Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das bestehende Klimaschutzgesetz ist noch keine zwei Jahre alt. Aber das Bundesverfassungsgericht will mehr – mehr Klimaschutz und mehr Generationengerechtigkeit, und das ist auch gut so. Auch die SPD wollte von Beginn an mehr, und eine breite Mehrheit der Menschen in Deutschland will das auch.
Seit über zehn Jahren fordert die SPD ein Klimaschutzgesetz. Sie alle hier im Parlament wissen, wer das nicht wollte und wer dann auch versucht hat, meinen Entwurf zu verwässern.
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Dem hat das Bundesverfassungsgericht eine ganz klare Absage erteilt. Es fordert, die Lasten zwischen den Generationen gerechter zu verteilen und konkrete Ziele für die Zeit ab 2030 zu benennen. Ich kann hier ganz klar sagen: Wir setzen dieses Urteil sehr gerne um. Deshalb habe ich innerhalb weniger Tage ein novelliertes Gesetz vorgelegt – für mehr Klimaschutz, für mehr langfristige Planbarkeit und Verlässlichkeit und vor allem ein Gesetz, das den sozialen Ausgleich organisiert, ohne den wir Klimaschutz nicht erfolgreich werden durchführen können.
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Meine Damen und Herren Abgeordnete, es gab ja Politiker, die nach dem Klimaurteil gesagt haben, man solle das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten. Ich halte das für eine absurde Forderung. Der Kampf gegen den Klimawandel ist das große Thema unserer Zeit – trotz Corona. Es ist auch eines der wichtigen Themen im kommenden Wahlkampf. Es geht jetzt darum, wie wir Klimaschutz am besten erreichen.
Das novellierte Klimaschutzgesetz ist ein Angebot an die junge Generation. Es steckt einen verlässlichen Rahmen für die Zukunft. Wie dieser Rahmen ganz genau gefüllt wird, also mit welchen konkreten Maßnahmen über die hinaus, die wir schon beschlossen haben, das wird natürlich in den kommenden Wochen und Monaten das Topthema sein. Das ist auch gut so. Es geht schließlich um unsere Lebensgrundlagen, die Lebensgrundlagen der jungen Generation und um die wichtigste industriepolitische Aufgabe unserer Zeit.
Wir sehen an den aktuellen Debatten, zum Beispiel um die Aufteilung des CO2-Preises bei den Heizkosten zwischen Mietern und Vermietern, dass es die Menschen interessiert, wie Klimaschutz sozial gerecht organisiert werden kann. Da hilft es nicht – das sage ich hier auch ganz deutlich –, wenn Kollegen aus der Unionsfraktion so tun, als ob Vermieter künftig die Hälfte der Heizkosten für ihre Mieterinnen und Mieter zahlen sollen. Es geht um den CO2-Preis – einen Bruchteil dieser Kosten. Es ist nur gerecht, diesen Aufschlag zumindest hälftig aufzuteilen, weil Mieterinnen und Mieter durch ihr Heizverhalten zwar die CO2-Kosten beeinflussen, aber die Vermieter darüber entscheiden, welche Heizung im Keller steht, was dann eben die CO2-Kosten ausmacht.
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Es geht darum, hier wirklich eine Lenkungswirkung zu entfalten, also die alte Ölheizung endlich rauszuschmeißen und durch neue klimaneutrale Heizsysteme zu ersetzen, so wie das eben im Moment auch von der Bundesregierung unterstützt wird.
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Lassen Sie uns zusammen ambitionierten Klimaschutz machen: mit der großen Mehrheit in unserem Land, mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller demokratischen Parteien und verbunden mit dem sozialen Ausgleich, der dann eben dafür sorgt, dass niemand überfordert wird. Die Beratungen über die Novelle des Klimaschutzgesetzes bieten gute Gelegenheiten dazu. Dafür möchte ich hier ausdrücklich noch mal werben; denn ich finde, das ist jede Anstrengung wert.
Vielen Dank.
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Dr. Rainer Kraft, AfD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Bevor wir den Blick auf die Nachhaltigkeit legen, ein kurzes Wort zum Antrag der FDP bezüglich klimaneutralem Fliegen: Ihr Antrag ist von 2019, und er ist nicht gut gealtert, muss man sagen. In einer Zeit, in der die Lufthansa bereits 24 000 Stellen gestrichen hat und über die Streichung von weiteren 10 000 Stellen nachdenkt, präsentieren Sie einen Antrag, in dem der Deutsche Bundestag das fulminante Wachstum der Luftfahrtbranche mit den damit einhergehenden CO2-Emissionen feststellen soll.
Ja, liebe FDP, in welchem Bunker habt ihr die letzten 15 Monate verbracht, dass euch entgangen ist, dass die Luftfahrtbranche in der größten Krise steckt, seitdem es die Luftfahrt überhaupt gibt? Während also die Menschen um ihre Jobs bangen, wollen Sie, dass wir uns mit dem CO2-Ausstoß gemäß vollkommen überalterten Prognosen beschäftigen. Für diese Taktlosigkeit sollten Sie sich ein ganz kleines bisschen schämen.
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Liebe FDP, ein bisschen sollten Sie auch an Ihren Prioritäten arbeiten. Denn die Aufgabe der Fluglotsen ist es nicht, die CO2-Emissionen von Flugzeugen zu reduzieren, sondern das Flugzeug mitsamt Crew und Passagieren sicher an den Bestimmungsort zu bringen.
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Ganz kurz noch zu den jüngeren Anträgen der Grünen: Liebe Grüne, Gendersprache ist Idiotensprache,
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und damit ist hier alles dazu gesagt.
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Nun aber alles zur Nachhaltigkeit. Die Überarbeitung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie doktert an den Symptomen herum, ohne das zentrale Problem zu adressieren. Dieses zentrale Problem ist die falsche Schwerpunktsetzung der deutschen Regierung in Bezug auf die originären Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030. Obwohl das Hauptanliegen der Agenda 2030 die Bekämpfung von Armut weltweit ist, setzt diese Bundesregierung weiter einseitig auf die Ziele Klimaschutz und die Reduzierung vermeintlicher Ungleichheit.
Für Ihren Beitrag zum sogenannten Klimaschutz sind Sie bereit, andere, im Gegensatz dazu ganz reale Nachhaltigkeitsziele und Indikatoren zu vernachlässigen. Für den Anstieg der sogenannten erneuerbaren Energien nehmen Sie die Abholzung von Wäldern und die Industrialisierung von Flächen in Kauf. Aber damit widersprechen Sie dem Nachhaltigkeitsziel 15: Nachhaltigkeit in Ökosystemen an Land sowie nachhaltige Waldbewirtschaftung. Das Abholzen von Wald, um eine Windenergieanlage hineinzustellen, ist keine nachhaltige Waldbewirtschaftung.
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Sie widersprechen auch dem Nachhaltigkeitsziel 2: Bekämpfung des weltweiten Hungers, indem Sie Agrarflächen für Windenergieanlagen und Solarfarmen opfern. Ihre ganze angeblich nachhaltige Energiepolitik ist der größte Feind des Nachhaltigkeitsziels 7. Sie sorgt nicht für preiswerte, zuverlässige und saubere Energie, sondern für eine Zukunft, in der Strom zum Luxusgut wird, das nur unzuverlässig und, wenn, nur zu horrenden Preisen zur Verfügung steht. Und durch die Abschaltung von Kernkraftwerken wird diese Energie auch noch schmutziger.
Es geht weiter mit den Widersprüchen. Und es wird immer abstruser, wie Ihre Politik die Nachhaltigkeitsziele konterkariert. Sie sagen, Sie strebten eine Senkung des Primärenergiebedarfes an. Aber gleichzeitig wollen Sie eine komplett strombasierte Power-to-X-Wirtschaft etablieren. Die dabei wegen der auftretenden massiven energetischen Umwandlungsverluste erforderliche Energie müssen Sie aber am Anfang erst einmal erzeugen. Das heißt, Ihr Primärenergiebedarf geht erst mal drastisch nach oben; er schießt Ihnen durch die Decke. Eine widersprüchlichere Politik hat man selten gesehen, und sie gehört im Herbst einfach abgewählt.
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Ihren Kampf gegen die angebliche Ungleichheit führen Sie mit den immer gleichen sozialistischen Vorschlaghammermethoden. Wer erfolgreich oder fleißig ist, effizient oder produktiv, der bekommt Steuern, Abgaben und Bürokratie übergebraten, bis sich alles dem bekannten Gerechtigkeitsbegriff der SPD unterordnet: Weniger für alle, oder wir machen alle gleich – gleich arm.
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Mit der Verbesserung der Lebensumstände am unteren Ende haben Ihre Maßnahmen wenig zu tun. Ganz im Gegenteil: Sie belasten die unteren Einkommen durch Ihre Energie-, Steuer- und Finanzpolitik. Damit erschweren Sie es den Menschen, ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben in Würde aus eigener Kraft und ohne Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen führen zu können.
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Aber ganz offensichtlich ist es Ihre Absicht, den Menschen durch hohe Steuern und Abgaben erst möglichst viel wegzunehmen, um bei ihnen dann mit kleinen Brosamen wieder Wohlwollen, Wohlverhalten und damit Wählerstimmen einzukaufen.
Zuletzt etwas zu Ihren leicht absurden Indikatoren der Nachhaltigkeitsstrategie, zum Beispiel der Erfassung von Straftaten, die sinken sollen. Na ja, das wäre wünschenswert, wenn die Anzahl von Straftaten im Lande sinken würde, nicht deren Erfassung, oder – besser noch – wenn die Aufklärungsquote in Deutschland steigen würde. Ja, das wäre ein Schritt hin zu Rechtsstaatlichkeit. Aber die bloße Erfassung ist das nicht; denn die bloße Erfassung ist nur ein bürokratischer Verwaltungsakt.
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Oder wollen wir Verhältnisse haben wie zum Beispiel in Mexiko? Dort werden Straftaten fleißig erfasst, aber nur zu circa 2 Prozent aufgeklärt. In Mexiko herrscht also de facto Rechtlosigkeit. Aber schön, dass sie dort alles erfasst haben.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die überarbeitete deutsche Nachhaltigkeitsstrategie keine Kohärenz mit der derzeit ausgeübten Politik in Deutschland aufweist. Ihre Politik führt zu Armut, zu Deindustrialisierung, zu massivem Flächenverbrauch, zu Energieknappheit und zu Umweltzerstörung. Was immer Gutes in der Agenda 2030 steckt, wird von Ihrer Politik zunichte gemacht, und übrig bleibt am Ende nur Ihr ökosozialistischer Einheitsbrei.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Legislaturperiode haben wir beim Klimaschutz einiges erreicht, und wir setzen diese Klimaschutzpolitik ambitioniert fort. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Instrumente unserer Klimaschutzpolitik infrage gestellt. Allen Unkenrufen zum Trotz haben wir das 2020-Ziel jetzt auch erreicht, und zwar nicht nur wegen Corona, wie es immer behauptet wird, sondern vor allen Dingen wegen unserer Instrumente.
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Nur im Verkehrssektor merkt man die Coronapandemie, weil sich die Mobilität eingeschränkt hat. Aber in allen anderen Bereichen haben wir die Ziele wegen unserer Instrumente erreicht.
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Wir nehmen den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts jetzt auch ambitioniert an. Was war die Kritik? Dass wir bis 2030 die Ziele noch ambitionierter formulieren, auch wegen der Frage der Generationengerechtigkeit, und dass wir für die Zeit danach die Schritte für das Erreichen von Klimaneutralität genau beschreiben.
Wie nehmen wir diesen Auftrag jetzt an? Indem wir das Klimaschutzgesetz ambitioniert weiterentwickeln. Und das möchte ich an dieser Stelle auch mal sagen, Frau Ministerin: Auch die Unionsfraktion ist für diese ambitionierte Weiterentwicklung, und ich würde mich freuen, wenn Sie in der Öffentlichkeit nicht immer anderes behaupten, Frau Ministerin.
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Wir werden unser Klimaziel, bis 2030 55 Prozent weniger CO2 auszustoßen, jetzt auf 65 Prozent erhöhen, und wir nehmen uns vor, die Klimaneutralität schon früher, 2045, zu erreichen. Das ist sehr, sehr ambitioniert. Und da muss ich mich schon wundern, wenn die Grünen, die bis vor Kurzem 65 Prozent gefordert haben, jetzt nach dem Motto „höher, schneller, weiter“ auf einmal 70 Prozent fordern. Das ist nämlich unrealistisch, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
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Wir machen Klimaschutzpolitik mit Augenmaß, nicht nur aus der Sicht der Umwelt- und Klimapolitik, sondern wir betrachten auch die Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf die Arbeitsplätze, auf die soziale Frage, und wir müssen auch die Akzeptanz der Menschen behalten. Wir merken, dass das Thema Klimawandel in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Menschen spüren die Folgen für Mensch, Tier, Natur. Die Übersterblichkeit hat in den Hitzesommern zugenommen. Wir merken es an den Wäldern, wir merken es an der Trockenheit, in der Landwirtschaft. Und deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Klimapolitik ambitioniert fortsetzen.
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Wir machen das im europäischen und internationalen Rahmen. Es war nämlich Angela Merkel, die auf europäischer Ebene durchgesetzt hat, dass die anderen EU-Staaten auch mal mitziehen und das EU-Ziel von 40 auf 55 Prozent erhöht wird; denn alleine, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir unsere Klimaziele nämlich nicht erreichen. Wir brauchen auch die anderen EU-Staaten; wir brauchen auch die anderen Staaten der Welt. Wir müssen auch die Entwicklungs- und Schwellenländer dazu bringen, ihre Wirtschaft von Anfang an klimafreundlich aufzubauen. Das ist unsere Politik! Wir machen Klimaschutz nicht mit der nationalen Brille, sondern wir haben den Weitblick, auch auf Europa und die internationale Ebene, meine Damen und Herren.
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Dann muss ich mich als Nächstes noch mal über die Grünen wundern. Sie sagen, ja, die Klimaziele sind jetzt festgelegt worden, aber bei den Maßnahmen würden wir uns wegducken und gar nichts machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 80 Milliarden Euro in ein Maßnahmenprogramm und in ein Konjunkturpaket gesteckt, mit dem wir auf Klima- und Umweltinnovationen setzen, das in allen Bereichen Anreize schafft – das ist unser Motto. Dann zu behaupten, dass wir keine Maßnahmen auf den Weg bringen, ist schlicht falsch. Das muss man hier im Hohen Haus auch mal ansprechen.
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Jetzt komme ich zu den Maßnahmen. Wir nehmen in allen Bereichen die Bürgerinnen und Bürger mit. Wir gestalten den Umstieg im Bereich der Industrie. Wir wollen die Wasserstoffstrategie voranbringen, um die Dekarbonisierung auch in der Industrie durchzusetzen. Wir nehmen, wie gesagt, aber auch die Bürger mit: Wir fördern den Umstieg auf das Elektroauto. Wir haben ein umfassendes Heizungsaustauschprogramm auf den Weg gebracht, das Bundesprogramm zur Förderung effizienter Gebäude; die Antragstellungen haben sich verdoppelt, verdreifacht,
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ein Riesenerfolg. Das gilt es hier mal anzusprechen.
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Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch etwas zur Bepreisung sagen. Wir haben drei Instrumente: das Klimaschutzgesetz mit einem Monitoringmechanismus, das Maßnahmenprogramm, und das Dritte ist die Bepreisung. Wir wollen eine moderate Bepreisung, und wir wollen in den Anfangsjahren die Menschen auch dabei unterstützen, umzusteigen. Die Grünen wollen den Preisanstieg früher und höher, und in Wahrheit wollen sie auch noch viel mehr, als sie angesprochen haben.
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Aber jetzt kommt der entscheidende Unterschied: Die Grünen wollen on top das Verbot des Verbrennungsmotors, das Verbot der Ölheizung; sie wollen Ordnungsrecht. Und die Wahrheit ist: Das macht dann alles noch teurer!
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Die Alternative ist dann CO2-Bepreisung – moderat. CO2 ist die neue Währung. CO2-Bepreisung ist ein Gamechanger, aber moderat. Gleichzeitig wollen wir die Menschen entlasten, aber nicht mit dem Energiegeld, wofür man extra eine Behörde aufbauen muss, um dann monatlich 8,30 Euro zu verteilen, was technisch gar nicht geht. Vielmehr wollen wir ganz gezielte Entlastungen, wir müssen diesen Strompreis senken.
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Und das machen wir jetzt; wir senken die EEG-Umlage.
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Wir wollen mit der Erhöhung der Pendlerpauschale die Bürgerinnen und Bürger im ländlichen Raum mitnehmen.
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Wir haben das Wohngeld erhöht, und wir investieren in den Umstieg auf alternative Technologien. Wir setzen auf Innovation und Fortschritt. Wir wollen Begeisterung und nicht Askese. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Vielen Dank.
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Dr. Lukas Köhler, FDP, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ziel des Klimaschutzes ist relativ klar und offensichtlich, und zumindest die meisten Fraktionen dieses Hauses haben sich darauf committet: das 1,5-Grad-Ziel.
Die Neufassung dieses Klimaschutzgesetzes ist aber nicht aufgrund dieser Zielsetzung vorgenommen worden, sondern aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Das muss man sich schon noch mal näher angucken. Frau Schulze, Sie habe es gerade geschafft, leider nichts zum Gesetz zu sagen, aber den Punkt, den das Bundesverfassungsgerichtsurteil aufgemacht hat, falsch aufzugreifen. Sie haben über die konkreten Ziele gesprochen; aber das Bundesverfassungsgericht verpflichtet uns vor allen Dingen, einen Pfad aufzuzeigen, wie wir die Freiheit kommender Generationen schützen. Und das leistet dieses Gesetz nicht, und das ist eigentlich ein Skandal.
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Ich möchte Ihnen auch sagen, warum das so ist. Sie haben in dieser Neufassung vor allen Dingen für die Zeit nach 2030 den Auftrag, diesen Pfad fortzuschreiben. Was Sie jetzt gemacht haben, ist, jährliche Ziele festzulegen. Ich habe mir das mal näher angeguckt: Sie haben von 2032 bis 2034 eine Emissionsminderung von 2 Prozent festgeschrieben, von 2034 bis 2035 3 Prozent, von 2036 bis 2038 wieder 2 Prozent, 2038 bis 2039 wieder 3 Prozent. Beim Betrachten der Jahreszahlen stellt man sich schon die Frage: Hat das jemand gewürfelt? Wie kommen Sie denn darauf, exakt vorgeben zu können, in welchem Jahr was passiert? Fällt einmal ein Stahlwerk aus dem CO2-Ausstoß raus, wird ein Stahlwerk direkt reduziert, dann gibt es sofort einen massiven Sprung in Ihren Jahreszahlen. Es ist doch absurd, zu denken, die Politik heute könnte schon wissen, welche Technologie in 10, 15 Jahren die richtige ist, welche funktioniert hat, wo wir Dinge erreicht haben. Das ist doch Wahnsinn!
Und dann kommen Sie auf die Idee, zu sagen: Na ja, neben diesen Jahressenkungszahlen, die wir vorgeben wollen, haben wir noch Sektorziele. Wenn der Ausfall des Stahlwerks dafür gesorgt hat, dass wir den CO2-Ausstoß meinetwegen im Jahr 2034 – ich weiß es nicht – massiv gesenkt haben, kann es trotzdem sein, dass der Verkehrssektor in diesem Jahr die Reduktion nicht geschafft hat. Dann sind Sie bei Sofortmaßnahmen, und im Gebäudebereich und im Verkehrssektor bedeuten Sofortmaßnahmen ganz harte Einschnitte für Bürgerinnen und Bürger; denn Sofortmaßnahmen, Maßnahmen, die in einem halben Jahr dafür sorgen müssen, dass CO2 reduziert wird, sind zum Beispiel Fahrverbote an Sonntagen oder das Einschränken bei der Heizung. Es kann doch niemand in diesem Hohen Haus wollen, dass wir den Menschen sagen: Ihr dürft in eurer Wohnung nicht wärmer als meinetwegen 20 Grad heizen. – Das kann doch nicht das Ziel eines Sofortprogramms sein! Meine Damen und Herren, das ist doch keine Maßnahme, wie man zu mehr Klimaschutz kommt.
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Dann hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung aufgegeben, vor allen Dingen nicht nur eine eigene Planung vorzulegen, sondern auch dafür zu sorgen, dass wir eine europäisch eingebundene Strategie haben. Was Sie jetzt gemacht haben, ist aber genau das Gegenteil. Sie haben jetzt im Vorgriff, vor den Verhandlungen in Europa, schon festgelegt, dass Sie bis 2030 – darüber hat das Bundesverfassungsgericht gar nicht gesprochen – auf 65 Prozent hochgehen. Das klingt wahlkampfmäßig nach einer Steigerung der Ambitionen, aber es ist tatsächlich eigentlich nur ein Etikettenschwindel; denn im Bereich des Effort Sharing – nur den können Sie ja hier eigentlich regulieren –, also nicht im Bereich des Emissionshandels, sondern in den Bereichen Verkehr und Wärme, wo es Lastenteilung gibt, werden wir höchstwahrscheinlich sowieso auf 65 Prozent hochgehen müssen. Die Bundesregierung muss natürlich ihre Ambitionen steigern; wir waren bereits bei 55 Prozent.
Jetzt haben Sie sich aber – und das ist das Schlimme – die Verhandlungsmasse weggenommen. Sie haben sich der Verhandlungsmöglichkeit auf europäischer Ebene beraubt, mit den Ländern im Osten Europas reden zu können und zu sagen: Ja, Mensch, wenn wir auf, sagen wir mal, 66 Prozent oder auch nur 64 Prozent hochgehen, dann könnt ihr das und das machen. – Das ist weg, das ist vom Tisch, und das ist doch traurig.
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Jetzt haben Sie aber – das ist das Fatale – 2045 als Ziel aufgeschrieben, ohne europäisch zu koordinieren. Was passiert denn 2045, wenn wir dann in Deutschland klimaneutral sind? Was passiert dann? Die Emissionen, die dann noch bis 2050 übrig sind, werden per Wasserbetteffekt über ganz Europa verteilt. Im schlimmsten Fall haben Sie für unseren Klimaschutz richtig viele Kosten aufgerufen, um europäisch nichts, aber auch gar nichts zu erreichen. Das ist doch keine Klimapolitik. Das ist ein Abgesang an Vernunft.
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Meine Damen und Herren, Sie zeigen in diesem Gesetz keinen einzigen Pfad auf, wie Sie das wirklich machen wollen. Sie reden nicht darüber, dass Sie Negativemissionen brauchen. Sie reden nicht darüber, wie Sie schneller europäisch, auch in Deutschland, erneuerbare Energien aufbauen. Sie haben es am Anfang des Jahres noch nicht mal geschafft, das EEG an das neue Ziel der Europäischen Union anzupassen, so wie Sie es in einem eigenen Entschließungsantrag gefordert haben. Sie haben gar nichts erreicht!
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Sie haben ein paar Zahlen aufgeschrieben und sonst nichts für den Klimaschutz getan.
Hätten Sie, wie Sie es als Union auch öfters mal ankündigen, den Emissionshandel ausgeweitet,
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ein klares CO2-Limit eingezogen und einen klaren Senkungspfad für die nächsten Jahren aufgezeigt,
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dann könnte Klimaschutz funktionieren. Was Sie gemacht haben, ist leider nicht mehr als ein netter Wahlkampfversuch. Es ist traurig, dass Sie das als Klimaschutz bezeichnen.
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Nächster Redner ist der Herr Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 40 Jahre lang warnt die Wissenschaft vor den Folgen des menschengemachten Klimawandels, und fast so lange, meine Damen und Herren von Union und SPD, sind Sie in Regierungsverantwortung. Ja, Frau Schulze, das ist das große Thema – ich stimme Ihnen ausdrücklich zu –; aber Sie haben eben viel zu lange die Augen vor diesen Herausforderungen zugekniffen.
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Immer hat eine von Ihnen beiden regiert, und wir sehen jetzt die Resultate.
Obwohl die Fakten lange auf dem Tisch gelegen haben, haben Sie es geschafft, dass Klimapolitik, Klimaschutz jetzt zu einem Schnellschuss werden. Dieser ist klimapolitisch vielfach ineffektiv. Er ist vor allen Dingen teuer für die Bürgerinnen und Bürger, und er ist in seinen Folgen vielfach unsozial. Ohne die vielen jungen Leute, die für Klimaschutz auf die Straße gegangen sind, ohne das Bundesverfassungsgericht wären Sie doch heute auf dem Stand, den Sie damals verabschiedet haben.
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Ich sage mal ganz klar: Sie legen ein Gesetz vor, ein Klimaschutzpaket. Ich kann mich noch sehr gut erinnern: Es wurde doch hier im Haus darüber gejubelt, wie toll das ist. Das wurde doch hochgejubelt, und zwar von allen. Dann kommt das Verfassungsgericht und kassiert das. Jetzt sind Sie dankbar dafür, und jetzt können Sie was Neues machen. Ich frage mich: Warum haben Sie das nicht gleich gemacht?
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Jetzt auf einmal höre ich von Frau Weisgerber: Wir sind ambitioniert. – Ja, warum waren Sie denn nicht vorher ambitioniert? Das wäre doch dringend notwendig gewesen. Es gibt doch niemanden mit Verstand, der die dringende Notwendigkeit einer Politik, die den Anstieg der globalen Erwärmung auf höchstens 1,5 Grad begrenzt, leugnet. Aber es ist doch absurd, deshalb vor allen Dingen an der Preisschraube zu drehen, um das Klima zu retten.
Was tun Sie denn wirklich für Nahverkehr und Bahn? Viel zu wenig! Was tun Sie, um die Güter weg von den Lkws auf der Straße hin zur Schiene zu bringen, meine Damen und Herren? Was tun Sie, um etwas daran zu ändern, dass die großen Konzerne Produkte herstellen, die schnell kaputtgehen? Was tun Sie dagegen, dass Produkte fünfmal um den Globus verschifft werden, oder eben auch dagegen, dass Kurzstreckenflüge überflüssig werden? An den Strukturen – das ist mein Kernvorwurf – ändern Sie so gut wie nichts. Dafür greifen Sie den Bürgerinnen und Bürger ins Portemonnaie. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
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Sie haben die letzten Jahre verpennt. Jetzt betreiben Sie eine Klimapolitik auf Kosten der Pendler, der Familien und der ganz normalen Leute. Frau Schulze, Sie haben angekündigt: Wir wollen die Lasten gerecht verteilen. – Dann kann ich nur vorschlagen: Nehmen Sie ausdrücklich unsere Vorschläge in den Beratungen auf! Dann kann das wirklich was werden.
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Sie verweigern sich, die großen Klimasünder in die Pflicht zu nehmen.
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Sie haben versprochen, die Menschen mit Ihrem Klimapaket zu entlasten. Aber die Menschen werden nicht entlastet; sie werden belastet. Mieterinnen und Mieter, Pendler, Familien bezahlen die Klimapolitik. Seit Jahresbeginn zahlen die Menschen für Sprit und Heizung einen satten Aufpreis. Ich meine, Sie wissen doch: In dem Benzinpreis von 1,55 Euro sind 90,7 Cent Steuern und Abgaben enthalten. Dazu kommt noch die Kfz-Steuer. Und das reicht Ihnen nicht?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Wochenende beginnt die Fußballeuropameisterschaft. In einer Disziplin sind wir schon Europameister: bei den Strompreisen. – Sie sind nirgendwo so hoch wie bei uns. Das ist der Titel, den sich Peter Altmaier verdient hat; das ist sein Pokal. Deutschland ist Europameister bei den Strompreisen.
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4,7 Milliarden Euro der Verbraucher haben Sie zu Jahresbeginn in die EEG-Umlage gepumpt. Aber die Strompreise sind eben nicht gesunken. Stabilisierung ist keine Senkung. Ihr EEG-Gesetz ist teurer Murks, meine Damen und Herren. Wieder kündigen Sie auch heute nur an. Was ist denn mit den Heizkosten? Ich meine, dieses Thema ist doch für jeden transparent gewesen. Sollen das jetzt wirklich die 60 Prozent der Haushalte bezahlen, die keine Wahl haben, womit sie heizen? Deren steigende Kosten will die Union völlig auf die Mieterinnen und Mieter übertragen. Das ist wirklich nicht in Ordnung, und auch das kriegen Sie in Ihrer Koalition nicht hin.
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Das ist Lobbyismus und nichts anderes.
Strom, Heizung, Sprit, sie agieren als Preistreiber, der die Löhne und Renten der Menschen auffrisst, meine Damen und Herren, und dem Klima leider überhaupt nicht nutzt. Wie nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger mit? Frau Weisgerber hat es eben gesagt: Das ist Alibipolitik, das ist Abzocke als Klimaschutz.
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Schaffen Sie Alternativen für die Leute!
Was sagen Sie denn den Menschen in meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern? Was sagen Sie der Krankenschwester, die eine Ölheizung hat und einen Verbrenner fährt? Was sagen Sie der? Sagen Sie der, sie muss einfach mehr bezahlen? Das genau kann nicht sein.
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Sie haben doch in Ihrer Regierungszeit 6 500 Kilometer Bahnstrecke stillgelegt. Das müsste endlich mal anders sein. Es ist doch real so, dass in Berlin alle Hecken zertreten sind, weil Sie sich in den letzten Tagen immer wieder in die Büsche geschlagen haben. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
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Klimapolitik wird nur dann erfolgreich sein, wenn Sie gesellschaftliche Mehrheiten auch bei denen, die entlastet werden müssen, bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Linke haben einen konkreten Plan.
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Bitte nehmen Sie möglichst viel davon in den Beratungen auf. Dafür braucht es vor allen Dingen Strukturreformen und keine Moral- und Preiskeule. Das hilft. Wir brauchen einen Klimawandel,
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und dafür ein gesellschaftliches Klima, dass dieser möglich wird.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimaneutralität ist das wichtigste Zukunftsprojekt unserer Zeit. Sie ist im wörtlichen Sinne überlebenswichtig. Sie ist zentral für alle Lebensbereiche: für unseren Wohlstand, für zukunftsfähige Arbeitsplätze, für die Freiheit zukünftiger Generationen und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
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Sie haben uns ja ein neues Klimaschutzgesetz vorgelegt. Ja, dieses Gesetz könnte und sollte in den Zielen noch ambitionierter sein. Und: Ja, dieses Gesetz ist wieder mal nicht das Ergebnis gestaltender Politik, sondern wurde vom Bundesverfassungsgericht erzwungen. – Was ich Ihnen aber wirklich vorwerfe, ist, dass Sie einmal mehr höhere Ziele beschließen, ohne die dafür notwendigen Maßnahmen ausreichend mitzuliefern.
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Wissen Sie, Klimaschutz fällt halt nicht einfach vom Himmel, sondern Klimaschutz muss man mit konkreten Gesetzen und Vorschlägen machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben das gleiche Scharmützel, das wir seit Jahren kennen: Die SPD will keinen höheren CO2-Preis, die Union blockiert beim Ausbau der erneuerbaren Energien und bei einem vernünftigen sozialen Ausgleich. Aber, ehrlich gesagt, ich denke, von Ihnen hätte gar niemand ein ambitioniertes Sofortprogramm erwartet. Dieses Versagen war von der Öffentlichkeit längst eingepreist.
Aber was ich Ihnen von der SPD und ganz besonders Ihrem Kanzlerkandidaten vorwerfe, ist das, was Sie in den letzten Wochen abgezogen haben. Das hat noch mal eine ganz andere Qualität. Sie haben sich entschlossen, bewusst gegen eine ambitionierte Klimaschutzpolitik, die Sie vor zwei Wochen selbst noch gefordert haben, zu Felde zu ziehen. Das ist angesichts der Herausforderungen mehr als armselig.
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Liebe Union, statt eine Debatte über den richtigen Weg zu führen und eigene Vorschläge zu bringen, versuchen Sie, diese Debatte zu zerstören.
Liebe SPD, statt sich um die berechtigten Sorgen der Menschen im Übergang und um einen wirksamen sozialen Ausgleich zu kümmern, schürt euer Kanzlerkandidat Olaf Scholz ausgerechnet gemeinsam mit Andi Scheuer – dass euch das nicht selber peinlich ist – für eine „Bild“-Schlagzeile Ressentiments um Benzinnot.
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Die Bundeskanzlerin macht sich ja immer Sorgen über die gesellschaftlichen Mehrheiten beim Thema Klimaschutz. Genau diese gesellschaftlichen Mehrheiten, die es im Moment gerade gibt, versuchen Sie zu untergraben. Sie stellen Ihre kurzfristigen Parteitaktiken und Ihren Wahlkampf über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und über das Wohl des Landes. Das ist bei dieser historischen Aufgabe unverantwortlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die gigantische Aufgabe, die vor uns liegt, nicht mit Poesiealbumsprüchen und einem Zickzackkurs à la Armin Laschet oder einseitigen Verkürzungen à la Olaf Scholz bewältigen. Sie können das ja noch einmal nachlesen, zum Beispiel gestern beim Rat für Nachhaltige Entwicklung und bei der Leopoldina: Es braucht eine CO2-Bepreisung und kluges Ordnungsrecht und eine Förderpolitik und eine offensive Investitionspolitik.
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Wir brauchen eine Offensive für erneuerbare Energien, und wir müssen schneller raus aus der Kohle. Wir müssen Bahn, Bus und Fahrrad ausbauen, und wir müssen so schnell wie möglich raus aus dem Verbrennungsmotor.
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Das alles sind Instrumente und Maßnahmen, die ineinandergreifen. Um die Klimaschutzziele zu erreichen, können wir keine Wunschliste machen, aus der man sich raussucht, was einem gerade ideologisch oder wahlkampftaktisch in den Kram passt. Hören Sie endlich auf, das eine gegen das andere auszuspielen. Klimaschutz erfordert jetzt aufgrund des jahrelangen Nichthandelns, dass wir in allen Bereichen und mit allen Instrumenten handeln.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, so unverantwortlich Ihr Handeln ist: Die vielen Fragen der Menschen in unserem Land sind es nicht. Wir haben wahnsinnig viel Zeit verloren beim Klimaschutz. Umso größer sind jetzt die Herausforderung und der Zeitdruck. Da gibt es berechtigte Sorgen.
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Die Beschäftigten der Autoindustrie sorgen sich um ihre Arbeitsplätze, Menschen auf dem Land um ihre Mobilität, Mieterinnen und Mieter über weiter steigende Mieten.
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Genau dafür machen wir konkrete Vorschläge. Unser Ziel ist es, mit dem Energiegeld vor allem Menschen mit geringerem Einkommen zu entlasten. Während Sie öffentlich polemisieren, kümmern wir uns um den sozialen Ausgleich.
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Unser Ziel ist, mit Klimazuschüssen Geringverdiener bei der Anschaffung eines emissionsfreien Autos oder einer Wärmepumpe zu unterstützen; Sie hingegen verunsichern Pendlerinnen und Pendler. Unser Ziel ist, dass die Eigentümer den CO2-Anteil der Heizkosten tragen statt die Mieter/-innen.
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Die können nämlich die Art der Heizung nicht auswählen; das kann der Vermieter machen. Unser Ziel ist eine aktive Industriepolitik und Qualifizierung für die Arbeitsplätze von morgen. Und: Wir wollen ein sozial gerechteres Land mit höherem Mindestlohn, mit starken Gewerkschaften und mit guten Löhnen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf dem Weg zur Klimaneutralität müssen wir als Gesellschaft über uns hinauswachsen. Das macht Führung aus. Genau diese Führung verweigern Sie, verweigern Armin Laschet und Olaf Scholz. Die Richtlinienkompetenz beim Klimaschutz haben Sie doch längst abgegeben. Es wird Zeit, dass Schwarz-Rot insgesamt seine Richtlinienkompetenz abgibt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ganz spannend, die Reden von den unterschiedlichsten Fraktionen zu hören. In der Opposition ist das auch immer alles ganz, ganz einfach. Aber hier zu sagen, es sei nichts geschehen, ist schon, finde ich, unredlich.
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Meine Fraktion hat über zehn Jahre dafür gekämpft, dass Klimaschutz endlich verbindlich wird. Ich weiß noch sehr genau, wie ich mit Armin Laschet verhandelt habe. Der Begriff des Klimaschutzgesetzes durfte nicht in den Koalitionsvertrag; Zielvorgabe war lediglich ein Gesetz zur Erhaltung der Ziele. Drei Jahre später reden wir alle über das Klimaschutzgesetz. Der UN-Generalsekretär hat vor wenigen Monaten von dieser Stelle aus gesagt: Das Klimaschutzgesetz, das die Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht hat, ist international vorbildhaft. – Daran müssen Sie sich messen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dass wir jetzt über den Weg streiten, das ist eben Politik. Und es ist das Ziel des Klimaschutzgesetzes, dass wir uns jedes Jahr messen lassen, ob wir Ziele erreicht haben und nicht erreicht haben. Herr Köhler, natürlich gibt es ein Monitoring, was die unterschiedlichen Entwicklungen letztlich mit aufgreift. Das Entscheidende ist aber, dass sich keine Bundesregierung, die nach uns kommt, in dem Zeitraum bis 2045 wegducken kann. Klimaschutz ist verbindlich, ist Gesetz, und das ist historisch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Über den richtigen Weg muss man streiten. Die Politik hat im Wesentlichen drei Instrumente.
Erstens. Sie kann Regeln geben. Das ist das Ordnungsrecht. Diese Regeln gelten für alle.
Zweitens haben wir die Förderung.
Drittens haben wir die Bepreisung. Die Kollegin Weisgerber hat es eben dargestellt: Wir haben das größte Konjunkturprogramm in der Bundesrepublik Deutschland aufgelegt, etwas, was vor allem auch an dem System der Nachhaltigkeit orientiert ist. Das ist Fördern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Im Übrigen, das Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht das Klimaschutzgesetz und die Zielsetzung 2030 kritisiert. Das machen wir, weil die Europäische Union ambitionierter sein will und wir auch in Vorleistung treten müssen. Das ist auch eine Verdrehung der Tatsachen, die Sie hier gerade vornehmen.
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Wenn die Grünen, Herr Kollege Hofreiter, dann suggerieren, dass die Erhöhung des CO2-Preises die Erreichung der Klimaschutzziele und die ambitionierteren Ziele tatsächlich sicherstellen würden, dann ist das in der Tat ein richtiger Dissens zwischen uns. Denn noch vor anderthalb Jahren haben Sie, Herr Hofreiter – damals haben CDU/CSU, SPD und Grüne sehr sorgsam geguckt, wie stark ein Preissignal sein darf, ohne soziale Verwerfungen zu verursachen –, einem Kompromiss zugestimmt, der genau diesen Pfad vorsieht. Jetzt zu verlangen, dass vorgezogen wird, ist die Aufkündigung dieses Kompromisses, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Sie dann noch suggerieren, damit das ambitionierte Klimaschutzziel zu erreichen, dann sage ich Ihnen: Wie soll das denn passieren? Sie diskutieren jetzt auf Ihrem Parteitag Anträge über CO2-Preise von über 180 Euro. Ich kann Ihnen sagen: Wir haben einen schrittweisen Anstieg des Preises. Im Übrigen, Herr Köhler, ab 2027 haben wir ein Emissionshandelssystem etabliert.
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Das wird uns vor große Herausforderungen stellen. Deswegen sage ich: Die nächsten vier Jahre sind entscheidend; denn wenn wir nicht auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene dazu kommen – dass Peter Tschentscher hier ist, ist ein ganz wichtiges Signal –, dass wir die Alternativen in den nächsten vier Jahren schaffen, also einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, der alternativen Energiequellen und der Förderinstrumente, die den Umstieg ermöglichen, dann treffen wir die, die es nicht mehr bezahlen können, und das ist nicht unsere Antwort.
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Ich will mir an der Stelle sparen, ausführlich darauf hinzuweisen, was die Grünen in ihrer Landesregierung teilweise machen. In Baden-Württemberg sind sämtliche Maßnahmen unter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. So geht dann auch nicht effektiver Klimaschutz.
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Lassen Sie uns in den nächsten Jahren Schritt für Schritt darüber reden, wie der Instrumentenmix den Zusammenhalt dieser Gesellschaft unter Wahrung der Klimaziele miteinander in Einklang bringt. Das ist die sozialdemokratische Antwort. Wir haben uns gegründet, weil wir gesagt haben, die großen Herausforderungen können Menschen nur gemeinsam bewältigen. Das ist unsere Antwort. Wir haben die gesetzliche Grundlage mit dem Klimaschutzgesetz geschaffen, und jetzt geht es um die Maßnahmen. Ich freue mich auf die Debatten in den weiteren Jahren.
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Jetzt erteile ich dem Kollegen Karsten Hilse, AfD, das Wort.
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Herr Hilse, ziehen Sie die Maske über die Nase.
Na klar. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! So schnell wie bei dieser Novellierung des Klimaschutzgesetzes hat noch nie eine Bundesregierung auf eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts reagiert, um die für unser Volk extrem schädlichen Vorgaben umzusetzen. Das lässt vermuten, dass hier das Urteil nicht nur wie gerufen kommt, sondern vielleicht sogar von ihr, wenn auch über Umwege, bestellt wurde. Denn anders ist es nicht zu erklären, warum Kläger und Beklagte so glücklich, ja regelrecht euphorisch über das Urteil sind. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Herr Harbarth und seine Kollegen haben somit ganze Arbeit geleistet.
Mit dieser Verstärkung im Rücken hat das Kabinett auch ganze Arbeit geleistet – nicht gekleckert, sondern geklotzt – und mal eben per Federstrich Klimaneutralität – was auch immer das sein soll – von 2050 auf 2045 vorgezogen, unter dem Motto: Nach uns die Sintflut.
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Es schert dabei niemanden, dass kein noch so aktives Handeln einen rein statistischen Wert, der das Klima nun mal ist, schützen kann. Es schert auch niemanden, dass das Kabinett Merkel und Sie alle – von den roten über die grünen Kommunisten bis hin zu den Magentasozialisten – Deutschland damit größtmöglichen Schaden zufügen werden,
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auch wenn Sie das natürlich vehement bestreiten und, ohne dabei rot zu werden, sogar das glatte Gegenteil behaupten.
Mit der beabsichtigten massiven Senkung der Emissionen fahren Sie so gut wie alle Wirtschaftszweige wissentlich und vorsätzlich in den Keller und opfern bedenkenlos den über Generationen fleißiger Menschen erarbeiteten Wohlstand in Deutschland. Das ist das eigentliche Problem, ja die Katastrophe eines scheinheilig als zum Schutz künftiger Generationen ausgegebenen Klimaschutzgesetzes und seiner furchtbaren Wirkung.
Mit dem bekannten Urteil wird das Ganze fast unumkehrbar gemacht, und alles wider besseres Wissen; denn jedem mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten ist klar, dass, selbst wenn die Hypothese stimmen sollte, dass das menschengemachte CO2 einen maßgeblichen Einfluss auf Klimaschwankungen hat – wofür es bis heute keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis gibt –,
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Deutschlands Anteil daran verschwindend klein wäre. Selbst wenn Deutschland in Jahresfrist nicht ein einziges Gramm CO2 ausstieße, verringerte sich die hypothetische Temperaturerhöhung um 0,000653 Grad; das ist praktisch nichts. Sie wissen das. Sie leitet allein der strengreligiöse Glaube der Klimasekte an die Klimaerhitzung und daran, dass die Welt dem deutschen Vorbild irgendwann folgen werde. Sie wird einen Teufel tun.
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Denn niemand, der klar im Kopf ist, wird diesem Pfad ins Elend folgen, weil CO2 eben kein Teufelszeug oder gar Gift ist, sondern die Quelle allen Lebens auf der Erde. Kein Leben auf der Erde würde ohne CO2 existieren.
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– Gucken Sie mal in Ihr Chemiebuch. Mein Onkel Werner hätte zu Ihnen gesagt: Wenn wir dich nicht hätten, dich bräuchten wir gar nicht. – Herr Gremmels, bitte.
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Niemand, der noch Wohlstand für sein Volk erlangen will – Sie wollen das entgegen Ihrem Eid nicht –, wird Deutschland auf seinem höllischen Weg folgen. Schauen Sie sich nur die Emissionsentwicklung sogenannter Entwicklungsländer, zum Beispiel China, an. Sie dürfen bis zum Jahr 2030 ihre CO2-Emissionen in dem Maße steigern, wie sie es als notwendig erachten. China erhöht seine Emissionen pro Jahr ungefähr um den gleichen Wert, wie ihn Deutschland insgesamt ausstößt. Wenn Deutschland also kein einziges Gramm CO2 mehr ausstoßen würde, hätte China das in einer Jahresfrist wieder ausgeglichen. Das macht nicht nur deutlich, dass Sie offensichtlich kognitive Schwierigkeiten haben, das Thema in seiner Gänze zu erfassen, sondern auch, dass die Pariser Klimaübereinkunft bestenfalls als Lippenbekenntnis verstanden wird.
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Allerdings ist es auch gut geeignet, um Konkurrenten um die Zukunft auf dieser Welt – noch ist Deutschland Konkurrent – durch deren Selbstzerstörung aus dem Weg zu räumen. Welch Irrglaube, welche Hybris spricht aus diesem Gesetz. Es ist schon so, wie Ottmar Edenhofer, seinerzeit Vize- und jetzt Co-Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, in einem unbedachten Moment äußerte und als Richtung vorgab:
Wir verteilen durch die Klimapolitik de facto das Weltvermögen um. Dass die Besitzer von Gas, Kohle und Öl davon nicht begeistert sind, liegt auf der Hand. Man muss sich von der Illusion freimachen, dass internationale Klimapolitik Umweltpolitik ist. Das hat mit Umweltpolitik, mit Problemen wie Waldsterben oder Ozonloch fast nichts mehr zu tun.
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Umverteilung ist der einzige Zweck dieses Gesetzes. Sie plündern den Großteil des deutschen Volkes aus, damit sich einige wenige die schon prall gefüllten Taschen weiter füllen können, im In- und im Ausland.
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Wenn dann noch im allgemeinen Teil des Gesetzentwurfes steht: „Alternativen: Keine“, dann ist das nicht nur frech gelogen; denn wir haben, zu unserem Namen passend, Alternativen aufgezeigt,
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die selbst den Klimaapokalyptikern mit der Kernenergie, vor allem Reaktoren der Generation IV, einen Weg aufzeigen würden, wie man das Klima, wenn es denn notwendig wäre, retten könnte. „Alternativen: Keine“ ist, schon wenn man wohlwollend wäre, bitterböse Ironie; aber noch dümmer, noch bösartiger ist, wenn dort unter Erfüllungsaufwand steht, es gebe keinen, weder für die Bürger noch für die Verwaltung noch für die Wirtschaft, obwohl es uns viele Billionen Euro kosten wird, Millionen wertschöpfender Arbeitsplätze vernichtet und Millionen Menschen in die Armut getrieben werden.
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Dann – also spätestens jetzt – muss die Frage erlaubt sein, wes Geistes Kind die Verantwortlichen für dieses Gesetz waren: Nur sektenartig fehlgeleitet und dumm oder schon bösartig und dumm?
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Aber so ist es in einem Land, in dem Vergewaltiger zu Bewährungsstrafen verurteilt werden
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und Menschen, die keine Zwangsgebühren für Propaganda und Indoktrinationsfernsehen bezahlen wollen, im Knast sitzen. Wir fordern Freiheit für Georg Thiel, und zwar sofort!
Vielen Dank.
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Rüdiger Kruse, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Ja, wunderbar, am Geburtstag reden zu dürfen. Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist tatsächlich ein ganz tolles Gefühl, an seinem Geburtstag zu reden. Man kann sich kaum was Schöneres vorstellen, und dann kommt so ein Vorredner von der AfD und macht einem klar, dass das Leben ab einem gewissen Alter, das man erreicht hat, nicht einfach nur schön sein kann.
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Vor so einem Geburtstag wird man ja immer gefragt, was man sich wünscht. Ich habe mir mit 16 Jahren die Antwort zurechtgelegt: Ich wünsche mir den Weltfrieden. – Da meinen viele: Na ja, das ist vielleicht ein bisschen naiv; aber der Typ ist ja auch blond. – Es ist aber ein ganz schöner Wunsch; denn erstens ist es so, dass er ja meistens nicht in Erfüllung geht; bisher ist er nicht in Erfüllung gegangen. Dann kann man ihn zu Weihnachten wiederverwenden. Und der zweite Punkt ist, dass sich der Adressat in dieser einen Sekunde, in der man das so scherzhaft gesagt hat, vielleicht auch berufen fühlt, ein bisschen was dazu beizutragen.
Heute, zum 60. Geburtstag, breche ich es runter: Ich wünsche mir, dass dieses Land, unser Land, innerhalb der nächsten Dekade nachhaltig wird. Das ist die Grundvoraussetzung für die Erfüllung des anderen Wunsches: Ich glaube, eine Welt, in der man den Klimaschutz vernachlässigt, wird keine friedliche Welt sein. Eine Welt, in der wir die Belange der Menschen nicht mitnehmen – indem wir Klimaschutz betreiben, indem wir die Wirtschaftskraft erhalten und indem wir auch die sozialen Belange im Blick haben –, wird keine friedliche Welt sein. Denn wir hätten ja nichts gewonnen, wenn wir den radikalstmöglichen Klimaschutz betreiben und das Leben überhaupt nicht mehr lebenswert ist:
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wenn die Leute keine Arbeit haben, wenn wir kein Geld für Bildung haben, wenn es keine Zukunft gibt. Deswegen steht ja auch hier, in dieser Debatte, der Klimaschutz gewissermaßen hinter dem Komma. Klimaschutz ist sehr wichtig; aber das Übergeordnete ist die Nachhaltigkeit.
2009 – da bin ich in den Bundestag gekommen – hätten wir bestimmt noch keine lebhafte Debatte zur Nachhaltigkeit geführt wie heute. Das war so ein Orchideenthema. Es gab schon den PBnE; der hat auch immer eine gute Arbeit gemacht. Und dann haben wir uns gesteigert. Wir haben im letzten Jahr hier zwei Debattentage komplett für das Thema Nachhaltigkeit genutzt. Wir haben heute eine leidenschaftliche Debatte dazu. Wir haben im Herbst letzten Jahres beschlossen, dass Nachhaltigkeit die Leitlinie unserer Politik sein soll. Ja, das sind Worte; aber das Denken und das Sprechen kommen vor dem Handeln. Das heißt, da haben wir sehr, sehr viel erreicht.
Wenn man eine Pyramide baut und zwei Drittel der Steine verbraucht hat, dann ist niemand beeindruckt, auch wir selber nicht; denn Pyramiden erkennt man an ihrer Spitze. Beeindruckend wird also sein, wenn wir im Jahre 2040, 2041, 2042 oder auch 2045 den Schlussstein setzen und sagen können: Ja, wir haben es erreicht, wir haben es geschafft. – Dafür haben wir in den letzten Jahren die Grundvoraussetzungen geschaffen.
Mit dem Klimaschutzgesetz haben wir in seiner ersten Fassung einen ganz wesentlichen Schritt gemacht. Das ist vom Verfassungsgericht auch gar nicht kritisiert worden. Es hieß vielmehr: Ihr müsst auch für die folgenden Jahre aufzeigen, wie ihr es machen wollt. – Da kommt man in die Situation, die von der FDP angesprochen worden ist, nämlich dass man über viele Jahre hinweg ganz genaue Pläne macht. Man kann natürlich fragen: Woher willst du denn wissen, was in zehn Jahren ist? – Das erinnert mich ein bisschen an das Thema Wiedervereinigung. Da gab es auch verschiedene Pläne. Das Wichtigste an diesen Plänen aber war, dass wir uns überhaupt in Bewegung gesetzt haben, dass wir in die richtige Richtung gegangen sind. Wenn dann auf diesem Weg das eine schneller passiert und das andere dafür langsamer, dann macht das ja nichts. Aber wenn man keinen Plan hat, wenn man nicht weiß, wohin man gehen will, wenn man keinen Kompass hat, dann kommt man niemals am Ziel an.
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Wenn Sie sich die Haushaltspolitik der letzten Jahre anschauen, dann stellen Sie fest: Auch dort hat sich viel geändert. Wir haben wegen der Coronakrise einen Extrahaushalt erlassen. Eigentlich wäre es typisch gewesen, sich dabei nur auf den Augenblick zu konzentrieren. Dieser Haushalt entspricht jedoch in fast allen Punkten unseren Nachhaltigkeitsvorstellungen. Da ist das Ganze durchdacht worden. Wenn man in einer akuten Krise darauf kommt, in dem Zuge auch die Wasserstoffstrategie auf richtig gute Füße zu stellen, dann ist das weit in die Zukunft gedacht. Und es ist auch vollkommen richtig, das zu tun. Wir können vielleicht nicht rundum zufrieden sein, aber wir können ganz froh sein über das, was wir bisher gemeinsam erreicht haben. Das ist erst mal die Grundvoraussetzung.
Es ist auch ganz klar, dass wir das jetzt angehen, noch vor der Sommerpause. Auch wenn es nur noch wenige Monate sind, wollen wir keine Zeit verlieren, sondern sie nutzen. Wir haben die Zeit in den letzten Jahren gut genutzt, und wir werden dieses Tempo noch steigern. Das ist das Spannende daran, wenn man sein Ziel kennt, wenn man einen Kurs hat und losläuft. Mit dieser Geschwindigkeit werden wir unsere Ziele einhalten. Da bin ich sehr, sehr zuversichtlich. Ich bedanke mich bei Ihnen allen, dass Sie tatkräftig dabei mitgeholfen haben.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christoph Hoffmann, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich spreche heute als Obmann der FDP im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung und als einziger Förster im Deutschen Bundestag zu Ihnen zum Thema Nachhaltigkeit, einem Prinzip, das die Förster erfunden haben.
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Die Förster haben erkannt und sich dazu verpflichtet, dass nicht mehr Holz genutzt werden darf, als nachwächst, damit auch kommende Generationen noch Wald, Holz und Energie haben. Das wurde dann in Gesetze gegossen, zum ersten Mal im liberalen Baden 1854. Diese Idee der Nachhaltigkeit wurde nicht aus irgendeinem Gespinst heraus geboren, sondern aus der Knappheit, aus der ökonomischen Notwendigkeit zur dauerhaften Versorgung einer Produktionsanlage mit Holz, sprich: Energie. Diese ökonomische Notwendigkeit gibt es heute für viele Naturressourcen. Denken wir an die Fische in den Meeren. Wo ist da die Nachhaltigkeit? Was tut die Menschheit dafür? Das darf nicht so weitergehen.
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Auch in unserem Land ist die Nachhaltigkeit im Regierungshandeln trotz alter und neuer Nachhaltigkeitsstrategie, trotz diverser Gremien nicht ausreichend verankert. Das muss sich ändern. Wie steht es zum Beispiel um die Nachhaltigkeit der Finanzen? Die Schuldenbremse war doch dafür gedacht, dass für unsere Kinder und Enkel auch noch etwas da ist.
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Wenn es jetzt aber ein bisschen härter und politisch unangenehm wird, wollen Grüne, SPD, Linke und CDU diese Schuldenbremse vielleicht wieder lösen. Das gibt es mit den Freien Demokraten sicher nicht. Mehr Geld ausgeben, als man hat, ist nicht nachhaltig.
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Aber zurück zum Ursprung der Nachhaltigkeit. Wie steht es um Nachhaltigkeit bei Wald und Klima? Wir verlieren weltweit 10 Millionen Hektar Wald jedes Jahr. Schon jetzt stammen 20 Prozent der CO2-Emissionen aus Waldbränden und Flächenbränden. Um dies und auch alte Energiesünden auszugleichen, brauchen wir weltweit mehr Wald für den Klimaschutz. Exakt das haben die Freien Demokraten schon 2019 gefordert und hier beantragt; aber CDU, SPD und selbst die Grünen haben das abgelehnt. Das ist unverantwortliche Parteiräson, meine Damen und Herren. So wird es nichts mit der Nachhaltigkeit.
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Wald bindet CO2. Schon im Pariser Klimaabkommen ist formuliert, dass wir die Klimaziele nur erreichen können, wenn wir CO2 wieder aus der Atmosphäre herausbekommen. Im neuen Klimaschutzgesetz findet sich aber kein Wort dazu; das fehlt komplett. Das ist völlig irre!
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Das ist nicht der Pfad, den wir gehen müssen.
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Nochmals: Wir brauchen weltweit mehr Wald für den Klimaschutz, etwa 750 Millionen Hektar. Das ist Klimaschutz und Nachhaltigkeit in einem. Machen statt reden – das ist die Devise der Liberalen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Mut- und Ambitionslosigkeit im politischen Handeln beenden. Machen wir das Prinzip der Förster, die Nachhaltigkeit, zur Philosophie unseres politischen Handelns in der Zukunft.
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Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Beutin, Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ihr es heute nicht macht, wird es für eure Kinder und Enkelkinder doppelt oder dreifach teuer. Wenn wir heute nicht handeln, dann haben wir Hunger und Dürre. Welchen Preis sind wir bereit für unser Überleben zu zahlen? – Das, was klingt, als habe es Greta Thunberg vielleicht im letzten Jahr oder gerade neulich gesagt, war die deutsche Bundeskanzlerin 1997 als Umweltministerin. Sie hat auch gesagt: Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine Frage des Überlebens. – Jetzt, fast 25 Jahre später, müssen wir sagen: Sie hat versagt. Sie hat gewusst, was auf uns zukommt, aber sie hat nicht entsprechend gehandelt.
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Und genau das ist das Problem, mit dem wir gerade konfrontiert sind.
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Ich zeige Ihnen einmal ihr Buch „Der Preis des Überlebens“. Als Wissenschaftlerin hat sie es gewusst; als Umweltministerin, als Politikerin hat sie nicht danach gehandelt, sondern zugelassen, dass beispielsweise die Deutsche Bahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden ist. Sie hat zugelassen, dass 6 000 Schienenkilometer abgebaut worden sind, dass ganze ländliche Regionen vom öffentlichen Nahverkehr abgekoppelt worden sind. Sie hat zugelassen, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz immer weiter ausgehöhlt worden ist, dass immer mehr Ausnahmen für große Konzerne beschlossen worden sind und das Ganze dann auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abgewälzt worden ist. Wir müssen ganz klar sagen: Eine Politikerin, die derart versagt, gehört abgelöst. Deswegen bin ich froh, dass Bundestagswahlen anstehen und wir die Chance auf einen echten Politikwechsel haben. Dieser echte Politikwechsel wird nur ohne die Union gelingen.
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Wir haben über den CO2-Preis gesprochen, auch in den letzten Wochen. Dieser CO2-Preis ist zum einen klimapolitisch unwirksam und zum anderen krass ungerecht. Ich darf das an einem Beispiel sehr deutlich machen: Er ist ungerecht für Einkommensschwache; denn bei diesem CO2-Preis erfolgt die Entlastung über die sogenannte Pendlerpauschale, und die Pendlerpauschale ist anrechenbar bei der Lohnsteuer. Das heißt, diejenigen, die viel haben, bekommen auch viel zurück bei diesem CO2-Preis, und diejenigen, die wenig oder gar nichts haben, die gar keine Steuern zahlen können, werden zusätzlich belastet durch diesen CO2-Preis. Das ist die bahnbrechende Ungerechtigkeit, vor der wir stehen. Deswegen sagen wir: Wir wollen diesen ungerechten CO2-Preis nicht.
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Liebe Grüne, auf einen Punkt will ich noch zu sprechen kommen; denn da war leider auch von eurer Seite ein Stück Heuchelei dabei. Hier im Deutschen Bundestag hat Annalena Baerbock Herrn Dobrindt von der CSU das Angebot gemacht, diesen ungerechten CO2-Preis noch zu erhöhen. Da war keine Rede von einem Energiegeld, da war keine Rede von einem sozialen Ausgleich. Ja meint ihr wirklich, ihr könnt gemeinsam mit der CSU eine gerechte Klimapolitik machen?
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Eine gerechte Klimapolitik geht doch nur, wenn wir eine Alternative jenseits von der CSU entwickeln.
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Ihr müsst euch auch entscheiden.
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Und dann steht hier Frau Weisgerber und sagt, mehr gerechte Klimapolitik zu machen, wäre doch unrealistisch. Ich darf Ihnen sagen, was unrealistisch ist. Unrealistisch ist, so weiterzumachen wie bisher. Unrealistisch ist, unsere Lebensgrundlagen weiter zu zerstören. Realistisch ist, die Zukunft der Menschheit zu sichern. Realistisch ist, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Realistisch ist, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen und gleichzeitig die Beschäftigten zu schützen, gleichzeitig mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Es geht doch nur sozial gerecht. Es geht doch nur, wenn wir die Bevölkerung mitnehmen.
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Es geht doch nur mit einer klaren Klimapolitik, aus der sich niemand herauskaufen kann, die verständlich und für alle in dieser Gesellschaft sozial gerecht ist.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Das machen doch die mit euch. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will heute von einem unschönen Begriff reden, nämlich von der Heuchelei, von der Heuchelei über den CO2-Preis in seinen Auswirkungen auf die Benzinpreise und dem, was dazu geäußert wurde. Ich zitiere Olaf Scholz: Wer immer weiter an der Spritpreisschraube dreht, ignoriert die Nöte der Bürger. – Ich zitiere Andreas Scheuer: In der Mobilität gibt es auch einen sozialen Aspekt. – Die FDP möchte eine Benzinpreisbremse,
({0})
und die Linke redet von „Klimapolitik auf dem Rücken der kleinen Leute“. – Da haben Sie sich wirklich zu einer ganz großen Koalition der Heuchelei zusammengefunden.
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Von der Verkehrspolitik unseres Verkehrsministers zu reden, lohnt sich schon fast gar nicht mehr. Hätte er mal, wenn er den sozialen Aspekt in der Mobilität wollte, eine ambitionierte Bahnpolitik betrieben, anstatt sich immer nur in Brüssel darum zu kümmern, dass die Grenzwerte nicht abgesenkt werden!
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Aber der SUV der kleinen Leute war ihm wichtiger als alles andere.
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Doch zur Sache.
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Nach unserem bisher beschlossenen Klimaschutzgesetz ergibt sich für 2025 ein Aufschlag auf das Benzin von 15,5 Cent.
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Nehmen wir die heute zu beschließende Verschärfung hinzu, ergibt sich, dass unsere Kandidatin an diesem Ergebnis sehr viel näher dran ist als zum Beispiel der Kandidat der SPD.
Frau Kollegin Kotting-Uhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beutin?
Ja, von mir aus.
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– Ja, ich bin gefragt worden. Sorry!
Liebe Kollegin Kotting-Uhl, hier im Deutschen Bundestag hat Annalena Baerbock in der letzten Sitzungswoche auf meine Frage, ob man mehr Markt oder mehr soziale Gerechtigkeit wolle und ob man das gemeinsam in einem anderen Bündnis oder ohne die CDU machen wolle, gesagt, dass sie beides will, mehr Markt und mehr soziale Gerechtigkeit. Und sie hat Herrn Dobrindt explizit angeboten, diesen CO2-Preis, von dem ihr selber sagt, dass er sozial ungerecht ist, zu erhöhen. Kannst du mir erklären, inwiefern es sozial gerecht sein soll, diesen CO2-Preis gemeinsam mit der Union zu erhöhen? Wie wollt ihr das sozial gerecht machen? Das ist eine vollkommene Heuchelei an dieser Stelle, leider auch von euch.
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Ihr könnt mit der CDU doch keinen sozial gerechten CO2-Preis machen.
Mir ist es völlig egal, ganz ehrlich, mit wem wir einen sozial gerechten CO2-Preis machen, wenn wir ihn denn bekommen – gerne mit euch, gerne mit der SPD, aber gerne auch mit der CDU, so es denn möglich sein sollte.
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Ich will mal sagen, was ein sozial gerechter CO2-Preis ist. Niemand hier hat ein Konzept vorgelegt mit einem sozialen Ausgleich plus Lenkungswirkung.
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Lenkungswirkung und sozialen Ausgleich hat man, wenn man das Energiegeld umsetzt,
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wenn man den Bürgern das Geld pro Kopf zurückgibt.
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Dann hat man einen sozialen Ausgleich, und dann wird die Zahnarztgattin in München, von der es schon wieder heißt, sie kriege das Energiegeld ja genauso wie alle anderen, nicht davon profitieren. Sie profitiert davon nicht; denn sie fährt den SUV, sie wohnt in der großen Wohnung, und sie jettet mal eben zum Wochenende irgendwohin. Genau diese Leute können sich überlegen, ob sie diesen hohen CO2-Preis bezahlen wollen oder ob sie sich umstellen wollen, was wir dringend brauchen.
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Die Menschen, die wenig CO2-emittierend leben – das sind die Menschen mit geringen Einkommen –, profitieren von dem Energiegeld. Ihr habt das leider auch immer noch nicht begriffen. Ich fasse es nicht.
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Ich war bei den Kanzlerkandidaten. Wir haben ja noch einen dritten Kanzlerkandidaten, und da regiert das Prinzip Wegducken. Über Spritpreise so oder so zu reden, das sei kleinteilig, sagt Armin Laschet. Das ist nicht kleinteilig. Das ist die Ehrlichkeit, die wir brauchen. Aber das Wegducken: So, wie sich Armin Laschet in seinem Wahlkreis vor der Konkurrenz, vor einer Auseinandersetzung mit dem Kollegen Oliver Krischer wegduckt, so duckt er sich weg, wenn heute ein Konzept beschlossen wird, das festlegt, wie die Spritpreise sein werden, und hofft, dass es keiner merkt. So funktioniert das nicht, liebe Leute.
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So werdet ihr im Wahlkampf nicht reüssieren, und so könnt ihr die Leute auch nicht mitnehmen, wovon Anja Weisgerber zu Recht redet. Die Leute wollen Ehrlichkeit, sie wollen Redlichkeit, sie wollen wissen, was auf sie zukommt. Dann reden wir über den sozialen Ausgleich, und den machen wir am besten über das Energiegeld.
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Ein Wort zum Schluss noch, weil gesagt wurde, dass sozialer Ausgleich und Sozialpolitik in unserem Konzept nicht vorkämen. Klimaschutz ist Sozialpolitik. Wir wissen ganz genau, dass global wie lokal die Menschen mit kleinem Einkommen, die armen Menschen, den Preis für keine Klimaschutzpolitik, für schlechte Klimapolitik bezahlen werden. Aber auf der anderen Seite kann es auch nicht sein, dass verfehlte Sozialpolitik, für die nicht die Grünen in den letzten Jahren zuständig waren, sondern diese Parteien hier,
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heute allein über Klimaschutzpolitik ausgeglichen werden soll. So funktioniert das auch nicht.
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Jetzt erhält das Wort der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Peter Tschentscher.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wenn man als Mitglied des Bundesrates schon die Möglichkeit hat, im Bundestag zu sprechen, dann ist das Klimaschutzgesetz ein sehr guter Grund, sie auch wahrzunehmen; denn Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche, eine gesamtstaatliche Aufgabe, in der Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen und gut zusammenarbeiten müssen.
Mit der Novelle zum Klimaschutzgesetz werden die Klimaziele mit Rückenwind des Bundesverfassungsgerichts noch einmal erhöht. Das ist wichtig zur Erreichung des 1,5-Grad-Zieles, aber es ist eine enorme Aufgabe. Wenn wir dabei Erfolg haben wollen, müssen wir uns über die Dimension dieser Aufgabe im Klaren sein.
Nirgendwo wird das so deutlich wie in einer großen Metropole wie Hamburg mit rund 2 Millionen Einwohnern, dem größten Industriestandort Deutschlands. Wir haben einen Klimaplan mit rund 400 konkreten Maßnahmen aufgestellt. Es geht allein in Hamburg um über 250 000 Gebäude, die energetisch zu sanieren sind. Eine Mobilitätswende ist zu organisieren mit Milliardeninvestitionen in neue U- und S-Bahnen, Hunderte Kilometer neue Radwege, über 2 000 emissionsfreie Busse und nebenbei noch über 20 Betriebshöfe und Werkstätten, um solche Fahrzeuge mit Elektro- und Wasserstofftechnologie zu betreiben. – Das spielt sich in ganz Deutschland ab, im Großen und im Kleinen, überall in Ihren Wahlkreisen. Und genau dafür brauchen die Städte und Gemeinden die Unterstützung der Länder und des Bundes.
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Das ist die erste Botschaft, die ich Ihnen dringend ans Herz legen möchte.
Die zweite Botschaft lautet: Wie man es auch dreht und wendet im Klimaschutz, wir brauchen in Zukunft enorme Mengen Strom aus Solar-, Wasser- und Windkraft, um fossile Energieträger in der Stromproduktion, aber eben auch in anderen Sektoren zu ersetzen, im Verkehr, in der Industrie.
In Hamburg wurde Anfang des Jahres – mit Unterstützung der Umweltministerin – eines der größten Kohlekraftwerke aller Zeiten vom Netz genommen.
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Dieser Strom muss natürlich ersetzt werden. Genau an dieser Stelle soll, wenn es nach uns geht, einer der größten Wasserstoffelektrolyseure Europas entstehen.
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Für diesen brauchen wir viel regenerativen Strom.
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Wir brauchen Grünen Wasserstoff, um Mobilität über große Distanzen, Mobilität im Schwerlastverkehr zu gewährleisten. Aber wir brauchen diesen Wasserstoff auch zur Verringerung des CO2-Ausstoßes in der Industrie.
Schon heute wird bei der Kupferproduktion in Hamburg nur halb so viel CO2 freigesetzt wie im weltweiten Durchschnitt. Zugleich ist das Kupferunternehmen eines der größten Metallrecyclingunternehmen. Nebenbei heizt das Unternehmen mit der Prozessabwärme Wohnungen in der HafenCity. Das ist der Weg, den wir gehen müssen, nicht nur beim Kupfer.
Herr Erster Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hoffmann?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Bürgermeister, dass Sie diese Frage zulassen. Wenn ich es richtig weiß, gibt es in Hamburg Pläne für ein Holzheizkraftwerk. Das ist eigentlich eine gute Idee, aber das Holz dazu soll aus Namibia kommen. Ist das wirklich nachhaltig und sinnvoll?
Das ist eine interessante Frage. Wir haben die Prüfung noch einmal zurückgestellt, weil es im Herkunftsland Diskussionen gibt, die wir von hier aus nicht beurteilen können. Aber die Nutzung von Bioenergie, um zu heizen – in diesem Fall mit Holz, einem regenerativen Produkt –, ist durchaus ein guter Weg, wenn das Regenerative dabei gesichert ist. Ich kann Ihnen da nur beipflichten: In der Holzwirtschaft ist es seit Jahrzehnten üblich, darauf zu achten, dass ein Baum, den man fällt, durch einen neuen ersetzt wird.
Ich möchte auf das Thema Industrie zurückkommen und sagen: Der Weg, den wir nicht nur bei Kupfer, sondern auch bei Stahl, bei Aluminium und in der Industrie insgesamt gehen müssen, ist der Weg über Innovationen. Wir dürfen unsere Industrie, weil sie schon heute klimafreundlicher ist als sonst wo auf der Welt, nicht ins Ausland verdrängen, sondern müssen sie bei uns klimafreundlich und wettbewerbsfähig machen.
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Eines ist klar: Wer in Klimaschutztechnologien die Nase vorn hat, der wird auch wirtschaftlich gewinnen. Es geht um Klimaschutz, und es geht um Wertschöpfung, um Arbeitsplätze, um Wohlstand für die kommenden Generationen.
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Deshalb sollten wir die geplante Änderung des Klimaschutzgesetzes von Frau Schulze unterstützen und sofort damit beginnen, den regenerativen Energiemix zu verbessern und Reallaborprojekte zu fördern, damit Unternehmen in neue Technologien investieren können. Wir sollten auch damit beginnen, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass diese neuen Technologien wirtschaftlich genutzt werden können.
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Wenn Sie noch Ideen brauchen, laden wir Sie gerne nach Hamburg ein, um zu zeigen, was schon heute geht und wie man das gemeinsam voranbringen kann.
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Die Ziele sind gesetzt, ab jetzt kommt es aufs Handeln an.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Stark-Watzinger, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen Lukas Köhler und Christoph Hoffmann haben es klargemacht: Die Freien Demokraten setzen mit Blick auf den Klimaschutz nicht auf das Prinzip Hoffnung, sondern wir wollen durch eine klare CO2-Mengenbegrenzung dem Raubbau am Klima endlich einen Riegel vorschieben.
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Das ist das wirksamste Instrument, und es setzt das frei, was wir in unserem Land haben, nämlich den Erfindergeist. Machen wir uns nichts vor: Nur durch Innovation werden wir den Klimawandel stoppen. Nur durch neue Technologien werden wir Wohlstand und Klimawandel zusammenbringen.
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Was wir brauchen, damit wir Vorbild und Taktgeber sein können, sind Kapitalmärkte, die das finanzieren; denn uns muss bewusst sein: Hohe private Investitionen sind notwendig, Stichwort „Sustainable Finance“.
Was müssen wir also tun? Ja, die Menschen sollen gemäß ihrer Wünsche anlegen können, in Nachhaltigkeit investieren können. Sie brauchen eine bessere Datenlage, damit sie langfristig Risiken auch besser einschätzen können. Sie brauchen Standardisierung. Sie brauchen Vereinheitlichung und Transparenz. Aber was wir nicht brauchen, ist eine Taxonomie. Eines sollten wir im Bereich Sustainable Finance nicht machen, nämlich eine Taxonomie als ein planwirtschaftliches Lenkungsinstrument einsetzen.
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Die Taxonomie soll in jedem Produktionsprozess vorgeben, was nachhaltig ist und was nicht. Wie werden wir aber nachhaltig, wenn der Produzent von Komponenten von Windrädern diese gar nicht mehr produzieren kann, weil er keine Finanzierung mehr bekommt? Wie soll unser Mittelstand den Weg zur Klimaneutralität schaffen, wenn keine Bank, kein Finanzinstitut ihn mehr finanziert? Hören wir auf, die klimaneutrale Welt zu zeichnen, wie sie sein soll. Zeigen wir lieber den gangbaren Weg auf, wie wir dorthin kommen.
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Diejenigen, die Erlösung wollen, müssen verbieten und beten. Wer Lösungen will, muss arbeiten, die Ärmel hochkrempeln und forschen. Ich bin für Letzteres. Machen wir endlich sinnvollen Klimaschutz!
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles wurde im Bereich der Nachhaltigkeit während der letzten Jahre erreicht. Wir haben keine Zeit verloren, Herr Hofreiter, aber wir haben natürlich auch keine Zeit zu verlieren. Wir haben das Klimaschutzziel 2020, also eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 40 Prozent, erreicht. Das wird oft unterschlagen. Das war eine Riesenanstrengung und eine große Leistung für ein Industrieland, das wir sind und das wir natürlich auch bleiben wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir haben mit dem Klimaschutzpaket und mit dem Konjunkturpaket geliefert. Diese beinhalten ganz klare Akzente in Richtung Klimaschutz und sehen Investitionen in Höhe von insgesamt 80 Milliarden Euro in Anreize und Innovationen vor. Sie wirken; das sehen wir. Wir setzen nicht nur ambitionierte Ziele, sondern wir liefern auch mit konkreten Maßnahmen, die greifen. Das werden wir weiterhin so machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dennoch sehen wir, dass das Ausmaß der Aufgabe Klimaneutralität gewaltig ist. Wir wollen dabei alle Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigen: die Ökologie, also den Klimaschutz, die soziale Dimension, niemanden zurückzulassen, und die Ökonomie, also die wirtschaftliche Entwicklung. Wir bringen die Dinge zusammen. Wir bringen die Menschen zusammen. Das ist der Unterschied zwischen uns und anderen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Debatte über Nachhaltigkeit, über eine nachhaltige Entwicklung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und das muss sie auch: raus aus den Parlamenten, raus aus den Gremien, raus aus der Community, hinein in die Breite der Gesellschaft. Es geht dabei darum, heute schon an morgen zu denken bzw., anders gesagt, der Zukunft gegenüber der Gegenwart zu ihrem Recht zu verhelfen. Andere bezeichnen nachhaltige Politik auch als Enkeltauglichkeit.
Die Brundtland-Kommission definierte nachhaltige Entwicklung in dem Sinne, dass die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können. Was das konkret bedeutet, darum ringen, darüber diskutieren wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Uns eint, dass wir alle zu einer nachhaltigen Entwicklung stehen, auch wenn wir zuweilen recht unterschiedliche Dinge darunter verstehen. Danke an dieser Stelle für die Zusammenarbeit in einem ganz besonderen Gremium, auf das wir als Bundestag aus meiner Sicht auch ein Stück weit stolz sein dürfen.
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Nachhaltigkeit, eine nachhaltige Entwicklung ist immer ein Prozess. Schaut man auf die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, dann sind wir bei der Zielerreichung nicht überall auf Kurs. Während wir beispielsweise bei der Ressourcenschonung und beim Ausbau der Erneuerbaren auf Kurs sind, die Ziele sogar übererfüllen, sieht es beim Endenergieverbrauch, etwa im Personenverkehr, oder auch bei der sogenannten globalen Umweltinanspruchnahme leider schlechter aus. Aber daran arbeiten wir. Wir machen uns hier ehrlich und arbeiten ambitioniert an der entsprechenden Zielerreichung.
Wir sehen an den Indikatoren auch, dass Nachhaltigkeit natürlich auch Klimaschutz beinhaltet, aber eben nicht nur. Wir brauchen eine wirtschaftlich positive Entwicklung, um die Ziele in Gänze überhaupt erreichen zu können, auch beim Klimaschutz. Dafür muss Carbon Leakage, die Abwanderung der Industrie, verhindert werden. Dafür brauchen wir global anschlussfähige, marktlich basierte Konzepte. Wir müssen auch hier die Dinge zusammenbringen und zusammendenken. Das machen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Beirat ist für die Aufnahme der nachhaltigen Entwicklung als Staatsziel im Grundgesetz. Der Vorteil einer solchen Staatszielbestimmung besteht darin, dass eben alle drei Dimensionen abgebildet sind: Umwelt, Soziales und Ökonomie. Die entsprechende Abwägung muss immer individuell vorgenommen werden. Als Beirat haben wir die Nachhaltigkeitsprüfung bei der Gesetzgebung gestärkt und wollen das auch weiterhin machen. Im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung bietet sich hier weiter sehr hohes Potenzial, auch bei der Entbürokratisierung des Gesetzgebungsprozesses insgesamt.
Wir brauchen immer auch die europäische Komponente und den globalen Ansatz beim Thema der nachhaltigen Entwicklung, übrigens auch beim Klimaschutz. Die EU geht mit dem sogenannten Green Deal ambitioniert voran, beispielsweise im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Auch das ist ein wichtiger Teil einer nachhaltigen Entwicklung.
Wir müssen letztlich Nachhaltigkeit richtig machen. Übrigens haben wir mit der Kohlekommission im Zusammenhang mit dem Kohleausstieg gezeigt, wie es geht, die Dinge zusammenzubringen und Zukunftsperspektiven zu geben.
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Leave no one behind – niemanden zurücklassen –, das nehmen wir ernst. Wir wollen Perspektiven in allen Bereichen. Wir wollen Deutschland als Chancen-, Deutschland als Aufstiegsland, nachhaltig und zukunftsfähig.
Die Grundlage für all das ist auch und gerade die finanzielle Nachhaltigkeit. Auch hier geht es letztlich um Generationengerechtigkeit: jetzt nicht zulasten kommender Generationen zu wirtschaften, sich nicht übermäßig zulasten der kommenden Generationen zu verschulden. Wir, die Union, stehen für Solidität der Haushalte. Auch das ist Nachhaltigkeit. Zu dieser finanziellen Solidität müssen und werden wir nach der Krise auch zurückkehren. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not – das hat sich auch in dieser Krise bewahrheitet. Solide, modern, nachhaltig und damit zukunftsfähig, das ist unser Bild für die Zukunft.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will darauf aufmerksam machen, dass Sie noch eine gute halbe Stunde Zeit haben, bis die Wahlurnen für die fünf Wahlgänge geschlossen werden.
Jetzt erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Kai Whittaker, CDU/CSU, das Wort.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts Ihrer sinkenden Umfragewerte amüsiert es mich schon, wie Sie von den Grünen argumentativ um sich schlagen, allen voran leider auch Sie, geschätzte Frau Kollegin Haßelmann. Sie haben uns letzte Woche auf Twitter vorgeworfen, beim Klimaschutzgesetz nichts zu tun, und haben darunter auch noch den Hashtag #Klimaheuchler gepackt.
Ich kann nur sagen: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz ist am 29. April gefällt worden. Das ist exakt 43 Tage her. In der Zwischenzeit gab es zwei Sitzungswochen. In der letzten Sitzungswoche haben wir bereits angekündigt, dass wir in dieser Woche über die Reform des Klimaschutzgesetzes beraten werden. Wir sind keine Klimaheuchler, sondern wir machen unsere Arbeit. Heuchlerisch ist, wenn Sie uns vorwerfen, nichts zu tun, obwohl Sie es besser wissen müssten.
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Sie wollen einen fairen Wahlkampf führen, „mit Fakten und Argumenten“ und ohne „persönliche Diffamierungen“. Wenn das Ihr fairer Wahlkampf ist, dann verzichten wir gerne darauf.
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Eines macht mich aber wirklich fassungslos. Mit Ihrem Wahlkampfgetöse gefährden Sie von den Grünen eine echte nachhaltige Politik.
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Ich möchte da die Debatte um die Spritpreise aufgreifen. 16 Cent mehr für den Liter haben Sie gefordert. Was heißt denn Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt, dass man wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte unter einen Hut bringt und so eine tragbare Lösung findet. Also, 16 Cent mehr pro Liter, da gab es große Empörung. Wir haben Sie dafür kritisiert.
Sie werfen uns hingegen Heuchelei vor, weil wir durch den nationalen CO2-Preis den Sprit auch um 15 Cent teurer machen. Eines vorweg: Ja, richtig, auch wir machen den Sprit teurer.
