49 ist ein Strauß aus fünf Vorlagen von drei Fraktionen zusammengebunden. Am schnellsten abzuhandeln ist der Antrag der FDP. Er läuft darauf hinaus, zu bekräftigen, dass zur Unterbindung von Straftaten rechtsextremer Täter die Sicherheitsbehörden ihre Arbeit machen sollten. – Ja, zweifellos, das sollten sie; dem wird wohl niemand widersprechen. Sonderlich viel hat der Antrag dazu aber nicht beizutragen. Er wirkt eher so, als habe man halt auch irgendwie bei diesem Thema dabei sein wollen und dazu einige Textbausteine zusammengesucht. Da ist nichts wirklich falsch. Aber so recht brauchen tut diesen Antrag jetzt auch niemand. Wir werden uns dazu enthalten. ({0}) Von der Fraktion Die Linke kommen gleich drei Vorlagen. Neben zwei eher unspannenden Anträgen ist das vor allem ein Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsrechts. Danach soll, kurz gesagt, jeder Ausländer, der hierzulande Opfer einer rassistischen oder vorurteilsmotivierten Tat wird, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, aus der nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis wird, die wiederum später zu einem Anspruch auf die deutschen Staatsangehörigkeit führt. ({1}) Das soll aber nicht nur dann eintreten, wenn etwa eine schwere Gewalttat begangen wurde. Nein, als Tat sollen auch Belästigungen und Nachstellungen oder Verfolgungen durch Fernkommunikationsmittel genügen. Das wären dann wohl etwa die sogenannten Hasskommentare bei Facebook oder bei Twitter. ({2}) Ferner soll nicht etwa gerichtlich oder sonst wie zuverlässig festgestellt werden müssen, dass es sich um eine „vorurteilsmotivierte Tat“ handelt. Nein, es soll genügen, dass „Hinweise von Beratungsstellen oder in den Medien vorliegen“. ({3}) Die von der Kanzlerin erfundenen und von den Medien verbreiteten angeblichen Hetzjagden lassen grüßen. ({4}) Der guten Rundung halber ist noch anzumerken, dass diese von den Linken gewollte Regelung ihrem Wortlaut nach auch dann eingriffe, wenn unterschiedliche Gruppen von Ausländern sich aus religiösen oder aus nationalistischen Gründen gegenseitig attackieren. Auch das würde dann letztlich zur Einbürgerung der Beteiligten führen. – Sie merken schon: Das ist alles völlig aberwitzig. Wir lehnen das selbstverständlich ab. ({5}) Damit kommen wir zu der fünften und letzten Vorlage. Der Antrag „Für eine antirassistische … Einwanderungsgesellschaft …“ stammt von den Grünen, und er hat es in sich. Es sind zu viele Einzelpunkte, als dass ich sie hier durchgehen könnte. Das macht aber nichts; denn durch alle diese Unterpunkte zieht sich eine grüne Weltanschauung und macht deren spezifischen Blick auf unsere Gesellschaft erkennbar. Und der sieht so aus: Die Menschen in dieser Gesellschaft sind schlecht. Oder nein, nicht alle Menschen, aber diejenigen, die nicht zur Gruppe der, wie man in grünen Kreisen sagt, kolorierten People gehören, die unkolorierten Menschen also. Die Unkolorierten sind ihrer Natur nach schlecht, von Grund auf verdorben, vom Übel des Rassismus durchdrungen. Aus ihrer Sündhaftigkeit können sie sich nicht selbst befreien, sondern müssen in allen Dingen ihres Lebens unablässig beaufsichtigt und erzogen werden. Zu diesem Zweck müssen überall Einrichtungen und Institutionen sonder Zahl geschaffen werden, in welchen die Beaufsichtigung und Erziehung von dazu berufenen Weisen ausgeübt wird. Es ist ein zutiefst totalitäres Menschenbild von beängstigender Hybris. Mir macht nicht vieles Angst. Zu den Ausnahmen gehört der Griff von Fanatikern nach staatlicher Macht. ({6}) Es scheint ja vielen eine ausgemachte Sache zu sein, dass nach der Bundestagswahl im September die CDU den Grünen an die Macht verhelfen wird. Ich sage deshalb den Abgeordneten und allen Wählern der CDU: Lesen Sie diesen Antrag! Lesen Sie ihn aufmerksam, und erwägen Sie, wie Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, dieser Ideologie Vorschub zu leisten. Wir sollten aufhören, über den Lebenslauf von Frau Baerbock zu reden. Wir sollten stattdessen solche Anträge wie diesen hier lesen und uns klarmachen, was für eine Gesellschaftsordnung die Grünen anstreben. Dass wir diesen Antrag der Grünen ablehnen, ist selbstverständlich. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) – „Frau Präsidentin“, um Gottes willen. Ich bin schon im Parteimodus. ({1}) Sie wären auch eine geeignete Vorsitzende, selbstverständlich.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Um Gottes willen. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber jetzt kommen wir zum Ernst der Lage, obwohl das auch eine unterhaltsame Anmerkung war. ({0}) Eigentlich müsste ich an dieser Stelle über die Blockade des Demokratiefördergesetzes durch die Union reden, das wir dringend nötig hätten. ({1}) Eigentlich müsste ich über die Nichtberücksichtigung des Wortes „Rasse“ im Grundgesetz reden, die ich auch für notwendig erachte. Eigentlich müsste man darüber reden, dass NSU-Akten in Hessen weiterhin gesperrt sind. Eigentlich müsste man über die Auflösung des SEK Frankfurt reden, die gerade erfolgt ist. ({2}) Und eigentlich müsste man darüber reden, als wie mühsam ich es erlebe, wie mühsam es sich gestaltet, sachlich, nüchtern und ehrlich über Fragen des Racial Profiling in Sicherheitsbehörden zu sprechen. Über all das und über Kassel und über Hanau und über Halle müsste ich eigentlich reden. Aber ich rede jetzt – das ist eine persönliche Entscheidung – erst einmal über die Süßkartoffel. Ich muss dazu ergänzen, dass ich Kartoffeln sehr schätze; aber noch mehr mag ich Süßkartoffeln. Ich durfte beobachten, wie anlässlich eines Instagram-Posts der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem man sich auf den Journalisten und Influencer Mohamed Amjahid bezog, dort der Ausdruck „Süßkartoffel“ vorkam. Das ist eine spielerische Verwendung des jugendsprachlichen Wortes „Kartoffel“ für weiße Deutsche, nichtmigrantische Deutsche – jedem, der mit jungen Menschen irgendwie zu tun hat, durchaus vertraut. Nun hat die Bundeszentrale gewagt, diesen Ausdruck zu zitieren, Bezug nehmend auf weiße Deutsche, die „allies“ sind, die Verbündete mit Opfern von Rassismus und Rechtsextremismus sind. Was passierte daraufhin? Ein Sprecher des Innenministeriums äußerte, dass dieser Post klargestellt werden müsse und dass das Projekt, innerhalb dessen dieser Post erschienen ist – das Projekt „Say My Name“ –, auf den Prüfstand gehört. ({3}) Die Begründung ist, man müsse beim Umgang mit Rassismus darauf achten, dass nicht auch andere Gruppen ausgegrenzt, diskriminiert, herabgewürdigt würden, und man müsse in Zukunft