Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion. Damit begann das mörderischste Kapitel des sogenannten Vernichtungskrieges im Osten, der im September 1939 mit dem Überfall auf Polen seinen Anfang genommen hatte. Den Nationalsozialisten ging es darum, „neuen Lebensraum“ zu erobern. Dafür wurden die Versklavung und Auslöschung ganzer Staaten und Völker nicht nur in Kauf genommen; sie war erklärtes Kriegsziel. Die erbarmungslose deutsche Kriegsführung verwandelte zahllose Dörfer und Städte in verbrannte Erde. Millionen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, fielen den Repressalien und dem Terror der deutschen Besatzer zum Opfer. Die Wehrmacht schlug damals geltendes Kriegsrecht in den Wind und ließ Millionen sowjetischer Kriegsgefangener bewusst verhungern. Und es waren deutsche Täter, die vor allem in Mittel- und Osteuropa das Menschheitsverbrechen des Holocaust verübten.
Fassungslos blicken wir auf diesen Teil unserer Geschichte, auf den Rassenwahn und die völlige moralische Enthemmung, die auch gerade im Ostfeldzug ihren fürchterlichen Ausdruck fanden. Und voll Trauer und Scham verneigen wir uns vor den über 30 Millionen Menschen, die allein in Mittel- und Osteuropa zwischen 1939 und 1945 ihr Leben lassen mussten in dem von Deutschland geplanten, begonnenen und bis zuletzt vorangetriebenen Krieg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts der Dimension dieser Verbrechen grenzt es auch 80 Jahre später noch an ein Wunder, dass uns unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Dafür sind wir ihnen zutiefst dankbar.
({0})
Diese Dankbarkeit geht mit einer besonderen Verantwortung einher, der Verantwortung, mit aller Kraft weiter an der Aussöhnung zu arbeiten zwischen den Menschen in Deutschland und den Menschen in Russland, der Ukraine, Belarus, Polen, den baltischen, den südkaukasischen und den zentralasiatischen Staaten und in all den anderen Ländern, denen Deutsche im Zweiten Weltkrieg schreckliches Leid angetan haben. Für diese Aussöhnung darf es niemals einen Schlussstrich geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich bin dem Bundestag deshalb sehr dankbar für die im vergangenen Jahr gefassten Beschlüsse, in Berlin Erinnerungsorte für die Opfer des Vernichtungskrieges in Polen und in ganz Europa zu schaffen. An deren Umsetzung arbeiten wir seither mit allem Nachdruck zusammen mit unseren Partnern aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Und unter sehr enger Einbindung unserer polnischen Freundinnen und Freunde.
Genauso setzen wir unsere Erinnerungsarbeit in den Ländern Ost- und Mitteleuropas fort. In der Ukraine werden wir das geplante neue Holocaustmuseum Babyn Jar unterstützen und in Belarus die Sanierung der Geschichtswerkstatt im ehemaligen Ghetto von Minsk.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir ganz besonders wichtig gewesen, dass wir in den vergangenen drei Jahren endlich auch eine humanitäre Geste für die Überlebenden der Leningrader Blockade auf den Weg gebracht haben. Der grausame Tod von 1 Million Menschen in der von der Wehrmacht belagerten Stadt war eines der schlimmsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges.
Ich habe Sankt Petersburg zuletzt vergangenen August besucht und dort mit Überlebenden der Blockade gesprochen. Wer die Erinnerungen dieser Menschen gehört hat, wer gehört hat, was dort geschehen ist, was ihnen widerfahren ist, was ihnen angetan wurde, der wird das nie wieder vergessen. Und wer ihren Willen zur Versöhnung gespürt hat, der steht in der Pflicht, dieses Geschenk anzunehmen durch eine Erinnerungsarbeit, die in die Zukunft weist. Dem fühlen wir uns auch verpflichtet.
({2})
Wenn wir dieses Jahr an den 22. Juni 1941 erinnern, wollen wir auch Begegnungen zwischen jungen Menschen einen ganz besonderen Stellenwert einräumen. So werden Jugendliche aus ganz Europa im Rahmen des Peace-Line-Projektes gemeinsam von Deutschland über Russland und Litauen nach Polen reisen, um so an die Vergangenheit zu erinnern und ins Gespräch zu kommen, vor allen Dingen über eine gemeinsame Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Bekenntnis zur europäischen Einigung haben wir die wichtigste Konsequenz aus unserer Vergangenheit gezogen. Doch zu einem bewussten Umgang mit dieser Vergangenheit gehört auch, das historisch bedingt andere Verständnis unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn von Begriffen wie „Souveränität“ und „Nation“ zu respektieren. Das sollten wir berücksichtigen, wenn wir ihnen die Hand reichen für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration.
Schließlich gehört zu einem bewussten Umgang mit unserer Geschichte, dass wir das Völkerrecht über das Recht des Stärkeren stellen und für die universelle Geltung der Menschenrechte eintreten. Auch deshalb haben wir uns in der Europäischen Union dazu entschlossen, auf die politische Willkür zu reagieren, mit der Minsk und Moskau gerade auch in jüngster Zeit eklatant gegen internationale Regeln und universelle Werte verstoßen haben. Und deshalb bleibt es bei unserer klaren Haltung zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und zur territorialen Integrität der Ukraine. Das wird auch meine Botschaft in den Gesprächen sein, die ich heute Nachmittag mit dem ukrainischen Amtskollegen hier in Berlin führe.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Politik ohne Geschichte. Umso wichtiger ist es, dass wir die richtigen Schlüsse aus unserer eigenen sehr schwierigen Geschichte ziehen. 80 Jahre nach dem 22. Juni 1941 heißt das, unsere ganze Kraft einzusetzen für Frieden und Freiheit, für Zusammenhalt und Demokratie auf unserem Kontinent.