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Es geht uns gar nicht um die Frage, ob wir die fossilen Kraftstoffe teurer machen sollen, aber wir streiten über die Frage, wie wir dahin kommen. Wir erhöhen den Benzinpreis innerhalb von fünf Jahren schrittweise. Sie wollen den Spritpreis auf einen Schlag erhöhen. Unsere Rechnung lautet: 15 Cent – und nicht: 15 Cent plus 16 Cent obendrauf. Das ist der Unterschied.
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16 Cent, ist der Vorschlag ökologisch sinnvoll? Höchstwahrscheinlich nicht. Jeder Autofahrer müsste pro Jahr circa 75 Euro mehr für Sprit ausgeben. Das wird niemanden dazu bewegen, auf das E-Auto umzusteigen. Deshalb sagen wir den Leuten: Der Sprit wird in den kommenden fünf Jahren etwas teurer, danach noch teurer. Deshalb nutzt die Zeit, nehmt die Subventionen in Anspruch und steigt um, wenn ihr euch ein neues Auto anschafft.
Ist der Vorschlag wirtschaftlich sinnvoll? Ebenfalls Fehlanzeige. Wenn man die heutigen Steuern auf Benzin in einen CO2-Preis umrechnet, kommt man schon jetzt auf fast 300 Euro pro Tonne. Das ist fast zehnmal mehr, als jeder andere Bereich bezahlen muss – und das, obwohl in diesen anderen Bereichen mit heutiger Technologie und weniger Kosten mehr CO2 eingespart werden kann.
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Ich frage mich, warum Sie sich ausgerechnet noch einmal die Autofahrer herauspicken. Ich glaube, Sie haben Ihren Kampf gegen das Auto noch nicht aufgegeben.
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Ist der Vorschlag denn wenigstens sozial gerecht? Auch da halten Sie dem Praxistest nicht stand. Sie wollen ein Bürgerenergiegeld einführen, also eine Kopfpauschale, bei der jeder Bürger Geld zurückerstattet bekommt, das ihm erst abgeknöpft wird. Konkret heißt das: Der Bürger geht in Vorleistung und wartet brav, dass er sein eigenes Geld wieder zurückbekommt.
Obendrein würden Sie eine Bürokratie aufbauen. Wir bräuchten von jedem die Kontodaten, um 7,50 Euro pro Person und Monat überweisen zu können. Das ist eine Lösung aus dem Theoriehandbuch, meine Damen und Herren!
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Herr Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herzlich gerne, ja.
Entschuldigung, Herr Kollege, aber da sind jetzt so viele verdrehte Zahlen im Raum, dass ich da doch kurz hineingehen will.
Erstens. Wir fordern nicht 15 Cent plus 16 Cent. Sie fordern 15 Cent, wir fordern 16 Cent; das ist kein sehr großer Unterschied.
Zweitens. Auch die Bahn zum Beispiel zahlt für ihre Strecken. Dass also über den Autoverkehr auch zum Beispiel die Straßen mitfinanziert werden, das ist etwas völlig Normales. Das können Sie nicht auf den CO2-Preis anrechnen.
Drittens. Zum Bürgerenergiegeld haben Sie gerade gesagt, es bringe doch gar nichts, wenn man zum Ende des Jahres etwas zurückbekomme. Wir sind doch der Gesetzgeber! Dann gestalten wir es eben so, dass man das Geld vorher zurückbekommt. Bei der EEG-Umlage funktioniert das doch auch, dass man die Berechnung vorher vornimmt und die Umlage macht und dann hinterher ausgeglichen wird. Natürlich kann man das Bürgerenergiegeld auch am Anfang des Jahres auszahlen; dann hat es jeder Bürger.
Und ja, natürlich ist das sozial gerecht. Die Reicheren, die reichsten 10 Prozent der Deutschen verursachen ungefähr so viel CO2-Ausstoß wie die gesamte ärmere Hälfte zusammen. Das heißt, die Leute mit wenig Geld in der Tasche bekommen über das Bürgerenergiegeld deutlich mehr Geld zurück, als sie über den CO2-Preis zahlen.
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Das, was ungerecht ist, das ist der Status quo. Das, was ungerecht ist, das ist heute, dass wir nämlich die knappe Ressource Atmosphäre – das Ziel, wie viele Emissionen eigentlich noch gehen für die Klimaziele,
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unterstützen auch Sie – völlig kostenlos hergeben, die aber massiv, vor allem von den Wohlhabenden, genutzt wird. Das heißt, der Status quo ist doch so, dass die Leute mit wenig Geld in der Tasche –
Frau Kollegin!
– diejenigen subventionieren, die viel Geld haben.
Danke.
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Ich hatte etwas Mühe, die Frage zu identifizieren, die Sie mir jetzt in Ihren drei Minuten vorgetragen haben.
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Aber ich kann gerne versuchen, das zu beantworten.
Noch einmal: Wenn man Ihre 16 Cent in ein Bürgerenergiegeld umrechnet, dann kommen 7,50 Euro bis maximal 8 Euro pro Monat pro Person heraus. Das wollen Sie jedem Deutschen monatlich überweisen, und dazu brauchen Sie von jedem die Kontodaten. Die haben Sie nicht. Das ist ein riesengroßer Bürokratieweg. Deshalb haben wir einen anderen, einen pragmatischeren Weg vorgeschlagen. Wir haben die Pendlerpauschale erhöht, wir haben für Geringverdiener einen Mobilitätsbonus eingeführt, und wir werden die EEG-Umlage weiter absenken. Wir haben es Anfang dieses Jahres gemacht, und wir werden es auch in Zukunft tun. Genau das ist der Weg, den wir, die Union, weitergehen wollen: Wenn der CO2-Preis weiter steigt, müssen an anderer Stelle Steuern und Abgaben in gleichem Umfang sinken. Das ist unser pragmatischer Weg. Wir brauchen Ihr kompliziertes Bürgerenergiegeld nicht.
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Wir müssen das Geld den Bürgern nicht umständlich zurückgeben, sondern wir nehmen es ihnen erst gar nicht aus der Tasche. Ein bisschen mehr Pragmatismus bei der Debatte!
Warum also brechen Sie so etwas vom Zaun? Alles, was Sie mit dieser Debatte bewirken, ist, dass sich die Menschen von so einer Politik abwenden, weil sie Klimaschutz als Konsumverzicht empfinden. Dafür gibt es in diesem Land keine Mehrheiten. Damit schaden Sie aktiv dem Klimaschutz in diesem Land. Deshalb bin ich umso dankbarer dafür, dass wir, die Union, hier in den letzten Jahren für eine klare nachhaltige Politik eingestanden sind.
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Wir müssen es nämlich in Zukunft schaffen, dass wir Gesetze nicht nur nach den Kosten bewerten, sondern auch nach dem Nutzen. Das können wir am besten, indem wir die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN nehmen und daran messen, was die Gesetze in Zukunft bringen. Ich bin froh, dass der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung genau das so durchgesetzt hat und der Bundestag letztes Jahr die entsprechenden Mittel genehmigt hat, um ein solches System zu entwickeln.
Insofern bin ich dem Bundesverfassungsgericht sehr dankbar für sein Urteil, weil es genau diese Politik unterstützt. Politik muss sich daran messen lassen, ob sie generationengerechte Entscheidungen trifft. Wir müssen Lust auf die Bekämpfung des Klimawandels machen, indem wir zu Forschung und Innovation anreizen, Ideen umsetzen, und nicht, indem wir den Leuten Konsumverzicht predigen. Dafür werden Sie keine Mehrheiten haben.
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Mit Blick auf Ihr Wahlprogramm kann ich nur sagen: Ihr Ausgabenwahlprogramm ist höchstwahrscheinlich verfassungswidrig. Das macht nämlich schon einen Unterschied aus zwischen einer Partei, die Führungsanspruch will, und einer Partei, die Führungsanspruch hat: die Größe, sich an den eigenen Forderungen messen lassen zu müssen. Darum wird es in diesem Wahlkampf gehen.
Danke.
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Michael Thews, SPD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Klimaschutz – das wurde heute in der Debatte noch einmal ganz deutlich – ist das zentrale Thema unserer Zeit. Aber ich will den Blick noch etwas weiten; denn der Schutz der natürlichen Ressourcen, der Umbau der Wirtschaft zu einer Kreislaufwirtschaft und die Bewahrung unserer Umwelt sind keinesfalls von dem Thema Klimawandel zu trennen. Nachhaltiges Handeln ist essenziell, um nachfolgenden Generationen ein Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen, bei einem gleichzeitig hohen Lebensstandard auch für zukünftige Generationen.
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Die Vielfältigkeit des Begriffs „Nachhaltigkeit“ spiegelt sich dabei in den 17 SDG. Ich habe dieses Zeichen wie viele Kolleginnen und Kollegen hier am Revers. Sie sind 2015 im Rahmen der Agenda 2030 festgelegt worden. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Ziele im Auge behalten.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat auch in dieser Legislaturperiode wieder viele Fachgespräche mit Vertretern und Vertreterinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und vielen mehr zu diesem Thema geführt. Ich will das hier noch einmal ganz deutlich sagen: Das, was wir daraus gelernt haben, das, was wir von den Experten erfahren haben, ist, dass Geschäftsmodelle, Vorhaben, die heute Nachhaltigkeit nicht berücksichtigen, langfristig scheitern werden. Das muss man einfach an dieser Stelle festhalten.
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Deutschland hat die Chance, Innovationen voranzubringen. Wir sprechen aktuell von der Dekade des Handelns für Nachhaltigkeit. Wir müssen heute die Weichen stellen, um dieser Vorreiterrolle gerecht zu werden. Mit der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir einen Fahrplan, um dieses Ziel erreichen zu können. Die Nachhaltigkeitsziele dürfen aber dabei nicht isoliert betrachtet werden, sondern sie müssen zusammen gedacht werden. Genau da greift jetzt die Nachhaltigkeitsstrategie an. Der Klimawandel und die Coronapandemie haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, vorausschauend zu handeln. Das Thema Resilienz, also Krisenvorbeugung und Krisenbewältigung, wurde ebenfalls in der Aktualisierung der Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen. Aus meiner Sicht, aus unserer Sicht ist das auch das richtige Zeichen.
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Im PBnE haben wir die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie intensiv begleitet. Zur Zusammenarbeit will ich hier noch einmal sagen – die Diskussion ist heute sehr aufgeregt, der Wahlkampf lässt grüßen –: In vielen Dingen waren wir konsensorientiert. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung mitgewirkt haben.
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Um der Nachhaltigkeit auch auf parlamentarischer Ebene noch mehr Gewicht zu verleihen, bedarf es allerdings grundlegender Veränderungen. Wenn wir natürliche Ressourcen unserer Ökosysteme und das Klima schützen wollen, dann muss Nachhaltigkeit das zentrale Prinzip des politischen Handelns werden. Hierfür brauchen wir noch weiter reichende Gesetzesfolgenabschätzungen und die Umwandlung des PBnE in einen eigenen Nachhaltigkeitsausschuss. Der PBnE hat deshalb eigene Vorschläge eingebracht und in seinem Arbeitsbericht noch einmal darauf hingewiesen.
In den Fachgesprächen des PBnE wiesen die Expertinnen und Experten immer wieder auch auf die Rolle der Kreislaufwirtschaft hin, eine Auffassung, die ich bekanntermaßen teile. Nicht umsonst ist die Nachhaltigkeitsstrategie als eine der neuen Transformationsbereiche mit aufgenommen worden. Dabei geht es darum, dass wir als Einzelpersonen nicht nur weniger Ressourcen verbrauchen, sondern dass Konsum und Produktion komplett neu gedacht werden. Ressourcen dürfen nicht mehr verbraucht werden, sie müssen gebraucht werden. Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz, dem Verpackungsgesetz, der Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung und vielem mehr haben wir in dieser Legislaturperiode viel erreicht. Meine Fraktion hat immer dafür gekämpft, dass wir diese Dinge auch voranbringen.
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Mit dem beschlossenen Kohleausstieg, der Reform des Erneuerbare- Energien-Gesetzes und dem Klimaschutzgesetz haben wir den anderen wichtigen Bereich der regenerativen Energien in dieser Legislaturperiode wirklich angepackt und viele Dinge dort auf den Weg gebracht. Das Denken in Kreisläufen stellt eine wichtige Säule der Nachhaltigkeit dar. Der SPD ist es deswegen besonders wichtig, dass auch die soziale Dimension nicht vernachlässigt wird. Nachhaltigkeit darf nicht nur für diejenigen attraktiv sein, die es sich leisten können. Auf diesem Weg müssen wir alle Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, denn Nachhaltigkeit bringt auch neue Chancen für uns und folgende Generationen.
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Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt nicht nur in Deutschland, sondern auch für unsere Partner in der ganzen Welt. Die Verstöße gegen Menschenrechte und die Zerstörung der Umwelt werden wir auch hier vor Ort langfristig spüren. Dafür brauchen wir auch ein starkes und durchsetzungsfähiges Lieferkettengesetz.
Fairer Bedingungen bedarf es hierzulande auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildung und im Gesundheitssystem. Wir setzen uns für die Verbindung von sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit ein. Denn das zentrale Prinzip der Agenda 2030 – wir haben es gerade schon gehört – lautet: „Leave no one behind“ – niemand soll zurückgelassen werden. Nur so kann echte Nachhaltigkeit wirklich entstehen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sybille Benning, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Aufbruch in ein Jahrzehnt der Nachhaltigkeit“, das war das Motto des 20. Jahrestages des Rates für Nachhaltige Entwicklung am Dienstag. Innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen wirtschaften und zugleich ein Leben in Würde für alle Menschen ermöglichen, das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen als „die größte wirtschaftliche Transformation und Modernisierungschance seit der deutschen Einheit“ bezeichnet.
Unser Fahrplan dafür ist die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Ich bin überzeugt, dass wir für die gelungene Transformation zu einer nachhaltigen Lebensweise eine aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger brauchen. Wir müssen uns als Gesellschaft darüber verständigen, wie wir uns ein gutes Leben künftig vorstellen und wie wir zu einem wertorientierten, nachhaltigen Wachstum kommen.
Als Mitglied des Bildungs- und Forschungsausschusses bin ich gerne Botschafterin für Nachhaltigkeit innerhalb und außerhalb des Parlaments; denn das BMBF fokussiert schon große Bereiche seines Handelns auf Nachhaltigkeit. Im Bildungsbereich wird der Nationale Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung konsequent umgesetzt. Wir haben die Mittel für die FONA-Strategie, die Strategie der Forschung für Nachhaltige Entwicklung, jetzt auf 4 Milliarden Euro verdoppelt. Zum Beispiel erforscht FONA ressourceneffiziente Stadtquartiere für die Zukunft. Wissenschaft und Forschung helfen, die Transformation real werden zu lassen und Chancen zu nutzen und geben der Wirtschaft Planungssicherheit.
Nachhaltigkeit ist eine Querschnittsaufgabe, die alle Politikbereiche betrifft. Wir haben großen Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie, denn wir verfehlen ihre Ziele in vielen Bereichen. Der PBnE hat in mehreren Stellungnahmen in dieser Wahlperiode formuliert, wie wir Nachhaltigkeitspolitik strukturell wirksamer umsetzen können. Dazu zählt ein kohärenteres Handeln der einzelnen Ministerien und, in jeder Legislaturperiode eine Bestandsaufnahme zur Umsetzung und Erreichung der 17 Ziele zu erarbeiten, als Grundlage für Etappenziele, die die Bundesregierung sich jeweils vornimmt. Das haben wir schon beschlossen.
Für die kommende Wahlperiode hoffe ich, dass die Plenarwoche „Nachhaltigkeit und Klima“ eine feste Institution im Parlamentskalender werden wird, weil das Plenum des Bundestags der Ort für gesamtgesellschaftliche Zukunftsfragen ist. Wir müssen das große Ganze bei unseren Zielen für Klimaneutralität, Ressourcenschonung, Artenvielfalt, nachhaltiges Wachstum im Blick behalten, und es muss regelmäßig Grundsatzdebatten dazu geben.
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Die vielleicht noch wichtigere Empfehlung ist, einen echten Nachhaltigkeitscheck für Gesetze durchzuführen. Ich erhoffe mir davon mehr Transparenz über Zielkonflikte, die es häufig zwischen einzelnen Zielen der nachhaltigen Entwicklung gibt, und eine für jeden nachvollziehbare Bewertung dieser Dilemmata.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es war mir eine große Ehre, die Arbeit des PBnE der letzten beiden Wahlperioden zu begleiten. Da dies voraussichtlich meine letzte Rede im Plenum des Bundestages ist, möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen, die sich für die konsensuale Arbeit in diesem Beirat konstruktiv engagiert haben, für die gute, fraktionsübergreifende Zusammenarbeit danken.
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Wir sollten den Aufbruch in ein Jahrzehnt der Nachhaltigkeit beherzt angehen. Ich drücke die Daumen, dass dafür in der kommenden Wahlperiode auch ein neuer Ausschuss für nachhaltige Entwicklung einen Schub gibt.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marco Bülow.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass fehlender Klimaschutz die Freiheit der jungen und der zukünftigen Generationen gefährdet. Ich würde deswegen gerne die kurze Redezeit nutzen, um über den Begriff „Freiheit“ zu sprechen.
Freiheit ist ein sehr hohes Gut, auch für mich. Hannah Arendt, die Philosophin, hat das in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt und dazu einen Aufsatz „Die Freiheit, frei zu sein“ verfasst. Ich kann nicht nur jedem Liberalen, sondern allen Menschen empfehlen, dieses Buch zu lesen. Ihre Hauptaussage ist: Für die Freiheit, frei zu sein, muss die Befreiung der Freiheit vorangehen, die Befreiung von Furcht und sozialer Not; ansonsten gibt es keine Freiheit.
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Genau das muss im Mittelpunkt stehen. Das hat absoluten Vorrang. Deswegen ist die Anwendung von „Freiheit“ auf die Freiheit des Marktes oder die Freiheit beim Rasen auf der Autobahn eine absolute Verkürzung, nicht statthaft und diesem Begriff nicht angemessen.
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Hans Jonas, ein weiterer Philosoph, hat das erweitert und die Verbindung von Freiheit und Verantwortung hergestellt. Er spricht von der Verantwortung unseres Handelns und vom Prinzip Verantwortung, wobei er sich auch auf Kant beruft. Bei ihm wird deutlich, dass wir nicht alles tun dürfen, was wir wollen oder was wir können. Freiheit endet immer da, wo sie die Freiheit von anderen und eben auch der zukünftigen Generationen einschränkt. Seine Maxime ist:
Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz
– ich wiederhole: mit der Permanenz –
echten menschlichen Lebens auf Erden.
Auch das ist eine umweltpolitische Verantwortung: unsere Lebensgrundlagen permanent zu schützen. Ansonsten wird die Freiheit gefährdet, spätestens die unserer Kinder und Enkel. Genau so sollten wir handeln.
Das heißt, dass Umwelt- und Klimaschutz Menschenschutz ist; das vergessen wir so häufig. Genau dort haben wir versagt, dort sind wir unserer Verantwortung eben nicht gerecht geworden, weil wir in den letzten 30, 40 Jahren nicht darauf geachtet haben, dass wir alle Ressourcen verbrauchen, dass wir so viel CO2 in die Luft schießen, dass, wenn wir so weitermachen, unsere Kinder eben nicht mehr diese Freiheit haben. Das ist übrigens mit dem Begriff der „Ökodiktatur“ gemeint. Dieser Begriff meint nicht, dass irgendjemand Beschränkungen usw. beschließt, sondern der Begriff der „Ökodiktatur“ meint, dass wir heute so handeln, unsere Beschlüsse so umsetzen, dass unsere Kinder und Enkel am Ende eben nicht mehr frei sind, dass sie unter einer Ökodiktatur leben. Das ist die klare Einschränkung von Freiheit, die wir nicht zulassen dürfen.
Deswegen müssen wir handeln, und deswegen ist es auch unstatthaft, ökologische und soziale Belange auseinanderzubringen. Es ist unglaublich, dass einige auf einmal ihr soziales Herz entdecken – nach vielen unsozialen Beschlüssen –, wenn es um Klimapolitik geht. Genau das müssen wir unterbinden, und wir müssen es hinbekommen, diesen Freiheitsbegriff wieder auf die Füße zu stellen. Dann wären wir einen Schritt weiter, und dann hätten unsere Kinder und Enkel auch eine Chance.
Vielen Dank.
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Matern von Marschall, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Im September 2015 haben die Vereinten Nationen die globalen Nachhaltigkeitsziele angenommen. Es waren nur zwei Parlamentarier aus dem Deutschen Bundestag dort: der Kollege Träger von der SPD und ich. Es war insofern auch der Beginn einer stärkeren parlamentarischen Beteiligung bei diesem global relevanten Thema. Wenn ich „parlamentarische Beteiligung“ sage, dann meine ich auch eine Beteiligung der Öffentlichkeit, die wir als Parlamentarier in dieser repräsentativen Demokratie hinaustragen. Das ist jetzt sehr viel besser geworden; wir hatten hier eine Debatte dazu. Wir hatten den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Guterres, hier zu Gast, der im Dezember vergangenen Jahres auch auf diese wichtigen Ziele hingewiesen hat.
Was können wir, was kann Deutschland im internationalen Kontext beitragen, um die Erreichung dieser Ziele auch in anderen Ländern voranzubringen? Es geht hier vor allen Dingen auch um die Frage der Datenerhebung. Es geht also um die Frage: Wie können die Indikatoren, die in dieser globalen Nachhaltigkeitsagenda existieren, besser, überprüfbarer sozusagen evaluiert und dargelegt werden? Da machen wir einiges. Da machen wir vor allen Dingen vieles in der Forschung, und da ist noch viel Arbeit zu leisten, insbesondere wenn ich mir anschaue – das ist mit dem Begriff „Mutter Erde“ so wesentlich verknüpft –, wie wir den internationalen Schutz der Wälder – Kollege Hoffmann von der FDP hat es angesprochen –, aber auch der Böden vorantreiben müssen. Hierzu müssen wir aber auch erst einmal wissen, welchen Beitrag zum Klimaschutz diese Maßnahme, nämlich die Kohlenstoffspeicherung in Böden, die Kohlenstoffspeicherung in Wäldern, eigentlich leistet. Hier ist viel Forschungsarbeit zu leisten, Forschungsarbeit, die etwa auch in meiner Heimatstadt, in Freiburg im Breisgau, in der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt geleistet wird, Forschung, die aus dem Bundesforschungsministerium und auch aus dem Landwirtschaftsministerium unterstützt wird und die dann auch andere Länder in die Lage versetzt, ihre Beiträge zum globalen Klimaschutz besser, zielgerichteter und nachvollziehbarer zu machen.
Wir unterstützen diese Arbeit zum Beispiel auch beim Schutz des Regenwaldes in großem Umfang und übrigens auch im Einklang mit dem Schutz der indigenen Völker, die in weiten Teilen in diesen großen Naturräumen, den großen Urwäldern, leben. Ich halte das für ganz wichtig. Dort gehen Menschenrechte mit globalen Nachhaltigkeitszielen und Klimaschutz Hand in Hand.
Ich denke, wir sollten in Zukunft noch mehr darauf achten, dass die freiwilligen Berichte der Länder, auch der Bundesrepublik Deutschland, zum Fortschritt bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele, die den Vereinten Nationen vorgelegt werden, auch uns Parlamentariern rechtzeitig zur Verfügung stehen, damit wir die Diskussion um unser Fortkommen hier im Parlament auch führen können.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit und Ideologie, das passt nicht zusammen. Der Erfolg von Nachhaltigkeit liegt im einvernehmlichen und verständlichen Miteinander in unserer Gesellschaft, nicht im Verbot, nicht im Gesetz und nicht im sozialen Druck. Der Erfolg liegt in der Akzeptanz.
Nachhaltigkeit beginnt bei jedem von uns, und Nachhaltigkeit endet in der Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Deutschland, seine Regierungen, seine Unternehmen und Konzerne, aber besonders auch unsere Bürgerinnen und Bürger sind schon weit auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lebensweise. Lassen Sie mich in aller Kürze drei Bereiche dazu ansprechen.
Erstens. Den deutschen Wäldern geht es mehrheitlich nicht gut – und das, obwohl der Nachhaltigkeitsbegriff originär aus der Forstwirtschaft kommt. Der Klimawandel setzt unseren Wäldern zu.
Weltweit ist der herkömmliche Bausektor ein großer CO2-Treiber, wenn mit Asphalt, Beton und Stahl gearbeitet wird. Holz wird mit seinen klimapositiven Eigenschaften dringend gebraucht. 1 Kubikmeter Holz bindet 1 Tonne CO2. Moderne Holzbauten haben lange Lebensdauern, eine hohe Wertbeständigkeit und erfüllen dabei heute auch strengste Bauauflagen. Architekten, Planer, Bauherren und Behörden müssen hier stärker umlenken.
Wichtig ist jetzt, unsere Wälder mit einem Waldumbau fit für die Zukunft zu machen. Wir müssen jetzt die Grundlagen legen, um für die Zukunft unsere Wälder als Naturraum und Rohstofflieferant zu erhalten.
Zweitens: die Zukunft unserer Energieversorgung. Deutschland wird auch in Zukunft einen großen Teil seiner Energie importieren müssen. Für den Import der Energieträger der Zukunft ist die Rolle der deutschen Seehäfen als Energiehäfen enorm wichtig; das gilt insbesondere für den Import von CO2-neutralem Wasserstoff und dessen Derivaten. Alle Infrastrukturen für Umschlag und den Weitertransport sind auszubauen. Die Häfen sind die Steckdosen, der Backbone einer nachhaltigen Energieversorgung. Die Seehäfen ermöglichen Deutschland auch neue globale Kooperationen und Energiepartnerschaften und halten uns unseren Einfluss auf globale nachhaltige Entwicklung offen.
Drittens: regionale Lebensmittelversorgung. Die Bürgerinnen und Bürger auch in meinem Wahlkreis wollen regionale Produkte kaufen, essen und genießen. Unsere Bäuerinnen und Bauern sind hier der beste Partner an unserer Seite; sie sind nicht die Klimaferkel der Nation. Wir müssen den „grün“ gelabelten Lebensstil der Stadtbevölkerung mit den Lebensbedingungen und den Produkten des ländlichen Raumes in Einklang bringen. Das wäre wahre regionale Nachhaltigkeit.
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Eine moderne Landwirtschaft bedeutet schon im Selbstverständnis unserer Landwirte einen nachhaltigen Umgang mit Ökosystem und Klima. Das und nichts anderes – schon gar nicht Verbote – führt zu einer angemessenen Wertschätzung der Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber unseren Bäuerinnen und Bauern.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihr Interesse.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Großer Aufruhr jüngst in Frankreich.
Herr Baumann, das war ein kleines Missverständnis.
Wie bitte?
Es sitzt hier gerade eine Präsidentin.
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Ach so. Ich beginne noch mal von vorne.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Großer Aufruhr jüngst in Frankreich. Ein Brandbrief, eine Warnung: Tausend hohe Offiziere, darunter 20 Generäle, hatten den Mut, das Scheitern der Integration offen zu benennen: Ganz unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten träfen aufeinander, unvereinbar und immer gewalttätiger. Frankreich drohe der Bürgerkrieg. Wörtlich: „Die Gewalt nimmt von Tag zu Tag zu.“ Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Lehrer vor ihren Schulen enthauptet würden?
Bei uns sind die Probleme nicht viel kleiner, nur traut sich hier niemand, so offen darüber zu reden. In Umfragen sagen 78 Prozent der Deutschen, sie hätten Angst, offen über kritische Themen wie Migration zu reden. Fast 80 Prozent!
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Das ist Ihre Schuld.
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Sie entfachen ein Klima der Einschüchterung. Sie demontieren unsere Demokratie.
Schlimmer noch: Selbst Wissenschaftler trauen sich hierzulande nicht mehr, negative Folgen der Integration zu untersuchen. Einer der führenden Migrationsforscher in Europa, Ruud Koopmans von der Berliner Humboldt-Universität, klagt jetzt an – wörtlich –: „Es wird die Forschung gefördert, die politisch gewünscht ist.“
Wenn es um Integrationsprobleme geht, darf nur politisch korrekt gefragt werden.
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Fragen lauten dann: Wo werden Migranten diskriminiert, ausgegrenzt, von Teilhabe ausgeschlossen? Schuld sind dann meistens die Deutschen. Nicht erforscht werden kulturelle Wertvorstellungen und Verhaltensmuster, die Migranten aus ihren Herkunftsgebieten mitbringen und die auch Integration behindern können. Solche Forschung wird finanziell ausgetrocknet; denn – so Koopmans – an der Integrierbarkeit fremder Kulturelemente dürfe hierzulande nicht gezweifelt werden. In Deutschland werden also Forschung und freie Wissenschaft unterdrückt, weil Sie alle hier die Antworten fürchten, weil die nicht in Ihr links-grün verzerrtes Weltbild passen, meine Damen und Herren.
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Die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek warnt: Die massiven Kulturunterschiede sind so groß, dass sie – wörtlich – danach schreien, empirisch untersucht zu werden. Sie hat recht. Vieles in Deutschland entwickelt sich geradezu dramatisch. Kelek verweist auf die Frauen, die in Frauenhäusern Schutz vor ihren Männern suchen,
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und von denen sind 80 Prozent aus dem muslimischen Kulturkreis kommend. Ein weiteres Beispiel ist die Verstümmelung der Genitalien von Frauen und Mädchen. Hierzulande erlebten diese Tortur bereits 70 000 Frauen und Mädchen, oft ohne Betäubung, dazu Abertausende Zwangsehen, Kinderehen, Verwandtenehen, Ehrenmorde; allein in Berlin 6 000 Zwangsehen im Jahr.
All dies wollen die Altparteien nicht wahrhaben. Hier zeigen sich völlig andere Menschenbilder. Das sind die schmutzigen Seiten von Multikulti. All das blenden Sie aus, um weiter Ihrer Utopie, ja geradezu Ihrer Religion von Buntheit und Vielfalt zu huldigen, und das kann so nicht weitergehen, meine Damen und Herren.
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Ähnlich ist es mit den eingewanderten orientalischen Clans. In mittlerweile fast allen deutschen Großstädten terrorisieren sie ganze Stadtteile, kassieren Schutzgeld, handeln mit Drogen, mit Frauen, mit Waffen.
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All diese Menschen bringen ihre Kultur mit. Die Polizei spricht von ethnisch-kultureller Kriminalität. Das Landeskriminalamt NRW sagt wörtlich: Tradierte Verhaltensmuster aus den Herkunftsländern werden in Deutschland weitergelebt. – Also entstehen auch Clans nicht durch Diskriminierung und Ausgrenzung, sondern durch die mitgebrachte Kultur.
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Diese Hintergründe müssen wir besser erforschen. Sie stemmen sich verbissen dagegen, weil Sie die Realität auf unseren Straßen schlicht nicht wahrhaben wollen, meine Damen und Herren.
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Auch auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt kann sich die Kultur auswirken, sagen Experten wie Wolfgang Horst Reuther. Er war 38 Jahre bei den Vereinten Nationen, auch viele Jahre als UNESCO-Direktor in arabischen Ländern. Er lernte dort: Verhaltenskultur und Mentalität können auch die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. In der orientalischen Großfamilienkultur gebe es Dinge wie Loyalität, Verlässlichkeit und gute Zusammenarbeit meist nur innerhalb von Familienverbänden; darüber hinaus wird es problematisch. Vertrauen, Teambildung, präzise Zuarbeit – in westlichen Firmen selbstverständlich – sind oft nur schwer möglich. Also auch bei Arbeitskulturen gilt Reuthers Zitat: Beide Welten sind wenig kompatibel. – Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! Auch Arbeitsmarktprobleme müssen nicht von vornherein Folge von Diskriminierung sein. Sie könnten auch kulturelle Hintergründe haben, die wir vielleicht nur sehr schwer ändern können. Das müssen wir besser erforschen.
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Ein ähnliches Bild an unseren Schulen! Forscher stellen zum Beispiel fest, dass Schüler vietnamesischer Herkunft den Sprung aufs Gymnasium sehr schnell schaffen. 64 Prozent schaffen das, fünfmal häufiger als türkischstämmige Schüler – fünfmal so häufig! Dabei starten die Migranten aus Vietnam mit ähnlichen Vorbedingungen, mit ebenso geringen Deutschkenntnissen, kommen aus ähnlich niedrigen sozialen Schichten und haben ein ähnlich geringes Bildungsniveau als Ausgang wie die aus der Türkei. Auch hier gilt: Der jeweilige Bildungserfolg basiert – so die Forscher wörtlich – auf den unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Traditionen. – So kann man sämtliche Gesellschaftsbereiche durchgehen.
Der wohl weltweit renommierteste Migrationsforscher Professor Paul Collier von der Universität Oxford sagt wörtlich: Es gibt, so unbequem dies auch sein mag, erhebliche kulturelle Unterschiede, die wichtige Aspekte des sozialen Verhaltens prägen, und Migranten bringen diese Kultur mit. – So Collier. Und Teile dieser mitgebrachten Kultur behindern bei uns nicht nur die Integration der Zuwanderer. Schlimmer: Sie drohen bei anhaltender Massenzuwanderung unsere deutsche und europäische Kultur zu verändern, unsere Identität, unser kulturelles Selbst – in eine Richtung, die wir nicht wollen und die auch die Mehrheit in Deutschland und Europa nicht will, meine Damen und Herren.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christoph de Vries das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Baumann, wenn Sie es in Ihrer ganzen Rede nicht schaffen, ein einziges Wort zu verlieren über die Anträge, die von Ihnen heute vorliegen, dann können Sie auch nicht von uns erwarten, dass wir uns ernsthaft mit Ihren Anträgen auseinandersetzen.
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– Ich habe Ihre Anträge gelesen. Der Titel eines Antrags lautet: „Dem radikalen Islam den Boden entziehen“. Ich kann Ihnen sagen: Mindestens genauso wichtig ist es, der radikalen AfD in Deutschland den Boden zu entziehen, Herr Kollege Baumann.
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Die Agitation gegen den Islam und gegen alle Musliminnen und Muslime in Deutschland ist seit der Gründung der AfD ein Eckpfeiler der Partei; sie gehört gewissermaßen zur DNA.
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Es gibt kein prominentes Mitglied Ihrer Partei, das sich nicht schon abfällig und diffamierend über Muslime in Deutschland geäußert hat. Damit verlassen Sie immer wieder den Boden konstruktiver Religionskritik, wie sie auch in Deutschland geübt werden muss, Herr Kollege Baumann.
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Sinnbildlich dafür ist der Ausspruch von Alice Weidel – man muss das immer wieder wiederholen –, die hier gesagt hat:
Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.
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Das ist genau Ihr Menschenbild. Sie sprechen heute von „islamischer Radikalisierung“. Da sieht man schon, dass Sie gar nicht unterscheiden wollen zwischen dem Islam als Religion und islamistischem Extremismus, über den wir reden müssen.
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Aus Ihrer ganzen Rede ist hervorgegangen: Sie haben kein Interesse an einem friedlichen Zusammenleben in Deutschland, an Lösungen. Ihnen geht es darum, eine Gruppe zu diffamieren, an den Pranger zu stellen, Muslime in Deutschland unter Generalverdacht zu stellen und das Land zu spalten.
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Sie haben kein Interesse an einem friedlichen Zusammenleben, Herr Baumann.
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Deswegen werden wir auch keine Zeit auf dieses Antragssammelsurium verschwenden, das Sie uns hier vorgelegt haben.
Ich will darüber reden, was wir als Union machen. Ich freue mich, dass wir ein Positionspapier zum politischen Islamismus verabschiedet haben. Da beschreiten wir einen anderen Weg als Sie: Probleme klar benennen, Integrationshemmnisse Schritt für Schritt beseitigen, aber auch klar zwischen Religion und religiös motiviertem Extremismus unterscheiden.
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– Nein, das ist kein Geschwätz, Herr Kollege Baumann. Die Union ist das Bollwerk gegen Extremismus in allen seinen Formen in Deutschland,
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und das unterscheidet uns maßgeblich von Ihnen.
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Wir verharmlosen nicht den Linksextremismus oder den Rechtsextremismus, aber eben auch nicht den politischen Islamismus, der ja durchaus eine Gefahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Wir haben ein Problem damit; das ist überhaupt keine Frage. Darüber müssen wir auch reden.
Viel zu lange lag der Fokus auf dem islamistischen Terrorismus. Aber es geht natürlich auch darum, den Blick auf den ideologischen Nährboden zu werfen, der darunter liegt; da bin ich gar nicht von Ihnen entfernt. Wir haben es in den letzten Monaten gesehen: Wir hatten die grauenhafte Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty, die dazu geführt hat, dass Hunderte Schülerinnen und Schüler auch in Deutschland, in Berlin und anderswo Sympathiebekundungen für diese abscheuliche Tat geäußert haben. Das zeigt uns doch, dass wir ein Problem haben. Als vor Kurzem Bomben der Hamas auf israelische Städte wie Tel Aviv und andere flogen, gab es auch Sympathiebekundungen, gab es Flaggenverbrennungen, wurden übelste judenfeindliche Hassparolen geschrien. Das zeigt uns, dass es hier natürlich Handlungsbedarf gibt.
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– Genau. Aber wir machen das mit dem Ziel,
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unsere freiheitliche Gesellschaft zu bewahren. Wir machen das mit einem konstruktiven Impuls.
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Wir machen das – das will ich auch sagen – zusammen mit den vielen, vielen liberalen, gut integrierten Muslimen, die unsere Grundwerte in Deutschland teilen,
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die im Übrigen auch immer wieder Opfer von Bedrohungen durch Islamisten in Deutschland werden. Wir machen das nicht gegen diese Menschen.
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Dieses Positionspapier haben wir einstimmig beschlossen. Das ist auch nicht so ein Stückwerk, wie Sie es vorgelegt haben, sondern das ist ein ganz umfassender Handlungsansatz. Wir brauchen breite Grundlagenforschung in Deutschland. Wir haben über 200 Lehrstühle im Bereich Antisemitismus/Rechtsextremismus – alles wichtig und notwendig –; wir haben aber keinen einzigen im Bereich des Islamismus. Da müssen wir dringend in Deutschland etwas machen.
Wir wollen eine Dokumentationsstelle „Politischer Islamismus in Deutschland und Europa“, die wissenschaftliche Forschungs- und Dokumentationsarbeit zu den Aktivitäten des politischen Islamismus leistet. Wir wollen auch einen Expertenkreis „Politischer Islamismus in Deutschland“ beim Bundesinnenministerium einrichten, der der Bundesregierung und dem Bundestag jedes Jahr einen Bericht zu den Entwicklungen im Bereich des Islamismus in Deutschland vorlegt und die Verantwortungsträger sensibilisiert. Ich kann Ihnen versichern: Wir meinen das ernst. Wir werden noch in dieser Wahlperiode konkrete Schritte umsetzen.
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Ich bin dem Bundesinnenminister, der heute nicht dabei sein kann, ausdrücklich dankbar, dass er diesen Weg mitbeschreitet und dass er das unterstützt.
Denn eins ist auch völlig klar: Vereine und Verbände, die eine Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung sind, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet werden, können nicht gleichzeitig Partner unseres Staates sein. Sie können nicht mit finanziellen Mitteln unterstützt werden. Das muss in Zukunft beendet werden.
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Meine Redezeit ist fast zu Ende. Aber ich will noch eines sagen, auch mit Blick auf meine Heimatstadt Hamburg. Dort gibt es das Islamische Zentrum Hamburg. Das ist die Propagandazentrale des iranischen Mullah-Regimes in Deutschland. Sie propagiert die Vernichtung Israels; sie bestreitet das Existenzrecht Israels. Diese Organisation macht der Senat der Stadt Hamburg zu seinem Vertragspartner, während er gleichzeitig einen Antisemitismusbeauftragten beruft. Das ist absoluter Wahnsinn. So was darf es nicht mehr geben. Wir brauchen Ablehnung und Distanz zu den Islamisten in Deutschland, und wir müssen sie genauso behandeln wie alle anderen politischen Extremisten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Sonntag starb eine vierköpfige muslimische Familie bei einem rassistischen Anschlag im kanadischen London. Nach Auskünften der Sicherheitsbehörden steuerte der Fahrer eines Pick-up-Trucks sein Fahrzeug gezielt in die Menschengruppe, um Muslime zu töten. Nur ein neunjähriger Junge überlebte. Ereignisse wie dieser Anschlag in Kanada zeigen uns, dass es Gewalt, Diskriminierung und Rassismus gegenüber Muslimen gibt. Dass es das auch in Deutschland gibt, hat der Anschlag in Hanau im Jahr 2020 gezeigt.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland neben der Gewalt gegen Muslime auch ein Problem mit der Diskriminierung von Muslimen. Es ist in Deutschland einfacher, mit den Vornamen Anna oder Anton eine Wohnung zu finden als mit den Vornamen Mohammed oder Fatma. Wir reden auch hier im Bundestag sehr häufig über muslimische Terroristen und Extremisten. Wir reden aber sehr selten über muslimische Unternehmerinnen,
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über Steuerzahler, über muslimische Ärzte, die es in Deutschland sehr wohl gibt und die sich, glaube ich, auch wünschen würden, dass wir mal über diese muslimische Mitte in Deutschland stärker reden.
({1})
Es ist nämlich so, dass wir in den politischen Parteien und auch im Parlament oftmals nicht die nötige Sensibilität mitbringen für Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen bestimmter Gruppen; und dazu gehören auch Muslime. Ich habe das selber erfahren, als ich hier im Bundestag vor einigen Monaten eine Rede gehalten habe, in der ich etwas gegen die Diskriminierung von Muslimen gesagt habe. Ich habe daraufhin unheimlich viele Nachrichten aus der muslimischen Community bekommen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Einladungen zum Fastenbrechen ich bekommen habe. Es waren sehr freundliche Nachrichten, es gab sehr großen Zuspruch und auch sehr großes Interesse an unserem politischen System. Ich habe über die letzten Monate und Jahre mit diesen Menschen sehr intensiven und sehr guten Kontakt und Austausch gehabt, und der besteht auch zum großen Teil bis heute fort.
Bei einem Teil der Menschen und bei einem Teil derjenigen, die mir Nachrichten schreiben, hat sich die Kommunikation aber in den letzten Tagen und Wochen verändert. Das hängt mit den antisemitischen Vorfällen zusammen, die es in den letzten Wochen in Deutschland gegeben hat – auch aus der muslimischen Community.
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Da werden Israelfahnen angezündet, der Polizeischutz für Synagogen muss intensiviert werden. Wir erleben, dass auf Versammlungen, auf die viele Muslime gehen, Transparente hochgehalten werden, auf denen der Holocaust offen relativiert wird.
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Wer so was macht, der hat mit dem erbitterten Widerstand hier aus dem Parlament zu rechnen und der kann keinerlei Toleranz erwarten.
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– Ich würde gerne fortfahren.
Meine Damen und Herren, nachdem ich das entsprechend kommuniziert und thematisiert habe, habe ich interessante Nachrichten bekommen, die mich aber sehr traurig gemacht haben. Die Nachricht, die mich eigentlich am traurigsten gemacht hat, die ich von Muslimen bekommen habe, war die Nachricht: Wir hätten nicht gedacht, dass du dich auch von Juden kaufen lässt. – Das ist eine im Kern antisemitische Aussage, und sie zeigt uns, dass es einen spezifischen Antisemitismus in muslimischen Milieus gibt. Wer über antimuslimischen Rassismus spricht, wer darüber spricht, dass es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Muslimen gibt, der darf nicht dazu schweigen, dass es auch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gibt, die in muslimischen Communitys kultiviert und weitergegeben wird.
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Das ist ein großes Problem, und ich erwarte, dass innerhalb der muslimischen Communitys daran gearbeitet wird.
Ich habe andere Nachrichten bekommen, in denen es hieß: Wir dachten, du bist einer von uns. Wir dachten, du stehst auf unserer Seite. – Ich erwarte auch, dass man innerhalb der muslimischen Communitys mal von dieser Gruppenbezogenheit wegkommt, vom „wir“ oder „ihr“, vom „wir“ oder „die“.
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Es gibt nämlich für Muslime in Deutschland – sehr viele wissen das – auch so etwas wie eine individuelle Verantwortung, zu reflektieren, was es für Radikalisierungsmechanismen in der eigenen Community gibt – Stichwort „Antisemitismus“, Stichwort „Homophobie“. Das brauchen wir. Wir brauchen mehr innermuslimische Debatten. Wir brauchen mehr Religionsunterricht auf Deutsch, am besten mit Imamen und Geistlichen, die in Deutschland nach unseren Standards ausgebildet werden.
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Wir brauchen mehr Pluralismus in den muslimischen Communitys, mehr individuelle Verantwortung und weniger Pauschalisierungen in beide Richtungen. Das wäre ein richtiger und ein guter Schritt.
Herr Kuhle, Sie können weitersprechen, tun das dann aber auf Kosten Ihrer Kollegen.
Deswegen, meine ich, sollten wir diesen Weg gehen.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun Professor Dr. Lars Castellucci das Wort.
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Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sitzungswoche standen wir, denke ich, alle auch unter dem Eindruck der Demonstrationen, die an dem Wochenende und den Tagen davor stattgefunden haben und die die Kampfhandlungen in Israel und Palästina zum Anlass genommen haben, auch hier in Deutschland auf die Straße zu gehen.
Ich will sagen: Man kann in diesem Land von seinem Demonstrationsrecht Gebrauch machen, wenn man das im Rahmen der Gesetze und im Rahmen der gegebenen Regeln tut. Aber hier ist an einigen – ich betone: an einigen – Stellen das Demonstrationsrecht missbraucht worden. Es ist gegen Jüdinnen und Juden Hass und Hetze auf den Straßen gewesen. Es wurden Flaggen verbrannt, es wurde vor Synagogen gezogen, es kam erstmals seit vielen Jahren wieder zu Sachbeschädigung an Gotteshäusern.
({0})
Das – ich kann es nicht anders sagen – war ein Mob auf deutschen Plätzen und Straßen, den ich in diesem Land nicht sehen will. Dieser Mob hat die volle Härte des Rechtsstaates verdient.
({1})
Schon länger ist es so – ich habe mit einigen Gemeinden gesprochen, die betroffen waren –, dass aufgerufen wird, die Kippa nicht in der Öffentlichkeit zu tragen. Zudem wurden in diesen Tagen sogar Gottesdienste abgesagt, weil man nicht für die Sicherheit der Menschen, die in diese Gottesdienste gehen wollen, garantieren kann. Ich sage ganz klar: Das ist beschämend für dieses Land. Und wir dürfen nicht nachlassen, bis in diesem Land jeder, egal welcher Religion, ohne Angst und ungehindert auf die Straße und zu seiner Religionsstätte gehen kann. Das ist unverzichtbar.
({2})
Die AfD, die sich hier schon wieder lärmend bemerkbar macht, hat einen Antrag zu einem Thema vorgelegt, von dem man, wenn man liest, was sie geschrieben hat, den Eindruck bekommt, dass sie sogar im Ansatz etwas davon verstehen könnte. Sie schreiben hier ganz am Anfang Ihres Antrags – ich zitiere –, „dass sehr viele Muslime Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und Religion haben, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind“. Davon verstehen Sie allerdings etwas; denn Sie selber haben ja viele in Ihren Reihen, die Einstellungen haben zu Demokratie, Rechtsstaat und Religion, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind.
({3})
Von Ihnen haben wir da sicherlich keine Ratschläge nötig.
Sie könnten sich auch mal mit etwas Selbstdistanz, die Ihnen natürlich komplett fremd ist, überlegen, warum der Zentralrat der Juden sich immer dagegen verwahrt, von Ihnen vereinnahmt zu werden, und sagt, Ihre Unterstützung im Kampf gegen Antisemitismus werde nicht benötigt.
({4})
Radikalität und Extremismus jeder Form und jeder Couleur lehnen wir ab und müssen wir uns entgegenstellen. Aber die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Feind der Demokratie und die antisemitischen Übergriffe in diesem Land gehen auf das Konto von rechts.
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Das ist das, was die Zahlen uns sagen.
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Deswegen ist unsere erste Aufgabe, dem verlängerten Arm dieser Extremisten im Land, der sich in deutschen Parlamenten in Gestalt Ihrer Partei breitmacht, den Kampf anzusagen; und den sage ich Ihnen hiermit auch an.
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Wer Radikalität entgegenwirken will, muss für drei Dinge sorgen:
Das Erste ist tatsächlich der starke Rechtsstaat. Jetzt will ich auch mal den Koalitionspartner ansprechen: Ein starker Rechtsstaat und Repression heißt eben nicht immer nur, dass man eine neue Gesetzesverschärfung erfindet, sondern wir müssen in allererster Linie dafür sorgen, dass die Gesetze, die wir haben, auch umgesetzt werden.
({8})
Ein Beispiel: Es gab über 500 Teilnehmende an der Demonstration in Mannheim. Die Polizei dort hat es geschafft, dass bei fast zwei Dritteln der Beteiligten Personalien festgestellt worden sind
({9})
und dass mit den Ton- und Videoaufnahmen, die dort gemacht worden sind, nun ein Abgleich stattfinden kann. Ich bin sicher, dass wir in Mannheim eine hohe Aufklärungsquote haben werden
({10})
und dass die Personen, die Fahnen verbrennen und sich antisemitisch äußern, zur Rechenschaft gezogen werden können.
Fragen Sie mal in anderen deutschen Städten, was dort passiert ist. Dort hatte die Polizei zum Teil Mühe, allein diese Demonstrationen abzuriegeln oder zu verhindern, dass die Teilnehmenden vor die dortige Synagoge ziehen. Deswegen: Es kommt auf die Umsetzung unserer Gesetze an. Wir müssen unsere Behörden, wir müssen die Polizei stärken und mit den Ressourcen ausstatten, die sie braucht.
({11})
Sie braucht auch unser Vertrauen und unsere Rückendeckung für den schwierigen Auftrag, den sie für uns alle wahrnimmt.
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Mehr noch als das! Warum ist es in Deutschland eigentlich so, dass man bei jedem blöden Paket, das man irgendwo bestellt hat, nachverfolgen kann, wo es gerade im Stau steckt, wenn man aber eine Anzeige macht, nicht weiß, wie es eigentlich um das Verfahren steht. Ich schlage Ihnen vor, dass wir ein Dashboard entwickeln, in dem jeder, der eine Anzeige aufgibt, jederzeit nachschauen kann, wie es um das Verfahren steht, bis es zu einer Verurteilung gekommen ist.
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Das wäre ein Fortschritt.
Und wissen Sie, was der erste Schritt dazu gewesen wäre? Ein periodischer Sicherheitsbericht;
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der ist diesem Parlament auch versprochen worden.
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Was bis zum heutigen Tage dieser Legislaturperiode eben nicht vorliegt, ist der periodische Sicherheitsbericht.
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Er hätte uns möglicherweise Auskünfte zum Verlauf von Strafverfahren und zu ihrer Aufklärung geben können.
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Das ist ein schweres Versäumnis des Innenministeriums, und das ist an dieser Stelle, wenn man schon dabei ist, Probleme anzusprechen, auch klar zu kritisieren.
Kollege Castellucci, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus den Reihen Ihres Koalitionspartners?
Mit Blick auf die Zeit gestatte ich das jetzt nicht.
Der zweite Punkt, um den wir uns kümmern müssen, ist die Prävention; Radikalisierung fällt nicht vom Himmel. Wir haben es mit ganz unterschiedlichen Fällen zu tun. Es gibt Menschen, die neu zu uns kommen, die vielleicht in ihrem Leben von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch nicht viel mitbekommen haben – das ist wahr –; aber es gibt auch viele Menschen, die bereits im Land sind und rechte, antisemitische, demokratiefeindliche Einstellungen haben, weil sie uns irgendwo verloren gegangen sind. Um dem entgegenzuwirken, braucht es mehr Engagement; dafür braucht man Demokratiearbeit, dafür braucht man Strukturen, da muss man die Menschen stärken, die sich für Demokratiearbeit einsetzen.
({0})
Deshalb ist es ein starkes Stück, was hier passiert. Herr de Vries, Sie sprachen davon, dass es ein Positionspapier Ihrer Fraktion gibt; das ist ja wunderbar. Ich sage Ihnen mal, was ich habe: Ich habe einen Beschluss des Kabinettsausschusses für ein Demokratiefördergesetz, ich habe ein entsprechendes Eckpunktepapier des Bundeskabinetts. Sie halten die wichtige Arbeit daran hier im Parlament auf!
({1})
Damit versündigen Sie sich an der inneren Sicherheit, und das wird auf Sie zurückfallen, wenn wir demnächst die Zahlen bekommen.
({2})
Und ein letzter Punkt – da kann ich direkt an den Kollegen Kuhle anschließen –, den wir gegen Radikalisierung in diesem Land brauchen, ist, an einem Wir zu arbeiten, dass all die Menschen, die in diesem Land leben, die sich an die Gesetze halten, die hier Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen oder einfach nur gucken, dass sie über die Runden kommen und ihre Lieben ernähren, das Gefühl haben, ein gleichberechtigter Teil dieses Landes zu sein.
({3})
An diesem Wir müssen wir alle – und tatsächlich alle! – gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD arbeitet sich mit den vorliegenden Anträgen, aber auch mit dem Beitrag heute von Herrn Baumann einmal mehr an ihrem Lieblingsfeindbild ab, nämlich dem Islam. Sie schürt Angst und Hass gegen Muslime. Keine andere Bevölkerungsgruppe wird von der AfD so systematisch dämonisiert. Dem gilt es entschlossen entgegenzutreten, meine Damen und Herren; denn wir dürfen nicht zulassen, dass Muslime ständig unter den Generalverdacht der Demokratiefeindlichkeit gestellt werden.
({0})
Schon im Grundsatzprogramm der AfD lautet eine Zwischenüberschrift: „Der Islam im Spannungsverhältnis zu unserer Werteordnung“. Millionen von muslimischen Bürgerinnen und Bürgern werden hier unter den Generalverdacht der Demokratiefeindlichkeit gestellt. Doch damit entlarvt sich in erster Linie die AfD selbst als Verfassungsfeindin. Denn niemand darf wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Das ergibt sich aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes.
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Die Linke sagt dazu ganz klipp und klar: Der Islam gehört zu Deutschland – ebenso wie die Menschen, die ihn leben.
Meine Damen und Herren, die AfD unterstellt pauschal – ich zitiere –: „Nicht wenige Muslime vertreten eine Form von Islamismus …“. Dazu jongliert sie in ihren Anträgen mit zweifelhaften Zahlen, um das Gespenst von vermeintlich Hunderttausenden gewaltbereiten Muslimen an die Wand zu malen. Ich bin mir sicher: Würde man eine Studie unter den Anhängern der AfD machen, dann sähen dort die Zustimmungswerte zu Demokratie, Rechtsstaat und Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen
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weitaus schlechter aus als bei den meisten Muslimen.
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Die AfD will islamistische Vereine kurzerhand verbieten lassen. Bei aller Kritik an der dort gepflegten reaktionären Auslegung des Islam halte ich eine solche Forderung schlicht für grundgesetzwidrig. Dem Staat ist es nicht gestattet, Religionsinhalte zu kontrollieren. Glaubensinhalte sind selbst dann von der Religionsfreiheit geschützt, wenn sie als verfassungsfeindlich anzusehen sind.
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Andernfalls müssten auch so manche evangelikalen Eiferer oder stockkonservative Ultras ein Verbot fürchten.
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Jeder darf glauben, was er will, Frau von Storch, auch wenn er an eine muslimische Verschwörung glaubt, wie offenbar die AfD. Verboten ist allerdings, auf Grundlage von Glaubensüberzeugungen Straftaten zu begehen. Das sollten sich die Gefolgsleute der AfD mal reinziehen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
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Wo Islamisten, Nazischläger oder andere Fanatiker zur Gewalt gegen Andersdenkende aufrufen, wo sie Spenden für Terrorgruppen sammeln, gibt es genug rechtliche Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, bis hin zu Verboten. Leider gibt es tatsächlich eine ganze Reihe hochproblematischer Islamverbände, in denen sich Muslimbrüder, Graue Wölfe und Agenten Ankaras tummeln, in denen gegen Christen, Juden und vermeintlich Ungläubige gehetzt wird.
({7})
Zum Glück repräsentieren diese islamistischen Vereinigungen nur einen Bruchteil der Muslime, Frau von Storch.
Umso mehr ist es ein Skandal, wenn solchen Verbänden – gerade unter dem CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Laschet – der rote Teppich ausgerollt wird. Erst im Mai beschloss die NRW-Regierung, dass der türkische Islamverband DITIB beim Islamunterricht an staatlichen Schulen mitbestimmen darf. Ich finde, es muss ganz klar sein: Erdogans langer Arm hat in deutschen Klassenzimmern nichts verloren.
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Meine Damen und Herren, es hat leider auch viel mit antimuslimischem Rassismus, mit der Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun, dass solche rechten islamistischen Gruppen weiterhin Zulauf haben. Statistisch gesehen findet in Deutschland jeden zweiten Tag ein Angriff auf eine Moschee, eine muslimische Einrichtung, einen muslimischen Repräsentanten statt.
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Hinzu kommt eine Vielzahl von Übergriffen auf Muslime. Muslimas werden auf offener Straße angespuckt, beschimpft und ihnen werden die Kopftücher heruntergerissen. Die rechten Terroranschläge in Halle 2019 und Hanau 2020 mit neun Toten haben verdeutlicht, wie sich Rassismus und Antisemitismus und Hass auf Muslime zu einem brandgefährlichen Weltbild verbinden.
Die Linke fordert: Islamfeindlichkeit muss ebenso entschieden bekämpft werden wie Antisemitismus und andere Formen des Rassismus. Wir brauchen echte Gleichberechtigung, unabhängig von Herkunft, Religion und Staatsbürgerschaft. Wir brauchen soziale Sicherheit, gute Bildung und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten für alle, die hier leben. Das ist zugleich die beste Prävention gegen ein Abgleiten in Islamismus oder in eine andere Form von Fundamentalismus.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Irene Mihalic das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Über 5 Millionen Musliminnen und Muslime leben in Deutschland, so die jüngste Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu muslimischem Leben in Deutschland. Das sind um die 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Knapp die Hälfte, nämlich 47 Prozent, hat die deutsche Staatsbürgerschaft.
Die AfD erwähnt diese Studie zwar in ihrem Antrag, reißt sie aber völlig aus dem Zusammenhang. Vor allem die zusammenfassende Analyse auf Seite 11 scheint ihr nicht zu gefallen. Ich zitiere:
Der Einfluss der Religion auf die Integration wird häufig überschätzt: Aus den Analysen ergibt sich, dass zwischen Musliminnen und Muslimen sowie Personen, die ebenfalls einen Migrationshintergrund aus den berücksichtigten muslimisch geprägten Herkunftsländern haben, aber einer anderen Religion angehören, kaum Unterschiede im Hinblick auf die betrachteten Integrationsindikatoren bestehen.
Dieses Ergebnis passt der AfD nicht, weil da nämlich im Kern steht: Die Religion spielt keine Rolle. – Deshalb sagen Sie: Es muss einfach eine neue Studie her, damit Sie etwas haben, auf dem Sie Ihr rassistisches und islamfeindliches Süppchen kochen können. Da kann ich nur sagen: Nicht und niemals mit uns, meine Damen und Herren!
({0})
Selbstverständlich ist Integration kein einfacher Weg und ganz sicher auch keine Einbahnstraße. Die BAMF-Studie zeichnet da ein sehr konkretes und auch realistisches Bild. Aber am Ende ist es doch so: Wer Integration einfordert, muss sie auch selber wollen. Aber das tun Sie nicht.
({1})
Die hartnäckigsten Integrationsverweigerer, das sind Sie von der AfD, und zwar in jeder Hinsicht: Integrationsverweigerer, weil Sie nicht wollen, dass Migrantinnen und Migranten hier in unserer Gesellschaft ankommen; Integrationsverweigerer aber auch, weil Sie sich selbst nicht integrieren wollen in unsere Gesellschaft, in unseren demokratischen Rechtsstaat.
({2})
So betrifft das, was Sie an Muslimen in Ihrem Antrag beim Thema Demokratie kritisieren, doch Sie in gleichem Maße. Gerade Unterstützer/-innen der AfD haben laut der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 ein besonders kritisches Verhältnis zur Demokratie.
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Dort kann man nämlich nachlesen:
Der Demokratie als Staatsidee gilt zwar weiterhin die hohe Zustimmung der AfD-Wählerschaft, aber diese wird nur unter Vorbehalt gegeben.
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Das, was unter dem Begriff der Demokratie verstanden wird, ist höchst zweifelhaft, erreicht diese Gruppe doch konstant hohe Werte für Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit … Gewaltbereitschaft, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus.
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Dementsprechend sind auch die meisten AfD-Wählerinnen und ‑Wähler damit unzufrieden, wie die Demokratie in der Bundesrepublik funktioniert.
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Oder nehmen wir mal die Zustimmung zu folgender Aussage: Der Staat sollte berechtigt sein, schwere Verbrechen mit dem Tod zu bestrafen. – Das sagt auch Thomas Seitz. Nach allem, was ich weiß, kein Muslim, aber Mitglied der AfD!
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Das alles zeigt: Problematische Einstellungen bis hin zur Verfassungsfeindlichkeit, meine Damen und Herren, stehen nicht im Zusammenhang mit der Religion. Die AfD selbst ist der beste Beweis dafür.
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Solche Einstellungen finden wir in allen Lebenswelten unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir Radikalisierungsprozessen durch zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit vorbeugen, meine Damen und Herren. Leider tun wir hier immer noch viel zu wenig. Und an die Bundesregierung und an die Koalitionsfraktionen gerichtet, muss ich sagen, dass es wirklich ein Armutszeugnis ist, dass Sie es in den letzten vier Jahren nicht geschafft haben, hier im Deutschen Bundestag ein ordentliches Demokratiefördergesetz auf den Weg zu bringen,
({9})
das die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen in unserem Land endlich auf eine solide finanzielle Basis stellt.
({10})
Integration und gesellschaftlichen Frieden gibt es nicht zum Nulltarif. Wer hier spart oder nichts tut, der fördert Kräfte wie die AfD und ihr hochgefährliches Umfeld genauso wie andere demokratiefeindliche Bestrebungen. Selbstverständlich ist auch der Islamismus eine solche Bestrebung, die wir mit aller Schärfe in den Blick nehmen müssen. Wir als Grüne haben deshalb bereits in der letzten Wahlperiode als Erste einen Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz gefordert, weil wir die Sorge hatten, dass das Umfeld des Täters nicht genügend beleuchtet wird. Diese Sorge wurde durch die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses ja auch bestätigt.
Übrigens, wenn es nicht so traurig wäre: Es gab eigentlich keine Fraktion, die sich so wenig an der Aufklärung des schwersten islamistischen Anschlags in der Bundesrepublik beteiligt hat wie die AfD-Fraktion. Das ist aber auch kein Zufall. Denn Ihnen geht es ja auch nicht um Aufklärung oder um die Lehren daraus. Sie sind auch hier nur an den Ergebnissen interessiert, die Ihnen in Ihren rassistischen Kram passen. Die Verhinderung solcher Anschläge und die Abwehr entsprechender Gefahren interessieren Sie eigentlich nicht.
Genauso ist es mit den Anträgen der AfD: Vordergründig scheint es um Studien zu gehen; aber eigentlich lehnen Sie Wissenschaftlichkeit zutiefst ab. Vordergründig geht es um Radikalisierung; aber eigentlich wollen Sie nur Muslime stigmatisieren. Vordergründig thematisieren Sie Demokratie und Rechtsstaat;
({11})
aber eigentlich pushen Sie mit aller Energie Desintegration, Menschenfeindlichkeit und verfassungsfeindliche Einstellungsmuster. Diesem hassbasierten Politikmodell erteilen wir mit jedem Atemzug und aus tiefster Überzeugung eine ganz klare Absage.
Ganz herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie geht, und damit kehrt die AfD zu ihren altbekannten Mustern und Feindbildern wie den Muslimen zurück.
({0})
Sie wollen damit wieder ein paar Prozentpunkte beim Wähler erhaschen. Aber ich glaube – das hat die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt deutlich gezeigt –, der Wähler lässt sich nicht von Ihnen spalten. Er will keine Spaltung des Landes. Er will klare Führung. Er will Einheit und braucht nicht Ihre Radikalisierung. Dieser Weg wird von uns konsequent aufgezeigt, und Sie werden bei der Bundestagswahl keinen Erfolg mehr haben, wenn Sie unser Land weiter spalten wollen.
({1})
Zur Demokratie gehört – das ist richtig –, dass man seine Meinung frei äußern und dafür auch demonstrieren kann. Sie ist auch dafür da, Minderheiten und andere Positionen, die nicht der Regierungsmeinung entsprechen, zu schützen; und das ist gut so.
({2})
Unsere Grundrechte sind ein hohes Gut in unserer Bundesrepublik. Sie stehen am Anfang unserer Verfassung und sind die Leitlinien unseres Handelns im Alltag. Regierung, Bundestag und Justiz bindet Recht und Gesetz unmittelbar.
Kollege Wendt, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Abgeordneten von Storch?
Ja. Bitte.
({0})
Vielen Dank, Herr Wendt, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt: „Die Pandemie geht.“ Wir nehmen alle mit Freude zur Kenntnis, dass auch die festgestellten Inzidenzen, welchen Wert sie auch immer haben, deutlich fallen, nämlich unter 20.
Deswegen frage ich Sie: Wird die Fraktion von CDU/CSU den für morgen geplanten Tagesordnungspunkt 19 „Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ von der Tagesordnung absetzen? Wenn Sie hier gerade gesagt haben: „Die Pandemie geht“, dann werden wir diesen Punkt doch nicht mehr brauchen und diese Feststellung nicht mehr treffen müssen.
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Auf meinem Plan steht er noch drauf.
Bereits in dem Verb „gehen“ kommt zum Ausdruck, dass jemand oder etwas nicht weg ist, sonst hätte ich gesagt: Die Pandemie ist weg.
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Es bedeutet, dass wir auf einem guten Weg sind, damit sie bald weg ist. Die Feststellung des Fortbestehens der epidemischen Lage ist aus unserer Sicht weiterhin notwendig, damit wir spätestens im September sagen können: Die Pandemie ist weg.
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Deswegen stimmen Sie lieber unseren Anträgen zu! Machen Sie konstruktive Arbeit, damit wir sagen können: Corona ade!
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Kommen wir zurück zur Debatte. Es ist wichtig, dass wir die Grenzen, die ich aufgezeigt habe, haben. Es gibt aber Grenzen beim individuellen Schutz von Grundrechten. So ist es für uns und damit auch für mich nicht hinnehmbar und es ist unerträglich, wenn diese Rechte ausgenutzt werden und die Gewalt der Hamas, die sie im Nahen Osten ganz konkret an den Tag legt, auf Demonstrationen in Deutschland ihre Fortsetzung findet. Es ist für mich nicht hinnehmbar und es ist unerträglich, wenn auf Demonstrationen in unserem Land israelische Fahnen verbrannt werden und Hass gegen Juden geschürt wird. Es ist unerträglich, wenn in Berlin oder anderswo Juden wegen des Tragens einer Kippa attackiert werden. Wir dürfen das nicht hinnehmen, und wir werden das auch künftig nicht hinnehmen.
Das Attentat gegen Walter Lübcke, die Anschläge von Hanau und von Dresden haben uns bereits leidvoll aufgezeigt, dass wir viele Probleme mit politisch motivierter Gewalt haben. Deshalb ist es richtig, dass wir in den nachfolgenden Debatten den Verfassungsschutz stärken, die Polizei stärken, die Prävention verbessern. Jede Tat ist eine zu viel. Ich bin meinem Kollegen Castellucci für das Beispiel aus Mannheim sehr dankbar. Es braucht nämlich nicht nur Recht und Gesetz. Es braucht auch eine konsequente Unterstützung von Polizei und Justiz, die Recht und Gesetz durchsetzen müssen.
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Dazu ist es entscheidend, dass die politische Führung eines Hauses – der zuständige Innenminister – loyal hinter seiner Polizei steht, dass nicht jede Maßnahme infrage gestellt wird.
Ich bin froh, dass in Baden-Württemberg, wo die CDU mitregiert, kontrolliert wird, festgestellt wird und Datenmaterial von Videos der Polizei ordentlich ausgewertet wird. Ich kann mir das in Berlin, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Hier stellt sich der SPD-Innensenator immer kritisch gegen seine Polizei und hinterfragt jede einzelne Maßnahme. Diese Beispiele zeigen: Die CDU steht für eine klare Unterstützung der Polizei, für einen sicheren Staat. Bei der SPD muss man das leider hinterfragen.
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Es ist natürlich auch ein Fakt – das stellen wir mit Bestürzung fest –, dass Delikte mit antisemitischem Bezug einen starken Anstieg zu verzeichnen haben. Das hat viele Ursachen. Ja, es gibt immer mehr junge Muslime, die Antisemitismus in sich tragen. Diese werden in Moscheen radikalisiert. Sie haben Erfahrungen aus den Heimatländern – auch dort werden sie radikalisiert –, oder sie haben Erfahrung durch Krieg, Flucht und Vertreibung.
Wir als Unionsfraktion – unser Sprecher Mathias Middelberg hat das entsprechend vorgebracht – sagen immer wieder ganz klar: Wer die deutsche Staatsbürgerschaft haben möchte, kann nicht antisemitisch sein. Es ist deswegen richtig und wichtig, da anzuknüpfen. Wer Staatsbürger in unserem Land sein will, kann nicht Antisemit sein. Wir werden das entsprechend umsetzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Demokratie beinhaltet nicht nur Rechte des Bürgers, sondern auch Pflichten. Wir müssen füreinander einstehen. Wir müssen gemeinsam gegen Antisemitismus, gegen Islamismus, gegen Hass und gegen Extremismus einstehen. Dafür lohnt es sich, jeden Tag gemeinsam – gemeinsam, nicht spalterisch – für unser Land zu arbeiten.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt bietet auch Gelegenheit, kurz vor Ende dieser Legislaturperiode ein paar Anmerkungen zur Integrationspolitik dieser Großen Koalition, dieser Bundesregierung zu machen und vor allem dazu, was sie nicht geleistet hat. Dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine faktische Einwanderungsgesellschaft sind, wirft die Frage auf: Geben wir uns damit zufrieden, dass das dann die normative Kraft des Faktischen ist, oder geht es um die faktische Kraft des Normativen? Unser politischer Anspruch sollte Letzteres sein.
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Wir brauchen eine Integrationspolitik, die zeigt, dass wir liberal, aber nicht naiv sind und für unsere Werte einstehen. Gerade diese Werte bringen viele Menschen dazu, zu uns kommen zu wollen. Die Bundesregierung hat eine Fachkommission eingesetzt, die sich mit den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit befassen sollte. Nun ist es in einer offenen Gesellschaft, in der Demokratie normal, dass es auch Dissens, Vielfalt, verschiedene Voten gibt. Aber das Interessante ist doch, dass die Minderheitenvoten von Barbara John, Stephan Löwl und Daniel Thym gerade Kernfragen der Integrationspolitik betreffen, über die Konsens bestehen sollte. Es geht etwa darum, dass es nicht mehrheitsfähig war, zu sagen, dass Integration vor allem auch eine Bringschuld, eine individuelle Anstrengung der Menschen ist, die zu uns kommen, und nicht allein der Aufnahmegesellschaft oder des Staates. Das aber ist ganz wichtig.
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Ebenfalls problematisch an diesem vorgelegten Bericht ist, dass aus der Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität im Hinblick auf antisemitische Taten falsche, fragwürdige, verharmlosende Schlussfolgerungen gezogen werden. Und – ganz wichtig für die Debatte über Migration und Integration –: Es war auch nicht möglich, in dieser Kommission mit Mehrheit festzustellen, dass die rechtstaatliche Steuerung von Migration eine wichtige, legitime Aufgabe unseres demokratischen Rechtsstaates ist. Manche Probleme wie islamistischer Terrorismus oder Clankriminalität werden völlig untergewichtet.
Deshalb: Wir brauchen eine seriöse Migrationsforschung, die, anders als der Bericht dieser Kommission, auch wirklich Leitlinien für pragmatische Politik gibt,
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die von wissenschaftlicher Redlichkeit und nicht von politischem Aktivismus geprägt ist.
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Denn wir brauchen klare Anforderungen an Menschen, die zu uns kommen: Was erwarten wir? – Wir müssen auch konsequent trennen zwischen der humanitären Verantwortung, die wir wahrnehmen wollen, humanitär bedingter Zuwanderung einerseits und Fachkräftezuwanderung andererseits.
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Für all das brauchen wir eine gute gesellschaftliche und politische Debatte. Die werden wir führen müssen, und zwar auch in diesem Bundestagswahlkampf und danach. Wir müssen zeigen, was bei uns nicht toleriert wird und was unsere Vorstellungen von gelingender Integration sind. Lassen Sie uns diese Debatte führen. Sie ist überfällig.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe seit gestern heftige, hämmernde Kopfschmerzen. Seit ich in der Nacht die vier Anträge der AfD gelesen habe, ist es eine manifeste Migräne geworden. Diese Migräne ist aber nichts gegenüber den Kopfschmerzen – und das ist noch harmlos ausgedrückt –, gegenüber diesem dauerhaften Schmerz, den eine solche Haltung, wie sie in den Anträgen dokumentiert ist, und den auch die Diskurse, die sich darum bewegen, bei den Musliminnen und Muslimen und Menschen, die in diesem Land als migrantisch identifiziert werden, seit Jahren auslösen. Über diesen Schmerz, den sie tagtäglich erleben, sollten wir einmal sprechen.
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Ich ziehe das auf mit einer Anspielung auf Bill Clinton: „It’s the economy, stupid“. Ich nenne es: It’s the language, stupid. – Gucken wir uns die Sprache einmal an. Auch im Titel der heutigen Debatte und auch auf der Seite des Bundestages findet man einerseits Integrationsprobleme durch kulturelle Prägung, andererseits politisch-religiöse Einstellung, und in einem Untertitel findet sich dann auch noch Antragsberatung zu Integrationspolitik. Alles wieder sauber zusammengerührt: Religion, Islam, Integration, Migration. Es gibt in diesem Land – nur als kleine Anleitung – Musliminnen und Muslime, die hier geboren sind, die man nicht integrieren muss im Gegensatz zur AfD-Fraktion.
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Vielleicht wäre das eine Überlegung, der man sich einmal annähern könnte.
Und dann findet sich interessanterweise in dem Link für die ganz frisch in der „Zeit“ vorgestellten Studie von Ruud Koopmans, die Sie sicher sehr begrüßen werden, folgende Wortfolge: Islam, Deutschland, Forschung, Extremismus, Kopftuch. – Interessant! Dieses Bild vermitteln wir – ich spreche jetzt einmal vom „Wir“ als gesellschaftlichen Diskurs – seit Jahren, seit Jahrzehnten,
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auch noch orchestriert von Titeln in Magazinen mit betenden Muslimen, bärtigen Männern und Ähnlichem. Das sind die Bilder, die wir vermitteln und die wir auch sprachlich vermitteln, und Sie machen das ganz besonders.
Dann noch ein Drittes. Sie – wieder die Sprache – sprechen von Verhaltenskultur, kulturellen Prägungen und verhaltenskulturellem Agieren. Das Interessante an Ihrem Antrag ist: Was Sie als Muster beschreiben – Parallelgesellschaft, Probleme mit der Religionsfreiheit, Probleme mit der Toleranz, traditionelle Frauenfeindlichkeit, Probleme mit der bürgerlich westlichen Werteordnung –, passt genau auf Sie.
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Das ist entweder unfreiwillige Komik oder ungeahnte Selbstkritik; Sie können es sich aussuchen.
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Dass Sie von Verhaltenskultur sprechen, ist nicht zufällig; das hat System. Was Sie machen, ist eine Kulturalisierung des Diskurses und im Übrigen – man muss nur den Antrag lesen; ich habe es getan – eine Kulturalisierung der Kriminalpolitik, die Sie sich in den Statistiken wünschen. Das ist ein durchschaubares Spiel; denn der Rassismus von heute kommt nicht mehr platt biologistisch daher, einfach nur mit dem Rassebegriff, sondern der verkauft sich als Kultur. Deshalb ist bei Ihnen auch ganz gezielt der Begriff Verhaltenskultur zu finden.
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Das, was Sie machen, um es beim Namen zu nennen, und anstreben, ist eine Rassifizierung des deutschen Rechts; nichts anderes. Die AfD will eine Rassifizierung des deutschen Rechts. Es hat noch mehr System – it’s the language, stupid –: verhaltenskulturell. Lesen Sie einmal Max Weber, aber Sie in der AfD haben ja ein gewisses Nichtverhältnis zur deutschen Geistesgeschichte. Er unterscheidet zwischen subjektivem Handeln – das machen Individuen, Subjekte – und Verhalten. Bei Muslimen kommen Sie natürlich mit Verhalten. Verhalten ist, geistesgeschichtlich betrachtet, im Deutschen so was wie rein reaktiv, instinktiv.
Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Was machen wir eigentlich in diesen Debatten über Musliminnen und Muslime?
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Was machen wir tagtäglich mit unserer Bevormundung und unserem paternalistischen Gestus? Dabei geht es mir nicht um abstrakte Identitätsdebatten, es geht mir nicht ums Feuilleton; die Diskurse sind mir in diesem Moment völlig egal. Es geht mir darum: Was für eine Botschaft senden wir – Sie mit Ihrem Antrag, aber auch wir – mit vielen Debatten, die wir hier führen, und der Art, wie wir sie führen? Was für eine Botschaft senden wir an den Chemieunternehmer, der der Vater meines Mitarbeiters ist und der muslimisch ist und sich so versteht? Was für eine Botschaft senden wir an die muslimische Akademikerin, die Influencerin im Netz ist? Was für eine Botschaft senden wir an den muslimisch identifizierten Mitarbeiter des Saaldienstes hier im Bundestag? Und was für eine Botschaft senden wir an die muslimische Frau, die mir heute Morgen bei Dussmann das Brötchen gereicht hat?
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Was senden wir an sie alle aus? Wie sprechen wir darüber? Was meinen Sie, wie diese Personen es empfinden, wenn man so über sie spricht: „Ja, ihr seid ja gut integriert“, „Ihr seid so liberal“, oder „Toll, wie ihr das friedliche Zusammenleben garantiert“. Wenn ich muslimisch wäre, muslimisch identifiziert würde, hätte ich die Schnauze voll in diesem Land, tagtäglich. Es ist doch Grundverständnis in Deutschland, dass jeder Mensch, der hier lebt, als Subjekt Würde hat, Anerkennung erfährt, respektiert wird und sich nicht zu erklären und zu rechtfertigen hat.
Es gibt Religionsfreiheit im Grundgesetz. Das heißt, man hat die Freiheit, zu glauben; man hat aber auch die Freiheit, nicht zu glauben. Und jetzt kommt’s: Man hat damit auch die Freiheit, sich nicht erklären zu müssen, ob man glaubt oder nicht glaubt, und sich nicht zu seinem Glauben bekennen zu müssen. Man hat die Freiheit. Jeder Christ in diesem Land hat selbstverständlich das Recht, sich für seinen Glauben nicht rechtfertigen zu müssen, keine wandelnde Kategorie zu sein, sondern als Subjekt wahrgenommen zu werden und nicht immer als Repräsentant des Christentums.
Verdammt noch mal – das regt mich auf –, wenn wir es nicht endlich schaffen, allen Musliminnen und Muslimen in diesem Land diese gleichberechtigte Anerkennung zu gewähren und das zu überwinden, was wir mit der sogenannten Islamkritik in Ihren Anträgen, aber auch in vielen unserer Beiträge – ich beziehe mich selbst ein – leisten, –
Kollege.
– dann versündigen wir uns gegen den Unternehmer, gegen die Mitarbeiterin von Dussmann,
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gegen die Influencerin und auch gegen all die anderen.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christoph Bernstiel das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Die AfD hat heute mehrere Anträge aufgesetzt, die mehr oder weniger unter dem Titel „Islamismusprävention“ zusammengefasst werden können.
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Dazu zunächst zwei Dinge, die mir aufgefallen sind.
Erstens. Zum Ende der Legislaturperiode ist es der AfD tatsächlich gelungen, ihre Anträge besser zu schreiben als noch am Anfang der Legislaturperiode. Leider sind sie noch sehr weit entfernt von dem, was man einen guten und fundierten Antrag nennt.
Zweitens. Sie sind sehr gut, liebe AfD, im Anprangern und Großmachen von real existierenden Problemen. Beim Anbieten von praxistauglichen Lösungen sind Sie allerdings ein Totalausfall; das muss man so sagen.
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Und jetzt müssen Sie ganz tapfer sein – auch das müssen Sie sich anhören –: In der Methodik sind Sie jetzt auf dem Niveau der lieben Kollegen von der Linksfraktion angekommen. Die machen nämlich genau das Gleiche: Sie machen real existierende Probleme sehr groß, aber bei den Lösungen hapert es dann.
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Insofern sind sich die beiden Ränder hier im Parlament wieder näher, als ihnen das vielleicht lieb ist.
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Nun konkret zu Ihren Anträgen. Sie fordern ja unter anderem, dass islamische Predigten nur noch in deutscher Sprache stattfinden sollen. Das zeugt von zweierlei: von völliger Unkenntnis unseres eigenen Rechtssystems, aber auch von Unkenntnis im Hinblick auf den Koran. Wenn Sie sich näher damit beschäftigen, wissen Sie, dass es sehr schwierig ist, den Koran zu übersetzen, weil er nach strenger Glaubensvorschrift so geschrieben ist, dass er sich, in Originalsprache gesprochen, reimt, damit er melodisch ist. Wenn Sie fordern, den Koran nur noch in Deutsch zu zitieren, dann frage ich Sie: Wie machen Sie es mit der Katholischen Kirche? Wollen Sie in Zukunft auch verbieten, dass katholische Gottesdienste in Latein gehalten werden? Das ist komplett unlogisch und auch wirklich Unsinn in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren.