tunlichst abwertende Unter- und Zwischentöne – ich zitiere – „vermeiden“. Es gibt die Angehörigen von Hanau, die bis zum heutigen Tag auf eine unabhängige Untersuchungskommission warten, die auf viele Antworten warten, die miterleben mussten, wie zum Beispiel der Vater Kurtović, dass ohne Einwilligung der Eltern die Kinder obduziert und dann wiederum die Leichname freigegeben wurden, die erleben mussten, wie man selbigen Herrn Kurtović fragte, ob er denn nicht einen Integrationsbegleiter oder einen Dolmetscher haben wolle – im Übrigen ist er hier aufgewachsen; das sei am Rande bemerkt –, und die miterleben mussten, wie zuerst ausländische Botschaften informiert wurden, bevor die Eltern über das Geschehen informiert wurden. ({4}) Das alles ist Teil der Realität. Und wir unterhalten uns in diesem Land im Zusammenhang mit Rassismus über Süßkartoffeln. Ich glaube, das sagt sehr viel dazu. Das ist ein Blick ins Herz der Finsternis unseres Umgangs mit Rassismus in diesem Land, und es ist auch ein Weg, da wieder herauszukommen. ({5}) Man muss nämlich auch das Umfeld betrachten, im Rahmen dessen diese Kommentare des Sprechers des BMI erfolgten. Es gab nämlich eine mediale Aufregung darüber. Die „Bild“-Zeitung empörte sich. Es war die Rede von Rassismus gegen Deutsche und Deutschenfeindlichkeit. Das ist schwerlich logisch; denn Rassismus gegen weiße Deutsche kann gar nicht funktionieren: Bei Rassismus geht es um ein System der Macht, ein System der Machtkontrolle und Herabsetzung. Vor allem aber ist die Formulierung in einer anderen Hinsicht verräterisch. Was ist denn mit schwarzen Deutschen? Sind das keine Deutschen? Was ist mit Deutschen asiatischer Herkunft, mit muslimischen Deutschen? Was ist denn mit denen? Deshalb: Wenn wir von Rassismus gegen Deutsche sprechen und von Deutschenfeindlichkeit, dann ist das der Rassismus gegen schwarze Deutsche jeden Tag in diesem Land, der Rassismus gegen muslimische Deutsche jeden Tag in diesem Land, der Rassismus, den asiatische Deutsche jeden Tag in diesem Land erfahren; und das ist auch die Deutschenfeindlichkeit, die sie erfahren. Das ist Rassismus gegen Deutsche und Deutschenfeindlichkeit und nichts anderes. ({6}) In dem Zusammenhang sollten wir uns, wenn wir uns weniger aufregen über diese ach so skandalöse Verwendung des Wortes „Süßkartoffel“ durch ein Opfer, einen von Rassismus Betroffenen, vielleicht auch einmal überlegen, wann wir von Generalverdacht sprechen. Zu Recht bekommen wir bei jeder Novellierung des Waffenrechts – denn das ist ihr gutes Recht – viele, viele Zuschriften von Schützinnen und Schützen, die ihre Rechte artikulieren. Aber sofort reagieren wir und sagen: Nein, wir dürfen Schützinnen und Schützen nicht unter Generalverdacht stellen. Bei jeder Frage von Racial Profiling oder rechtsextremen, rassistischen Vorgängen in Sicherheitsbehörden wird sofort reaktiv gesagt: Kein Generalverdacht! Aber was ist denn mit Musliminnen und Muslimen, die tagtäglich unter Generalverdacht gestellt werden? Kein Problem! Was ist beim Demokratiefördergesetz, beim Wehrhafte-Demokratie-Gesetz? Weshalb kommt das denn nicht zustande? ({7}) Weil die ganzen antifaschistischen Organisationen vielen in diesem Hause als zweifelhaft erscheinen ({8}) und eben unter Generalverdacht gestellt werden. Wenn sich dann einmal ein schwarzer Deutscher äußert und unmissverständlich und klar seine Interessen artikuliert, dann wird er unter Verdacht gestellt und gesagt, er betreibe ja Rassismus gegen Deutsche und gegen weiße Deutsche. Wenn wir schon von Generalverdacht sprechen, sollten wir das nicht so doppelzüngig und scheinheilig machen; dann sollten wir vielmehr einheitliche Standards gelten lassen und nicht Doppelstandards. Deshalb: Ich persönlich und auch meine Fraktion, wir bemühen uns sehr, ordentliche Süßkartoffeln zu sein. ({9}) Deshalb: Es lebe die Süßkartoffel, und es lebe die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Rassismus! Denn egal ob wir nun der konservativste Knochen sind oder der alternativste Anarcho – ganz egal –, egal wie wir weltanschaulich gepolt sind: Uns allen sollte doch gleichermaßen daran gelegen sein, dass die Angehörigen der Opfer des NSU, die Angehörigen von Walter Lübcke, die Angehörigen der Opfer von Hanau endlich Gerechtigkeit erleben dürfen. Vielen Dank. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Benjamin Strasser von der FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Lindh, ich weiß nicht, ob das Thema „Süßkartoffel“ der Ernsthaftigkeit der Debatte angemessen ist, aber das entscheidet jeder selber. Am 4. November dieses Jahres jährt sich zum zehnten Mal der Super-GAU deutscher Sicherheitsbehörden. Durch die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds am 4. November 2011 ist ein Staatsversagen unglaublichen Ausmaßes offenkundig geworden. Zwischen 1999 und 2011 hat der rechtsterroristische NSU zehn Menschen getötet, drei Sprengstoffanschläge und mehrere Banküberfälle begangen, ohne dass irgendeine deutsche Sicherheitsbehörde von der Täterschaft Kenntnis erlangt haben möchte. Bis heute sind Fragen offen. Helferstrukturen, Mitwisser, Mittäter wurden nicht aufgeklärt. Akten des Verfassungsschutzes werden weggeschlossen. Das ist eine traurige Bilanz, und das ist vor allem bitter für den Rechtsstaat. ({0}) Der NSU war aber nicht singulär. Wer das denkt, verkennt die Realität. Rechtsterroristen ziehen eine Blutspur seit den 1970er-Jahren durch Deutschland: das Oktoberfestattentat, der Mord an Dr. Walter Lübcke, Halle, Hanau, die „Gruppe Freital“, die „Gruppe S.“ sind nur einige wenige Beispiele, wie Rechtsterroristen Menschen in Deutschland morden. Ich empfehle auch den Blick auf die aktuelle Situation und die sich verändernde Lage, auch innerhalb von rechtsextremistischen, rechtsterroristischen Strukturen: Die Vernetzung mit der kriminellen Szene, bis in die Organisierte Kriminalität hinein, die muss uns Sorgen machen. Das Beispiel „Turonen“ in Thüringen ist nur ein Fall, in dem über gezielten rechtsextremen Musikhandel und Drogenhandel Geld generiert wird für Waffen und anderes. Die besonders gewalttätigen Übergriffe, beispielsweise in Ballstädt, sollten uns eine Warnung sein, hier entschlossener vorzugehen. Was mir besondere Sorge bereitet, sind rechtsextreme Netzwerke in Sicherheitsbehörden, die uns eigentlich schützen sollten. Wenn wir darauf schauen, dann fällt uns auf, dass gerade Eliteeinheiten von Sicherheitsbehörden anfällig sind. Die Vorfälle im KSK in Calw, rechtsextreme Chatgruppen bei der Sicherungsgruppe des BKA oder beim SEK