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Dann fordern Sie mehr Prävention, Prävention in Bereichen, in denen die Bundesregierung bereits tätig ist. Sie weisen explizit auf das Programm „Demokratie leben!“ hin, was ja vom Bundesinnenministerium maßgeblich gefördert wird. Wenn es um das Thema „Deradikalisierung und Prävention von Islamisierung“ geht, lassen Sie aber einen entscheidenden Punkt völlig außen vor. Sie beschränken sich nämlich nur auf die Moscheen. Das BKA hat dazu eine sehr interessante Studie veröffentlicht. Was sind die drei wichtigsten Umfelder, in denen sich Menschen in unserem Land radikalisieren? Hier die Top 3: im Freundeskreis, beim Besuch in der Moschee und – auf Platz 3 – im Internet.
Das Internet ist in diesen Debatten völlig außen vor geblieben. Dabei ist es doch genau dieses Medium, wo sich insbesondere junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren radikalisieren. Das ist eine extrem beunruhigende Tendenz. Islamisten nutzen gezielt die Kinderzimmer, um dort ihre Botschaften von Hass, Antisemitismus und Gewalt bei unseren Kindern unterzubringen; versteckt in Comics, versteckt in Musikvideos oder auch in Minispielen.
Dass das keine bloße Theorie ist, zeigen Fälle aus der Praxis. Ich erinnere an den Fall Linda W., eine 16-jährige deutsche Schülerin, Notendurchschnitt 2,1, alles andere als eine Problemschülerin; alles andere als ein Kind, das im Problemmilieu aufgewachsen ist. Trotzdem hat sie sich radikalisiert, ist über Nacht über Istanbul ausgereist, hat sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen und dann ein grausames Schicksal erlitten. 2015 gab es in meinem Bundesland Sachsen-Anhalt den Fall Leonora M., 15 Jahre alt, ebenfalls ausgereist, hat sich dem IS angeschlossen, dort in einem Kalifat zwei Kinder geboren. Sie ist jetzt zurück in Deutschland, geläutert, aber immer noch schwer gezeichnet. Welche Folgen das für diese zwei Kinder hat, wird sich noch zeigen.
Meine Damen und Herren, wenn wir über Prävention sprechen, wenn wir über Deradikalisierung sprechen, dann müssen wir die Islamisten aus unseren Kinderzimmern vertreiben. Ihr Vorgehen müssen wir entschieden bekämpfen.
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Dass das nicht nur Worte sind, haben meine Vorredner bereits erwähnt. Wir machen einiges. Noch heute werden wir das Bundesverfassungsschutzgesetz verabschieden, mit dem wir die Quellen-TKÜ endlich über die Ziellinie bringen werden. Damit ist es möglich, solche verschlüsselten Chats auszuspähen und die Hintermänner dingfest zu machen.
Wir haben schon das BND-Gesetz verabschiedet. Damit können wir Terroristen im Ausland ausfindig machen, die aus dem Ausland versuchen, hier in Deutschland, in unseren Kinderzimmern Kämpfer für ihre verschrobene Weltanschauung anzuwerben.
Wir haben auch das Bundespolizeigesetz; das ist ganz entscheidend. Liebe AfD, das fordern Sie ja in Ihrem Antrag; man könnte also wieder sagen: Ist schon erledigt. – Die Bundespolizei wird in Zukunft die Möglichkeit haben, von der Strafverfolgung bis zur Abschiebung ein Verfahren durchgängig zu führen. Damit schließen wir ein Schlupfloch, das viele radikale Islamisten in unserem Land ausgenutzt haben: das Ranking zwischen den Behörden. Dieses Schlupfloch werden wir heute noch schließen, wenn wir das Bundespolizeigesetz endlich verabschieden.
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Ich komme zum Schluss. Die Gefahr des Islamismus und des radikalen Islamismus in unserem Land ist real. Aber wir bekämpfen sie nicht mit einfacher Polemik, und wir lösen sie schon gar nicht mit einfachen Anprangerungen. Das geht nur mit guten Gesetzen. Die gibt es nicht von der AfD, sondern von uns, von der Union.
Herzlichen Dank.
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Geschätzte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung die Anpassung des Verfassungsschutzrechts und lösen damit eines der letzten innenpolitischen Versprechen aus unserem Koalitionsvertrag ein. In dem Vertrag hieß es damals: Die Sicherheitsbehörden brauchen gleichwertige Befugnisse im Umgang mit dem Internet wie auch außerhalb des Internets. – Es ist der wesentliche Kern und die wesentliche Intention dieser gesetzgeberischen Anpassung, das Verfassungsschutzrecht auf den Stand der Dinge und auch auf den Stand der Technik zu bringen.
Wir haben auch in der vorangegangenen Debatte über Extremismus sowie über Terrorismus gesprochen. Terrorismus gibt es von verschiedenen Seiten: Vor allen Dingen erleben wir das von der rechtsextremistischen Seite, aber auch von der islamistischen Seite sowie auf anderen Feldern. Immer wieder wird dann gesagt: Ihr müsst diese terroristischen und diese extremistischen Netzwerke frühzeitig erkennen. Ihr müsst diese Netzwerke verfolgen, und ihr müsst diese Netzwerke aufdecken.
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Das kann man aber nur, wenn man auch technisch auf dem Stand der Dinge ist. Das wiederum gelingt nur, wenn wir auf die Kommunikation in diesen Netzwerken Zugriff nehmen können.
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Früher war so etwas relativ einfach möglich, als die Leute sich noch irgendwie mit Rauchzeichen oder Topfschlagen verständigt haben. Da konnte jeder irgendwie mithören und alles einigermaßen entschlüsseln.
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Irgendwann sind wir dann zum Telefon übergegangen, und da gab es gesetzgeberisch klare Voraussetzungen, wonach man nur unter ganz bestimmten Bedingungen einen Telefonanschluss abhören durfte, nämlich in begründeten Einzelfällen nach richterlicher Genehmigung.
Jetzt ist es aber so, dass nicht mehr allzu viele Leute analog telefonieren, sondern die meisten – und gerade die, die sich im extremistischen Spektrum bewegen – nutzen verschlüsselte Dienste. Sie nutzen Messengerdienste, und auch wir nutzen solche Dienste im Alltag, etwa WhatsApp oder Telegram.
Wenn wir auf solche Dienste und auf solche Kommunikation Zugriff nehmen wollen, dann geht das nicht mittels der herkömmlichen Telekommunikationsüberwachung, sondern nur über die Telekommunikationsüberwachung an der Quelle, die sogenannte Quellen-TKÜ. Deswegen brauchen wir diese Quellen-TKÜ für unsere Geheimdienste. Wir brauchen sie für den Auslandsgeheimdienst; wir brauchen sie aber auch für unseren Verfassungsschutz und für den MAD.
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Das ist schlicht eine Anpassung an die technischen Verhältnisse. Jedem, der diese Problemszenarien beschwört, will ich ganz klar sagen: Es geht um eine sehr überschaubare Zahl von Fällen im Jahr. Es sind nicht 80 Millionen Bundesbürger betroffen.
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Bei der traditionellen Telekommunikationsüberwachung gab es in Deutschland im gesamten Jahr 2018 lediglich 222 Fälle. Unsere Sicherheitsbehörden veranschlagen die Quellen-Telekommunikationsüberwachung in einem zweistelligen Bereich, also bei 20, 30 oder 40 Fällen maximal pro Jahr. Mehr Fälle wird es nicht geben. Das heißt, hier sind ein, zwei, drei oder maximal vier von 8 Millionen Bundesbürgern betroffen. Das sind die Zahlenrelationen, über die wir uns unterhalten.
Und selbst wenn es mal einen Problemfall gibt, dass irgendein Dritter sich in ein solches Tool einschalten kann, das der Verfassungsschutz implementiert hat – das werden aber nur ganz wenige Fälle sein –, dann wird die Kommunikation nur von unserem Verfassungsschutz mitgelesen, also von Sicherheitsbehörden. Das Ganze wird nicht etwa öffentlich gemacht oder breit ausgestreut, sondern die Sicherheitsbehörden sind dabei – –
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– Herr von Notz, jetzt hören Sie doch einfach mal zu! Sie sind ja auch gleich dran.
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– Es wird noch deutlich besser, Herr von Notz.
Die ganze Aktion – und das wissen Sie auch – steht unter strengsten Vorgaben. Es wird nicht pauschal jeder Fall freigegeben, sondern der Eingriff muss sachlich begründet sein. Zudem wird er überprüft durch die G 10-Kommission. Das ist eine Kommission, die wir personell jetzt noch aufgestockt haben; darin befinden sich sechs Personen, die zum Richteramt befähigt sind.
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Darin sitzen also sechs Richter, die das Ganze überprüfen, bevor wir überhaupt tätig werden. Diesen einen Punkt möchte ich herausstellen; denn er scheint mir besonders wichtig zu sein.
Damit kann ich dieses Gesetz heute dringend zur Beschlussfassung empfehlen.
Danke.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die AfD sieht erheblichen Reformbedarf für den Verfassungsschutz.
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Hinter diesem noch ganz freundlich klingenden Namen verbirgt sich ja nichts anderes als ein Inlandsgeheimdienst, der auch eingesetzt wird, um politische Bewegungen mit geheimdienstlichen Mitteln wie dem Abhören von Telefonaten und dem Abfangen von E-Mails auszuspähen und öffentlich zu brandmarken. Umso wichtiger ist es, dass gerade ein solcher Dienst eng und ausschließlich an Gesetz und Recht gebunden ist.
Handlungsbedarf sehen wir auf zwei Ebenen. Zunächst muss der rechtliche Rahmen für diesen Geheimdienst nachgebessert werden. Meine Fraktion hat hierzu zwei Gesetzentwürfe vorgelegt, aus denen ich nur zwei Zielsetzungen hervorheben möchte.
Erstens. Betroffene sollen ein wesentlich verbessertes Auskunftsrecht erhalten, um in Erfahrung zu bringen, welche Informationen über sie vom Geheimdienst gesammelt wurden.
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Zweitens. Im Dienst begangene Straftaten sogenannter verdeckter Ermittler sollen in Zukunft immer, von ganz eng begrenzten Ausnahmen abgesehen, bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und von dieser auch verfolgt werden. Derzeit kann die Behördenleitung davon absehen, wenn sie der Straftat keine erhebliche Bedeutung beimisst, und das selbst für Verbrechen, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis bedroht sind. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig.
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Grundlegender Reformbedarf besteht aber auch auf einer zweiten, der politischen Ebene. Der Verfassungsschutz heute ist keine neutrale Einrichtung wie etwa der Bundesrechnungshof, sondern untersteht den Innenministern und damit Parteipolitikern.
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Dies ist ein grundlegender Webfehler, der entflochten werden muss; denn es steht zu befürchten, dass nicht jeder der zunehmend links orientierten Politiker der Versuchung widerstehen kann, diesen Geheimdienst in einem ja permanent ausgerufenen Kampf gegen rechts auch als politische Waffe einzusetzen. Und dafür gibt es durchaus Beispiele.
Mit Erlaubnis der Präsidentin möchte ich hierzu den ehemaligen Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herrn Maaßen, zitieren,
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der im Dezember 2020 der „Preußischen Allgemeinen Zeitung“ sagte – Zitat –:
… Danach musste ich allerdings feststellen, dass massiver persönlicher Druck auf mich ausgeübt wurde, endlich die AfD zu beobachten. Und das war ein ungebührlicher, ein ungewöhnlicher Druck, bei dem ich den Eindruck gewann, ich sollte hier für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werden. Ich fühlte mich teilweise sogar genötigt.
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Spätestens hier müssten eigentlich bei Ihnen, meine Damen und Herren, alle Alarmglocken schrillen, ebenso bei den Menschen draußen im Lande.
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Verwundert es vor diesem Hintergrund wirklich, dass der Verfassungsschutz heute zunehmend politische Positionen angreift, die noch vor 20 Jahren von der CDU/CSU, als sie noch konservativ waren,
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vertreten wurden, dass immer mehr Parteien und Bürgerbewegungen, die nicht dem linken Mainstream folgen, in das Fadenkreuz des Inlandsgeheimdienstes geraten?
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Es drängt sich zunehmend der Eindruck auf, dass der Verfassungsschutz von heute vor allem auch die Regierung und ihre auf vielen Feldern völlig verfehlte Politik vor Kritik und Opposition schützen will.
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Verfassungsschutz ist aber kein Regierungsschutz; denn sonst wäre er nichts weiter als die Fortsetzung der Politik mit geheimdienstlichen Mitteln
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und damit am Ende selbst eine Gefahr für unsere Demokratie.
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Deshalb muss er umfassend auf den Prüfstand.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Gesetzen über Nachrichtendienste ist das ja immer so eine Sache. In den Augen mancher sind wir nicht weit genug gegangen, in den Augen anderer sind wir weit über die roten Linien hinausgegangen.
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Ich habe das gestern schon mal gesagt: Ich glaube, dass das mit etwas ganz Grundsätzlichem zu tun hat, nämlich mit einem positiven Staatsverständnis der Sozialdemokratie, liebe Kolleginnen und Kollegen: hier in Deutschland im Bundestag
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und in den Landtagen, aber auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus.
Wem das zu pathetisch oder gar zu staatstragend ist, den frage ich: Wer denn sonst, wenn nicht die Sozialdemokratie, soll diesen Staat tragen? Die Feinde der Demokratie ganz bestimmt nicht, und diejenigen, die sich viel zu oft an diesem Staat bereichern, bestimmt auch nicht. Klientelparteien auch nicht. Deshalb kann es nur die Sozialdemokratie sein.
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Wir haben uns zu Recht dafür entschieden, bei diesem Gesetz mutig zu sein und den vorliegenden Weg zu gehen. Das war uns die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land wert, auch ohne Lorbeeren und bei aller Kritik. Der Grund für unsere Überzeugung und unser Engagement für dieses Gesetz steht im ersten Satz des Gesetzentwurfes: Rechtsterrorismus. – Der Rechtsterrorismus und der Rechtsextremismus sind nach wie vor die größte Gefahr in unserem Land, mit einem gewaltigen Zerstörungspotenzial, wie uns die Terroranschläge der letzten Jahre immer wieder auf erschreckende Art und Weise vor Augen geführt haben. Insbesondere die rapide Radikalisierung von Einzeltätern im Internet und in den Chatgruppen der Messengerdienste sind ein Phänomen, auf das wir reagieren mussten, so meine ich.
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Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Monate im Bereich der Bundeswehr und im Speziellen im Bereich des Kommandos Spezialkräfte und auch der Erfahrungen der letzten Tage – Sie haben sicherlich vom Spezialeinsatzkommando des Polizeipräsidiums in Frankfurt am Main gelesen – ist es unzweifelhaft richtig, dass wir den Informationsverbund zwischen dem Militärischen Abschirmdienst und dem Bundesamt für Verfassungsschutz verbessern. Einschlägige Bundeswehrangehörige können so auch weiterhin verfolgt werden, wenn sie der Bundeswehr nicht mehr angehören. Wie wichtig das ist, haben wir in den letzten Monaten immer wieder auf eine Art und Weise erfahren müssen, die wir uns alle nicht gewünscht hätten.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um den Schutz vor Extremisten und Verfassungsfeinden. Genau wie bei 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes hat sich auch deren Kommunikation in den letzten Jahren gewandelt. Extremisten und Terroristen telefonieren nicht mehr miteinander, schreiben sich keine SMS-Nachrichten, sondern kommunizieren verschlüsselt über Messengerdienste. Deshalb haben wir einer Erweiterung der Möglichkeiten bei der Durchführung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung für die Nachrichtendienste und einer Erweiterung der Möglichkeiten bei der Beobachtung von Einzelpersonen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zugestimmt und dies im Gesetzentwurf verankert. So kann digitale Kommunikation über Messengerdienste überwacht und können Verbrechen aufgeklärt werden. Denn dort und nirgendwo anders – das kann man fast schon so sagen – kommunizieren die Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
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Aber eine Onlinedurchsuchung, wie sie unser Koalitionspartner haben wollte, haben wir abgelehnt. Das würde den direkten Zugriff auf Computer und Speichermedien bedeuten. Das ist mit uns nicht zu machen. Wir sagen: Was analog möglich ist, muss der Verfassungsschutz auch digital dürfen, aber eben nicht mehr, und das auch nur unter ganz strengen Auflagen und unter ganz genauer und engmaschiger Kontrolle durch das Parlament.
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Wir sind deshalb überzeugt: Wer eine wehrhafte Demokratie will, der darf sich einem wirksamen Verfassungsschutz als Frühwarnsystem nicht verschließen.
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Wer einen effektiven Verfassungsschutz gegen schwerwiegende Bedrohungen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung will und auf der Höhe der Zeit ist, der muss Ja sagen zur Anpassung der Instrumentarien. Wer Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat ist, der sorgt zusätzlich dafür, dass die Befugniserweiterungen mit mehr und verbesserter parlamentarischer Kontrolle einhergehen.
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Niemand bestreitet – das habe ich eben schon gesagt –, dass es sich um Eingriffe in Grundrechte handelt, und diese müssen gerechtfertigt sein – das ist klar – und auch entsprechend kontrolliert werden. Deshalb ist es richtig, dass wir eine Pflicht zur Vorlage eines regelmäßig erstellten und qualifizierten Berichts über die Anwendung der Quellen-TKÜ gegenüber dem Parlamentarischen Kontrollgremium einführen. So kann die Wirksamkeit des neuen Instruments – auch das halte ich für wichtig – evaluiert und regelmäßig überprüft werden.
Wir haben außerdem gestern im Innenausschuss eine Entschließung beschlossen – daran sei hier auch erinnert –, nach der der G 10-Kommission, die solche TKÜ-Maßnahmen ja genehmigt, weiteres Personal zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle zur Verfügung gestellt wird. Die G 10-Kommission wird damit noch qualifizierter und noch wirksamer in ihrer Arbeit.
Eine Stärkung der Kontrolle bei Befugniserweiterungen haben wir im Koalitionsvertrag versprochen, und dieses Versprechen lösen wir nun in der vorletzten Sitzungswoche und natürlich auch noch in der letzten Sitzungswoche vor der Wahlpause ein.
Wir als SPD haben noch kurzfristig Verbesserungen bei den Mitwirkungspflichten der Provider erreicht. Auch das halte ich für einen wichtigen Punkt.
Ich möchte zum Ende meiner Ausführungen noch eines sagen – ich kann mir, vorsichtig ausgedrückt, vorstellen, was die mir nachfolgenden Rednerinnen und Redner hier gleich zu dem Gesetzentwurf sagen werden –: Wer auch immer mit Blick auf dieses Gesetz von einer Massenüberwachung der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land spricht
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– davor warne ich Sie alle eindringlich –,
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der sagt schlicht die Unwahrheit
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oder hat den Gesetzentwurf vielleicht gar nicht richtig gelesen, hat schon den Bundestagswahlkampf im Kopf
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oder möchte sich ansonsten irgendwie profilieren.
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Das ist ein Thema, das sich ganz bestimmt nicht dafür eignet.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Gesetz, das gut ist und die Sicherheit in Deutschland erhöhen wird. Deshalb bitte ich Sie alle um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Das Wort hat für die FDP-Fraktion der Kollege Stephan Thomae.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich halte die Entscheidung für den Einsatz von #Staatstrojaner’n auch weiterhin für falsch, insbesondere in den Händen von Geheimdiensten. Diese Form der Überwachung ist ein fundamentaler Eingriff in unsere Freiheitsrechte und dazu ein Sicherheitsrisiko für unsere Wirtschaft.
({0})
Meine Damen und Herren, dieser Satz stammt nicht von mir. Er stammt von Saskia Esken, der Co-Vorsitzenden der SPD,
({1})
gestern, 9. Juni, 12.44 Uhr, also auf die Stunde genau vor 24 Stunden. Wo sie recht hat, hat sie recht.
({2})
Genau 24 Stunden später stimmt die SPD-Bundestagsfraktion einem Gesetzentwurf zur Einführung der Nutzung von Staatstrojanern durch den Verfassungsschutz zu. Die SPD stimmt zu!
Wissen Sie, dass man in einer Koalition Kompromisse eingehen muss, das wissen wir alle.
({3})
Aber dass sich die Bundesvorsitzende einer Regierungspartei 24 Stunden vor einer wichtigen Bundestagsabstimmung so ostentativ von ihrer eigenen Bundestagsfraktion distanziert, das dürfte doch ziemlich einmalig sein.
({4})
Dass die SPD Bürgerrechte ohne Not preisgibt und dass dieser Bundesregierung Bürgerrechte völlig gleichgültig sind, das ist schon schlimm genug.
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Besonders schlimm aber ist eines: Ihre Sicherheitspolitik ist selbst ein Sicherheitsrisiko; denn der Staatstrojaner nutzt Sicherheitslücken in Laptops und in mobilen Endgeräten aus.
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Aber genau diese Sicherheitslücken nutzen auch Kriminelle, um unsere Firmen zu erpressen, um Identitäten zu stehlen, und ausländische Nachrichtendienste nutzen sie, um unsere Behörden und Unternehmen auszuspionieren. Solche Sicherheitslücken gehören geschlossen und nicht für den Staatstrojaner genutzt.
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Ich selbst bin Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die Regelungen in der Strafprozessordnung zum Staatstrojaner. Zumindest aus Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht hätte man die Entscheidung aus Karlsruhe abwarten müssen, bevor hier der nächste Staatstrojaner eingeführt wird, der sogar noch weiter geht als der Staatstrojaner für die Polizei; denn er greift schon im Gefahrenvorfeld ein, bevor überhaupt Straftaten verübt worden sind oder ein Verdacht aufgetaucht ist.
({8})
Wo ist denn eigentlich die Justizministerin, die als Verfassungsministerin diesem Gesetzentwurf aus dem Innenministerium in voller Rüstung entgegentreten müsste?
Ich fordere heute die SPD-Bundestagsfraktion auf: Folgen Sie Ihrer Bundesvorsitzenden! Stellen Sie Ihre Vorsitzende nicht bloß! Wir haben eine namentliche Abstimmung beantragt,
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damit Sie dokumentieren können, dass Sie Ihre Vorsitzende, die Ihre Partei vor eineinhalb Jahren gewählt hat, nicht im Regen stehen lassen.
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Stimmen Sie mit uns und, wie ich annehme, Ihrer Parteivorsitzenden heute gegen den Staatstrojaner und für den Verfassungsschutz.
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Das Wort hat Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegen das jetzt zu beschließende Gesetz hat sich einhellig eine ungewöhnlich breite Allianz aus Chaos Computer Club, Facebook, Google und vielen anderen ganz entschieden ausgesprochen. Auch die Kritik nahezu aller Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses war ungewohnt deutlich.
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Mit der vorgesehenen Regelung werden die Geheimdienste zur Quellen-TKÜ in Form einer Onlinedurchsuchung light ermächtigt. Alle wissen: Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden Überwachungsmaßnahmen ist ebenso wenig möglich wie eine wirksame parlamentarische Kontrolle. Das ist ganz offenkundig verfassungswidrig!
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Dass die Anbieter von Internetdiensten verpflichtet werden sollen, aktiv bei der Infektion der Computersysteme und Endgeräte ihrer Kundinnen und Kunden mitzuwirken, ist nichts anderes als eine erzwungene Beihilfe zu staatlichem Hacking.
Wir als Linke bleiben dabei: Die Geheimdienste brauchen keine zusätzlichen Befugnisse, sondern klare Grenzen für die Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Institutionen, deren Einhaltung durch die parlamentarischen Gremien wirksam kontrolliert werden muss.
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Insbesondere der Verfassungsschutz hat nicht in Ermangelung von nachrichtendienstlichen Mitteln beim Thema NSU, beim Umgang mit V-Leuten oder in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus versagt. Konstantin von Notz von den Grünen hat gestern im Innenausschuss völlig zu Recht formuliert – ich zitiere –: Das V-Leute-Unwesen ist ein Sicherheitsrisiko ersten Ranges! – Ich teile diese Bewertung und füge hinzu: Der Verfassungsschutz benötigt keine Quellen-TKÜ, sondern gehört aus Sicht der Linken aufgelöst.
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Wir haben zur geordneten Abwicklung der Behörde einen mehrstufigen Maßnahmenkatalog vorgelegt, mit der die Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz möglich ist, ohne dass Sicherheitslücken entstehen.
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Er soll durch eine unabhängige „Beobachtungsstelle Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” ohne nachrichtendienstliche Befugnisse ersetzt werden.
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Letzte Anmerkung. Die jüngsten Vorkommnisse in Sachsen belegen die Fehlentwicklungen beim Verfassungsschutz auf erschreckende Art und Weise. Das dortige Landesamt hat laut Bericht der Parlamentarischen Kontrollkommission, der ich selbst 17 Jahre angehört habe, festgestellt, dass der Verfassungsschutz Dossiers unter anderem über den stellvertretenden Ministerpräsidenten von der SPD, den Fraktionschef der Linken, den Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen sowie weitere Landtagsabgeordnete angelegt hat, weil diese in öffentlichen Veranstaltungen Kritik an der CDU-geführten Regierung geäußert oder zu Recht auf die Mitverantwortung der seit 30 Jahren regierenden Union für den Aufstieg der Rechten von NPD bis AfD hingewiesen haben. Wenn das, wenn solche politischen Aussagen zur Bespitzelung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz führen,
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dann gibt es nur eine vernünftige Lösung, und zwar die unverzügliche Abschaffung dieser Behörde.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der GroKo, Sie kommen hier heute – wie auch schon in den Schlussphasen der Großen Koalitionen 2009 und 2017 – in den letzten parlamentarischen Stunden dieser Wahlperiode mit verheerenden, unausgegorenen, verfassungsrechtlich hochproblematischen Instrumenten um die Ecke. Das geht überhaupt nicht, meine Damen und Herren!
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Dass vor dem Bundesverfassungsgericht gerade noch mehrere Verfahren gegen Trojaner anhängig sind – der Kollege Thomae hat das zu Recht gesagt –, stört CDU, CSU und SPD nicht die Bohne. Alle – vom Chaos Computer Club bis zu den Techgiganten im Silicon Valley – sagen: „Bitte machen Sie es nicht!“, aber diese Große Koalition macht es trotzdem.
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Das ist der Grund, warum Deutschland im Bereich der IT-Sicherheit so maximal bescheiden aufgestellt ist: weil Sie weder auf die Zivilgesellschaft noch auf die Wirtschaft hören.
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Diese Expertise bräuchten Sie aber eigentlich.
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Die Debatte gestern im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, bei der man ein so scharf in die Freiheitsrechte eingreifendes Gesetz zwischen 70 Tagesordnungspunkten – 70! – mal so en passant diskutiert hat, hat gezeigt, was auch diese Debatte zeigt: Sie verstehen das Problem überhaupt nicht. Herr Kollege Middelberg, bei allem Respekt für Ihren schönen Anzug und bei der guten Kollegialität, die wir haben: Für den Einsatz der Trojaner brauchen Sie Sicherheitslücken, und diese Sicherheitslücken betreffen natürlich 82 Millionen Menschen in diesem Land und die deutsche Wirtschaft. Durch diese Sicherheitslücken gehen andere Nachrichtendienste genauso hindurch wie die organisierte Kriminalität. Deswegen führt das, was Sie hier veranstalten, zu einem massiven Sicherheitsproblem.
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All das kommt in Ihrer Argumentation gar nicht vor. Und dann läuft parallel zu dieser Debatte der Kollege Brinkhaus mit der Phrase über den Ticker, man wolle zukünftig „weniger und dafür bessere Gesetze“ machen. Ja das ist doch blanker Hohn! Sie machen zu viele, und Sie machen schlechte Gesetze. Das stimmt, meine Damen und Herren.
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Seit Jahren wird Ihnen in Sachverständigenanhörungen von den angesehensten Fachleuten, die von allen Fraktionen benannt wurden, gesagt: Das Recht der Nachrichtendienste gehört grundsätzlich überarbeitet.
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Und was machen Sie? Gar nichts. Das geltende Verfassungsschutzrecht strotzt nur so vor Ungereimtheiten, Verweisungskaskaden und fehlender Kontrolle.
Und Sie führen hier zur Begründung allen Ernstes die schlimmen Terroranschläge der letzten Jahre an, obwohl Sie wissen: Das, was wir hier besprechen, hätte keinen einzigen Anschlag verhindert. Das wissen Sie aus dem Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz, aus den Vorkommnissen in Halle und Kassel. Das hätte nicht geholfen. Die unklaren Rechtsgrundlagen, die unklaren Verantwortlichkeiten, die Kraut-und-Rüben-Situation bei den V-Leuten – all das ist ein veritables Sicherheitsrisiko. Das gehen Sie nicht an, meine Damen und Herren, sondern Sie liefern uns hier ein IT-Sicherheitsrisiko ersten Ranges. Das geht so überhaupt nicht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Michael Brand.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Islamistischer und extremistischer Terrorismus stellen schwere Bedrohungen für unsere Freiheit und Sicherheit dar. Gegen diese erheblichen Bedrohungen müssen wir die Abwehrinstrumente der Demokratie erhalten, sie weiterentwickeln. Die größte Bedrohung unseres demokratischen Rechtsstaates, so haben es der Bundesinnenminister und andere klar zusammengefasst, kommt inzwischen aus der rechtsextremistischen Ecke.
Die Bundesregierung hat auf die schrecklichen Anschläge von Halle und Hanau entschlossen reagiert.
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Der eigens gebildete Kabinettsausschuss hat eine Fülle von Maßnahmen beschlossen. Einige davon finden heute ihre konkrete gesetzliche Umsetzung.
Der sogenannte „personenbezogene Aufklärungsansatz“ ist dabei eines der zentralen Instrumente, um potenzielle Täter, akut noch nicht gewaltbereite Einzelpersonen, die sich oft im Internet radikalisieren, frühzeitig identifizieren zu können. Rechtsterrorismus kann nicht mehr allein in Zusammenschlüssen von Personen gesehen werden. Individuelle Radikalisierungsverläufe, wo diejenigen oft auf ein entsprechendes Umfeld treffen, haben eine neue und tödliche Qualität gewonnen. Egal ob Einzeltäter, Gruppe, Netzwerke, Organisation oder innerparteiliche Gruppierung: Der Rechtsextremismus und seine Erscheinungsformen müssen angesichts der neuen Qualität anders und besser erfasst, überwacht und analysiert werden.
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Dazu sind für begrenzte Verdachtsfälle, und das mit Kontrollmechanismen verbunden, die im Gesetz vorgesehene Quellen-TKÜ inklusive der so wichtigen Messengerdienste, damit der Rechtsstaat hier nicht weiter blind bleibt, und der ebenfalls verankerte Abgleich von Daten des MAD im Nachrichtendienstlichen Informationssystem wichtige Verbesserungen zur systematischen Verzahnung, um Informationsverluste bei einer Gefährdungseinschätzung zu vermeiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dem Verfassungsschutz, der unsere freiheitliche Demokratie frühzeitig vor Bedrohungen warnen soll, die dafür notwendigen Instrumente zur Verfügung stellen. Dass ausgerechnet Die Linke und die AfD die Abschaffung des Verfassungsschutzes fordern, ist doch der Hinweis für uns hier, dass wir den Verfassungsschutz stärken müssen, und natürlich auch Kontrollmechanismen.
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Im Übrigen müssen wir auch andere bessere Regelungen finden, um die veraltete Definition der vermeintlich ungefährlichen, nicht länger gewaltbereiten Extremisten an neue Entwicklungen anzupassen. Der Mörder von Walter Lübcke galt beim Verfassungsschutz als nicht mehr gefährlich. Er war sozusagen „abgekühlt“, wie das dort heißt. Das war ein tragischer, ein tödlicher Irrtum. Zudem wurde in diesem Fall der Datenschutz fast zum Täterschutz. Nur wenige Wochen nach dem glücklichen DNA-Fund wäre der extremistische vorbestrafte Täter aus der entsprechenden Datei gelöscht worden und vom Radar verschwunden.
Man muss nicht übertreiben. Aber man muss erkennen, dass wir für qualitativ neue Bedrohungen in einzelnen Bereichen schlicht nicht gewappnet sind. Wir werden in diesen anderen Zeiten nicht gewinnen können, wenn wir nicht in der Lage sind, mit Blick auf die neue Qualität von Extremismus und Terrorismus gezielte, begrenzte Veränderungen anzugehen, ohne dabei den Rechtsstaat zu verraten. Das Gegenteil ist derzeit wichtig. Der Rechtsstaat muss sich angemessen und entschieden zur Wehr setzen, wenn er im Kern angegriffen wird. Alles andere wäre Weimar, und dahin wollen wir nicht zurück.
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Vielen Dank. – Als letzten Redner in der Debatte hören wir Michael Kuffer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für die Sicherheit in Deutschland und damit auch für die Menschen in unserem Land; denn wir beschließen heute nach endlosen Verhandlungen zwei zentrale Pfeiler für die Sicherheitsarchitektur im Land, und ich füge hinzu: zwei zentrale Pfeiler der Unionssicherheitspolitik in dieser Legislaturperiode.
Mit dem Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts und gleich anschließend dem Gesetz zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei gelingen uns elementare Verbesserungen für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Sie wissen, dass beide Vorhaben innerhalb der Koalition äußerst schwierig waren. Deshalb bin ich froh, dass sich die Beharrlichkeit von CDU und CSU nun ausgezahlt hat, mit der wir uns intensiv und auf allen Ebenen dafür eingesetzt haben, unseren Sicherheitsbehörden endlich die Instrumente an die Hand zu geben, die es für eine effektive Ermittlungsarbeit im digitalen Zeitalter braucht.
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Wir schaffen mit diesem Gesetz endlich eine Befugnis des Verfassungsschutzes zum Einsatz der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung, um schwere Bedrohungen von unserem Rechtsstaat und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzuwenden und sie aufzuklären. Darüber hinaus erleichtern wir die Beobachtung von Einzelpersonen, um abgeschotteter, allein agierender Terroristen und Amokläufer wie der Täter von Hanau und Halle rechtzeitig und wirksam vor ihren Taten habhaft zu werden. Es geht bei beiden Vorhaben um nichts anderes als den Schutz von Menschenleben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD – ich will jetzt nicht mehr zurückschauen – und lieber Kollege Uli Grötsch, ich bin euch und dir auch für diese klare Haltung heute ausdrücklich dankbar. Ich will nur in Richtung der vielen Zweifler in euren Reihen und damit auch an die Adresse von Frau Esken noch mal sagen: Es wäre niemandem zu erklären, dass wir Telefone und SMS überwachen wollen und dem Verfassungsschutz gleichzeitig die Befugnis verweigern, auf WhatsApp-Nachrichten von Terroristen und von Subjekten zugreifen zu dürfen, die diese Technik genau dazu nutzen wollen, um Morde und Anschläge zu planen und zu koordinieren. An solchen Stellen, liebe Frau Kollegin Esken, können wir Ihnen auch weiterhin die Auseinandersetzung nicht ersparen. Wir werden weiterhin für organisierte Sicherheit und nicht für Organisierte Kriminalität eintreten.
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Etwas anderes ist mit der Union nicht zu machen.
Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch klar: Wer Verbrechen im 21. Jahrhundert mit Techniken aus dem 20. Jahrhundert, aus Zeiten der Wählscheibe bekämpfen will, kann seiner Verantwortung für dieses Land nicht gerecht werden. Leider ist es genau das, was die Grünen wollen. Sie wollen weiterhin die Sicherheitsbehörden ausbremsen. Was Sie heute mit Ihrem Antrag vorlegen – damit komme ich zum Ende –, würde geradewegs dazu führen, dass Deutschland strukturell unsicherer wird. Sie wollen den Verfassungsschutz aufspalten, ihn damit faktisch auflösen, nur um die Gelüste Ihres linken Flügels zu befriedigen. Sie arbeiten Terroristen und Extremisten mit solchen Ansätzen direkt in die Hände.
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Das ist grüne Sicherheitspolitik.
Deshalb sage ich Ihnen zum Schluss und bitte Sie, lieber Konstantin, liebe Grüne: Spielen Sie bitte in anderen Gebieten, aber hören Sie auf, an der Sicherheit herumzuspielen! Sicherheit ist ein Arbeitsgebiet und kein Experimentierfeld.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute abschließend über das Gesetz zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei beraten, dann möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich auch im Namen meiner Fraktion ganz herzlich bei den 50 000 Bundespolizistinnen und Bundespolizisten für den wichtigen und herausfordernden Dienst zu bedanken, den sie Tag für Tag an unseren Grenzen, Bahnhöfen und Flughäfen verrichten – ein herausragender Dienst, den wir würdigen möchten. Dabei bleiben wir als Gesetzgeber natürlich nicht stehen, sondern ziehen daraus auch tatsächlich gesetzgeberische Konsequenzen.
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Das haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Legislaturperiode an verschiedenen Stellen schon getan. Das fängt mit der Personalausstattung an: Zwischen 2016 und 2020 haben wir die Personalausstattung von 39 000 auf knapp 50 000 Beamtinnen und Beamte angepasst. Wir haben die finanzielle Vergütung für den herausragenden Dienst angepasst, in dieser Legislaturperiode die Polizeizulage um 40 Prozent erhöht und jetzt noch mal um 20 Prozent. Das ist ein sichtbares Zeichen unserer Wertschätzung für die Arbeit der Bundespolizisten.
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Wir haben eine Imagekampagne gestartet, und wir haben vor allen Dingen auch den strafrechtlichen Schutz nicht nur der Polizisten, sondern auch der Einsatzkräfte entscheidend verstärkt.
Jetzt geht es in einem fünften Schritt im Grunde genommen darum, den rechtlichen Instrumentenkasten so auszustatten, dass die Bundespolizei den Herausforderungen der Zeit auch gewachsen ist. Wenn man bedenkt, dass das Gesetz im Grunde genommen aus dem Jahr 1994 stammt und bisher nur in Einzelpunkten angepasst wurde, dann wird schon durch den Zeitablauf klar, dass hier ein dringendes Anpassungserfordernis besteht.
Wenn man sich jetzt im Einzelnen mal anschaut, was wir in diesem Gesetz geregelt haben, dann ist es, glaube ich, ganz entscheidend, darauf hinzuweisen, dass wir im Bereich der präventiven Telekommunikationsüberwachung ohne die Begrenzung auf bestimmte Deliktsfelder sicherlich ein ganz wesentliches zusätzliches Instrument haben. Dass wir der Bundespolizei auch unter Beachtung der Tatsache, dass sie eine polizeiliche Sonderorganisation ist, im Bereich der Strafverfolgung – nicht nur im Bereich der Vergehen, sondern auch im Bereich bestimmter Verbrechen – Kompetenzen geben, ist ein entscheidender Fortschritt.
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Das gilt natürlich auch für den Bereich der Rückführungen. Es geht darum, in bestimmten Bereichen dafür zu sorgen, dass die Bundespolizei diese Rückführungen machen kann und damit auch die Antragsbefugnis für die Abschiebehaft erhält. Auch das ist ein wichtiger Punkt in diesem Gesetz. Und nicht zuletzt – ich glaube, das war uns allen in der Koalition ganz wichtig –: Dass die Bundespolizei an Flughäfen und Bahnhöfen angemessen untergebracht ist, so wie sie es verdient, ist wesentlich für die tägliche Arbeit der Polizei.
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Ich will ganz offen sagen: Natürlich hätten wir uns bei diesem hervorragenden Gesetz, das aus der Mitte dieses Bundestages gewachsen ist und den beiden Koalitionsfraktionen zu verdanken ist,
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an verschiedenen Stellen durchaus gewünscht, dass wir noch einen Schritt weiter gegangen wären. Denn die Argumentation von Herrn Thomae beim vorherigen Tagesordnungspunkt war grottenfalsch,
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und die von Herrn Grötsch war goldrichtig.
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Und weil das so war, lieber Herr Grötsch, verstehe ich nicht, warum das, was beim Verfassungsschutz richtig ist,
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bei der Bundespolizei in den wesentlichen Deliktsfeldern von schwerem Menschenhandel und lebensgefährdenden Schleusungen nicht richtig sein kann. Das kann man niemandem erklären.
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Deswegen wären wir an der Stelle tatsächlich noch einen Schritt weiter gegangen.
Es ist unterm Strich aber ein gutes Gesetz, mit dem wir auch die Wertschätzung gegenüber der Arbeit der Bundespolizei zum Ausdruck bringen. Genau das hat sie verdient, und deswegen bitte ich um Ihre Unterstützung.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Christian Wirth von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! „Die Geister, die ich rief …“ Goethes Zauberlehrling ist aktueller denn je. Haben wir eben gehört, dass der von Ihnen politisch instrumentalisierte Verfassungsschutz mittlerweile SPD, Grüne und Linke in Sachsen überwacht – willkommen im Klub und herzlichen Glückwunsch! –, ist der Zauberlehrling in der Sicherheitspolitik in den letzten Monaten der Datenschutz. Nachdem Sie ihn in der letzten Legislaturperiode aufgebläht haben,
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müssen Sie sich nunmehr vom Bundesverfassungsgericht sagen lassen, dass der Datenschutz auch für die Sicherheitsbehörden gilt. Ja, Datenschutz ist leider auch Täterschutz, liebe Kollegen. Man muss das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mögen, man kann es kritisieren. Aber was man nicht machen kann, ist, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu ignorieren. Und das machen Sie leider einmal mehr; ich sage nur „Staatstrojaner“.
Wieder einmal schicken Sie sich an, auf den letzten Metern mit Ihrer Regierungsmehrheit ein vorsätzlich verfassungswidriges Gesetz zu erlassen, mit der Folge, dass die Union die nächsten Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich nicht nur hier im Parlament, sondern auch vor dem Bundesverfassungsgericht führen muss. Meine Damen und Herren, mit dieser Vorgehensweise zwingen Sie das Bundesverfassungsgericht geradezu, als Gesetzgeber tätig zu werden, wie das bereits mit dem Urteil vom Mai 2020 geschehen ist. Das schadet dem Ansehen dieses Parlamentes, das führt die Gewaltenteilung und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung ad absurdum.
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Es ist kein Geheimnis, dass in der Regierungskoalition nichts mehr geht, dass das SPD-geführte Justizverhinderungsministerium nicht nur seit dieser Legislaturperiode ein Sicherheitsrisiko ist. Es ehrt Sie, liebe Kollegen der Regierungskoalition, dass Sie wenigstens versuchen, ein Bundespolizeigesetz auf die Beine zu stellen. Und Sie sind auch lernfähig. Immerhin haben Sie unseren seit Wochen vorliegenden Änderungsantrag diese Woche in Teilen als eigenen Änderungsantrag quasi eins zu eins abgekupfert.
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Ganz am Rande: Das ist Ihre politische Art: nicht mit der AfD zu reden und nicht mit der AfD zu arbeiten. Man kupfert nicht das erste Mal einfach ab und verkauft die Ideen der AfD als eigene. Etwas scheinheilig; aber wenn Sie es brauchen, gerne.
Es freut uns aber, dass Sie zum Beispiel die Zuständigkeit bei der Strafverfolgung in Einzelsachen auf Ersuchen der zuständigen Staatsanwaltschaft oder des BMI übernommen haben. Leider haben Sie – nur als Beispiel – nicht die Befugnis übernommen, an Bord ausländischer Luftfahrzeuge bei Abschiebungen tätig zu werden, wenn das EU-Recht das vorsieht. Abschiebungen gehören nach unserer Auffassung insgesamt in den Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei, allein aufgrund der Präsenz in über 80 Ländern dieser Erde.
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Das hilft bei der Beschaffung von Ersatzpapieren. Das kann eine kleine Ausländerbehörde überhaupt nicht leisten.
Aber wenn man bei einem Gesetz von Modernisierung redet, dann reicht es nicht, die jahrzehntelangen Versäumnisse aufzuarbeiten, dann muss Rechtssicherheit für die Zukunft geschaffen werden. Die Gefahren der Zukunft sind grenzübergreifende Cyberangriffe von ausländischen Staaten und kriminellen Vereinigungen. Kein Wort hiervon in Ihrem Gesetzesentwurf!
Die Frage der Gesichtserkennung auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen muss diskutiert werden. Damit hätten die Terroranschläge in Belgien und Paris wahrscheinlich verhindert werden können, da die Täter aus Deutschland rübergewandert sind. Auch hier kneifen Sie.
Und ganz wichtig ist unser Antrag, endlich unseren Sicherheitskräften die Distanzimpulsgeräte, also Elektroschocker, zur Verfügung zu stellen. Bei ständig zunehmenden Angriffen auf unsere Sicherheits- und Rettungskräfte in den Ballungsräumen, in der Regel durch Menschen mit Migrationshintergrund, die unsere Staatsgewalt verhöhnen, müssen wir diesen Schutz gewähren.
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Diese Geräte sind ein Minus zu Schusswaffen, haben aber auch nicht die möglichen Spätfolgen wie Schlagstöcke, sind aber ungleich abschreckender.
Aus all diesen Gründen können wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen; wir müssen Sie alleine scheitern lassen.
Vielen Dank, und fühlen Sie sich sicher.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Dirk Wiese von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über 50 000 Bundespolizistinnen und Bundespolizisten sorgen im 70. Jahr des Bestehens der Bundespolizei für die Sicherheit an unseren Grenzen, an den Flughäfen, an den Bahnhöfen und leisten dabei einen herausragenden Beitrag, der unsere volle Wertschätzung hat. Aus diesem Grund war es der SPD-Bundestagsfraktion sehr wichtig, in dieser Legislaturperiode das zuletzt vor 27 Jahren reformierte Bundespolizeigesetz an die heutige Zeit und die digitalen Entwicklungen der letzten Jahre anzupassen.
Ich bin auch wirklich dankbar, dass wir von den Koalitionsfraktionen diese Initiative ergriffen haben; denn ich will an diesem heutigen Tage nicht unerwähnt lassen, dass es das Bundesinnenministerium gewesen ist, das dieses Gesetz gar nicht mehr anpacken wollte.
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Es war eine Initiative der Koalitionsfraktionen, mit der das auf den Weg gebracht wurde, und das war ein gutes Signal.
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Die vorgesehenen Änderungen stellen aus unserer Sicht ganz konkrete Verbesserungen für die tagtägliche Arbeit und vor allem die Polizeipraxis dar. Wir sorgen jetzt als Gesetzgeber dafür, dass die Bundespolizei unter anderem mit zeitgemäßen Ermittlungsbefugnissen bei der Terrorismusbekämpfung, bei der Schleuserkriminalität und auch beim schweren Menschenhandel effektiver vorgehen kann.
Ich will sehr deutlich machen: Die Einführung gerade auch der Quellen-TKÜ für die Bundespolizei, die zukünftig die gleichen Kompetenzen bekommt wie das Bundeskriminalamt, die diese bereits seit 2017 hat, ist richtig. Die Bundespolizei kann sie nicht einfach so machen, sie kann sie nicht anlasslos machen. Nein, es ist immer erforderlich, dass bei einer Anordnung ein Richtervorbehalt vorliegt, und jede Anordnung ist zudem auch noch befristet. Es ist aus unserer Sicht der richtige Schritt, das hier so auf den Weg zu bringen.
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Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns darüber hinaus in den Beratungen intensiv dafür eingesetzt, dass zukünftig gerade die Bundespolizei eine anständige und vor allem auch angemessene Unterbringung an Flughäfen und Bahnhöfen bekommt. Denn seien wir ehrlich: Wenn wir manchmal bei uns in den Wahlkreisen vor Ort an Bahnhöfen und Flughäfen unterwegs gewesen sind, dann waren wir schon erschrocken, dass es manchmal die letzte Räumlichkeit gewesen ist, der letzte Raum, der irgendwie noch frei gewesen ist, der dann der Bundespolizei zugewiesen war. Das konnte aus unserer Sicht nicht sein. Und darum war es richtig, hier letztendlich Mindeststandards festzulegen. Ich war manchmal in den Beratungen doch etwas überrascht, dass der eine oder andere Betreiber von Bahnhöfen oder Flughäfen plötzlich sehr schnell agiert hat und immer gesagt hat: Es ist doch alles in Ordnung, und es geht doch in die richtige Richtung.
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Nein, es war richtig, dass wir hier gesetzgeberisch tätig geworden sind. Das ist eine wichtige Gesetzesänderung, die wir hier auf den Weg gebracht haben und in die richtige Richtung geht.
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Die Arbeit der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten verdient ohne Wenn und Aber Anerkennung und Respekt, die sich übrigens auch in einer angemessenen Vergütung wiederfinden sollen. Darum war es gerade auch in dieser Woche ein wichtiges Signal der Koalitionsfraktionen, dass wir die deutliche Erhöhung der seit Jahrzehnten unangetasteten Polizeizulage
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auf den Weg gebracht haben. Das ist ein wichtiger Schritt, den wir hier gemacht haben. Er passt auch etwa zu der aus meiner Sicht wichtigen, wertschätzenden Kampagne der GdP: „100 % Einsatz verdienen 100 % Einsatz.“ Das geht in die richtige Richtung. Von daher war auch das ein wichtiges Signal.
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Lassen Sie es mich aber auch nicht verhehlen: Wir haben auch einige Aufgaben, die umgehend in der neuen Legislaturperiode anstehen. Es ist sicherlich ein Mehraufkommen an Aufgaben, das durch dieses Bundespolizeigesetz auf die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten zukommt. Wir müssen sicherlich schauen, ob das Personal angesichts des Mehrbedarfs nicht aufgestockt werden muss. Das ist eine Aufgabe für die neue Legislaturperiode.
Ich kann auch sagen: Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen auch das Thema der Ruhegehaltsfähigkeit der Polizeizulage auf die Tagesordnung setzen.
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Da war das Bundesinnenministerium leider nicht ganz kooperativ. Auch das ist für uns ein wichtiges Thema, das in der neuen Legislaturperiode angegangen werden muss.
In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Konstantin Kuhle von FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum eine Sicherheitsbehörde in Deutschland hat in den letzten Jahren einen solchen Bedeutungszuwachs erlangt wie die Bundespolizei. Die Bundespolizei stellt in Krisen regelmäßig ihre besondere Expertise unter Beweis, und sie wächst auch in Krisenzeiten besonders über sich hinaus.
Expertise hat die Bundespolizei vor allen Dingen in einem Bereich. Das ist der Bereich der Durchsetzung der Ausreisepflicht, also der Bereich der Abschiebungen. Und weil das so ist, begrüßen wir Freie Demokraten es sehr, dass der Bund und ganz besonders die Bundespolizei mit diesem Gesetz neue Befugnisse im Bereich der Abschiebungen erlangen. Viele Menschen in Deutschland fragen sich, warum es nicht hinhaut, warum es nicht klappt, die Ausreisepflicht durchzusetzen. Das liegt oftmals daran, dass es ein Zuständigkeitswirrwarr zwischen Bund und Ländern gibt. Wir meinen, es macht Sinn, dass die Bundespolizei, wenn eine Person im Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei aufgegriffen wird – am Bahnhof, am Flughafen –, die Abschiebehaft auch selbst beantragen und dann die Abschiebung vollziehen kann. Das ist der richtige Weg, das ist der richtige Schritt.
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Wir hätten deswegen gerne heute dem Gesetz zugestimmt, auch als Zeichen der Wertschätzung für die wichtige Arbeit der Beamtinnen und Beamten. Das Problem ist: Sie verhunzen dieses schöne Gesetz mit der Einführung des Staatstrojaners.
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Sie verhunzen dieses schöne Gesetz mit der Einführung der Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Und das machen Sie, obwohl im Innenausschuss ganz eindeutig gesagt worden ist, dass das mit der praktischen Arbeit der Bundespolizei überhaupt nichts zu tun hat.
Wir haben eine Situation mit einem föderalen Sicherheitssystem -16 Landespolizeien, 16 Landeskriminalämter –, und in dieser Situation führen Sie auf Bundesebene heute – neben dem Bundesamt für Verfassungsschutz – auch noch bei der Bundespolizei den Staatstrojaner ein. Am Ende ist die innere Sicherheit so organisiert: Alle Behörden machen alles und sind für alles zuständig. – Das ist die organisierte Verantwortungslosigkeit und führt nicht zu mehr Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen muss das heute abgelehnt werden.
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Liebe Kollegen, der Staatstrojaner führt zu einem erheblichen Eingriff in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger, weil eben für diese Maßnahmen Sicherheitslücken in der digitalen Kommunikation aller Menschen in Deutschland offen gelassen werden müssen. Das ist ein massiver Eingriff in die digitale Kommunikation und ihre Vertraulichkeit. Und ich höre es ja schon wieder, dass die Menschen sagen: Ich habe doch nichts zu verbergen. – Lassen Sie ihnen gesagt sein: Wer nichts zu verbergen hat, der hat ein verdammt trauriges Leben.
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Deswegen schützen wir die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger vor diesem Staatstrojaner, der so nicht eingeführt werden darf.
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Meine Damen und Herren, Sie machen hier ein Riesentheater – Sie bringen das hier auf den Weg – für eine Maßnahme, die am Ende kaum eingesetzt wird, aber massive Auswirkungen auf die IT-Sicherheit und die Bürgerrechte hat. Wir haben ein jahrelanges Theater vor dem Bundesverfassungsgericht auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten und auf dem Rücken der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger vor uns.
Heute führen Sie den Staatstrojaner für den Verfassungsschutz und die Bundespolizei ein. Heute ist ein schwarzer Tag für die Bürgerrechte. Heute ist ein schwarzer Tag für die IT-Sicherheit. Heute ist ein schwarzer Tag für die Glaubwürdigkeit der SPD, die das eigentlich nicht wollte. Und heute ist vor allen Dingen ein schwarzer Tag, weil das die letzte richtige innenpolitische Debatte dieser Legislaturperiode ist,
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einer Legislaturperiode ohne Überwachungsgesamtrechnung, ohne periodischen Sicherheitsbericht, ohne GTAZ-Gesetz, ohne Musterpolizeigesetz und ohne eine Strukturreform der Sicherheitsarchitektur. Es gibt in der nächsten Legislaturperiode im Bereich der Innenpolitik viel zu tun.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
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Danke. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen jetzt, nachdem wir eben über das Verfassungsschutzrecht debattiert haben, über weiter gehende Befugnisse für die Bundespolizei. Herr Seehofer hat in der ersten Lesung hier gesagt – ich zitiere –:
Für die Überwachung der Telekommunikation streiten bestimmte politische Kräfte schon seit Jahrzehnten. Es ist also schön, dass dies jetzt die Chance hat, realisiert zu werden.
Was für eine Definition! „Schön“ ist wirklich was anderes. Wenn heute beschlossen wird, dass die Bürgerinnen und Bürger weiterhin überwacht werden und damit Bürgerrechte eingeschränkt werden, dann wird die Sicherheit eher zur Unsicherheit. Das zeigt das gesamte Gesetz.
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Die Koalition will der Bundespolizei zum Beispiel einen Großteil jener TKÜ-Befugnisse geben, wie sie bereits die Länderpolizeien haben. Das bedeutet unter anderem, Handys und Computer mithilfe von Staatstrojanern auszuspähen. Dazu nutzt der Staat Sicherheitslücken in der Technik dieser Geräte, anstatt die Bürger vor diesen Lücken zu warnen. Um wenige Verdächtige abzuhören, werden Millionen von Bürgern und Bürgerinnen dem Risiko ausgesetzt, dass ihre Geräte gehackt werden. Das ist unverantwortlich, unverhältnismäßig und wird hoffentlich vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden.
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Außerdem soll die Bundespolizei Meldeauflagen verhängen können und vollen Zugriff auf die Personendaten haben, die zum Beispiel im Schengener Informationssystem gespeichert sind. Für all das sind bislang die Länder zuständig, und es ist überflüssig wie ein Kropf, diese Kompetenzen jetzt auch noch der Bundespolizei zu geben.
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Im Unterschied zur FDP finden wir es sehr problematisch, dass die Bundespolizei auch für die Abschiebung geduldeter Personen zuständig sein soll, wenn sie diese Personen zufällig an einem Bahnhof oder in einem Zug kontrolliert. Das soll zwar jetzt in Abstimmung mit der Ausländerbehörde geschehen; aber wenn die nicht erreichbar ist, zum Beispiel am Wochenende, dann können die Betroffenen sofort fest- bzw. in Abschiebehaft genommen werden. Geduldete Menschen werden damit praktisch zum Freiwild.
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Selbst die Gewerkschaft der Polizei hat in unserer Anhörung diese Pläne als – ich zitiere – „völlig abwegig“ und sogar verfassungswidrig kritisiert.
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Denn sie haben mit dem verfassungsmäßigen Kernauftrag der Bundespolizei, der Grenzsicherung, nichts mehr zu tun. Und was nicht weniger schlimm ist: Sie laufen auf massive Willkür gegenüber den geduldeten Personen hinaus.
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Kommen Sie bitte zum Ende.
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Ich will hier daran erinnern: Das sind immerhin Menschen, die legal hier sind und damit das Recht haben, rechtsstaatlich behandelt zu werden.
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Was man im Gesetzentwurf hingegen vergeblich sucht, –
Ich möchte Sie an das Ende Ihrer Redezeit erinnern.
– ist eine Streichung der Regelung des willkürlichen Racial Profilings. Das wäre in der Tat ein Problem, über das man hier hätte diskutieren müssen.
Das Problem sind gerade Sie mit Ihrer Redezeit.
Ja, ich komme auch gleich zum Ende.
Nein, jetzt. Ich muss Ihnen sonst das Mikro abstellen.
Das Problem rassistischer Polizeikontrollen muss endlich auf die Tagesordnung.
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Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Frau Dr. Irene Mihalic.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich sage es ganz unumwunden: Ihr Gesetzentwurf ist weder ambitioniert noch zukunftsweisend. Dabei wäre eine moderne und rechtssichere Arbeitsgrundlage enorm wichtig für die Polizistinnen und Polizisten, die täglich für uns alle im Einsatz sind. In etlichen Runden wurden ganz konkrete Verbesserungsmöglichkeiten erörtert, und in der vernichtenden – so muss ich es leider sagen – Sachverständigenanhörung im Innenausschuss wurden die Schwachstellen ohne Ende offengelegt. Die Gewerkschaft der Polizei hat in ihrer Stellungnahme die Zuständigkeitserweiterung im Aufenthaltsgesetz als – ich zitiere – „aus verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Gründen abzulehnen“ kritisiert. Die Aufgabenerweiterung sei durch die Bundespolizei auch überhaupt nicht leistbar. Das sage nicht ich, das sagt die GdP.
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Die Formelkompromisse, die Sie gefunden haben, können nicht die Grundlage für den so dringend benötigten großen Wurf beim Bundespolizeigesetz sein.
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Das Festhalten an der Quellen-Telekommunikationsüberwachung setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Liebe SPD, ihr seid nicht nur über eure eigene Großspurigkeit gestolpert, diese Aktion verhindern zu wollen, sondern ihr seid komplett umgefallen. Verfassungsrechtlich hochumstritten, steht das Ding bereits im Bundeskriminalamtgesetz. Vor einer halben Stunde haben Sie die Aufnahme ins Verfassungsschutzgesetz beschlossen, und jetzt soll es auch noch im Bundespolizeigesetz landen, und das, obwohl Sie mit den Sicherheitslücken, die Sie für den Staatstrojaner offenhalten müssen, die IT-Sicherheit von 83 Millionen Menschen in unserem Land gefährden – eine regelrechte Einladung an Cyberkriminelle und andere, die nichts Gutes im Sinn haben.
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Sie gefährden die Bürgerinnen und Bürger für die Möglichkeit, ein Instrument anzuwenden, das in der bisherigen Praxis überhaupt gar keine Rolle spielt. Das ist keine Sicherheitspolitik, das ist das Gegenteil davon, meine Damen und Herren.
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Um das noch mal ganz klarzustellen: Die Polizei braucht eine Lösung. Sie braucht eine Lösung, um Messengerkommunikation aus ganz konkretem Anlass und unter ganz engen Voraussetzungen mitlesen zu können, aber diese Lösung muss rechtsstaatlich sein, und sie darf vor allen Dingen nicht die Sicherheit in unserem Land gefährden.
Darüber hinaus finden sich in Ihrem Gesetzentwurf kaum Maßnahmen, die die Arbeit der Bundespolizei wirklich verbessern würden. Die Abschaffung des Racial-Profiling-Paragrafen und die Einführung einer echten Kontrollbefugnis mit klaren Zulässigkeitsvoraussetzungen, wie sie im Übrigen auch von der Gewerkschaft der Polizei gefordert wird, sind dringend nötig.
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Verbesserungen bei der Datenverarbeitung, die Evaluation von Rechtsgrundlagen und die Schaffung eines unabhängigen Polizeibeauftragten sind ebenfalls längst überfällig.
Außerdem müssen auch die vielen offenen Stellen besetzt werden. Deshalb brauchen wir dringend eine qualitative Personaloffensive mit verbesserter Aus- und Fortbildung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Gesetzentwurf ist bestenfalls unausgegoren, im schlimmsten Fall verfassungswidrig – das wird sich noch zeigen –, aber die Reform der Reform ist jedenfalls schon jetzt vorprogrammiert. Unsere Polizei hat mehr verdient.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich mache darauf aufmerksam, dass jetzt die letzte Minute für die Möglichkeit der Abgabe der Stimme zur namentlichen Abstimmung gekommen ist und ich eigentlich jetzt gleich die Urnen schließen muss. Ist noch jemand im Saal, der noch nicht abgestimmt hat? – Da läuft sie. – Sind jetzt die letzten Stimmen abgegeben worden? Kann ich ein Signal bekommen? – Ja, der Daumen ist oben. Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer um die Auszählung. – Vielen Dank.
Wir kommen zur nächsten Rednerin: Frau Andrea Lindholz von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen heute mit unserem Gesetzentwurf die Bundespolizei schlagkräftiger machen. Das Bundespolizeigesetz ist 27 Jahre alt und entspricht nicht mehr an allen Stellen der heutigen Realität. Den Fraktionen ist es gelungen – vielen Dank dafür an SPD und Union –, dass wir heute noch zu einem, glaube ich, guten Abschluss kommen.
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Wir ziehen heute unter anderem auch die Lehren aus dem Anschlag vom Breitscheidplatz. Wir tun damit auch etwas für die Durchsetzung der Ausreisepflicht, indem wir unsere Bundespolizei die Zuständigkeit für die Feststellung von illegalem Aufenthalt und für Rückführungen in Absprache mit den Landesbehörden übernehmen lassen. Auf Ersuchen einer Staatsanwaltschaft kann unsere Bundespolizei künftig die Strafverfolgung bei länderübergreifenden Ermittlungen übernehmen, und das ist auch gut so. Es kann nämlich in Einzelfällen, zum Beispiel bei einer Serie von Automatenaufbrüchen an Bahnhöfen oder auch bei der Schleusungskriminalität, vielleicht in Kombination mit Urkundenfälschung und auch Clankriminalität, durchaus sinnvoll sein, dass die Bundespolizei die Strafverfolgung in Absprache mit bzw. auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft übernimmt.
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Die Bundespolizei soll in Zukunft ein eigenes Zeugenschutzprogramm im Kampf gegen Menschenhändler und Schleuser aufbauen; denn uns ist der Kampf gegen Menschenhändler und Schleuser wichtig. Praktisch wollen wir ermöglichen, dass die Videoschnittstellen zwischen der Bundespolizei und den Landespolizeien eingerichtet werden dürfen, vor allem im Bereich der Bahnhöfe. Das ist wichtig, damit sie besser, enger und rechtssicherer zusammenarbeiten können.
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Von besonderer Bedeutung ist für uns – und wir bedanken uns bei der SPD, dass wir zu einer Lösung gekommen sind –, dass auch für die Bundespolizei die Quellen-TKÜ eingeführt wird. Sie wird in einem eng gesteckten Rahmen ermöglicht, und zwar dann, wenn konkretisierte Straftaten im Bereich Schleusung und Menschenhandel vorliegen. Damit wird mitnichten ein Sicherheitsrisiko für 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger hergestellt, sondern es geht um Menschenhandel und schwerstkriminelle Schleuser. Da darf man sich auch nicht hinter dem Datenschutz verstecken.
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: In der Anhörung im Innenausschuss zu den Änderungen im Verfassungsschutzrecht hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ganz klar gesagt,
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dass dafür keine Sicherheitslücken ausgenutzt werden. Das kann man dort zweimal nachlesen – wie man überhaupt dort nachlesen kann, wie das rechtssicher funktionieren kann.
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Ein wichtiger Punkt – und das war SPD und Union gemeinsam wichtig – war die bessere Unterbringung der Bundespolizei an Bahnhöfen. Ich will an dieser Stelle ganz klar sagen: Es gibt gute Unterkünfte; es gibt aber auch Unterkünfte, bei denen Handlungs- und Renovierungsbedarf besteht. Wir haben es uns hier nicht leicht gemacht und auch mit den Verkehrspolitikern gerungen. Mit diesem Gesetz sagen wir jetzt klar, in welchem Zustand die Räumlichkeiten sein müssen. Wir – auch die Verkehrspolitiker – müssen aber auch darauf achten, dass dann wirklich zeitnah in allen Bahnhöfen, in denen es noch Missstände bei der Unterbringung gibt, diese beseitigt werden.
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Wir führen eine Sicherheitsüberprüfung für neue Bedienstete ein. Das ist ebenfalls wichtig; denn seit 2015 hat die Bundespolizei 12 500 neue Stellen bekommen. Die Zahl der Polizeianwärter beim Bund ist um rund 240 Prozent im Vergleich zu 2010 gestiegen. Insofern ist es auch gut, dass wir hier eine Sicherheitsüberprüfung einziehen.
Uns war es aber auch wichtig – und wir werden das heute im späteren Verlauf noch beschließen –, die Polizeizulage nochmals anzuheben. Es ist vorhin gesagt worden, die Zulagen seien nicht angepasst worden. Das ist natürlich Quatsch. Wir haben 2019 ganz viele Zulagen erhöht, neben anderen auch die Polizeizulage. Aber wir wollen jetzt noch mal ganz bewusst die Polizeizulage um 20 Prozent erhöhen, weil wir sehen, dass die Polizei – und damit ist auch ein großes Dankeschön von uns verbunden –
Liebe Kollegin, kommen Sie zum Ende.
– durch Corona, durch Grenzkontrollen, durch Migration und Demos vor besonderen Herausforderungen steht. Und ja, vielleicht macht man nicht immer alles, was man gerne gemacht hätte. Aber es ist wichtig, dass wir Schritt für Schritt die Bundespolizei weiter personell, rechtlich und finanziell stärken. Das tun wir heute, und ich bitte Sie daher um Ihre Unterstützung.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Uli Grötsch.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen sagen, dass es meiner Meinung nach ein gutes Signal ist, dass wir in der letzten innenpolitischen Debatte dieser Wahlperiode noch mal über die Bundespolizei, die größte Behörde des Bundes, diskutieren, eine Sicherheitsbehörde, die in den letzten acht Jahren Großer Koalition so sehr im Fokus unseres innenpolitischen Arbeitens gestanden hat, so glaube ich sagen zu dürfen, wie keine andere.
Es ist gut, dass wir in der letzten innenpolitischen Debatte dieser Wahlperiode den Rechtsrahmen für die Bundespolizei noch mal anpassen. Ohnehin ist es kaum zu glauben, dass es fast 30 Jahre her ist – es war 1994 –, als wir das zum letzten Mal gemacht haben. Wir nennen das einigermaßen bescheiden eine Modernisierung der Rechtsgrundlagen. Ich glaube aber, dass es eigentlich viel, viel mehr ist, was wir mit diesem Gesetz machen. Ich glaube, dass es nichts Geringeres ist als ein richtiges Makeover für die Bundespolizei, was nach 30 Jahren natürlich dringend notwendig ist und jetzt mit diesem Gesetz auch gut gemacht wird. Ich sage auch: Das lassen wir uns von niemandem kaputtreden, weil es nämlich richtig viel Arbeit war.
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Ich möchte an dieser Stelle auch nicht versäumen, schon mal Danke zu sagen. Nachdem das Bundesinnenministerium nicht in der Lage war, dieses Gesetz zu machen, war es dein Verdienst, lieber Dirk Wiese – das darf auch mal gesagt werden –, dass es aus der Mitte des Parlaments entstanden ist. Vielen Dank, Herr Frei, dass Sie das mitgetragen haben. Und dir, lieber Kollege Michael Brand, möchte ich an dieser Stelle auch mal für deinen langen Atem danken. Dieses Gesetz zu machen, ging nämlich alles andere als hopplahopp. Es war ein richtig langer und intensiver Prozess, den wir auf dem Weg zur heutigen zweiten und dritten Lesung durchlaufen sind. Ich glaube, es war auch gut so, dass wir uns für ein so umfangreiches Gesetz so viel Zeit nehmen, damit alles gut durchdacht ist,
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und dass wir uns ständig mit denen austauschen, die es anwenden müssen, also dass nicht wir als Hohes Haus von oben herab einer Sicherheitsbehörde etwas drüberstülpen, sondern dass wir uns mit denen austauschen, die es anzuwenden haben. Auch das, glaube ich, ist ein wichtiger Punkt, der an dieser Stelle genannt sein darf.
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Ich sage abschließend – und das ist mir wichtig zu sagen –, dass es uns als SPD wichtig war, in den Entschließungsantrag, den wir im Innenausschuss gestern beschlossen haben, das Thema „Racial Profiling“ aufzunehmen. Das ist einer Debatte geschuldet, die in Deutschland völlig zu Recht geführt wird. Ich glaube, dass wir gut daran tun, dass auch wir als Parlament solchen Debatten Rechnung tragen.
In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, werbe ich um Zustimmung für dieses Gesetz, das die Bundespolizei gut auf dem Weg in die Zukunft begleiten wird. Und ja, es ist richtig: Auch in der nächsten Wahlperiode des Bundestages müssen wir über die Bundespolizei reden und darüber, wie wir sie in Zukunft weiterentwickeln können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist Michael Brand von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute die Modernisierung der Rechtsgrundlagen für die Bundespolizei auf den Weg bringen, ist ein wichtiger, von vielen kaum mehr erwarteter Erfolg für die über 50 000 Bundespolizistinnen und Bundespolizisten. Aus vielen Gesprächen der letzten Jahre mit der Bundespolizei, vor allem vor Ort, weiß ich, wie wichtig diese konkreten Änderungen für die tägliche Praxis sind. Wir alle wissen, dass die Bundespolizei 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche ihre Aufgaben für die Freiheit und für die Sicherheit unseres Landes wahrnimmt, in einem Dienst, der enorm viel fordert und viel Risiko bedeutet. Für diesen Dienst an unserer Demokratie den höchsten Respekt und unseren Dank an die Bundespolizei!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Reform war überfällig. Mit ihr lösen wir in wichtigen Bereichen teils lange ungelöste Probleme, indem wir Befugnisse der Bundespolizei dosiert und gezielt anpassen. Niemand will übertriebene Regelungen; die finden auch nicht statt. Aber Sicherheit und Schutz gegen Anschläge, Menschenhandel und Organisierte Kriminalität sind nötig und sind möglich in vollem Einklang mit Datenschutz und Bürgerrechten.
Dazu gehören die Neuregelungen zur Telekommunikationsüberwachung oder zu Meldeauflagen bei Hooligans und anderen Gewalttätern und die Zuständigkeit nicht allein für Vergehen, sondern gezielt bei Verbrechen. Ebenfalls alltagsrelevant ist die Übernahme von Ermittlungen durch die Bundespolizei auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft außerhalb der originären Strafverfolgungszuständigkeit.
Zentral sind auch die neuen Befugnisse zur Beendigung unerlaubten Aufenthalts, also Abschiebung von Personen ohne Duldung, die an Bahnhöfen oder Flughäfen aufgegriffen werden.
Zur Sicherung von Flughäfen und anderen wichtigen Einrichtungen wird die Bundespolizei zur Abwehr von Angriffen mit Drohnen oder Laserpointern befugt sein, um auf neue Gefährdungen reagieren zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese und andere Punkte machen diese Reform zu einem echten Zugewinn an Sicherheit für unser Land.
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Zu den Punkten zählt im Übrigen auch – es ist erwähnt worden – die Verbesserung der Unterbringung der Bundespolizei, zum Beispiel an Bahnhöfen. Das war nicht nur unter dem Gesichtspunkt der dienstlichen Fürsorge ein überfälliger Schritt. Wir als CDU/CSU sind froh, dass dies und mehr mit dem Koalitionspartner möglich war.
Diese Reform ist natürlich ein Kompromiss. Klar ist dabei auch, dass wir als Union weitere Maßnahmen für die Bundespolizei für richtig halten. Ich erwähne hier die Gesichtserkennung an Gefahrenschwerpunkten oder die Distanz-Elektroimpulsgeräte, die präventiv wirken und auch die Polizei schützen. Dazu gibt es einen Weg, und der heißt Bundestagswahl. Für diese Wahl gilt der Grundsatz: Wer mehr Sicherheit will, muss mehr Union wählen.
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Zum Abschluss gilt meiner eigenen Fraktion, dem Koalitionspartner und dir, lieber Uli Grötsch – ich hatte mir das auch vorgenommen –, ein herzliches Dankeschön für die gute Zusammenarbeit. Das war konstruktiv, es war im besten Sinne ein Ringen um eine gute Lösung, und es ist wirklich etwas Gutes herausgekommen. Allen, die bei der schwierigen Geburt mitgeholfen haben, möchte ich zum Abschluss danken, auch denen aus der Praxis, die uns mit Rat und Tat und kritischer Prüfung zur Seite gestanden haben: die Gewerkschaft der Polizei und die Deutsche Polizeigewerkschaft – die im Übrigen sehr froh sind, Frau Mihalic, dass genau diese Entscheidungen heute die Zustimmung des Deutschen Bundestages finden –
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und auch der Präsident der Bundespolizei, Dr. Romann.
Alles in allem bringt diese erste substanzielle Reform seit 1994 der Bundespolizei und unserer öffentlichen Sicherheit in einer Reihe von wichtigen Punkten deutliche Verbesserungen, und das ist einen solchen Kompromiss allemal wert. Vielen Dank an alle, die dazu beigetragen haben.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Arbeit in diesem Land ist vielfach unterbezahlt, prekär und sozial unzureichend abgesichert. Ich habe als Betriebsrätin und Gewerkschafterin viele Jahre im Betrieb für gute Arbeit gekämpft. Ich habe dann für den Bundestag kandidiert, weil hier die Rahmenbedingungen für gute Arbeit gesetzt werden können. Gute Arbeit ist im Übrigen auch die Grundlage für unseren Sozialstaat, für gut ausgestattete Sozialversicherungssysteme und entsprechende Steuereinnahmen.
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So vieles wäre in diesen vier Jahren möglich gewesen, aber die Große Koalition war dazu nicht bereit. Das ist mehr als enttäuschend.
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Das erste Beispiel dafür ist die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Die Linksfraktion hat dies schon immer gefordert. Am Ende der letzten Legislaturperiode hat keine einzige Fraktion in diesem Haus unserem Antrag zugestimmt. Heute haben Sie wieder die Chance, meine Damen und Herren.
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Die SPD hat es dann zum Wahlkampfthema gemacht, und gerade mal eine wachsweiche Formulierung hat es in den Koalitionsvertrag geschafft. Aber nicht mal dieser Minikompromiss wurde umgesetzt – ein Armutszeugnis.
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Nach wie vor sind vier von zehn Neueinstellungen befristet, und damit nehmen Sie den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, ihre Zukunft sicher zu planen und zu gestalten. Das werden wir als Linke nie akzeptieren.
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Ein weiteres Beispiel sind die Minijobs. 500 000 Minijobbende haben durch Corona ihre Arbeit verloren und stehen jetzt ohne soziale Absicherung da. Die Große Koalition hat nichts getan, um wieder mehr Arbeit sozialversicherungspflichtig zu machen. Im Gegenteil: Sie hat auch noch die Möglichkeit der kurzfristigen sozialversicherungsfreien Beschäftigung ausgeweitet, mit dem Ergebnis, dass Beschäftigte ohne Krankenversicherung auf deutschen Feldern arbeiten, und das mitten in einer Pandemie. Das ist wirklich absurd.
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Minijobs, Befristungen und Leiharbeit – die ganzen prekären Beschäftigungsformen sind neben der fehlenden Tarifbindung die Ursache für den riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland. 80 Prozent der Minijobbenden arbeiten im Niedriglohnsektor. Ein Leiharbeiter verdient im Durchschnitt 1 418 Euro weniger als seine festangestellten Kolleginnen und Kollegen. Insgesamt arbeitet jeder und jede Fünfte im Niedriglohnbereich. Das alles ist völlig inakzeptabel.
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Wo sind die gesetzlichen Regelungen geblieben, um das zu verhindern? Stärkung von Tarifverträgen: Fehlanzeige! Ein armutsfester Mindestlohn: bis auf vollmundige Versprechungen von Minister Heil und Minister Scholz Fehlanzeige! Die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs, damit jede Minute Arbeitszeit erfasst wird und auch der Mindestlohn besser kontrolliert werden kann: Fehlanzeige! Die Nahezu-Abschaffung von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischindustrie haben Sie mit Hängen und Würgen gerade so hinbekommen; aber ansonsten hat die Bundesregierung nichts unternommen, um prekäre Beschäftigungen einzudämmen und damit die Situation der abhängig Beschäftigten zu verbessern.
Uns wird ja immer vorgeworfen, wir hätten unrealistische Forderungen. Aber stellen wir uns einmal vor, unsere Anträge – viele davon stehen heute auf der Tagesordnung – würden Gesetz werden: Wie würde die Arbeitswelt dann aussehen?
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Beschäftigte wären bei dem Unternehmen angestellt, bei dem sie auch tatsächlich arbeiten.
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Für dieselbe Tätigkeit würde derselbe Lohn gezahlt. Sachgrundlose Befristung würde es nicht mehr geben. Die Kolleginnen und Kollegen könnten ihr Berufsleben planen, ohne immer Angst um den nächsten Job zu haben. Wer jeden Tag zur Arbeit geht, würde von dieser Arbeit auch leben können, egal ob im Erwerbsleben oder im Alter, und alle wären sozial abgesichert.
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Arbeitszeiten wären geregelt, und jede Minute würde auch erfasst. Es gäbe starke Gewerkschaften, die flächendeckend faire Tarifverträge verhandeln würden, und in der Mehrheit der Betriebe gäbe es Betriebsräte, die auch für mehr Demokratie im Betrieb sorgen würden.
Diese ganzen Forderungen sind weder utopisch; sie sind nicht mal sozialistisch. Sie sind nichts anderes als das Versprechen, das Sie den Menschen auch mal gegeben haben, nämlich dass jemand, der sich jeden Tag abrackert, auch ein gutes Aus- und ein gutes Einkommen hat: gute Arbeit für alle, gut bezahlt, sicher und sozial abgesichert.
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Es wird höchste Zeit, dass dieses Versprechen wieder gilt. Es liegt allein am politischen Willen.
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Eines hat die fast abgelaufene Legislaturperiode bewiesen: Mit der Union ist das alles nicht umsetzbar. Notwendig sind andere Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag. Aber auch SPD und Grüne brauchen den Druck von links; denn nur Die Linke steht ohne Wenn und Aber an der Seite der Beschäftigten.
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Nur dann werden auch die Interessen der Mehrheit in diesem Land vertreten. Kurt Tucholsky hatte ja recht: Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten; auch wenn es mehr werden – aus Arbeitern und Angestellten! – Die Linke jedenfalls wird nicht ruhen, ehe es nicht flächendeckend gute Arbeit in diesem Land gibt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Uwe Schummer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Ferschl, unabhängig davon ist es gut, dass die beschäftigten Arbeitnehmer und ihre Familien dann am Ende doch die Union wählen. Sie wissen auch, warum: weil die Vorschläge umsetzbar und pragmatisch sein müssen und mit den Anforderungen der Wirtschaft immer wieder verbunden werden müssen, um für die Gesamtheit etwas zu erreichen.
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Wir haben jetzt eine Vielzahl an Anträgen vorliegen. Es ist auch normal, dass wir am Ende einer Legislaturperiode miteinander Bilanz ziehen: die einen in dunklen Farben, die anderen eben rosarot. Ich möchte mich auf die Anträge konzentrieren, die sich mit der Tarifbindung beschäftigen. Es hat am Montag eine Anhörung zu dieser Thematik stattgefunden, und wir wissen, dass die Tarifbindung seit einigen Jahren erodiert. Auf die Frage an das IAB, was denn die Ursache dieser Erosion der Tarifbindung in den Unternehmen sei, gab es auch eine klare Antwort vonseiten des IAB: Es sind strukturelle Veränderungen in den Unternehmen, von der Produktion auf der einen Seite hin zu Dienstleistungen auf der anderen Seite. Hinzu kommt, dass es mittlerweile 2 Millionen Beschäftigte in der Plattformökonomie gibt; deren Betrieb definiert sich nicht mehr klassisch sozusagen hinter einem Werkstor, sondern über eine App in der digitalen Welt.
In den Anträgen kann ich diese Analyse des IAB allerdings kaum erkennen. Deshalb ist es wichtig, dass wir Gesetze wie das zur Modernisierung der Betriebsverfassung gemacht haben, um die klassische betriebliche Mitbestimmung endlich mit der digitalen Welt zu verbinden; denn wir wissen ja, dass dort, wo betriebliche Mitbestimmung lebt, die vertrauensvolle Zusammenarbeit und auch die Tarifbindung stärker sind. Dort, wo es Betriebs- und Personalräte gibt, wo es betriebliche Mitbestimmung gibt, liegt die Tarifbindung bei 78 Prozent, und wo es keine betriebliche Mitbestimmung, keine Mitbestimmungskultur gibt, liegt die Tarifbindung bei etwa 24 Prozent. Deshalb war die Modernisierung der Betriebsverfassung ein wichtiger Punkt, um durch mehr betriebliche Mitbestimmung auch wieder mehr Tarifbindung zu erreichen. Die Nahrungskette ist offenkundig: betriebliche Mitbestimmung, Tarifbindung, gute Löhne, fairer Wettbewerb. Das ist soziale Marktwirtschaft.
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Wir haben bereits zu Beginn der Legislatur beispielsweise das sogenannte Vetorecht gegen die Bildung von Betriebsräten beseitigt; wir haben mit dem Kollegen Bernd Rützel und den Sozialdemokraten dafür gesorgt, dass der § 117 Betriebsverfassungsgesetz geändert wurde. Denn das Beispiel Ryanair hat gezeigt, dass auch über den Wolken nicht alle Freiheiten möglich sein dürfen; vielmehr muss auch hier das Regelwerk der betrieblichen Verfassung gelten.
In der industriellen Schlachtung haben wir gemeinsam in der Großen Koalition die Werkverträge beseitigt. Im Kernbereich der industriellen Schlachtung gab es auch keine Mitbestimmung. Jetzt gilt dort die Direktbeschäftigung, jetzt bilden sich Betriebsräte, und jetzt gibt es zwischen der NGG und der Fleischwirtschaft auch einen Tarifvertrag. Das heißt, 160 000 Beschäftigte sind in die Tarifbindung gebracht worden. Das ist ein Erfolg der Bundesregierung, aber auch ein Erfolg von Karl-Josef Laumann aus Nordrhein-Westfalen, der uns dabei sehr stark unterstützt hat.
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Ähnlich ist es bei den Paketboten. Auch hier haben wir die Generalunternehmerhaftung eingeführt, verbunden mit der Botschaft: Ihr könnt Arbeit an Subunternehmen delegieren. Aber ihr könnt nicht die Verantwortung delegieren; die bleibt bei euch. – Und die Vizevorsitzende von Verdi, Andrea Kocsis – ich zitiere sie – formuliert: Die Nachunternehmerhaftung im Paketbereich hat ein Umdenken angestoßen. Die Eigenbeschäftigung nimmt zu, und wir spüren, dass wir auch in der Mitbestimmung stärker werden. – Desgleichen wird in der Altenpflege passieren. Auch hier gibt es 600 000 Beschäftigte außerhalb der Tarifbereiche. Es ist wichtig, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen noch gemeinsam dafür sorgen, dass auch hier die Tarifbindung zur Voraussetzung – auch in der Altenpflege und bei den freien Trägern – gemacht wird.
In der Pandemie hat das Kurzarbeitergeld um die 3 Millionen Arbeitsplätze gesichert, und es hat den Unternehmen geholfen, Beschäftigung zu sichern. Das war ein zentrales Element, das diese Legislaturperiode mit geprägt hat. Als der Koalitionsvertrag formuliert wurde, konnte niemand mit dieser Pandemie rechnen; das ist ja offenkundig. Aber trotzdem gehören wir in Deutschland zu den Staaten, die besser und stärker durch die Pandemie gekommen sind als fast alle anderen Staaten dieser Welt: vom Gesundheitswesen über die Sicherung der Wirtschaft, der Arbeitsplätze bis hin zu Leistungen im sozialen Bereich.
Es war auch gut, dass die Agentur für Arbeit Rücklagen aufbauen konnte – 27 Milliarden Euro –, dass eben nicht alle Rücklagen später durch Beitragskürzungen weggesemmelt wurden. Wir haben gesagt: Wir müssen in guten Zeiten sparen, auch bei der Agentur für Arbeit, um in schlechten Zeiten, beispielsweise mithilfe des Kurzarbeitergelds, entsprechend gegen die Krise angehen zu können. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Agentur für Arbeit haben eines gutes haushalterisches Vorgehen bewiesen und uns damit auch massiv unterstützt.
Ich frage aber auch die BDA und den DGB, die Dachverbände der Sozialpartner: Warum gibt es denn keine gemeinsamen Vorschläge zur Stärkung der Tarifautonomie? – Ich erwarte schon – Autonomie kommt aus dem Griechischen: nach eigenen Gesetzen leben –, dass beide Dachverbände ihre Vorschläge zusammen unterbreiten. Das würde mit Sicherheit auch die Politik erfreuen.
Ich komme zum Schluss. Ich bitte um Verständnis. Ich bin seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich habe mich vor vier Jahren entschieden: Dies ist meine letzte Runde. – Dies ist meine letzte Rede im Parlament. Ich sage Ihnen Ade. Danke für vielfältiges Miteinander, Geduld bei mancher Übellaunigkeit, die auch mich trifft. Aber es war mir eine Ehre. Der Kampf geht weiter!
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Herzlichen Dank. – Ich mache darauf aufmerksam: Wir arbeiten alle noch gemeinsam bis Oktober.
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Als nächster Redner spricht Uwe Witt von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer-Sternchen-innen! Meine Damen und Herren! Wir reden hier zu 16 Oberpunkten und 32 Bundestagsdrucksachen und haben dazu 60 Minuten Zeit. Das entspricht noch nicht mal zwei Minuten Redezeit für alle Fraktionen zu jeder Drucksache. Das ist ein Missbrauch der demokratischen Abläufe hier im Hohen Hause, und Sie alle spielen mit.
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In den letzten 20 Jahren sind das Hohe Haus und die Art, wie hier Demokratie vorgelebt wird, immer mehr zu einer Farce verkommen, ein Potemkin’sches Dorf, das dem Bürger vorgaukeln soll, dass hier an gemeinsamen Lösungen für Probleme unseres Landes gearbeitet wird.
Schauen wir uns die einzelnen Fraktionen an. Die Linken, eine rote Partei, die seit Jahren ihre eigenen Anträge immer wieder abschreibt, umschreibt und ummantelt, um sie dann zum x-ten Male einzubringen.
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– Schreien Sie nicht. Sie kommen auch noch dran. – Dies hat offenbar ihre Sitznachbarn, die mal rot waren und jetzt bestenfalls noch rosa sind, schon angesteckt. Trotz Regierungsbeteiligung verfallen Sie nicht nur immer wieder in das gleiche Schema, sondern noch schlimmer: Sie beginnen schon vielfach, die Forderungen der roten Linken nachzuplappern und kopieren deren Anträge.
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Nicht viel anders sieht es bei Bündnis 90/Die Grünen aus. Allerdings kommt hier die Verbotskomponente noch dazu, also der Virus Sozialismus, gepaart mit fehlgeleitetem verdrehtem Ökogedankengut.
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Man sollte denken, dass dieser Virus an der schwarzen Grenze rechts von den Grünen haltmacht, aber weit gefehlt. Die schwarze Mauer ist schon so „laschet“ geworden, dass man sich bereits von den eigenen Parteimitgliedern distanziert, wenn man sich zu den ursprünglichen konservativen Werten Konrad Adenauers Partei bekennt. Die Herren und Damen der FDP sind politisch mittlerweile unter jeder Farbe unterwegs, die fette Beute verspricht. Aber wen wundertʼs?
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All dies lässt mich immer mehr zweifeln, ob Sie wirklich in der Lage sind, unser Land auf dem richtigen Kurs zu halten.
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Zum Thema zurück. Werte Zuschauer, lassen Sie mich Ihnen kurz unseren Antrag zum Thema „Anhebung der Verdienstgrenze für geringfügig Beschäftigte durch eine dynamische Kopplung an die Inflation“ erklären.
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Das Problem ist, dass jede Erhöhung des Mindestlohns zu einer Reduzierung der Arbeitszeit im Mindestlohnbereich führt. Der Mitarbeiter partizipiert also nicht an einer Erhöhung des Mindestlohnes in Euro und Cent. Der Unternehmer braucht de facto mehr Minijobber, um seine Arbeitsspitzen flexibel zu händeln.
Diese arbeitnehmer- und arbeitgeberfeindliche Regelung wollen wir mit unserem Antrag verbessern. Durch eine dynamische Anpassung der Verdienstgrenze, gekoppelt an die Inflationsrate, sind steigende Stundenlöhne für den Arbeitnehmer, der als Minijobber arbeitet, endlich verfügbar. Wir bitten Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
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Danke. – Das Wort geht an Bernd Rützel von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Witt, in drei Minuten erst mal nichts gesagt und dann zum Schluss noch etwas Falsches zu Minijobs – mehr will ich nicht kommentieren.
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Ich bin auf jeden Fall dankbar, dass wir diese zwölf vorliegenden Anträge der Linken erneut beraten, wie wir sie auch in den letzten vier Jahren immer wieder beraten haben. Denn es sind ganz wichtige Fragen: wichtige Fragen zur Arbeitswelt, die jeden von uns betreffen. Sie ermöglichen uns an dieser Stelle, fast am Ende dieser Legislaturperiode, einen Rückblick auf eine wirklich bewegte Legislaturperiode vorzunehmen.
Ein Koalitionsvertrag kann so gut sein, wie er will: Er wird niemals alles vorhersehen. Deswegen waren Analysieren, Agieren und Reagieren die Zauberworte während der Coronapandemie. Und über Nacht mussten ganz schnell Hilfen geschaffen werden. Olaf Scholz, Hubertus Heil, sie haben gezeigt, dass sie gute Macher sind, dass sie das managen.
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Sie haben angepackt und haben nicht gezaudert. Sie haben entschieden und waren sich auch nicht zu fein, nachzujustieren.
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Das Kurzarbeitergeld hat Millionen Menschen vor Arbeitslosigkeit bewahrt. Wir haben es vereinfacht, verlängert, erhöht, ausgeweitet.
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– Gott sei Dank. – Unser Koalitionspartner hat sich damit oftmals ein bisschen schwergetan.
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Aber wir haben das zusammen gemacht und haben das hinbekommen.
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Wir können das auch noch bis zum Jahresende verlängern. Es geht ja immer weiter. In der Welt spricht man vom „German Kurzarbeitergeld“ wie vom „Kindergarten“. Das ist ein Pfund, das wir haben. Das ist wichtig. Das kann man auch nur machen, weil die Kassen vorher voll gewesen sind.
Erinnern Sie sich noch an die Sozialschutzpakete? Vier Minuten Redezeit reichen nicht, um auf diese einzugehen. Ich will andere Wegmarken aufzeigen. Viele Beschäftigte auf dem Bau bekommen ihr Urlaubsgeld, ihre Rente, ihre Ausbildung über Sozialkassen bezahlt. Die haben wir gestärkt, die haben wir gesichert. Hauptsächlich Frauen profitieren davon, dass sie ihre Arbeitszeit dann, wenn sie sie reduzieren, auch wieder raufsetzen können. Gabi Hiller-Ohm hat wie keine andere für dieses Brückenteilzeitgesetz gekämpft, das wir in dieser Legislatur beschlossen haben.
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Uwe Schummer, du wirst mir fehlen, wenn ich wieder reinkomme. Wenn nicht, fehlen wir uns beide. Auf jeden Fall haben wir festgestellt: Das Betriebsverfassungsgesetz klebt am Boden. Damals hat man gesagt: Viele Menschen werden niemals fliegen, und die, die fliegen, die sind alle privilegiert. – Deswegen galt dieser § 117 Betriebsverfassungsgesetz nicht für fliegendes Personal. Wir haben es geändert. Pilotinnen und Piloten, die Begleiterinnen in den Kabinen können Betriebsräte wählen; das haben wir alles gemacht.
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Weil wir wissen, dass wir Weltmeister darin sind, Pakete zu bestellen und zu verteilen, haben wir mit unserem Paketboten-Schutz-Gesetz dafür gesorgt, dass es den Paketboten besser geht.
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Wir wissen auch, dass die Arbeit niemals ausgeht; aber es wird eine andere Arbeit sein. Qualifizieren, weiterbilden, das ist das Gebot der Stunde. Deswegen muss man die Unternehmen, aber auch die Beschäftigten mitnehmen, damit die das können. Da braucht man Zeit, da braucht man Geld, da braucht man Ressourcen, da braucht man das Arbeit-von-morgen-Gesetz.
Da vorne blinkt es: Bald ist die Redezeit abgelaufen.
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Jetzt bin ich bei Punkt 7. Wenn ich noch eine Viertelstunde Zeit hätte, wäre ich vielleicht bei Punkt 25. – Wir haben viele, viele gute Dinge gemacht, etwa in der Fleischbranche. Wer hätte gedacht, dass wir Werkverträge, dass wir Leiharbeit mal verbieten? Wir haben das geschafft, und das war ein Riesenschritt, ein Meilenstein.
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Morgen früh kommt hier mit dem Lieferkettengesetz noch ein Meilenstein, was in den Lieferketten für mehr Gerechtigkeit bei den Menschen in der Welt sorgt.
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Das ist Politik, die wir umgesetzt haben. Das sind Gesetze, die beschlossen worden sind, Gesetze, die das Leben von vielen Menschen verbessert. Und das ist gute Politik. Dafür bin ich auch meiner Partei dankbar.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Pascal Kober von der FDP-Fraktion.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Minijobberinnen und Minijobber gehören zu denen, die durch die Coronapandemie und durch die Lockdown-Maßnahmen in unserem Arbeitsmarkt am härtesten getroffen wurden. 850 000 Minijobs im gewerblichen Bereich sind von März 2020 bis März 2021 verloren gegangen. Das bedeutet, dass viele Menschen, zumeist Schülerinnen und Schüler, Studierende, Rentnerinnen und Rentner, ihre Einkommensmöglichkeit verloren haben, und für die müssen wir nun endlich etwas tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der größte Teil der Minijobber – darunter auch Hartz-IV-Empfänger – hat nur diesen einen Verdienst. Es gibt für Minijobberinnen und Minijobber auch kein Kurzarbeitergeld. Sie bleiben im Moment auf dem Minus in ihrer Tasche sitzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens jetzt wäre es an der Zeit, dass wir die Minijobgrenze endlich erhöhen, um es wenigstens nachwirkend zu ermöglichen, dass etwas von dem Minus in der Haushaltskasse ausgeglichen werden kann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, lieber Herr Bundesminister Hubertus Heil, es ist ohnehin nicht zu erklären, dass Sie seit 2013 beharrlich die Verbesserung der Einkommensmöglichkeiten für 6,7 Millionen Menschen in unserem Land verweigern. Es ist nicht verständlich, mit welcher Gewalt Sie da den Deckel drauflassen;
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seit 2013 ist die Minijobgrenze von 450 Euro nicht erhöht worden.
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Lieber Herr Bundesminister, Nähe zu den Menschen erreicht man nicht durch ein Fehlen der Krawatte auf der Regierungsbank. Nähe zu den Menschen hat man, wenn man nah an den Menschen mit ihren Sorgen und ihren Tränen ist. Deshalb ist es jetzt endlich an der Zeit, dass wir diese Minijobgrenze erhöhen. Seit 2013 ist es längst überfällig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir von der FDP fordern die Erhöhung der Minijobgrenze zum 1. Juli 2021 auf 576 Euro.
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Ich sage Ihnen auch, warum 576 Euro: Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie sagen, Sie kämpfen für gute Löhne, für eine Erhöhung des Mindestlohns. Aber genau für die 6,7 Millionen, die einen Minijob haben, würde eine Erhöhung des Mindestlohns nach gegenwärtiger Rechtslage überhaupt keinen Einkommensunterschied in der eigenen Tasche ausmachen. Warum? Weil Sie sie dazu zwingen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, wenn der Lohn steigt. Das ist widersinnig. Wenn es Ihnen um gute Löhne geht, dann müsste es Ihnen in der Logik auch um gutes Einkommen gehen, und da haben Sie bisher die Unterstützung für diese 6,7 Millionen Menschen versagt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und schlussendlich: Die Minijobs sind auch eine Chance für Langzeitarbeitslose. Das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit hat in einer Studie nachgewiesen: Ein Minijob zur richtigen Zeit der Arbeitslosigkeit, also zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Arbeitslosigkeit, ermöglicht es, dass dieser Minijob die Chancen auf die Integration in eine voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf 40 Prozent erhöht. Minijobs sind eine Leiter in den Arbeitsmarkt, und auch deshalb sollten wir die Minijobs stärken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Darüber hinaus: Natürlich müssen wir die Erhöhung der Minijobgrenze und ihre Kopplung an das 60-Fache des Mindestlohns zusammen mit den besseren Zuverdienstmöglichkeiten im Hartz-IV-System denken, weil nur dann auch genau die, die am dringendsten auf ein höheres Haushaltseinkommen angewiesen sind, eine Chance auf ein besseres Einkommen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun. Deshalb freuen wir uns auf die Auseinandersetzung mit Ihnen im Bundestagswahlkampf.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Arbeitswelt hat sich stark verändert, sie ist gespalten. Es gibt viele gute Arbeitsplätze: tariflich bezahlt, mitbestimmt, mit Zeitsouveränität und guten Arbeitsbedingungen. Auf der anderen Seite aber gibt es viele prekäre Arbeitsplätze. Da gibt es keine Tarifverträge, die Löhne sind niedrig, die Arbeitsbedingungen sind schlecht.
Mindestlohn, Minijobs, Leiharbeit, Befristungen, Arbeitszeit – wir haben hier so oft über diese Themen, die die Menschen unmittelbar und direkt betreffen, diskutiert. Gleichzeitig wurden Gesetze zwar lautstark angekündigt, gemacht wurde aber an dieser Stelle nichts außer bei der Fleischbranche, und das auch nur wegen Corona. Hier wurden eine ganze Legislaturperiode lang Chancen verpasst, und das kritisieren wir.
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Millionen von Menschen können inzwischen kaum von ihrer Arbeit leben. Der Niedriglohnsektor hier in unserem Land ist einer der größten in Europa. Mehr als ein Fünftel der Beschäftigten arbeitet unter prekären Arbeitsbedingungen. Viel zu viele Menschen arbeiten und müssen trotzdem Hartz IV beantragen. Wenn Menschen nicht wissen, wie sie über das Monatsende kommen, dann macht das was mit ihnen. Da geht es um die Existenz. So entstehen Sorgen und Ängste und das Gefühl, durch Arbeit und Anstrengung nicht weiterzukommen. Das hätten Sie, die Regierungsfraktionen, nicht vier Jahre lang ignorieren dürfen.
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Zu diesen Aufstockerinnen und Aufstockern zählen auch viele, die zu Beginn der Coronapandemie viel Applaus bekommen haben, weil sie das Leben am Laufen halten. Eine Auswertung des DIW zeigt, dass die Mehrheit der sogenannten systemrelevanten Berufe unterdurchschnittlich bezahlt ist, wenig Anerkennung genießt, dass der Frauenanteil aber durchschnittlich ist. Da hilft auch der heutige Mindestlohn nicht weiter. Solange der Mindestlohn nicht armutsfest ist, solange er nicht auf 12 Euro erhöht wird, so lange verfestigt sich Armut sogar bei Menschen, die arbeiten. Das darf in einem der reichsten Länder dieser Erde nicht passieren.
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Völlig inakzeptabel sind auch die vielfältigen Möglichkeiten, wie die Unternehmen Menschen prekär beschäftigen. Minijobs sind ein Beispiel. So haben knapp 20 Prozent aller Beschäftigten im Jahr 2019 gearbeitet. Obwohl auch hier natürlich das normale Arbeitsrecht gilt, wird es vielen Beschäftigten vorenthalten. Ein Drittel der Minijobber/-innen bekommt keinen bezahlten Urlaub und fast die Hälfte im Krankheitsfall keinen Lohn. Das ist unsäglich, und das geht gar nicht.
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– Genau.
In Zeiten von Corona wurden die Nachteile dann noch mal überdeutlich. Fast 1 Million geringfügig Beschäftigte haben ihren Job verloren, und zwar ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld und auch nicht auf Kurzarbeitergeld. Gut 600 000 davon waren Frauen. Minijobs bringen also mehr Nachteile als Vorteile. Deshalb wollen wir die Minijobs sozialversicherungspflichtig machen. Aus diesem Grund lehnen wir die Anträge der FDP und AfD, die die Minijobs ja ausweiten wollen, ganz grundsätzlich ab.
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Faire Spielregeln braucht es auch bei den anderen arbeitsmarktpolitischen Themen. Die Arbeit auf Abruf beispielsweise macht nur dort Sinn, wo keine anderen Instrumente der Personalplanung greifen, also in Unternehmen mit kleiner Belegschaft. Auch die Leiharbeit wollen wir sozialverträglich gestalten, und das bedeutet „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, und zwar ab dem ersten Tag und mit einem Flexibilitätsbonus von 10 Prozent.
Dann gibt es auch noch die sachgrundlose Befristung; sie wurde schon angesprochen. Die wollten Sie, die Regierungsfraktionen, eigentlich eindämmen. Sie hatten sich auch inhaltlich geeinigt und haben das sehr detailliert im Koalitionsvertrag aufgeschrieben. Auch dieser Gesetzentwurf ist irgendwo im Nirwana verschwunden. Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Wir brauchen wieder mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, mehr soziale Leitplanken. Dazu gehört auch, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft wird.
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Ja, wir warten auch noch immer auf einen Gesetzentwurf zur Arbeitszeit, und das, obwohl das EuGH-Urteil bereits über zwei Jahre auf dem Tisch liegt. Zwei Gutachten wurden in Auftrag gegeben, eines von Minister Altmaier und eines von Minister Hubertus Heil. Beide kommen zum gleichen Ergebnis: Die Arbeitszeit muss dokumentiert werden, und das muss auch gesetzlich geregelt werden. – Doch konnten sich die Minister nicht einigen. Das ist einfach nur peinlich.
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Heute stimmen wir über einen ganzen Berg verschiedener Anträge ab. Die meisten dieser Anträge dokumentieren die Tatenlosigkeit dieser Bundesregierung. Viel wurde versprochen, wenig wurde eingehalten, obwohl die Coronapandemie doch bei den sozialen und arbeitsmarktpolitischen Problemen wie ein Brennglas wirkt. Es wurde einfach die Chance vertan, die Arbeitswelt sozialer, inklusiver und nachhaltiger zu gestalten. Dabei wäre genau das die zentrale Stellschraube für mehr Gerechtigkeit und für mehr Zusammenhalt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Antje Lezius von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise reicht ein Antrag der Fraktion Die Linke schon aus, und plötzlich verdüstert sich der Horizont; wir haben das eben bei Frau Ferschl, die alles schlechtgeredet hat, wieder gehört.
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Wenn ich dann direkt zwölf Initiativen, die von den Linken für diese Debatte eingebracht werden, auf dem Tisch habe, hilft nur etwas Abstand, um wieder den notwendigen klaren Blick zu bekommen.
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Nach 16 Jahren mit einer CDU-geführten Regierung haben wir 33,3 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland, 7 Millionen mehr als 2005. Die nominalen Bruttomonatsverdienste aller Arbeitnehmer stiegen zwischen 2007 und 2009 im Durchschnitt um 33 Prozent. Bei Umfragen zu Jobsicherheit, Karrierechancen und wirtschaftlicher Lage gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den Spitzenländern. Sogar 89 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gaben an, mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. Ganz aktuell ist die Einstellungsbereitschaft am Arbeitsmarkt so hoch wie seit fast zwei Jahren nicht mehr. Die Linke jedoch möchte die arbeitsrechtlichen Regelungen so massiv verändern, dass es mit unserer erfolgreichen sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung kaum vereinbar ist.
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Auf drei Punkte möchte ich näher eingehen. Der erste betrifft die Zeitarbeit. Das Instrument der Zeitarbeit hat einen flexibleren und vergrößerten Zugang zum Arbeitsmarkt geschaffen. Arbeitslose haben dadurch bessere Chancen, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen.
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Geringqualifizierten kann Zeitarbeit den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen. Fast 30 Prozent der bei den Zeitarbeitsfirmen angestellten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben keinen Berufsabschluss. Für Zugewanderte ist es ebenfalls ein gutes Sprungbrett in die Festanstellung. Dass Missbrauch verhindert werden muss, ist völlig klar. Dafür haben wir auch gesetzliche Regelungen getroffen.
Zweitens: die Minijobs. In der Union streben wir sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse an und schaffen mit einer klugen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik die Voraussetzungen. Realität ist jedoch, dass es in bestimmten Bereichen, etwa in Landwirtschaft, Hotellerie, Gastronomie oder Kultur, Arbeitsspitzen gibt. Realität ist auch, dass Minijobs von vielen Menschen in unserem Land gewollt sind und auch genutzt werden. Das gilt besonders für Schüler, Rentner oder Studenten.
Drittens: der Mindestlohn. Die Höhe des Mindestlohns bestimmt die paritätisch besetzte Mindestlohnkommission, gerade auch, um eine Politisierung des Mindestlohns zu verhindern. Dabei geht es um einen gesetzlichen Mindeststandard, um eine Untergrenze, auf der man aufbauen kann. Bei der Lohnanpassung setzt die Kommission genaue Maßstäbe an. Dabei hat sie die gesamte wirtschaftliche Situation und alle Einflüsse auf die Lohnfindung zu berücksichtigen.
Unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat erhalten und verbessern wir nicht, indem wir den so wichtigen Einstieg in den Arbeitsmarkt erschweren, Flexibilität verhindern und immer neue Regelungen aufstellen.
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Die Anträge der Oppositionsparteien lehnen wir ab. Auch durch die Vielzahl werden sie einfach nicht besser.
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn hier noch viel über den richtigen Weg zur guten Arbeit gesagt werden kann, erlauben Sie mir bitte einige Worte, die über die Anträge der Oppositionsparteien hinausgehen.
Nach acht Jahren im Deutschen Bundestag und acht Jahren Mitgliedschaft im Ausschuss für Arbeit und Soziales ist die heutige Rede meine letzte zu diesem Themenbereich.
2013 bin ich als Politneuling und Quereinsteigerin in den Bundestag gewählt worden. Ich bin sehr glücklich, diese Herausforderung angenommen und die Chance bekommen zu haben, mich für mein Land und meine Region in unserem Parlament einsetzen zu können.
Für die gute Zusammenarbeit und die hitzigen, aber fairen Debatten möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ich werde die Arbeits- und Sozialpolitik auch weiterhin mit großem Interesse verfolgen, ganz besonders natürlich die Bereiche Fachkräftesicherung und Qualifizierung, die so wichtig für unseren Arbeitsmarkt sind und bei denen ich das Glück hatte, mich als Berichterstatterin einbringen zu können.
Eine Prognose für die Zukunft kann ich wohl gefahrlos wagen: Die Arbeit im und für den Ausschuss Arbeit und Soziales wird nie langweilig werden.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Kollegin Lezius. – Das Wort geht an Norbert Kleinwächter von der AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser durchaus umfassende Tagesordnungspunkt gibt uns mal die Möglichkeit, über die Arbeitsbedingungen in Deutschland zu sprechen und darüber, wie wir als Politik gute Arbeit für möglichst viele unterstützen können. Lassen Sie mich eines gleich am Anfang konstatieren: Eine diesbezüglich so schlimme Regierung hat die Bundesrepublik Deutschland noch nicht erlebt.
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Diese Regierung, Herr Heil, hat es geschafft, dass Millionen Menschen nicht mehr sicher in Lohn und Brot stehen. Gleichzeitig haben Sie nichts getan in Bezug auf Arbeitnehmerschutz, in Bezug auf Arbeitszeiten, in Bezug auf die Kettenbefristungen. Das ist Ihre schmähliche Bilanz dieser Wahlperiode.
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Gerade das Thema Befristungen ist doch ein wichtiges. Wir haben zweieinhalb Millionen Menschen, die nicht wissen, ob sie in einem Jahr noch einen Job haben, ob der nächste Job in der gleichen Stadt ist, wie es mit ihrer Familie weitergeht. 40 Prozent dieser befristet Beschäftigten sind mit einem sogenannten Sachgrund beschäftigt; das ist dieser lange Katalog im Teilzeit- und Befristungsgesetz, aus dem sich die Arbeitgeber entsprechend bedienen und sagen können: Das ist mein Sachgrund für diese Befristung. – Während die sachgrundlose Befristung ja an sich rechtlich begrenzt und eigentlich relativ klar definiert ist, gibt es bei dieser Sachgrundbefristung keine Grenzen, keine Maximaldauer und keinen Schutz, meine Damen und Herren. Wir sehen ja im öffentlichen Dienst, wohin das führt. Da sind viele jahrelang in Kettenbefristungen unterwegs; nicht selten schieben die Lehrer sieben Jahre lang irgendwelche Krankheitsvertretungen, damit sich der Staat die Sommerferien spart. Das ist die Art und Weise, wie die Regierungsparteien die Menschen behandeln.
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In Bezug auf die Kettenbefristung hat die AfD bereits Anfang dieser Wahlperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt, der dieses Problem wunderbar lösen würde.
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Denn wir sagen: Lassen Sie uns die Trennung zwischen Sachgrundbefristung und sachgrundloser Befristung aufheben. Lassen Sie uns sagen: Generell sollen maximal 24 Monate erlaubt sein, und dann endet dieses Arbeitsverhältnis, oder der Arbeitnehmer wird unbefristet beschäftigt. Punkt. Aus. Ende. Das ist eine gute Lösung. Nur bei sehr, sehr engen Ausnahmetatbeständen könnte das umgangen werden. Das würde die Arbeitsgerichte entlasten, das würde Flexibilität ermöglichen, und das würde vor allem den Menschen helfen, keine Kettenbefristungen mehr erleiden zu müssen.
Aber was in diesem Bundestag passiert ist, gerade in dieser Debatte um die Befristungen, spricht wirklich Bände. Linke, SPD, Grüne fabulieren irgendwas von sachgrundlosen Befristungen, die man abschaffen und verbieten müsste. Dabei sind die gar nicht das Problem, weil die ja reguliert sind. Die Sachgrundbefristung ist das Problem. Und die GroKo – das ist ja heute bereits mehrfach erwähnt worden – versagt völlig. Sie wollten ein Bürokratiemonster erschaffen, haben es dann Gott sei Dank nicht getan. Aber fest steht: Sie lassen die Menschen in der Pandemie und die Menschen im Prekariat allein.
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Den Bonbons, die Sie von der Linksfraktion hier die ganze Zeit auszuschütten versuchen, möchte ich eine Zahl gegenüberstellen. Sie fordern ja Mindestlöhne, Mindesthonorare, Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, 30 Tage Urlaub, dass der Arbeitnehmer bestimmt, wo und wann er arbeitet, kurz: das Paradies auf Erden. Aber von 8,2 Millionen Betrieben, die in Deutschland in der Betriebskartei der Finanzämter registriert sind, sind 7,2 Millionen Klein- oder Kleinstbetriebe. Die haben einen Umsatz von weniger als 210 000 Euro und einen Gewinn von weniger als 44 000 Euro im Jahr. Frau Ferschl, Sie haben uns vorhin gebeten, uns vorzustellen, was passieren würde, wenn Ihre Vorschläge Gesetzeskraft erhielten. Wissen Sie, diese ganzen Betriebe wären dann pleite, weil kein einziger dieser Punkte von diesen Klein- und Kleinstbetrieben umgesetzt werden könnte. Die könnten nicht überleben. Deswegen sind Arbeitnehmer generell gut beraten, wenn sie einen wirklich großen Bogen um die Ideen der Linkspartei und der Linksfraktion machen, meine Damen und Herren.
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Soziale Arbeitspolitik bedeutet, dass wir die Menschen absichern und gleichzeitig größtmögliche Freiheit ermöglichen, nicht durch hohe Hürden, sondern durch niedrige Steuern. Dafür steht, wie wir gerade in dieser Debatte gesehen haben, allein die AfD.
Haben Sie herzlichen Dank.
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Es spricht Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, Ihre Angriffe auf Minister Heil sind unterirdisch. Sie sind eine Unverschämtheit. Ich will Ihnen sagen, was die Wahrheit ist: Die Beschäftigten können froh sein, dass sie einen Minister haben, der sich so engagiert für die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland einsetzt. Das ist die Wahrheit.
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Ich komme zu den vorliegenden Anträgen der Linken und greife hier drei Themen heraus, zu denen ich ausführen werde: erstens zu sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen und Kettenverträgen, zweitens zum Thema Arbeitszeit und drittens zu den Minijobs.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, am Montag haben wir als SPD-Bundestagsfraktion eine ganztägige Konferenz mit weit über 500 Betriebs- und Personalrätinnen und Personalräten durchgeführt. Dabei wurden zwei Themen immer wieder angesprochen: die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Diese beiden Forderungen finden sich auch in den vorliegenden Anträgen wieder.
Erstens, zur sachgrundlosen Befristung und zu den Kettenverträgen. Die Position der SPD hierzu ist klar. Wir fordern schon seit Jahren die Abschaffung von Arbeitsverträgen ohne Nennung eines Sachgrunds. Diese Verträge sind ein Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Niemand verdient es, eingestellt zu werden, ohne zu wissen, ob es sich zum Beispiel um eine Vertretung im Krankheitsfall, eine Elternzeit- oder Urlaubsvertretung handelt und ob es die Perspektive auf eine Verlängerung des Vertrages gibt. Hierunter leiden vor allen Dingen Frauen und junge Beschäftigte. Sie sind am stärksten betroffen. Ganz schlimm sind auch Kettenverträge. Hier reiht sich ein befristetes Arbeitsverhältnis an das nächste, und das nicht selten über ein ganzes Arbeitsleben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat mit Respekt gegenüber den Beschäftigten nichts zu tun. Solche Verträge gehören abgeschafft.
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Deshalb haben wir in dem Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU schon Anfang 2018 hierzu mit unseren Forderungen einen wichtigen Pflock eingeschlagen.
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Ich freue mich, dass unser Arbeitsminister Hubertus Heil den Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung von sachgrundlosen Befristungen und Kettenverträgen ins Kanzleramt einbringen konnte.
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Doch was passiert dort? Die Kanzlerin steht mit beiden Beinen auf der Bremse und gibt den eins zu eins im Koalitionsvertrag vereinbarten Gesetzentwurf nicht zur Abstimmung an ihre Ministerinnen und Minister weiter. Deshalb wird er das Parlament wohl nicht mehr erreichen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ist ein klarer Vertragsbruch. Das ist enttäuschend und respektlos gegenüber den betroffenen Beschäftigten.
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Zweitens, Arbeitszeiterfassung. Ein weiteres Thema, das der SPD am Herzen liegt, ist das Arbeitszeitgesetz. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, fordern die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Erfassung der Arbeitszeit. Auf unseren Druck hin konnten wir die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung immerhin im Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Fleischindustrie verankern. Das ist ein erster und wichtiger Schritt.
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Wir brauchen die Arbeitszeiterfassung aber für alle Branchen. Schauen wir nur einmal auf die Zeit der Coronapandemie. Oftmals haben sich die Grenzen zwischen „Home“ und „Office“ verwischt und verwässert. Wir setzen uns für eine klare Begrenzung der Arbeitszeit ein, ob im Homeoffice oder im Betrieb. Das funktioniert aber nur mit einer transparenten Zeiterfassung. Eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes und eine Entgrenzung der Arbeitszeit, die unter dem Motto „Flexibilisierung“ schmackhaft gemacht werden soll, wird es mit der SPD nicht geben.
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Das Arbeitszeitgesetz ist ein Arbeitsschutzgesetz. Deshalb werden wir uns weiter für eine komplette Erfassung der Arbeitszeit einsetzen.
Drittens, die Minijobs. Auch hier hat die Coronapandemie die bestehenden Probleme auf drastische Art und Weise ans Tageslicht gebracht. Minijobs bieten eben keine soziale Absicherung, keine Aufstiegsmöglichkeiten, keine vernünftige Alterssicherung, kein Sprungbrett in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen. Vor allen Dingen leiden die Frauen darunter. Das müssen wir verändern. Im SPD-Wahlprogramm haben wir deshalb festgelegt, dass es in Zukunft keine sozialversicherungsfreien Beschäftigungen mehr geben darf. Dafür kämpfen wir.
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Kommen Sie bitte zum Ende.
Ein letzter Satz. – Alle, die in der nächsten Legislaturperiode hier noch an Bord sein werden, sind gefordert. Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, werde nicht mehr dabei sein. Ich blicke voller Dankbarkeit auf fünf spannende Legislaturperioden im Bundestag zurück. Danke für die Zeit – und dann mal tschüss!
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Herzlichen Dank, liebe Kollegin. – Das Wort geht an Matthias Nölke von der FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal will die Linke auf komplexe Probleme mit vermeintlich einfachen Lösungen und ihren drei bekannten Instrumenten reagieren:
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mit Verboten, mit Restriktionen und mit Bevormundung.
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Wir Freie Demokraten hingegen bieten vernünftige, zukunftsorientierte und zielführende Alternativen an.
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Leider fehlt mir hier die Zeit, um auf das gesamte Sammelsurium Ihrer aufgewärmten Anträge einzugehen. Aber ich will Ihnen an zwei Beispielen gerne erläutern, was der Unterschied zwischen Ihrer linken und unserer liberalen Politik ist.
Nehmen wir zum einen die kalendermäßige Befristung. Sie stellt für Arbeitgeber ein wichtiges Instrument im Einstellungsprozess dar. Auch in schwierigen, unvorhersehbaren Zeiten fällt so die Annahme eines Bewerbers deutlich leichter. Davon profitieren auch zahlreiche Arbeitnehmer. Viele Arbeitsverträge kommen erst dank der Befristung zustande und werden regelmäßig auch zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Leider will Die Linke diese Chance auf Arbeit verbieten. Wir Freie Demokraten hingegen wollen Chancen auf Arbeit schaffen.
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Zum anderen ist auch eine allgemeine Herabsetzung der Höchstarbeitszeit eine schlechte Idee. Vertrauen wir lieber auf die Tarifparteien; denn diese wissen am besten, welche Regeln in ihrer Branche am sinnvollsten sind.
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Für die einen ist es die geringere Arbeitszeit, für die anderen sind es moderne Arbeitsformen, und für wieder andere ist es mehr Geld, um sich einen Traum zu erfüllen. Diesen Menschen nehmen Sie die Möglichkeiten dazu. Wir Freie Demokraten schlagen deshalb flexiblere Arbeitszeiten vor, kombiniert mit mehr Vertrauen in die Tarifparteien.
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Das schafft die Möglichkeit, das Privatleben noch besser mit einer Vollzeitstelle zu vereinbaren. Das schafft aber auch die Möglichkeit, mehr zu arbeiten, wenn man dies möchte. Darum müssen die Flexibilität und die Verhandlungsspielräume der Tarifpartner erhalten bleiben, vor allem, um auf die verschiedenen Wünsche eingehen zu können. Davon profitieren sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber.
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Wir Freie Demokraten wollen einen modernen Arbeitsmarkt, der Möglichkeiten schafft, statt sie pauschal zu verbieten. Hier zeigt sich wieder einmal besonders der Unterschied zwischen linker und liberaler Politik. Ihren Vorgaben und Einschränkungen stehen wir mit Flexibilisierung, Dynamisierung und einer Unterstützung des Arbeitsmarktes entgegen.
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Gut gemeinte Vorschläge der Fraktion Die Linke sind auf den zweiten Blick schädlich für die Arbeitnehmer und verhindern die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Meine Damen und Herren, für einen florierenden Arbeitsmarkt brauchen wir einen schlanken und dynamischen Start. Das schafft Arbeitsplätze. Nur eine starke Wirtschaft sichert die Existenzen und Arbeitsplätze unserer Bürger. Wir brauchen starke Tarifpartner mit Verhandlungsspielräumen. Wir Freie Demokraten wollen den Menschen die Steine aus dem Weg räumen, die ihnen bei der Verwirklichung ihrer Träume vom Leben im Weg liegen. Statt Misstrauen brauchen wir mehr Vertrauen, Vertrauen in die Tarifparteien und deren Fähigkeiten. Wir Freie Demokraten stehen für eine Politik, die den Menschen vertraut.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Dr. Martin Rosemann von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung verändert unsere Arbeitswelt. Wir sind schon mittendrin in dieser Veränderung. Das bedeutet große Chancen durch neue Geschäftsmodelle, für mehr Selbstverwirklichung, für eine größere Flexibilität, sodass Arbeit und Leben besser zueinanderpassen, aber das bedeutet auch Risiken; denn es kann ein Einfallstor für Ausbeutung sein. Deshalb gilt: Auch im digitalen Zeitalter haben Beschäftigte Anspruch auf Rechte, auf Schutz und auf soziale Sicherheit.
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Soziale Sicherheit muss in diesem Wandel eben auch neue Formen der Erwerbsarbeit umfassen.
Was für diese Veränderungen generell gilt, das gilt erst recht und konkret für die Plattformarbeit. Auch hier gibt es Chancen. Sie hilft vielen, vor allem kleinen Anbietern, neue Kunden zu gewinnen. Sie erhöht die Markttransparenz. Aber es gibt auch Nachteile. Sie kann und ist leider häufig ein Einfallstor für Scheinselbstständigkeit. Plattformen werden für schlechte Arbeitsbedingungen genutzt und auch dafür, Mitbestimmung zu umgehen. Deshalb sehen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vor allem in vier Bereichen Regulierungsbedarf: Erstens. Wir müssen es den Anbietern auf solchen Plattformen leichter machen, zu klären, ob sie abhängig beschäftigt sind oder nicht und ob damit die Plattform im konkreten Fall Arbeitgeber ist. Das heißt für uns, dass wir eine Beweislastverschiebung brauchen. Zweitens. Wir brauchen mehr Transparenz und Sicherheit bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Plattformen. Drittens. Soziale Sicherheit muss auch für Selbstständige und damit auch für Beschäftigte auf Plattformen gewährleistet sein. Viertens. Vor allem Soloselbstständige müssen sich besser organisieren können. Das sorgt für fairere Bedingungen, vor allem bei den Honoraren. – Zu all dem hat das Bundesarbeitsministerium, hat Minister Hubertus Heil Eckpunkte vorgelegt.
Die Linken haben zwei Anträge zu diesen Themen eingebracht, zu Gig- und Crowdworking, die wir heute ablehnen werden. Wir werden sie ablehnen, weil die gesetzliche Unterscheidung in Gig- und Crowdworking, die Sie in Ihren Anträgen vorsehen, in der Anhörung nicht überzeugt hat, und wir werden sie auch ablehnen, weil der Weg, den Sie für Mindesthonorare vorgeschlagen haben, nicht überzeugt. Trotzdem haben Sie mit diesen beiden Anträgen wichtige Handlungsfelder benannt. Leider war es nicht möglich, in dieser Legislaturperiode und in dieser Koalition, was die Regulierung von Plattformen angeht, voranzukommen. Das ist und bleibt somit eine Aufgabe für die nächste Legislaturperiode.
Wenn eine Arbeitswelt vielfältiger, flexibler und individueller wird, wenn sie neue Formen der Erwerbstätigkeit hervorbringt, dann braucht sie eben auch zeitgemäße Regelungen zum Arbeitsschutz, zur Mitbestimmung und zur sozialen Sicherheit – soziale Sicherheit, die alle einbezieht, auch Selbstständige –, dann brauchen wir eine starke Sozialpartnerschaft, die in der Lage ist, die Veränderungen auf Augenhöhe zu gestalten, dann brauchen wir eine neue Weiterbildungskultur, die in diesem Wandel alle individuell unterstützt und neue Perspektiven für die Beschäftigten schafft. Wir sind bei all dem in dieser Wahlperiode wichtige Schritte vorangekommen; wir haben wichtige Weichen für die Arbeitswelt der Zukunft gestellt. Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden wir diesen Weg weitergehen, mit dem Sozialstaat als Partner, um Chancen und Sicherheit für alle auch in einer veränderten Arbeitswelt zu schaffen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ja, ich habe auch schon nachgefragt, ob es in der Parlamentarischen Gesellschaft Schokoeis gibt. Also, wir gehen um 17.10 Uhr, wenn Ihr Dienst hier beendet ist, noch ein Eis essen; versprochen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute wird der Bundestag über eine Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses abstimmen, bei der es um den Wunsch von mehreren Petenten und Betroffenen geht, eine Entschädigung für gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie etwa Missbildungen von Neugeborenen, zu erhalten.
Diese Missbildungen von Neugeborenen sind möglicherweise durch die Einnahme von Tabletten während der Schwangerschaft entstanden. Mithilfe des Hormonpräparats Duogynon wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren insbesondere Frühschwangerschaftstests durchgeführt, aber auch Menstruationsstörungen behandelt. Nach Ansicht der Petenten gibt es wissenschaftliche Beweise für ernsthafte gesundheitliche Schädigungen von Neugeborenen durch dieses Präparat.
Die in den Eingaben dargestellten persönlichen Schicksale der Betroffenen haben alle Mitglieder unseres Ausschusses tief berührt. In den vergangenen Legislaturperioden wurde das Thema hier im Deutschen Bundestag immer wieder zur Sprache gebracht. Auch der Petitionsausschuss hat sich intensiv mit der Materie befasst. Aus unserer Sicht ist die heutige Datengrundlage für eine abschließende Bewertung des Gesamtvorganges allerdings noch nicht ausreichend. Insoweit möchte ich an dieser Stelle nicht auf alle Einzelheiten eingehen, sondern nur kurz das Votum des Ausschusses dahin gehend erläutern, und dieses Votum haben alle Fraktionen gemeinsam einstimmig getragen. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, nur recht selten der Fall und verleiht dieser Empfehlung daher eine besondere Bedeutung.
Der Petitionsausschuss empfiehlt einstimmig, die Petition dem Bundesministerium für Gesundheit zur Erwägung zu überweisen, um eine unabhängige Untersuchung einzuleiten, die mögliches Fehlverhalten staatlicher Stellen in Deutschland im Zusammenhang mit der Registrierung, Zulassung, Arzneimittelsicherheit und Marktrücknahme des Präparates Duogynon unter Berücksichtigung des damals geltenden gesetzlichen und historischen Rahmens kritisch untersucht und deren Ergebnisse für die Entscheidung über die Einrichtung eines Entschädigungsfonds zugrunde gelegt werden.
Der Petitionsausschuss sieht die Thematik als gravierend und ungeklärt an und möchte mit seinem Votum Anstoß geben, für die Klarheit zu sorgen, an der es seit Jahren fehlt. Die sachliche und historische Aufarbeitung sollte angesichts der inzwischen vergangenen Zeit unserer Ansicht nach nunmehr zügig und konsequent stattfinden. Deshalb sind eine klare Positionierung unseres Hauses sowie zügige Ermittlungen vonnöten, ob einzelne Behörden bei der Aufdeckung eines möglichen Fehlverhaltens des Herstellers versagt haben.
Ob es am Ende tatsächlich zu einer Entschädigung der Betroffenen kommt, kann der Ausschuss natürlich noch nicht beurteilen. Aber ich denke, wir sind den Menschen und den Opfern verpflichtet, alles Mögliche zu tun, um hier zügig zu helfen, wenn dies geboten ist. Ich bitte Sie daher im Interesse der Sache herzlich, der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Ich rede fünf Minuten. Bis zum Ende meiner Rede haben alle Kolleginnen und Kollegen Zeit, hier anwesend zu sein.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wechsel in der Besteuerung von Renten ist keine politische Idee. Im März 2002 hatte das Bundesverfassungsgericht die Ungleichbehandlung von Renten und Pensionen für verfassungswidrig erklärt. Der Bundestag hat dann mit dem Alterseinkünftegesetz 2005 die sogenannte nachgelagerte Besteuerung eingeführt. Renten werden hierdurch – anders als bis dahin mit ihrem Ertragsanteil – schrittweise bis zum Jahr 2040 vollständig in die Besteuerung einbezogen. Im Gegenzug bleibt ein immer größerer Anteil der Altersvorsorgeleistungen, die während des Berufslebens gezahlt werden, steuerfrei.
Dieses System ist für Bürgerinnen und Bürger die günstigere Variante der Besteuerung; da sind sich eigentlich alle Fachleute einig. Die Steuerpflichtigen können während der Berufsphase ihre Altersvorsorgebeiträge steuerlich geltend machen, also in einer Zeit, wo sie, relativ betrachtet, einem hohen Steuersatz unterliegen. Wenn dann später die Rentenleistungen versteuert werden müssen, zahlen sie einen niedrigeren Steuersatz. Hinzu kommt, dass auch die Zeit des Rentenbezugs in der Regel kürzer ist als der Zeitraum des Erwerbslebens. Daher wirkt sich die Steuerfreiheit der Beiträge über einen deutlich längeren Zeitraum steuermindernd aus, als die Rente später besteuert wird.
Jetzt hat der BFH erneut entschieden. Die jetzt ergangenen Urteile sind gut für Beklagte und für Kläger: gut für die Finanzverwaltung als Beklagte, weil sie aktuell keine doppelte und damit keine verfassungswidrige Besteuerung bei den Renten vornimmt. Kein Fall der Doppelbesteuerung wurde vom Gericht bescheinigt. Das Urteil ist aber auch gut für die Kläger sowie für die Steuerbürger; denn anders, als vom Bundesfinanzministerium angenommen, hat der BFH entschieden, dass Freibeträge wie der Grundfreibetrag, der Werbungskostenpauschbetrag oder auch Sonderausgaben nicht in die Berechnung zur Überprüfung einer möglichen Doppelbesteuerung aufgenommen werden dürfen.
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Das führt zu deutlich niedrigeren Steuern im Falle von Vorsorgeaufwendungen.
Deutlich früher als bisher angenommen – also deutlich vor 2040 – würde es aber bei unveränderter Rechtslage zu einer Doppelbesteuerung kommen.
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– Ja, aber 2040 ist ja auch noch lange hin. – Jetzt gibt es zwei Wege, in der neuen Legislaturperiode rechtzeitig gegen diese Doppelbesteuerung vorzugehen. Der eine Weg ist, die Vorsorgeaufwendungen schon früher voll abzugsfähig zu machen; der andere Weg ist, die Renten erst später vollständig zu besteuern. Vermutlich wird es zu einer Kombination aus beidem kommen. Das werden wir zu Beginn der nächsten Legislaturperiode diskutieren. Meine präferierte Variante ist, die Vorsorge zu begünstigen; denn wir wollen, dass junge Menschen vorsorgen, und das können sie sich nur dann leisten, wenn sie das aus unversteuertem Einkommen tun können. Deshalb wollen wir, dass Vorsorgeaufwendungen schon früher voll abzugsfähig sind, damit sie sich das leisten können.
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Entgegen dem, was meine Zwischenrufer hier behaupten, war es richtig, das Urteil abzuwarten; denn wir hätten sonst nicht gewusst, welche Bemessungsgrundlage für die Annahme einer Doppelbesteuerung zugrunde gelegt wird. Die Regierung hätte vermutlich eine Bemessungsgrundlage vorgelegt, in die die Freibeträge mit einbezogen worden wären. Der eine oder andere von uns wusste schon vorher oder hatte zumindest den Eindruck, dass die Freibeträge nicht berücksichtigt werden müssen. Das heißt, wir hätten dieses Gesetz gleich zweimal anfassen müssen, was zu einer erheblichen Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger geführt hätte. Jetzt werden wir dieses Gesetzgebungsverfahren sehr zügig angehen. Wir haben auch noch etwas Zeit; denn auch nach dem Gerichtsurteil ist eine Doppelbesteuerung nicht vor 2025 zu erwarten.
Für die Bürgerinnen und Bürger brauchen wir aber jetzt schon Rechtssicherheit, auch noch vor der Sommerpause; denn ihnen ist es egal, ob eine Bundestagswahl ansteht. Deshalb gebe ich dem Finanzminister folgende Forderungen unserer Fraktion mit auf den Weg:
Einsprüche gegen Steuerbescheide, die sich auf die Rentenbesteuerung beziehen, müssen jetzt sofort ruhend gestellt werden. Wir dürfen nicht weitere Steuerpflichtige in die Klage treiben. Die Einsprüche müssen so lange ruhend gestellt werden, bis wir das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen haben.
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Steuerbescheide, die sich auch auf Renteneinkünfte beziehen, müssen vorläufig ergehen, damit sie später berichtigt werden können.
Außerdem wollen wir, dass den Steuerbescheiden eine Erklärung zum Urteil des BFH angehängt wird, damit die Bürgerinnen und Bürger abschätzen können, ob sie von diesem Urteil betroffen sind. Künftige Steuerbescheide sollen rechtzeitig vor dem Ruhestand einen Erklärtext enthalten, der auf die künftige Steuerpflicht ausdrücklich hinweist, damit die Zeiten vorbei sind, wo Rentnerinnen und Rentner von dieser Steuerpflicht überrascht werden.
Darüber hinaus müssen wir sicherstellen – und das ist ganz wichtig –, dass nicht in den laufenden Verfahren bis zum Gesetzgebungsabschluss weitere Doppelbesteuerungsfälle anfallen. Es ist Aufgabe der Finanzbehörden, sicherzustellen, dass keine Fälle von Doppelbesteuerung bis zum Abschluss des Verfahrens anfallen. Es kann nicht sein, dass der Steuerpflichtige das selbst im Auge behalten muss. Das kann durch ein BMF-Schreiben passieren; das kann auch durch Sonderregelungen für kleinere Renten passieren. Es muss jedenfalls sichergestellt werden, dass alle Betroffenen in Ruhe ihre Steuererklärung abgeben können, ohne eine solche Doppelbesteuerung befürchten zu müssen.
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Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens sollten wir vielleicht auch die Art der Besteuerung diskutieren, denn es gibt mehrere Möglichkeiten, um das Ganze für Rentnerinnen und Rentner einfacher zu machen. Wir könnten zum Beispiel eine vorausgefüllte Steuererklärung zur Verfügung stellen, in die der Rentner oder die Rentnerin nur noch die persönlichen Kosten eintragen muss. Diskutiert wurde auch so etwas wie der Quellensteuerabzug für Arbeitnehmer, sodass gar keine Steuererklärung von den Rentnerinnen und Rentnern abgegeben werden muss.
({6})
All das werden wir diskutieren – zügig, aber trotzdem sehr ausführlich. Ich fordere Sie daher auf, diese Diskussion mit uns zu führen, um eine gute Lösung zu finden, nicht nur für Rentnerinnen und Rentner, sondern auch für Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Vorsorgeaufwendungen müssen steuerbegünstigt sein, das ist das erklärte Ziel meiner Fraktion.
Ich danke Ihnen.
({7})
Wie Sie sehen, hat der Vorsitz gewechselt. Ich kann Ihnen die Nachricht überbringen, dass aktuell das Sitzungsende noch immer vor Beginn der morgigen Sitzung liegt, aber immer noch deutlich nach acht Uhr. Wir sollten also noch ein bisschen weiterarbeiten. Das sage ich, weil mich Beschwerden erreichten, dass wir jetzt zu schnell würden. Wir sind aber nicht zu schnell.
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Herbrand für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind nicht zu schnell, aber überpünktlich, würde ich mal sagen. Bis vor wenigen Minuten stand im Zeitplan noch 18 Uhr als Beginn dieses Tagesordnungspunktes. Ich bitte also zu entschuldigen, dass ich zu spät bin.
Das Urteil zur Besteuerung von Renten hat zu Recht große Aufmerksamkeit erregt. Um es mal auf den Punkt zu bringen: Es war eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung, die offenkundige Probleme an dieser Stelle durch Ignoranz hat aussitzen wollen.
({0})
In der Begründung wurde sehr schnell deutlich, dass der BFH zwar die konkret zu entscheidenden Fälle verwerfen würde, in der Grundsatzfrage aber ein wegweisendes Urteil fällen würde, wonach die derzeitige Rechtslage offenkundig auf eine verfassungswidrige sogenannte doppelte Besteuerung hinausläuft, zumindest für zukünftige Fälle.
Grundsätzlich sehr begrüßenswert ist neben anderen Dingen, dass sich der Bundesfinanzhof keinen schlanken Fuß gemacht und die Problematik stattdessen wirklich an der Wurzel gepackt hat.
({1})
Er hat nämlich endlich deutlich herausgestellt, wie die Frage rechnerisch zu beantworten ist, über die wir hier im Parlament schon so lange und so häufig streiten und wozu das Bundesverfassungsgericht uns bislang immer nur die Leitplanken vorgegeben hatte.
Im Ergebnis lässt sich sagen, dass die gesamte Argumentation derer, die die bisherige Besteuerungspraxis auch für die Zukunft für rechtens gehalten haben, mit diesem Urteil in sich zusammengebrochen ist. Der Auffassung, dass der steuerliche Grundfreibetrag auch bei der Berechnung des steuerfreien Rentenbezugs berücksichtigt werden kann, ist nun höchstrichterlich ein Riegel vorgeschoben worden. Das wäre sonst auch Zauberei; denn einen Grundfreibetrag kann man eben nur einmal nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Kenntnis dieses Urteils stellen sich viele Fragen nach Konsequenzen, und wir erwarten, dass die Bundesregierung dazu auch kurzfristig Stellung beziehen wird.
({2})
Erstens. Wie reagiert der Gesetzgeber nun auf das Urteil? „Augen zu und durch“ kann nicht weiter die Antwort darauf sein, dass wir sehenden Auges in eine verfassungswidrige Doppelbesteuerung laufen.
Zweitens. Natürlich stellt sich auch die Frage danach, welche Auswirkungen dieses Urteil auf die Haushalte haben wird. Experten vom Institut der deutschen Wirtschaft gehen für den Zeitraum 2020 bis 2040 von bis zu 90 Milliarden Euro Mindereinnahmen aus. Wie geht die Bundesregierung damit um? Oder überlässt sie dieses Problem einfach der Nachfolgeregierung?
Drittens. Wir erwarten auch, dass die Bundesregierung uns darüber informiert, ob sie wirklich glaubt, dass es nur um Fälle von zukünftigen Rentnern geht.
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Angesichts noch anhängiger BFH- und auch Finanzgerichtsverfahren fragen wir uns, ob ein weiteres Zuwarten an dieser Stelle die richtige Antwort ist. Die Rentnerinnen und Rentner benötigen Vertrauen in die gesetzliche Grundlage ihrer Besteuerung. Insofern erwarten wir, dass sich die Bundesregierung auch mit diesen anhängigen Verfahren befasst und mögliche Folgen nicht weiter auf die lange Bank schiebt.
Viertens. Ist es wirklich jedem einzelnen Rentner, jeder einzelnen Rentnerin zuzumuten, den Nachweis einer Doppelbelastung führen zu müssen? Wir meinen, es ist dringend geboten, sehr kurzfristig für eine Vereinfachung beim Nachweis der Doppelbelastung zu sorgen. Wir haben dazu die Umkehr der Beweislast beantragt. Das könnten wir hier, wenn wir wollen, sehr schnell beschließen. Ebenso könnten auch Vorläufigkeitsvermerke in den Steuerbescheiden für vorläufigen Rechtsschutz sorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fragen über Fragen, auf die wir zeitnahe Antworten der Bundesregierung erwarten. „Augen zu und durch“ kann jetzt nicht mehr sein; jetzt müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden. Rentnerinnen und Rentner haben Transparenz verdient und auch, dass sie auf den staatlichen Umgang mit ihrer Rente und deren Besteuerung vertrauen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei Urteile des Bundesfinanzhofes von letzter Woche manifestieren erneut die klare und simple Erkenntnis: Die Besteuerung der Rentenbezüge, wie sie 2004 im Alterseinkünftegesetz eingeführt wurde, führt systemisch zu einer verfassungswidrigen Doppelbesteuerung. Das heißt, bereits einkommensversteuerte Beitragsanteile der Arbeitnehmer werden beim späteren Rentenzufluss erneut besteuert.
Diese Erkenntnis ist nicht so neu, wie sie scheint. Sie wurde nicht nur von den Sachverständigen einer öffentlichen Anhörung im letzten Jahr so formuliert, nein, sie wurde bereits im damaligen Gesetzgebungsverfahren – Stichwort „Rot-Grün“ – offensichtlich, wo viele Stimmen auf diesen misslichen Umstand aufmerksam gemacht hatten, nicht zuletzt die Vertreter der eigens für diese steuerliche Neuordnung der Altersbezüge gebildeten Sachverständigenkommission.
Die AfD hatte bereits im Frühjahr 2019 einen Antrag eingebracht, der diesen schlummernden Skandal zur Sprache brachte und detailliert das Problem erläuterte. Die Bundesregierung wurde darin aufgefordert, eine Neuregelung der Besteuerung vorzunehmen. Das ist vor zwei Jahren gewesen, meine Damen und Herren.
Wie in diesem Hause üblich, wurde der AfD-Antrag, Drucksachennummer 19/10629, mit den üblichen diskriminierenden Bemerkungen von allen anderen Parteien abgelehnt.
({0})
Jetzt haben Sie die Bescherung für Ihre Arroganz der Macht und für Ihre Kompetenzanmaßung.
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140 000 Rentner und Rentnerinnen – es erstaunt mich, dass die Zahl noch nicht genannt worden ist – haben in den letzten Jahren Einsprüche bei der Steuerverwaltung eingelegt; ein Massenphänomen.
Wir, die AfD-Fraktion, haben mehrfach dem Finanzminister vorgehalten, es seien Finanzgerichtsverfahren anhängig, demnächst werde der BFH entscheiden, der Gesetzgeber müsse also schnell handeln; vor Monaten. Es sei unerträglich, bei der geschilderten Erkenntnis die Bürger auf den Rechtsweg zu verweisen. Mit gleicher Kaltschnäuzigkeit wie beim Wirecard-Skandal hat der Finanzminister jede Aktivität abgelehnt, vielleicht auch deshalb, weil er verhindern wollte, dass dieser Megaskandal noch vor der Bundestagswahl ans Tageslicht kommt. Es wird um Milliarden gehen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die immer wieder aufgestellte Behauptung, das beträfe nur wenige Einzelfälle, ist widerlegt, ebenso die Unterstellung, dass es sich hierbei um Kleingeld handle. Bei der öffentlichen Anhörung haben Experten vorgerechnet, dass ein Durchschnittsverdiener, der nach 40 Beitragsjahren im Jahre 2040 in Rente geht, rund 40 000 Euro zweimal versteuern muss. Viele haben das nachgerechnet und kommen zu ähnlichen Ergebnissen, und – das ist der entscheidende Punkt – ähnliche Modellrechnungen gibt es für heutige Rentner. Die Behauptung, es gebe bei den derzeitigen Rentnern das Phänomen nicht, ist schlicht unwahr.
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– Ja, mit Namen und Steuernummer, oder was?
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Demgegenüber hat noch in der Debatte im März dieses Jahres ein Vertreter der Fraktion der CDU polemisiert, der von der AfD behauptete Verfassungsverstoß müsse erst noch bewiesen werden. Das haben wir jetzt nahezu. Das Bundesverfassungsgericht hat ja noch nicht gesprochen.
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Noch unqualifizierter haben sich die Grünen im Finanzausschuss geäußert, die in der Doppelbesteuerung ein Scheinproblem sahen, also eine Art Verschwörungstheorie, Frau Kollegin.
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Nun haben wir eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die zu einer Vorlage beim Bundesverfassungsgericht führt, deren Ergebnis gut vorhersehbar ist.
Was hier abgelaufen ist, meine Damen und Herren, und wie es abgelaufen ist, hat exemplarischen Charakter. Statt solider Politik zum Wohl der Bürger dieses Landes: Auflösung aller Grenzen mit angeblich humanitären Absichten, Freitagsdemos zur Weltenrettung statt Schulunterricht, Kampf der Regierung gegen Meinungsfreiheit und viele andere Grundrechte, Mobilisierung von Parteisoldaten in öffentlichen Ämtern gegen die AfD mit der Verleumdung, eine verfassungswidrige Partei zu sein,
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Vetternwirtschaft von CDU-Abgeordneten in der Coronakrise, Anmaßung akademischer Grade und eine nie gekannte Staatsschuldenanhäufung.
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Das ist das Resümee, meine sehr verehrten Damen und Herren, von Deutschland á la Merkel. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dieses Land wieder in den Modus einer gelingenden Staatlichkeit zurückzuführen.
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Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Kiziltepe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das lang erwartete Urteil des Bundesfinanzhofs vom 31. Mai hat für viel Aufregung und Verunsicherung gesorgt. Daher möchte ich auch zu Beginn eine Sache klarstellen: Die Klagen wurden vom Bundesfinanzhof abgewiesen.
({0})
In beiden Fällen konnte das Gericht nicht feststellen, dass es zu einer Doppelbesteuerung kam.
({1})
Das ist eine wichtige Feststellung. Sie zeigt: Die eine oder andere Fraktion hier im Haus malt immer wieder ein Schreckgespenst von Hunderttausenden betroffenen Rentnerinnen und Rentnern an die Wand. Dem ist nicht so.
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Diese Schreckensszenarien haben lediglich einen Zweck: Sie sollen Angst machen, Angst davor, dass etwas mit der Rente nicht stimmt. Das werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht zulassen. Die gesetzliche Rente ist und bleibt die Basis für ein gutes Leben im Alter.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage nach einer möglichen Doppelbesteuerung von Renten ist keineswegs einfach zu beantworten. Die Frage beschäftigt uns Finanzpolitikerinnen und ‑politiker und übrigens auch den Bundesfinanzhof seit geraumer Zeit.
Wir in der SPD haben die Sorgen und Ängste immer ernst genommen und tun dies auch weiterhin. Und jetzt haben wir auch Klarheit hinsichtlich der rechtlichen Bewertung. Das war nämlich in den letzten Jahren auch nicht eindeutig.
Dass diese Frage überhaupt aufkommt, liegt an der Umstellung der Rentenbesteuerung im Jahr 2002. Damals hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Es darf keine unterschiedliche Behandlung von Pensionen und Renten geben. Aber das Bundesverfassungsgericht hat gleichzeitig gesagt: Es darf auch nicht bei dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung doppelt besteuert werden.
Diese Umstellung ist ein langwieriger Prozess; wie gesagt, er dauert von 2005 bis 2040. Diese Prämissen haben wir als Politikerinnen und Politiker auch im Blick. Da es allerdings verschiedene Berechnungsmethoden gibt, ist die Frage weniger trivial, als sie scheint. Nun hat der Bundesfinanzhof mit dem Urteil vom 31. Mai erstmals klargestellt, wie eine Doppelbesteuerung zu berechnen ist, und jetzt sind wir auch schlauer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun liegen also diese Maßstäbe vor, nach denen berechnet werden soll, wie zukünftig verfahren werden soll. Es geht vor allem darum, wie der Grundfreibetrag, die Steuerfreistellung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen und der Werbungskostenpauschbetrag berücksichtigt werden müssen. Jetzt haben wir also Klarheit. Und das zeigt auch: Wir haben Hausaufgaben zu erledigen, aber für die zukünftigen Kohorten der Rentnergeneration.
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Die Opposition poltert hier gerne, so Herr Herbrand. Wir werden gleich auch Herrn Birkwald hören. Angeblich hätte man alles viel früher wissen und schon längst ändern können.
({5})
Aber das ist einfach falsch. Nicht ohne Grund hat das Thema zu einer kontroversen Diskussion unter Finanzmathematikern geführt. Auch in der Anhörung letztes Jahr war das nicht so eindeutig, und auch unter den BFH-Richtern gab es ja unterschiedliche Meinungen. Das muss auch mal gesagt werden.
({6})
Das Urteil hat bestätigt, dass keine verfassungswidrige Doppelbesteuerung von Renten vorlag. Das wird jetzt auch für alle anderen vorliegenden Einsprüche geprüft werden. Das Finanzministerium hat die dafür notwendigen Schritte bereits eingeleitet; es hat reagiert. Sollte in Einzelfällen eine unrechtmäßige Doppelbesteuerung vorliegen, wird die Finanzverwaltung diese ausräumen.
({7})
Doch anders, als viele Angstmacher es hier behaupten: Es geht nicht um Hundertausende Rentnerinnen und Rentner, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es geht um Einzelfälle; denn über 75 Prozent der Rentnerinnen und Rentner zahlen aktuell überhaupt keine Steuern.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Der Bundesfinanzhof hat richtungsweisend entschieden. Wir haben Hausaufgaben für die Zukunft. Wir brauchen eine Reform der Einkommensteuer, die wir auch angehen werden. Für uns in der SPD bleibt klar: Eine Doppelbesteuerung bei der Rente darf es weder heute noch in Zukunft geben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen 20 Jahren haben Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Rentenniveau abgesenkt und das Rentenalter auf 67 heraufgesetzt. Beides lehnen wir Linken ab.
({0})
Die Doppelbesteuerung der Renten ist ein weiterer Skandal; das wurde vom Bundesfinanzhof nun endlich anerkannt, und das ist gut so.
({1})
Für die Doppelbesteuerung der Renten sind die Finanzminister der Union und der SPD namens Hans Eichel, Peer Steinbrück, Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz verantwortlich. 17 Jahre lang haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, die Expertenmeinungen, Gesetzeskommentare und Medienberichte zur Doppelbesteuerung der Rente ignoriert oder geleugnet.
({2})
Das war und ist absolut daneben.
({3})
Wer die Studien der Brüder Werner und Günter Siepe gelesen und die Warnungen von Dr. Axel Reimann von der Deutschen Rentenversicherung in der Anhörung im Finanzausschuss im Jahre 2004 gehört hatte, wusste, dass es hier eines großen Stoppschildes bedurft hätte. Als wir hier im Plenum fast auf den Tag genau heute vor zwei Jahren, am 6. Juni 2019, über unseren Antrag „Rentenbesteuerung vereinfachen und Doppelbesteuerung vermeiden“ debattierten, musste ich mir von Ihnen vieles anhören, was nach dem Urteil des Bundesfinanzhofes einfach nur noch grotesk wirkt.
Der CDU-Kollege Olav Gutting sagte, Die Linke sei unseriös; wenn überhaupt, gäbe es nur Einzelfälle. Heute wissen wir, dass 142 000 Klagen vorliegen.
({4})
Die verehrte SPD-Kollegin Cansel Kiziltepe sagte sehr laut, die Doppelbesteuerung gäbe es nicht. Und sie sagte sehr leise, man müsse über die Berechnungsmethode diskutieren.
({5})
Der ansonsten geschätzte grüne Zwischenruferkollege Markus Kurth outete sich gar als Doppelbesteuerungsleugner
({6})
und behauptete faktenwidrig – Zitat –:
Generell und im Allgemeinen liegt Doppelbesteuerung überhaupt nicht vor.
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Sie reden hier … über ein nicht existentes Problem …
Union, SPD und Grüne lagen hier rentenpolitisch wieder einmal gemeinsam voll daneben.
({8})
Und der FDP-Kollege Markus Herbrand sagte gar nichts zu unseren Vorschlägen, Rentnerinnen und Rentner vor Doppelbesteuerung zu schützen. Er meinte nur, man müsse debattieren; da könne etwas dran sein; man müsse prüfen. Lösungsvorschläge damals: keine. Und dann haben Sie, Kollege Herbrand, ja selbst zwei Jahre später einen FDP-Antrag vorgelegt: viele Prüfaufträge und nur schwache politische Forderungen darin, darunter auch eine, von der insbesondere wohlhabende arbeitende Rentnerinnen und Rentner profitieren würden. Dieser Vorschlag von Ihnen nützt beispielsweise den Bauarbeitern und den Krankenschwestern, die weder bis 67 oder gar 68 arbeiten können, gar nichts, und das ist schlecht.
({9})
Meine Damen und Herren, Die Linke war und bleibt die erste und einzige Fraktion, die bereits im Mai 2019 klipp und klar gesagt hat: Ja
({10})
– und jetzt gut zuhören –, in 40 Jahren wird die nachgelagerte Besteuerung für die Menschen aufs ganze Leben betrachtet eine gute Sache sein. Sie werden dann davon profitieren. Aber für heute und die kommenden Jahrzehnte bis dahin gilt: Das Gesetz von 2005 war wissentlich schlecht gemacht.
({11})
Der Bundesfinanzhof hat ja über einen Fall geurteilt mit einem Rentenfreibetrag aus dem Jahre 2008. Damals waren noch 46 Prozent der Rente steuerfrei. Heute sind es nur noch 19 Prozent. Auf Deutsch: Das Problem der Doppelbesteuerung der Renten war in der Vergangenheit klein, aber es wächst derzeit von Jahr zu Jahr.
({12})
Und es wird in der Zukunft zu einem großen Problem werden. Genau dieses Problem haben wir Linken erkannt, und genau dafür haben wir einen guten Lösungsvorschlag auf den Tisch gelegt. Der steuerliche Rentenfreibetrag soll nämlich nicht bis 2040, sondern viel, viel langsamer, nämlich bis zum Jahr 2070 abgeschmolzen werden. Und diesen Vorschlag, liebe Union und FDP, findet sogar das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft gut. Darum sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD und auch alle anderen, das Urteil des Bundesfinanzhofes – es ist heute gekommen – mal ganz genau nachlesen. Dort können Sie lesen, was wir Ihnen prophezeit hatten. Dort können Sie lesen, dass für die vorgelegten sehr alten Fälle noch ein recht hoher Freibetrag galt, weshalb bisher für die Vergangenheit keine Doppelbesteuerung festgestellt werden konnte.
Aber der Bundesfinanzhof stellt erstens fest, dass der Grundfreibetrag der Existenzsicherung dient und darum auf keinen Fall für die Berechnung herangezogen werden darf.
({13})
Zweitens wird es genau deshalb für spätere Rentenjahrgänge eindeutig zu einer Doppelbesteuerung ihrer Renten kommen. Und drittens wird der Rentenfreibetrag viel zu schnell abgeschmolzen.
Meine Damen und Herren, dieses Urteil bestätigt eins zu eins, was die Experten seit Langem öffentlich sagen. Dieses Urteil bestätigt voll und ganz, was Die Linke schon vor zwei Jahren hier im Bundestag gefordert hat und darum –
Herr Kollege.
– Frau Präsidentin, mein letzter Satz – fordere ich den Bundesfinanzminister Olaf Scholz auf, jetzt mit den Vorarbeiten für die Umsetzung des Urteils zu beginnen und damit nicht bis nach der Bundestagswahl zu warten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Strengmann-Kuhn das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich neige dazu, zu raten, die Emotionen mal ein bisschen herunterzufahren,
({0})
lieber Matthias Birkwald. Wir hatten ja schon viele Debatten zum Thema – teilweise noch ein bisschen emotionaler.
Das Positive an dem Urteil des Bundesfinanzhofes – wenn man etwas Positives daran sehen will – ist, dass es ermöglicht, eine Grundlage für eine Versachlichung der Diskussion zu schaffen. Gestern im Finanzausschuss haben wir – bis auf eine Fraktion, die da mit Schaum vor dem Mund argumentiert hat – das auch geschafft. Das war gestern im Finanzausschuss durchaus eine sehr sachliche Geschichte.
Deswegen möchte ich mal mit einigen ganz nüchternen Feststellungen anfangen.
Erstens. Der Bundesfinanzhof bestätigt, dass die nachgelagerte Besteuerung verfassungsgemäß ist, und alle demokratischen Parteien hier finden die nachgelagerte Besteuerung auch richtig, weil sie für die Menschen eine geringere und gerechte Besteuerung bedeutet. Ich finde das als Vorbemerkung schon mal wichtig.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Habe ich eben auch gesagt!
Zweitens. Alle – alle! – hier im Saal wollen eine Doppelbesteuerung vermeiden,
({1})
und Unterstellungen, dass das nicht so sei, sind halt falsch.
Drittens. Der bisherige Streit, lieber Matthias Birkwald, drehte sich vor allem um die Frage, was Doppelbesteuerung eigentlich ist. Das ist nämlich gar nicht so einfach und hängt von ganz vielen Annahmen ab. Die Expertinnen und Experten waren sich da letztes Jahr bei der Anhörung überhaupt nicht einig. Vielmehr gibt es sehr, sehr unterschiedliche Sichtweisen, wie man das bestimmen kann. Der Bundesfinanzhof hat jetzt eine juristische Grundlage für die Definition einer Doppelbesteuerung geschaffen. Das muss nicht allen in allen Details gefallen, aber das ist zumindest vorläufig zu akzeptieren.
Viertens. Auf Basis dieser Definition wurden beide Klagen vom Bundesfinanzhof abgewiesen. Abgewiesen! Es lag also keine Doppelbesteuerung vor. Das bestätigt nach unserer Einschätzung, dass Doppelbesteuerung jetzt noch kein Problem ist.
Fünftens. Aber es ist gut möglich, dass Doppelbesteuerung nach dieser Definition schon in absehbarer Zeit – vielleicht auch früher, als manche, auch ich, das hier im Plenum schon gesagt haben – ein Problem werden könnte. Das gilt es zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Es gibt Handlungsbedarf, aber es gibt keinen übermäßigen Zeitdruck. Wir müssen nicht in der nächsten Sitzungswoche schon einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir brauchen auch sonst keinen Schnellschuss, sondern wir müssen da ganz genau hingucken. Matthias Birkwald hat es angesprochen: Wir im Finanzausschuss haben die Urteile gestern schon bekommen, andere heute. – Das muss jetzt erst mal ausgewertet werden; denn das ist eine komplexe mathematische Materie. Das Finanzministerium hat gestern in der Ausschusssitzung gesagt, dass sie schon angefangen haben, Berechnungen anzustellen, und das ist gut so. Es ist also, wenn ich das zusammenfasse, davon auszugehen, dass wir zu Beginn der nächsten Legislaturperiode eine gute Grundlage für eine sachliche und konstruktive Diskussion darüber haben, wie wir Doppelbesteuerung verhindern können.
Was uns als Grüne aber zusätzlich wichtig ist, ist, dass wir dann nicht nur das Problem der Doppelbesteuerung angehen, sondern auch weitere und aus unserer Sicht eigentlich wichtigere Probleme der Rentenbesteuerung. Viele Menschen fragen sich nämlich: Warum muss ich als Rentnerin oder Rentner überhaupt noch Steuern zahlen? Dann kommt dieser Steuerbescheid relativ plötzlich. Wir brauchen da unbedingt mehr Transparenz, damit die Menschen darauf vorbereitet sind.
({3})
Zudem kommt es vor, weil die Behörden zu langsam sind, dass die Leute teilweise sehr lange rückwirkend Steuern zahlen müssen. Das ist gerade für Rentnerinnen und Rentner mit kleinen Einkommen häufig eine große Belastung. Auch das müssen wir unbedingt verhindern, unter anderem dadurch, dass wir diese Prozesse beschleunigen.
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Schließlich sollten wir versuchen, es hinzukriegen – die Kollegin Tillmann hat das eben schon angedeutet –, dass im Normalfall, insbesondere dann, wenn Rentnerinnen und Rentner nur eine Rente beziehen, vielleicht gar keine Steuererklärung mehr gemacht werden muss, sondern die Steuern direkt von der Rentenversicherung an das Finanzamt überwiesen werden. Das ist eine komplizierte Materie; aber die Digitalisierung sollte uns dabei unterstützen. Das würde den vielen Rentnerinnen und Rentnern helfen.
Die Rentenbesteuerung muss also transparenter, schneller und einfacher werden. Wir haben dazu Vorschläge in einem Antrag vorgelegt, der seinerzeit in der Anhörung war. Andere Fraktionen haben auch Vorschläge vorgelegt. Ich bin überzeugt, dass wir in naher Zukunft bezüglich der Rentenbesteuerung gute und nachhaltige Lösungen finden, vielleicht sogar in einem breiten Konsens der demokratischen Parteien; das würde ich mir zumindest wünschen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Olav Gutting das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male in dieser Legislaturperiode sprechen wir über das Thema „Doppelbesteuerung von Renten“. Der Titel dieser Aktuellen Stunde lautet: „Urteil des Bundesfinanzhofs ernst nehmen – Doppelbesteuerung von Renten verhindern“. Beides – also das Urteil ernst nehmen und Doppelbesteuerung verhindern – ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
({0})
Wir erleben daher heute im Wesentlichen einen Aufguss von mehreren Anträgen, die in den letzten Monaten gestellt wurden. Vor knapp drei Monaten haben wir einen Antrag der FDP zu diesem Thema hier ausführlich debattiert.
Was ist inzwischen passiert? Es gab zwei Klagen gegen die vermeintliche Doppelbesteuerung vor dem Bundesfinanzhof, die beide im Mai abgewiesen wurden. Der BFH hat damit bestätigt, dass aktuell keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Rentenbesteuerung bestehen.
({1})
Damit bestätigt der BFH zunächst unsere Position. Es gibt also überhaupt keinen Grund, Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern, Ängste zu schüren oder Begehrlichkeiten zu wecken.
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Ich meine – das müssen wir noch mal betonen –, jeder effekthascherische Umgang mit diesem wichtigen, generationenübergreifenden Thema ist völlig fehl am Platz und schlicht unseriös.
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Was hat der Bundesfinanzhof mit nüchternen Worten festgestellt? Sowohl der mit dem Alterseinkünftegesetz eingeleitete Systemwechsel zur nachgelagerten Besteuerung von Altersbezügen als auch die gesetzlichen Übergangsregelungen sind im Grundsatz zunächst mal verfassungskonform. Er hat klargestellt, dass es auch im Einzelfall derzeit nicht zu einer doppelten Besteuerung von Renten kommt und kommen darf. Das war und ist selbstverständlich auch unsere Position: Es darf keine Doppelbesteuerung geben!
Damit hält der BFH an seiner bisherigen, vom Bundesverfassungsgericht auch schon bestätigten Auffassung fest. Es ist auch nichts Neues. Neu ist aber, dass der X. Senat des Bundesfinanzhofs jetzt erstmalig konkrete Berechnungsparameter für die Ermittlung einer etwaigen doppelten Besteuerung von Renten in Zukunft festgelegt hat.
Betroffen von einer Doppelbesteuerung könnten spätere Rentenjahrgänge sein, deren Altersvorsorgeaufwendungen in der Erwerbsphase nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Hier gibt es für die Zukunft natürlich Nachbesserungsbedarf. Grundfreibetrag, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, Werbungskosten- und Sonderausgabenpauschbeträge müssen beim steuerfreien Rentenbezug unberücksichtigt bleiben, so der BFH. Diese Beträge sind überwiegend verfassungsrechtlich geboten und für den Gesetzgeber nicht disponibel. Sie dürfen deswegen nicht noch mal herangezogen werden, um eine zukünftige doppelte Besteuerung von Renten rechnerisch zu vermeiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Vorgaben des BFH und einer entsprechenden Nachjustierung bei der Berechnung der Steuerbelastung werden wir erreichen, dass bestehende Unsicherheiten künftiger Rentnerinnen und Rentner schwinden und dass das Verständnis für die nachgelagerte Besteuerung von Rentenbezügen wächst. Das sollte doch das gemeinsame Ziel von uns allen hier im Bundestag sein; denn die nachgelagerte Besteuerung ist für die Bürgerinnen und Bürger in der Regel von Vorteil – das haben wir hier schon mehrfach gehört –: Das Einkommen ist im Rentenalter regelmäßig geringer als im aktiven Erwerbsleben, sodass die Rentenzahlungen aufgrund der Steuerprogression mit einem niedrigeren Steuersatz belastet werden. – Das ist richtig, und das ist gut. Deswegen sollten wir nicht immer den Eindruck erwecken, dass die gesamte nachgelagerte Besteuerung schlecht ist.
({4})
Sie ist richtig und gut.