Frankfurt: Es passiert, Herr Kollege Throm. Deswegen ist eine Studie, die das Ausmaß auf den Tisch bringt, nicht Ausdruck eines Generalverdachts gegenüber den Beamtinnen und Beamten, sondern die notwendige Grundlage dafür, dass wir hier wirksame Maßnahmen treffen können. ({1}) Sie erweisen den Beamtinnen und Beamten, die tagtäglich ihren Job verrichten, einen Bärendienst. Sie haben einen Maßnahmenkatalog mit 89 Maßnahmen vorgelegt. Dass die allererste Maßnahme die Einführung des Staatstrojaners ist, zeigt, wie tief Sie in der Analysefähigkeit rechtsextremer Netzwerke verankert sind. Sie haben durchaus Maßnahmen vorgeschlagen, die wir unterstützen. Wir haben mit unserem Antrag hier aber einen deutlich breiteren Forderungskatalog vorgelegt. Es bleibt die Hoffnung, dass mit der nächsten Bundesregierung ein wirklich nationales und europäisches Aktionsprogramm im Kampf gegen Rechtsextremismus vorgelegt wird. Sie haben da leider recht wenig geliefert. Vielen Dank. ({2})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Mit großen Schritten nähern wir uns dem Ende dieser Legislatur. Mit Blick auf rechten Terror, der dieses Land ungebrochen heimsucht, ist dies die tödlichste seit der achten Legislatur. Damals, Ende 1980, waren es ebenfalls Rechtsterroristen, die beim Oktoberfestattentat zwölf Opfer und in Erlangen zwei Menschen in den Tod rissen. Auch in dieser Legislatur wurden 13 Menschen durch rechten Terror des Lebens beraubt: Walter Lübcke, der auf seiner Terrasse einem Mordanschlag zum Opfer fiel, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, die beim rassistischen Anschlag von Hanau ermordet wurden, Jana L. und Kevin S., die beim antisemitischen, ebenfalls rassistischen und auch frauenfeindlichen Anschlag von Halle auf die Synagoge und im Kiez-Döner ihr Leben ließen. Gerade erst sind die Gerichtsprozesse zu Kassel und Halle abgeschlossen, andere laufen, wie gegen die „Gruppe S.“, die rassistische Morde zur Umsetzung ihrer Ideologie vorbereitete, oder gegen den extrem rechten Ex-Soldaten Franco Albrecht, der einen Anschlag unter falscher Flagge zur Einleitung eines rechten Putsches plante. Die Prozesse stehen systematisch für die Figur des Einzeltäters und der abgeschotteten Gruppe. Beides ist eine Erfindung konservativer Sicherheitspolitik und hat über Jahrzehnte dazu beigetragen, den Blick auf rechte Netzwerke und gesellschaftliche Hintergründe auszublenden. Für den Terror von rechts war dies Ermutigung und Schutz zugleich, wie die Geschichte des NSU zeigt. Was folgt aus alledem? Die Betroffenen haben kein Vertrauen mehr, nicht nur, weil jede Woche eine rechte Chatgruppe in der Polizei bekannt wird, nicht nur, weil problemlos Waffen, Munition und Sprengmittel aus Polizei- und Militärbeständen in das Arsenal der neuen Freikorps wandern. Sie haben kein Vertrauen, weil die Behörden die Zusammenhänge nicht sehen wollen, nicht die der Lübcke-Mörder zu Combat 18, dem Rechtsterrornetzwerk, nicht die von Franco Albrecht zu den rechtsterroristischen Netzwerken Nord und Nordkreuz, nicht die der „Gruppe S.“ zu Uniter und bei all denen nicht die zur AfD. Weil Mittäter und Terrorhelfer nicht angeklagt und nicht verurteilt werden, haben die Betroffenen kein Vertrauen. Ich frage die Bundesregierung: Warum werden die weiteren NSU-Unterstützer und -Unterstützerinnen nicht endlich auf die Anklagebank gesetzt? ({0}) Im Gegensatz zur Regierung haben die Betroffenen rechter Gewalt und deren Angehörige den rechten Hintergrund dieser Taten und die Vernetzung von Neonazis immer im Blick. Im Gegensatz zu Polizei und Justiz sind ihnen die Kontinuitäten rechten Terrors bekannt. Serpil Temiz Unvar, deren Sohn Ferhat in Hanau ermordet wurde, stellte kürzlich zu Recht die Frage: Wie könnt ihr uns nach dem Anschlag von Hanau versprechen, wirklich etwas gelernt zu haben, wenn ihr nach Hunderten Angriffen zuvor nichts hinzugelernt habt? Konsequenter Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus und alles in unserer Macht Stehende zu tun, um zukünftige Taten zu verhindern, das ist das Mindeste, was wir tun können. ({1}) Dazu gehört, dass wir die Neonazi-Szene entwaffnen und ihnen die waffenrechtlichen Erlaubnisse entziehen, die Opferberatungsstellen stärken und ausreichend und dauerhaft finanzieren, den sogenannten Verfassungsschutz endlich auflösen und durch eine zivile unabhängige Beobachtungsstelle ersetzen. ({2}) Dazu gehört, den Betroffenen endlich einen einfachen Zugang zu Unterstützung zu gewähren und das Aufenthaltsrecht zum Schutz der Opfer rechter Gewalt großzügig anzuwenden. Und das alles sollte erst der Anfang sein. ({3}) Es gab in diesem Haus ein Versprechen: Nie wieder NSU! – Dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Erneuern wir das Versprechen – nie wieder Rechtsterror! –, und handeln wir endlich! Danke. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Bündnis 90/Die Grünen mit Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Ende dieser Legislaturperiode ist die Bilanz der Bundesregierung bei der Bekämpfung des Rassismus und des Rechtsextremismus leider alles andere als gut. Umso wichtiger ist es, dass wir hier und heute noch einmal über dieses Thema sprechen. Dass die NSU-Morde und das massive Versagen in diesem Zusammenhang nicht bereits für ein radikales Umdenken in dem seit 16 Jahren von der Union geführten Innenministerium gesorgt haben, ist vollkommen unverständlich. ({0}) Der Mord an Walter Lübcke, der antisemitische Anschlag in Halle, der rassistische und rechtsterroristische Anschlag in Hanau – nach jeder Tat wurde gemahnt, und es wurden Konsequenzen versprochen. Selbst der Bundesinnenminister erkannte 2020: Der Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung in unserem Land. – Da frage ich mich, warum außer warmen Worten kaum etwas passiert ist. Und wenn Sie, Herr Throm, jetzt auch noch damit kommen, dass Sie ja das Gesetz gegen Hasskriminalität gemacht haben, kann ich Ihnen nur sagen: Selbst da haben Sie ein paar Anläufe gebraucht, bis es für den Bundespräsidenten unterschriftsfähig war. ({1}) Darüber hinaus ist praktisch nichts geschehen. Warum haben wir immer noch kein Demokratiefördergesetz? Wo bleibt die lange versprochene und dringend notwendige Verstetigung von Fördermitteln? Was ist mit dem Periodischen Sicherheitsbericht, auf den wir schon ewig warten? Wie steht es um die Verbesserung der Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden? Warum gibt es keine angemessene Verschärfung beim Waffenrecht, und warum gibt es nicht endlich Untersuchungen über verfassungsfeindliche