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Im Rahmen einer anstehenden Einkommensteuerreform müssen und werden wir die Vorsorgeaufwendungen vollständig abziehbar machen und selbstverständlich noch einige weitere Stellschrauben bewegen. Für uns in der Union ist jedenfalls klar: Wir wollen das umsetzen, und mit uns wird es auch zukünftig keine Doppelbesteuerung geben. Wenn wir uns anstrengen und Sie von der FDP sich anstrengen, dann schaffen wir das in der nächsten Legislaturperiode vielleicht sogar gemeinsam.
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Das Wort hat die Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Werte Bürger! Der Bundesfinanzhof hat der Bundesregierung aktuell ins Stammbuch geschrieben, dass sie die Rentenbesteuerung nachbessern muss. Nur so kann eine Doppelbesteuerung in der Zukunft vermieden werden.
Das Urteil vom 19. Mai dieses Jahres kommt spät, aber nicht überraschend. Bereits 17 Jahre zuvor, im Januar 2004, hatte die Rentenversicherung ausdrücklich gewarnt: Der steuerliche Grundfreibetrag kann nicht als steuerfreier Rentenbezug gewertet werden. – Das lässt sich auch noch nach 17 Jahren auf den 30 Seiten der Stellungnahme des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zum Alterseinkünftegesetz nachlesen. Trotz klarer Hinweise auf die verfassungsrechtlichen Probleme wurde das Alterseinkünftegesetz damals durchgeprügelt. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit.
Allein im Jahr 2019 sind 140 000 Einsprüche zur Rentenbesteuerung bei den Finanzämtern eingegangen. Diese Einspruchslawine war aber für die Bundesregierung kein Anlass zum Tätigwerden. Das Aussitzen und die Untätigkeit der Bundesregierung haben sich auch hier wie Mehltau über das Land gelegt.
Der Antrag unserer Fraktion zur Abschaffung der Rentendoppelbesteuerung vom 31. Mai 2019 hat den Finger in die Wunde gelegt. Das war für die Bundesregierung jedoch auch kein Grund zum Handeln. Vielmehr wurde er im Ausschuss im April dieses Jahres unreflektiert abgelehnt. Die Koalition wollte die Entscheidung des Bundesfinanzhofes abwarten. Abwarten ist anscheinend das zentrale Rezept dieser Bundesregierung.
Der Bundesfinanzhof hat aktuell in seine Vergleichsberechnungen auch eine gegebenenfalls zu zahlende Witwenrente miteinbezogen. Nur deswegen kommt der Bundesfinanzhof rechnerisch zu dem Ergebnis, dass die Doppelbesteuerung nicht bereits jetzt vorliegt. Ob und wie eine mögliche Witwenrente in Vergleichsberechnungen einbezogen wird, erscheint uns zumindest diskussionswürdig. Nicht jeder Rentner hat einen Ehepartner.
Es muss jetzt jedenfalls eine schnelle gesetzliche neue Regelung her, die dann auch nachvollziehbar und belastbar ist. Andernfalls werden die Rentner weiter verunsichert,
({0})
und es wird weiter Abertausende von Einspruchsverfahren und Klagen geben. Das Vertrauen der Rentner sollte nicht weiter strapaziert werden.
Das Rezept des untätigen Abwartens haben wir nicht nur bei der Rentendoppelbesteuerung. Wir haben es auch bei einem Problem, das leider noch viel größer ist als die Zweifachbesteuerung von Renten. Wir haben in den nächsten Jahren ein Demografieproblem bei der gesetzlichen Rente. Die Regierung hat sich zwar bislang irgendwie durchgehangelt; aber wenn die geburtenreichen Jahrgänge aus den 60ern in Rente gehen, dann wird es bei der Rente richtig eng. Das ist alles nicht überraschend; denn die Bevölkerungsentwicklung ist seit Jahrzehnten bekannt. Uns fehlen hier schlichtweg die Kinder als neue Beitragszahler in der Rentenversicherung.
({1})
Das aktuelle Konzept des Beirates der Bundesregierung sieht eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit vor. Das Rezept des Beirates ist die Rente mit 68. Die Rente mit 68 heißt für viele, die körperlich arbeiten müssen, arbeiten, bis der Arzt kommt, oder eine Rente mit Abschlägen.
Ich frage mich, was die 2018 eigens für die Weiterentwicklung des Rentensystems einberufene Rentenkommission eigentlich drei Jahre lang getan hat. Die langfristige Entwicklung des Verhältnisses von Rentenansprüchen und Beitragseinnahmen ist seit Jahrzehnten bekannt. Was nun droht, ist ein Desaster mit Ansage. Hier mit der steigenden Lebenserwartung zu argumentieren, ist unredlich.
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Der zentrale Punkt ist doch, ob jemand noch arbeiten kann und wie viele Jahre er schon gearbeitet hat. Es ist doch simpel: Wer früh anfängt zu arbeiten, soll auch früh in Rente gehen können. Es ist schlicht unredlich, von schockartigen Finanzierungsproblemen zu reden, um den Bürgern eine Lebensarbeitszeit von 50 Jahren unterzujubeln.
Wir als AfD wollen Freiheit beim Renteneintritt und kein starres Renteneintrittsalter. Gerade die, die 45 Jahre an Beitragszeiten erarbeitet haben, sollen ohne Abschläge in Rente gehen, wann und wo sie wollen.
({3})
Das Fazit von 16 Jahren Regierung Merkel für die gesetzliche Rente: ein gigantisches Demografieproblem ohne Lösungsansatz. Dafür sind die versicherungsfremden Leistungen in den 16 Jahren Merkel durch Wahlgeschenke drastisch angestiegen. Die ungedeckten Defizite bei den versicherungsfremden Leistungen liegen bei 35 Milliarden Euro, Jahr für Jahr. Wir haben also bei der gesetzlichen Rente einen größeren Reformstau zulasten der künftigen Generation.
Schauen wir auf die Gesamtbilanz der Regierung Merkel zur Altersvorsorge, dann wird es noch schlimmer. Die Riester-Rente ist kurz davor, eingestampft zu werden. Die Betriebsrenten und Lebensversicherungen kämpfen mit den Dauernullzinsen. Und die Rentner bekommen für ihre Ersparnisse bei der Sparkasse nicht nur keine Zinsen, sondern müssen sich sogar auf Negativzinsen einstellen.
Unser Land ist stark und hält viel aus. Aber 16 Jahre Reformstau bei der gesetzlichen Rente und 16 Jahre falsche Weichenstellungen bei der Wirtschafts- und Sozial- und Europapolitik wiegen schwer. Wir müssen im September den Schalter umlegen und dann gemeinsam loslegen mit den Reformen in allen Bereichen – für ein Deutschland mit Zukunft.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Wiebke Esdar das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die aktuellen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs zur Rentenbesteuerung begrüßen wir. Sie enthalten nämlich für diejenigen, die sich Sorgen gemacht haben, dass ihre Rente doppelt besteuert wird, wichtige und gleichzeitig gute Nachrichten. Die Vorrednerinnen und Vorredner haben es gesagt:
Erstens. Der Bundesfinanzhof hat festgestellt, dass das aktuelle System der nachgelagerten Rentenbesteuerung verfassungsgemäß ist, und er hat die Klagen abgewiesen.
Zweitens führt die Übergangsphase, in der wir uns gerade befinden, bis dato nicht zu einer generellen Doppelbesteuerung der Renten.
Drittens. Allerdings könnte sich – auch das hat der BFH festgestellt – für zukünftige Rentenjahrgänge eine Zuvielbesteuerung ergeben, wenn die geltende Gesetzeslage nicht geändert wird. Für uns ist das ganz klar Handlungsauftrag, denn – zumindest da sind sich noch alle Fraktionen im Bundestag einig – eine Doppelbesteuerung von Renten in der Zukunft will niemand.
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Was ist also zu tun? Wenn wir uns diese Frage stellen, dann lohnt erst mal ein Blick zurück. Seit 2005 bauen wir das System der vorgelagerten Besteuerung ab, um zur nachgelagerten Besteuerung zu kommen. Auslöser war damals ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die bis dahin geltende vorgelagerte Besteuerung verfassungswidrig ist. Wir befinden uns momentan eben in dieser Übergangsphase, in der der Teil des Einkommens, der vorgelagert besteuert wird, abschmilzt und der, der nachgelagert besteuert wird, ansteigt. 2040 haben wir dann den Übergang erreicht, und die Pensionen von Beamten und die Renten sind gleichgestellt: Es gibt bei beiden die nachgelagerte Besteuerung.
Aus dieser Rentenreform hat sich ergeben, dass im Laufe der Jahre Sorgen und Klagen aufgekommen sind, da für bestimmte Fälle befürchtet wurde, es könnte zu einer doppelten Besteuerung kommen, also dass sowohl die Rentenauszahlung besteuert wird als auch schon das Einkommen während der Erwerbstätigkeit besteuert worden ist, aus dem die Einzahlungen geleistet wurden. Aber der Bundesfinanzhof hat nun auch festgestellt, dass es keine generelle doppelte Besteuerung gibt. Es ist auch bisher kein Fall bekannt, in dem es nachweislich dazu gekommen ist.
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Wir wollen das aber regeln, sodass es auch in der Zukunft keine Fälle geben wird. Wir haben jetzt nach dem Wechsel des Vorsitzes des Senats beim BFH – das haben die Vorredner eben bei ihren Vorwürfen wohl nicht auf dem Schirm gehabt – erstmals richtig klare Berechnungsmethoden festgelegt. Anders als bisher dürfen wir den Grundfreibetrag, den Werbungskostenpauschbetrag und die Steuerfreistellung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen nicht in die Berechnung des steuerfreien Rentenanteils einbeziehen. Darum schaffen die Urteile jetzt Rechtssicherheit für Rentnerinnen und Rentner, für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und auch für die Verwaltung.
Wir sehen diesen Handlungsbedarf, aber wir sagen auch ganz klar: Gründlichkeit geht vor Schnellschuss. Darum ist es richtig, dass wir zunächst erst sicherstellen, in welchen Fällen es mit der neuen Berechnungsmethode zu einer Doppelbesteuerung kommen kann. Das Finanzministerium hat ja auch bereits angekündigt, ein BMF-Schreiben zur zeitnahen Überprüfung vorzulegen, aus dem hervorgehen wird, welche Doppelbesteuerung es theoretisch gegeben haben könnte und ob es unter den 140 000 Einspruchsfällen solche Fälle gegeben hat.
Für die Zukunft brauchen wir dann gesetzliche Maßnahmen. Auch dafür hat Olaf Scholz als Finanzminister angekündigt, dass wir direkt zu Beginn der nächsten Legislaturperiode eine Steuerreform vorlegen werden, die nicht nur untere und mittlere Einkommen besserstellt, sondern auch gleichzeitig die Doppelbesteuerung von Renten in der Zukunft ausschließt. Das ist in meinen Augen, in unseren Augen der richtige Weg, weil wir als SPD für Respekt und Wertschätzung der Arbeit stehen und weil wir für Steuergerechtigkeit und die daraus geschaffene Vorsorge bis ins hohe Alter Sicherheit geben wollen.
Meine Damen und Herren, in dieser Legislatur ist das voraussichtlich meine letzte Rede. Darum ist es mir jetzt beim Abschluss noch ein Anliegen, all denjenigen an dieser Stelle zu danken, die überhaupt erst möglich machen, dass wir als Abgeordnete unser Mandat so ausüben, wie wir es ausüben, denjenigen, die jede Woche im Hintergrund für uns Termine koordinieren, die telefonieren, die recherchieren und vieles mehr. Für mein Team sind das Freddy, Pat, Marieke, Lukas, Silke, Anna, Aljoscha und Evin. Ich möchte euch Danke sagen, denn für mich ist nach dieser ersten Legislatur klar: Wir sind als Abgeordnete immer nur so gut wie das Team, das hinter uns steht.
Danke schön.
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Für die FDP-Fraktion hat nun Johannes Vogel das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie schön, Sie alle zu sehen, und wie schön, dass wir über ein wichtiges Thema hier reden können! Es ist, ehrlich gesagt, ein Thema, das leider deutlich macht, was offensichtlich das Motto der Rentenpolitik dieser Koalition ist. Das Motto ist offenbar: Wir stehlen uns aus der Verantwortung.
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Sie haben sich aus der Verantwortung gestohlen, das Problem mit der Doppelbesteuerung rechtzeitig zu lösen. Denn halten wir noch mal fest, was der Bundesfinanzhof gesagt hat. Er hat gesagt: In den nächsten Jahren wird es sicher zu Doppelbesteuerungstatbeständen kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Stand heute delegieren Sie diese Verantwortung an die Bürgerinnen und Bürger. Die sollen dann irgendwann künftig nachweisen, dass es individuelle Doppelbesteuerung gegeben hat. Wie stellen Sie sich das denn vor? Sollen die ihr ganzes Erwerbsleben ihre Steuerbescheide aufbewahren? Was ist das denn für ein Aktensammlungs-, Antidigitalisierungsprogramm! Es ist vor allem eine Frechheit, weil es die Aufgabe der Koalition und der Bundesregierung wäre, das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.
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Dieses Stehlen aus der Verantwortung erleben wir auch in einem zweiten Bereich, nämlich bei der Doppelverbeitragung.
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Auch heute gibt es immer noch die Konstellation, dass es Bürgerinnen und Bürger gibt, die doppelt Krankenversicherungsbeiträge auf bestimmte Konstellationen von betrieblicher und privater Vorsorge zahlen müssen. Auch da stehen Sie auf dem Standpunkt: Ja, das ist doch deren Verantwortung, dass sie genau das gemacht haben, wozu die Politik sie vor vielen Jahren aufgefordert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das geht so nicht.
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– Ungewohnter Applaus von der linken Seite, lieber Matthias Birkwald. Ich freue mich, dass ich das auch mal erleben darf.
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Aber man kann, finde ich, in dieser Woche nicht über Rentenpolitik und über Olaf Scholz, also den Bundesfinanzminister, reden, ohne kurz auch darüber zu reden, an welcher anderen Stelle Sie sich offenbar noch aus der Verantwortung stehlen wollen. Denn wir haben etwas sehr Interessantes erlebt: Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums hat diese Woche schwarz auf weiß noch einmal etwas bestätigt, was jeder, der sich in diesem Haus mit Rentenpolitik und Finanzpolitik beschäftigt, eigentlich – leider – weiß, was aber offensichtlich in der öffentlichen Debatte mitunter untergeht: Sie haben in der Koalition in den letzten Jahren nicht nur unser Rentensystem nicht auf die kommenden Jahre vorbereitet, sondern Sie haben sogar aktiv die finanziellen Fundamente untergraben. Das ist unverantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Genauso unverantwortlich finde ich aber – das sage ich ganz bewusst; ich benutze das Wort auch bewusst –, wie Sie damit umgegangen sind. Ich zitiere aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats:
Die rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre haben ein Dilemma geschaffen. … Auswege aus diesem Dilemma müssen … gefunden werden.
Das heißt, Sie haben dieses Dilemma selber aktiv herbeigeführt. Und was sagt der Bundesfinanzminister, wo wir uns doch eigentlich darüber einig sein müssten, auf die Wissenschaft zu hören – „listen to the science“ –, und zwar beim Klima, bei Corona, aber eben auch bei der Rente! Der Bundesfinanzminister sagt allen Ernstes, da hätten die Experten offenbar „falsch gerechnet“; er freue sich auf die Diskussion mit „echten Experten“. Das finde ich wirklich bemerkenswert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die in diesem Wissenschaftlichen Beirat dieser Ihrer Bundesregierung sitzen, sind übrigens Wissenschaftler, die Hubertus Heil selber in seine Rentenkommission berufen hat. Und wenn diese unzweifelhaft kompetenten Experten dann ein solches Gutachten vorlegen, was machen Sie? Der Bundesfinanzminister Olaf Scholz lässt sich mit waschechter Wissenschaftsfeindlichkeit zitieren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, solche Methoden kennen wir sonst von anderen. Das sind – man muss es so hart sagen – Methoden von Populisten. Das finde ich unverantwortlich.
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– Ja, es ist aber die Wahrheit, lieber Kollege Matthias Birkwald. – Sie wirken wie jemand, der aktiv keine stabilen Fundamente gebaut hat und dann auf die Geologen schimpft, wenn die vor einem bevorstehenden Erdbeben warnen. Das ist doch keine zukunftsgerechte Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Viel besser sieht es allerdings bei den Kolleginnen und Kollegen von der Union nicht aus; denn Sie haben diese Politik ja mit zu verantworten. Das ist der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Wo war eigentlich der sogenannte Wirtschaftsflügel der Union in den letzten Jahren bei dieser Rentenpolitik? Sie haben immer zugestimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dieser Pfeil schießt auch auf Sie; denn Sie wollen am kommenden Wochenende beschließen, genau diese unverantwortliche Rentenpolitik in den nächsten Jahren fortzusetzen. Das ist unverantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Um das noch mal ganz klar für die Freien Demokraten zu sagen: Wir halten eine Erhöhung des Renteneintrittsalters für falsch.
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Es sollen nicht alle länger arbeiten. Wir brauchen endlich einen flexiblen Renteneintritt; die Skandinavier machen es uns vor. Aber wenn man nicht will, dass alle länger arbeiten müssen, wenn man nicht will, dass der Beitragssatz explodiert,
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wenn man nicht will, dass die Steuerzuschüsse explodieren, dann muss man die Rente reformieren. Wir haben dafür ein Konzept vorgelegt; es nennt sich gesetzliche Aktienrente.
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Ich bin gespannt, was von Ihnen kommt und worüber wir in den nächsten Monaten im Wahlkampf noch diskutieren werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Wort hat der Kollege Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Vogel, wenn Sie der Koalition vorwerfen, sich in dieser Legislatur aus der Verantwortung gestohlen zu haben,
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kann ich nur sagen: Ich weiß noch, wer sich am Anfang der Legislaturperiode komplett aus der Verantwortung gestohlen hat.
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Das war die FDP, die nämlich keine Lust hatte, zu regieren, oder Angst vor der Verantwortung hatte. Sie hätten all das umsetzen können, was Sie jetzt fordern;
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aber Sie haben am Anfang der Legislaturperiode beschlossen, nicht mitzumachen, sondern in die Opposition zu gehen.
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– Wenn einem das so vorgeworfen wird, muss man das wirklich noch mal sagen.
Worum geht es im Kern in dieser Diskussion? Es geht in dieser Diskussion darum, dass das Bundesverfassungsgericht 2002 einen Übergang zur nachgelagerten Rentenbesteuerung angestoßen hat. Bis dahin war immer nur der Ertragsanteil der Rente zu versteuern. Bei normalen Renten hat das dazu geführt, dass es zu überhaupt keiner Versteuerung gekommen ist; die Pensionen sind jedoch voll versteuert worden. Deswegen hat damals das Bundesverfassungsgericht gesagt, man solle das angleichen und eine nachgelagerte Besteuerung vornehmen. Das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung besagt, dass eben bei Auszahlung besteuert wird und die eingezahlten Rentenbeiträge sukzessive bzw. dann in der Stufe ab 2040 vollständig von der Steuer abgezogen werden können – übrigens ein großer Vorteil im System ab 2040.
Dieser Systemwechsel ist dann in 2005 vorgenommen worden. Die klare Vorgabe war – das bleibt übrigens auch hier die ganz klare Vorgabe; das ist ja immer wieder betont worden –: Es darf zu keiner Doppelbesteuerung von Renten kommen. – Damals hat die rot-grüne Regierung das umgesetzt. In der Tat hat man es berechnet, hat aber – das ist natürlich eine sehr komplexe Materie – auch damals schon gesagt, man wolle keine Doppelbesteuerung. Nun ist aber das Urteil des Bundesfinanzhofs ergangen. Der X. Senat des Bundesfinanzhofs hat zum ersten Mal eine völlig klare Systematik vorgelegt. Übrigens: In der Anhörung wurde ja schon berichtet, es habe überhaupt keine klare Systematik gegeben; der eine Fachmann hat es so gesagt, der andere Fachmann hat es so gesagt. Deswegen ist es gut und richtig, dass der Bundesfinanzhof jetzt klare, konkrete Berechnungsparameter vorlegt, die verdeutlichen, wann eine Doppelbesteuerung von Renten vorliegt.
Ganz ehrlich – da schaue ich Sie, Herr Glaser, oder auch Matthias Birkwald von den Linken an –: Es ärgert mich wirklich. Ich weiß nicht, ob Sie das Urteil gelesen haben, aber ich empfehle, es mal nachzulesen; denn da steht nämlich ganz genau drin, dass es bislang zu keiner Doppelbesteuerung gekommen ist.
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Sie sagen genau das Gegenteil.
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Sie verunsichern damit – das ist aber Ihre Masche – die Rentnerinnen und Rentner und wollen mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl einen Nährboden schaffen.
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Ich kann Ihnen bloß sagen: Das wird nicht gelingen, weil sich seriöse Politik immer bei Wahlen durchsetzen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Warum führen wir überhaupt diese Diskussion? Wir haben eine Übergangsphase. Jeder, der Anfang 2005 in Rente gegangen ist oder schon in Rente war, hat 50 Prozent seiner Renteneinkünfte der Besteuerung zu unterwerfen; das bleibt übrigens ein Leben lang so. Wenn einer 2006 in Rente gegangen ist, sind es 52 Prozent. So geht es immer um zwei Prozentpunkte weiter. Gleichzeitig ist die steuerliche Abziehbarkeit der in die Rentenversicherung eingezahlten Beiträge immer mehr ansetzbar. Deswegen kann und wird es so sein – das war auch die Intention des Bundesfinanzhofs –, dass es in dieser Übergangszeit zwischen 2005 und 2040 zu Doppelbesteuerungen kommt.
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Deswegen muss man die Anpassungen vornehmen, wahrscheinlich auch relativ schnell.
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Frau Kollegin Tillmann hat es gesagt: Es gibt zwei Möglichkeiten bzw. eine gemischte Form: entweder mehr Beiträge sofort steuerlich geltend zu machen oder eine spätere hundertprozentige Besteuerung der Renteneinkünfte vorzunehmen oder ein Mix aus beiden Maßnahmen. Das werden wir tun. In dieser Legislaturperiode – davon gehe ich aus – wird es leider nichts mehr. Der Finanzminister wäre aber gut beraten, hier mit einem Vorschlag schon mal Rechtsklarheit zu schaffen. Aber letztlich werden wir das dann in der neuen Wahlperiode – mit welchen Mehrheiten auch immer – beschließen. Und dann ist es natürlich so, dass jede Fraktion die Verantwortung, die sie einfordert, auch wahrnehmen kann. Dann können wir auch diese Geschichte miteinander besprechen und weiterhin dafür sorgen, dass es zu keiner Doppelbesteuerung von Renten kommt, so wie es derzeit ist.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Ralf Kapschack hat für die SPD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Grunde genommen ist die Sache ganz einfach: Der Bundesfinanzhof hat die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen, dass auch in Zukunft keine doppelte Besteuerung von Renten stattfindet. Der Bundesfinanzminister hat gesagt: Ich lege dazu Vorschläge vor. – Was auch sonst? Im Grunde genommen ist damit die Geschichte erzählt.
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Aber wer sich so kurz vor der Bundestagswahl, in der vorletzten Sitzungswoche, mit dem Thema Rente beschäftigt, der redet sicherlich nicht nur über die Besteuerung von Renten, so wichtig das auch sein mag. Der Kollege Vogel hat das ja eben auch deutlich gemacht. Die Stichworte „Steuern“ und „Rente“ fallen ja auch oft beim Bundeszuschuss zur Rente. Er wird gerne als Beweis dafür angeführt, dass die Rente auf finanziell schwachen Füßen steht. Das ist völliger Unsinn. Steuermittel, die Beiträge flankieren, um die Rente zu finanzieren, sind nicht zuletzt ein bewusstes sozialpolitisches Instrument, um gesellschaftliche Verantwortung auf die Schultern aller zu verteilen.
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Was die Menschen aber in diesen Tagen beim Thema Rente insbesondere umtreibt, ist der Vorschlag, das Renteneintrittsalter auf 68 zu erhöhen. Dieser Vorschlag kommt – wir haben es schon gehört – vom Wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium. Und der wiederholt gebetsmühlenartig: Wir leben länger, also müssen wir auch länger arbeiten; anders ist die gesetzliche Rente auf Dauer nicht zu finanzieren. – Diese Logik ist ebenso schlicht wie falsch.
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Lebenserwartung hat nicht zuletzt etwas mit dem sozialen Status zu tun, mit Lebensumständen und Arbeitsmarktchancen. Männer in München – ich habe es an dieser Stelle schon mal gesagt – leben sechs Jahre länger als Männer in Bremerhaven. Dafür gibt es Gründe. Und was ist mit denen, die es jetzt schon nicht bis zur Rente schaffen? Was ist mit denen, die körperlich belastende Tätigkeiten ausüben und durch vorzeitigen Rentenbezug massive Abschläge in Kauf nehmen müssen, beim Arbeiten bis 68 in Zukunft noch mehr? Nichts dazu im Papier des Wissenschaftlichen Beirats! Entweder kommen diese Menschen in der Welt eines Wissenschaftlichen Beirats nicht vor – sie sind ihm schlicht egal –, oder er hat keine Antwort auf diese Fragen.
Wir lehnen eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters ab.
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Wer will und kann, kann schon heute länger arbeiten. Dafür haben wir mit dem Flexirentengesetz gesorgt.
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Zugegeben, da ist noch Luft nach oben. Längeres Arbeiten soll durch bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitmodelle attraktiver werden – freiwillig und nicht als starre Hürde oder Grenze, die Tausende nicht schaffen.
Für die Finanzierung der Rente ist wichtig, dass viele Beitragszahler den Rentnern gegenüberstehen. Das kann in der Tat die Politik beeinflussen, zum Beispiel durch eine bessere Erwerbsbeteiligung von Frauen durch die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eine gute Arbeitsmarktpolitik bleibt die beste Voraussetzung für eine gute Rente. Das zeigen übrigens auch die Prognosen der vergangenen Jahrzehnte, die deutlich weniger Beschäftigte und deutlich höhere Beiträge prognostiziert haben. Aber wir wissen, dass das Dumme an Prognosen ist: Sie beziehen sich auf die Zukunft.
Es ist eben kein Konflikt zwischen Jung und Alt, wenn wir die gesetzliche Rente auch durch höhere Beiträge stärken. Im Gegenteil: Niedrigere Leistungen oder ein längeres Arbeitsleben würden vor allem die Jüngeren treffen.
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Ich würde mir wünschen, alle, die Arbeiten bis 68 und länger fordern, würden mit dem gleichen Engagement eine deutlich höhere Tarifbindung und damit gute Löhne als Basis für eine auskömmliche Rente fordern.
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Leider Fehlanzeige!
Die gesetzliche Rente steht vor Herausforderungen – überhaupt keine Frage –, gerade durch die geburtenstarken Jahrgänge, die in den nächsten Jahren in Rente gehen. Wer aber Katastrophenbilder an die Wand malt wie ein gewisser Herr Börsch-Supan,
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der bekommt sicherlich kurzfristig Aufmerksamkeit und vielleicht auch Beifall; das Vertrauen in Staat und Politik geht aber dabei baden.
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Deshalb: Für uns ist die Stärkung der gesetzlichen Rente durch eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen, durch eine gute Arbeitsmarktpolitik und durch garantierte staatliche Zuschüsse die beste Investition in den Sozialstaat, eine gute Investition in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Vielen Dank. – Das war meine letzte Rede in diesem Haus. Ich bedanke mich für die Zusammenarbeit. Alles Gute!
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Alles Gute auf dem weiteren Weg! – Das Wort hat der Kollege Sepp Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde wurde von den Freien Demokraten beantragt, weil ein Gerichtsurteil vorliegt. In dem Gerichtsurteil wird festgestellt, dass es in dem zugrundeliegenden Fall keine nachgelagerte Besteuerung von Renten gibt. In diesem Fall ist klar festgestellt worden:
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Die nachgelagerte Besteuerung ist verfassungsgemäß.
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– Da kann man von rechts und links und von der liberalen Seite reinschreien, wie man will – es bringt nichts. Es gibt keine nachgelagerte Besteuerung in diesen Fällen. Das ist mal klar festzuhalten.
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Die nachgelagerte Besteuerung, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist gerechter.
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Warum ist sie gerechter? Weil wir als junge Generation im Erwerbsleben einen höheren Steuersatz haben und deswegen natürlich auch die Rentenbeiträge mit einem höheren Steuersatz steuerlich geltend machen können und im Rentenleben ein geringeres Einkommen und somit auch einen geringeren Einkommensteuersatz haben und somit auch geringere Steuersätze darauf zahlen. Das heißt, wir haben ein verfassungsgemäßes System, wir haben ein gerechtes System, und wir haben ein ordentliches staatliches System, und das lassen wir uns als Union auch nicht kaputtreden, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Wenn ich jetzt von rechts außen höre, wir als Große Koalition hätten Wahlgeschenke gemacht, dann frage ich Sie allen Ernstes: Bezeichnen Sie die Mütterrente als Wahlgeschenk? Bezeichnen Sie die Rente mit 63 als Wahlgeschenk, durch die Maurer oder auch Friseure, die 45 Jahre lang gearbeitet haben, mit Vollendung des 63. Lebensjahres in Rente gehen können? Dass Sie von rechts außen das als Wahlgeschenk bezeichnen, das demaskiert Sie in jeder sozialpolitischen Debatte, und ich sage: Schämen Sie sich!
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Und wenn wir uns über die Grundrente unterhalten, dann sage ich Ihnen auch was: Das ist kein Wahlgeschenk. Als es zur Wiedervereinigung kam – ich komme aus den neuen Bundesländern, und Sie, mein Vorredner von der Linken, waren ja bei Lothar Bisky angestellt und waren auch in der DKP, von daher haben Sie ja gut gelernt –, was war denn damals nach 1990? Da sind die Frauen als Friseure für 3,30 Mark Stundenlohn sechs Stunden lang knechten gegangen, und jetzt stellen sie sich im Sozialamt an. Das ist kein Wahlgeschenk; es ist richtig, dass wir die Grundrente eingeführt haben. Wir sind die Partei der Wiedervereinigung. Wir erkennen die Leistung der Menschen gerade in den neuen Bundesländern an, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Jetzt muss man auch mal ein Wort zur FDP sagen. Wenn ich höre, dass das staatliche System nicht funktionieren soll, dann geht mir die Hutschnur hoch. Wir hatten seit 2015 eine Rentensteigerung von 15 Prozent in den alten Bundesländern und 23 Prozent in den neuen Bundesländern. Das staatliche System der gesetzlichen Rentenversicherung funktioniert, und wir als Union haben es gemeinsam mit den Sozialdemokraten auf solide Füße gestellt.
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Lieber Kollege Vogel, wenn Sie eine Aktienrente einführen wollen, dann sagen Sie doch, wer das bezahlen soll. Sie fordern in Ihrem Vorschlag: 2 Prozent des Beitragssatzes sollen in Aktien angelegt werden. – Darüber kann man sich gerne unterhalten. Aber Sie vergessen den Nebensatz, dass dadurch der gesetzlichen Rentenversicherung 10 Prozent an Einnahmen fehlen.
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Und wo diese Einnahmen herkommen sollen, das sagen Sie gar nicht. Dann sagen Sie doch den Menschen, dass wir mehr Geld in das Rentenversicherungssystem zahlen müssten.
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Wir zahlen jetzt schon jedes Jahr 100 Milliarden Euro, ein Drittel des Bundeshaushaltes, in die gesetzliche Rentenversicherung, weil das Versprechen von Norbert Blüm steht: Die Renten sind sicher. – Dafür stehen wir als Union, meine Damen und Herren.
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– Da können Sie von rechts außen sicherlich in Gelächter verfallen, weil es Ihnen nicht passt, die Fakten einfach mal vor Augen geführt zu bekommen.
Wir haben ein Urteil. Dieses Urteil ist glasklar. Und dieses Urteil – jawohl! – hat uns Hausaufgaben aufgegeben. Die Hausaufgaben müssen wir uns anschauen. Es geht um den Grundfreibetrag, es geht um die zukünftig eventuell eintretende Doppelbesteuerung. Das muss man sich ganz genau anschauen; das werden wir auch tun.
Aber eines ist auch klar: Wir als Union gehen den Weg der Mitte. Wir werden weiterhin an einer staatlichen gesetzlichen Rentenversicherung festhalten. Wir werden diese nicht schlechtreden, wir werden sie weiterhin gut ausstatten. Wir werden die private geförderte und die betriebliche Altersvorsorge weiter stärken. Da hätten wir uns ein bisschen mehr Unterstützung durch den Koalitionspartner gewünscht; vielleicht ist das beim nächsten Mal anders.
Ganz klar ist auch: Wir appellieren an die jüngere Generation: Ihr müsst in meinem Alter natürlich auch privat vorsorgen. Der Staat kann nicht alles leisten.
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Aber wir wollen und werden die junge Generation natürlich dazu befähigen, indem wir gut bezahlte Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Dafür stehen wir als Union. Wir unterstützen die Wirtschaft mit gut bezahlten Arbeitsplätzen, dann läuft es auch in der Rente rund.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zehn Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima zieht der Gesetzentwurf für ein Achtzehntes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes einen Schlussstrich unter die langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen um den beschleunigten Atomausstieg.
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Der war im breiten parlamentarischen Konsens beschlossen worden, und dieser Konsens wird immer noch von einer breiten Mehrheit der Gesellschaft getragen. Es freut mich ganz besonders, dass wir nun die Möglichkeit haben, den jahrzehntelangen gesellschaftlichen Konflikt um die Atomenergie zu befrieden.
Die Bundesregierung hat sich mit den vier betroffenen Energieversorgungsunternehmen auf einen finanziellen Ausgleich verständigt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Atomausstieg am 6. Dezember 2016 im Wesentlichen bestätigt, jedoch festgestellt, dass ein solcher Ausgleich erforderlich ist. Uneinigkeit herrschte zwischen den Beteiligten über das Wie und die Höhe des Ausgleichs. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten konnten nun beigelegt werden.
Die Energieversorgungsunternehmen verpflichten sich in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag, sämtliche Klageverfahren zu beenden. Sie verzichten auf Klagen oder Rechtsbehelfe gegen die Ausgleichsregelung. Auch das internationale Schiedsgerichtsverfahren von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland ist davon erfasst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein Meilenstein auf unserem konsequenten Weg zum Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Atomenergie in Deutschland. Spätestens Ende 2022 werden die letzten Atomkraftwerke in Deutschland endgültig abgeschaltet sein. Unsere Arbeit ist damit allerdings noch nicht beendet. Für die verbleibende Laufzeit, für andere kerntechnische Anlagen und Tätigkeiten, wie Zwischenlager und Transporte, erhöhen wir mit dem Siebzehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes die Rechtssicherheit atomrechtlicher Genehmigungen. Der Gesetzentwurf für diese Novelle des Atomgesetzes hebt untergesetzliche Regelungen bei der nuklearen Sicherung auf eine formell-gesetzliche Ebene. Das schafft Rechtsklarheit. Zudem verankern wir den in jahrzehntelanger Rechtsprechung anerkannten atomrechtlichen Funktionsvorbehalt der Exekutive. So vermeiden wir verfassungsrechtliche Bedenken, die sich nach sehr sorgfältiger Prüfung des In-Camera-Verfahrens ergeben haben. Das haben wir wirklich sehr intensiv und sorgfältig geprüft. Mit dem wäre gerade auch für Klägerinnen und Kläger nichts gewonnen.
Die große Herausforderung für die Zukunft ist die Entsorgung. Daher beraten wir heute auch das Erste Gesetz zur Änderung des Entsorgungsfondsgesetzes. Es soll der Anlagetätigkeit des Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geben. Gleichzeitig soll der Fonds so eine höhere Rendite durch seine Anlagetätigkeit und einen höheren Abdeckungsgrad hinsichtlich der künftigen Entsorgungskosten erzielen können. Außerdem schaffen wir die Möglichkeit, auch solche Aufwendungen zu finanzieren, die künftige Entsorgungskosten vermeiden oder erheblich reduzieren können.
Mit diesen Gesetzentwürfen gehen wir wichtige Schritte, die den Atomausstieg vollenden.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion.
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Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Es geht heute um mehrere Änderungen im Atomgesetz: zum einen um den Exekutivvorbehalt bei Genehmigungsentscheidungen, des Weiteren um die Höhe rechtmäßiger Entschädigungen aufgrund des von der Regierung Merkel II angezettelten Ausstieghickhacks und zuletzt um die Frage, ob legale Exporte nuklearer Brennstoffe aus Deutschland in das befreundete Ausland eine Gefährdung unserer Sicherheit darstellen.
Der Reihe nach: Das Siebzehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes führt einen Exekutivvorbehalt in juristischen Prozessen ein, der dazu führt, dass die Exekutive in Teilen judikative Aufgaben übernimmt – also ein Eingriff in die staatliche Gewaltenteilung. Das ist nach Auffassung der AfD-Fraktion ein schwerwiegender Eingriff in die Gewaltenteilung. Von daher war es folgerichtig, dazu eine namentliche Abstimmung zu verlangen, in der sich jeder Abgeordnete mit seiner Entscheidung vor den Bürgern rechtfertigt.
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Die AfD-Fraktion hat sich diese Entscheidung auch gar nicht leichtgemacht. Aber – und das sollte Sie eventuell beruhigen – die AfD-Fraktion hat Vertrauen in unsere Exekutive, dieses Gesetz nicht zu missbrauchen, und wird dieser Gesetzesvorlage zustimmen.
Gehen wir eins weiter, zum Achtzehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes, der neu verhandelten Summe zur Abbildung der rechtlichen Ansprüche der Kernkraftwerksbetreiber. Das hatten wir schon mit dem Sechzehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes in 2018, also vor drei Jahren. Damals habe ich hier an gleicher Stelle gesagt, dass Sie das schlampig geregelt haben. Und siehe da: Das Bundesverfassungsgericht gibt uns recht, und Sie müssen nachsitzen.
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Leider ist allerdings eine der Möglichkeiten, das zu regeln, nicht mehr vorhanden, nämlich – wir sagten es damals – die Kompensation durch Erhöhung der Reststrommengen für die Betreiber. Da die Kraftwerke entweder schon abgeschaltet sind oder bald abgeschaltet werden, bleibt keine Zeit mehr, die Gelder durch Verstromung abzugelten. Nun muss das Ganze zulasten der Steuerzahler aus staatlichen Mitteln beglichen werden. Aber Ihnen ist das wie immer egal: Es zahlt ja wie immer ein anderer.
Das Gleiche droht übrigens bei den Kohlekraftwerken. Dort haben Sie bereits einen Abgeltungsvertrag vereinbart. Und nun – Sie haben das heute beschlossen – ändern Sie im Nachgang noch die Grenzwerte für diese Kraftwerke mit entsprechenden Investitionsanforderungen an die Betreiber. Na, mal sehen, was die dazu sagen werden.
Zum Letzten: zum Gesetzentwurf der AfD. Unsere Gesetzesvorlage möchte die Frage, ob legale nukleare Brennstoffe aus Deutschland in zugelassenen Kernkraftwerken im befreundeten Ausland die Sicherheit Deutschlands gefährden, ein für alle Mal mit Nein beantworten. Das, was von den Grünen und den Linken immer als Gefahr dargestellt wird, trägt heute dazu bei, die Stromversorgung Deutschlands durch Import französischen Stromes aus Kernkraftwerken sicherzustellen.
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Denn jedes Mal, wenn Ihre Energiewendechampions Wind und Sonne ins Stottern geraten, dann springen französische Kernkraftwerke in die Bresche, um Deutschland und allen voran das grüne Baden-Württemberg vor dem Blackout zu bewahren.
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So sieht das Ergebnis der „dümmsten Energiepolitik der Welt“ aus, um hier noch einmal das „Wall Street Journal“ zu zitieren.
Fakt ist – ob Ihnen das gefällt oder nicht –: Global wird auf Kernenergie gesetzt. Nur Kernkraft ist in der Lage, zuverlässig, preiswert und für alle, denen das wichtig ist, CO2-armen Strom zu produzieren. Nur auf diese Art wird es möglich sein, den Herausforderungen durch eine Weltbevölkerung von 8 Milliarden und mehr Menschen gerecht zu werden. Nur zuverlässige Energie kann kontinuierlich synthetische Kraftstoffe mit Power-to-X herstellen. Nur preiswerte Energie in Massen kann genug Wasser entsalzen, um die Wüsten für die Bewältigung der Herausforderungen einer großen Weltbevölkerung zu begrünen. Kurzum: Nur Kernkraft erfüllt das Nachhaltigkeitsziel Nummer 7 der Vereinten Nationen von preiswerter, zuverlässiger und sauberer Energie.
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Die AfD fordert daher einen Wiedereinstieg in die Erforschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Der durch viele politische Fehlentscheidungen verlorene Boden in diesem Bereich muss wieder aufgeholt werden, damit Deutschland hier nicht den Anschluss verliert, auch um die Lebensgrundlagen kommender Generationen zu schützen.
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Ihre Politik erzeugt Mangel, Armut und Unterversorgung. Unsere Anträge hingegen stehen für eine Zukunft in Wohlstand und Fortschritt.
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Die Rede des Kollegen Karsten Möring für die Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll.
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Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute in 30 Minuten drei völlig unterschiedliche Fragen, die aber alle drei irgendwie mit dem Atomrecht im Zusammenhang stehen.
Mit der 17. AtG-Novelle diskutieren wir die Frage, wie atomrechtliche Genehmigungen gerichtlich überprüft werden können, ohne gleichzeitig sicherheitsrelevante Informationen der Öffentlichkeit preiszugeben. Diese Frage hat keine befriedigende Antwort. Wir als FDP-Fraktion haben aber eine gewisse Gewichtung gemacht. Wir haben gesagt: Uns ist es wichtig, dass das Gericht, das darüber entscheidet, ob der Antrag bzw. die Genehmigung rechtmäßig ist, alle notwendigen Informationen hat, auch wenn die Beteiligten nicht vollumfänglich über diese Informationen diskutieren dürfen. Dieser Antrag wurde im Wirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalen entwickelt und hat den Bundesrat überzeugt. Trotz aller Bedenken glauben wir, dass unser Antrag zu den richtigeren Ergebnissen führt. Deswegen werbe ich an dieser Stelle noch mal dafür, gegen den Regierungsentwurf und für unseren Antrag zu stimmen.
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Bei der 18. AtG-Novelle geht es im Wesentlichen um die Entschädigung für die Reststrommengen nach dem Atomausstieg von Rot-Grün. Dem Gesetz müssen wir zustimmen, nachdem das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass man nicht auf der einen Seite enteignen kann, ohne auf der anderen Seite verlässliche Entschädigungsverfahren vorzugeben. Wir haben hier 2,4 Milliarden Euro Zusatzausgaben, und genau das ist der Punkt, der eigentlich zu bemängeln ist, weil wir 2016 schon wussten, dass diese Entschädigung auf uns zukommt. Jeder Firmenchef würde seinen Finanzvorstand entlassen, wenn er 2,4 Milliarden Euro vergisst. Hier wird es in einer 30-Minuten-Debatte geschwind mal unter den Tisch gekehrt. Aber seien wir ehrlich: Die SPD hat ja auch größere Probleme als den Finanzminister.
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Es fehlt mir jetzt leider die Zeit, noch was zum Entsorgungsfonds zu sagen. Ich möchte aber einen einzigen Punkt ansprechen. Selbst wenn wir in der vorletzten Sitzungswoche sind: Die Würde dieses Hauses hängt auch von der Würde der Debatten ab. Auf der einen Seite schwierige rechtspolitische Fragen zu klären und auf der anderen Seite zu diskutieren, wie wir 2,4 Milliarden Euro Zusatzausgaben generieren oder wie wir eigentlich die Müllentsorgung am Ende finanzieren wollen: Das in eine 30-Minuten-Debatte reinzuquetschen, entspricht nicht der Bedeutung der Themen, und es entspricht nicht der Würde dieses Hauses. Dafür müssen wir in Zukunft bessere Lösungen finden.
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Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 17 Atomkraftwerke gab es zum Zeitpunkt des Atomausstiegs in Deutschland, heute laufen noch 6. Auch Jahre nach einem vollständigen Atomausstieg wird die Atomkraftnutzung ihren Tribut einfordern. Deutschlands Steuerzahler/-innen werden Milliarden Euro für Ewigkeitskosten zur sicheren Verwahrung des Atommülls ausgeben müssen. Von den Tausenden Tonnen hochradioaktiven Mülls in den derzeitigen Zwischenlagern werden Restrisiken ausgehen, bis es vielleicht 2056 ein sicheres Atommülllager gibt.
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Für Die Linke gilt: Die Öffentlichkeit muss immer über Sicherheitsmängel oder Verstöße bei Atomanlagen, auch bei Zwischenlagern, informiert werden.
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Die Öffentlichkeit muss auch das Recht haben, stets gegen Verstöße zu klagen.
Ja, es gibt das Risiko, dass Terroristen oder andere Verbrecher bekannte Sicherheitslücken für Anschläge nutzen. Für dieses Dilemma zwischen Informationsrechten der Bevölkerung und notwendiger Verschwiegenheit durch die Behörden soll die 17. Atomgesetznovelle Ihrer Meinung nach Rechtssicherheit schaffen, allerdings in einer Art und Weise, bei der die Einhaltung der Sicherheitsstandards weder für die Öffentlichkeit noch für die Gerichte noch für das Parlament überprüfbar ist. Das ist doch absurd!
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Wenn jetzt gestandene Juristen sowohl diesen Gesetzentwurf als auch die von den Grünen vorgeschlagene In-Camera-Lösung für verfassungsrechtlich bedenklich halten, muss man innehalten und neu anfangen. Gerichte müssen in der Lage sein, Entscheidungen der Behörden nachvollziehbar zu prüfen.
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Der Bundestag muss Entscheidungen der Behörden und der Regierung kontrollieren können.
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Sonst wächst das Misstrauen bei Bürgerinnen und Bürgern, und es gibt ein neues Desaster wie beim gescheiterten, untauglichen Atommülllager Gorleben. Das kann niemand verantworten.
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Es braucht Möglichkeiten, dass Gerichte Einsicht in alle Unterlagen nehmen.
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Es braucht die parlamentarische Kontrolle, so wie in einer Demokratie üblich.
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Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Unding ist, dass sich Vattenfall nach den Profiten aus dem Atomstrom jetzt über Schiedsgerichtsverfahren auch noch an der Abwicklung der Atomkraft hemmungslos bereichert. Der Energiechartavertrag, der dies ermöglicht, gehört gekündigt.
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Ich sage es klipp und klar: Wer heute erneut die Verlängerung von Atomkraft fordert, nimmt nicht nur die Gefahr einer weiteren Atomkatastrophe in Kauf, sondern schanzt den Konzernen weitere Profite zu und vergrößert die finanziellen, technischen und juristischen Probleme mit dem Atommüll.
Der Atomausstieg war und bleibt richtig. Die Linke will keine Atomkraft – nicht hier, nirgendwo.
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Wir fordern, endlich die Uranfabriken in Gronau und Lingen zu schließen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl das Wort.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Schwarzelühr-Sutter, ich werde mich bei diesen vielen Gesetzesvorhaben auf die 17. AtG-Novelle beschränken; denn das ist das einzige Gesetz, das wir ablehnen. Da haben Sie kein gutes Gesetz gemacht. Deshalb haben Sie außer mit der AfD auch keinen Konsens mit einer der anderen Oppositionsfraktionen gefunden, was sonst in diesem Bereich sehr oft der Fall war. Ich komme später noch mal darauf zurück.
Sie haben, um Situationen wie die nach dem Gerichtsurteil zum Zwischenlager Brunsbüttel, dem die Genehmigung entzogen wurde, zukünftig zu vermeiden, den Funktionsvorbehalt nun in einen Gesetzentwurf geschrieben, mit der Begründung, dass Gerichte schon ganz oft so entschieden hätten, als gäbe es diesen festgeschriebenen Funktionsvorbehalt. Da ist der große Fehler, den ich nach wie vor nicht verstehe. Denn es ist ein massiver Unterschied, ob Gerichte jeweils für sich situativ sagen: „Das kann ich nicht bewerten, ich enthalte mich einer Meinung; ich orientiere mich an der Behörde, die Behörde ist die Einzige, die das bewerten kann“, oder ob wir als Gesetzgeber in ein Gesetz schreiben: „Das Gericht muss sich darum nicht kümmern; die Behörde hat immer recht.“ Das geht in meinen Augen nicht. Deshalb können meine Fraktion und ich dem Gesetzentwurf zur 17. AtG-Novelle nicht zustimmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist heute meine letzte Rede in 16 Jahren Bundestag. Ich erlaube mir, mir die Zeit zu nehmen, kurz auf die Highlights und den Tiefpunkt in diesen 16 Jahren zu sprechen zu kommen.
Die Highlights waren die Gesetze, die wir im Parlament im Konsens erarbeitet haben; das war großartig. Ich durfte das zweimal erleben: Lex Asse und Standortauswahlgesetz. Ich will mich bei allen, die daran beteiligt waren – und das waren sehr viele – dafür bedanken, dass es bei aller Streitbarkeit, die ich ja auch habe, möglich ist, im Konsens gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, weil man sagt: Hier haben wir eine Materie, da muss ein Gesetz lange halten. Das darf nicht bei der nächsten oder übernächsten Bundestagswahl wieder scheitern. – Vielen Dank, dass das möglich war.
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Jetzt komme ich zum Tiefpunkt, und der Tiefpunkt sind Sie von der AfD. Ich habe ja in meinen 16 Jahren keinen Ordnungsruf bekommen. Vielleicht handle ich mir den jetzt noch ein.
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Die Art Ihrer Debatte kann ich ganz exemplarisch in wenigen Begriffen darstellen, und zwar damit, wie Sie uns bezeichnen. Sie bezeichnen uns als Ökostalinisten, Sie stellen uns in die Nähe von Ökoterroristen, Sie nennen uns die Umweltzerstörungspartei, und Sie verwenden noch viele andere Begriffe.
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Ich weiß, dass Sie verzweifelt danach suchen, wie Sie das noch toppen können. Ich sage Ihnen: Das hat nicht mal Witz. Keinem Kabarettisten würde das einfallen. Aber da es von Nazis kommt, adelt es uns.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es stehen hier mehrere Gesetzentwürfe zur Abstimmung; sie sind schon genannt worden. Ich möchte mich jetzt auf die 17. AtG-Novelle konzentrieren. Zur 18. Novelle hat Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter ja schon etwas ausgeführt.
Mir ist es wichtig, zu erklären, warum wir als Koalitionsfraktionen die Einführung eines In-Camera-Verfahrens im Hauptsacheverfahren im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben und warum wir dies in dieser Gesetzesnovelle nicht tun. Dies ist auf die Erarbeitung dieser Novelle zurückzuführen, die sich mit „sehr viel Diskussionen“ umschreiben lässt. Es ging dabei um das Dilemma – um gleich zum Punkt zu kommen –, dass man einerseits zwar die Notwendigkeit einer gerichtlichen Überprüfung für eine behördliche Entscheidung erkennt, man andererseits aber aufgrund von Geheimhaltungsbedürftigkeiten, die im Zusammenhang mit Terrorabwehrgefahren stehen, konstatieren muss, dass nicht alles offengelegt werden kann, eine Überprüfung vonseiten eines Gerichtes im Rahmen eines solchen In-Camera-Verfahrens aber ermöglicht würde.
Ein solches In-Camera-Verfahren hat aber den Nachteil, dass die Klägerseite nicht daran beteiligt ist und es sich für sie nicht erschließt, was vom Gericht überprüft wurde. Dadurch entsteht eine Schieflage im Hauptsacheverfahren, weil die Klägerseite hinterher nicht nachvollziehen kann, aus welchen Tatsachengrundlagen heraus eine Entscheidung durch das Gericht getroffen wurde. Man kann es auch, um es in meine Worte zu fassen, als eine Art geschwärztes Urteil bezeichnen, was dann aus einem solchen Prozess herauskommt.
Es ist auch grundgesetzlich nicht unkritisch, wenn man einen solchen Hergang gesetzlich kodifiziert. Denn sowohl der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 103 Grundgesetz als auch der effektive Rechtsschutz nach Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz sind klare Vorgaben, wie gerichtliche Verfahren und Rechtsschutz auszugestalten sind. Es muss für die Klägerseite nachvollziehbar sein, aus welchen Gründen man von einem Gericht wie behandelt wird. Das ist insofern ein ganz elementarer Grund, als dass wir Willkür durch gerichtliche Entscheidungen und Willkür durch die Staatsgewalt, die dahintersteht, schon im Ansatz nicht wollen.
Dann ist angemerkt worden, dass wir so etwas sehr wohl schon eingeführt haben. Zum Beispiel ist in § 138 Telekommunikationsgesetz das Instrument des In-Camera-Verfahrens zu finden. Nur möchte ich zu bedenken geben – das haben wir sauber reflektiert –: Hier stehen sich in den Verfahren, um die es da geht, meist zwei Private – meist sind es Unternehmen – gegenüber. Unter den Umständen ist die staatliche Seite mit Geheimhaltungsfragen befasst, weil hier zum Beispiel Geheimhaltungsbedürfnisse aufseiten der Unternehmen existieren. In dem Fall handelt es sich um das Verhältnis Privat – Privat, und der Staat muss das beurteilen. Hier allerdings geht es um das Verhältnis Staat – Privat. Wenn hier eine Entscheidung des Gerichts nicht überprüfbar ist, dann kann das kritisch sein. Da wir diese Schieflage nicht auflösen konnten, haben wir uns gegen ein In-Camera-Verfahren entschieden.
Wir hatten auch überlegt, ob es noch einen dritten Weg gibt, einen Zwischenweg, dass man sagt: Vielleicht hat das Gericht die Möglichkeit einer Zurückweisung an die Behörde, und dann kann in diesem Zuge ein In-Camera-Verfahren eingeleitet werden. – Aber dann hat man immer noch das Problem, dass letztendlich ein Wissen beim Gericht entsteht, das dann so an die Klägerseite nicht weitergegeben werden kann. Kurzum: Wir haben uns auf diesem Weg durchaus mit schwerem Herzen gegen das In-Camera-Verfahren entschieden, weil wir aus den genannten Gründen da tatsächlich eine überproportionale Schieflage bekommen hätten.
Ich habe dies deswegen mit so vielen Worten ausgeführt, weil es uns in der Tat natürlich auch darum gegangen ist, Mittel und Wege zu finden, dass Rechtsschutz tatsächlich ernst genommen wird, dass Überprüfbarkeit tatsächlich ernst genommen wird. Aber dies darf auch nicht zulasten anderer Rechtsgüter gehen. In diesem Sinne fällt die Entscheidung unsererseits so aus. Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung insofern in der vorliegenden Form zu und bitten um Zustimmung.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute zeigt die FDP mal wieder ihr wahres Gesicht. Mit dem Gesetzentwurf wird klar, wem Sie sich verpflichtet fühlen: Das sind nicht die täglich hart arbeitenden Menschen in unserem Lande, die wahren Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, nein, es sind die Vermögenden, für die die FDP Politik macht. Hinter Ihrer gelben Fassade verbirgt sich letztlich nur eine Klientelpartei. Nennen Sie sich doch einfach um in „Die Reichenpartei“.
Wissen Sie: Wir brauche keine Politik, die nur denen hilft, die bereits reich sind. Wir brauchen eine Politik, die dafür sorgt, dass vom Wohlstand alle profitieren, eine Politik, die die Lasten fair verteilt,
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auch die der Coronapandemie. Das ist sozialdemokratische Politik.
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Doch statt gemeinsam diese Krise zu bewältigen, treibt die FDP die gesellschaftliche Spaltung voran, die Spaltung zwischen denjenigen, die haben und gut durch die Krise gekommen sind, und denjenigen, die vor dem Aus standen und für die wir viel Steuergeld bereitgestellt haben, um durch die Krise zu kommen.
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Es gibt unzählige Gründe, die für eine Vermögensteuer sprechen, nicht nur, dass sie helfen würde, die Lasten der Coronapandemie gerechter zu verteilen; wir brauchen eine Vermögensteuer auch für Investitionen in unsere Bildung, in die ökologische Transformation der Wirtschaft und in unsere Infrastruktur. Als Ländersteuer ist die Vermögensteuer dafür bestens geeignet.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag schreiben Sie: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vermögensteuer 1996 für verfassungswidrig erklärt. – Das stimmt so aber nicht. Eine Vermögensteuer ist in unserem Grundgesetz sogar explizit vorgesehen. Es liegt viel näher, einen Vorstoß gegen unsere Verfassung darin zu sehen, dass wir seit 1996 keine Vermögensteuer mehr erheben.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Reform der Vermögensteuer gefordert; eine Reform, die eine Gleichbehandlung der unterschiedlichen Vermögen sicherstellt. Doch statt die Begründung des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen, torpedieren Sie die Steuer mit allen Mitteln. Dabei negieren Sie sogar Ihre eigenen Anhänger. Eine Umfrage von Infratest dimap besagt, dass selbst die FDP-Anhänger mehrheitlich für die Einführung einer Vermögensteuer sind. Auch sie wollen eine Vermögensteuer für Zukunftsinvestitionen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Woche haben Leaks in den USA noch mal gezeigt, welch wichtige Lücke eine Vermögensteuer schließen kann und muss. Während für Lohn arbeitende Menschen mit ihrer Einkommensteuer zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen, tricksen sich die Superreichen aus der Verantwortung. Wer so viel Vermögen hat, hat unglaublich viele Möglichkeiten, Verluste vorzutäuschen und die Steuer kleinzurechnen. Eine Vermögensteuer ist genau hier ein Gegenmittel für diese Trickserei bei den Einkommen der Superreichen. Allein dafür brauchen wir diese Steuer.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge der FDP sind – bei allem Respekt – Schaufensteranträge.
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Sie sollen nur für die eigene Galerie wirken. Ob das gelingt, wage ich zu bezweifeln. Der Deutsche Bundestag ist jedenfalls nicht der Parteitag der FDP, und das wissen Sie auch selbst.
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Ein kurzes Wort zur Sache. Ich könnte für den Gesetzentwurf der FDP, zumindest auf den ersten Blick, durchaus Sympathien entwickeln. Vielleicht verfolgen Sie ein richtiges Ziel. Aber vielleicht bekommen Sie am Ende das, was Sie genau nicht möchten. Warum? Wenn der Bund das Vermögensteuergesetz tatsächlich formal aufheben sollte, besteht die Gefahr, dass sich die Einführung von ganz verschiedenen Vermögensteuerformaten in den Ländern etabliert, und das ist das krasse Gegenteil von dem, was Sie wollen.
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Ein Wort zu denen, die die Vermögensteuer einführen wollen. Wer eine Vermögensteuer erheben will, muss wissen, dass die übrigens sehr unterschiedlich ausfallenden Einnahmen dann in die Länderhaushalte fließen und in den Bundeshaushalt davon nichts. Und zu glauben, dass die Länder dem Bund das Geld zurückgeben, das ist angesichts der letzten Jahre, glaube ich, völlig unrealistisch.
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Meine Damen und Herren, meine Arbeitsgruppe hat mir ihre gesamte Redezeit für meine letzte Rede als Abgeordneter geschenkt. Ich möchte zu Beginn Danke sagen: meiner Bundeskanzlerin, die mich in drei Kabinette berufen hat, meiner Fraktion, die mich auch in schwerer Bedrängnis getragen und gestützt hat, meinem, genauer gesagt: meinen Koalitionspartnern, mit denen ich – jedenfalls ganz überwiegend – gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, meiner Arbeitsgruppe Finanzen, die mich als Seiteneinsteiger und Ex-Minister so freundlich und unkompliziert angenommen hat, bei der Opposition, die mich natürlich in vielen Jahren meiner Zeit als Minister kritisiert hat, mit der ich aber harte und gute Debatten mit gegenseitiger Wertschätzung hatte – von Ausnahmen abgesehen –, und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich bei meiner Arbeit so hervorragend unterstützen.
Nun erlauben Sie mir aber noch zwei grundsätzliche Bemerkungen:
Erstens. Ich möchte ein werbendes Wort zur Rolle unserer Volksparteien sagen. Volksparteien sind nach meiner Auffassung ein gefährdeter, aber kostbarer Schatz unserer Demokratie. Was ist eine Volkspartei?
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Eine Volkspartei ist nicht einfach eine Partei, die viele Stimmen bekommt. Zugleich verliert eine Partei, die wenige Stimmen bekommt, nicht automatisch den Charakter einer Volkspartei. Eine Volkspartei ist für mich eine Partei, die sich aus ihrer Sicht und ihrer Perspektive um das Wohl der ganz großen Mehrheit der Bevölkerung kümmert, um das Gemeinwohl.
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Sie wird nicht dadurch stark, dass sie möglichst viele Stimmen von Menschen mit den gleichen Interessen einsammelt. Ein oder zwei Themen zu haben, die sich nur an ein Wählerspektrum wenden oder mehrere nebeneinander, reicht nicht aus, um Volkspartei zu sein, sondern eine Volkspartei bündelt und verbindet unterschiedliche Meinungen und bringt diese zum Ausgleich, sodass sie in ihrer Verbindung ein gutes Ganzes ergeben. Das bedeutet, Kompromisse einzugehen schon bei der parteiinternen Willensbildung, einen Ausgleich zu schaffen zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Ost und West, Nord und Süd, Gesund und Krank, von Angesicht zu Angesicht und digital, von nationalen Interessen und internationalen Verpflichtungen, von kurzfristigen Vorteilen und langfristigen Nachteilen und dies in praktische Politik umsetzen zu wollen.
Das ist verdammt mühsam. Das klingt altmodisch und nicht spektakulär. Das stellt naturgemäß niemanden vollständig zufrieden. Das betont die Sache und nicht allein die Inszenierung. Aber das verbindet unterschiedliche Charaktere von Menschen, das stärkt den Zusammenhalt der Gesellschaft, und das ermöglicht lange Linien der Politik, Kontinuität und Führung, auch gegen kurzfristige Stimmungen. Gutes Regieren und gute Opposition im Interesse unseres Landes braucht gute und miteinander ringende Volksparteien.
Volksparteien sind für mich die Hauptträger der repräsentativen Demokratie. Ich weiß natürlich, dass Volksparteien viel tun müssen, um diese Rolle zu erhalten, zu gewinnen oder wiederzugewinnen. Vertrauen gewinnt man zuerst dadurch, dass man gut und glaubwürdig ist. Und dennoch: Ich finde, dass man Volksparteien nicht schlechtreden sollte. Viele finden NGOs, also Nichtregierungsorganisationen, oder Bewegungen oder die direkte Partizipation mit Bürgerwerten besser, moderner, agiler als die Volksparteien. Ich finde das nicht.
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Natürlich sehe ich ihre Bedeutung und auch ihre Berechtigung. Die Betonung eines Themas, eine Wächterfunktion, eine öffentliche Mobilisierung ist notwendig und hat seinen Platz. Aber nur mit NGOs und nur mit Bewegungen lässt sich kein guter Staat machen. Gut regieren geht anders.
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Mich stört auch manche Attitüde der moralischen Selbstermächtigung von NGOs. Zum Teil sind sogar ehemalige Minister, Staatssekretäre oder Parteipolitiker an ihrer Spitze, die dann in NGOs so tun, als seien sie plötzlich die Zivilgesellschaft. Ich höre oft eine Überheblichkeit gegenüber denjenigen heraus, die in den Mühen der Ebene an echten Kompromissen und nicht nur ideellen Wunschbildern für die Menschen ackern.
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Und die Transparenz bei den Finanzen, bei der Meinungsbildung und die Legitimation sind bei uns Volksparteien in der Regel größer als bei vielen NGOs.
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– Von Fehlern abgesehen. – Bedenken habe ich erst recht beim Führungsanspruch von sogenannten Bewegungen. Bewegungen sind stark im Auftritt, aber schwach in der Bindung über die Bewegung hinaus. Mobilisierung ist aber nicht alles. Aktivisten bekommen hier ein zu großes Gewicht. Bewegungen hängen zu stark an charismatischen Einzelpersonen.
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Das ist schlecht für die Nachhaltigkeit. Bewegungen müssten auch viel kritischere Nachfragen an ihre Selbstorganisationsprinzipien und Finanzierungsstrukturen zulassen als die Volksparteien.
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Nachhaltigkeit, meine Damen und Herren, braucht verlässliche und verantwortliche Institutionen, um etwas umzusetzen: Regierung und Parlament. Also: Verbessern wir die Volksparteien, aber machen wir sie nicht lächerlich oder schwach! Der Schaden für unsere repräsentative Demokratie wäre auf Dauer erheblich. Wir brauchen starke Volksparteien, und zwar mehrere.
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Meine zweite kürzere Bemerkung möchte ich zu diesem Parlament, zu diesem Bundestag machen. Ich habe gegen manches Vorurteil in diesem Bundestag weit überwiegend fleißige und sachkundige Parlamentarier erlebt, manchmal sogar bei den Linken und ganz manchmal sogar in der AfD, trotz aller offenkundigen Verfassungsferne.
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Ich erlebe viel Arroganz und Unkenntnis gegenüber unserer Arbeit im Bundestag von Menschen, die ihrerseits nicht bereit sind, sich den Mühen der Ebene eines Abgeordnetenalltags zu unterziehen und tagaus, tagein so unterschiedlichen Menschen zu begegnen, wie wir das gerne tun. Diese offen und unterschwellig vorgetragene, zum Teil sogar mitleidig gemeinte und überhebliche Haltung gegenüber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und ihrer herausragend wichtigen und großartigen Arbeit ärgert mich schon lange. Ich finde eine solche Haltung zutiefst ungerecht und selbstgerecht.
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Natürlich verfolgen wir als Abgeordnete parteipolitische Interessen. Dafür findet eine Wahl ja auch statt, und wir kandidieren für eine Partei. Aber diese Interessen müssen sich im parlamentarischen Verfahren verbinden mit sachlich guten und nachhaltigen Lösungen, die dann natürlich ihrerseits umstritten sind. Ich nenne das Demokratie.
Ich habe Ausschussarbeit und Plenardebatten erlebt, die Sternstunden parlamentarischer Arbeit waren: hervorragende Verhandlungen, glänzende Reden, überzeugendes Auftreten, genauso natürlich wie manche Fehlleistungen persönlicher oder politischer Art. Der Deutsche Bundestag ist jedenfalls das Hohe Haus der Demokratie. „Hoch“ nicht im Sinne von Überheblichkeit! Wir sind hier nichts Abgehobenes, aber schon etwas Besonderes, mit einer besonderen Verantwortung. Im Deutschen Bundestag entscheidet sich der Primat der Politik. Wer nicht will, dass einzelne Unternehmen, dass das Internet, Bewegungen oder sonstige Institutionen die Welt beherrschen, sondern wer will, dass die Politik das letzte Wort zur Ordnung der weltlichen Dinge hat, der muss die Abgeordneten des Deutschen Bundestages achten und ihnen etwas zutrauen, ihnen allerdings auch vertrauen können.
Erweisen Sie sich auch in Zukunft der Bezeichnung als Mitglied dieses Hohen Hauses würdig: mit einem Adlerblick, einer hohen Perspektive auf die Dinge, mit einem hohen Anspruch an die Qualität der eigenen Arbeit, mit einem hohen Anspruch an die demokratische Würde vom Parlament, mit einem hohen Maß an Demut vor der Größe der Aufgaben und der Begrenztheit des Mandats und mit hohem Respekt vor der Freiheit und der Leistungskraft der Menschen in unserem Land. Wenn alle Abgeordneten als Mitglieder eines in diesem Sinne Hohen Hauses der Demokratie für das Wohl unseres Landes in europäischer und internationaler Verantwortung ringen und entscheiden, dann sehe ich wohlgemut in die Zukunft. Ich bin dankbar und stolz, diesem Hohen Haus der Demokratie angehört zu haben.
Ich verabschiede mich von diesem Pult und wünsche alles Gute.
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Sehr geehrter Thomas de Maizière, ich möchte mich bei Ihnen im Namen des ganzen Hauses – Sie sehen es – von ganzem Herzen bedanken für viele Jahre Beitrag zu unserer Demokratie, den Sie auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichsten Funktionen geleistet haben. Dass Sie ein leidenschaftlicher streitbarer Demokrat sind, haben Sie uns gerade noch einmal kundgetan.
Ich danke Ihnen für Ihre Haltungen, die Sie durchaus konsequent vertreten haben und vertreten, für den Respekt Andersdenkenden gegenüber. Ich danke Ihnen – jetzt wird es persönlicher – für die Geduld und die Neugier, die Sie gezeigt haben, Geduld mit und Neugier auf grüne Frauen in so manchen Verhandlungen. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich danke Ihnen für Ihre Streitbarkeit und für Ihren streitbaren Geist. Das ist Grundnahrungsmittel in unserer Demokratie. Ihre Rede jetzt hat ja dazu eingeladen, gleich wieder in eine streitbare Auseinandersetzung zu gehen.
Ich bin mir sehr sicher, dass Sie auch ein Vertreter für eine politische Kultur im streitbaren Umgang miteinander waren. Auch dafür herzlichen Dank.
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Und ich bin mir sehr sicher, Herr de Maizière: Irgendwann und irgendwo und irgendwie wird diese Debatte, wird dieser streitbare Dialog fortgesetzt werden. Ich weiß, das gefällt Ihnen gut, macht Ihnen Spaß, und das ist ein Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie. Vielen herzlichen Dank, und Ihnen eine wirklich gute Zeit!
({1})
Wir sind am Ende einer namentlichen Abstimmung. Ich frage: Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, der oder die die Stimme nicht abgegeben hat?
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– Ja, dann wird es aber Zeit. Schnell!
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– Nee, muss er gar nicht, Herr Brandner; das wissen Sie. Wir haben eine halbe Stunde Zeit gehabt zum Abstimmen. – Der Kollege darf noch abstimmen. Geben Sie mir danach bitte ein Zeichen. – Gut. Es ist also kein Kollege oder keine Kollegin mehr im Haus, der oder die noch nicht abgestimmt hat. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen wie immer zeitnah bekannt gegeben.
Jetzt kommt der nächste Redner. Das ist der Redner für die FDP-Fraktion, Christian Dürr.
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Ganz herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe leider keine zehn Minuten Redezeit, aber zwei Sätze darf ich schon zu Ihnen sagen. Herr Dr. de Maizière, ich bin Ihnen ausdrücklich dankbar für die gerade gefundenen Worte zur parlamentarischen Demokratie und zur Parteiendemokratie in Deutschland und will mich dem Dank der Frau Präsidentin anschließen. Als ich neu in den Bundestag einzog, waren Gespräche zum Thema Migrationspolitik zu führen – das will ich in der Sache nicht weiter vertiefen –, die gemeinsam mit der amtierenden Frau Präsidentin und Ihnen, Herr Dr. de Maizière, stattgefunden haben. Aus diesen Gesprächen habe ich gelernt, dass Sie nicht nur ein streitbarer Parlamentarier sind, sondern auch jemand, der im menschlichen Umgang stets korrekt war. Dafür will ich mich im Namen des ganzen Hauses sehr herzlich bedanken, lieber Herr Dr. de Maizière.
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2021 steht wieder eine Bundestagswahl ins Haus. Auch da sind Entscheidungen zu treffen, und jetzt will ich zum Thema Vermögensteuer sprechen. Die Ausgangslage ist vergleichsweise klar – Frau Kiziltepe hat das eben für die SPD noch mal deutlich gemacht –: Sozialdemokraten, Grüne und Linke wollen die Wiedererhebung der Vermögensteuer in Deutschland. Es wird ja immer das Märchen erzählt, es gehe um Bargeld in irgendeinem Tresor. Tatsache ist, meine Damen und Herren: Wir reden von investiertem Vermögen in den deutschen Familienbetrieben.
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Die wollen Sie in Wahrheit treffen; denn dagegen richtet sich die Vermögensteuer. Das müssen die Menschen vor der Bundestagswahl 2021 wissen.
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Ich habe gerade einen Call mit Nordmetall gehabt, mit einer Kollegin aus Ihren eigenen Reihen. Da wurde das Hohelied auf den Mittelstand gesungen und gesagt: Die mittelständischen Unternehmen, der deutsche Mittelstand muss doch gerade nach der Krise entlastet werden. Nachdem die Hilfen erst nicht angekommen sind, muss wenigstens jetzt vernünftig mit dem Mittelstand umgegangen werden. Nachdem die Hilfen erst über viele Monate nicht ankamen, kommt jetzt aber die Androhung einer neuen Substanzbesteuerung, meine Damen und Herren. Sie fallen dem deutschen Mittelstand in den Rücken mit dem, was Sie im Bundestagswahlkampf fordern, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Dabei ist die Vermögensteuer extrem bürokratisch. Das war sie damals schon, als sie bis in die Mitte der 90er-Jahre erhoben worden ist. Der Erhebungsaufwand ist bisweilen höher als die Einnahmen selber. Das zeigt doch: Es geht in Wahrheit nicht darum, Einnahmen für den Staat zu generieren. Es geht in Wahrheit nicht darum, irgendeine Art der Gerechtigkeit herzustellen. Nein, die Vermögensteuer ist ein politisches Kampfinstrument auf dem Rücken der Mittelständlerinnen und Mittelständler, das Sie hier im Bundestagwahlkampf nutzen. Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Das muss verhindert werden am 26. September.
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Nebenbei gesagt: Die Vermögensteuer – ich wende mich mal in Richtung der Kollegen der Linken – ist ja so kompliziert, dass Ihre Parteivorsitzende bei „Markus Lanz“ nicht einmal in der Lage war, zu erklären, was Ihre Partei zum Thema Vermögensbesteuerung eigentlich fordert, meine Damen und Herren. Der Auftritt – ich empfehle ihn jedem – müsste Ihnen doch eine Lehre sein, weil er zeigt, dass die Erhebung der Vermögensteuer großer Quatsch ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Nein, das Ziel muss sein, dass wir etwas für den Vermögensaufbau tun. Deswegen haben wir dazu sehr konkrete Vorschläge im Rahmen eines Entschließungsantrages gemacht. Wir müssen doch gerade den Menschen, die bisher noch ein kleines Vermögen haben, zu einem größeren Vermögen verhelfen, statt immer nur darüber zu diskutieren, wie man bestehende Vermögen verkleinert. Das muss das Ziel der Politik in Deutschland sein.
Hinzu kommt: Das Gesamtsteueraufkommen wird mit der Erhebung einer Vermögensteuer sinken, meine Damen und Herren. Ich sage das in Richtung der Kollegen der SPD; denn das ist nicht meine Behauptung, sondern das Ergebnis eines Gutachtens, das das bis 2017 SPD-geführte Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben hat. Ich zitiere:
Das Gesamtsteueraufkommen des Staates fällt infolge der Einführung einer Vermögensteuer langfristig geringer aus als ohne Vermögensteuer. … Die langfristigen Folgen sind ein deutlich geringeres Investitions-, Produktions- und Beschäftigungsniveau, als dies ohne Vermögensteuer der Fall wäre.
Die klare Botschaft lautet, meine Damen und Herren: Sie richtet sich nicht nur gegen den Mittelstand – das habe ich jetzt mehrfach wiederholt –, sondern in Wahrheit richtet sich diese Steuer gegen die Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. Das ist die Politik der Sozialdemokratie im Wahlkampf. Das kann kein Rezept für ein erfolgreiches Deutschland sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Christian Dürr. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 100 Milliarden Euro – um 100 Milliarden Euro sind die Vermögen der 136 Vermögensmilliardäre in Deutschland im vergangenen Jahr angestiegen. Die Wirtschaftsleistung – das muss man sich wirklich mal zu Gemüte führen – ist um 170 Milliarden Euro zurückgegangen. Zehntausende Minijobber und Leiharbeiter haben ihre Arbeit verloren. Millionen mussten durch Kurzarbeit Lohneinbußen in Kauf nehmen. Aber die Zahl der Superreichen ist größer geworden, und sie sind noch reicher geworden. Eine hohe einmalige Vermögensabgabe und eine dauerhafte Vermögensbesteuerung sind deshalb geeignet, Krisengewinne für den sozialen Ausgleich zu mobilisieren.
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Natürlich hat niemand etwas dagegen, dass jemand wohlhabend ist; Herr Dürr, das ist doch, bitte schön, blöder Quatsch.
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Aber wenn die ärmere Hälfte der Bevölkerung gar kein Nettovermögen besitzt und wenn die 10 Prozent der Reichsten über zwei Drittel des Gesamtvermögens verfügen, dann stimmt da politisch etwas nicht.
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Wer da politisch nichts unternimmt, hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts am Hut.
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Diese enorme Konzentration von Reichtum ist auch wirtschaftspolitisch falsch und gefährlich. Extreme Vermögen führen zu Spekulationsblasen am Finanzmarkt und zu Mietenexplosionen am Wohnungsmarkt. Auch das muss verhindert werden.
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Und es geht nicht darum, von irgendwelchen Mittelständlern Geld einzunehmen; das ist doch eine absurde Behauptung. Ich bitte Sie: Lidl oder BMW kann man gerne als Familienunternehmen bezeichnen; aber mit Mittelstand im klassischen Sinne hat das nichts zu tun, und das wissen Sie auch, Herr Dürr.
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Ohne erhebliche zusätzliche Staatseinnahmen wird es keine Lösung der Klimakrise geben. Um Deutschland, wie erforderlich, bis 2035 oder wenigstens, wie jetzt die Bundesregierung überlegt, bis in die 2040er-Jahre klimaneutral zu machen, ist eine sozial-ökologische Investitionsoffensive in erheblichem Ausmaß notwendig. Und diese Investitionen müssen, weil es dafür noch keine ausreichend funktionierenden Märkte gibt, überwiegend vom Staat kommen oder zumindest von ihm gefördert werden. Das geht aber nur mit erheblich höheren Einnahmen.
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Liebe Union, liebe FDP, Sie wollen die Reichen nicht belasten, Sie wollen die Aufnahme von Krediten für Zukunftsinvestitionen verhindern, und das vor dem Hintergrund von durch die Pandemie und die Krise gesunkener Staats- und Steuereinnahmen. Sagen Sie doch einfach, dass Sie die Klimakrise gar nicht bekämpfen wollen! Sagen Sie doch einfach, dass Sie die Armut so belassen wollen, wie sie jetzt ist! Dann wären Sie ehrlich vor der Wahl. Aber so weit wollen Sie dann doch nicht gehen.
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Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Stefan Schmidt.
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Ich grüße Sie, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kaum hat der Wahlkampf angefangen, kramt die FDP einen typischen Schaufensterantrag aus der Schublade; Herr de Maizière, Sie haben es richtig festgestellt. Es ist zynisch, dass Sie mitten in der Krise einen geeigneten Zeitpunkt für astreine Klientelpolitik sehen. Und statt echter Verteilungsgerechtigkeit setzen die noch immer Neoliberalen weiter auf Steuergeschenke für Superreiche.
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Die Vermögen in Deutschland sind bereits extrem ungleich verteilt. Es kümmert die FDP aber nicht, dass das reichste Prozent der Bevölkerung über rund ein Drittel des Vermögens in diesem Land verfügt. Die FDP schert sich auch nicht darum, dass die ärmere Hälfte der Menschen in diesem Land nur rund 1 Prozent der privaten Nettovermögen besitzt. Es ist interessiert die FDP auch nicht, dass die Pandemie mit ihren Folgen die Reichen noch reicher und die Ärmeren noch ärmer gemacht hat. Wenn Sie jetzt fordern, die Vermögensteuer abzuschaffen, die übrigens seit 1997 ohnehin nicht erhoben wird, zeigen Sie Ihre eiskalte Schulter. Sie haben absolut keine Ahnung von den Sorgen und den Nöten vieler Menschen in diesem Land. Ihre Definition von Mittelstand hat doch mit der echten Mitte der Gesellschaft nichts gemeinsam.
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Ich erkläre Ihnen das gern in Ihrer eigenen Bildsprache. Ihr Generalsekretär Volker Wissing, immerhin ehemaliger Landwirtschaftsminister, hat zur Vermögensbesteuerung die alte und immer noch schiefe Analogie von den Bürgern als Melkkuh herausgekramt und gesagt, man müsse Kühe melken und dürfe sie nicht schlachten. Ich komme vom Land, und ich kann Ihnen versichern: Man sollte nur die Kuh melken, die auch Milch gibt. Wer mit Krawatte oder mit Kostüm in den Stall geht und Kuh und Stier nicht auseinanderhalten kann, der sollte besser die Finger von der Melkmaschine lassen.
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Und schlimmer noch: Mit Ihnen landet die Verteilungsgerechtigkeit in dieser Gesellschaft auf der Schlachtbank. Denn Wahlgeschenke für Wohlhabende müssen auch irgendwie finanziert werden, und das passiert bei Ihnen über eine Verteilung von unten nach oben und zulasten künftiger Generationen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen!
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Eine Vermögensteuer ist keine ideologische Frage, sondern eine Frage von Vernunft und Gerechtigkeit.
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Es ist vernünftig und gerecht, wenn wir Grüne Multimillionäre stärker zur Verantwortung und zur Finanzierung des Bildungswesens heranziehen wollen. Es ist vernünftig und gerecht, wenn Superreiche zu besserer Bildung und damit zu besseren Lebenschancen für alle beitragen; denn der soziale Aufstieg darf nicht weiterhin vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
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Für uns Grüne steht deshalb fest: Statt einseitiger Klientelpolitik und Steuergeschenken für Superreiche braucht es endlich echte Chancen und Verteilungsgerechtigkeit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Der letzte Redner in dieser lebendigen Debatte: für die SPD-Fraktion Bernhard Daldrup.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Dr. de Maizière, auch ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen bedanken für Ihre langjährige Arbeit in der Regierung und im Parlament. Ich teile Ihre Bemerkungen zu den Volksparteien ausdrücklich. Herzlichen Dank dafür, und Ihnen alles Gute!
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Drei Minuten Redezeit sind nicht viel, aber es gibt Anträge, für die das reicht. Die FDP-Anträge gehören meistens dazu; sie sind nämlich politisch sehr durchschaubar.
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Sie wollen mit der Vermögensteuer, die seit 25 Jahren nicht mehr erhoben wird, Besorgnisse bei Ihrer Klientel, bei den Besserverdienenden, schüren, die zwar nicht begründet, aber wahlkampftauglich sind.
Ich habe es vorhin schon gehört, will es aber noch einmal bekräftigen: Wir entlasten zum Beispiel eine vierköpfige Familie in der Mitte der Gesellschaft mit einem zu versteuernden Einkommen von bis zu 150 000 Euro vollständig und bis zu einem Einkommen von 211 000 Euro weitgehend vom Soli – das sind Entlastungen in einem Volumen von 10 Milliarden Euro –, während sich die FDP schützend vor Millionäre und Milliardäre stellt. Das ist der Unterschied.
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Wir fordern in dieser Situation zeitlich befristet Solidarität von den Besserverdienenden, während die FDP den Schutz der Vermögenden vor Solidarität will. Das wollen wir nicht. Sie klatschen den Leistungsträgern Beifall in der Coronakrise, von der Kassiererin bis zum Pfleger, aber wenn es um die angemessene Entlohnung geht, ja, dann sind Sie nicht mehr dabei.
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Für uns ist die Vermögensteuer nicht zu den Akten gelegt. Es wäre auch nicht schlimm, wenn das Aufkommen die Länder bekämen; dann müssen wir ihnen nicht auf andere Art und Weise helfen, Herr Dr. de Maizière. Aber wenn Verheiratete bei einem Freibetrag von 4 Millionen Euro ein darüber hinausgehendes Vermögen haben, ist ein moderater Steuersatz von 1 bis 2 Prozent weder unsozial noch eine Leistungsbremse.
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Merken Sie sich: Der Reichtum einer Gesellschaft liegt nicht im Vermögen weniger, sondern in der materiellen Leistungsanerkennung für alle. Das ist der Unterschied. Deswegen lehnen wir Ihre Anträge ab.
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Wir sollten uns in dieser Zeit mehr darum kümmern, wie angesichts der Coronakrise die Beteiligung der großen Digitalkonzerne an der Finanzierung des Gemeinwesens durchgesetzt werden kann, statt zuzusehen, wie sie sich dem durch internationale Steuergestaltung entziehen. Es ist keine Übertreibung, wenn die Presse zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer Steuerrevolution spricht, die auch international maßgeblich mit Olaf Scholz verbunden ist;
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immerhin haben sich die Finanzminister der G-7-Länder auf eine Neuordnung der Besteuerung internationaler Konzerne geeinigt. Das ist wirklich wichtig für die Zukunftssicherung der Finanzierung unseres Staates. Apple, Facebook und Google werden sich ihrer Steuerpflicht künftig nicht mehr dadurch entziehen können, dass sie ihre Gewinne in Niedrigsteuerländer verschieben. Wir werden in Europa einen größeren Steueranteil von den Internetgiganten erhalten. Dies hat Olaf Scholz mit seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire durchgesetzt. Künftig sollen Konzerne einen Steuersatz von mindestens 15 Prozent zahlen. Das ist eine Perspektive, die auch Deutschland auf die Gewinnerseite bringen wird.
Kommen Sie zum Ende.
Wir begegnen dem Steuerdumpingwettbewerb entschlossen, und das ist gut so.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steueroasen leben von der Maßlosigkeit. Sie helfen dabei, dass 430 Billionen Vermögen sich in ganz wenigen Händen konzentrieren – jetzt denkt jeder, ich hätte den alten Tagesordnungspunkt verschlafen; nein –, das gefährdet Demokratie, und darüber will ich reden.
Deshalb gibt es heute die Beratung über dieses Gesetz zur Abwehr von Steuervermeidung und unfairem Steuerwettbewerb. Dazu sage ich jetzt nicht viel; das alles hat Cansel Kiziltepe in ihrer zu Protokoll gegebenen Rede schon notiert, das kann man nachlesen.
1 Prozent der Menschen gehören 44 Prozent von allem, und 54 Prozent besitzen nur 1 Prozent. Ist das gerecht? Ist das kein Skandal? Das ist Chancenverschwendung in der Welt und in Deutschland und gefährdet die Demokratie.
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Brod und Wein … Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas …
Das kurpfälzische Museum in Heidelberg hat dem 250. Geburtstag von Hölderlin, der diese Elegie geschrieben hat, einen Zollstock gewidmet,
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diesen Zollstock, „immer bestehet ein Maas“. Jetzt ist natürlich klar, dass dieser Zollstock in meiner kleinen Rede die Weltbevölkerung repräsentiert. Dann gibt es noch einen Zollstock, diesen hier.
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Darauf steht: „Mein Maßstab ist Gerechtigkeit“. Der repräsentiert das Vermögen in der Welt. Jetzt wollen wir einfach kurz schauen, was da eigentlich passiert. Ach so: Diesen Zollstock kann ich halbieren. Wir nehmen einmal nur das halbe Vermögen. Dieses ganze Vermögen, also die Hälfte des ganzen, gehört zwei Zentimetern dieses weißen Zollstocks,
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wobei der anderen Hälfte der Bevölkerung nur 2 Prozent des Vermögens gehören.
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Das Verhältnis ist jeweils dieser ganze Meter zu einem Zentimeter auf dem jeweils anderen Zollstock. Und jetzt soll mir jemand sagen, dass das die Welt auf Dauer aushält. Die Antwort ist: Das hält die Welt auf Dauer nicht aus. Das gefährdet die Demokratie.
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Es ist maßlos, wenn die Deutsche Bank 3 000 Menschen entlässt und gleichzeitig 29 Prozent mehr Boni auszahlt, 2 Milliarden Euro. Das ist maßlos und gefährdet die Demokratie.
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Wenn Daimler von der Gesellschaft Kurzarbeitergeld nimmt, einen Vorteil von 700 Millionen Euro, ich sage einmal, einheimst – zu Recht, damit die Arbeit erhalten bleibt –, aber gleichzeitig 1,4 Milliarden Euro an die Aktionäre auszahlt, dann ist das maßlos, und das gefährdet die Demokratie.
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Wir hatten vorhin von der Kollegin gehört: Es gibt auch Tiefpunkte. Es gibt auch Leute im Haus, die die Demokratie durch Angst gefährden. Ich will einfach einmal sagen, wie das funktioniert. Ein Kollege, der bei uns immer schön Noten gibt, wie wir waren, gut oder schlecht, und auch schon einmal in Frankfurt 20 Millionen verzockt hat, aber die Verantwortung nicht übernehmen will,
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sondern sie auf die Nachfolger schiebt, der sagt: Sofern ein Inländer seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, muss er den Verkehrswert – das ist jetzt wichtig – seines Wohnhauses, in dem er selber wohnt, versteuern.
Stimmt das eigentlich? Die Steuer beim Umzug, so fährt Herr Glaser fort, wird für sieben Jahre gestundet und muss dann bezahlt werden, auch wenn das Haus gar nicht verkauft wird. „Wer hat denn das ausgedacht?“, fragt er. Die Antwort ist: Herr Glaser hat es sich ausgedacht. Es ist glatt gelogen,
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es ist total falsch, und es ist hinterhältig. Warum? Weil jeder an sein Häuschen denkt, weil jeder daran denkt, wo er wohnt, und wenn er jetzt ins Ausland fährt, wird er plötzlich besteuert. Totaler Unsinn! Es ging um etwas ganz anderes. Für die Fachleute: Es ging um § 6 des Außensteuergesetzes, und das bemisst sich nach § 17 des Einkommensteuergesetzes; lesen Sie es noch einmal nach. – Mein Kollege Fritz nickt. Dann bin ich auch sicher, dass das stimmt; er ist nämlich Steuerberater, der sein Metier versteht.
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Also, mit solchen bewussten Falschaussagen wird Angst geschürt, und das ist ein ganz großes Problem in unserem Land. Deshalb: Alle die, die Angst schüren, gefährden die Demokratie, und das machen die Rechtsextremen auch in diesem Haus.
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Weil Sie, Frau Präsidentin, die letzte Rede angekündigt haben, sage ich, dass ich mich bei allen entschuldige, die ich hier jemals in den 23 Jahren verletzt habe. Das kann passiert sein, ohne dass ich es gemerkt habe. Einmal bin ich mir dessen bewusst. Dafür entschuldige ich mich besonders. Das war eine taktisch notwendige Maßnahme, um einmal zu zeigen, wie man sich fühlt, wenn andere mit einem so umgehen, wie es damals passiert ist.
Ich danke den Präsidien, die immer sehr geduldig waren. Sie mussten viel aushalten – mit einem Becher, den ich kaputt gemacht habe, mit Smarties, die das Vermögen repräsentiert haben. Ich danke meinen und allen Mitarbeitern in den Häusern hier – ohne die würden wir gar nicht funktionieren –, dem Saaldienst, allen Kolleginnen und Kollegen.
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Ich danke auch dem Protokoll, das hinterher immer mit diesen vielen Zetteln von mir umgehen muss. Sie haben das exzellent gemeistert.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas …
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Bevor ich nun zur Sache spreche – es waren ja viele Ausflüge –, eine Bemerkung, lieber Lothar Binding, auch an die Vorredner gerichtet. Man kann auch ohne Zollstock erklären: Sie können nur dann Wohlstand verteilen – Volkswirtschaft erstes Semester –, wenn das Wirtschaftswachstum und die Produktivität über der Entwicklung der Bevölkerungsrate liegen. Dies vielleicht einmal zum Verteilen von Wohlstand. Alles andere ist Leben auf Zeit und Sich-Verschulden. Und das macht die EU mit ihrer sogenannten Resilienz und ihrem nicht vorankommendem Wachstum ja klar.
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Aber zur Sache – ich will jetzt auch nicht über Volksparteien reden; wer Volkspartei ist, entscheidet immer noch der Wähler; er ist der Souverän, und mit 24 Prozent oder auch 21 Prozent ist man Volkspartei, und mit 9 Prozent oder 6 Prozent bestimmt nicht –: Kommen wir zum Positiven dieses Gesetzentwurfs der GroKo. Immerhin: Sie haben einige Kritikpunkte, die auch ich – und viele Experten – geäußert habe, aufgenommen. Sie haben die Regeln zur Kontoeröffnung – völlig bürokratisch; ein Bürokratiemonster – zurückgenommen und hier jetzt Möglichkeiten geschaffen. Das ist auch das einzig Gute an diesem Gesetzentwurf.
Insgesamt – ich möchte hier mit der Erlaubnis der Präsidentin einmal den Fachanwalt für Steuerrecht Dr. Björn Demuth zitieren – ist festzuhalten:
Im Ergebnis stellt sich die Frage, ob die Bekämpfung einiger weniger Krimineller es rechtfertigt, alle rechtschaffenen Unternehmen in die Gruppenhaft zu nehmen.
In der Anhörung zum Gesetzentwurf sprachen Experten auch von einem Bürokratiemonster.
Dr. Demuth sprach weiter:
Unsere hiesige Wirtschaft wird im Namen der Gerechtigkeit gelähmt und das nur, weil unser Staat keine anderen Wege findet, um Kriminellen zu begegnen. In Bürokratie sind wir Weltmeister,
– das kann man unterstreichen –
leider aber nicht bei Eigenverantwortlichkeit und Effizienz.
Und das haben Sie in den letzten 30 Jahren zu verantworten, meine Damen und Herren.
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Die Idee eines schlanken Staates wird mit solchen Gesetzen mit Füßen getreten. Bundesfinanzminister Scholz sprach in seiner Einbringungsrede zu dem Gesetzentwurf von Vorreiterrolle. Er ist nicht da – okay, das kennen wir mittlerweile –; ich frage mich dennoch, Herr Scholz: Was meinten Sie eigentlich damit? Meinen Sie damit, dass wieder in übertriebener Gehorsamkeit gegenüber der EU alle Maßnahmen umgesetzt werden? Die EU verlangte immerhin, dass nur eine Maßnahme von vier, die dort in Rede standen, in nationales Recht umzusetzen ist. Nun dürfen Sie raten, was diese GroKo umgesetzt hat. Sie wollen in Deutschland gleich alle vier Maßnahmen umsetzen. Das nennen Sie dann Vorreiterrolle. Ich bin der Meinung, dass wir in einem anderen Punkt vielleicht eine Vorreiterrolle übernehmen sollten, aber nicht in Bürokratie und vorauseilendem Gehorsam.
Sie hätten nämlich zusätzlich zu der schwarzen Liste der EU eine eigene Liste, eine nationale Liste, führen können, die beispielsweise auch die Steueroasen in der EU benennt. Das wäre eine echte Vorreiterrolle gewesen. Aber das ist natürlich zu unbequem; denn dann müssten Sie Ihr heißgeliebtes Kind, die EU – nicht Europa, das verwechseln Sie im Hohen Hause auch immer ganz gerne –, angreifen, dann müssten Sie eingestehen – da könnte ich fast dankbar sein –, dass Sie durch Ihre eigene Unfähigkeit, Gesetze zu formulieren, indem Sie vier statt eine Maßnahme umsetzen, genau diese EU erodieren lassen.
In diesem Zusammenhang gab das Netzwerk Steuergerechtigkeit an, dass diese schwarze Liste der EU – supereffizient – für 2 Prozent der globalen Steuerverluste durch Steuervermeidung verantwortlich ist. Länder wie Zypern und Malta oder Luxemburg werden übrigens, wie ich es eben gesagt habe, erst gar nicht genannt. Das ist peinlich, meine Damen und Herren.
Dieses Gesetz führt also nicht zu mehr Gerechtigkeit. Ich hatte öfter gefragt: Wie viel mehr Steuereinnahmen wollen Sie denn in etwa damit generieren? Ich habe es selbst einmal nachgerechnet – leider fehlt die Zeit, das auszuführen –: Es sind etwa 454 Millionen, wenn man vom weltweiten BIP sowie dem nationalen BIP Deutschlands ausgeht.
Meine Damen und Herren, das lässt nach meiner Auffassung den gesamten Aufwand und die Schaffung eines neuen Bürokratiemonsters wieder in einem völlig anderen Licht erscheinen und zeigt die Notwendigkeit einer nationalen Liste auf.
Ich sage nochmals: Hier müssen wir Vorreiter sein. Der Kampf gegen Steuervermeidung ist zwar wichtig, aber aufgrund des Benannten können wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen. Wir werden genau beobachten, welchen Nutzen und welchen Mehraufwand dieses Gesetz für die Wirtschaft bedeutet. Meine Prognose ist: Wir werden hier nicht zum letzten Mal darüber gesprochen haben.
Vielen Dank.
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Danke, Kay Gottschalk. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Fritz Güntzler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Lothar Binding, auch ich möchte mich persönlich bei dir für acht Jahre gemeinsame Steuerpolitik bedanken. Sie können sich vorstellen: Wir kommen aus unterschiedlichen Richtungen. Wir haben viele Diskussionen, unzählige Podiumsdiskussionen geführt. Eigentlich hatten wir vor, noch einmal auf ein Podium zu gehen und dort dann die Rede des jeweils anderen zu halten – wir kennen uns mittlerweile gegenseitig sehr gut –: Wir hätten wahrscheinlich größere Irritationen herbeigeführt. – Es war immer spannend, mit dir zu diskutieren, an der Sache orientiert. Wir hatten gerade jetzt einige Berichterstattungen gemeinsam und haben viel erreichen können. Dafür ein herzliches Dankeschön, lieber Lothar!
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Wir verabschieden heute ein weiteres wichtiges Steuergesetz, das sogenannte Steueroasen-Abwehrgesetz. Wir wollen die Wohlfühlorte für Steuerflüchtlinge, die Steueroasen, trockenlegen.
Wir hatten im Koalitionsvertrag bereits vereinbart, dass wir gemeinsam gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung und für eine gerechte Besteuerung einstehen wollen. Wir haben in dieser Legislaturperiode einiges gemacht: Ich nenne das ATAD-Umsetzungsgesetz. Die Share Deals haben wir geregelt usw. Wir haben gemeinsam also viel erreicht gegen unfairen Steuerwettbewerb.
Aber erlauben Sie mir noch den Hinweis: Steuerwettbewerb an sich ist kein Problem. Ich finde, das kommt in den Debatten meistens zu kurz. Natürlich sind wir in einem internationalen Wettbewerb. Natürlich kämpfen wir darum, Investitionen und Innovationen nach Deutschland zu holen. Von daher wird es immer Wettbewerb geben; der darf nur nicht ruinös werden.
Von daher ist es gut und richtig, dass man sich jetzt auf OECD-Ebene auf eine Mindestbesteuerung verständigt und die Zielrichtung vorgegeben hat. Es wird nicht einfach sein, alles umzusetzen; das ist viel Technik. Aber, ich glaube, das ist ein großer Erfolg, den wir gemeinsam in dieser Großen Koalition erreicht haben.
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Wir haben das BEPS-Projekt weiter vorangebracht. Ich habe den OECD-Prozess angesprochen. Da geht es nicht nur um die Mindestbesteuerung, sondern auch um die gerechtere Verteilung von Steuersubstraten, die Besteuerung der digitalen Wirtschaft, dass diese dort, wo sie ihren Nutzen hat, auch einen Anteil der Finanzierung übernimmt.
Mit diesem Steueroasen-Abwehrgesetz treffen wir nicht kooperative Staaten und Steuergebiete. Wer ist nicht kooperativ? Das sind diejenigen, die in Steuersachen nicht die notwendige Transparenz an den Tag legen, den unfairen Steuerwettbewerb – ich betone: den unfairen Steuerwettbewerb! – mit vorantreiben und sich eben nicht an die Mindeststandards, die wir im BEPS-Prozess festgelegt haben, halten.
Das ist in der Rechtsverordnung genau geregelt und natürlich in der sogenannten Blacklist, die durch die EU vorgegeben ist. Da finden sich Staaten wie Panama, die Seychellen und auch andere, und wir müssen abwarten, ob nicht noch ganz andere Staaten in Zukunft auf diese Liste kommen, etwa Staaten, die zurzeit auf der grauen Liste stehen, wie die Türkei und Botswana. Wenn die Türkei offiziell zur Steueroase erklärt wird, dann wird dieses Gesetz richtig greifen, und dann wird man richtige Auswirkungen sehen.
Wir haben auf EU-Ebene vereinbart, dass wir mindestens eine Abwehrmaßnahme durchsetzen. Der Kollege Gottschalk hat darauf hingewiesen. Wir haben alle vier Abwehrmaßnahmen umgesetzt. Aber man muss deutlich sagen: Diese greifen nicht kumulativ, sondern zeitlich nacheinander. Es gibt immer nur eine Maßnahme, die greift. Das ist entweder das Verbot des Betriebsausgabenabzuges, eine verschärfte Quellenbesteuerung, eine sogenannte verschärfte Hinzurechnungsbesteuerung und auch Ausnahmen von den Regelungen des Doppelbesteuerungsabkommens bei Gewinnausschüttung. Es wird also immer nur eine Maßnahme greifen; es ist eine Kaskadierung vorgesehen. Also: Hier zu behaupten, wir hätten dafür gesorgt, dass alle vier Maßnahmen gleichzeitig zur Anwendung gebracht werden, ist wieder einmal schlicht falsch.
Wir haben den Gesetzentwurf so geändert, dass sogar noch eine Übersanktionierung herausgenommen wird; denn es hätte sein können, dass eine Hinzurechnungsbesteuerung greift, dass also ausländische Einkünfte in Deutschland besteuerungspflichtig sind, und das Betriebsausgabenabzugsverbot auch zur Anwendung kommt. Wir haben das herausgenommen, weil wir da sehr sauber bleiben wollten. Es gilt immer nur eine Maßnahme.
Von daher bin ich davon überzeugt, dass wir hier einen richtigen Schritt gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung gehen. Wir müssen in der Debatte aber auch sehen, dass wir natürlich die Staaten treffen wollen. Wir tun dies mittelbar über die Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen in diese Staaten haben. Das ist der Weg; das wird den Staaten wehtun. Von daher halte ich das alles für vertretbar und würde mich freuen, wenn wir eine breite Zustimmung erhalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler.
Ich möchte darauf hinweisen, dass in zehn Minuten die namentliche Abstimmung geschlossen wird. Das heißt, Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht abgestimmt haben, können das jetzt noch tun. In zehn Minuten wird die namentliche Abstimmung geschlossen.
Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion Markus Herbrand.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hier zur Abstimmung stehende Gesetz sieht Maßnahmen gegen Personen und Unternehmen vor, die in Ländern wirtschaften, die auf einer speziellen EU-Liste, der sogenannten schwarzen Liste, geführt werden.
Vorweg eines, damit es auch ganz deutlich ist und es nicht zu Missverständnissen kommt: Das Ziel dieses Gesetzes – mehr Steuergerechtigkeit über die Staatsgrenzen hinweg – teilen wir, und zwar ohne jede Einschränkung. – Dennoch werden wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens. Das angestrebte Ziel erreichen Sie, wenn überhaupt, nur mit einem Aufwand, der in keinem Verhältnis steht. Das ist auch keine exklusive FDP-Meinung, das haben auch zahlreiche Sachverständige in der Anhörung gesagt.
Zweitens. Es werden Geschäfte in den gelisteten Ländern grundsätzlich unter Generalverdacht gestellt, auch dann, wenn diese Geschäfte mit fragwürdigen Steuergestaltungen eigentlich überhaupt nichts zu tun haben.
Drittens. Auch in diesem Punkt sind wir nicht alleine. Es gibt erhebliche Kritik an dieser Liste der EU, die die Grundlage für den Maßnahmenkatalog bildet. Diese Liste bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Selbst das Europäische Parlament weist darauf hin, dass die Gebiete, die in der Liste genannt werden, nur für weniger als 2 Prozent – 2 Prozent! – der weltweiten Steuereinbußen verantwortlich sind und die Liste daher – Zitat – „kaum wirksam“ sei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie gestatten mir abschließend noch einige Anmerkungen zu unserem Antrag „Datenschutz und Menschenrechte im Kampf gegen Steueroasen stärken“. Der automatische Informationsaustausch ist ein extrem wichtiger Bestandteil zur Bekämpfung von Steuervergehen im internationalen Bereich – worüber wir hier sprechen –, vermutlich wichtiger als die schwarze Liste der EU. Aber: Wir müssen dringend Maßnahmen ergreifen, damit dabei Mindeststandards bei Menschenrechten und Datenschutz eingehalten werden. Auch hier gilt: Der Zweck heiligt nicht immer alle Mittel.
Die vergangenen Jahre, unter anderem ein Hackerangriff auf die Finanzverwaltung in Bulgarien, haben deutlich gezeigt, dass wir hier noch lange nicht so weit sind, wie wir sein sollten. Ohne dass Unternehmen und Personen davon Kenntnis erlangen, werden deren Daten in Länder weitergegeben, von denen man nicht weiß, wozu sie diese Daten nutzen. Länder wie Saudi-Arabien, Russland und China, um nur drei ganz prominente zu benennen, halten sich nicht an Menschenrechte und Datenschutz. Regimekritiker leben dort mehr als gefährlich.
Dass selbst im Fall eines Hackerangriffs die davon betroffenen Unternehmen und Personen nicht informiert werden, kann nicht das Ende unserer Bemühungen um einen wirksamen, nachhaltigen und auch von allen akzeptierten Datenaustausch sein. Das Abkommen zum automatischen Informationsaustausch muss aus unserer Sicht daher dringend reformiert werden, um in diesen Bereichen Mindeststandards neu zu setzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Markus Herbrand. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Axel Troost.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Netzwerk Steuergerechtigkeit, eine anerkannte Organisation für nationale und internationale Steuergerechtigkeit, veröffentlicht regelmäßig Listen über die weltweit führenden Steueroasen.
Auf der aktuellen Liste befinden sich auf Platz eins die Britischen Jungferninseln, laut „FAZ“ „Weltmarktführer im Geschäft mit Briefkastenfirmen“. Auf Platz zwei stehen die Kaimaninseln, eine Inselgruppe, die dafür bekannt ist, dass dort keine Körperschaftsteuer existiert, und beliebter Ort für Scheininvestitionen. Auf Platz drei folgen die Bermudainseln, die ebenfalls keine Körperschaftsteuer kennen und wohin Unternehmen wie Google und andere ihre Gewinne schleusen, in der Regel über den Umweg der Niederlande. Diese Niederlande stehen auf Platz vier, gefolgt von der Schweiz und Luxemburg. Es sind also nicht immer nur Inseln mit Palmen, sondern auch reiche europäische Staaten, die zu den Komplizen von Konzernen und Superreichen beim Steuerraub gehören. Auf Platz sieben folgt Hongkong. Auf Platz acht ist die Kanalinsel Jersey, und dann kommen am Schluss Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate auf den Plätzen neun und zehn.
Was hat diese ganze Liste der Steueroasen mit dem Gesetzentwurf der Großen Koalition zu tun? Leider nichts!
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Nichts, und das ist das Problem. Das Gesetz, das heute verabschiedet wird, beruht auf einer Definition von Steueroasen der schwarzen Liste der EU. Deren Kriterien sind so lax, dass letztlich auch Länder mit einem Unternehmenssteuersatz von 0 Prozent nicht automatisch auf dieser Liste landen. Wenn es einmal Probleme gibt und ein Land dennoch auf der Liste landet, wie bei den Kaimaninseln, dann wird ein bisschen gemauschelt, und schon ist man wieder runter von der Liste.
Es ist schon berichtet worden: Das Europäische Parlament hat in der Tat festgestellt: Nur 2 Prozent der Steuereinbußen werden durch die Liste überhaupt erfasst. – Lothar, auch ich schätze die Zusammenarbeit über zwölfeinviertel Jahre, und wir haben auch viel gemeinsam gemacht. Aber auf deinem großen Zollstock sind 2 Prozent leider nur ein sehr kleines Stück. Es ist schon wichtig, das so zu sehen.
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Insofern ist dieses Gesetz aus unserer Sicht völlig unzureichend. Das erste Land überhaupt, das auf der EU-Liste steht, ist Panama. Das steht auf der Liste des Netzwerks Steuergerechtigkeit auf Platz 28. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Es ist heute auch bei mir die letzte Rede. Ich kann nicht so staatsmännisch reden. Vielmehr muss ich mich für zwölfeinviertel Jahre Oppositionsarbeit hier im Deutschen Bundestag bedanken. Deshalb will ich durchaus zugespitzt noch einmal sagen: Der zentrale Ansatzpunkt dieses Gesetzes ist die Definition von Steueroasen der lächerlichen schwarzen Liste der EU, und damit ist auch das Gesetz ein lächerliches Gesetz.
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In Zeiten leerer Kassen durch die Coronakrise ist es total wichtig, gegen Steueroasen vorzugehen. Die Zielsetzung des Gesetzes ist richtig. Aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Dr. Axel Troost. – Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Stefan Schmidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder zehnte erwirtschaftete Euro in Deutschland wird nicht versteuert. 15 Milliarden Euro verlieren wir jedes Jahr durch Steuerhinterziehung und Steuervermeidung. Damit sind wir in Europa im Spitzenfeld der Steuerhinterzieher. Mit Blick auf das Haushaltsdefizit der kommenden Jahre ist es gut, dass die Bundesregierung das Problem endlich in den Griff bekommen will. Das ist sie den vielen Millionen steuerehrlichen Menschen in diesem Land schuldig.
Der Gesetzentwurf verspricht, etwas gegen Steuervermeidung und unfairen Steuerwettbewerb zu unternehmen. Das ist ein schönes Versprechen, es kann aber nicht gehalten werden. Dabei ist der gewählte Ansatz grundsätzlich gut: Wer geschäftlich in Steueroasen tätig ist, muss damit rechnen, dass Einkünfte aus diesen Geschäften schärfer besteuert werden. Dazu gehören etwa eine strengere Hinzurechnungsbesteuerung oder dass übliche Steuervergünstigen wie Abzüge von Betriebsausgaben versagt werden.
In der jetzigen Form wird das Gesetz aber so gut wie gar nichts ändern; denn die vorgesehenen Abwehrmaßnahmen gelten nur für die Steueroasen auf der eben genannten schwarzen Liste der EU. Und diese schwarze Liste ist mehr Lücke als Liste.
({0})
Erst im Oktober letzten Jahres hat die EU die Kaimaninseln wieder von der Liste genommen. Die restlichen Länder machen gerade einmal weniger als 2 Prozent bei der weltweiten Steuerhinterziehung und Steuervermeidung aus. Nur gegen diesen klitzekleinen Teil geht der Gesetzentwurf jetzt vor. Das ist viel zu wenig.
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Damit geht die Steuerhinterziehung munter weiter, auf Kosten der Ehrlichen und auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Wie schon beim Gesetz zur Umsetzung der ATAD setzt die Bundesregierung der Steuervermeidung nur symbolisch etwas entgegen. Das wirklich Notwendige bleibt weiter auf der Strecke. Deshalb haben wir zu diesem Gesetzentwurf einen Entschließungsantrag eingebracht. Wir wollen, dass die Finanzverwaltung endlich und schlagkräftig gegen Steuerhinterziehung vorgehen kann. Dafür müssen wir die Zuständigkeit für den Steuervollzug für große Unternehmen auf den Bund übertragen. Außerdem brauchen wir endlich eine Steuerpflicht auf Grundlage der Nationalität, die etwa in den USA schon recht gut funktioniert, und wir müssen endlich eine eigene schwarze Liste aufstellen, auf der die Steuersümpfe der ganzen Welt konsequent geführt werden.
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Zeigen wir im Kampf gegen die internationale Steuerhinterziehung endlich klare Kante! Stimmen Sie bitte für unseren Entschließungsantrag!
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute stehen zwei wichtige Reformvorhaben zum anwaltlichen, steuerberatenden und notariellen Berufsrecht zur Abstimmung.
Zum einen werden im anwaltlichen und im steuerberatenden Berufsrecht erstmals kohärente, einheitliche rechtsformneutrale Regeln für alle Berufsausübungsgesellschaften geschaffen. Leitlinie für die Neugestaltung sind die Wahrung und die Stärkung der anwaltlichen Grundpflichten. Deshalb sieht der Entwurf vor, dass Berufsausübungsgesellschaften zukünftig selbst Anknüpfungspunkt für berufsrechtliche Regelungen werden. Diese Neuausrichtung trägt den veränderten Organisationsformen Rechnung und stellt das Berufsrecht auf eine zeitgemäße Grundlage.
Was bedeutet das konkret? Insbesondere die künftig mögliche interprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen freien Berufen bietet der Anwaltschaft die Chance, spezialisierte, innovative Rechtsberatungsangebote zu machen und zu entwickeln, zum Beispiel die Zusammenarbeit von Rechtsanwälten mit Biologinnen und Biologen bei einer Beratung im Umweltrecht oder von Versicherungsmathematikern bei der Beratung zur betrieblichen Altersversorgung. Dies geschieht, ohne den Schutz der berufsrechtlichen Pflichten zu vernachlässigen; denn die berufsrechtlichen Pflichten werden zukünftig sowohl auf Gesellschafts- als auch auf Gesellschafterebene umfassend abgesichert.
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Ich meine, meine Damen und Herren, damit gelingt dem Gesetzentwurf die notwendige Balance zwischen dem Gemeinwohlbezug der anwaltlichen Aufgabe und der gebotenen Freiheit anwaltlicher und steuerberatender Berufe.
Zum anderen, meine Damen und Herren, schafft der Gesetzentwurf zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts wichtige Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hierzu gehören erweiterte Möglichkeiten der vorübergehenden Amtsniederlegung zum Zweck der Betreuung von Kindern, der Pflege von Angehörigen sowie zukünftig auch bei eigener Erkrankung, und es wird ein Teilzeitreferendariat in der juristischen Ausbildung geben.
Zudem – das finde ich ganz besonders wichtig – schafft der Gesetzentwurf die Rechtsgrundlage für die Einsicht in notarielle Urkunden und Verzeichnisse zu Forschungszwecken. Hierdurch wird ein wesentliches Hindernis für rechtshistorische Forschungen zur Zeit des Nationalsozialismus beseitigt.
Weiterhin verankert der Entwurf die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht sowie dem DDR-Unrecht als obligatorischen Teil der juristischen Ausbildung. Meine Damen und Herren, dies sichert, dass Juristinnen und Juristen in Zukunft die Fähigkeit erwerben, das positive Recht und die Rechtspraxis kritisch zu reflektieren und die Ideologieanfälligkeit des Rechts und sein Missbrauchspotenzial zu erkennen. Ich finde, das ist überfällig.
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Meine Damen und Herren, Notare, Rechtsanwälte, alle rechtsberatenden Berufe haben Zukunft. Dafür sorgen diese beiden Gesetzentwürfe. Ich bitte Sie um entsprechende Zustimmung.
Meine Zukunft – Frau Präsidentin, Sie haben es erwähnt – wird nach sechs Wahlperioden freilich nicht mehr im Deutschen Bundestag sein. Nach 23 Jahren als Abgeordneter des Wahlkreises Backnang – Schwäbisch Gmünd sage ich Danke, zuallererst natürlich den Wählerinnen und Wählern aus meinem Wahlkreis, aber auch meiner Fraktion, der SPD-Fraktion, der ich über viele Jahre in verschiedensten Funktionen dienen durfte: als Vorsitzender der Landesgruppe Baden-Württemberg, wo ich herkomme, oder viele Jahre als Parlamentarischer Geschäftsführer.
Wenn ich zurückblicke – das macht man ja bei der Gelegenheit –: Im Jahr 1998, als ich startete, war ein Thema, das mich immer begleitet hat, Transparenz, die Offenlegung von Nebeneinkünften von uns Abgeordneten oder das Lobbyregister. Ich war immer der Auffassung: Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen.
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Deshalb freut es mich, dass es jetzt tatsächlich dazu kommt. Freilich ist es bedauerlich – das zeigt auch die Erfahrung der letzten 23 Jahre –, dass es bei diesen ganzen vielen kleinen Fortschritten immer Skandale bedurfte. Das ist die dunkle Seite; das ist aber auch eine Tatsache, die nicht verschwiegen werden sollte. Das Gute aber daran ist, dass es sich lohnt, dicke Bretter zu bohren und beharrlich zu bleiben – das zeigt es –, auch wenn es 23 Jahre dauert, bis es Transparenz bei Nebeneinkünften gibt, bis ein Lobbyregister kommt. Ich finde: Das hat sich gelohnt.
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Die vergangenen acht Jahre durfte ich im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit drei Ministerinnen und Ministern zusammenarbeiten. Ich will ausdrücklich sagen: Es war mir eine Freude und Ehre. Ganz besonders möchte ich meiner Ministerin, dir, liebe Christine Lambrecht – dort sitzt sie –, für die hervorragende Zusammenarbeit herzlich danken, ebenso natürlich den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern für die kollegiale Zusammenarbeit der letzten acht Jahre und – nicht zu vergessen – meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Backnang, aus Schwäbisch Gmünd und hier in Berlin.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher: Es gibt ein Leben nach dem Bundestag, und genau darauf freue ich mich.
Herzlichen Dank.
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Werte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lange, auch ich bedaure Ihren Abschied; glauben Sie es mir. Wir haben ja fast zwei Jahre lang nebeneinandergesessen, als ich noch Rechtsausschussvorsitzender war. Sie haben bei mir mit dem Vorurteil aufgeräumt, dass es keine fachlich versierten Sozialdemokraten geben würde.
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Also, an Ihrer Stelle würde ich im Bundestag bleiben. Sie sind wirklich eine Bereicherung für den Bundestag. Ich muss sagen: Sie haben mit dem Vorurteil bei mir Schluss gemacht.
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Es gibt tatsächlich gute Fachpolitiker bei der SPD. Schade, dass Sie den Bundestag verlassen! Ich wünsche Ihnen von dieser Stelle alles Gute!
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Meine Damen und Herren, nach nur einer halben Stunde Debatte stimmen wir gleich über dieses Gesetzespaket – ich habe es mal mitgebracht: ungefähr 350 Seiten; dazu ein Änderungsantrag und die Beschlussempfehlung – ab. Es geht um die Neuregelung des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Steuerberater und Notare. Ich will die Spannung sofort nehmen: Die AfD-Fraktion wird den Änderungen für Rechtsanwälte und Steuerberater zustimmen, auch wenn Sie gleich unseren Änderungsantrag zur Vermittlung anwaltlichen Berufsrechts ablehnen werden; denn AfD wirkt auch so.
Ganz plastisch: Wir hatten den Änderungsantrag dazu zuerst eingebracht. Daraufhin wurde die Koalition wach und übernahm unsere Idee, um dann unseren Änderungsantrag im Ausschuss abzulehnen – so seltsam, so altparteientypisch, so schlecht. Uns ist das egal; Hauptsache, es steht am Ende das im Gesetz, was wir vorgedacht und vorgemacht haben. Man sieht also hier: AfD wirkt – immer besser und immer öfter. Ich habe inzwischen den Eindruck, als ob Sie von den Altfraktionen auf unsere Anträge geradezu warten.
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Meine Damen und Herren, dem Gesetzentwurf zum Berufsrecht der Notare werden wir nicht zustimmen; denn er spricht nur ein paar Spezial- und Randprobleme an. Kein großer Wurf.
Gar kein Wurf ist das, was die FDP gemacht hat: typische Digitalschwurbelei auf knapp anderthalb Seiten, darin auch noch Abgeschriebenes – ganz interessant; gucken Sie mal nach, Herr Martens! –, aufgebläht auf vier Seiten, und auf der vierten Seite steht gar nichts. Das ist doch mal ein interessanter, nachhaltiger Ansatz: leere Blätter vorlegen. Viel mehr Schein als Sein. Das erinnert schon sehr an Baerbock und Giffey. – Roland?
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– Ja, so war es eigentlich abgesprochen; aber man muss ja nicht immer alles so machen, wie der Stephan sich das wünscht.
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Liebe FDP, schön wäre es gewesen, wenn ihr hier von den Linken gelernt hättet; denn die haben ja auch einen Antrag im Ausschuss eingebracht, um Prüfungsstandards zu senken, typisch Linke das Ganze gendergerecht aufgemotzt. Im Ausschuss haben sie sich damit blamiert und uns gelangweilt, aber sie sind zumindest schlau geworden und bringen den Antrag hier gar nicht mehr ein.
Meine Damen und Herren, zum Ende der Wahlperiode wird die faule Koalition fleißig und versucht, heute oder bis morgen früh sieben Uhr noch schnell alles durch den Bundestag zu peitschen, was ihr noch so einfällt. Wir von der AfD sind ganz froh darüber, dass nicht alles gelingt, wie beispielsweise dieses plumpe Demokratiefördergesetz. Ein Gesetz, das wahrscheinlich im Kampf gegen die Bürgerlichkeit missbraucht worden wäre, ist also gescheitert. Grundgesetzänderungen scheitern Gott sei Dank; ich denke da nur an diesen unsinnigen Gedanken, Elternrechte beschneiden zu wollen.
Aber auch das Gesetzespaket, über das wir jetzt hier reden, ist kein Ruhmesblatt für die Koalition. Warum werden wir tätig? Weil das Bundesverfassungsgericht mal wieder festgestellt hat, dass Sie verfassungswidrige Sachen gemacht haben. Die Regelungen zu Berufsausübungsgesellschaften unter Beteiligung von Rechtsanwälten waren nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig. Und mit verfassungswidrigen Gesetzen, zumindest mit hochproblematischen Gesetzen, kennen Sie sich ja aus. Die Änderungen im Infektionsschutzgesetz, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Parteienfinanzierung: Das sind nur einige Beispiele dafür, wie Sie Ihre Altparteieninteressen mit dem eigenen Portemonnaie verbunden haben und in verfassungswidriger Art und Weise über die Interessen der Bürger Deutschlands gestellt haben.
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– Frau Künast, Sie auch. Kümmern Sie sich am besten um Ihre Zuckerrüben; das kommt immer wunderbar an. Von der Materie hier, denke ich mal, haben Sie keine Ahnung.
Meine Damen und Herren, für bürgernahe, bürgerliche und deutschlandfreundliche Politik steht nur die AfD. Das ist unser Markenkern, genau wie der Kampf für Freiheit, Grundrechte und für ein normales Deutschland.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir jetzt schon über Markenkerne streiten, muss ich sagen: Bei der AfD habe ich bisher nur einen entdeckt, nämlich die Fähigkeit zu hohler Inszenierung.
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Herr Lange, Sie haben hier vier Fünftel Ihrer Redezeit verwendet, um sich zu bedanken, und ein Fünftel Ihrer Redezeit den vorliegenden Gesetzentwürfen gewidmet. Sie haben dabei mehr an Sachargumenten gebracht als mein Vorredner während seiner gesamten Redezeit. Vielen Dank.
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Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Lange, auch für die Zusammenarbeit im Rechtsausschuss bedanken und wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute, selbst wenn sie in Schwaben stattfindet.
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Meine Damen und Herren, es ist angesprochen worden: Politik ist oftmals das Bohren dicker Bretter. – So sehen wir auch beim vorliegenden Gesetzentwurf zur Reform des Rechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte und Steuerberater in vielen Fällen ein Nachzeichnen dessen, was das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber längst aufgegeben hat. Die Möglichkeit, Berufsausübungsgesellschaften einzugehen, sollte eigentlich etwas Selbstverständliches sein, und sie entspricht auch der Notwendigkeit eines sich wandelnden Rechtsberatungsmarktes; denn selbstverständlich ist es nachvollziehbar, dass etwa Architekten oder Mediziner in entsprechend spezialisierten Kanzleien mit Anwälten zusammen Berufsausübungsgesellschaften eingehen wollen, was sie jetzt können.
Allerdings erscheint die Beschränkung auf nur jene freien Berufe, die in § 1 Absatz 2 des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes genannt sind, aus unserer Sicht verkürzt; denn es gibt durchaus auch die Möglichkeit, etwa IT-Spezialisten und Techniker in Berufsausübungsgesellschaften mit einzugliedern. Es ist nicht richtig nachvollziehbar, warum das nicht sein soll, meine Damen und Herren.
Ein weiterer Punkt ist das in § 43a der Bundesrechtsanwaltsordnung vorgesehene Tätigkeitsverbot für Anwälte. Das halten wir für problematisch; denn hier wird demjenigen eine Berufsausübung untersagt, dessen Partner in einer Gesellschaft möglicherweise über Kenntnisse verfügt, die er selber nicht verwenden darf. Der Betroffene hat aber keinerlei individuell vorwerfbare Kenntnisse oder auch nur die Möglichkeit, diese zu missbrauchen. Diese Regelung halten wir für falsch und überschießend. Deswegen werden wir diesem Gesetz auch nicht zustimmen.
Etwas anderes gilt für das Gesetz zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts. Allerdings ist es doch etwas seltsam, wenn hier besonders hervorgehoben wird, dass Notare die Möglichkeit haben sollen, ihre Prüfungen elektronisch abzulegen. Das ist aus der Zeit gefallen. Wir müssten längst weiter sein. Das Schreiben von Prüfungsarbeiten auf Computern sollte selbstverständlich möglich sein und keiner besonderen Erwähnung bedürfen.
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Aber bei diesem Gesetz ist zumindest eines verhindert worden: ein Zurückdrehen in der Ausbildung der Juristen. Man wollte die Gesamtabschlussnote aufweichen oder, besser gesagt, das wieder weitgehend auf die Staatsprüfung reduzieren, wodurch die Schwerpunktprüfungen an Gewicht verloren hätten. Das hielten wir für falsch. Angesichts der Fülle des Stoffs, der im Studium zu bewältigen ist, und der Möglichkeit, dort individuelle Neigungen zu fördern und besser herauszustellen, war es dringend notwendig, den Mix in der Prüfungsnote beizubehalten. Insofern werden wir diesem Gesetz zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Jürgen Martens. – Nächster Redner in der Debatte: für die Fraktion Die Linke Niema Movassat.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die juristische Ausbildung sagte eine der bedeutendsten Theoretikerinnen des deutschen Privatrechts, Marietta Auer, kürzlich, dass sie mit einer persönlichkeitszersetzenden Angst behaftet sei. Seit Jahren sagen fast alle, die sich auskennen: Die juristische Ausbildung muss dringend reformiert werden.
Jetzt legt die Koalition einen Gesetzentwurf vor, der vor allem Änderungen im Notarberuf beinhaltet und daneben noch hier und da das Rechtsreferendariat anpasst. Die Änderungen für den Notarberuf, wie die Möglichkeit, das Amt für längere Zeit vorübergehend niederzulegen, stellen eine wichtige Verbesserung dar, weil sie die Familienfreundlichkeit des Berufes fördern. Aber bei der Juristinnen- und Juristenausbildung werden nur Minireformen vorgenommen, statt den dringend benötigten großen Wurf vorzunehmen.
Ja, es wird endlich die Möglichkeit eingeführt, das zweite Staatsexamen elektronisch durchzuführen. Das ist eine dringend nötige Anpassung an die Art und Weise, wie in der Praxis gearbeitet wird. Aber wirklich innovativ wäre es, das Examen uneingeschränkt an die Realität juristischer Berufe anzupassen. In keiner berufspraktischen Situation sitzt da jemand und überlegt aus dem Bauch oder Kopf heraus, was das richtige Ergebnis ist. Er wird stets auf juristische Datenbanken zurückgreifen. Genau das sollten wir im ersten und zweiten Examen erlauben und die Klausuren entsprechend gestalten, damit nicht das Auswendiglernen belohnt wird, sondern das eigenständige Denken.
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Für Die Linke sind zwei weitere Reformen der Juristinnen- und Juristenausbildung dringend nötig:
Erstens. Studierende haben es nach einem kräftezehrenden Studium verdient, eine einwandfreie und faire Korrektur ihrer Examina zu bekommen – Examina, die in keinem anderen Studium von so entscheidender Bedeutung sind. Deshalb muss die Zweitkorrektur unabhängig von der Erstkorrektur stattfinden und müssen Korrektoren allgemein besser vergütet werden. Zurzeit kennen die Zweitkorrektoren die Erstkorrektur und werden dadurch oft in ihrer eigenen Notenvergabe vorbestimmt. Bei mir war es übrigens auch so: Der Zweitkorrektor war auf den Punkt genau mit dem Erstkorrektor bei allen sechs Examensklausuren einer Meinung – was für ein Zufall!
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Zweitens. Wir müssen das Alles-oder-nichts-Prinzip des ersten Staatsexamens beenden. Es ist nicht vertretbar, fünf Studien- und Lebensjahre von jungen Menschen auf einen Scheiterhaufen zu überführen, wenn diese durch das erste Examen fallen, es nicht bestehen. Als Linke fordern wir, dass Studierenden nach Bestehen der Zwischenprüfung und des Schwerpunktbereiches ein Bachelor zugesprochen wird. Diese zwei Leistungen sind gleichwertig mit einem Bachelorabschluss und sollten auch so anerkannt werden.
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Die Linke hat einen umfangreichen Antrag mit Vorschlägen vorgelegt, den Sie leider abgelehnt haben. Weil der vorliegende Entwurf immerhin kleinere Verbesserungen enthält, werden wir zustimmen.
Ihnen, Herr Lange, wünsche ich persönlich alles Gute und bedanke mich für die gute Zusammenarbeit im Rechtsausschuss.
Danke schön.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2004 habe ich in Sankt Petersburg zum ersten Mal Boris Pustinzew getroffen. Der inzwischen verstorbene Menschenrechtler und Bürgerrechtler sagte mir damals, wenn ihm jemand in Russland sage: „Früher war alles besser“, würde er antworten: „Und heute kannst du es sagen.“ Ein paar Jahre später traf ich Boris wieder – so ungefähr im Jahr 2008; wir haben viele Jahre lang eng zusammengearbeitet –, und ich fragte ihn, ob er das heute auch noch so sagen würde. Er sagte: Nein, das würde er nicht. – Und damit ist der Rahmen für diese Debatte klar gesetzt.
Wir Grüne standen und stehen an der Seite der russischen Zivilgesellschaft, die mehr denn je unterdrückt ist. Das ist unser Partner in Russland an allererster Stelle.
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Denn Freundschaft mit Russland ist nicht einfach nur getan durch Kuscheln mit dem Kreml. Versöhnen mit Russland ist nicht einfach nur getan durch Versöhnen mit dem Kreml. Die Zukunft der deutsch-russischen Freundschaft hängt nicht vom Bau einer korrupten Pipeline ab, sondern vom Dialog der Zivilgesellschaften,
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vom respektvollen und ehrlichen Umgang miteinander, mit den anderen Partnern in Russland und auch den anderen Partnern in der EU und in der Region. Deswegen wollen wir und bieten wir mit unserem Antrag mehr Kooperation mit Russland an.
Aber: Wer so tut, als ob Kriege und Repression, Autokratie und politische Morde diesen Dialog nicht erschweren würden, der ist nicht aufrichtig und nicht ehrlich, nicht gegenüber dem Kreml und auch nicht gegenüber den Menschen in Russland.
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Dialog, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist richtig und wichtig, selbst dann, wenn er erfolglos sein sollte. Aber es gehört zur Politik dazu, sich offen die Karten zu legen. So wie der Kreml gegen die Zivilgesellschaft, gegen die freie Presse in Russland vorgeht, so ist der Dialog ein Selbstzweck – leider.
Trotzdem ist es richtig, den Dialog zu führen. Aber der Dialog nur mit diesem System wird keine Brücken bauen. Das sollte klar sein – auf das Gegenteil hoffend – und auch klar formuliert werden. Deswegen reicht es nicht aus, wenn die scheinbar einzige Strategie der Bundesregierung das Gespräch, der Dialog, manchmal das Beschwichtigen mit dem System Putin ist, wenn der Kreml zum alleinentscheidenden Faktor für Frieden in Europa stilisiert wird, wenn hinter Dialog mit Putin letztlich die fehlende Hoffnung in die russische Gesellschaft und in ihre Veränderungsfähigkeit zu stehen scheint. Denn die russische Gesellschaft ist vielfältiger, politischer, europäischer, demokratischer und betroffener vom System Putin, als wir es hier in Deutschland oftmals sehen. Deswegen wollen wir Brücken nach Russland bauen zu unseren Partnern in Russland.
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Zur Arroganz gegenüber Russland gehört nicht, die Realität der Autokratie anzusprechen, sondern diese vor den Menschen in Russland zu verschweigen. Wer eine Brücke bauen will – das war schon 1975 in Helsinki klar –, der muss diese Brücke zur Gesellschaft und vor allem zur Zivilgesellschaft in Russland bauen und klarmachen, dass Deutschland und die EU an ihrer Seite stehen, bereit zu mehr Kooperation in allererster Linie an der Seite der Zivilgesellschaft in Russland.
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Wir müssen klarmachen, dass die Basis für den Dialog die gemeinsamen Werte und Prinzipien sind – so wie Willy Brandt es angedacht hat, so wie Helsinki es gezeigt hat –, dass demokratische Freiheiten und Menschenrechte keine Ansichtssache sind. Wir erwarten, dass der Dialog auch mit der kritischen Zivilgesellschaft und mit der freien Presse geführt werden kann – nicht nur, aber auch. Dazu gehören Herr Nawalny, das Zentrum Liberale Moderne, der Deutsch-Russische Austausch, EPDE, „Meduza“, das Forum russischsprachiger Europäer und Memorial – wie auch der Kreml.
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Dialog, reden – das werden wir sowieso. Aber wir sind zu mehr Kooperation bereit: mit Russland, nicht nur mit Gazprom, Rosneft oder mit Putin.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Manuel Sarrazin. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Christian Schmidt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zusammenbruch der Sowjetunion, schreibt Henry Kissinger 2014 in seinem Werk „Weltordnung“, verschob – Zitat – „die Akzente der Diplomatie“. Der kalte Krieg sei fälschlicherweise vom Westen „nicht als ein geopolitischer Kampf um die Grenzen der russischen Macht“ gesehen worden, sondern „als ein moralischer Kreuzzug für die freie Welt“. In der Tat gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen, wie man das Blockdenken dieser Zeit in eine neue Weltordnung überführen sollte. Kissinger schrieb dies zu der Zeit, als Wladimir Putin in seiner geopolitischen Strategie eben gerade einen an die Sowjetunion mindestens anzuknüpfenden Expansionismus statuierte und zu vollziehen begann.
Und so wie der Realpolitiker Kissinger in einem früheren Artikel in den frühen 90er-Jahren sich mit der Frage beschäftigte, wohin sich Russland wenden wird, ob nach Europa und damit auch hin zu dessen Wertestruktur oder als eurasische Großmacht nach Osten, so muss auch der heutige Kissinger neu denken. Damals sagte er, dass die russische – Ergänzung von mir – „Noch“-Großmacht geopolitische Spielräume auch im Osten – heute würde ich sagen, auch im Süden – suchen wird. Er sagte auch, dass es wichtig wäre, dass Habeas Corpus, also die Grundsicherheit der individuellen Menschen- und Bürgerrechte, gewährleistet sein müsste, auch wenn – Ergänzung von mir – die russische Staatsführung nicht aus „lupenreinen Demokraten“ bestünde. Also Grundkonsens bei den Menschenrechten. Damit gaben wir uns irgendwie alle zufrieden, und es gab ja auch Signale der nichtexpansiven Rationalität.
Ich erinnere mich, 2008 Teilnehmer eines Gesprächs mit dem damaligen Staatspräsidenten Medwedew gewesen zu sein, aus dem Zbig Brzezinski, früher nationaler Sicherheitsberater der USA unter Jimmy Carter, herausging und nahezu beschwingt unser Gespräch kommentierte, dass er jetzt an eine wirkliche Annäherung und an einen Ausgleich zwischen Russland und dem Rest der Welt glaube, so sehr habe ihn der junge Präsident beeindruckt. Er und wir hatten übersehen, dass Medwedew nur geschickt gesetzter Platzhalter für Wladimir Putin war. Putin sieht manches anders. So wenig ihn Habeas Corpus wirklich schert, so wenig beeindruckt ihn ein auf Ausgleich gerichteter Politikansatz.
Zwar ist es müßig, darüber zu diskutieren, an welcher Stelle das Verhältnis zwischen Europa und Russland auseinandergeraten ist. In der Gesamtschau scheint es ein allmählicher, aber zielgerichteter Prozess zu sein, den wir so in den 90er-Jahren nicht haben kommen sehen und der sich auch nicht mit Fehlern des Westens erklären lässt.
Wir haben und wollen keine Konfrontation mit Russland, schon gar nicht mit dem russischen Volk. Gestern haben wir daran gedacht: Uns verbindet eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Gerade jetzt denken wir an den Überfall auf die Sowjetunion durch Hitlerdeutschland 1941. Mag Stalin seinerseits über Leichen gegangen sein, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion mit infolgedessen 25 Millionen Kriegstoten aus diesem Land ist und bleibt der verabscheuungswürdigste und inakzeptabelste Aggressionskrieg des 20. Jahrhunderts.
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Schon deshalb haben Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein Anrecht auf Verbeugung vor den Toten und Verständigung mit den Lebenden. Aber wir können vor dem strategischen Agieren der gegenwärtigen russischen Regierung, sei es im Innern oder im Handeln nach Außen, nicht die Augen schließen. Hier geht es nicht um Ausrutscher von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern um eine strukturierte Ersetzung eines demokratischen durch einen autoritären Staat.
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Jeder mit solchem Einfluss auf den Nachbarn wie ihn Putin auf diesen primitiven weißrussischen Gewalttäter Lukaschenko hat, einen, wenn man will, Schlagstockfreak des reaktionären Zeitalters, müsste diesen in die Schranken weisen. Das wäre nicht nur Realpolitik; das macht man mit solchen Figuren grundsätzlich. Aber das findet nicht statt. Ganz im Gegenteil planscht man in Sotschi und man verabschiedet sich endgültig von Habeas Corpus.
Es ist auffällig, wie oft im Antrag der Grünen Präsident Putin erwähnt wird. Aber es ist nachvollziehbar; denn das putinistische System ist auf diese Nummer eins zugeschnitten. Wie können wir dem begegnen?
Wir müssen eine Strategie entwickeln, die flexible Antworten ermöglicht. Ja, wir müssen die Zivilgesellschaft unterstützen. Wir sollten nicht erwarten, dass sich Russland in ein paar Jahren zu einem liberalen Land westlicher Prägung entwickelt. Wir müssen aber scharfen Protest einlegen, insbesondere gegen dieses eigenartige Listungsgesetz, das freie Hand gibt, Organisationen wie zum Beispiel das Zentrum Liberale Moderne oder andere Nichtregierungsorganisationen außer Recht zu setzen, und Menschen gefährdet.
Wir müssen auch über die Instrumente und die Gremien, in denen wir gemeinsam arbeiten – sei es der Europarat oder seien es andere, wo man Gesprächskanäle offenhalten muss –, Hinweise geben und klare Positionen vertreten. Ich glaube, wir müssen deswegen auch mit unseren Bündnispartnern sehr viel mehr sprechen. Ich hoffe und erwarte, dass, wenn sich der neue amerikanische Präsident Biden und Putin wo auch immer in den nächsten Tagen treffen, wir mit dabei sind.
Die strategische Wahrnehmung in Deutschland muss des Weiteren identisch gemacht werden mit der in anderen Teilen Europas. Das heißt, dass wir auch über die Energiepolitik reden müssen. Denn eines ist die große Schwachstelle von Putin: Er hat es nicht geschafft, seine auf Rohstoffen basierende Wirtschaft zu modernisieren. Das unterscheidet ihn dramatisch von China. Deswegen hat er auch nicht die Kraft von China. Er wird sich mittelfristig sowieso nach Europa orientieren müssen.
Gestatten Sie mir, Frau Präsidentin, dass ich zu einem anderem Thema ganz kurz etwas sage, das mittelbar damit verbunden ist. Ich danke der Bundesregierung, insbesondere Frau Bundeskanzlerin Merkel, dass sie mich für den internationalen Posten des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina vorgeschlagen hat, und ich habe die Freude und die Ehre, von der internationalen Gemeinschaft hierfür benannt worden zu sein.
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Aber auch auf dem Balkan treffen westliche und russische Interessen aufeinander. Die russische Regierung hat meine Kandidatur nicht unterstützt. Dies folgt einer politischen Linie der Nichtkooperation. Ich möchte dies aber offen aufgreifen. Ich werde alles daransetzen, im Amt des Hohen Repräsentanten nicht nur den Frieden zu erhalten, sondern für die junge Generation zu arbeiten. Die wird die Konflikte der Großeltern einmal nicht mehr verstehen. Aber dazu brauchen wir Dialog, Gespräch und Bereitschaft, miteinander zu arbeiten, auch mit Moskau. Deswegen wird natürlich mein Weg auch in diese Hauptstadt führen. Ich lade die russische Regierung dazu ein, hier gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Das brauchen wir in Europa. Das ist mittelfristig auch das Rezept für Herrn Putin, sein Land nach vorne zu bringen.
Danke.
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Vielen Dank, Christian Schmidt, und wir wünschen Ihnen für diese wichtige neue Aufgabe viel Kraft, viel Mut, viel Ausdauer, viel Geduld und viele neue Ideen; denn Ihre Aufgabe ist in der Tat die eines friedensstiftenden Brückenbauers. Dafür viel, viel, viel Kraft und viel Erfolg!
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Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Waldemar Herdt.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich war eigentlich positiv überrascht, als ich den Titel des Antrags der Grünen gelesen habe. Ich habe gedacht: Die können ja auch was Gescheites. „Kurskorrektur in der Russlandpolitik“ – ja genau, das brauchen wir doch alle. Aber schon der erste Satz zeigt, wohin die Reise der Grünen geht. In diesem Antrag wird das politische System Russlands als Regime bezeichnet und verurteilt.
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Hiermit ist doch der Konfrontationskurs schon festgelegt. Und wo ist dann bitte schön die Kurskorrektur?
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Genau das Gleiche machen wir doch auch jetzt. Der Antrag der Grünen, meine Damen und Herren, ist aus meiner Sicht ein Meisterwerk der Inkompetenz und Heuchelei – nichts anderes!
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Nur ein Beispiel. Die Situation der 90er-Jahre in Russland wird hier beschrieben als beispielhaft für Demokratie und Fortschritt. Ich kenne die Situation im Russland der 90er-Jahre.
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Ich habe das nicht gegoogelt; ich war da. Ich kann Ihnen ganz kurz beschreiben, was die von Ihnen so gelobte Demokratie damals prägte: Das war die Armut, das waren die Drogen, das war Chaos, das waren Bandenkriege.
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Ist das wirklich die Demokratie, die Sie vielleicht auch nach Deutschland bringen wollen, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben? Das muss man sich doch fragen.
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Liebe Grüne, Ihr Antrag ist aus meiner Sicht auch ein Meisterwerk der Lobbyarbeit. Ich möchte Ihnen eine einfache Frage stellen: Wer von Ihnen ist bereit, die Interessen seines Landes zu verraten zugunsten finanzieller Interessen anderer Länder?
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Wie viele von Ihnen sind bereit, für eine solche Entscheidung Verantwortung in der Zukunft zu tragen? Die Grünen wollen kein günstiges und auch kein umweltschonendes Gas aus Russland. Aber um die Energiesicherheit zu gewährleisten, müssen wir dann das teure und schmutzige Gas aus den USA kaufen.
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Dann muss man doch ehrlich sein und den Wählern sagen: Liebe Wähler, nächstes Jahr werden wir alle 10 bis 15 Prozent mehr bezahlen, weil wir das russische Gas, weil wir den Arbeitgeber aus dem fremden Land nicht wollen.
Man spricht über Korruption und eine Pipeline-Affäre. Wir haben jetzt schon den teuersten Strom in Europa. Wenn wir diesem Antrag folgen, dann müssen wir vielleicht noch mehr zahlen. Die Folge ist – da dürfen wir uns dann auch nicht wundern –, dass vielleicht die Unternehmer aus unserem Land auswandern und dass es zu sozialer Unruhe und zu Chaos kommt. Damit wären wir dann in der russischen Demokratie der 90er-Jahre. Das wollen Sie wirklich?
Auch wir in der AfD stehen wir für eine Kurskorrektur mit Blick auf Russland – aber in eine konstruktive Richtung. Denn ohne Russland ist die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent nicht zu gewährleisten und gegen Russland schon gar nicht. Wir müssen wirtschaftliche Sanktionen aufheben, die auch uns schaden und die für die Verarmung des Volkes mitverantwortlich sind. Wir brauchen eine freie Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok, die es uns ermöglicht, die enormen russischen Naturressourcen mit dem deutschen Know-how zu verbinden. Das ist eine Garantie für Frieden, das ist eine Garantie für Wohlstand für jetzige und für zukünftige Generationen. Dahin sollte der Kurswechsel in der Russlandpolitik gehen und nicht woandershin. Schluss mit dem grünen Wahnsinn! Diesen Antrag werden wir nicht unterstützen.
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Danke, Herr Herdt. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Johann Saathoff.
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Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt eine Reihe von besorgniserregenden Ereignissen in Russland, die dringend unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Es gibt wirklich dicke Bretter zu bohren. Vor zwei Wochen wurden drei deutsche Organisationen in Russland für unerwünscht erklärt. Der Petersburger Dialog hat daraufhin beschlossen, die Zusammenarbeit vorläufig auszusetzen. Denn diese Listung betrifft langjährige aktive Mitglieder des Petersburger Dialoges. Aber nicht nur der Petersburger Dialog ist betroffen. Vor allem trifft das die russischen Partner, die vielen Kooperationen, die es gibt, die nun praktisch über Nacht gekündigt werden mussten.
Ich habe mit Betroffenen gesprochen, und eins ist deutlich: Es geht hier nicht nur um politische Meinungen und Auseinandersetzungen. Es geht auch um langjährige Freundschaften und Kontakte von Mensch zu Mensch, die quasi über Nacht verboten wurden. Für diese Listung gibt es überhaupt keine Begründung. Die Behauptung, diese Organisationen würden Russland in irgendeiner Weise bedrohen, ist absurd und falsch und natürlich auch absolut nicht weise und nicht ausgerichtet auf eine gemeinsame gedeihliche Zukunft.
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Was es bedeutet, zu einer unerwünschten Organisation erklärt zu werden, sehen wir am Beispiel von Andrej Piwowarow. Obwohl er der Forderung des Gesetzes nachkam und die Bewegung „Offenes Russland“ aufgelöst hat, wurde er verhaftet, nachdem er bereits im abflugbereiten Flugzeug gesessen hat. Aktuell wurde bestätigt, dass die politischen Stäbe von Alexej Nawalny fortan als extremistische Organisationen gelten. Passend dazu wurde ein Gesetz verabschiedet, das seinen Unterstützern aus diesem Grund verbietet, als Kandidaten zu den Wahlen anzutreten.
All dies zeigt, dass sich Russland von den Werten und von den Regeln der Demokratie, zu denen es sich ausdrücklich verpflichtet hat, immer weiter entfernt. Opposition wird kaum noch geduldet, Gesetze und Maßnahmen richten sich aber auch gegen kritische Menschenrechtsverteidiger wie Juri Dmitrijew, der die Verbrechen des Stalinismus erforschte. Sie richten sich gegen die Zeugen Jehovas genauso wie gegen investigative Journalisten, die Korruption aufdecken oder einfach nur von Protesten berichten.
Ich stimme völlig überein, dass diese Entwicklung, die sich bereits über Jahre zeigt, unsere Russlandpolitik nicht unberührt lassen kann. Sosehr wir uns fragen müssen, was wir vielleicht hätten tun können, muss aber auch allen klar sein: Die Verantwortlichen hierfür sitzen nicht in Berlin oder Brüssel. Die Verantwortlichen sitzen vor allem in Moskau, Grosny oder anderswo in Russland. Es gibt vor allem keine Entschuldigung dafür, die Rechte der eigenen Bevölkerung zu verletzen.
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Der Kurs unserer Russlandpolitik bleibt derselbe, und er steht sogar im vorliegenden Antrag: Russland gehört zu Europa. – 80 Jahre nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion muss uns klar sein, wie wichtig es ist, diesen östlichen Teil Europas, der so sehr unter den deutschen Verbrechen gelitten hat, nicht zu vergessen. Der Bundestag hat gestern hieran würdig erinnert. Bundesaußenminister Heiko Maas hat dazu eine Rede gehalten und dies sehr deutlich gemacht.
Ich selbst bin gestern aus der Ukraine zurückgekehrt, wo ich ebenfalls dieses Tages gedacht habe. In der Ukraine war auch spürbar, wie lebendig die Idee Europa im Osten des Kontinents ist, gerade in und gerade mit einer lebendigen Zivilgesellschaft. Und es gehört auch zur europäischen Friedensordnung, dass wir die Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine nicht akzeptieren werden.
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In Belarus, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen wir, dass sich die Bevölkerung für ihr Recht, frei zu wählen, einsetzt und höchste Risiken in Kauf nimmt. Gerade heute habe ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion ein wirklich beeindruckendes Gespräch mit Swetlana Tichanowskaja führen können. Weil ich sehe, wie die Menschen sich um Demokratie und Zusammenarbeit bemühen, glaube ich auch niemandem, der in Bezug auf Russland suggeriert, er würde ja die russische Seele kennen, die angeblich nur die harte Hand versteht.
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Jedem, der Chancen in Gesprächen, Begegnungen und Verhandlungen sucht, dem wird abgesprochen, überhaupt Ahnung zu haben. In Russland gibt es aber nicht nur eine Seele. In Russland gibt es mindestens 144 Millionen Seelen. Und Europa ist ein Kontinent der Vielfalt, und Russland ist selbst vielfältig als Teil Europas.
Als die AG Zivilgesellschaft des Petersburger Dialogs, die ich damals zusammen mit Michail Fedotow koordiniert habe, im Dezember eine Erklärung beschlossen hat, in der vor der inzwischen erfolgten Verschärfung der Gesetze gegen die sogenannten ausländischen Agenten gewarnt wurde, haben mich viele gefragt: Wie habt ihr das eigentlich geschafft? Wie habt ihr es geschafft, dass die russische Seite zugestimmt hat? – Diese Frage ist schon völlig falsch gestellt. Es waren nämlich vor allem die russischen Teilnehmer, die ihre Sorgen geäußert haben und in dieser Erklärung Hoffnung suchten. Genau das ist ja der Fehler, dass behauptet wird, wir würden unsere Ideen nach Russland bringen wollen. Nein, es geht darum, dass die russische Gesellschaft sich frei äußern und sich frei entwickeln kann.
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Die neuen Gesetze, die noch mehr Organisationen und Personen zu ausländischen Agenten machen, sind beschlossen worden. Die russische Politik beschränkt die freie Meinungsäußerung und beschränkt viele Kontaktmöglichkeiten ins Ausland. Wir wollen das Gegenteil. Wir wollen mehr Kontakte, mehr Dialoge, mehr Austausch. Um es aber auch deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass wir diesem Ziel näherkommen, wenn wir die Kontakte auf einem Gebiet fördern und auf einem anderen Gebiet, wie zum Beispiel der Wirtschaft, von unserer Seite beschränken.
Wir müssen Russland an seinen Verpflichtungen immer wieder messen. Wir sind aber auch nicht so naiv, zu denken, dass sich dadurch die Situation in Russland schnell verändern wird. Leider wird sie das eher nicht. Es hilft der russischen Gesellschaft aber auch nicht, wenn wir versuchen, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Die Veränderungen müssen in Russland selbst erfolgen. Aber wir können und müssen eine Politik machen, die unseren Überzeugungen entspricht.
Vor allem müssen wir die Zivilgesellschaft unterstützen; Kollege Sarrazin, Sie haben absolut recht. Wir müssen die Russinnen und Russen unterstützen, die sich als Teil Europas begreifen, die sich für einen friedlichen Kontinent einsetzen, die das Klima schützen wollen, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzen, die sich für freie Bildung aussprechen, die für Menschenrechte eintreten oder die einfach über Grenzen hinweg Freundschaften schließen und erhalten wollen. Wir sind bereit, diese Probleme mit Russland gemeinsam anzugehen, weil sie uns gemeinsam angehen.
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Mehr Begegnungen, mehr Visa, mehr Dialog, weniger Hindernisse: Das ist der Weg. Das Brett, das wir bohren, ist dick – keine Frage. Aber das darf uns nicht abschrecken. Im Gegenteil: Das war und ist der klare Kurs unserer Russlandpolitik und wird es auch bleiben. Wer behauptet, dieser Weg ginge nicht, dem kann ich nur auf Platt antworten: Geiht neet, gifft neet.
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Die Präsidentin will wie immer die Übersetzung haben.
Frau Präsidentin, Sie stehen kurz vorm ostfriesischen Indigenat. „Geiht neet, gifft neet“ hätten Sie schon selber übersetzen können: Geht nicht, gibt’s nicht.
Danke schön. Es ging mir ja um die Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, lieber Johann Saathoff. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Renata Alt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsch-russische Verhältnis befindet sich aktuell leider auf einem Tiefpunkt. Die Bundesregierung hat eine strategische Debatte über das Verhältnis zu Russland viel zu lange vertagt. Deshalb ist die heutige Debatte sehr wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, einige Punkte aus Ihrem Antrag teilen wir. Wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschenrechte in Russland mit Füßen getreten werden. Menschenrechtsverletzungen müssen wir lautstark kritisieren.
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Gegen russische Propaganda und Hackerangriffe müssen wir hart vorgehen. Ja, es ist wichtig, russischen Oppositionellen wie dem vor Kurzem geflüchteten Dmitrij Gudkow zu helfen, und ja, Schutzsuchende aus Russland müssen unkompliziert Asyl in Deutschland erhalten.
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Aber angesichts der neuen Repressionen in Russland ist Ihr Antrag an vielen Stellen leider nur Wunschdenken. Sie plädieren dafür, die Zivilgesellschaft stärker zu unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie wollen Sie das konkret umsetzen? Die jüngsten Gesetze – Herr Saathoff hat sie gerade eben angesprochen – ermöglichen es dem russischen Staat, jeglichen internationalen Austausch zu unterbinden. Wie wollen Sie vermeiden, dass Oppositionelle eingesperrt werden, nur weil sie mit den westlichen Stiftungen zusammenarbeiten? Sie fordern in Ihrem Antrag Visaliberalisierung. Noch im Januar hat der Kollege Sarrazin in seinem Gastbeitrag in der Zeitschrift „Russland-Analysen“ das Gegenteil angemahnt.
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Wie glaubwürdig sind Ihre Forderungen? Sie sollten sich schon entscheiden!
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Der deutschen Wirtschaft wollen Sie vorschreiben, mit welchen russischen Unternehmen sie zusammenarbeiten darf und mit welchen nicht. Unsere Wirtschaft beginnt gerade, sich langsam von der Coronakrise zu erholen. Und Sie wollen den Unternehmen den Zugang zum russischen Markt verwehren? Da reiben sich chinesische Staatskonzerne jetzt schon die Hände.
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Wir dürfen unsere Unternehmen nicht zu den Leidtragenden der Verbrechen des Putin-Systems machen.
Meine Damen und Herren, bei den deutsch-russischen Beziehungen müssen wir uns auf realistische Ziele fokussieren. Wir brauchen eine kluge Diplomatie und Pragmatismus. Wir brauchen jetzt eine Politik der machbaren kleinen Schritte. Ihr Antrag ist gut gemeint; aber er ist nicht richtig zu Ende gedacht. Deshalb werden wir uns enthalten.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Klaus Ernst.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, die Verhältnisse sind kompliziert; sie sind schwierig. Es ist auch durchaus einiges Richtiges gesagt worden; aber der Tenor des Antrags der Grünen ist doch klar: Man möchte durch Konfrontation mit der russischen Seite die Einhaltung der Menschenrechte befördern. Ja, aber glauben Sie ernsthaft, Herr Sarrazin, dass Sie durch mehr Konfrontation, durch mehr Härte gegen Russland die Verhältnisse in Russland in dieser Frage tatsächlich ändern? Seit fünf Jahren verhängen wir Sanktionen: Das hat nichts bewirkt, nicht im Geringsten! Und Sie glauben, dass es, wenn wir noch eine Schippe drauflegen, besser wird? Wie kommen Sie eigentlich zu dieser vollkommen irrsinnigen Annahme, Herr Sarrazin?
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Ich sage Ihnen: Es kommt eigentlich gerade darauf an, die Kontakte zu intensivieren, um in Gesprächen mit der russischen Seite auf Veränderungen hinzuwirken und anzusprechen, was aus unserer Sicht falsch ist.
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Wäre das nicht der viel sinnvollere Weg? Ich erschrecke über Ihre Überlegung, die Ukraine vielleicht mit Waffen zu beliefern. Damit wollen Sie die Menschenrechtslage in Russland verändern? Da frage ich mich: Haben Sie eigentlich einen im Tee?
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Meine Damen und Herren, Ihr Vorschlag in dieser Frage, eine Verhärtung der Verhältnisse durch Konfrontation, insbesondere auch im Bereich der Wirtschaft, anzustreben, widerspricht nicht nur der Logik, das widerspricht auch den eigenen deutschen Interessen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass eine intensive Zusammenarbeit – gerade in wirtschaftlichen Fragen – die Verhältnisse eher stabilisiert und Gesprächskanäle offenlässt, was Sie offensichtlich infrage stellen. Deshalb kann ich Ihnen nur immer wieder die Worte des früheren Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Herrn Cordes, ans Herz legen. Er hat gesagt – und da hat er vollkommen recht –: Ein starkes Europa – an dem ja auch Sie Interesse haben sollten – ist ohne Einbeziehung Russlands nicht denkbar.
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Wenn Sie also an einem starken Europa interessiert sind, dann würde ich an Ihrer Stelle einige Punkte wirklich überdenken.
Meine Damen und Herren, zu einem vernünftigen Verhältnis gehört nämlich, auch die andere Seite – in diesem Fall die Russen – ein wenig zu verstehen und zu hinterfragen, warum sie eigentlich was machen. Deshalb möchte ich noch einen Blick auf die Geschichte werfen. Dass Russland aufgrund seiner eigenen Geschichte vielleicht ein besonderes Sicherheitsinteresse haben muss und hat, darüber haben wir in dieser Woche schon gesprochen. Aber ich erinnere auch daran, dass Gorbatschow bei der deutschen Einheit Zusagen gemacht worden sind, und zwar in dem Sinne – das Zitat wird Gorbatschow zugeschrieben –: Ganz gewiss wäre jede Erweiterung der NATO über ihren bisherigen Bereich inakzeptabel. – Heute haben wir ganz andere Verhältnisse. Die Russen haben der Wiedervereinigung zugestimmt unter der Bedingung der Nichtausweitung der NATO.
Herr Schmidt, Sie sagen: Expansionismus des Westens. – Nein, Sie meinen eigentlich den Osten. Aber den Expansionismus des Westens sehen wir doch praktisch: die Ausweitung der NATO –
Herr Kollege Ernst.
– ich bin sofort fertig – näher an die Grenzen des Ostens. Ich sage deshalb: Für friedliche Verhältnisse, auch in der Zukunft, brauchen wir mehr Zusammenarbeit, mehr Verständnis für den anderen und keine Hau-drauf-Politik der Grünen, vor der ich langsam wirklich Angst kriege.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Andreas Nick.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Russland ist ein großes europäisches Land, ein wichtiger Nachbar und ein bedeutender Teil europäischer Zivilisation. Wir wollen, gerade auch mit Blick auf die Menschen und die Zivilgesellschaft in Russland, ein friedliches Zusammenleben, konstruktive Beziehungen und möglichst enge Zusammenarbeit bei der Lösung globaler Probleme. Das ist nicht nur ein Gebot unserer leidvollen gemeinsamen Geschichte; es entspricht auch der geografischen Lage und unseren strategischen Interessen.
Aber gerade weil dies so ist, schmerzen uns die aktuellen Entwicklungen in Russland zutiefst. Mit der schon mehrfach angesprochenen Listung der im Petersburger Dialog vertretenen Organisationen entzieht die russische Führung den für den politischen und zivilgesellschaftlichen Dialog zentralen Formaten im Petersburger Dialog ernsthaft die Grundlagen. Das Verhalten der russischen Führung – aggressiv nach außen, repressiv nach innen – erfordert von uns auch künftig, gerade auch in den nächsten Monaten, ein hohes Maß an Wachsamkeit und Resilienz.
Unsere Politik gegenüber Russland hat auch weiterhin einen unverrückbaren Bezugspunkt, nämlich die Charta von Paris. Darin haben sich die Staaten Europas 1990 zu Demokratie, Menschenrechten und Grundfreiheiten bekannt. Sie haben sich verpflichtet, sich jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten.
Wir haben 2019 – nicht zuletzt gemeinsam mit unseren französischen Freunden – erhebliches politisches Kapital investiert, um Russland mit allen Rechten und Pflichten im Europarat zu halten, auch deswegen, um den Zugang für 140 Millionen Bürger der Russischen Föderation zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sicherzustellen. In aller Klarheit – das war auch die Botschaft unseres Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarats in den vergangenen Monaten –: Die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nicht nur im Fall von Alexej Nawalny, ist eine Kernverpflichtung für jeden Mitgliedstaat, und wer diese nicht erfüllt, der stellt seinen Platz im Europarat selbst infrage.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen, die sich aus der aktuellen russischen Politik ergeben, sind ja im vorliegenden Antrag, lieber Kollege Sarrazin, durchaus zutreffend und kenntnisreich und sachkundig beschrieben worden. Die Debatte hat auch gezeigt, dass wir, jedenfalls in den vier Fraktionen der demokratischen Mitte dieses Hauses, in dieser Analyse weitgehend übereinstimmen. Worin aber dann die von Ihnen angekündigte Kurskorrektur im Konkreten bestehen soll, bleibt dann doch etwas im Ungefähren. Es muss jedenfalls mehr sein als rhetorische Eskalation; denn wer Frieden und Sicherheit in Europa stärken will, der muss auch zu Investitionen in Sicherheit bereit sein. Wir sind hier sehr eindeutig: Ernsthafte Dialogangebote und eigene Stärke müssen Hand in Hand gehen mit Wachsamkeit und Resilienz. Diesen klaren Kurs halten wir auch in Zukunft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute vier Gesetze zur Gemeinsamen Agrarpolitik. Allein das zeigt ja schon, wie kompliziert diese GAP insgesamt ist.
Darüber hinaus haben wir die Situation, dass die Trilog-Verhandlungen in Brüssel noch gar nicht abgeschlossen sind. Das führt dazu, dass die uns vorliegenden Gesetze noch nicht abschließend ausgearbeitet werden konnten, sondern nach einem erfolgreichen Trilog inhaltlich mit entsprechenden Verordnungen noch angepasst und ausgestaltet werden müssen. Das führt natürlich zu großen Erwartungshaltungen, auch draußen in den Betrieben.
Eines ist ja klar: Die GAP vollzieht in der Tat einen Systemwechsel. Die Direktzahlungen sind künftig zusätzlich an zehn maßgebliche GLÖZ-Standards gebunden. GLÖZ-Standards stehen für den guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand der Flächen. Diese bilden die Konditionen für die Basisprämie. Gleichzeitig werden noch 25 Prozent der Finanzmittel in der ersten Säule für die Ökoregelungen bereitgestellt.
Mit der Umschichtung von der ersten in die zweite Säule bedeutet das für unsere Landwirte eine Senkung der Direktzahlungen von rund 250 auf 150 Euro pro Hektar. Um dies auffangen zu können, müssen die Ökoregelungen möglichst für alle Landwirte erfüllbar sein, damit diese umgeschichteten finanziellen Mittel dafür auch abgerufen werden können.
Aber diese Ökoregelungen müssen nicht nur den gewünschten Anreiz bieten, sie müssen nicht nur praxistauglich sein, sondern sie dürfen auch nicht mit den Agrarumweltprogrammen der Bundesländer, die es in der zweiten Säule gibt, konkurrieren. Denn auch diese Regelungen enthalten ökologische Leistungen, die sich in der Praxis bereits sehr gut etabliert haben.
Bei der weiteren Ausgestaltung der GAP sollte auch ein besonderes Augenmerk auf Betriebe und auf Regionen mit einem hohen Grünlandanteil gelegt werden, um auch in diesen Regionen ausreichend Rückzugsmöglichkeiten für die Biodiversität schaffen zu können.