Einstellungsmuster in den Sicherheitsbehörden, wenn die Meldungen über rassistische und rechtsextreme Chatgruppen und Verhaltensweisen nicht abreißen, zuletzt beim BKA und beim SEK in Frankfurt? Wo bleiben die Verbesserungen beim Opferschutz? ({2}) Es ist mir ein Rätsel, wie man nach der Blutspur, die der Rassismus und der rechte Terror seit Jahren durch Deutschland ziehen, in so einer Schockstarre verharren kann. ({3}) Und noch eines: Sprache verändert das Denken und das Handeln. Für rassistisches Vokabular sollte in unserer Verfassung definitiv kein Platz sein. Das haben wir in unserem Antrag mit dem Titel „Für eine antirassistische und chancengerechte Einwanderungsgesellschaft“ auch dargelegt. Dass Sie es nicht einmal geschafft haben, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen, obwohl der Bundesinnenminister das selbst zugesagt hat, ist ein Armutszeugnis und zeigt: Diese Koalition ist am Ende. ({4}) In der nächsten Legislaturperiode muss die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus endlich im Zentrum stehen. Dafür werden wir uns mit aller Kraft einsetzen. Herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Ende der Debatte spricht Christoph Bernstiel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur besten Plenumszeit sprechen wir über das sehr ernste und wichtige Thema „Rassismus und Rechtsextremismus“ erneut in dieser Legislaturperiode – leider, muss man sagen; denn eines ist Fakt: Der Rechtsextremismus mit all seinen hässlichen Fratzen des Terrorismus und des Rassismus hat sich in unserem Land ausgebreitet. Ich glaube, darüber besteht weitestgehend Konsens. Worüber allerdings kein Konsens besteht, ist die Analyse, die meine Vorredner hier erstellt haben – mit Ausnahme meines geschätzten Obmanns Alexander Throm natürlich –, dass die Bundesregierung nicht reagiert hat. Die Anträge, die hier von FDP, Linken und Grünen vorgelegt wurden, hätten vielleicht zu Anfang der Legislaturperiode durchaus ihre Rechtfertigung gefunden. Doch jetzt, am Ende der Legislaturperiode, muss ich sagen, dass man vieles von dem für erledigt erklären kann. Und auch das muss gesagt werden: Manche Ergebnisse, zum Beispiel der Rassismusstudie, liegen uns schlichtweg noch nicht vor; die müssen wir erst mal abwarten. Da wir heute hoffentlich – „hoffentlich“ in dem Sinne, dass nicht noch etwas Schlimmes passiert – das letzte Mal in dieser Legislaturperiode über dieses Thema reden, möchte ich denjenigen, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, zu erfahren, was die Bundesregierung alles getan hat, hier noch mal aufzählen, was alles passiert ist: Im März 2020 wurde der Kabinettsbeschluss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus gefasst. Im November des gleichen Jahres wurde ein Katalog zur Bekämpfung des Rechtsextremismus mit 89 Maßnahmen verabschiedet. Vom Jahr 2021 bis zum Jahr 2024 stellt die Bundesregierung mehr als 1 Milliarde Euro für Präventions- und Forschungsprogramme zur Verfügung. Es wurde eine Studie zum Alltagsrassismus aufgesetzt, auf deren Ergebnisse wir warten. Es wurde angesprochen: Das Waffenrecht wurde verschärft. Ich, der ich selber Sportschütze bin, finde, wir sprechen zu Recht darüber, dass wir Rechtsextremisten und allen anderen extremistischen Formen, die wir nicht vergessen dürfen, Waffen jetzt wirksam entziehen können und, was viel wichtiger ist, dafür sorgen können, dass diese Menschen gar nicht erst in den Besitz von Waffen kommen. Der Ansatz der Bundesregierung ist nämlich die Prävention, also dafür zu sorgen, dass Straftaten nicht passieren. Dazu passt auch das Programm „Demokratie leben!“, das übrigens schon im Jahr 2015 mit erheblichen Mittelaufwüchsen rechnen konnte. Damit man es noch mal in Zahlen hört: 2015 betrug das Budget 40,5 Millionen Euro, im Jahr 2021 beträgt das Budget 150 Millionen Euro. Das ist also fast eine Verdreieinhalbfachung des Budgets. Es geht noch weiter. Wir haben nicht nur angekündigt, sondern haben auch konkret gehandelt. Verboten wurden die rechtsextremen Vereinigungen Combat 18, „Nordadler“, „Sturmbrigade 44“ und einige weitere. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde angesprochen, mit dem wir gezielt gegen Hasskriminalität und Hetze im Internet vorgehen. Erst kürzlich, in dieser Woche, haben wir den Verfassungsschutz gestärkt und unsere Bundespolizei mit weiteren Mitteln zur Strafverfolgung ausgestattet. Vom Jahr 2018 bis 2020 wurden 1 500 Stellen für unsere Sicherheitsbehörden geschaffen, und das BKA arbeitet bereits daran, mit einer sogenannten RADAR-Rechtsstelle – ähnlich, wie sie es bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus gemacht haben – eine Zentralstelle einzurichten, die sich explizit mit rechtem Terrorismus beschäftigt. Zum Abschluss möchte ich sagen: Auch der Aktionsplan unserer Integrationsbeauftragten Annette Widmann-Mauz darf nicht fehlen. Auch der enthält einige wichtige Punkte, deren Umsetzung dazu führt, Rassismus in unserer Gesellschaft zu vermeiden und idealerweise diejenigen, die vom Pfad abgekommen sind, wieder zurückzuholen. Denn auch das muss gesagt werden: Rassismus geht nicht nur von Rechtsextremisten aus, sondern leider auch von Migranten, die seit 2015 in unser Land gekommen sind. Diesen müssen wir das ganz klare Signal senden: Keine Toleranz für Rassismus, egal woher er kommt, in unserem Land. ({0}) Meine Damen und Herren, wenn wir über Prävention sprechen und fragen, warum das Demokratiefördergesetz nicht kommt, müssen wir uns auch mal ehrlich machen. Ich habe die Zahlen gerade genannt. Wir haben so viel Geld wie noch nie zuvor in Rechtsextremismus- und Rassismuspräventionsprogramme investiert. Es gibt überhaupt keine vergleichbaren Zahlen; das sind die höchsten Zahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem steigen in nahezu allen extremistischen Phänomenbereichen, im Linksextremismus, im Rechtsextremismus und auch im Islamismus, die Fallzahlen. Ich habe erst kürzlich in einer Rede hier erklärt, dass die Zahlen auf Rekordniveau sind. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, wie wirksam solche Programme sind und ob es nicht vielleicht doch noch andere Möglichkeiten gibt, dieses Geld einzusetzen, um dafür zu sorgen, dass Rechtsextremismus und Rassismus in unserem Land zurückgehen? Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, wo der Rechtsextremismus seinen Boden findet. Es ist nicht mehr ganz so einfach, zu sagen: Er findet nur noch in den ländlichen Regionen statt. Aber nach wie vor ist er dort deutlich überrepräsentiert, wo die Strukturen schwach sind. Für mich als jemanden aus Ostdeutschland, aus einer Region, die jetzt den Strukturwandel begleiten muss, sage ich: „Dieser Strukturwandel muss gelingen“ und fordere die Bundesregierung und alle, die daran mitarbeiten wollen, auf, diesen Strukturwandel zu einem Erfolg zu bringen; denn das beste Mittel gegen Rechtsextremismus und Rassismus sind zufriedene Gesellschaften, zufriedene Gemeinschaften, Orte und Kommunen, in denen es sich lohnt zu leben, in denen die Gemeinschaft im Mittelpunkt steht und es keinen Grund für Neid oder Abwertung gibt. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Schon in den 90er-Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Vorschlag gemacht, wie wir die Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO zuungunsten Freigesprochener bei unverjährbaren Taten wie Mord erweitern können. Diese Koalition hat sich schon im Koalitionsvertrag darauf verständigt, diese Regelungen umzusetzen. Ich freue mich sehr, dass wir heute hier diesen Gesetzentwurf beraten können. Warum machen wir das? Es ist, wie ich finde, schreiendes Unrecht, wenn einem Mörder seine Tat nachgewiesen werden kann, er aber nicht verurteilt werden kann, weil er zuvor freigesprochen worden ist. Das können wir nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Denn wenn wir auf der einen Seite sagen, dass bestimmte Taten wie Mord oder Völkermord nicht verjähren dürfen, dann zeigt diese Wertung von uns als Gesetzgeber doch, dass ein Mörder immer damit rechnen muss, wegen dieser schwersten Straftat doch noch bestraft zu werden. Von dieser Wertung ausgehend, muss deshalb eine Verurteilung möglich sein, wenn ein Täter freigesprochen wurde, dann aber nach dem Freispruch durch neue Beweismittel oder durch eine neue Auswertungsmöglichkeit früherer Beweismittel der Tatnachweis erbracht wird. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir diesen Gesetzentwurf beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur Grenzkorrekturen in diesem Zusammenhang gestattet, sondern alle Änderungen, die den Kern des Artikels 103 Absatz 3 Grundgesetz nicht berühren. Durchbrechungen des Verbots der Mehrfachverfolgung sind deshalb möglich, insbesondere wenn gewichtige Gründe wie die Herstellung materieller Gerechtigkeit dafür sprechen. Dazu zählt die Ahndung eines Mordes. Ausdrücklich will ich in diesem Zusammenhang auf die Europäische Menschenrechtskonvention hinweisen. Hier heißt es zum Grundsatz „Ne bis in idem“ in Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention zunächst in Absatz 1, dass niemand wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden darf. Aber in Absatz 2 heißt es dann ausdrücklich, dass Absatz 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht nicht ausschließt, „falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen“. Es gibt also auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention eindeutig diese Wertung, wie wir sie in diesem Gesetzesvorschlag empfehlen. Zur Frage, ob das überhaupt eine echte Rückwirkung ist oder eine unechte Rückwirkung, gibt es, wie gesagt, eine ganze Bandbreite von Positionen. Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, haben ein Expertengespräch – vielen Dank an das BMJV für die Organisation – durchgeführt und kommen zu dem Ergebnis, dass uns die Professoren überzeugt haben, die gesagt haben, dass wir auch ohne Grundgesetzänderung eine solche Erweiterung der Wiederaufnahmegründe vornehmen können. Versetzen wir uns doch einmal in die Position der Angehörigen, die einen Menschen verloren haben, wenn durch neue Beweismittel doch noch festgestellt werden kann, dass die Person, die den Mord begangen hat, der nicht verurteilte Täter war. Ich finde, es ist nicht zu rechtfertigen, wenn diese Person dann nicht verurteilt wird. ({1}) Deshalb sollten wir, wie viele andere EU-Staaten es schon getan haben, die Rechtslage bei uns in Deutschland ändern. Was werden es für Anwendungsfälle sein? Aus meiner Sicht werden es gar nicht so viele Fälle sein. Es werden vor allem Fälle sein, in denen nach einem Freispruch durch neue Beweismittel bekannt wird, dass die Tat eben doch nachgewiesen werden kann. Wie gesagt, in diesem Fall sollte ein zweiter Prozess möglich sein. Dann gibt es das sogenannte Dammbruchargument, also die Befürchtung, dass wir bald schon weitere Delikte einbeziehen. Da sage ich für die SPD ganz klar: Nein, die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe wollen wir nur für die unverjährbaren Taten. Das ist gleichzeitig die Garantie, dass nicht noch weitere Delikte hinzukommen. Wir wollen sie nur für die unverjährbaren Taten. In diesem Ausnahmefall wollen wir die Rechtskraft und die Rechtssicherheit in der Tat durchbrechen und einen zweiten Prozess ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden mit einem Änderungsantrag auch dafür sorgen, dass zivilrechtliche Ansprüche, etwa von Angehörigen, nicht verjähren, Ansprüche, die im Zusammenhang mit einem nicht verjährbaren Verbrechen entstanden sind. Auch das, finde ich, ist eine ganz wichtige Regelung in diesem Zusammenhang. Dann noch ein Satz zu dem Vorwurf, der schon geäußert wurde und vermutlich in der Debatte auch gleich kommt, dass dieses Gesetzesvorhaben durchgepeitscht würde und wir es nicht intensiv diskutieren würden. Das stimmt alles nicht. Die ganze Wahlperiode hindurch haben wir dieses Thema bearbeitet und diskutiert. Es gibt eine, ich möchte schon fast sagen, jahrzehntelange Diskussion in der Rechtswissenschaft, aber auch darüber hinaus zu diesem Thema. Also: Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass wir hier ein komplexes Thema schnell durchpeitschen oder was auch immer uns da vorgeworfen wird. Nein, wir werden es gründlich beraten und machen eine Anhörung; die wird spannend. Ich freue mich darauf, und ich freue mich auch auf die Gesetzesberatung. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Roman Reusch von der AfD-Fraktion. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt!“, möchte ich den Koalitionären zurufen. Dieser Gesetzentwurf kommt spät. Man hätte ihn an sich schon vor rund einem Vierteljahrhundert haben müssen. Ungefähr so lange ist es nämlich her, dass der BGH das PCR-Verfahren im Rahmen der DNA-Untersuchung als zulässiges Beweismittel anerkannt hat. Seitdem haben wir diese Fälle – ich hatte so etwas auch in meinem Dezernat –, also dass man Taten, bei denen es einen Freispruch gegeben hat, an sich mit der neuen Technik aufklären könnte, vielleicht sogar schon aufgeklärt hat, aber gleichwohl nicht an den Täter herankommt, weil das Gesetz es nicht zulässt – ein unerträglicher Zustand, insbesondere für die Angehörigen, auch wenn es nicht alle Tage vorkommt. Ich kann mich hier Herrn Dr. Fechner weitgehend anschließen. Der einzige Vorbehalt, den ich vielleicht noch habe, betrifft die Frage, ob man die Regelung wirklich so eng fassen muss. In der gegenwärtigen Fassung ist sie auch nicht auf bestimmte Taten beschränkt, sondern gilt letztlich ohne Einschränkung. Ob es verfassungsrechtlich geboten ist, das auf Mord zu beschränken, werden wir sehen. Ich bin gespannt auf die Anhörung. Dem Grunde nach kann ich aber jetzt schon sagen: Wir werden dieses Vorhaben befürworten. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, auch für die Einsparung der Redezeit. – Das Wort geht an Dr. Jan-Marco Luczak von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es war an einem grauen Novemberabend im Jahr 1981, da wurde die 17-jährige Schülerin Frederike von Möhlmann auf dem Weg nach Hause abgefangen. Sie wurde entführt, vergewaltigt und mit vielen Messerstichen getötet – ein wirklich abscheuliches Verbrechen. Dann wurde ein Mann als ihr Mörder festgenommen. Er wurde verurteilt. Der Fall ging bis zum Bundesgerichtshof. Wegen einer unklaren Beweislage verwies dieser das Verfahren zurück. Am Ende wurde dieser Mann freigesprochen. Die Beweise waren nicht eindeutig genug. 30 Jahre später konnte mit einer neuen DNA-Analyse – die gab es 1981 noch nicht – festgestellt werden, dass der freigesprochene Mann am Tatort war und dass er damit höchstwahrscheinlich auch der Täter war. Dieser Mann, dieser mutmaßliche Täter, ist heute immer noch auf freiem Fuß. In einem zivilrechtlichen Verfahren hielt das Gericht fest, dass er der Mörder war; aber das geltende Recht erlaubt nicht, auch sein Strafverfahren wieder aufzurollen, obwohl es diese neuen Beweise gibt. Das ist aus Sicht der Union ein wirklich unhaltbarer Zustand. ({0}) Das ist auch für den Vater von Frederike unerträglich. Er hat eine Petition gestartet. Fast 200 000 Menschen haben diese Petition mitgezeichnet. Dem Ziel dieser Petition wollen wir mit unserem Gesetz Rechnung tragen, nämlich indem wir die materielle Gerechtigkeit wiederherstellen. Wir als Union stehen hier an der Seite der Angehörigen. Wir wollen, dass bei schwersten Straftaten wie Mord und Völkermord, die in unserer Rechtsordnung exzeptionelles Unrecht darstellen und deswegen auch zu Recht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe belegt werden, eine Wiederaufnahme von Strafverfahren möglich ist, wenn neue Beweise mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zur Überführung des Täters führen können. Wir machen das nicht leichtfertig. Die Rechtskraft von Urteilen ist ein hohes Gut. Nicht zuletzt ist der Grundsatz in Artikel 103 Absatz 3 unserer Verfassung, dass niemand wegen einer Tat zweimal bestraft werden kann, mit Verfassungsrang ausgestattet. Das ist ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips. Aber zum Rechtsstaatsprinzip gehören auch die materielle Gerechtigkeit und der Rechtsfrieden. Da muss man schon fragen: Ist es wirklich ein Sieg des Rechtsstaats, wenn ein mutmaßlicher Mörder auf freiem Fuß bleibt? Ich glaube, nein. Das Festhalten an einem falschen Urteil kann niemals für Rechtsfrieden sorgen, wenn es sich um solch exzeptionelles Unrecht wie Mord oder Völkermord handelt. ({1}) Es geht darum, zwischen diesen beiden rechtsstaatlichen Prinzipien, zwischen der Rechtskraft eines Urteils sowie dem Rechtsfrieden und der materiellen Gerechtigkeit, einen Ausgleich zu finden. Genau das regelt das heutige Recht schon in § 362 der Strafprozessordnung. Und genau das, was § 362 StPO regelt, entwickeln wir jetzt fort. Wir bleiben in der Systematik und in der Ratio dieser Vorschrift, die im Übrigen das Bundesverfassungsgericht nie beanstandet hat. Und genau deswegen, weil wir in der Systematik bleiben, weil wir in der Ratio bleiben und diese nur fortentwickeln, brauchen wir auch keine Verfassungsänderung. Das ist nicht notwendig. Ich bedaure, dass es das Justizministerium mit großer Beharrlichkeit abgelehnt hat, hier einen Vorschlag zu machen, und bin umso dankbarer, dass wir als Union das jetzt in die eigenen Hände genommen und einen Entwurf entwickelt haben und dass die SPD-Fraktion diesen Entwurf jetzt mit uns gemeinsam einbringt. Meine Damen und Herren, es ist spät in der Legislatur, aber es ist nicht zu spät, der materiellen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Deswegen wünsche ich uns, dass wir dieses Gesetz jetzt schnell und konzentriert miteinander beraten und dass wir es in der nächsten, der letzten Sitzungswoche noch gemeinsam in Kraft setzen können. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Jürgen Martens von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen! In der Tat, Herr Kollege Luczak, die Vorstellung, Jahrzehnte nach einem Verfahren aufgrund geänderter technischer Möglichkeiten dieses noch einmal zu führen und diesmal vielleicht mit einem anderen Ergebnis, mit dem Ergebnis einer Verurteilung zuungunsten des Angeklagten, hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes an sich, weil damit einer materiellen Gerechtigkeit Genüge getan werden kann, die wir uns alle wünschen und die wir vom Rechtsstaat auch erwarten. Aber gleichzeitig müssen wir uns fragen: Ist das so, oder haben wir nicht auch im Rechtsstaat Prinzipien zu beachten, die den Rechtsstaat als solchen erst formen? Der Rechtsstaat ist dadurch Rechtsstaat, dass er eben die Strafverfolgung aus der Hand der Betroffenen, der Opfer und ihrer Angehörigen, nimmt und für den Staat handelt. Das Ziel ist nicht Rache oder Genugtuung. Das Ziel ist die Herstellung eines Rechtsfriedens. Das mag unvollkommen sein, und das ist es in vielen Fällen auch. Gerechtigkeit wird auch nicht immer erreicht. In Zivilverfahren ist es so, dass der Unterlegene im Regelfall davon ausgeht, dass das Urteil ungerecht ist. So wird es in vielen Fällen sein. Mit dieser fehlenden oder schwankenden Gerechtigkeit müssen wir leben, wenn wir ein Rechtsstaat sein wollen, der nicht um der Zweckverfolgung willen arbeitet, sondern sich an Prinzipien hält, an Vorgaben, die er sich selber setzt. ({0}) Deswegen wird ein Rechtsstaat zum Beispiel niemals zur Wahrheitserforschung auf das naheliegende Mittel der Folter zurückgreifen können. Er wird immer die Würde des Menschen beachten, auch wenn etwas anderes vielleicht zweckmäßig wäre. So ist es auch in diesem Fall: Wir haben den Grundsatz des Rechtsfriedens durch ein Urteil, der nach unserer Verfassung nicht infrage gestellt werden kann. Es gibt einzelne Durchbrechungen, ja, aber sie müssen Ausnahmen bleiben. Hier ist die Frage – Herr Kollege Fechner hat es angesprochen –, ob es, wenn wir ein Türchen aufmachen, nicht vielleicht doch später einmal Stück um Stück erweitert wird und so den Rechtsstaat unter den Vorbehalt technischer Möglichkeiten stellt. Sie haben eben bei Herrn Reusch bereits gehört, wie viele da sind, die sich freuen, dieses Türchen möglichst weit aufreißen zu können. ({1}) Wenn ich von Herrn Fechner höre, dass er verspricht, dass die Sozialdemokratie dem nicht zustimmen würde, dann muss ich fragen: Wie lange gilt dieses Versprechen? ({2}) Bis zum 26. September? Oder ist es von gleicher Substanz wie die Zusagen, die Kronzeugenregelung niemals über den Terrorismus hinaus auszuweiten oder die Onlinedurchsuchung auf ganz wenige Tatbestände zu beschränken und, und, und? Wir müssen leider historisch die Erfahrung machen, dass diese Türchen, wenn sie geschaffen werden, auch aufgemacht werden, und das sollten wir verhindern. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorliegend beraten wir über einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, der mit den blumigen Worten „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ daherkommt. Tatsächlich handelt es sich aber um einen schwerwiegenden Angriff auf die grundgesetzliche Ordnung, namentlich auf das Doppelbestrafungsverbot des Artikels 103 Absatz 3 Grundgesetz. Mit dem Grundgesetz wurde im Spannungsfeld zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit die Rechtssicherheit eindeutig höher gewichtet. Auch wenn manche Fälle, die mit Freispruch enden, unsäglich wirken – für einen Freispruch unter Vorbehalt lässt das Grundgesetz keinen Raum. Wo wir schon bei unsäglichen Fällen sind: Es wird solche bedauerlicherweise weiter geben. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Oury Jalloh. Dieser war im Januar 2005 im Polizeigewahrsam verbrannt. Die zuständigen Polizeibeamten wiesen jegliche Verantwortung von sich. Seither wird in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, wie in aller Welt der gefesselte Mann bitte seine Matratze anzünden konnte, so wie von den Polizeibeamten geäußert. „Oury Jalloh – das war Mord“, diese Parole findet man immer wieder, beispielsweise an Hauswänden. Der Bundesgerichtshof hat den Fall nunmehr entschieden und bestätigte eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung. Den Verdacht, dass Polizeibeamte Oury Jalloh misshandelten und dann in Verdeckungsabsicht einen Suizid inszenierten, wird das Land Sachsen-Anhalt nie mehr ausräumen können, da die Ermittlungen eine Tendenz zur Nichtverfolgung polizeilicher Straftaten aufwiesen. Es gäbe unzählige Möglichkeiten, materielle Gerechtigkeit herzustellen, ohne die Axt an das Grundgesetz anzulegen, diese werden allerdings von dieser Koalition schlichtweg ignoriert. So könnten Sie beispielsweise die Justiz endlich ertüchtigen, wie Sie es zu Beginn dieser Legislatur vollmundig angekündigt haben. Im Rahmen dieser Ertüchtigung könnten zusammen mit den Ländern Institutionen eingerichtet werden, die vernünftige Ermittlungen bei möglichen Straftaten seitens Polizeibeamter ermöglichen. Ein solches Vorgehen ist dringend nötig. ({0}) Denn es vergeht gefühlt keine Woche, in der nicht rechtsradikale Chatgruppen in Polizeieinheiten, sogenannte Munitionsverluste oder ein Todesfall unter widersprüchlichen Umständen in Polizeigewahrsam auftreten. Was Sie auch zusammen mit den Ländern tun könnten, ist, Opfer von schweren Gewalttaten neben dem Strafrecht nicht mit den Folgen alleinzulassen und den institutionellen Opferschutz zu stärken. ({1}) So könnten Sie zum Beispiel Ausländern, die in Deutschland Opfer rassistischer oder vorurteilsmotivierter Gewalt werden, ein unbedingtes Bleiberecht in der Bundesrepublik gewähren, wie es meine Fraktion fordert. Die Liste wäre noch lang; aber ich komme zum Schluss. Was Sie hier vorhaben, ist so falsch, dass Sie in der Sache nicht einmal das Bundesministerium der Justiz hinter sich haben. Lassen Sie es bitte. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Canan Bayram von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Angeklagter wird freigesprochen. Jahrzehnte später tauchen Beweise auf. Soll er wegen derselben Tat noch einmal angeklagt werden? Vermutlich würden Angehörige mit Ja antworten; man kann sich das gut vorstellen. Aber Sie und ich, wir haben als Gesetzgeber eine andere Aufgabe. Wir müssen Sorgfalt darauf verwenden, und dazu gehört, aus dem heiklen Gegenstand kein Wahlkampfthema zu machen. Beides ist in Gefahr, wenn zwei Wochen vor Ende der Sitzungen dieser Legislatur ein solcher Gesetzentwurf vorgelegt wird, den das Ministerium nicht vorlegen wollte und bei dem die Koalition zur Debatte in der heutigen Sitzung erst gezwungen werden musste. Ich will mich heute darauf konzentrieren, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, drei Fragen mitzugeben, die wir gerne in der Ausschussberatung diskutieren können, auf die es meines Erachtens ankommt und die Sie beantworten müssen. Die erste Frage: Sind über die im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme vielfach in der Presse behandelten beiden Mordfälle von 1981 – das haben Sie angeführt, Herr Luczak – und 1993 hinaus weitere vergleichbare Fälle bekannt, und wäre Ihr Gesetz, wenn es jetzt durchkäme, wegen des Rückwirkungsverbots auf diese Fälle überhaupt anwendbar? Die zweite Frage: Welche Bedeutung hat neben dem Grundsatz des Artikels 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, der schon von einigen erwähnt wurde, der in der Begründung des Gesetzentwurfs nicht erwähnte Artikel 50 der europäischen Grundrechtecharta, der lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“? Die dritte Frage: Ist der Koalition bekannt, dass die Regelung zur Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten Angeklagter seit Inkrafttreten der Reichs-Strafprozessordnung einzig auf nationalsozialistische Initiative hin im Jahr 1943 auf sämtliche Freisprüche erstreckt wurde? Sie haben hier betont, Herr Fechner, dass Sie für die Ausweitung auf weitere Freisprüche, auf weitere Fälle, nicht zu haben sind; aber dass die Gefahr einer Ausweitung besteht, hat Herr Reusch mit seinem Lob und Applaus für Ihren Gesetzentwurf deutlich gemacht. Die Praxis, die auf Initiative der Nationalsozialisten eingeführt wurde, wurde 1950 in der Bundesrepublik vom Bundestag mit der Strafprozessordnung wieder auf den Ursprungstext zurückgeführt, und dabei sollten wir es belassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Der