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Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen: Wir haben im Bereich der Landwirtschaft mittlerweile eine Regelungsdichte, die vor allem von den kleineren und mittleren Betrieben nicht mehr überblickt werden kann. Betriebe, die zwar – ich sage jetzt mal: in Anführungszeichen – „nur“ 100 Hektar bewirtschaften, müssen dies oftmals auf 500, 600, ja 800 einzelnen Flurstücken machen. Das sieht man den Feldern nicht an, aus wie vielen Flurstücken sie gebildet werden. Das ist sehr schwierig. Deshalb müssen diese Betriebe bereits heute oftmals einen externen Berater hinzuziehen, um zu prüfen, ob sie alle Verpflichtungen, die sie eingegangen sind und die ihnen der Gesetzgeber auferlegt, erfüllt haben. Deshalb ist es uns auch sehr wichtig, dass im Zuge der Umverteilungsprämie die ersten Hektare noch mal deutlich stärker unterstützt werden.
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Aber zumindest wird die GAP auch einige Vereinfachungen für die landwirtschaftlichen Betriebe bringen. Durch die Nutzung des neuen Flächenmonitoringsystems wird sich die Zahl der Vor-Ort-Kontrollen etwa halbieren lassen. Gleichzeitig werden die Landwirte durch das Flächenmonitoring rechtzeitig Hinweise bekommen, wenn es eventuelle Unstimmigkeiten gibt, und sie bekommen dann auch die Möglichkeit zur Korrektur.
Und – das ist ein ganz wichtiger Punkt –: Wenn der Trilog sich darauf einigen kann, wird auch die Tierkennzeichnung aus der Konditionalitätenverpflichtung herausgenommen. Das wäre in der Tat eine sehr große Erleichterung für rund 160 000 tierhaltende Betriebe.
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Wie gesagt, die neue GAP ist ein Systemwechsel und stellt eine nachhaltige und biodiversitätsfördernde Pflege unserer Kulturlandschaft in den Mittelpunkt. Wir machen dafür mit der heutigen Verabschiedung dieser GAP-Gesetze einen wesentlichen Schritt dahin.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Hermann Färber. – Der nächste Redner: Wilhelm von Gottberg, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Klöckner sprach in ihrer Einführungsrede zur ersten Lesung der GAP-Reformgesetze am 20. Mai davon, dass mit diesen Reformgesetzen „sowohl die Einkommens- wie auch die Ernährungssicherung mit mehr Umwelt- und Klimaschutz“ zusammengebracht würden. Wenn das so ist, wäre ihr gewissermaßen die Quadratur des Kreises gelungen. Schon in drei Jahren wird sich erweisen, ob diese optimistische Zukunftsprognose der Realität standhalten wird.
Wir wollen heute ein Gesetzespaket zur Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik nach 2023 verabschieden, obwohl die Trilog-Verhandlungen zur GAP erst vor zwei Wochen vertagt wurden. Es ist noch unklar, wann und mit welchem Ergebnis der Trilog abgeschlossen werden kann. Das passt nicht zusammen, meine Damen und Herren. Im Einzelnen:
Erstens: GAP-Direktzahlungsgesetze. Die Bundesregierung will die einkommenswirksamen Direktzahlungen aus der ersten Säule bis 2026 schrittweise stark kürzen. Bis dahin werden 15 Prozent der Direktzahlungen der ersten Säule entzogen worden sein. Das ist dann eine Kürzung von 188 Millionen Euro pro Jahr. Nicht mit uns!
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Zweitens: GAP-Konditionalitäten-Gesetz. Konditionalitäten sind Verpflichtungen, die jeder Landwirt erfüllen muss, um die flächenbezogenen Direktzahlungen zu erhalten. Jeder landwirtschaftliche Betrieb muss mindestens 3 Prozent seiner Fläche aus der Nahrungsmittelproduktion herausnehmen. Bundesweit summiert sich der Verlust der landwirtschaftlichen Nutzfläche auf rund eine halbe Million Hektar. Dadurch wird das Einkommen der Landwirte zusätzlich verringert. Eine Kompensation dafür steht bisher aus.
Drittens: Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem-Gesetz der GAP. Bei den hier beabsichtigten Veränderungen handelt es sich um eine Eins-zu-eins-Umsetzung in nationales Recht. Zukünftig sollen das gesamte Antragsverfahren inklusive des Systems des Flächenmonitorings elektronisch abgewickelt werden. Zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe arbeiten bereits nach diesem System. Das ist tatsächlich ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Gut so!
Viertens: Viertes Gesetz zur Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes. Positiv zu bewerten ist bei diesem Entwurf die gekoppelte Einkommensstützung für Muttertiere von Kälbern und Lämmern. Diese Förderung ist überfällig. Bei dem Zielwert von etwa 60 Euro pro Mutterkuh besteht Nachbesserungsbedarf.
Interessant: Unser Änderungsantrag zu dem Gesetz in Bezug auf § 4 Absatz 1 hinsichtlich der Mittelzuweisung für aktive Betriebsinhaber hat die Koalition übernommen. Trotz dieses Teilerfolgs können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, das hier vorgelegte Gesetzespaket ist komplex, unübersichtlich, nicht einfach zu beurteilen.
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Es greift gravierend in die dürftige Einkommenssituation der Landwirte ein. Ich habe es als schäbig empfunden, dass die Koalition bei dieser schwierigen Materie noch gestern früh zu Beginn der Ausschussberatungen drei weitere Änderungsanträge vorgelegt hat.
Meine Damen und Herren, hier wird den Menschen draußen im Lande ein Parlamentarismus dargeboten, der mit einer demokratischen Debattenkultur nicht viel zu tun hat. Passend dazu gab es gestern im Ausschuss – in Vorbereitung auf die heutige Debatte – eine Tagesordnung von 44 Punkten. Gleichwohl bekunde ich meinen Respekt gegenüber dem Ausschussvorsitzenden, der die Tagesordnung mit Unterstützung aller Beteiligten noch in ausreichendem Maße abgearbeitet hat.
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Danke.
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Der nächste Redner ist der Abgeordnete Rainer Spiering von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist in den ersten beiden Wortbeiträgen schon gut dokumentiert worden, welch umfassendes Gesetzespaket wir heute besprechen.
Ich möchte aber vorweg die Entstehungsgeschichte darstellen; denn sie spielt bei dieser Gesetzgebung eine sehr große Rolle. Die GAP und die GAK sind ohne die Bundesländer nicht denkbar. Das heißt, die Zustimmung des Bundesrates und der jeweiligen Agrarminister ist unumgänglich dafür, dass wir dieses Gesetz heute abschließen.
Die Agrarministerkonferenz hat vor einigen Wochen in einer ausgesprochen spannenden Sitzung Beschlüsse gefasst. Man muss dazu sagen, dass alle hier im Hause vertretenen Parteien, bis auf die AfD, an diesem Kompromiss beteiligt waren; alle. Der Geist – darum geht es – dieser Vereinbarung war, dass man einen Systemwechsel in die Richtung machen wollte, den die Sozialdemokratie seit vielen Jahren in diesem Hause fordert: öffentliches Geld für öffentliche Leistung.
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Ich kann mich nur herzlich bei den Agrarministern bedanken, dass sie das aufgenommen haben.
Aus dieser Konsequenz heraus ergeben sich aber Schlussfolgerungen. Die kardinale Schlussfolgerung bei der Förderung besonderer Ökosystemleistung war und ist, dass nur das gefördert wird, was einen Mehrwert erzeugt, also über das hinausgeht, was jetzt schon an Wert dargestellt wird. Das ist die Problematik, Hermann Färber, die mit dem Grünland angesprochen worden ist. Wenn jetzt die Agrarminister der Meinung gewesen wären, dass dadurch ein Mehrwert erzeugt werden kann, indem man Dauergrünland so belässt, wie es ist, dann hätten sie eine entsprechende Entscheidung getroffen. Haben sie aber nicht. Sie sind bei ihrer Logik geblieben: Es wird nur das entlohnt, was einen Mehrwert erzeugt.
Jetzt gibt es bei diesen sieben Eco-Schemes drei Säulen, die genau diesen Mehrwert bei Dauergrünland beschreiben. Allen sollten diese drei Säulen bekannt sein. Die haben aber immer zum Inhalt, dass das Dauergrünland sich biologisch verbessert. Insofern war das auch ein sehr kluger Schritt der Agrarministerkonferenz.
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Für uns freue ich mich, dass es gelungen ist, die Förderung von Agroforst nicht nur auf Ackerland, sondern auch auf Dauergrünland einzuführen. Das hat mehrere gute Funktionen. Einmal hat es die Funktion, dass wir eine Rückkehr von Kleinsttierlebewesen, also von dem, was unsere Tierwelt ausmacht, erreichen, und es hat den Vorteil, dass das, was wir als Weidetier bezeichnen, tatsächlich im Sommer auch einmal Schatten findet. Insofern war das eine gemeinsame gute Entscheidung.
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Wir hätten übrigens gerne, um die Frage des Dauergrünlandes auf einem anderen Wege zu klären, eine Weidetierprämie gegeben. Wir haben uns 2 Prozent der Gesamtsumme vorgestellt. Hier reden wir von 100 Millionen Euro. Das ist nicht gewollt gewesen. Das ist bedauerlich, aber so ist es halt, wenn man auf Kompromisse angewiesen ist. Am Ende des Tages haben das auch die Agrarminister ordnungsgemäß gemacht, und deswegen will ich mich darüber auch nicht beschweren.
Kommen wir zu dem Punkt, den der Kollege Färber schon angesprochen hat und der für mich von ganz zentraler Bedeutung ist. Wir haben bei der gesamten Frage der Düngeverordnung – das gilt übrigens auch, wenn wir uns über das Insektenschutzgesetz und über die Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung unterhalten – ein Problem mit der Digitalität. Das, muss ich sagen, wird jetzt in dem GAPInVeKoS-Gesetz hervorragend geklärt. Im Übrigen zeigt es, Kollege Feiler, was das BMEL mittlerweile IT-technisch drauf hat. Ich möchte das dem staunenden Publikum gerne vorstellen – da hat das BMEL mithilfe der IT richtig was hinbekommen –:
Das Gesetz regelt das Integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem zur Abwicklung der Direktzahlungen. Neu ist hier vor allem die Digitalisierung, ein Erfolg unserer Arbeit. Das gesamte Antrags-, Kommunikations- und Prüfverfahren wird zukünftig fast ausschließlich elektronisch geregelt. In Ausnahmefällen bleibt ein Papierantrag möglich. Fristende für den Sammelantrag ist ausnahmslos der 15. Mai. Bis 2024 wird aufgrund von EU-Vorgaben ein digitales Flächenmonitoringsystem eingeführt.
Und jetzt kommt der absolut entscheidende Satz, der nicht jedem schmecken muss, aber es ist der entscheidende Satz: Eine Datenübermittlung darf auch an Behörden erfolgen, die mit der Wasserrahmenrichtlinie, der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie befasst sind. – Damit haben wir endlich das geschafft, was Sinn und Zweck der Arbeit der letzten vier Jahre war.
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Wir haben die Landwirtschaft digitalisiert. Wir haben sie transparent gemacht. Wir machen die Abwicklung der Zahlen jetzt in kürzester Zeit für Landwirte möglich. Ich finde, das ist ein riesiger Erfolg.
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Das sollte man auch nicht bei einer vielleicht ärgerlichen Sache wie Grünland kleinreden, sondern sagen: Das haben wir gut gemacht, Kolleginnen und Kollegen.
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Ich bin im Übrigen der festen Überzeugung, dass wir mit dem Weg, den wir jetzt beschreiten, der Landwirtschaft einen Riesendienst erweisen, weil wir ihr jetzt die Möglichkeit geben, in kürzester Zeit auf Veränderungen zu reagieren. Den Landwirten und Landwirtinnen geben wir die Möglichkeit, im Januar, Februar, März auf Grundlage von Flächenmonitoring, von Datenlagen, von Wetterprognosen einen Antrag zu stellen, von dem sie über die Oberfläche des Rechners rückgespiegelt bekommen, was dabei herauskommt, und zwar in Euro und Cent. Ich finde, das ist ein Riesenerfolg.
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Für meine Fraktion sage ich: Die Agrarministerkonferenz hat das gut vorbereitet. Ich habe mit mehreren Agrarministern gesprochen. Alle haben mir sehr deutlich gesagt: Grünland ist bei der Konferenz kein Thema gewesen, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem ich es angesprochen habe.
Wir haben eine weitere Agrarministerkonferenz. Wenn ein Bundesland meint, es müsste dort reingrätschen, dann darf es das tun. Ich bin mir sicher, es wird eine Antwort bekommen. Ich glaube, dass wir auf diesem Wege tatsächlich eine Systemveränderung erreicht haben, die gut für die Bevölkerung ist, die gut für die Natur und die vor allen Dingen gut für die Landwirtschaft ist.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Dr. Gero Clemens Hocker. – Bitte schön.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass alle Agrarpolitiker aller Fraktionen gegenwärtig sehr viel unterwegs sind, viele Diskussionen führen, viel mit Landwirten zusammenkommen. So auch wir. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist, aber ich habe in den letzten vier Jahren bei Hunderten Veranstaltungen von einem Landwirt nicht ein einziges Mal den Satz gehört: Wir fordern Sie auf, mehr Geld aus Brüssel oder aus Berlin zu besorgen. Oder: Wir hätten gerne mehr Dürrehilfen bekommen. Oder: Es hätte nicht eine, sondern am liebsten zwei Bauernmilliarden sein sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, vielen in diesem Haus ist noch nicht bewusst, wie Landwirtinnen und Landwirte im Jahre 2021 ticken. Die sagen nämlich: Es kann für uns nicht die Grundlage eines Geschäftsmodells sein, abhängig davon zu sein, dass der Staat uns willkürlich Gelder zuschiebt oder nicht. Es ist allerhöchste Zeit, dass das auch in diesem Hohen Haus endlich begriffen wird, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ganz im Gegenteil. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Die Bauernmilliarde wird gegenwärtig verlost. Bei den Dürrehilfen müssen wir uns auch ehrlich machen. Viele Gelder sind ausgezahlt worden an Betriebe, die vielleicht in der Vergangenheit völlig falsche betriebswirtschaftliche Entscheidungen getroffen haben, die vielleicht nicht in Humusbildung investiert haben, die nicht in Beregnung investiert haben. Ja, und wenn man Gelder aus Brüssel oder Berlin bekommen möchte, dann ist das an extrem hohe Auflagen geknüpft.
Meine Damen und Herren, Landwirte möchten endlich als Unternehmer wahrgenommen werden, als Inhaber eines mittelständischen Betriebes, und nicht von willkürlich bewilligten Zahlungen abhängig sein.
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Und, meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass in der Politik endlich die Botschaft ankommt, dass diese Strategie, immer neue Zahlungen ins Schaufenster zu stellen, tatsächlich ins letzte Jahrhundert gehört.
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Ich sage es ganz ausdrücklich: Mit der Umschichtung von Mitteln aus der ersten in die zweite Säule befördern Sie eine ganz problematische Entwicklung; denn viele Landwirte, die sich mit ihren Betrieben in einer extrem prekären Situation befinden, sagen natürlich: Wenn das der Anreiz ist, dann muss ich eben noch mehr Blühstreifen säen und diese Dinge noch mehr in Angriff nehmen, weil ich abhängig von den Zahlungen bin. – Aber der Effekt, meine Damen und Herren, ist doch der, dass wir Landwirte, die eigentlich Lebensmittel und Futtermittel erzeugen – und die das zu weltweit höchsten Standards tun –, sozusagen umerziehen zu staatlich geprüften Landschaftspflegern und Landschaftsgärtnern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir machen uns in Deutschland damit noch abhängiger von Lebensmittelimporten aus dem Ausland, wo im Zweifel schlechtere, niedrigere Standards in der Tierhaltung gelten oder wo Pflanzenschutzmittel zur Anwendung kommen, die in Deutschland schon seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten, aus gutem Grunde nicht mehr zur Anwendung kommen. Deswegen ist die Umschichtung von Mitteln aus der ersten in die zweite Säule in dieser Größenordnung vollständig kontraproduktiv, und deswegen können wir Ihren Plänen nicht folgen.
Vielen Dank.
({3})
Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute sollen vier Gesetze zur zukünftigen EU-Agrarförderung beschlossen werden. Ja, es fehlen dazu noch wichtige Grundlagenbeschlüsse auf EU-Ebene; aber der Zeitdruck auf die Mitgliedstaaten ist eben auch sehr hoch, weil der EU schon Anfang 2022 die sogenannten Strategiepläne vorgelegt werden müssen. Die Bundestagswahl macht es jetzt auch nicht besonders einfach. Deshalb ist es richtig, heute über wichtige Eckpunkte abzustimmen. Die Agrarbetriebe sollen zumindest bei diesen Punkten wissen, worauf sie sich einstellen müssen.
Mit dem Gesetzespaket heute wird auch der schwer errungene Kompromiss der Agrarminister/-innen der Bundesländer respektvoll umgesetzt. Im Grundsatz wird der ja auch breit getragen. Klar ist nur auch, dass die vielen aufgestauten Probleme in der Landwirtschaft damit allein nicht gelöst werden. Immerhin werden die richtigen Weichen gestellt; nur der behauptete Systemwechsel ist das natürlich nicht. Denn in der Landwirtschaft Tätige arbeiten weiter vor allen Dingen für Profite von Konzernen und Bodenspekulanten statt zum eigenen und zu unser aller Wohl. Hier hat die Koalition weitgehend versagt, und das ist katastrophal.
({0})
Gerade deshalb müssen aber in der Landwirtschaft Tätige ihre eigene soziale Situation verbessern können, wenn sie die Natur, biologische Vielfalt, Tiere und Klima besser schützen sollen. Diesen Ansatz muss die EU sichern.
Im vorliegenden Gesetzespaket gibt es aus meiner Sicht Licht und Schatten. Hier ein paar besonders wichtige Kritikpunkte:
Erstens. Gut, dass Schaf-, Ziegen- und Mutterkuhhaltende endlich ihre Weidetierprämie bekommen; aber warum nicht schon 2022?
Zweitens. Gut, dass die Nutzung von Bäumen und Sträuchern auf Landwirtschaftsflächen, sogenannte Agroforstsysteme, künftig gefördert wird, auch auf Grünland; das hatten die Linken immer gefordert. Aber den Vorbehalt für den Naturschutz hat die Koalition nicht übernommen. Neuanlagen von Agroforstsystemen werden auch nicht gefördert. Hier, finde ich, sind die Bundesländer gefordert.
Drittens. Ein Punktesystem wie zum Beispiel die Gemeinwohlprämie der deutschen Landschaftspflegeverbände wird nicht geregelt, obwohl es aus der EU klare Signale gibt, die das befürworten.
Viertens. Die Teilhabe von Frauen in der Landwirtschaft und in den ländlichen Räumen muss endlich besser werden.
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Der LandFrauenverband hat in der Anhörung klar gesagt, warum das notwendig ist und wie es geht: sowohl durch bessere Förderung als auch durch Entscheidungsgremien, die zur Hälfte aus Frauen bestehen. Das muss jetzt endlich kommen.
Fünftens. Die Besonderheiten kooperativer und genossenschaftlicher Strukturen in der Landwirtschaft müssen besser berücksichtigt werden. Davon würden übrigens gerade Frauen profitieren. Hier muss dringend nachgebessert werden.
Sechstens. Den Vorschlag aus der Anhörung, kleinere Schläge zu honorieren, unterstützt Die Linke; denn es geht eben nicht um kleine gegen große Betriebe, sondern um eine gut strukturierte Landnutzung. Unsere Forderungen insgesamt haben wir im Entschließungsantrag niedergeschrieben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Der Kollege Friedrich Ostendorff beabsichtigt heute, seine letzte Rede zu halten. Dazu erteile ich ihm das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schließen Sie aus meiner Immobilität nicht, dass der Kampfeswille nicht weiterhin da ist.
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Mich beschäftigt seit 50 Jahren, was Sinn und Zweck der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik ist. Die gescheiterten Brüsseler Verhandlungen zeigen uns doch, dass die gemeinsamen europäischen Ziele völlig unklar sind: Auf der einen Seite die ewig gestrigen Besitzstandswahrer, die weitermachen wollen mit dem „Wer hat, dem wird gegeben“; 20 Prozent der Betriebe erhalten weiterhin 80 Prozent des Geldes. Auf der anderen Seite die Reformorientierten, die die konkreten sozialökologischen Leistungen der Landwirtschaft für Boden, Klima und Tier unterstützen wollen. Es ist doch sehr ernüchternd für uns alle – nach der mühsam gelungenen Bundesländereinigung, der Einstimmigkeit –, dass die Ministerin Frau Klöckner in Brüssel auf der Bremse steht und nicht vehement für diesen Kompromiss streitet.
({1})
Wir fragen uns natürlich: Wofür steht denn Ministerin Klöckner eigentlich, hier den Bundesländerkompromiss mit unterstützend, ihn in Brüssel vergessend? Unterstützt sie denn den massiven Einstieg in die Gemeinwohlprämierung? Wo ist die starke Unterstützung der Ministerin für das Multitalent Grünland? Alle beteuern, wie wichtig es ist für Klima, Artenschutz, Kohlenstoffbindung. Wo sind die entschlossenen Maßnahmen, damit nicht am Ende wieder Grünland – wie schon so oft, vor allem auch in den benachteiligten Regionen – der geschröpfte Reformverlierer ist?
Wo ist die konsequente Förderung der Weidetierhaltung? In Deutschland haben 86 Prozent der Betriebe weniger als 100 Hektar. Erinnern wir uns: Steuerzahler bringen jedes Jahr rund 6 Milliarden Euro an Hilfe für die Landwirtschaft auf. Für wen wird denn hier eigentlich Politik gemacht von Ihnen, von CDU/CSU und SPD? Wir Grünen stehen eindeutig auf der Seite der 86 Prozent. Wir setzen uns für den sozialökologischen Umbau der Landwirtschaft ein.
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Mit dem Strukturbruch müssen wir doch endlich Schluss machen. Wir wollen eine starke Gemeinwohlprämie, öffentliches Geld für öffentliche Leistung. Wir tragen dieses Paket heute teilweise mit, nur: Es reicht bei Weitem nicht aus. Es reicht hinten und vorne nicht.
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Wir kämpfen weiter für die Ziele: stärkere Umverteilung zugunsten der ersten Hektare, Kappung und Degression, stärkere Umschichtung in die zweite Säule, starke Gemeinwohlorientierung, vielfältige, kleiner strukturierte Betriebe. Das ist der Wunsch der Gesellschaft. Das ist das, was wir überall erfahren, hören, bei jeder Diskussion. Doch Ihre Politik ist weit weg davon.
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Das Einzige, was optimistisch stimmt, ist die Arbeit der Zukunftskommission Landwirtschaft, aber auch die der Borchert-Kommission. Das lässt hoffen, dass sich der Wind dreht. Bei allen verhärteten Diskussionen löst sich hier scheinbar etwas auf. Es stimmt uns doch alle hoffnungsvoll – das hoffe ich jedenfalls –, dass die BUNDjugend und die Landjugend in der Zukunftskommission den Austausch begonnen haben und sich mit Gemeinsamkeiten gemeldet haben, statt auf Konfrontation zu setzen.
Schönen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war und ist mir eine Ehre, diesem Parlament anzugehören.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wichtigste Aufgabe der Landwirtschaft ist die Versorgung der Menschen mit gesunden und bezahlbaren Lebensmitteln. Diese Aufgabe haben die Bauern in den letzten Jahrzehnten in Europa dank der Gemeinsamen Agrarpolitik erfüllt. Wir stellen jedoch fest, dass unsere Gesellschaft mehr Umweltleistungen von der Landwirtschaft verlangt. Dies muss aber europaweit erfolgen, damit wir in Deutschland konkurrenzfähig bleiben.
Genau dies hat unsere Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner geschafft. Sie hat den Systemwechsel in Europa eingeleitet. Auch wenn wir heute bedauerlicherweise noch zu wenige Details kennen – die neue Ausrichtung der GAP ist der richtige Weg. Nur so werden wir dauerhaft finanzielle Leistungen aus Europa für unsere Landwirte sichern können.
Ich will auf zwei Probleme eingehen, die für die Akzeptanz der GAP bei den Landwirten sehr wichtig sind. Wir müssen passende Eco-Schemes für die Grünlandstandorte finden,
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damit nicht die ohnehin schon sehr gebeutelten Milchviehhalter die großen Verlierer der neuen GAP sind. Und wenn unsere europäische Gesellschaft tatsächlich mehr Umweltschutz und Biodiversität will, dann muss es auch entsprechende finanzielle Anreize geben. Auf Deutsch: Die Landwirte müssen mit Umweltleistungen Geld verdienen können.
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Die Bauern wiederum müssen verstehen: Wenn wir in Deutschland langfristig eine gesellschaftlich akzeptierte Landwirtschaft wollen, dann müssen Strukturen angepasst werden. Ich sage es noch einmal: Nachhaltige Landwirtschaft heißt für mich Kreislaufwirtschaft. Wir haben in unserem Land nicht zu viele Tiere, aber wir brauchen eine bessere Verteilung der Tierbestände von West nach Ost.
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Genau das hat meine Familie gemacht, als wir vor fast 30 Jahren als niederländische Milchviehhalter nach Sachsen- Anhalt gekommen sind und dort unseren Betrieb aufgebaut haben. In den letzten acht Jahren durfte ich meinen Wahlkreis Anhalt hier im Hohen Haus vertreten. Dafür bin ich unendlich dankbar. Meine Standpunkte in der Landwirtschaftspolitik basierten dabei stets auf dem Grundsatz: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. – Ich kann allen nur raten, dies immer im Auge zu behalten, wenn mal wieder Änderungen gefordert werden.
Und damit ist meine Zeit gekommen. Es war mir eine große Ehre, hier meinem neuen Vaterland dienen zu dürfen. Ich wünsche allen, die dem nächsten Bundestag angehören, Kraft, Mut und Gottes Segen, um unser wunderbares Land weiter nach vorne zu bringen, ohne dabei die Verantwortung für diejenigen auf dieser Welt, denen es nicht so gut geht, aus den Augen zu verlieren.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Dankuwel dat U naar mij geluisterd heeft.
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Vielen Dank und alles Gute, Kees de Vries. – Ebenfalls die voraussichtlich letzte Rede kommt jetzt von Alois Gerig, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Äußerungen meiner Kollegen Färber und Kees de Vries, insbesondere den kritischen Äußerungen zur GAP, schließe ich mich uneingeschränkt an. Ja, auch ich werde der Vorlage zustimmen, weil wir uns in der aktuellen Situation diesbezügliche Experimente nicht leisten können. Das wäre ein Spiel mit dem Feuer. Ich bin dankbar, dass auch viele Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen zumindest in Teilen die gleiche Ansicht teilen.
Ja, Sie können sich darauf verlassen, dass ich voller Leidenschaft meiner Arbeit als Abgeordneter bis zum letzten Arbeitstag in vier, fünf Monaten und auch darüber hinaus nachkommen werde. Da ich heute aber vermutlich meine letzte Rede hier an diesem berühmten Pult halten werde, will ich die restlichen drei Minuten insbesondere dafür nutzen, um Danke zu sagen, Danke an alle, die mich in den letzten zwölf Jahren so tatkräftig unterstützt haben.
Ich beginne mit meiner Frau, meiner Familie und den Parteifreunden in der Heimat, die mich zur Kandidatur animiert und durch die Wahlen getragen haben. Danke an meine Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis – dem schönsten Deutschlands –, die mich dreimal mit Spitzenergebnissen nach Berlin gesandt haben. Danke unserem Herrgott, dass ich keinen einzigen Plenartag krankheitsbedingt ausfallen musste. Danke, dass ich unseren Menschen, den ländlichen Räumen und der grünen Branche in Gänze dienen durfte. Es war für mich eine besonders große Ehre.
({0})
Danke auch dafür, dass mir bei aller zwischenzeitlichen Kritik ein großes Vertrauen entgegengebracht worden ist. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen im Parlament – auch fraktionsübergreifend – für den überwiegend respektvollen Umgang miteinander und für alle Unterstützung.
Danke den Mitgliedern – und das muss jetzt kommen – des wichtigsten Ausschusses im Deutschen Bundestag.
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Es ist tatsächlich so, dass die Wertschätzung der Mittel zum Leben und deren Produzenten in unserer Zeit permanent anderen Dingen untergeordnet wird. Das muss sich ändern. Lieber Gero Hocker, solange die Fördermittel aus Brüssel fast 50 Prozent der Einkommen unserer Bauern ausmachen, können sie halt nicht darauf verzichten, und deswegen müssen wir an besseren Lebensmittelpreisen und daran arbeiten, dass diese dann auch bei den Bauern ankommen.
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Ganz besonders danke ich meinen Obleuten, dass wir trotz mancher logistischer Herausforderungen in den letzten sechseinhalb Jahren stets einen fairen Konsens miteinander gefunden haben. Das ist nicht selbstverständlich. Danke an Julia Klöckner und ihr Haus. Ich habe euch sehr oft voller Ungeduld genervt.
Lieber Friedrich Ostendorff, bei aller Wertschätzung: Ich habe andere Botschaften aus Brüssel gehört als du.
Danke an die Verwaltung überall im Hause. Meine persönlichen Mitarbeiterinnen sind mir ans Herz gewachsen. Danke auch dem Ausschusssekretariat.
Meine Damen und Herren, ohne Zweifel geht Demokratie nicht ohne Reiberei. Aber wir sind gewählte Volksvertreter. Und wenn wir vom Volk nicht mehr verstanden werden, dann müssen wir uns darüber Gedanken machen, wo wir Fehler gemacht haben. Vielleicht ist das ganz oft bei der Kommunikation der Fall. Wenn Hierarchie und juristische Bürokratie permanent pragmatische Lösungen verhindern, dann haben wir als Politiker doch zu viele Verwaltungsstellen geschaffen.
Aber das, was mir in meinem Leben stets so wichtig war, habe ich auch hier im Parlament gefunden: den menschlichen, wertschätzenden Umgang miteinander, die Gespräche zwischendurch, das gegenseitige Respektieren und das Unterstützen. – Ja, auch wenn Sie da draußen verständlicherweise bei den Debatten hier nicht immer das Gefühl haben, es gibt sie trotzdem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, pflegt dieses Miteinander, pflegt diese Wertschätzung. Sie ist eine so wertvolle Pflanze.
({3})
Um all meine Gedanken und Erfahrungen wiederzugeben, reichen drei Minuten bei Weitem nicht. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, sie niederzuschreiben. Aber neben all dem Gerangel, das wir in den zwölf Jahren erlebt haben, ist es für mich jedenfalls das menschliche Miteinander, das im Gedächtnis bleiben wird, ob es Claudia Roth war, die beispielsweise zu meinem Geburtstag hier am Pult ein Ständchen angestimmt hat,
({4})
oder ob es Wolfgang Schäuble war, der an seinem 71. Geburtstag kurz vor der Bundestagswahl bei mir die größte Stadthalle gefüllt hat, –
Alois!
– und ich dann –
Der Abschied fällt schwer.
({0})
– fast 60 Prozent erhalten habe.
({0})
Lieber Herr Präsident, ich habe gehofft, weil ich immer sehr diszipliniert hier am Rednerpult gestanden habe, dass ich heute eine Minute überziehen darf.
({1})
Ich danke allen, dass ich so oft meine Stimme hier einbringen durfte. Ich wünschen Ihnen allen die drei großen G: Gesundheit, Glück und Gottes Segen. Machen Sie bitte alle im Sinne unseres Landes weiter.
Danke schön.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vier Jahre lang haben wir im Bundestag nun gehört, dass sich die Bundesregierung um eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik bemüht. Tatsächlich aber haben Union und SPD Deutschland zum weltweit viertgrößten Waffenhändler gemacht.
({0})
Sieht so eine zurückhaltende Rüstungsexportpolitik aus, meine Damen und Herren? Wohl kaum.
({1})
Selbst im Coronajahr, im vergangenen Jahr, genehmigte diese Bundesregierung Waffenlieferungen im Umfang von 5,6 Milliarden Euro. Da noch von einer zurückhaltenden Genehmigungspraxis zu sprechen, ist schlichtweg verlogen.
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Wer sind die Empfänger Ihrer Waffenlieferungen? – Diktatoren und autoritäre Regime, die islamistische Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien, das NATO-Mitglied Türkei und das Emirat Katar – beide bekannt für die Unterstützung von islamistischen Terrorbanden – sowie die Fürstendiktatur der Vereinigten Arabischen Emirate, die für furchtbare Verbrechen im Krieg gegen den Jemen mitverantwortlich ist. Ich frage Sie: Wo bleiben da eigentlich die Menschenrechte und Ihre menschenrechtsorientierte Außenpolitik?
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Das ist keine verantwortungsvolle Waffenexportpolitik.
2019 hat diese Bundesregierung im Schnitt lediglich einen von 500 Rüstungsexportanträgen der deutschen Rüstungsschmieden abgelehnt, meine Damen und Herren. Gerade mal einen von 500 Anträgen haben Sie abgelehnt! Wer bei Ihnen einen Exportantrag stellt, bekommt ihn auch genehmigt.
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Das zeigt auch besser als alle Sonntagsreden von Ihnen im Bundestag: Nicht der Bevölkerung, von der ein Anteil von zwei Dritteln alle Rüstungsexporte stoppen will, sondern dem militärisch-industriellen Komplex fühlen Sie sich verpflichtet.
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Lobbyisten wie der ehemalige Verteidigungsminister Jung sorgen jetzt eben mit einem gut gefüllten Adressbuch dafür, dass die Bundesregierung auch noch den letzten Antrag des Düsseldorfer Rüstungskonzerns Rheinmetall abnickt. Das, liebe Damen und Herren, stinkt einfach zum Himmel.
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Auch die Europäisierung der Rüstungsproduktion lässt nichts Gutes ahnen. Der sogenannte Europäische Verteidigungsfonds ist nichts anderes als eine Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU und verstößt noch dazu gegen EU-Verträge. Ein Militärprogramm zu einem industriepolitischen Programm umzudichten, um das Recht zu umgehen, ist ein fauler Trick.
({7})
Und das darf so nicht durchgehen. Deshalb werden wir auch vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen klagen.
({8})
Es ist wirklich unfassbar, dass diese mörderische Waffenexportpolitik, die allein die Profite der Rüstungskonzerne im Blick hat, von Union, SPD, FDP und AfD einfach mitgetragen wird.
Und was die Grünen angeht, ist es wie beim römischen Gott Janus mit seinen zwei Gesichtern. Man fragt sich: Was gilt denn nun eigentlich? Hier beantragen Sie, Rüstungsexporte zu begrenzen, und zugleich trommelt Ihr Parteivorsitzender Robert Habeck mit Stahlhelm an der Front für Waffenlieferungen an die Ukraine, die sich im Krieg befindet.
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Wenn man sich die grüne Regierungszeit anschaut, dann weiß man, welches Gesicht sich am Ende durchsetzt.
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Mit den Leopard-2-Panzern, deren Export Sie unter dem Jubel von Herrn Fischer und Herrn Bütikofer auch noch ohne Einsatzbedingungen 2005 an die Türkei und Erdogan genehmigt haben, wurden 2018 die Kurden in Afrin niedergewalzt.
({11})
Das ist die Realität der Rüstungsexportpolitik der Grünen. Ich finde, wer glaubwürdig sein will, der muss dafür sorgen, dass er nicht janusköpfig agiert.
Die Linke tritt für ein gesetzliches Verbot von Waffenexporten ein. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland – zwei Drittel laut Umfragen – will den Stopp aller Rüstungsexporte. Die Linke findet: Es ist Zeit für eine Politik für die Mehrheit. Deshalb fordern wir einen generellen Stopp der Waffenexporte.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch.
({0})
Herr Präsident! Hohes Haus! Deutschland ist nicht die Rüstungsschmiede der Welt. Frau Dağdelen hat ja gerade wieder versucht, das so darzustellen.
({0})
Es wird immer wieder versucht, diesen Eindruck zu erwecken; aber ich möchte Ihnen gleich zu Beginn entgegenhalten – Sie erwarten es wahrscheinlich auch nicht anders von mir –:
({1})
Wir haben in Deutschland eine Bundesregierung, die eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik verfolgt.
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Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall
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und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung und unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Grundlage sind die rechtlichen Vorgaben des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen, des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung, der Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern, der Vertrag über den Waffenhandel – „Arms Trade Treaty“ – sowie die am 26. Juni 2019 in geschärfter Form verabschiedeten Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Die Politischen Grundsätze – Frau Keul, das kann ich Ihnen auch heute nicht ersparen – wurden 2000 unter einer rot-grünen Bundesregierung verfasst. Streitpunkt war ja damals – Frau Dağdelen hat gerade daran erinnert – die Panzerlieferung an den NATO-Partner Türkei. Die Grünen befürchteten einen Einsatz der Panzer als Mittel der inneren Repression, und die SPD hielt dem entgegen: unbeschränkte Lieferung an NATO-Partner, weil das das Grundprinzip des Bündnisses ist.
Ich weiß, dass die Grünen ein ungeklärtes Verhältnis zur Türkei haben.
({4})
Wir können hier auch keine posttraumatischen Therapiestunden anbieten, damit Sie die Vorfälle, die damals unter Rot-Grün passiert sind, verarbeiten können. Aber Sie müssten eben schon sagen, in welche Richtung Sie gehen wollen.
Europäisierung wird von Ihnen befürwortet, vor allen Dingen wenn es darum geht, deutsche Steuergelder in Europa zu verteilen. Wenn es im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik um Europäisierung geht, zeigen Sie sofort reflexartig Abwehrhaltung. Daraus kann man doch eigentlich nur einen Schluss ziehen, dass nämlich unsere Rüstungsexportpolitik offenbar wirklich sehr restriktiv ist und Sie fürchten, sie würde durch eine Zusammenarbeit mit anderen EU-Partnern verwässert.
Wir haben im September 2018 auf Ihren Wunsch hin eine öffentliche Anhörung zu dem Thema durchgeführt. Sie scheinen sich diese nicht noch einmal angesehen zu haben. Das habe ich ihn schon mehrfach empfohlen: Schauen Sie sich diese Anhörung in der Mediathek noch einmal an. Da werden Sie viel lernen können. „Frieden schaffen ohne Waffen“ – das funktioniert leider nicht. Sie können aber gerne mental bei Ihren Ostermärschen bleiben.
Haben Sie eigentlich schon mal Folgendes zur Kenntnis genommen? Wir haben nach 1989 durch die Öffnung von Archiven viel gelernt, etwa dass die Friedensbewegung in den 70er- und 80er-Jahren im Wesentlichen von Moskau gesteuert war.
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Über wie viele „Plätze des Friedens“ und „Straßen der Freundschaft“ wollen Sie eigentlich noch marschieren, bis Sie merken, dass man Freiheit
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und Frieden verteidigen muss.
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Wir alle haben im Frühjahr den Atem angehalten, als die russische Armee in einer massiven Aufstellung an der Grenze zur Ukraine aufmarschiert ist. Ich bin froh, dass sich die Situation wieder etwas entspannt hat, aber solange Russland die Krim besetzt hält und Destabilisierung in der Ostukraine betreibt, ist nichts mehr wie zuvor.
Aber – Herr Habeck ist ja schon angesprochen worden – in dieser Situation jetzt Waffenlieferungen an die Ukraine ins Spiel zu bringen, halte ich für töricht.
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Das passt für mich auch überhaupt nicht mit dem zusammen, was Sie sonst so von sich geben.
Ich bin jetzt gespannt – Frau Keul, Sie werden uns da jetzt aufklären –, wie das mit Ihren beiden Vorsitzenden ist. Ihre männliche Spitze redet ja von Offensiv- und Defensivwaffen
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und sagt, Panzer seien gut, weil sie im Wesentlichen dazu dienten, dass man Verletzte von der Frontlinie nach hinten fährt. Wir sind sehr gespannt darauf, jetzt von Ihnen die genaue Definition zu hören.
Ich weiß, Sie haben jetzt Dringenderes zu tun: Sie müssen jetzt erst mal den Lebenslauf Ihrer Kanzlerkandidatin bereinigen.
({10})
Aber wenn das dann gemacht ist, finde ich, hat die deutsche Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, auch zu erfahren, wie das jetzt mit den Defensiv- und Offensivwaffen ist und was wir so an die Ukraine und wer weiß wohin sonst noch überall liefern. Die Ukraine ist kein NATO-Partner, und das ist nun wirklich auch ein Konfliktbereich. Machen Sie sich da mal ehrlich! Klären Sie mal die deutsche Bevölkerung auf – hier ist der Platz dafür; sonntags reden wir hier ja in der Regel nicht, Frau Dağdelen; heute keine Sonntagsrede, sondern eine Rede am Donnerstagabend –, wie sich das mit all diesen Dingen verhält.
({11})
Ich kann nur sagen: Wenn ich mir anschaue, was da alles von Ihnen kommt,
({12})
fällt mir ein Zitat von einem Passagier der Titanic ein.
Ein kurzes Zitat.
Er hat gesagt: Bis zum Eisberg war die Fahrt ja gut.
({0})
Ich möchte nicht riskieren,
Herr Kollege.
dass wir Sie ans Steuerrad lassen. Deshalb glaube ich, dass wir hier einmal mehr einen Schauantrag bzw. mehrere Schauanträge zurückzuweisen haben. Das werden wir mit unserer Mehrheit tun und im Übrigen weiterhin eine verantwortungsvolle Bündnispolitik und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik betreiben.
Da du nicht deine letzte Rede hältst, musst du jetzt aufhören.
– Ja.
Vielen Dank.
({0})
So. – Aber der nächste Redner hält voraussichtlich seine letzte Rede. Es ist der Abgeordnete Professor Dr. Heiko Heßenkemper von der AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist interessant, wie die Frage der Rüstungsexporte in verschiedener Hinsicht politisch demaskierend sein kann.
Beginnen wir mit den Grünen – ich kann es Ihnen einfach nicht ersparen – und dem Vorstoß mit Vorschlägen von Herrn Habeck, Waffen in die Ukraine zu liefern unter Vernachlässigung aller Grundsätze, dass Waffen nicht in Krisengebiete exportiert werden sollten, schon gar nicht deutsche Waffen 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Das ist umso interessanter, da die DNA der Grünen eigentlich aus dem Pazifismus kam. Daran kann man erkennen, wie eine DNA doch im politischen Alltag altern und verkommen kann. Offensichtlich ist sie völlig degeneriert.
({0})
Als Herr Habeck dann durch die mediale Antwort erkannt hat, dass er selbst durch diese Aussage auf eine politische Tretmine getreten ist, versuchte er, zurückzurudern und meinte dann nur noch Defensivwaffen. Auch hier schüttelt man den Kopf. Schon bei den Rüstungsexportgenehmigungen gibt es bei zivilen Gütern häufig die Fragestellung nach dem Dual Use. Wie soll denn das bei Waffen, ob defensiv oder nicht, funktionieren? Also: völliger Unfug.
Man könnte meinen, es handele sich um die verwirrte Stimme eines Einzelnen in einer Partei, wenn auch in exponierter Position. Dem scheint aber nicht so zu sein. Wenn man sich die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr anschaut, stellt man fest: Es ist 2020 bis 2021 über zehn Auslandseinsätze abgestimmt worden, und bei 50 Prozent dieser Auslandseinsätze hat die große Mehrheit der grünen Abgeordneten dafür votiert. Nur die Linken haben aus grundsätzlicher Erwägung konsequent gegen alle gestimmt. Bei der AfD sind immerhin 80 Prozent der Anträge auf Auslandseinsätze nach langen Diskussionen mehrheitlich abgelehnt worden. So ist also jetzt die AfD offensichtlich die neue Pazifismuspartei.
({1})
Die Frage der Rüstungsexportkontrolle ist hinsichtlich der politischen Analyse noch ergiebiger, wenn man sich die Bundesregierung anschaut. Hier könnte man das Thema so zusammenfassen: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern! – Es gibt sehr klare Richtlinien, dass Waffen nicht in Krisengebiete exportiert werden sollen und die Menschenrechtsfragen eine ganz wesentliche Rolle spielen müssen.
Nun wissen wir alle, dass die Türkei sich in den letzten Jahren zu einem Musterknaben der Menschenrechte entwickelt hat. Zum Ausgleich und zur Unterstützung dieser Entwicklung belegt die Türkei seit vielen Jahren einen der vorderen Ränge bei den Rüstungsexporten. Schauen wir uns die Krim an. Das Vorgehen Russlands dort wird mit Sanktionen belegt. Das identische Vorgehen der Türkei gegenüber Zypern und Nordsyrien wird mit Rüstungsexporten belohnt.
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Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Außerdem mischt sich die Türkei sehr intensiv in andere Konflikte ein, wie in Armenien, Aserbaidschan, Syrien. Und was bekommt sie als Gegenleistung? – Waffenlieferungen. Die Türkei bedroht militärisch Staaten der EU wie Frankreich und Griechenland. Damit sie dazu in der Lage ist, werden Waffen geliefert, zum Beispiel sechs mit Brennstoffzellen angetriebene U-Boote, die gerade in der Inselwelt der Ägäis kaum identifizierbar sind.
Hier hat die Bundesregierung scheinbar im Geflecht von irgendwelchen Ausreden und leeren Worthülsen wie „NATO-Partner“, „Bündnisverpflichtung“ etc. den politischen Wertekompass völlig verloren.
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Man darf sich dann in der Außenpolitik nicht darüber wundern, dass die Vorstöße der Bundesrepublik an anderen Stellen zum Thema Menschenrechte und zu Ähnlichem einfach nicht mehr ernst genommen werden.
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Es wird spannend, wie sich die Situation im Herbst entwickelt und welche anderen Grundsätze, welche DNA von Parteien wie zum Beispiel der CDU dann auf den Weg in den Ökosozialismus noch über Bord gehen. Das bleibt spannend. Zum Glück gibt es eine Alternative: die AfD.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Frank Junge.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Rüstungsexporte hat in der öffentlichen Wahrnehmung eine ganz besondere Bedeutung, und ich finde es daher zunächst mal wirklich gut und wichtig, dass wir hier im Plenum sehr oft darüber debattieren; denn aus der Tatsache, dass Entscheidungen über Rüstungsexporte durch den Bundessicherheitsrat und dann auch noch in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden, resultiert natürlich Raum für Interpretationen, Spekulationen und vor allen Dingen auch Verklärungen.
Meine SPD-Fraktion fordert daher schon ganz lange, dass wir eine Berichtspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit einführen, mit der dann nach dem Vorbild von Großbritannien natürlich auch mehr Transparenz und Sachlichkeit transportiert werden und mit der auch – das will ich hier auch unterstreichen – ganz viele politisch motivierte Bemühungen, bei diesem Thema zu Skandalisierungen zu kommen, ausgeschlossen werden können. Vor diesem Hintergrund hat dieses Projekt aus meiner Sicht eine ganz große Bedeutung.
({0})
Ich will mich bei der Vielzahl der vorliegenden Anträge heute insbesondere auf Ihren Hauptantrag beziehen, in dem Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, auf ein generelles Rüstungsexportverbot beziehen. Sie unterscheiden dabei nicht einmal zwischen Drittländern und Ländern, mit denen wir auf europäischer und internationaler Ebene Bündnisverpflichtungen eingegangen sind, eben solche Bündnisse, durch die wir die globalen und sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor denen wir in dieser Welt alle gemeinsam stehen, viel besser bewältigen können.
Mir zeigt das einmal mehr, wie weltfremd und fernab der Realität Sie in Bezug auf dieses Thema mit Ihren Auffassungen sind; denn ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Der Export von Rüstungsgütern dient Deutschlands außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Interessen. Wir stärken damit nicht nur unsere Allianzen, sondern wir unterstützen so auch die militärischen Fähigkeiten unserer Verbündeten.
({1})
Außerdem schaffen wir globale Verteidigungskooperationen, und wir befähigen auch Importländer dazu, sicherheitspolitische Verantwortung in ihren eigenen Regionen zu übernehmen, um Krisen vor Ort selbst lösen zu können.
Herr Kollege, gestatten Sie dazu eine Zwischenfrage aus der Linkenfraktion?
Nein, ich lasse die Zwischenfrage nicht zu.
({0})
Vor genau diesem Hintergrund stärken wir mit Rüstungsexporten die deutsche und die europäische Souveränität, und zudem tragen wir damit auch dazu bei, dass die Bundeswehr und verbündete Armeen ihren Aufträgen gemäß gut ausgerüstet sind. Das ist mit Blick auf die vielfältigen Herausforderungen ein ganz wichtiges Instrument. So paradox das für Sie vielleicht klingen mag: Aus genau dieser Souveränität und aus genau diesen globalen Kooperationen entsteht ein Boden, auf dem Konflikte politisch gelöst werden und auf dem Abrüstungsverhandlungen entstehen können.
({1})
Mit Blick auf die Uhrzeit will ich zum Abschluss kommen. – In diesem Zusammenhang und mit diesen Aspekten vor Augen muss ich sagen, dass Ihr heutiger Hauptantrag für ein generelles Rüstungsexportverbot aus meiner Sicht eine Bankrotterklärung in Bezug auf Ihre sicherheits- und verteidigungspolitische Kompetenz darstellt.
({2})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Junge. – Die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion ist die Kollegin Sandra Weeser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich habe mich beim Durchschauen der Anträge für diesen Tagesordnungspunkt gewundert, wo denn eigentlich der Antrag der Grünen für die Waffenlieferungen in die Ukraine ist.
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Die Aufregung um Robert Habecks Äußerungen zur Ukraine bringt das Problem der deutschen Debatte um Rüstungsexporte genau auf den Punkt. Anstatt sich damit auseinanderzusetzen, was für oder gegen Rüstungsexporte in ein konkretes Land spricht, wollen Linke, Grüne und große Teile der SPD mit Rüstungsgütern und dem Militär am liebsten nichts zu tun haben. Das geht frei nach dem Motto: Sollen doch die anderen sich um unsere Freiheit und Sicherheit kümmern. – Deutschland lehnt sich dann erst mal vornehm zurück.
({1})
Ob wir es wollen oder nicht: Wir leben in einer Welt der Autokraten wie Putin und Xi, die die Sicherheit und Unabhängigkeit von Nachbarländern mithilfe militärischer Mittel bedrohen und angreifen. Das ist auch nicht abstrakt. Putins Soldaten auf der Krim sind real. Die Krim und das Südchinesische Meer zeigen: Die Sicherheit von Demokratie basiert auch darauf, sich militärisch gegen Autokraten verteidigen zu können.
Dass wir in Deutschland friedlich und sicher in Freiheit leben können, garantieren unsere Verbündeten in der NATO und in der EU – allen voran die USA und Frankreich. Sie haben es verdient, dass Deutschland seinen Beitrag leistet – auch durch eine leistungsfähige und kooperative Rüstungsindustrie.
({2})
Damit kommen wir zum Kernpunkt. Ebenso selbstverständlich, wie wir vorantreiben, dass die Bundeswehr mit unseren Bündnispartnern eng zusammenarbeitet, muss auch unsere Industrie mit Partnern in der EU zusammenarbeiten können. Hier müssen stabile und verlässliche Regeln gelten.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Freien Demokraten lehnen Waffenexporte in Krisengebiete ab. Für uns ist die Wahrung der Menschenrechte bei der Entscheidung über Exporte essenziell.
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Waffen dürfen nicht zur Eskalation von Konflikten beitragen. Das geht aber nur, wenn wir uns auf gemeinsame Standards mit unseren Verbündeten einigen – vor allem in der EU und in allererster Linie mit Frankreich. Weil aber große Teile des politischen Spektrums sich weigern, Rüstungsexporte endlich offen, differenziert und wissenschaftlich fundiert zu diskutieren, wird Deutschland in Paris überhaupt nicht mehr als ernstzunehmender Partner wahrgenommen.
Wir brauchen Reformen. Wir brauchen einen klaren Kompass für die Rüstungsexporte. Den fordern wir als Freie Demokraten ein. Wir haben auch entsprechende Vorschläge vorgelegt. Wir wollen Transparenz, wissenschaftliche Fundierung, klare Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern, und wir wollen eine klare Länder- und Regionalstrategie nach Sicherheitslage und interessendifferenziert.
All das ist die Bundesregierung aber schuldig geblieben. Wir wollen das ändern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Grüne.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um hier zunächst mal die historischen Fakten zu 2005 klarzustellen: Die Leopard-Panzer für die Türkei wurden 2005 genehmigt, nachdem die Koalition gekündigt worden war und die Grünen diese Lieferung sieben Jahre lang verhindert und immer wieder zur Koalitionsfrage gemacht hatten.
({0})
Aber zur Gegenwart: Die Türkei hält immer noch völkerrechtswidrig den Norden Syriens besetzt und verhindert die Rückkehr der vertriebenen kurdischen Bevölkerung in ihre Dörfer und Städte. Türkische Schiffe liefern Waffen an Libyen und verletzen damit das UN-Waffenembargo, und die türkische Marine dringt regelmäßig in griechische und zypriotische Hoheitsgewässer ein, um Gebietsansprüche anzumelden.
({1})
Allein im April gab es zwei Vorfälle, bei denen griechische Forschungsschiffe von der türkischen Marine bedroht wurden, und dennoch hält die Bundesregierung nach wie vor an der 2009 erteilten Genehmigung zur Produktion und Auslieferung von sechs U-Booten der Firma thyssenkrupp fest. Diese U-Boote haben eine strategische Bedeutung für die Etablierung einer maritimen Hegemonie im östlichen Mittelmeer.
Das Kriegswaffenkontrollgesetz sieht einen Widerruf der Genehmigung sogar ausdrücklich vor, wenn die Gefahr einer friedensstörenden Handlung besteht. Handeln Sie also endlich, und stoppen Sie die weitere Fertigstellung!
({2})
Nehmen Sie sich mal die US-Regierung als Vorbild! Nach der Anschaffung von russischen Luftabwehrraketen durch die Türkei haben die USA die Auslieferung von 120 F-35-Kampfflugzeugen gestoppt. Wir sehen an diesem Beispiel, wie wichtig es ist, über Kriegswaffenexporte die eigene Entscheidungshoheit zu behalten. Das gilt auch für künftige Projekte, die wir in Europa gemeinsam entwickeln wollen.
Wenn wir mit unseren europäischen Partnern ernsthaft ein Kampfflugzeug der Zukunft, wie FCAS, auf den Weg bringen wollen, dann muss dies zuerst unseren Sicherheitsinteressen dienen, und dann muss klar sein, dass es nicht darum geht, auf dem Weltmarkt mit einem möglichst geringen Stückpreis konkurrieren zu können. Bei Kriegswaffen kommt es nicht auf die Rentabilität an, sondern auf die Stärkung der eigenen militärischen Fähigkeiten.
({3})
Wenn wir über diese Frage keine Einigkeit mit unserem engsten Verbündeten und Nachbarn Frankreich herstellen können, dann kann das Projekt nicht funktionieren.
Frau Kollegin Keul, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen?
Nein, keine Zwischenfragen! -
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Da hilft es auch nicht, dass sich die Bundesregierung in einem Zusatzabkommen zum Aachener Vertrag ihrer Entscheidungshoheit über den Export schlicht und einfach entledigt und diese den französischen Partnern überlässt.
({1})
So kann man sich der Verantwortung nicht entziehen.
({2})
Dieses Zusatzabkommen ist keine Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft, sondern ein Ausflug in die 70er-Jahre, in die Zeiten von Helmut Schmidt und Michel Debré. Wir brauchen endlich ein gemeinsames europäisches Verständnis von Rüstungsexportkontrollen als außen- und sicherheitspolitisches Kernthema.
Frankreich dürfte im Übrigen die Lieferung deutscher U-Boote an die Türkei für keine gute Idee halten. Ebenso wenig war es eine gute Idee, die französische Rafale mit Finanzierungshilfe der VAE an Ägypten zu verkaufen und auf diese Weise Kriegsparteien in Libyen, wie General Haftar, zu unterstützen.
Das Zusatzabkommen zum Aachener Vertrag muss neu verhandelt werden, und die U-Boot-Lieferungen an die Türkei müssten gestoppt werden.
Vielen Dank.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte wirklich um Verständnis, dass es jetzt keine Kurzinterventionen mehr gibt. Wir sind momentan bei einem Ende der Tagesordnung um 5.20 Uhr.
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Ich bitte also wirklich um Verständnis!
Zu Protokoll gehen die Reden
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2016 schrieb der „Spiegel“: „Verbrechen lohnt sich: Geldwäsche-Paradies Deutschland“. 2020 schrieb der „Spiegel“: „Gesetz gegen Geldwäsche: Wir sind alle verdächtig“. Alleine an diesen beiden Überschriften ist schon abzulesen, dass es offensichtlich nicht ganz leicht ist, beim Thema Geldwäschebekämpfung einen Mittelweg zu finden.
({0})
Wie viel Regulierung brauchen wir, um eine schlagkräftige Bekämpfung zu ermöglichen? Denn eines ist klar: Geldwäsche kann leider überall stattfinden. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gesehen, dass es leider auch bei Vereinen, bei Stiftungen und auch beim Kauf von Immobilien zu Geldwäsche kommen kann.
Als SPD wollen wir deshalb eine gute, schlagkräftige Gesetzesgrundlage im Kampf gegen Geldwäsche schaffen. Gleichzeitig wollen wir aber eben auch, dass gemeinnützige Initiativen nicht unnötiger Bürokratie ausgesetzt werden. Mit diesem Gesetz werden wir beides vereinen: Wir sorgen erstens für Transparenz und für eine bessere europäische Geldwäschebekämpfung, und wir sorgen zweitens für Erleichterungen für Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements. Wir stärken das Ehrenamt.
({1})
Dass wir heute bei diesem Ergebnis sind, verdanken wir auch den guten Beratungen und einem konstruktiven Austausch mit vielen engagierten Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtlern sowie einer guten Debatte im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages, für die ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen recht herzlich bedanken will.
Für die gemeinnützigen Vereine haben wir im Vergleich zum Regierungsentwurf einige klare Verbesserungen erreicht. Vereine müssen sich jetzt nicht mehr eigenständig in das Transparenzregister eintragen. Langfristig – bis 2024 – wollen wir das Ganze durch die Vernetzung bestehender Register komplett automatisieren.
Zudem haben wir die Gebührenbefreiung, die wir bereits im Jahr 2019 eingeführt haben, noch mal vereinfacht; denn gemeinnützige Vereine und Initiativen müssen diese Gebühr nicht zahlen. Wir sorgen dafür, dass es in der Zwischenzeit, bis die Register digital zusammengeführt sind, mit einem einzigen einfachen, unbürokratischen Antrag getan ist. Ich glaube, das ist eine gute Nachricht bei diesem Gesetz für alle Vereine und Initiativen.
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Wir haben in diesem Gesetz zur Bekämpfung von Geldwäsche nicht nur beim Schaffen von mehr Transparenz, sondern auch beim Thema Digitalisierung einige gute Fortschritte gemacht. Ich habe es gesagt: Wir vernetzen Register. Wir schaffen die Grundlage, um eine zukunftsgerichtete Geldwäschebekämpfung durchführen zu können; denn digitale Register sind die Voraussetzung dafür.
Wir haben in den Diskussionen innerhalb der Koalition gesehen, dass vor allem auch die Bundesländer aufgefordert sind, ihre Register zu modernisieren; denn wenn wir das, was „Once Only“ genannt wird – man erfasst alles eben nur einmal und muss es nur einmal eintragen –, wollen, dann braucht es eben auch gemeinsam mit den 16 Bundesländern einheitliche und vor allem digitale Formate.
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Auch wenn es nicht unmittelbar mit Geldwäschebekämpfung zu tun hat, haben wir uns in diesem Gesetz erneut mit digitalen Schnittstellen befasst; denn wir arbeiten auch am Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz. Bereits 2019 haben wir als Deutscher Bundestag hier den größten und wertvollsten Unternehmen der Welt – wie ich finde, zu Recht – die Zähne gezeigt, und an dieser Stelle schärfen wir noch mal nach.
Wir wollen, dass Banken und Finanzdienstleister zum Beispiel auch auf eine Smartwatch mit einem Apfel drauf Zugriff haben können; denn umgekehrt haben Technologieunternehmen heute, wenn wir als Kundinnen und Kunden das erlauben, eben auch sehr einfachen Zugriff auf alle Konten. Da wollen wir, wie man Neudeutsch sagt, ein Level Playing Field. Es soll also eine faire Wettbewerbsposition sowohl für die Banken und Finanzdienstleister auf der einen Seite als auch für die Technologieunternehmen auf der anderen Seite geben. Das machen wir mit diesem Gesetz.
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Es gelingt uns als SPD und auch als Koalition also, hier ein gutes und wichtiges Gesetz im Kampf gegen Geldwäsche vorzulegen. Wir sorgen für transparentere und bessere Strukturen.
Ich möchte mich wirklich noch mal ganz herzlich für die guten Beratungen und die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Ich bin überzeugt: Wir stellen die Geldwäschebekämpfung mit diesem Gesetz einmal mehr gut für die Zukunft auf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Kay Gottschalk.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Zunächst mal schließe ich mich einigen Worten des Vorredners Dr. Zimmermann an. Gleichzeitig hat er in seiner Rede aber auch unfreiwillig aufgezeigt und eine Vorlage gegeben, wie viel im Argen liegt und wie viele Lippenbekenntnisse wir in Deutschland haben.
Wir mussten trotz Digitalisierung 4.0 und der Forderungen, was alles getan werden muss – „Wir müssen aufrüsten“ –, feststellen – das ist aufgefallen –: Einige Bundesländer sind nicht mal in der Lage, vernünftige digitale Register vorzuhalten. Das ist an dieser Stelle eigentlich ein Offenbarungseid, was die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern angeht. Manchmal wird was verlangt, was in der Realität, wie häufig bei Gesetzen, gar nicht abgeliefert werden kann.
Heute beraten wir also dieses Gesetz. Glücklicherweise – das hat Herr Zimmermann auch verschwiegen – sind viele Kritikpunkte der Opposition und der Verbände in die Beratung aufgenommen worden. So wurde beispielsweise kritisiert – Herr Zimmermann hat es gesagt –, dass kleinere Vereine und Ehrenamtler hier wieder benachteiligt werden sollten.
Meine Kritik an dem zu schnellen Eindringen – falls Sie sich noch an meine Rede zur ersten Lesung hier erinnern – und der viel zu kurzen Beratungszeit war richtig; denn die vielen Umdrucke, die die GroKo noch kurz vor Toresschluss eingereicht hat, ließen schon Schreckliches erahnen. Aber, wie gesagt: Die DSGVO hat nur gegrüßt, sie hat an dieser Stelle letztlich nicht zugeschlagen.
Also, Lehre eins vielleicht für die zukünftigen Regierungen: Nehmen Sie sich an einigen Stellen einfach mal genügend Zeit, bevor Sie Gesetze hier einbringen, statt die Opposition mit Umdrucken dieser Art kurz vor Toresschluss zu behelligen. „Schnell, schnell“ ist eben nie ein Garant für gute Arbeit.
Aber immerhin wurden viele Aspekte aus den Anhörungen aufgenommen. Und das muss man als Opposition eben auch mal sagen: Viele Dinge in diesem Gesetz sind gut und vernünftig. – Wir finden beispielsweise gut – Dr. Zimmermann hat es eben auch erwähnt –, dass für Vereine jetzt die automatische Eintragung ins Vollregister möglich ist. Aber auch darauf musste erst von der Opposition hingewiesen werden.
Ebenfalls sehr gut ist die Erleichterung bei der Gebührenbefreiung für gemeinnützige Vereine. Die vollmundigen Bekenntnisse kennen wir: Das Ehrenamt ist in Deutschland eine wichtige Säule für die Gesellschaft, für die Benachteiligten in unserer Gesellschaft. Von daher ist es nur folgerichtig, dass man den bürokratischen Aufwand mildert. – Aber nochmals: Was Sie im ersten Entwurf vorgelegt haben, war eine Vier minus bis eine Fünf. Vielleicht hätte man auch diese Überlegung vorher anstrengen können.
Aber immerhin: Druck wirkt. Und wie heißt es so schön: Nur unter Druck entstehen Diamanten; ohne Druck wäre es Kohle gewesen. – Vielleicht war es aber auch die bevorstehende Bundestagswahl, die einige in der Koalition zum Nachdenken zwang; denn Vereine und viele andere, die betroffen sind, hätten ihr Kreuzchen dann folgerichtig vielleicht tatsächlich an einer anderen Stelle gesetzt.
Aber nun zu den Kritikpunkten, warum wir als AfD uns enthalten:
Die Meldepflicht von Aufsichtsbehörden und die Freistellung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit bereiten uns arge Bauchschmerzen. So heißt es seitens der Regierungsfraktionen – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „Es bestand Rechtsunsicherheit, ob in diesen Fällen, in denen für den Verpflichteten keine Pflicht zur Meldung besteht, die zuständigen Aufsichtsbehörden nach § 44“ GwG „zur Meldung verpflichtet sind.“ Gelöst werden soll dieses Problem nun folgendermaßen – ich zitiere nochmals mit Erlaubnis des Präsidenten –: „Mit der Änderung wird dem Berufsgeheimnis, dem insbesondere Notare, Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer nach den einschlägigen Fachgesetzen unterliegen, im Rahmen der Meldepflicht der Aufsichtsbehörden Rechnung getragen.“
Im Klartext heißt das allerdings: Bei positiver Kenntnis – also beispielsweise, wenn die Rechtsberatung oder Prozessvertretung für die Zwecke einer Straftat genutzt wird – bleibt die Meldepflicht erhalten. Hier wird es also in Zukunft sehr oft die Frage geben: Wann genau sind diese Kriterien erfüllt? Das werden dann am Ende – dann sind Gesetze an einer solchen Stelle doch schlecht gemacht – vermutlich mal wieder Gerichte klären müssen.
Wir hatten die gleiche Debatte darüber, was Steuergestaltungsmodelle bedeuten. Wann muss ein Steuerberater sie melden? Wir kennen die Kritik der ganzen Fachverbände.
({0})
An dieser Stelle – das betonte ich – ist das Verhältnis zwischen dem Mandanten und den entsprechenden Instituten der Rechtspflege gefährdet.
Hilft nichts, Herr Gottschalk.
Sofort, letzter Satz. – Deswegen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
– Bitte mäßigen Sie sich doch hier vorne.
Herr Gottschalk, bitte.
Ich kann ja meinen Satz gar nicht zu Ende bringen. Die Kollegin der Grünen pöbelt ja hier laufend dazwischen.
Sie haben auch schon überzogen.
({0})
Der Gesetzentwurf – vor allem nach den Änderungen der GroKo – enthält viel Gutes. Deswegen werden wir uns beim Gesetzentwurf insgesamt enthalten.
({0})
Viele Dinge sind noch nachzubessern; das hat auch die FIU gestern Abend gezeigt. Also, insoweit: Enthaltung!
Vielen Dank für die konstruktiven Beratungen.
({1})
Der Nächste macht sich bereit; es ist der Abgeordnete Sepp Müller, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die sechs Minuten Redezeit sind berechtigt. Es gibt viel zu sagen zur Geldwäsche und zum Transparenzregister- und Finanzinformationsgesetz, welches uns heute vorliegt.
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Wir können vorne anfangen und hinten enden; aber eines ist uns als Große Koalition wichtig: Wir haben das Versprechen gehalten. Wir werden die Vereine entlasten. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin richtig stolz darauf, dass uns das gelungen ist.
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Wir haben mit dem Bündnis für Gemeinnützigkeit wochenlang – wochenlang! – um eine Lösung gerungen, damit man sich als Vereinsvorstand nicht in das Transparenzregister eintragen muss, wie dies jetzt übrigens alle anderen juristischen Personen tun müssen, angefangen bei den Genossenschaften über GmbHs bis zu anderen Partnerschaftsgesellschaften, zum Beispiel GmbH und Co. KGs. Das ist auch die herzliche Bitte, die ich heute aussenden möchte: Lassen Sie sich ins Transparenzregister eintragen; denn es ist nicht nur Ihre rechtliche Pflicht, sondern dort soll auch Transparenz herrschen.
Wir in Deutschland wissen, dass Vereine zur Geldwäsche genutzt werden; das hat unser Bundesinnenminister nach dem Verbot von drei islamischen Vereinen letztens auch festgestellt. Es ist aber wichtig, dass wir, wenn drei Vereine Mist bauen, 600 000 andere Vereine nicht unter den gleichen Verdacht stellen. Darum war es wichtig, dass wir dafür gesorgt haben, dass der Antrag auf Gebührenbefreiung in Zukunft nur einmalig zu stellen ist, dass sich die Vereine zukünftig nicht ins Transparenzregister eintragen müssen und dass wir die geschätzten Bundesländer darauf hingewiesen haben, dass man sich über das Vereinsregister und das Transparenzregister untereinander vernetzen soll.
Wir haben das Versprechen gehalten. Wir haben es auf den Weg gebracht, dass 600 000 ehrenamtliche Vereinsvorstände entlastet werden.
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Eines ist ganz wichtig – und das müssten auch alle da draußen hören –: Fast das ganze Haus hat dem zugestimmt, bis auf eine Fraktion. Die war richtig mutig: Die hat sich enthalten. Das waren Bündnis 90/Die Grünen. Schade! Sie hätten die Möglichkeit gehabt, ein Zeichen zu setzen für Ehrenamtliche. Alle anderen haben es getan, weil wir es eingebracht haben.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Die Kollegin Lisa Paus und die Kollegen Dr. Florian Toncar, Dr. Axel Troost, Michael Schrodi und Sebastian Brehm geben ihre Reden zu Protokoll.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es zu später Stunde ist, begrüße ich es, dass wir heute über die vorliegenden Anträge reden. Denn so haben wir zum Ende der Legislatur noch mal die Möglichkeit, über das wichtige Thema „Gewalt gegen Frauen“ miteinander zu sprechen, und das müssen wir immer und immer wieder tun. Indem wir darüber sprechen, holen wir das Thema aus der Tabuzone. Je mehr wir es aus der Tabuzone holen, desto mehr Frauen fühlen sich hoffentlich darin bestärkt, sich Hilfe zu holen und der Gewalt zu entkommen, und dabei brauchen sie unser aller Unterstützung.
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Der Bund hat in den vergangenen Jahren innerhalb seiner Kompetenzen viel auf den Weg gebracht, um von Gewalt betroffene Frauen zu unterstützen.
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– Können Sie hier vorne bitte ein bisschen ruhiger sein? Das stört, Herr Kollege.
Leute!
Entschuldigung; das stört wirklich.
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– Mich stört es. Sie müssen ja auch nicht reden – zum Glück nicht!
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Der Bund hat in den vergangenen Jahren innerhalb seiner Kompetenzen viel auf den Weg gebracht, um von Gewalt betroffene Frauen zu unterstützen: mit der Initiative „Stärker als Gewalt“, mit der Aktion „Zu Hause nicht sicher?“, mit dem Projekt „Hilfesystem 2.0“ und vor allem mit dem millionenschweren Bundesförderprogramm, mit dem sowohl bauliche Maßnahmen zum Ausbau von Schutz- und Beratungseinrichtungen als auch innovative Projekte zur Unterstützung gewaltbetroffener Frauen gefördert werden.
Und wir haben einen Runden Tisch eingesetzt, um den bedarfsgerechten Ausbau und die finanziellen Absicherungen des Hilfesystems voranzubringen. Erstmalig sitzen Bund, Länder und Kommunen in diesem Gremium zusammen. Gerade auch in der Coronapandemie hat sich gezeigt, dass er ein wichtiges Instrument zur Koordinierung und zur Verzahnung ist. Es ist deshalb gut und wichtig, dass der Runde Tisch auch in der kommenden Legislaturperiode weitergeführt wird.
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Ich begrüße es außerordentlich, dass dieser Runde Tisch nun ein gemeinsames Positionspapier verabschiedet hat. Hier wird festgehalten, dass der Zugang zu Schutz und Beratung bundesweit gewährleistet ist. Außerdem soll die Arbeit von Frauenhäusern und Hilfseinrichtungen durch einen einheitlichen Rahmen finanziell abgesichert werden. Das ist ein großer Erfolg, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dieses Papier dient außerdem ausdrücklich als Basis für einen Gesetzentwurf für die kommende Legislaturperiode. Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden wir alles daransetzen, dass sich die kommende Bundesregierung – egal wie sie auch zusammengesetzt sein mag – dieses Vorhabens annimmt und es auch umsetzt.
Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen: Persönlich hätte ich mir vom Runden Tisch mehr gewünscht; denn endlich saßen hier alle relevanten Akteure an einem Tisch. Besonders als NRW-Abgeordnete hätte ich es sehr begrüßt, wenn sich alle Bundesländer hinter dieses Positionspapier gestellt hätten, und ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn eine Einigung auf einen Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz möglich gewesen wäre.
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Diskussionen sind wichtig und richtig, und es muss endlich ein gemeinsamer konkreter Weg gefunden werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, dazu, gesellschaftliche Ungleichverhältnisse auszuräumen und ein Klima zu schaffen, in dem Frauen gleichberechtigt und gewaltfrei leben können, gehören aber auch die Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmelung, die Bekämpfung von Stalking und sexueller Belästigung, die gezielte Benennung und strafrechtliche Verfolgung von Femiziden und das Bekenntnis, dass Schwangerschaftskonflikte nicht ins Strafgesetzbuch gehören.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was viele von uns hier eint, ist das Ziel, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das Gewalt gegen Frauen und Kinder immer und überall ächtet, und den Menschen eine Perspektive und die Möglichkeit aufzuzeigen, ein gewaltfreies Leben zu führen.
Ich appelliere an die Teilnehmer des Runden Tisches, an die nächste Bundesregierung und auch an das Parlament: Jede Frau – egal in welchem Bundesland sie zu Hause ist – verdient unser aller Unterstützung. Gewalt gegen Frauen geht uns alle an. Gemeinsam können, ja, müssen wir das Ziel angehen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Die nächste Rednerin für die Fraktion der AfD ist die Abgeordnete Nicole Höchst.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielen Dank für Ihre Anträge, mit denen Sie insgesamt vorhaben, Gewalt gegen Frauen und Mädchen stärker zu bekämpfen, die Infrastruktur für Betroffene krisenfest zu machen und Femizide zu verhindern. Ihre Ziele diesbezüglich teilen wir, Ihre Unaufrichtigkeit nicht.
Die Anträge haben alle eines gemeinsam: Ganz offensichtlich geht es Ihnen nicht im Mindesten um die Menschen oder gar die nachhaltige Lösung der angesprochenen Probleme. Werte Kollegen Schaufensterantragsschreiber, erklären Sie doch da draußen den betroffenen Frauen schlüssig,
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warum Sie in den letzten dreieinhalb Jahren alle unsere Anträge abgelehnt haben, die auf den Schutz dieser Frauen abzielten. Ihnen, werte Kollegen, ging es zu keinem Zeitpunkt um den Schutz dieser Frauen; es geht Ihnen jetzt um Machtpolitik und den Wahlkampf.
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Im Unterschied zu Ihnen treiben wir dieses Thema bereits die gesamte Legislaturperiode voran.
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Uns beseelt die Wahrheit der persönlichen Erfahrung. Als ich am Berufskolleg Rheydt-Mülfort in Mönchengladbach unterrichtete – das ist dort, wo der Salafist Pierre Vogel seinen ersten Verein betrieb –, habe ich vor Ort prägendste Erfahrungen gemacht. Bei den fleißigsten und motiviertesten Schülern waren junge Frauen aus islamischen Einwandererkontexten, die fest an unser Grundgesetz geglaubt haben; sie haben geglaubt, sie hätten hier die gleichen Rechte wie ihre Väter, Brüder, Onkel und Cousins; sie haben vertraut, dass unser deutscher Staat gewährleistet, dass diese Rechte auch für sie gelten. Fehlanzeige! Ich werde nicht vergessen, wie sich eine junge Frau vor den Sommerferien von mir verabschiedete. Sie komme nicht wieder, sie müsse ihren Cousin irgendwo in Anatolien heiraten. Sie weinte und sagte: Frau Höchst, Ihre Gesellschaft und Ihr Grundgesetz haben mich im Stich gelassen. Warum? Ich habe mich so bemüht.
Ja, warum? Diese Frage, meine Damen und Herren, geht an Ihre Adresse. Warum haben Sie – auch die Antragsteller – stellvertretend für die deutsche Mehrheitsgesellschaft die vielen Jahre tatenlos weggesehen, Paralleljustiz, Parallelgesellschaften und die damit verbundenen Mechanismen zur Unterdrückung von Frauen geduldet, bemäntelt und als kulturelle Bereicherung verbucht?
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Jetzt bringen Sie Anträge, aus deren stets verallgemeinernden Formulierungen die Angst atmet, als böser Fremdenfeind oder gar als Rassist dazustehen.
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Denn so werden doch in unserem Land von Ihnen diejenigen betitelt, die diese Missstände permanent anprangern, nicht wahr? Sie alle hier haben im Oktober 2018 den Antrag auf Drucksache 19/5045 abgelehnt, wollten keine statistische Datenerhebung und die damit einhergehende Ursachenanalyse.
Wäre es Ihnen etwa unangenehm, wenn offiziell bestätigt werden würde
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– ja, da schreien Sie; ist mir klar –, was die Statistik „Frauenhäuser und ihre Bewohner_innen“ ausweist,
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nämlich dass im Jahr 2019 in den 182 Frauenhäusern insgesamt 7 045 Erwachsene sowie 8 134 Kinder lebten, wovon 41 Prozent Frauen mit Migrationshintergrund waren? Als Hauptherkunftsländer werden Syrien, die Türkei, Afghanistan, Irak, Marokko und einige osteuropäische Länder wie Polen und Rumänien genannt.
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Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein wesentlich größerer Anteil, als diese Bevölkerungsgruppen an der Gesamtgesellschaft haben.
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Sie betätigen sich hier an der Lösung von Problemen, die Sie über Jahre hinweg mit Ihrer Zuwanderungspolitik, einer großen Portion Feigheit und der rosa Multikulti-Brille erst geschaffen haben.
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Jede Gewalttat ist eine Gewalttat zu viel. Schon allein deswegen muss man ihre Ursachen bekämpfen.
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Ihre Anträge sehen wir als Bestätigung unserer Politik und Weltsicht; sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis. AfD wirkt! Wir stimmen ihnen zu.
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Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Sylvia Pantel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute eine Fülle von Anträgen der Opposition zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen. Wir sind uns hier alle einig, dass Gewalt gegen Frauen auf allen Ebenen zu bekämpfen ist, und hier möchte ich noch ergänzen, dass es vollkommen egal ist, wo die Frauen herkommen, welchen Status sie haben oder sonst irgendwas.
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Gewalt gegen Frauen in Deutschland geht nicht!
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Die Kompetenz für die Frauenhäuser liegt, wie Sie alle wissen, bei den Bundesländern. Trotzdem haben wir als Bund verschiedene erfolgreiche Maßnahmen installiert und unterstützt sowie zusätzliche Gelder bereitgestellt. So wurde in dieser Legislaturperiode unter anderem der Runde Tisch – er wurde eben auch schon erwähnt; er war auch erfolgreich – „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ mit den Verantwortlichen aus Bund und Ländern eingesetzt. Gerne habe ich an diesen Sitzungen teilgenommen, um diese wichtige Arbeit zu begleiten.
Um zusätzliche und erforderliche Plätze sowie den Umbau zur Barrierefreiheit zu unterstützen, stellt der Bund bis 2024 jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung. Nicht einig waren sich die Vertreterinnen und Vertreter der Länder am Runden Tisch in der letzten Woche, ob der Bund einen Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz formulieren sollte, da es eine Reihe von offenen Fragen dazu gibt. Diese Fragen sind in der nächsten Legislaturperiode zu klären. Deshalb sollte der Bund in der nächsten Wahlperiode auch wieder einen Runden Tisch dazu einberufen. Nur ein gemeinsames Vorgehen gegen Gewalt an Frauen kann erfolgreich sein.
Wir alle haben die erhöhte Nachfrage an Beratungskontakten – digital und telefonisch – während der Coronapandemie wahrgenommen. Die Mittel dafür wurden schnell umgewidmet. So konnten Frauenhäuser und Beratungsstellen durch unser neues Projekt „Hilfesystem 2.0“ unterstützt werden. 3 Millionen Euro stehen seit Projektbeginn für die Hilfelandschaft für Technik, zur Unterstützung auf dem Weg zur Digitalisierung und zur Fortbildung der Beratung bereit.
Wir wissen, dass wir den Frauen ein differenziertes Hilfeangebot machen müssen und ein Netz an Hilfestruktur brauchen. Deshalb war ich sehr erstaunt über die Information, dass Frauenhäuser trotz zusätzlicher Beratungsnachfragen im letzten Jahr über freie Kapazitäten verfügten. Dass wir jetzt schneller an Informationen kommen, war auch ein Erfolg der Arbeit und Koordinierung des Runden Tisches.
Es gab schon lange die Forderung – auch von mir –, zu erfahren, wie viele Frauenhausplätze in den Bundesländern denn zur Verfügung stehen. Wir sind in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern nun einen erheblichen Schritt weiter. Digital steht nun ein Abfragesystem bei den Ländern, wie etwa in Nordrhein-Westfalen, zur Verfügung, mit dem man direkt erkennen kann, wer freie Kapazitäten hat und wer nicht. Die stundenlange Platzsuche entfällt, und die Beraterinnen können diese Zeit direkt für die Frauen, zur Beratung, nutzen.
Die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser hat am 1. Juni 2021 eine Internetseite zur Abfrage von freien Plätzen in den Frauenhäusern für gewaltbetroffene Frauen freigeschaltet. Diese Möglichkeit ist sehr zu begrüßen. Wir werden die weitere Entwicklung der Internetseite mit Interesse verfolgen.
Ich möchte deshalb den Mitarbeiterinnen der Frauenhauskoordinierung und den vielen Frauenhäusern danken, die nicht nur während der Pandemie viel Verantwortung und Hilfeleistungen für die Frauen in unserem Land übernommen haben.
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Das Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat wurde bereits 2011 beschlossen, nachdem eine Studie von Familienministerin Kristina Schröder zur Zwangsverheiratung veröffentlicht wurde. Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen trat 2017 in Kraft. Ohne Wenn und Aber haben wir Kinderehen verboten. Standesämter lehnen alle Anfragen zur Minderjährigenehe mittlerweile sofort ab.
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Damit gehören staatlich legitimierte Eheschließungen von unmündigen Minderjährigen vor deutschen Standesämtern der Vergangenheit an. Nachholbedarf haben wir allerdings in den Bereichen, wo illegale Eheschließungen von Familien begünstigt oder gedeckt werden.
Die Anhörung zu Femiziden, insbesondere die Ausführungen von Professorin Schröter, machte deutlich, dass Gewalt gegen Frauen ein weites Feld ist. Ehrgewalt betrifft etwa Verhaltensvorschriften, Bekleidungsregeln, Jungfrauenkult und sexuelle Verfügungsrechte des Mannes über die Frau. Die Reduzierung all dieser Phänomene auf den Begriff „Femizide“, der keine bessere Analyse oder Aufklärung bedeutet, hilft nicht weiter. Die Differenzierung zwischen Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, ob es sich um eine Beziehungstat oder um ein Eifersuchtsdrama handelt, ist allerdings ein wichtiger Hinweis für die Bestrafung und die Prävention. Die Tötung einer Frau wegen ihres Geschlechts wird als Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge hart bestraft. Ich halte es auch bei der Verurteilung für wichtig, dass Mord auch nicht wegen des Geschlechts mehr oder minder bestraft wird.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Jede Gewalt gegen Frauen – verbale Drohungen, Körperverletzungen oder sogar Mord – ist gesellschaftlich zu ächten, zu verfolgen und hart zu bestrafen.
Frau Pantel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mehr Gewaltschutz für Frauen erreichen wir aber nicht durch neue, unpräzise Begriffe, sondern durch Gesetze, Prävention und Ressourcen.
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Unsere Hilfestruktur und die Vernetzung – –
Frau Kollegin, bitte.
Sofort. – Also: Wir sind auf dem richtigen Weg, und wir haben eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Wir haben unterschiedliche Strukturen und fördern sie.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben gesehen, die Sitzungsleitung hat gewechselt. Ich bin gewillt, der Ordnung wieder Geltung zu verschaffen und Redezeitüberschreitungen nicht mehr zuzulassen.
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Damit alle Bescheid wissen: Zwischenfragen und Kurzinterventionen werden nicht zugelassen, damit wir es doch noch vor 3 Uhr morgens schaffen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion.
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Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden aktuell viel über die wirtschaftlichen Folgen von Corona, aber viel zu wenig über die Auswirkungen im Verborgenen. Nicht nur, aber besonders auch in der Zeit des Lockdowns haben die psychische, die häusliche und die digitale Gewalt weiter zugenommen. Davor dürfen wir unsere Augen nicht verschließen, meine Damen und Herren, sondern da müssen wir ganz genau hinsehen und alarmiert sein.
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Wir müssen alarmiert sein, wenn in der Pandemie die Nachfrage nach dem Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ überproportional steigt. Wir müssen alarmiert sein, wenn Frauen Wege und ganze Straßenzüge abends nicht mehr allein durchschreiten wollen. Wir müssen alarmiert sein, wenn über 70 Prozent der Frauen und Mädchen in unserem Land Bedrohungen, Beleidigungen und Diskriminierungen im digitalen Raum erwarten. Hier müssen Gesellschaft und Politik alarmiert sein.
Und wir müssen schneller handeln. Die Istanbul-Konvention ist in Deutschland seit 2018 in Kraft. Sie verpflichtet uns zu staatlichem Gewaltschutz in all seinen Facetten. Ein liberaler Grundsatz lautet: So wenig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie nötig. – Genau das ist der Fall, wenn es um den Schutz von Menschen geht, die von Gewalt betroffen sind; wenn es um Präventions- und Täterarbeit geht; wenn es um ausreichend Plätze in Schutzeinrichtungen und deren Finanzierung geht. Die massive Unterversorgung muss endlich ein Ende nehmen. Wir brauchen mehr Frauenhausplätze, und zwar regional verteilt und an den wirklichen Bedarfen und an Barrierefreiheit orientiert.
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2,5 Plätze pro 10 000 Einwohner sind definitiv eine ganz klare Zielgröße. Erst wenn wir dem näher kommen, können wir auch über einen Rechtsanspruch diskutieren.
Umso mehr freut es mich an dieser Stelle, dass das Onlineregister, das die freien Plätze in Schutzeinrichtungen ausweist, letzte Woche endlich freigeschaltet worden ist – ein Instrument, das wir als FDP schon lange gefordert haben. Hier gilt mein ganz besonderer Dank dem besonderen Engagement der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser. Das Onlineregister ist ein hervorragendes Beispiel, wie Digitalisierung dabei helfen kann, Gewaltschutz zu ermöglichen.
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Nicht nur im Ausbau digitaler Angebote für Hilfesuchende sehen wir großes Potenzial, sondern auch darin, dass wir Polizei und Justiz weiter stärken. Mehr Fortbildung und geschultes Personal sind hier dringend notwendig. Nur so können wir von Gewalt betroffene Frauen und von Gewalt betroffene Menschen in unserem Land bestmöglich schützen.
Schließlich brauchen wir eine bundesweite Strategie, eine Strategie zur Koordinierung der verschiedenen Akteure und auch zum Monitoring, eine Strategie, mit der Zusammenarbeit, Präventions- und Täterarbeit möglich sind, eine einheitliche Strategie im ganzen Bundesgebiet, die aufzeigt, wie die gesicherte Finanzierung von Frauenhäusern, die wir brauchen, aussehen kann.
Leider, meine Damen und Herren, hat der Runde Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ nicht den erforderlichen positiven Effekt gebracht. Es wurde lediglich ein Positionspapier verabschiedet.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Das wäre eigentlich genau der Auftrag der Koalition gewesen. Aber ich denke, wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode erneut ausführlichst über den Gewaltschutz unterhalten, –
Frau Kollegin Bauer.
– dann hoffentlich mit anderen Mehrheiten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer.
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– Das entscheidet dankenswerterweise der Wähler
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– und die Wählerin, also das Wahlvolk.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Möhring, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte schon damit gerechnet, dass die Regierungskoalition ein bisschen arg Selbstlob betreiben wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde das, ehrlich gestanden, nicht angemessen. Schon vor vier Jahren, eigentlich sogar schon vor acht Jahren waren dieselben Probleme wie heute ungelöst: Gibt es mehr Frauenhausplätze? Nein. Gibt es eine Neuregelung der Finanzierung? Nein. Gibt es eine bessere Bezahlung der Mitarbeiter/-innen im Hilfesystem? Nein. Gibt es eine Koordinierungsstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention? Nein. Gibt es mehr Täterarbeit und andere gezielte Präventionsmaßnahmen? Nein. Gibt es Daten zu digitaler Gewalt? Nein. Gibt es weniger Femizide? Nein. Gibt es einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt? Nein. Der Runde Tisch hat jetzt die bekannten Missstände noch einmal bestätigt. Gibt es konkrete Maßnahmen? Nein; sie sind verschoben in die nächste Wahlperiode.
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Die Bundesregierung kommt einfach nicht aus dem Knick – und das, obwohl es eine deutliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen gibt – in der Covidpandemie ist das besonders offenbar geworden –: 20 Prozent mehr Anfragen in Fällen häuslicher Gewalt beim Hilfetelefon in 2020, ein Zuwachs der Beratungsgespräche. Bis zum 6. Juni, also in den ersten 156 Tagen des laufenden Jahres, wurden mindestens 71 Frauen und 16 Kinder getötet. Die Täter: sogenannte Partner oder Ex-Partner. Ich frage Sie: Was soll denn eigentlich noch passieren, damit das Thema ernster genommen wird? Diese Gewalt gegen Frauen hängt nicht vom sozialen Status oder ihrer Herkunft ab, es gibt sie im digitalen, es gibt sie im analogen Leben, und sie endet jeden dritten Tag tödlich, jeden dritten Tag, alle 72 Stunden – die Uhr tickt!
Diese Gewalt als eskalierten Beziehungsstreit oder als Privatangelegenheit abzutun, verkennt das strukturelle Problem. Es sind Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, und das heißt: Femizid.
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Es macht mich, ehrlich gestanden, zunehmend wütend, dass die Bundesregierung sich stoisch weigert, diesen Begriff anzuerkennen. Frau Pantel, das ist keine Reduzierung – es ist das genaue Gegenteil. Es ist wichtig, zu sagen: „Das sind Femizide“, weil man damit offiziell feststellt: Es handelt sich um Taten, die auf der gesellschaftlichen Abwertung von Frauen beruhen.
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Es gibt damit eine gesellschaftliche Verantwortung, und darauf müssen doch die Lösungen ausgerichtet sein! Auch die Prävention und der Schutz werden doch in einer ganz anderen Dringlichkeit sichtbar. Das hätte andere Maßnahmen zur Folge. Denn es reicht einfach nicht aus, dort anzusetzen, wo patriarchale Gewalt schon körperlich geworden ist – dieser Gewalt muss die Grundlage entzogen werden: durch Präventionsarbeit, durch Programme gegen Sexismus und durch die sofortige Bereitstellung von mehr Schutzräumen und qualifizierte Unterstützung der Betroffenen.
Die Bilanz der GroKo ist wirklich nicht gut. Es geht aber an dieser Stelle um das Leben von Frauen – von vielen Frauen! Deswegen fordere ich Sie auf: Handeln Sie endlich konkret und setzen Sie die Istanbul-Konvention um!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin.
Da die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion, und die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion, ihre Reden vorbildlich zu Protokoll
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewalt gegen Frauen ist täglich bittere Realität. Gewaltschutz für Frauen muss darum endgültig als staatlicher Schutzauftrag begriffen werden. Es gibt kein Argument mehr für den Bund, diese Verantwortung abzuschieben.
Genau darum haben wir Grüne die beiden Anträge eingebracht, die wir heute hier abschließend zur Abstimmung stellen. Als ich sie im Herbst 2019 einbrachte und zum Schluss meiner Rede sagte: „Lassen Sie uns gemeinsam eine gute Lösung finden“, war das ernst gemeint, Kolleginnen und Kollegen.
Was hat sich seitdem getan? Unser grüner Vorschlag, wie Frauenhäuser auf Dauer mit zusätzlichen Mitteln des Bundes finanziert werden können, gekoppelt mit einem Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe für jede Frau, blieb der einzige. Gute Anträge zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und parlamentarische Initiativen zur Bekämpfung von Hasskriminalität gegen Frauen und von Femiziden liegen vor, eingebracht von den demokratischen Oppositionsfraktionen. Aber Sie von der Koalition sind ganz blank geblieben: keine Vorschläge für dauerhafte Verpflichtungen zur Finanzierung seitens der Bundesebene.
Die Union macht in jeder Debatte ihre Betroffenheit deutlich, bewegt sich aber keinen Millimeter und zeigt, wie die Kollegin Pantel eben auch wieder, weiter auf die Länder, als gäbe es keine Lösung. Natürlich gibt es Lösungen – bei Mehrgenerationenhäusern haben Sie es ja bewiesen.
Das Agieren der SPD, ich will es mal so sagen, ist unzureichend. Wenn Sie vorgestern ein Positionspapier der Fraktion beschlossen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann erzeugt das keine Wirkung mehr. Was Sie immer noch machen, ist, auf den Runden Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ zu verweisen. Auch das reicht nicht. Wenn dieser Runde Tisch erst im Mai 2021 für bundesweiten Schutz und Beratung votiert hat, dann war das zu spät, um wirksam zu werden.
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich eines sehr klar sagen: Es gibt in Deutschland bisher keine Pflicht, Gewaltschutz zu finanzieren. Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und Notrufe haben keine verlässliche Finanzierungsgrundlage. Länder und Kommunen zahlen freiwillige Leistungen, und diese könnten jederzeit gekürzt werden. Das geht nicht!
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Denn Schutz vor Gewalt ist eine systemrelevante Aufgabe.
Deswegen sage auch ich: Unser Dank geht an diejenigen, die jeden Tag die Strukturen des Gewaltschutzes aufrechterhalten. Ich nenne hier stellvertretend die Bundesverbände FHK, ZiF und bff.
Aber Dank reicht nicht. Der Bund muss endlich Verantwortung übernehmen und gemeinsam mit den Bundesländern eine auskömmliche Finanzierung gewährleisten!
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Und, Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das Bundesförderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ ein guter Ansatz war, es muss auch gut funktionieren, und das ist anscheinend nicht der Fall. Auf meine schriftlichen Fragen antwortete mir die Bundesregierung, dass in vielen Bundesländern noch überhaupt kein Geld geflossen ist. Hohe Bürokratie und ein Eigenanteil von 10 Prozent, das ist oft nicht leistbar. Und nicht akzeptabel ist, wenn mündliche Zusagen für fristgerecht gestellte Anträge nach Monaten immer noch nicht positiv beschieden werden.
Ich sage Ihnen eines – ich habe hier die Antworten der Bundesregierung –: Im Investitionsprogramm wurden von 56 Anträgen gerade einmal 11 bewilligt. Von den 120 Millionen Euro über die vier Jahre gesamt – Stand jetzt – werden im Förderprogramm ganze 15 877 405 Euro angegeben. Das sind noch nicht einmal 20 Prozent. Das ist ein Desaster, meine Damen und Herren!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewaltschutz braucht eine dauerhafte Lösung, nicht nur eine temporäre. Unser grüner Antrag lautet: Jede Frau, die von Gewalt betroffen ist, unabhängig von Einkommen und Vermögen, Herkunft, Wohnsituation oder Aufenthaltsstatus, bekommt einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe. Das gilt für alle Frauen ausnahmslos. Gekoppelt mit einem Geldleistungsgesetz ist so eine Bundesfinanzierung möglich. Gewaltschutz muss endlich zur Priorität werden! Wir Grüne sind dazu bereit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schauws. – Damit schließe ich die Aussprache, und wir nähern uns den Voten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Wir von der AfD wollen unsere Sportler in jeder Hinsicht in einem fairen Wettbewerb unterstützen. Fair heißt natürlich auch, dass der Wettbewerb dopingfrei sein muss. Eine entscheidende weitere Wirkung ist, dass die Gesundheit der Sportler geschützt wird.
Nach fünf Jahren, so war es Beschlusslage, sollte das Anti-Doping-Gesetz überprüft werden. Das ist geschehen; vielen Dank an die Sachverständigen und an alle Kollegen im Sportausschuss! Das Ergebnis war, dass das vorhandene Anti-Doping-Gesetz aus dem Jahr 2015 ein wichtiger Schritt war, dem jetzt aber angesichts der Erkenntnisse aus der Evaluierung Verbesserungen folgen müssen. Leider sind es aus unserer Sicht zu wenige Verbesserungen. Zu den positiven Seiten:
Erstens. Doping ist ein Straftatbestand.
Zweitens. Die Staatsanwaltschaften erhalten Ermittlungsmöglichkeiten, die Sportverbände nun einmal nicht haben.
Drittens. Die Aufnahme einer Kronzeugenregelung speziell für den Sport, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt, ist eine echte Verbesserung, da klar geworden ist, dass die allgemeine Regelung aus dem Strafgesetzbuch für den Bereich der Dopingstrafbarkeit faktisch gar nichts gebracht hat.
Leider ist dies der einzige Punkt, um den das Anti-Doping-Gesetz ergänzt wird, und das reicht eigentlich nicht. Es wäre mehr drin gewesen. Sogar die Wissenschaftler, die die Evaluierung vorgenommen haben, warnen ausdrücklich davor – Zitat –, die Einführung einer Kronzeugenregelung als einen Gamechanger oder gar als ein allein maßgebliches Instrument zu betrachten.
In seiner jetzigen Form fasst das Gesetz die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Straftat immer noch zu eng. § 4 Absatz 7 Anti-Doping-Gesetz ist gemeint; danach reicht eine positive Dopingprobe für die Strafbarkeit allein nicht aus, das Gesetz fordert, dass der beschuldigte Sportler „Einnahmen von erheblichem Umfang“ – ein völlig unbestimmter Rechtsbegriff – aus dem Sport erzielt haben muss. Es müssen dann also Einkommensteuerbescheide vor Gericht ausgewertet werden.
Die zweite Einschränkung ist, dass das Gesetz nur für Sportler gilt, die bereits einem Testpool angehören, also einen bestimmten Kaderstatus haben. Das führt dazu, dass in ein und demselben Wettkampf Sportler starten können, wobei für die einen das Gesetz gilt, für andere aber nicht. Das ist natürlich völlig sinnfrei. Diese Regelung muss weg!
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Ein weiterer Punkt ist eine klarere Regelung zum Begriff „Fahrlässigkeit“. Die Wissenschaftler plädieren für eine Eliminierung der Fahrlässigkeitsstraftatbestände. In der Sportgerichtsbarkeit ist jeder Sportler zu hundert Prozent verantwortlich für das, was sich in seinem Körper befindet. Im strafrechtlichen Bereich, um den es hier geht, sagen viele Richter, dass das Gegenteil von Fahrlässigkeit, nämlich Vorsatz, oft nicht nachzuweisen ist.
Ich fasse zusammen: Weil der jetzige Gesetzentwurf besser ist als das bestehende Gesetz, werden wir zustimmen. Der Gesetzentwurf ist gut. Uns fehlen aber drei Punkte:
Erstens. § 4 Absatz 7 des Anti-Doping-Gesetzes ist ersatzlos zu streichen.
Zweitens. Der Begriff der Fahrlässigkeit muss besser definiert werden.
Drittens. Wir plädieren neben der Kronzeugenregelung auch für einen besseren Schutz von Whistleblowern.
Noch ein weiterer Punkt – hier sind aber die Bundesländer gefragt –: Es gibt bereits Anti-Doping-Schwerpunktstaatsanwaltschaften in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Solche Staatsanwaltschaften sollte es in allen Bundesländern geben.
Ganz zum Schluss: Viel Erfolg unseren Sportlern in Tokio bei den Olympischen Spielen und den Paralympics!
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Bleibt gesund und kommt mit vielen Medaillen zurück!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege König. – Die geschätzten Kolleginnen Dagmar Freitag, SPD-Fraktion, und Britta Dassler, FDP-Fraktion, haben ihre Reden sportlich vorbildlich zu Protokoll gegeben.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ein Satz zum Vorredner: Wenn irgendjemand nun wirklich gar keine Ahnung vom Sport hat, dann ist das die AfD.
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Ich will etwas Generelles sagen: Einige von Ihnen kennen sicher noch den Ausdruck „Struck’sches Gesetz“. Laut Peter Struck von der SPD verlässt kein Gesetz den Bundestag so, wie es eingebracht worden ist. Peter Struck hat das praktiziert, selbst als Vorsitzender einer Regierungsfraktion.
Wir entscheiden heute über eine Novellierung des im Jahr 2015 in Kraft getretenen Anti-Doping-Gesetzes, und dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung soll jetzt ohne jede Änderung so beschlossen werden, wie er am 22. April 2021 zur ersten Lesung eingebracht wurde. Nun werden Sprücheklopfer aus der Koalition sicherlich anmerken, dass das eben ein hervorragender Gesetzentwurf sei, der keiner Änderung bedurfte.
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Das könnte zwar, theoretisch, sein, ist in diesem Fall aber definitiv nicht so. Die Koalition hat sich, wie schon beim Anti-Doping-Gesetz vor fünf Jahren, wieder nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Obwohl Professor Elisa Hoven sowie Professor Michael Kubiciel in ihrem Evaluationsbericht auf zahlreiche Schwächen und Mängel in diesem Gesetz hinwiesen, soll nun lediglich eine einzige inhaltliche Änderung erfolgen, und zwar mit der Einführung einer sogenannten Kronzeugenregelung.
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Das ist in meinen Augen Symbolpolitik oder, drastischer ausgedrückt, Schaumschlägerei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, auch Ihr gestern im Sportausschuss vorgelegter Entschließungsantrag kann mit den schwach formulierten Forderungen an die eigene Bundesregierung diese Mängel leider nicht beheben. Es ist schon ein Armutszeugnis, wenn Union und SPD nach der Beschlussfassung über den Gesetzentwurf einen Entschließungsantrag dazu einbringen, anstatt gleich einen vernünftigen, zukunftsfähigen Gesetzentwurf vorzulegen.
In meiner Rede am 22. April 2021 hatte ich, wie auch schon in der Debatte über das Anti-Doping-Gesetz 2015, eine Reihe von Vorschlägen für einen wirksamen Kampf gegen Doping im Sport unterbreitet. Dazu gehören eine umfassende Aufklärungs- und Präventionsarbeit, die Erweiterung bestehender Strafvorschriften für den Handel mit Dopingmitteln sowie der zwingende Entzug der Approbation für Ärztinnen und Ärzte, die nachweislich an Dopinganwendungen beteiligt waren.
Es geht um einen wirklichen Schutz von Whistleblowers, also wichtigen Hinweisgebern. Die Kronzeugenregelung gilt doch nur für Personen, die sich selbst strafbar gemacht haben. Wir brauchen eine wirklich unabhängige Ombudsstelle, an die sich Athletinnen und Athleten, Trainer, Ärzte und auch Eltern von Sportlern vertrauensvoll wenden können. All das haben Sie ignoriert. Im Jugend- und Nachwuchssport, im Fitnessbereich sowie in der Aus- und Weiterbildung der in diesem Umfeld tätigen Personen muss über die Wirkung von anabolen Steroiden, Nahrungsergänzungsmitteln und sporttypischen Aufbaupräparaten endlich aufgeklärt werden. Das Gesundheitsministerium und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dürfen sich hier nicht länger einen schlanken Fuß machen!
Bitte kommen Sie zum Schluss.
Fazit: Aus Sicht der Fraktion Die Linke beinhaltet der Gesetzentwurf vielleicht eine kleine Verbesserung, ist aber bei Weitem nicht ausreichend. Deshalb werden wir uns der Stimme enthalten. Ich bin sicher, dass wir in der kommenden Wahlperiode weitere, dann hoffentlich nachhaltige Änderungen an diesem Gesetz vornehmen müssen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hahn. – Da die Kollegin Monika Lazar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und der Kollege Artur Auernhammer, Fraktion der CDU/CSU, ihre Reden jeweils zu Protokoll gegeben haben,
Herr Präsident! Hohes Haus! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer zu dieser späten Stunde! Als wir hier im Bundestag im Herbst 2019 das Dritte Bürokratieentlastungsgesetz verabschiedet haben, haben wir uns zeitgleich in einem Entschließungsantrag – es war gut, dass wir das gemacht haben – auf das Bürokratieentlastungsgesetz IV geeinigt, weil wir der Auffassung sind, dass Bürokratieentlastung eine Daueraufgabe ist.
In einer hochrangigen Arbeitsgruppe wurde ausgelotet, was in der laufenden Legislaturperiode diesbezüglich noch möglich ist. Bei der einen oder anderen Sache hätte ich mir mehr erhofft. Der Antrag der FDP zum Bürokratieabbau, der hier vorliegt, wäre jedenfalls ein guter Startschuss für eine neue Zusammenarbeit ab dem Herbst. – Wenn ihr noch ein bisschen zulegt und wir noch ein bisschen zulegen, dann klappt das vielleicht wieder mit einer christlich-liberalen Regierung.
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Wir haben einen Teil davon ja auch schon mal gemeinsam beschlossen. 2013 haben wir die Dauer der Aufbewahrungspflichten im Steuerrecht verkürzt;
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das hat der Bundesrat hinterher kassiert. Das wäre uns jetzt wieder so ergangen.
Wir haben uns auf ein Paket aus Einzelmaßnahmen statt auf ein ganz neues Bürokratieentlastungsgesetzes geeinigt. Das Filetstück daraus steht heute zur Beratung: das Unternehmensbasisdatenregistergesetz, das wirklich Entlastung bringt, auch wenn sein Name – Unternehmensbasisdatenregistergesetz – nicht so klingt. Es ist eine echte Erfolgsgeschichte.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einrichten, die sich die verschiedenen Register, die es gibt, und die Statistikpflichten, die erfüllt werden müssen, anschaut. Da hat sich schnell gezeigt, dass es verschiedene Anforderungen in den Bundesländern sowie der eigenen Bundesstellen gibt und dass das überall bürokratische Auswirkungen hat. Aber für jedes einzelne Register gab es immer mindestens eine Stelle, die gesagt hat: Das ist unbedingt notwendig, das muss weitergemacht werden. Deshalb ist der Schwerpunkt auf das Thema Registermodernisierung gelegt worden.
Hier und heute können wir die Ernte einfahren; das ist gut so. Wir haben circa 120 einzelne Register mit Unternehmensbezug in Deutschland. Diese sind größtenteils zweckgebunden und weitgehend unabhängig voneinander. Das bringt natürlich mit sich, dass Unternehmen die gleichen Zahlen immer wieder melden müssen, die Zahlen immer wieder an- und eingeben müssen. Es gibt keinen Austausch zwischen diesen Registern. Jedes Register hat seine eigene Identifikationsnummer.
Wir wollen im 21. Jahrhundert Schluss machen damit, dass die Bürger und die Unternehmen Botendienste für den Staat leisten. Vielmehr wollen wir das, was wir an Daten haben, zusammenbringen, sozusagen vorfertigen und verwenden, damit wir Unternehmen nicht immer mit den gleichen Fragen quälen.
Wir haben das bei den Personen bereits gemacht; Stichwort „registerübergreifende Nutzung der Steuer-ID“. Mit dem am Anfang des Jahres beschlossenen Registermodernisierungsgesetz wurde der richtige Weg eingeschlagen, um Onlinedienstleistungen für den Bürger anbieten zu können und das Once-only-Prinzip durchzusetzen.
Das Gleiche geschieht jetzt mit dem Basisregister für Unternehmensstammdaten, das beim Statistischen Bundesamt geführt und betrieben werden wird. Zusammen mit der bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer wird es Unternehmen von Meldepflichten entlasten und ihnen mehr Zeit lassen, sich um ihre eigentlichen unternehmerischen Pflichten zu kümmern, den Ideen freien Lauf zu lassen und der Kreativität freien Raum zu geben.
Die Unternehmen sind mit der bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer eindeutig identifizierbar. Sie setzt auf der Wirtschafts-Identifikationsnummer gemäß § 139c Abgabenordnung auf. Die existiert heute nur als leere Hülle. Sie wird jetzt mit Sinn belegt und ausgefüllt und wird eine sinnvolle Funktion wahrnehmen. Das BMF hat uns zugesichert, dass das funktionieren wird. Da wird man sich sicher keine Blöße geben. Wir sind sicher, dass da ein Rädchen ins andere greifen wird.
Der Normenkontrollrat – das ist unser Bürokratie-TÜV, wenn man so will, also die Stelle, die guckt, was wir mit den Gesetzen im Hinblick auf Bürokratie für den Bürger oder für die Unternehmen anrichten – hat in seiner Stellungnahme geschrieben:
Der vorliegende Gesetzentwurf war lange überfällig. … Der NKR betont das erhebliche Einsparpotential in Milliardenhöhe, das sich durch weitere Ausbaustufen des Unternehmensbasisregisters bzw. durch die Anbindung weiterer Fachregister und Verwaltungsverfahren ergeben kann. Allein das Entlastungspotential in dieser Größenordnung zeigt die erhebliche Bedeutung dieses Gesetzentwurfs für Verwaltungsdigitalisierung und Bürokratieabbau.
Aber auch die Frage „Was hätte sein können?“ ist von Bedeutung. Denn wenn wir in der aktuellen Krisensituation schon so ein Register gehabt hätten, hätten wir viel treffsicherer unsere Hilfen für pandemiebetroffene Betriebe unter die Leute, in die Wirtschaft, an die Stellen des Bedarfs bringen können.
Ich komme zum Schluss. Frau Poschmann und ich haben uns gemeinsam mit den Vertretern von BMWi, BMF und Statistischem Bundesamt abgestimmt über die Frage: Wie können wir den Grad der Verbindlichkeit noch erhöhen? Wir legen Ihnen deshalb hier einen entsprechenden Entschließungsantrag vor, der die Meilensteine enthält. Das Wichtige dabei ist die Finanzierung über das Jahr 2022 hinaus. Sie erfolgt momentan durch Mittel aus dem Konjunkturpaket und muss ab 2023 noch ausfinanziert werden. Das werden wir sicher alles hinkriegen.
Wie gesagt, es geht jetzt zunächst um den Testbetrieb. Der Echtbetrieb wird wohl 2024 starten können. Wir sollten jetzt noch die Geduld aufbringen, damit das endlich möglich wird, auch wenn das so lange dauert. Aber wir sind da auf einem guten Weg. Ich würde Sie alle einladen, diesen Weg mit der Koalition mitzugehen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Willsch.
Bevor ich den letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt aufrufe, weil die restlichen Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll
Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier! Zunächst mal freue ich mich, dass Sie zu so später Stunde noch hier sind. Sehr vorbildlich! Aber das ist dann auch schon genug der Freude.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht die Einführung einer bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer und die Einrichtung eines Basisdatenregisters für Unternehmen beim Statistischen Bundesamt vor. Was Sie hier tun, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als purer Bürokratieaufbau für den Mittelstand. Probleme lösen Sie damit nicht.
Schon heute muss sich der mittelständische Unternehmer unzählige Registernummern merken: die Handelsregisternummer, die betriebliche Steuernummer, die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, die elektronische Transfer-Identifikations-Nummer, die Nummer der IHK-Unternehmensdatenbank, die Nummer der Transparenzdatenbank und viele mehr. Als wäre das nicht genug, plant das Bundeszentralamt für Steuern die Einführung einer ebenfalls einheitlichen Wirtschafts-Identifikationsnummer. Und Sie, lieber Herr Minister Altmaier, wollen nun auch noch eine neue Nummer schieben. Mal ernsthaft: Unterhalten Sie sich im Kabinett eigentlich noch miteinander? Wenn Sie mit Ihrem Kollegen Bundesfinanzminister Scholz einmal sprechen würden, könnte man nämlich auf die Idee kommen, dass die bereits angekündigte Wirtschafts-Identifikationsnummer des Bundeszentralamtes für Steuern ausreichen könnte. Das wäre sinnvoll, das wäre effizient, und das wäre ein wirklicher Beitrag zur Entbürokratisierung, meine Damen und Herren.
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Das Basisdatenregister ist der nächste unausgegorene Vorschlag, den Sie uns hier präsentieren. Anstatt ein ordentliches Gesetz in den Bundestag einzubringen, legen Sie hier reines Stückwerk vor, und das dazu noch ziemlich inhaltsleer.
Jeder wichtige Sachverhalt soll per Rechtsverordnung geregelt werden. Wieso wollen Sie sich denn dem Parlament entziehen? Die Fragestellungen – Priorisierung der Registerdaten, die Datensicherheit, der Datenschutz oder eine kostenlose Abrufung der Daten aus dem Register für Unternehmen – sind völlig unklar. Wie lösen Sie den Abgleich gleichartiger Datensätze eines Unternehmens aus zwei Registern? Wie wird die Datenschutz-Grundverordnung bei der Zusammenführung der Daten aus 120 Registern berücksichtigt? Das, lieber Minister Altmaier, gehört ins Gesetz und nicht in eine Rechtsverordnung.
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Sie sollten sich vorher Lösungen dazu überlegen und nicht die Probleme in die Verwaltung abschieben.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wirtschaftspolitischer Offenbarungseid. Er steht in einer Reihe mittelstandsfeindlicher Maßnahmen dieser Bundesregierung in dieser ganzen Legislatur. Gerade für den Mittelstand bedeutet dieses Gesetz Unsicherheit statt Erleichterung sowie Bürokratieaufbau statt Transparenz. Das viel beschworene Once-only-Prinzip wird so zur Farce.
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Die AfD-Bundestagsfraktion ist grundsätzlich für ein zentrales Unternehmensdatenregister; denn es kann tatsächlich einen großen Beitrag zur Entbürokratisierung gerade auch für den Mittelstand leisten. So, meine Damen und Herren, geht es allerdings nicht. Wenn Sie wirklich was für den Mittelstand tun wollen, dann nehmen Sie unseren Antrag und arbeiten unsere Vorschläge ein; dann wäre allen geholfen. So ist der Gesetzentwurf leider nicht zustimmungsfähig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Komning.
Die Kolleginnen und Kollegen Sabine Poschmann, SPD-Fraktion, Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion, Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke, Dieter Janecek, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll
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Damit ist die Aussprache geschlossen. Wir nähern uns der Abstimmung über die einzelnen Tagesordnungspunkte.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Den ursprünglichen, heute noch postulierten Zweck der IHKs gibt es nicht mehr. Es gibt kein gesamtwirtschaftliches Interesse. Es gibt allenfalls Brancheninteressen. Dienstleistungsunternehmen und Unternehmen, die produzieren, haben nicht die gleichen betrieblichen Grundlagen, können also auch nicht von einer einzigen Institution abgebildet werden. Branchenverbände können das viel besser.
Der DIHK ist zu einem Lobbyverband für Konzerne verkommen. Die Interessen der Mittelständler werden nicht mehr verfolgt. Da, wo er hätte handeln müssen, hat er nicht gehandelt. Er hat sich nicht gegen die Russland-Sanktionen gewendet. Doch die Russland-Sanktionen stehen den wirtschaftlichen Interessen unseres Landes diametral entgegen. Da hat er nicht gehandelt. Daran zeigt sich eben, dass die Kammern ihre postulierte Aufgabe nicht wahrgenommen haben
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und nicht wahrnehmen wollen, weil sie sich eben lieber vor den Karren der Bundesregierung spannen lassen. Das hat der Wirtschaft sogar geschadet.
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Schlimm ist auch, dass der DIHK mit Stellungnahmen zu nichtwirtschaftlichen Themen seine Kompetenz ständig überschreitet. Die Quittung dafür hat er dann auch bekommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb einer IHK erlaubt, aus dem DIHK auszutreten, und das mit gutem Recht; denn jede sonstige, über das Wirtschaftliche hinausgehende politische Meinungsbildung und Meinungsäußerung von Institutionen, die die Wirtschaft vertreten, hat zu unterbleiben. Es gibt keine Themen von gesellschaftlicher Relevanz, bei denen Unternehmen vertreten werden müssten. Unternehmen sollen gewerblich tätig sein, sie sollen Arbeitsplätze sichern, sie sollen für die Gesellschaft da sein, und sie sollen den Sozialstaat finanzieren. Alles andere sind Elemente der Planwirtschaft, meine Damen und Herren.
Wenn der DIHK nun vom Gesetzgeber fordert, sich auf weitere Themen von gesellschaftlicher Relevanz fokussieren zu dürfen, dann hat er sich vollständig unglaubwürdig gemacht; denn dann ist er nämlich zu einem eigenständigen politischen Gremium geworden und für die Wirtschaft nicht mehr geeignet.
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Um die Meinungsbildung und Transparenz ist es ja auch nicht so gut bestellt. Da gibt es Konzerne, die in etwa genau die gleichen Stimmrechte haben wie alle anderen Mitglieder, Mittelständler, zusammengenommen. Die Wahlbeteiligung bei Wahlen in die Gremien ist, ähnlich wie bei den Wahlen in die Parlamente, so gering, dass von einer eindeutigen Legitimierung der Gewählten nicht mehr gesprochen werden kann. Die Leistungen der Kammern werden nur von einem geringen Teil der Mitglieder nachgefragt. Daran erkennt man eben, dass die Kammern wenig legitimiert sind.
Die Zwangsmitgliedschaft von Unternehmen in der IHK verstößt gegen die negative Vereinigungsfreiheit und damit auch gegen das Grundgesetz.
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Das Prinzip der Selbstorganisation steht einem Zwang hierzu von außen entgegen. Auch Artikel 20 der UN-Menschenrechtscharta sagt: „Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören.“
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Genau deshalb ist die Pflichtmitgliedschaft aufzuheben,
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nicht auf einmal, doch schrittweise, so, dass sich die Kammern umorientieren können; denn sie haben durchaus eine wichtige Aufgabe.
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Aber die Pflichtmitgliedschaft passt einfach nicht in einen freiheitlichen Staat, so wie Deutschland es ist und sein sollte.
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Und sie müssen vor allem entpolitisiert werden, ganz wichtig.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Diese beiden Dinge sind Grundvoraussetzungen.
Herr Kollege Kotré, bitte.
Wenn diese Voraussetzungen wieder stimmen, dann sind die Kammern auch wieder legitimiert.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kotré.
Die Kollegin Sabine Poschmann, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll
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– Ich teile Ihre Auffassung, Frau Kollegin.
Nächster Redner ist deshalb der Kollege Reinhard Houben, FDP-Fraktion.
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– Ja, das kann ich Ihnen sagen. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie loben ja immer, wenn viel zu Protokoll gegeben wird. Aber wenn man sich so einen Stuss anhören muss, dann muss es auch möglich sein, darauf zu antworten.
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Was Herr Kotré hier gesagt hat, ist zum Teil sachlich, inhaltlich einfach falsch. Herr Kotré, die Verfassungsfrage ist schon so lange geklärt. Das Thema hat so einen Bart, und dann kommen Sie damit um die Ecke. Es gibt auch Zwangsmitgliedschaften in anderen Kammern wie bei den Ärzten oder den Rechtsanwälten. Darüber regt sich keiner auf. Also, totaler Blödsinn. Ich sage Ihnen als Mittelständler: Ohne die IHK hätte ich überhaupt gar keine Chance, im politischen Raum wahrgenommen zu werden.
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Ich könnte nicht ausbilden ohne die IHK. Ich hätte überhaupt keine Stimme.
Deswegen muss ich sagen: Wir haben jetzt kurz vor zwölf. Ja, es war kurz vor zwölf, weil die Leipziger Verwaltungsrichter so entschieden haben, wie sie entschieden haben. Meine Damen und Herren, es ist kaum zu glauben: Wenn der politische Wille da ist, kann Politik auch sehr schnell entscheiden. Deswegen sage ich: Wir haben diese Gesetzesentwicklung freundlich begleitet. Ich danke auch den Kollegen Heider und Poschmann, die hauptsächlich dafür verantwortlich gezeichnet haben. Wir haben eine Lösung gefunden, die am Ende, glaube ich, für alle Beteiligten in Ordnung ist.
Wir werden diesem Gesetzentwurf auf jeden Fall guten Gewissens zustimmen können. Wir haben ein bisschen Schmerzen bei der Frage, wie weit der Einfluss des Wirtschaftsministeriums über die Länge der Zeit gehen könnte. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen, wie genau sich die Gesetzesformulierung auswirkt. Darauf wollen wir uns heute Abend nicht einlassen. Am Ende nutzt dieses Gesetz den Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland. Wir brauchen starke IHKs vor Ort. Wir brauchen auch die Außenhandelskammern. Das funktioniert nicht ohne den DIHK.
Vielen Dank.
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Vielen Dank für Ihre Worte, Herr Kollege Houben.
Der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke, und die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt vor allem auf drei Dinge: erstens Verbesserung der Schadensersatzansprüche von Verbrauchern, zweitens mehr Transparenz im Onlinehandel und schließlich Bußgeldvorschriften bei grenzüberschreitenden Verstößen, auch bei den anscheinend nicht totzukriegenden Kaffeefahrten.
Wir sehen die stark erweiterte Möglichkeit von Informationsvorschriften für Anbieter positiv. Es gibt im Gesetzentwurf umfangreiche Kataloge, die solche Informationsvorschriften auflisten und die auch geeignet sind, mehr Klarheit für die Rechtsprechung zu schaffen. Positiv ist sicher auch, dass das oftmals dubiose Influencer-Marketing in den Blick genommen wird.
Bei den Bußgeldern wird man feststellen können, dass der Gesetzentwurf dadurch einen Biss bekommen kann, dass Behörden in die Lage versetzt werden, umsatzabhängige Bußgelder zu verhängen. Deren Obergrenze erscheint uns aber zu hoch gegriffen. 4 Prozent vom Umsatz können existenzgefährdend sein. Der Sinn eines Bußgeldes muss sein, einen Missstand abzustellen, aber nicht, die Existenz desjenigen zu vernichten, der an diesem Missstand beteiligt war.
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Der Gesetzentwurf stellt einen Fortschritt dar. Wir stimmen daher zu.
Es stellt sich aber die Frage: Muss im Geschäftsleben eigentlich immer alles von oben herab durch Hard Law geregelt werden? Andere Länder mobilisieren viel effektiver die Selbstheilungskräfte ihrer Wirtschaft. Als Beispiel haben wir deshalb zu dieser Debatte die in angelsächsischen Ländern übliche Praxis der sogenannten Koregulierung dazugestellt, für die ich hier werben möchte.
Koregulierung heißt, Verbände der Wirtschaft, Verbraucherverbände und die für den jeweiligen Wirtschaftssektor zuständigen Behörden arbeiten gemeinsam Codes of Conduct aus. Deren Einhaltung durch die anbietende Wirtschaft wird überwacht durch die Behörden selbst, die bei Verstößen auch Sanktionen verhängen können. Diese reichen vom Entzug der Gütezeichen bis hin zu empfindlichen Geldbußen. So jedenfalls wird es gehandhabt in Großbritannien, in Australien, in Neuseeland, in Kanada und auch anderen Ländern, und zwar mit großem Erfolg.
Das Europäische Parlament und der Wirtschafts- und Sozialausschuss haben sich zum wiederholten Mal dafür ausgesprochen, dass die Koregulierung auch in Kontinentaleuropa Fuß fassen soll. Man hat zwar keine ausreichende Grundlage für Einzelermächtigungen in den EU-Verträgen gesehen; aber man hat die nationalen Parlamente dazu aufgerufen, aus eigener Initiative hier tätig zu werden und die Koregulierung in ihren Ländern einzuführen. Auch eine Reihe von prominenten deutschen Juristen – ich nenne hier etwa den Namen Wolfgang Hoffmann-Riem – haben sich schon vor Jahren dieser Forderung angeschlossen.
Ich denke, wir sollten da nicht länger abseitsstehen und glauben, dass obrigkeitliche Regelungen allein selig machend wären. Ich meine, eine Debatte zum Thema Koregulierung würde diesem Hohen Hause recht gut anstehen.
Die restlichen 15 Sekunden, Herr Präsident, schenke ich Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Professor Maier. Die schenken Sie nicht mir, sondern dem Hohen Haus.
Die Frau Staatsministerin Dorothee Bär für die Bundesregierung, die Kollegin Katharina Willkomm für die FDP, die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke, die Kollegin Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Kollege Professor Dr. Karl Lauterbach für die SPD und der Kollege Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Guten Morgen, Herr Präsident!
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Meine Damen und Herren! Wer eine Erfindung herstellt, hat ein Recht darauf, diese Erfindung schützen zu lassen, er hat das Recht auf ein gewerbliches Schutzrecht in Form eines Patents, und er hat als Patentinhaber das Recht, anderen für 20 Jahre die Herstellung und den Gebrauch seiner Erfindung zu untersagen oder für die Übertragung von Schutzrechten an seinem Patent eine Vergütung zu verlangen.
Von diesem Exklusivrecht des Erfinders an seiner Erfindung profitiert letztendlich die ganze Gesellschaft. Einem Marktversagen durch positive Externalität wird hierdurch entgegengewirkt. Deshalb ist es richtig, dass der Staat Innovationsgeist fördert und geistiges Eigentum effektiv schützt.
Die Patentgerichte sind, wie auch andere Teile der deutschen Justiz, erheblich überlastet. Erhebt der Beklagte innerhalb eines Patentverletzungsprozesses eine Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent, können die Verfahren mehrere Jahre dauern. Deshalb ist es zu begrüßen, dass das Bundespatentgericht dem Verletzungsgericht innerhalb von sechs Monaten einen Hinweisbeschluss zur vorläufigen Wirksamkeit eines Patents geben darf.
Es hat aber auch gute Gründe, dass das Richterrecht vorsieht, nur im Ausnahmefall einen Unterlassungsanspruch scheitern zu lassen. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs gegenüber dem Patentverletzer eine unverhältnismäßige Härte darstellt und treuwidrig wäre.
Der Entwurf schafft demgegenüber jetzt für Unterlassungsklagen bei Patent- und Gebrauchsmusterverletzungen eine gesetzliche Verhältnismäßigkeitsprüfung. In dem erwähnten Wärmetauscher-Urteil des Bundesgerichtshofs war jedoch in einem ganz konkreten Fall eine Aufbrauchfrist als milderes Mittel gegenüber einem sofort wirkenden Unterlassungsanspruch des Patentinhabers eingeführt worden. Im Änderungsbefehl zu § 139 Absatz 1 des Patentgesetzes ist jedoch nicht mehr die Rede davon, dass statt eines Unterlassungsanspruchs wenigstens eine mildere Rechtsfolge, wie etwa eine Aufbrauchfrist, gegen den Patentverletzer anzuordnen ist. Es ist auch nicht mehr die Rede davon, dass nur das treuwidrige Einklagen des Unterlassungsanspruchs ausgeschlossen ist. Und es ist auch nicht abzusehen, in welchen Konstellationen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zugunsten von Dritten künftig das Patentrecht entschärft.
Ein Start-up soll nicht sein Patentrecht einbüßen, nur weil viele Menschen von seiner Erfindung profitieren. Die Aufweichung der erforderlichen Tatbestandsmerkmale für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung führt zu einer Verwässerung des Patentrechts für seinen Inhaber, und das tragen wir nicht mit.
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Zu guter Letzt: Richtig ist, dass Geschäftsgeheimnisse vor unberechtigter Kenntnisnahme geschützt werden müssen. In Patentstreitsachen besteht jedoch nicht dasselbe Geheimhaltungsbedürfnis wie bei einem Besichtigungsanspruch im Beweissicherungsverfahren. Die Anwendung der §§ 16 bis 20 des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen auf mündliche Verhandlungen in Patentstreitsachen beschneidet daher das Öffentlichkeitsprinzip einer Gerichtsverhandlung und erschwert die Kommunikation zwischen Patentanwalt und seinem Mandanten.
Unser Änderungsantrag – wenn er denn aufgegriffen worden wäre – hätte ein deutliches Korrektiv der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugunsten des Patentinhabers vorgesehen. Er hätte auch das Öffentlichkeitsprinzip in Patentstreitsachen gestärkt.
Der Regierungsentwurf – ohne unseren Änderungsantrag – hinterlässt insgesamt einen unvollkommenen Eindruck. Aufgrund der genannten Schwächen werden wir ihm nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Maier. – Der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion, der Kollege Friedrich Straetmanns, Die Linke, die Kollegin Tabea Rößner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion, und der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 25. September 2019 ist das deutsche Insolvenzschutzsystem für Pauschalreisende in sich zusammengebrochen. Im Sog der Pleite des britischen Mutterkonzerns Thomas Cook mussten auch die deutschen Tochtergesellschaften Insolvenz anmelden. Die in Deutschland zulässige Haftungsbegrenzung der Kundengeldabsicherer auf 110 Millionen Euro pro Geschäftsjahr führte dazu, dass am Ende der Steuerzahler für den Rest der Schadenssumme in Höhe von ungefähr 160 Millionen Euro zur Kasse gebeten wurde.
Und woran liegt das? Die Vorgängerregierung dieser Bundesregierung mit Justizminister – damals noch – Heiko Maas hatte 2017 schlicht und ergreifend die europäische Pauschalreiserichtlinie nicht genau gelesen. Denn obwohl diese Richtlinie ausdrücklich verlangt, „dass Reisende, die eine Pauschalreise erwerben, vor der Insolvenz des Reiseveranstalters in vollem Umfang geschützt“ werden müssen, durften in Deutschland die Versicherungen ihre Haftung auf 110 Millionen Euro pro Geschäftsjahr begrenzen.
Wenn Sie jetzt bedenken, dass 2019 die sieben größten deutschen Reiseveranstalter Jahresumsätze von 1,4 bis 7,3 Milliarden Euro erzielten, war es also nur eine Frage der Zeit, wann das Rettungsnetz von 110 Millionen Euro pro Versicherer und Jahr reißen würde.
Halten wir also fest: Der ganze Schlamassel, den wir heute beseitigen müssen, war eine Katastrophe mit Ansage und beruhte darauf, dass in einer Regierung unter Kanzlerin Merkel und mit Justizminister Maas verbindliche Normen nicht genau gelesen wurde.
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ein Fehler, der die Steuerzahler einfach mal so 160 Millionen Euro gekostet hat. – So viel zur Vorgeschichte.
Kommen wir jetzt zum Gesetzentwurf der Regierung. In der ersten Lesung dieses Gesetzes haben fast alle Fachpolitiker der Bundesregierung vorgehalten, dass sie die harte Kritik vieler Fachleute nicht zur Kenntnis nimmt, und alle haben durchgreifende Nachbesserungen am Gesetzentwurf gefordert. Die Regierungsfraktionen – da muss ich Sie ja ausnahmsweise mal loben – haben damals offenbar zugehört und tatsächlich heute einen Änderungsantrag zum Entwurf der eigenen Regierung vorgelegt, mit dem wesentliche Schwachstellen abgeräumt werden:
Insbesondere die Absenkung der Mindesthöhe der Sicherheitsleistungen, die Unternehmen entrichten müssen, wenn sie dem Sicherungsfonds beitreten möchten, wird den durch die Coronakrise schwer angeschlagenen Reiseunternehmen helfen.
Außerdem wird auch die Haftungsübernahme durch den Sicherungsfonds dafür sorgen, dass ansonsten drohende Versicherungslücken oder gar Marktaustritte vermieden werden.
In der überarbeiteten Fassung wird die AfD-Fraktion den Gesetzentwurf also mittragen, weil wir sicherstellen wollen, dass weitere Insolvenzfälle im Pauschalreisebereich abgewickelt werden können, ohne dass jedes Mal der Steuerzahler in Haftung genommen wird. Wir stimmen dem vorliegenden Gesetzentwurf also zu.
Da dies voraussichtlich die letzte tourismuspolitische Rede in dieser Legislatur ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich als Ausschussvorsitzender bei allen Mitgliedern des Ausschusses für die konstruktive, harmonische und vor allem zielorientierte Arbeit der letzten Jahre zu bedanken. Gerade der vorliegende Gesetzentwurf zeigt nämlich, dass sich der fraktionsübergreifende Einsatz unseres Ausschusses für die vielen Unternehmer und Beschäftigten in der Branche gelohnt hat, weil ein ursprünglich grottenschlechter Entwurf aus dem Hause der Justizministerin durch fachkundige Experten und Abgeordnete zumindest akzeptabel verbessert wurde.
Ich wünsche allen Mitgliedern des Ausschusses auch weiterhin viel Erfolg beim Einsatz für die fast 3 Millionen Beschäftigten im Tourismus in Deutschland und den ausscheidenden Mitgliedern unseres Ausschusses, die im September nicht mehr antreten, auch persönlich alles Gute.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Münzenmaier. – Der Kollege Sebastian Steineke, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion, die Kollegin Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke, der Kollege Markus Tressel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin Gülistan Yüksel, SPD-Fraktion, und der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Noch mal meine Verehrung, Herr Präsident! – Im Markt für Rechtsdienstleistungen hat sich in den letzten Jahren eine Verschiebung der Gewichte ergeben. Neue Anbieter treten auf, mit den Rechtsanwälten konkurrierende Berufe ersetzen wachsende Teile dieses Marktes. Das erfordert eine Anpassung des rechtlichen Rahmens, die hier ja auch versucht wird.
Dass – wenn auch in übervorsichtiger Weise nach unserer Auffassung – die Möglichkeit von Erfolgshonoraren für Anwälte geschaffen wird und den Inkassodienstleistern bestimmte Informationspflichten auferlegt werden, ist zu begrüßen. Die im Gesetz gelisteten Befugnisse der Inkassounternehmen sind unseres Erachtens aber zu weit gezogen. Das extrem weite Verständnis des BGH von Inkassodienstleistungen legt den gesamten Bereich der außergerichtlichen Durchsetzung streitiger Forderungen in die Hände von Inkassounternehmen, während das Anwaltsmonopol nur noch die Abwehr solcher Ansprüche umfasst. In einem Kernbereich der Rechtsdienstleistungen wird damit das Anwaltsmonopol ausgehöhlt.
Für Verbraucher ist das umso problematischer, als mit der Durchsetzung von Forderungen verbundene komplexe rechtliche Fragen umfassend gebildete Volljuristen und nicht einfach nur das angelernte Personal der Inkassounternehmen erfordern. Anders ausgedrückt: Die Ausweitung des Tätigkeitsbereichs der Inkassounternehmen ist tendenziell mit einer Verminderung der Professionalität bestimmter Rechtsdienstleistungen verbunden.
Bei der Definition von Rechtsdienstleistungen sollte klargestellt werden, dass solche Angebote, die von vornherein auf gerichtliche Geltendmachung einer Forderung abzielen, nicht unter den Begriff einer Rechtsdienstleistung fallen. Damit bleibt das Anwaltsmonopol in solchen Fällen gewahrt, ebenso der damit korrespondierende Verbraucherschutz.
Was das Erfolgshonorar angeht, halten wir die Obergrenze von 2 000 Euro für viel zu niedrig und willkürlich festgesetzt. Sie sollte stattdessen, angelehnt an § 23 Nummer 1 Gerichtsverfassungsgesetz, bei 5 000 Euro liegen.
Allzu zaghaft sollte man an diese Neuerungen nicht herangehen, wenn man will, dass diese neuen Möglichkeiten auch tatsächlich genutzt werden.
So, Herr Präsident, jetzt schenke ich Ihnen noch etwas mehr Zeit als bei meiner vorherigen Rede.
Danke Ihnen allen.
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Herr Professor Maier, Sie wissen, ich bin für jedes Geschenk dankbar. – Der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion, der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke, die Kollegin Katja Keul, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion, und der Kollege Sebastian Steineke, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde die Strafprozessordnung zu behandeln, zeigt den Stellenwert der Rechtspolitik in diesem Hohen Haus.
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– Ja, ja.
Ein Teil des StPO-Entwurfs der Regierung ist die Änderung der die Dolmetscher betreffenden Rechtsvorschriften. Gegen diese rennen sie seit Bekanntwerden dieses Entwurfs Sturm, und die Dolmetscher tun dies zu Recht; denn Gegenstand der Änderung ist nicht nur die Einführung von bestimmten Ausbildungs- und Prüfungspflichten für künftige Dolmetscher, sondern innerhalb relativ kurzer Fristen soll dies auch für bereits seit Jahren und Jahrzehnten im Beruf befindliche Dolmetscher gelten. Das heißt also, ein Dolmetscher soll neben seiner Berufstätigkeit schnell mal eben ein Hochschulstudium erledigen oder Dolmetscherprüfungen ablegen – natürlich nach entsprechendem Unterricht und entsprechenden Studien.
Ich bin an sich fassungslos, wie man auf so eine Idee kommen kann. Da das überwiegend Selbstständige sind, fällt einem da sofort der Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein. Die Vokabel „Bestandsschutz“ drängt sich doch förmlich auf die Lippen. Nichts davon steht hier drin.
Es gibt noch einen weiteren sehr nachteiligen Effekt. Viele ältere Dolmetscher werden sich das mit Sicherheit nicht mehr antun und nicht mehr für die Gerichte zur Verfügung stehen. Das wird große Probleme in der Strafgerichtsbarkeit und für die Asylkammern hervorrufen; das ist absehbar. Die werden große Schwierigkeiten haben, ihre Termine zu organisieren. Man muss dann irgendwelche Leute von der Straße „einfangen“ und mit Einzelverpflichtungen arbeiten. Das, was Sie in diesem Punkt anrichten, ist furchtbar. Sie werfen unserer Justiz Knüppel zwischen die Beine.
Das kann man nicht mitmachen. Wir sehen uns daher daran gehindert, diesem Gesetzentwurf so zuzustimmen, was schade ist; denn die übrigen Punkte sind durchaus teilweise sogar gut und mindestens vertretbar. Wir werden uns hier also enthalten, und den Rest meiner Redezeit schenke auch ich dem Publikum.
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Herr Kollege Reusch, Sie können gar nicht ermessen, wie glücklich Sie mich machen. – Der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion, der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke, und die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Sehr geehrter Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 16 Milliarden Euro Steuereinnahmen bei der Tabaksteuer stehen 97 Milliarden Euro sozialen Kosten für die Folgen des Rauchens gegenüber, und noch viel dramatischer sind natürlich – oftmals nach schwerer Erkrankung – 120 000 Tote jährlich. Das ist die Bilanz des Rauchens in Deutschland.
Es geht bei diesem Gesetz nicht um fiskalische Fragen, sondern um Prävention und Gesundheitsschutz. Das sind die Leitideen dieser Reform. Weil uns dieses Thema am Herzen liegt und wichtig ist, haben wir als Koalitionsfraktionen noch einmal 500 Millionen Euro für Prävention zur Verfügung gestellt.
Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat eine Initiative für „ein tabakfreies Deutschland 2040“ gestartet und schreibt in einem Appell, einem Aufruf, dass „die effektivste Maßnahme, um Rauchende zu motivieren, mit dem Rauchen aufzuhören …,“ und „Jugendliche davon abzuhalten, mit dem Rauchen zu beginnen“, eine Tabaksteuererhöhung ist.
Wir werden mit diesem Tabaksteuermodernisierungsgesetz die Tabaksteuer in vier Stufen spürbar erhöhen, und zwar jährlich um 10 bis 15 Cent pro Zigarette – das gilt auch für den Feinschnitt, das Ausweichprodukt –, weil das eine Möglichkeit ist, Menschen zum Aufhören oder dazu zu bewegen, gar nicht erst mit dem Rauchen anzufangen.
Zum Thema Prävention: Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist das Shisha-Rauchen weit verbreitet. Es ist ein Einstieg in das Rauchen und die Nikotinabhängigkeit. Bisher wurde das relativ gering besteuert. Wir besteuern das jetzt entsprechend der Tabakzigarette, sodass gerade für preissensible Jugendliche ein Preissignal ausgesendet wird, damit diese nicht mit dem Rauchen beginnen und in die Nikotinabhängigkeit geraten.
Gleiches gilt für neuartige Rauchprodukte. Einige haben früher ja behauptet, diese neuartigen Rauchprodukte – Heat-not-Burn, E-Zigarette – seien gesünder. Jetzt heißt es, sie seien zumindest weniger schädlich. Die E-Zigarette sei beispielsweise um 95 Prozent weniger schädlich; sie sei ein Um- und Ausstiegsprodukt.
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Dass sie viel besser und gesünder sei, haben wir früher auch von der Light-Zigarette gehört.
Wenn man sieht, dass 80 Prozent derjenigen, die dampfen, Dual Use betreiben – sie rauchen also auch noch Tabakprodukte –, dann weiß man, dass das schädlicher ist als das Zigarettenrauchen alleine. Schauen wir uns an, was das DKFZ schreibt – ich zitiere –: Auch Tabakerhitzer und E-Zigaretten sind „gesundheitsschädlich“. E-Zigaretten enthalten „Schadstoffe“. Sie bergen ein Gesundheitsrisiko, insbesondere für „die Atemwege und das Herz-Kreislaufsystem“. Sie bergen ein „ähnliches Abhängigkeitspotential“ wie Zigaretten, und vor allen Dingen sind E-Zigaretten in hohem Maße auch für „junge Menschen“ interessant. Neue Generationen von Raucherinnen und Rauchern und von Abhängigen werden damit geschaffen; das ist das Potenzial. Da steht auch:
Wahrscheinlich ist die Gesundheitsgefährdung wegen der niedrigeren Schadstoffbelastung geringer als beim Rauchen. Die langfristigen gesundheitlichen Folgen sind jedoch noch unbekannt, da die Produkte noch nicht lange genug auf dem Markt sind.
Was machen wir jetzt? Wir besteuern die Produkte entsprechend dem Sucht- und Gefährdungspotenzial; wir besteuern sie angemessen, das heißt höher, und das ist auch richtig so.
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Die Behauptung der Interessenverbände, die vonseiten der Opposition wiederholt wird, die E-Zigarette werde höher besteuert als die Tabakzigarette, ist nicht richtig. Schon im ursprünglichen Gesetzentwurf war das anders geregelt. Jetzt haben wir einerseits bei der Tabaksteuer was geändert und andererseits auch bei den Heat-not-Burn-Produkten und den Liquids für E‑Zigaretten. Das heißt, die werden nicht höher besteuert als die Tabakzigarette.
Schauen wir mal nach Europa: 14 europäische Länder besteuern bereits Liquids, also E‑Zigaretten; in Polen sind es 15 Cent pro Milliliter, in Estland 20 Cent und in Finnland 30 Cent. In Deutschland fangen wir jetzt mit 16 Cent an, und das werden wir bis 2026 auf 32 Cent anheben. Das heißt, im europäischen Vergleich ist das nichts Außergewöhnliches, sondern wir ziehen da im Grunde nur nach.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte gar nicht groß auf die völlig verunglückte Kampagne der Tabak- und E‑Zigaretten-Lobby oder andere Dinge eingehen. Aber eines möchte ich noch ansprechen, weil gestern im Ausschuss behauptet wurde, wir stünden mit unseren Forderungen alleine da: Das DKFZ hat in seinem Aufruf – dieser Aufruf hat 56 weitere Mitzeichnende, darunter die Deutsche Gesellschaft für Public Health, die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, die Deutsche Lungenstiftung, die Stiftung Deutsche Krebshilfe usw. usf. – das Anliegen formuliert, Prävention und Gesundheitsschutz in den Mittelpunkt zu stellen. Ich habe Ihnen einiges aus dem Aufruf hier zitiert. Uns war es ein Anliegen, diese Reform zu einem Erfolg zu machen. Uns war es ein Anliegen, dass das Thema „Gesundheitsschutz und Prävention“ im Vordergrund steht. Das ist hiermit auch gelungen, und deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schrodi. – Die Kollegin Franziska Gminder, AfD-Fraktion, und der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Aus einer Informationsveranstaltung zum Tabaksteuermodernisierungsgesetz habe ich einen Satz von einem Arzt, der schon viele Schwerstkranke behandelt hat, noch gut im Ohr. Er hat dort gesagt, er habe schon viele Menschen am Tabakkonsum sterben sehen, aber am Nikotin sei keiner gestorben; das Lebensgefährliche seien ganz klar die Verbrennungsprodukte beim herkömmlichen Rauchen.
Auf dieser Basis wäre eine tiefere Diskussion gerade über Themen des Gesundheitsschutzes, der Suchtprävention und der Behandlung wichtig gewesen. Sie haben uns stattdessen aber einen Gesetzentwurf mit hektisch zusammengeschusterten Zahlen vorgelegt, für dessen Prüfung wir in dieser Woche nicht einmal zwei Stunden Zeit hatten. Er ist im Ausschuss mit Ihren Stimmen – und nur mit Ihren Stimmen – beschlossen worden, und über diesen Beschluss sollen wir nun nach einer Debatte von wenigen Minuten mitten in der Nacht endgültig abstimmen.
Dabei hätte es bei ordentlicher Diskussion die Chance gegeben, das Ganze auf eine breitere parlamentarische und damit auch gesellschaftliche Grundlage zu stellen. Das wäre wichtig gewesen; denn es geht doch wirklich um etwas; es geht um ein Steuervolumen von vielen Milliarden Euro jährlich. Das ist eine ganz besondere Steuer; denn die Tabaksteuer muss keiner bezahlen; es muss ja keiner rauchen. Deswegen haben wir hier wirklich eine Steuer, bei der die Lenkungswirkung eine hohe Bedeutung hat, bei der niedrige Tarife gerade eben nicht unser Ziel sein müssen.
Es geht um Gesundheitsschutz, Jugendschutz, auch um Schwarzmarkt und Schmuggel. Das ist nichts für Hinterzimmer, nichts für Spielchen, nichts für unappetitliche Kuhhandel. Aber genau das haben Sie von der Großen Koalition gemacht.
Noch dazu haben Sie ganz am Ende eine unpassende und unsinnige Lobbydiskussion draufgepackt, zu der ich Ihnen von den Sozialdemokraten an genau dieser Stelle hier noch eines sagen muss: Bei der wirklich strittigen Frage der Besteuerung von neuen Produkten, wie Verdampfern und Erhitzern, haben Sie es so gemacht, als würden milliardenschwere Zigarettenkonzerne im Hintergrund irgendwelche Strippen ziehen. Aber es ging doch um etwas völlig anderes. Jetzt können doch gerade diese großen Unternehmen mit dem Gesetz am besten leben. Die Lobbyisten, über die Sie lamentiert haben, waren in Wirklichkeit Interessengruppen wirklich kleiner Hersteller oder von Einzelhändlern und nicht zuletzt von nikotinabhängigen Rauchern, die ihre Sucht überwinden wollen, die alle mit großen Konzernen schlicht nichts zu tun haben. Das Gespräch mit denen haben Sie aber verweigert.
Über die Höhe der Steuer für die gesundheitsgefährlichen herkömmlichen Zigaretten haben wir doch überhaupt nicht gestritten. Es ging um andere Produkte, bei denen Sie sich der Diskussion entzogen haben. Das hat zu einem schlechten Ergebnis geführt, gerade für zigarettenabhängige Raucher, die von ihrer Sucht lassen wollen.
Ihre Berechnung des zu erwartenden Steueraufkommens ist unsolide; denn wenn es Ihnen darum geht, die neuen Verdampferprodukte kleinzuhalten, dann können Sie uns die von Ihnen geschätzten hohen künftigen Steuereinnahmen doch gar nicht schlüssig erklären,
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es sei denn, Sie gehen selbst davon aus, dass Sie mit diesem Ansinnen scheitern.
Der einzige Lichtblick, den ich sehe, ist, dass Sie am Ende unserer Forderung nach einer erhöhten Besteuerung von Wasserpfeifentabak vor allem aus Jugendschutzgründen gefolgt sind; die Grünen haben das auch gefordert. Aber die Art, wie dieser Gesetzentwurf durch die Gremien gepaukt wurde, und das, was jetzt drinsteht: Das wollen wir hier nicht unterstützen. Wir lehnen ihn daher ab, und das ist schade; denn das wäre nicht nötig gewesen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mansmann. – Der Kollege Niema Movassat, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Tabaksteuermodernisierungsgesetz: Was für ein großes Drama! Erst legt Herr Scholz ganz plötzlich einen Gesetzentwurf vor – einen echt dürftigen –, dann bekommt der schlechte Entwurf zu Recht ein vernichtendes Urteil von den Sachverständigen, dann zoffen sich Union und SPD bis zur letzten Minute um Änderungen, und dann schließlich, gestern Mittag, legt uns die Koalition statt eines schlechten einen halbgaren Entwurf vor. – Das ganze Theater hätten Sie sich echt sparen können; denn für Prävention und Schadensreduzierung wird dieses Gesetz nicht sorgen.
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Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 127 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Sie rauchen wegen des Nikotins, sie sterben an den Verbrennungsprodukten; Herr Mansmann, Sie haben es richtig beschrieben. Unsere Aufgabe als Politik ist es, die Menschen dazu zu motivieren, erst gar nicht mit dem Rauchen anzufangen, mit dem Rauchen aufzuhören oder, wenn das gar nicht geht, zumindest umzusteigen von der Zigarette auf weniger schädliche Rauch- und Dampfprodukte. Und genau diese Lenkungswirkung kann die Tabaksteuer entfalten, wenn sie denn sinnvoll ausgestaltet ist. Rauch- und Dampfprodukte, und zwar alle, müssen anhand der Schadstoffbelastung besteuert werden: Je schädlicher das Produkt, desto höher die Steuer. – Nur das sorgt für Prävention und Schadensminderung.
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Der Weg, den Union und SPD gewählt haben, ist aber alles andere als sinnvoll. Sie erhöhen die Steuern auf E‑Zigaretten und Tabakerhitzer massiv, insgesamt um mehrere Euro in den nächsten Jahren. Gleichzeitig erhöhen Sie die Steuern auf ein sehr schädliches Tabakprodukt nur minimal, um wenige Cent pro Schachtel. Im Ergebnis bleiben Zigaretten weiterhin preislich attraktiv, auch für junge Menschen, und die hohe Steuer auf E‑Zigaretten und Tabakerhitzer hält Raucherinnen und Raucher möglicherweise vom Umstieg ab.
Wer soll, bitte schön, von diesem Steuermodell profitieren? Der Fiskus jedenfalls profitiert kaum; denn dummerweise gehen Union und SPD den nationalen Alleingang. Das heißt, die Menschen werden sich E-Zigaretten, Liquids und Tabaksticks einfach aus dem günstigeren EU-Ausland besorgen, legal oder illegal. Warum hat die Bundesregierung nicht die Reform auf EU-Ebene abgewartet und beschleunigt? Für E‑Zigaretten und Tabakerhitzer brauchen wir eine einheitliche Besteuerungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten, inklusive einer EU-weiten Mindeststeuer.
Wir Grüne haben schon letztes Jahr einen entsprechenden Antrag mit der klaren Forderung „Je schädlicher das Produkt, desto höher die Steuer“ vorgelegt. Der Antrag hat nicht nur den Applaus der Sachverständigen bekommen, auch Kollege Brehm hat gestern in der Finanzausschusssitzung den entsprechenden Antrag gelobt. Ich denke, wir haben da zumindest noch ein paar kleine Verbesserungen durch Änderungen der Koalition erreichen können.
Wir stellen unseren Entschließungsantrag heute zur Abstimmung.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Sie haben die Möglichkeit zum Vergleich mit dem Gesetzentwurf der Koalition. Ich glaube, da sollte die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag nicht schwerfallen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Denn Prävention und Schadensminderung bietet nur dieser unser Antrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion, und der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten hier zu nächtlicher Stunde das Gesetz zur erleichterten Umsetzung der Reform der Grundsteuer und Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften – alles zusammengefasst.
Zunächst zur Grundsteuer. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im April 2018, also vor gut drei Jahren, die Vorschriften zur Ermittlung der Grundsteuer für verfassungswidrig erklärt. Die AfD-Fraktion hat sich im gesamten Beratungs- und Abstimmungsprozess immer ausdrücklich dafür eingesetzt, die Grundsteuer ganz abzuschaffen und stattdessen den Gemeinden ein Hebesatzrecht auf den kommunalen Anteil der Einkommensteuer einzuräumen. Damit wären die kommunale Selbstverwaltung und die Finanzhoheit der Städte und Gemeinden weiterhin gewährleistet. Kommunen könnten dann ihren Bürgern erklären, warum der Hebesatz vor Ort ein anderer ist als beispielsweise in der Nachbargemeinde. Wir hätten uns die sehr langwierige Abstimmung mit den Ländern und den nun folgenden Verwaltungswahnsinn komplett sparen können, und wir hätten einen sinnvollen Beitrag geleistet zur Steuererhebung nach Leistungsfähigkeit.
Meine Damen und Herren, Wohnen ist ein Grundrecht und wird an anderer Stelle immer wieder subventioniert. Mit der Grundsteuer wird im Kern das Wohnen besteuert, und das halten wir weiterhin weder für leistungsgerecht noch für sinnvoll.
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Die Chance, anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes hier neue Wege zu beschreiten, wurde nunmehr für die nächsten Jahrzehnte leider vertan.
Die erste Hauptfeststellung der Grundsteuerwerte erfolgt am 1. Januar 2022 – es ist also noch etwa ein halbes Jahr bis dahin – für die Hauptveranlagung ab 2025. Hierzu sind circa 1 Million Immobilieneinheiten nach den neuen Maßstäben und Regeln zu bewerten – ein völliger Irrsinn.
Jetzt fällt der Regierung nach deutlichen Hinweisen aus den Ländern auf, dass die beschlossene Grundsteuerreform so überhaupt gar nicht umsetzbar ist. Sie wurde zu hastig formuliert und zu kurzfristig vor dem Umsetzungstermin eingebracht. Die Steuerverwaltungen können das jetzt so nicht gewährleisten – und das trotz des nun wirklich sehr langen Beratungsvorlaufes von mittlerweile drei Jahren. Meine Damen und Herren, das ist ein Armutszeugnis für den Finanzminister Olaf Scholz, der offensichtlich noch von seiner Kanzlerschaft träumt.
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Träumen ist immer noch nicht verboten. Aber hier geht es um Steuergerechtigkeit und ein Steuersystem, das den Bürgern noch vermittelbar sein muss. Davon hat sich die Regierung leider meilenweit entfernt.
Da nützt auch eine vermeintlich großzügige Geste an die Länder nichts, den Kinderbonus von einmalig 150 Euro pro Kind zu erstatten. 1,3 Milliarden Euro werden aus dem Bundeshaushalt in die Haushalte der Länder und Kommunen verschoben. Das ist aus meiner Sicht eine rein taktische Maßnahme im Rahmen von politischen Zugeständnissen.
Zum Schluss komme ich noch auf die Änderungen im Forschungszulagengesetz. Hier wird die Definition des verbundenen Unternehmens geschärft, was der Rechtsklarheit dienen soll, und es wird ein gesondertes Feststellungsverfahren eingeführt. Dadurch soll die ordnungsgemäße Bearbeitung der Anträge sichergestellt werden, insbesondere wenn die Zuständigkeiten der Finanzämter für den Betrieb und die Forschungszulage auseinanderfallen.
Warum nicht gleich so? Warum muss erst ein handwerklich schlecht gemachtes Gesetz beschlossen werden, um es dann kurz vor Ende der Wahlperiode noch nachzubessern?
Dieses komplette Gesetzespaket bedurfte dann noch drei sogenannter Umdrucke, um selbst in Koalitionskreisen überhaupt erst mal mehrheitsfähig zu werden. Das sind kurzfristig noch hinterhergeschobene Änderungen aus dem Ministerium, die hier von den Koalitionsfraktionen eingebracht werden.
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Das alles ist handwerklich schlecht gemacht. Man möchte sagen: Viel Murks zu Toresschluss! – Wir lehnen dieses Paket mit allen Umdrucken insgesamt ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Keuter. – Die Kollegen Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion, Markus Herbrand, FDP-Fraktion, Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke, Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, und Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Herr Präsident! Liebe nachtaktive Kollegen! Wir reden heute mal wieder über eine Änderung der Außenwirtschaftsverordnung. Wenn ich richtig gezählt habe, ist es die achte in dieser Legislatur, und dass da keine Freude bei Unternehmen und Investoren aufkommt, dürfte klar sein – nur dass diesmal die Kritik noch stärker ist, weil diese Verordnung weit übers Ziel hinausschießt.
Die massive Ausweitung der Zahl der Prüffälle schafft neue Unsicherheiten für weitere Unternehmen, noch mehr Bürokratie und erschwert den Kapitalzugang weiter. Das kann nicht im Interesse unserer Wirtschaft sein.
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Es ist ja nachvollziehbar, dass wir versuchen, sicherheitsrelevante Spitzentechnologien zu schützen. Aber was wir hier betreiben, ist schon eher der Versuch, eine staatlich gesteuerte Handelspolitik zu betreiben, und das wird einer Außenhandelsnation wie Deutschland schaden.
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Besonders trifft es unsere Maschinen- und Anlagenbauer. Es gibt Klagen von Unternehmen, die nur einen winzigen Teil ihrer Produkte für den Rüstungsbereich fertigen. So lesen wir in der Presse von einem Mittelständler, der da sagt – Zitat –:
Es geht nur um zwei von 40.000 Artikeln aus unserem Programm. Manche Jahre kommt überhaupt kein Auftrag. Und wenn doch, liegt der Anteil am Jahresumsatz bei 0,025 Prozent. Und das soll jetzt eine Investitionskontrolle rechtfertigen?
Ja, das ist völlig unverhältnismäßig und wird dazu führen, dass manche Hersteller die Produktion solcher Teile aufgeben, weil sie sich einfach nicht vom Staat reinregieren lassen wollen. Das ist sicher keine gute Lösung für irgendetwas. Es ist keine Lösung!
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Was macht denn dann zum Beispiel die Bundeswehr, die für ihre Ausrüstung solche Teile braucht und sie nicht mehr von heimischen Firmen bekommt? Die müsste sich neue Lieferanten suchen, möglicherweise Unternehmen im Ausland. Wir kreieren uns hier also ein Konjunkturprogramm für ausländische Unternehmen, und das ist nicht im Sinne unseres Gesetzgebers.
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Der Bürokratieaufwand steigt für die Firmen, aber auch im Regierungskosmos. Wenn jetzt fünf Ministerien einvernehmlich entscheiden sollen, dann kann man sich schon auf viele weitere lustige Gesprächskreise freuen.
Wird dieser starke Eingriff unsere Wirtschaft irgendwie weiterbringen? Das ist wohl kaum zu erkennen. Nein, es hilft uns nicht.
Es ist verständlich, dass wir die Einkaufstour der Chinesen bremsen wollen. Aber es funktioniert einfach nicht; denn die Chinesen werden auch darauf eine Antwort finden. Sie werden reagieren. Das ist schade vor dem Hintergrund, dass wir es im letzten Jahr mit dem Investitionsschutzabkommen geschafft haben, für eine Marktöffnung, auch für unsere Unternehmen, in China zu sorgen. Es wird also eher unseren Unternehmen schaden, die im Ausland investieren.
Ich finde, eines müssen wir uns auch klarmachen: Unsere Antwort auf den chinesischen Staatskapitalismus kann nicht sein, dass wir selber in staatsdirigistischer Manier in unserem eigenen Land weitermachen; denn wir haben einen Vorteil China gegenüber: Bei uns gibt es die Freiheit für die Bürger und ihre Unternehmen. Sie können sich frei entfalten, im Wettbewerb nach den besten Lösungen suchen, nach Innovationen suchen. Das ist unser Motor in Deutschland.
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Wenn wir den auch noch aus der Hand geben: Was haben wir denn dann noch? Wenn wir diesen Mechanismus schwächen und mit Industriepolitik à la Altmaier weitermachen, dann werden wir dadurch nicht stark wie China, sondern bald so schwach wie Frankreich sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Holm. – Die Kollegen Markus Töns, SPD-Fraktion, Reinhard Houben, FDP-Fraktion, Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke, die Kollegin Katharina Dröge, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und der Kollege Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland fielen 2020 etwa 275 Millionen Tonnen Bauabfälle an. Damit sind diese der größte Abfallstrom. Die Abfallhierarchie des Kreislaufwirtschaftsgesetzes gilt auch für Bauabfälle. Das heißt: Recycling kommt vor der Entsorgung. – Das Problem: Bei Bauabfällen befinden wir uns zurzeit in einer Verwertungs- und Entsorgungskrise. Bauherren klagen über explodierende Baukosten, und noch ist kein Ende in Sicht.
Und was macht der Gesetzgeber? Seit mittlerweile 15 Jahren – das ist eigentlich kaum zu glauben – verhandeln Bund und Länder über die sogenannte Mantelverordnung. Es geht um die Einführung der Ersatzbaustoffverordnung, die Neufassung der Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung sowie um die Änderung der Deponieverordnung und der Gewerbeabfallverordnung. Das alte Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut“ trifft hier jedoch nicht zu; denn wirklich gut findet die Mantelverordnung eigentlich keiner, vor allem die Bau- und Abbruchwirtschaft nicht.
Ich möchte noch einmal an die Ziele der Mantelverordnung erinnern: Man wollte einen ausgewogenen Kompromiss zwischen Bodenschutz und Wasserschutz auf der einen Seite und Recycling und Bauabfällen auf der anderen Seite. Man wollte eine einheitliche und praktikable Lösung.
An diesen Zielen sind die etablierten Parteien, die im Bund und in den Ländern regieren, jedoch gescheitert.
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Was diese hier präsentieren, ist nichts anderes als eine Mogelpackung – nicht mehr und nicht weniger.
Das ist vermutlich auch der Grund dafür, warum die Mantelverordnung ohne Debatte im Deutschen Bundestag verabschiedet werden sollte. Die AfD hat darauf gedrängt, dieses wichtige Thema im Bundestag zu debattieren.
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Unsere Kritik am 338-seitigen Verordnungsentwurf kann ich aus zeitlichen Gründen nur an drei Punkten konkretisieren:
Erstens. Mineralische Ersatzbaustoffe unterliegen auch weiterhin dem Abfallregime, obwohl qualitativ hochwertige Sekundärrohstoffe den Primärrohstoffen in nichts nachstehen. Sekundärrohstoffe haben ein Akzeptanzproblem und sind kaum nachgefragt. Kein Wunder: Bauherren haben wegen der Unwägbarkeiten kein Interesse daran, Sekundärrohstoffe zu verwenden, die ja als Abfälle gelten.
Deshalb brauchen wir endlich ein Ende des Abfallstatus von qualitativ hochwertigen Sekundärrohstoffen. Ihr Abfallstatus muss in den Produktstatus überführt werden.
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Zweitens. Die geplante Verschärfung einiger Materialwerte führt zu einer Stoffstromverschiebung und damit zu einer weiteren Belastung der ohnehin knappen Deponiekapazitäten. Um das zu verhindern, erwirkte der Freistaat Bayern eine Länderöffnungsklausel für Regelungen zur Verfüllung. Jedes Land kann diesbezüglich also eine eigene Regelung treffen. Das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist keine einheitliche Lösung mehr. Es ist offenkundig, dass wir dringend eine gemeinsame Deponiestrategie von Bund und Ländern benötigen, um die Entsorgungskrise zu bekämpfen. Doch das: Fehlanzeige!
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Drittens. Der Verordnungsentwurf sieht drei verschiedene Probenahme- und Analyseverfahren vor. Das ist jedoch bürokratisch und gewährleistet keine Vergleichbarkeit der Materialwerte. Wir brauchen also ein einheitliches Probenahme- und Analyseverfahren, um eine unterschiedliche Klassifizierung ein und desselben Bauabfalls zu verhindern.
Halten wir fest: Beim Recycling von Bauabfällen wird unnötig Potenzial verschenkt. Von einer einheitlichen und praktikablen Lösung kann keine Rede sein. Darüber hinaus werden die Baukosten steigen, und damit schießt sich der Staat selbst ins Bein; denn dies wird vor allem den Straßen- und Gleisbau betreffen. So werden auch die Bürger über die Erschließungsbeiträge beim Straßenbau an den explodierenden Baukosten beteiligt. – Das lehnt die AfD entschieden ab.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, dass die Mantelverordnung nach zwei Jahren evaluiert werden soll, um Fehler zu korrigieren, ist ein schwacher Trost. Früher war noch entscheidend, was hinten rauskommt. Heute ist entscheidend, dass überhaupt noch etwas rauskommt. Gute Politik sieht jedenfalls anders aus.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Bleck. – Die Kolleginnen und Kollegen Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion, Judith Skudelny, FDP-Fraktion, Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke, Dr. Bettina Hoffmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Michael Thews, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,