Kollege Dirk Wiese von der SPD-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll. ({0}) Es folgt deshalb von der CDU/CSU-Fraktion Axel Müller. ({1})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Fall der Frederike von Möhlmann hat mein Kollege Jan-Marco Luczak schon ausführlich geschildert. Aber was ist es denn, wenn in solch einem Fall der Mörder nicht verfolgt werden kann? Was nutzt es uns eigentlich, dass wir dereinst den § 78 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs geschaffen haben, in den wir ausdrücklich reingeschrieben haben, dass Mord nicht verjährt? Was ist dies wert, wenn in einem solchen Fall wie dem geschilderten am Ende doch keine Verurteilung mehr erfolgen kann? Nach dem rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens geht dies nur im Wege der sogenannten Wiederaufnahme. Diese ist schon bei einer Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten erheblich eingeschränkt; aber noch viel mehr ist sie eingeschränkt bei einer Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten. Der einschlägige § 362 der Strafprozessordnung kennt bei Freisprüchen aufgrund gefälschter Urkunden, falscher zugunsten des Angeklagten geleisteter Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten oder aufgrund von Richterunrecht eingeschränkt nur vier Fälle – den wichtigsten bringe ich noch –, bei denen überhaupt eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten erfolgen kann. Der Wichtigste ist, dass den Täter sein Gewissen plagt und er am Ende durch ein glaubhaftes Geständnis die Tat gesteht. Den Grund dafür haben wir in den vorangegangenen Reden schon mehrfach genannt bekommen, ein alter römischer Rechtsgrundsatz, „ne bis in idem“, verfasst in Artikel 103 Absatz 3 unseres Grundgesetzes: Niemand darf ein zweites Mal wegen der gleichen Tat vor Gericht gestellt und bestraft werden. Materielle Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden sind die maßgeblichen, wesentlichen Gründe dafür. Aber § 362 StPO hat die Möglichkeit geschaffen, in Fällen des schreienden materiellen Unrechts – ich habe sie geschildert – doch zu einer Wiederaufnahme zu kommen. Das genau machen wir: In einem sehr begrenzten Anwendungsfeld fügen wir eine einzige Nummer hinzu. Herr Professor Martens – er ist nicht mehr da, aber ich will es trotzdem sagen –, das bleibt dann eine Ausnahme. Was mir genauso wichtig erscheint: Es wurde kritisiert, das Ministerium habe diesen Gesetzentwurf nicht vorgelegt. Ja, endlich einmal kommen wir dem nach, was uns immer als Defizit vorgehalten wird: Wir als Parlamentarier bringen aus unserer Mitte heraus – maßgeblich initiiert durch unsere Fraktion, dem sich unser Koalitionspartner angeschlossen hat – ({0}) einen Gesetzentwurf ein. ({1}) Das halte ich für einen ganz wichtigen Markstein. Da das Ministerium sich unserem Entwurf bislang nicht angeschlossen hat, bedarf es auch noch einiger Überzeugungsarbeit, aber die werden wir leisten. Zu guter Letzt möchte ich sagen: Es erscheint mir sehr wichtig für die Hinterbliebenen – beispielsweise im Fall Möhlmann hat der Vater des Mädchens immer an den Rechtsstaat geglaubt, hat sich niemals auf irgendwelche Abwege begeben –, dass es uns in den folgenden Wochen nach intensiven Beratungen gelingt, zum Beispiel diesem Mädchen und seinen Hinterbliebenen und auch anderen Opfern von Straftaten endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um am Ende nicht sagen zu müssen: Die Mörder sind unter uns. Ich bedanke mich. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte und der Sitzungswoche spricht Alexander Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1993 wurde mein Wahlkreis von einem schlimmen Verbrechen erschüttert. Ein 13-jähriges Mädchen wurde zwei Tage lange vermisst, und dann wurde es ermordet vorgefunden, versenkt in einer Jauchegrube. Es war ein Verbrechen, das die Region tief erschüttert hat, einen ganzen Ort durchgeschüttelt hat; dieser Zustand hält im Grunde noch bis heute an. Gerade wegen der Situation, in der das Mädchen vorgefunden worden ist, war die DNA-Situation katastrophal. Sie alle kennen den Satz: Mord verjährt nicht. So ist es auch in diesem Fall. Über die Jahre hinweg haben die Staatsanwaltschaft und die Polizei immer wieder Versuche unternommen, neue Ermittlungsschritte einzuleiten, zuletzt erst am Anfang dieses Jahres, nach 27 Jahren. Es gab Durchsuchungen und die Anordnung von Untersuchungshaft eines Tatverdächtigen. Der Grund war vor allem dem geschuldet, dass die heutigen DNA-Analysen weitaus genauer sind und weitaus mehr können, als das in den 90er-Jahren noch der Fall war. Wenn man mit Ermittlern spricht, dann sagen sie, dass sie sich sicher sind, dass sie den Täter eines Tages finden werden. Genau diese positive Entwicklung bringt uns zu dem, was wir heute in diesem Gesetzentwurf diskutieren. Es ist der Grundsatz „ne bis in idem“, bei dem wir weitere Ausnahmen formulieren wollen, der Grundsatz des sogenannten Strafklageverbrauchs. Es ist angeklungen: Jemand, der schon einmal wegen eines Verbrechens angeklagt war, dann aber rechtskräftig freigesprochen wurde, darf wegen derselben Tat nicht mehr angeklagt werden. Es gibt vielschichtige Gründe, warum es diesen Grundsatz gibt. Zum einen ist es so, dass der Rechtsstaat natürlich auch für einen früheren Angeklagten Vertrauen und Rechtssicherheit bieten muss; eine Angelegenheit muss abgeschlossen sein. Es geht auch darum, dass es am Ende keinen Willkürstaat gibt, der so lange anklagt, bis es zu einer Verurteilung kommt. Es ist angeklungen: Die Hürden dafür, dass der Grundsatz durchbrochen werden kann – das gibt es heute schon –, die sind sehr hoch. Genau auf diesem Niveau – quasi mit dem Skalpell – arbeiten wir in diesem Bereich und formulieren mindestens genauso hohe Anforderungen: Es darf sich nur um Mord drehen, um Völkermord, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und es muss dringende Gründe geben, die relativ deutlich ersichtlich machen, dass es am Ende zu einer Verurteilung kommen wird. Dann sind wir bei der anderen Rolle des Rechtsstaats, meine Damen, meine Herren, und das ist vorhin nicht angeklungen. Ein Rechtsstaat muss auch das Unrechtsempfinden der Bevölkerung abbilden können. ({0}) Es geht nämlich, Frau Kollegin – anders als der Kollege Martens vorhin gesagt hat –, sehr wohl um Sühne. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir diesen Entwurf diskutieren können und damit in Sachen Gerechtigkeit einen ganz wichtigen Schritt tun. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})