Herzlichen Dank.
({4})
Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alexander Gauland.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts widersprach so fundamental der preußischen und auch der österreichischen Militärtradition wie der Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941. Dieser Krieg war von Anfang an ein Vernichtungskrieg und sein Ziel „Lebensraum im Osten“ eine nationalsozialistische Chimäre. Dass die Wehrmacht diesem Irrsinn Folge leistete, hat sie auf alle Zeiten beschmutzt.
Der Krieg im Osten unterschied sich von Anfang an von den übrigen Kämpfen. Hier glaubte Hitler, keine Rücksicht nehmen zu müssen. Der Kommissarbefehl und die Ausmordung der Juden, das massenweise Verhungernlassen von Kriegsgefangenen
({0})
und die flächendeckende Zerstörung sowjetischer Infrastruktur hatten nichts mehr mit einem klassischen Staatenkrieg der Vergangenheit zu tun. Die sowjetischen Völker sollten vom Erdboden getilgt werden oder bestenfalls als Fellachen ein trostlos-grauenvolles Dasein fristen. Eine russische, ukrainische oder weißrussische Kultur sollte es danach nicht mehr geben.
Es bleibt also nichts zu diskutieren, nur immer wieder zu fragen, warum so viele in der preußischen Militärtradition Erzogene diesen Weg mitgegangen sind. Und es ist deshalb nur zu verständlich und immerhin ein kleiner Lichtblick im trüben Bild, dass Stauffenberg Erzählungen seiner Kameraden und eigene Beobachtungen im Osten zum Anlass für seine Tat nahm.
Wenn der Überfall und der Krieg auch kaum eine unterschiedliche Bewertung erfahren, so bleibt die Frage: Hätte man es verhindern können? Wir Deutschen können sie wegen eigener tiefer Schuld nicht stellen. Aber im Westen ist sie gestellt worden. Hat die Sowjetunion nicht, so der Vorwurf, durch den Molotow-Ribbentrop-Pakt eine Mitschuld an der Katastrophe, die sie getroffen hat? Wir wissen, dass Stalin zwei Optionen hatte: das Bündnis mit dem Westen oder einen kurzfristigen Aufschub durch den Teufelspakt mit Hitler. Und es gibt nicht wenige Historiker, die diesen Teufelspakt für unverzeihlich und einen schweren Fehler halten.
({1})
Realistisch und gerecht ist diese Kritik nicht; denn die langwierigen Verhandlungen über eine Militärkonvention zwischen der Sowjetunion, dem Empire und Frankreich führten immer wieder zu demselben toten Punkt: Wie soll eine Verteidigung organisiert werden ohne ein Polen, das keine sowjetischen Truppen auf seinem Territorium dulden wollte? Wenn Stalin also auf diese Weise eine kurze Zeit erkaufte, um gegen den deutschen Angriff besser gewappnet zu sein, so war das eine realpolitische und richtige Entscheidung für das eigene Überleben, dessen Konsequenzen allerdings für Polen furchtbar waren.
Doch auch das war die Folge von Hitlers Überfall auf dieses Land: Er hatte die europäische Ordnung zerstört und einen Weltkrieg ausgelöst, auf den mindestens ebenso wie auf den Ersten die Bemerkung des ehemaligen britischen Außenministers Sir Edward Gray zutraf: In Europa gehen die Lichter aus, und wir werden sie in unserer Lebenszeit nicht mehr leuchten sehen. – Denn am Ende gab es keine Sieger, nur Verlierer.
Doch gerade weil wir Deutschen Russland gegenüber in so tiefer Schuld stehen, ist es geboten, mit Nachsicht und Toleranz diesem Land gegenüberzutreten, auch wenn wir manches an seinem Verhalten nicht immer verstehen oder gar billigen können. Moralische Überheblichkeit ist jedenfalls fehl am Platze. Russland ist eine europäische Macht und unser ältester Verbündeter. Hitler wollte dieses Land vom Erdboden tilgen. Dass ihm das nicht gelungen ist, darf uns heute mit Dank und Freude erfüllen.
Ich bedanke mich.
({2})
Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was mit dem Überfall der Wehrmacht und ihrer Verbündeten am 22. Juni 1941 begann, ist selbst innerhalb der entsetzlichen Geschichte des Zweiten Weltkrieges einzigartig. Nie brachte eine militärische Front mehr Zerstörung, mehr Tod, mehr Leid über die Menschheit als der Deutsch-Sowjetische Krieg. Er war von Beginn an als ein Verbrechen geplant, als rassenideologischer Vernichtungskrieg. Schon im Vorfeld wurden die Kommissarbefehle ausgegeben, wurden die Einsatzgruppen aufgestellt, wurde die Kriegsgerichtsbarkeit aufgehoben. Es wurde ein Hungerplan und der in seiner Monstrosität alles sprengende Generalplan Ost erarbeitet.
Was als Verbrechen angelegt war, wurde als Verbrechen umgesetzt. Neben den enormen Verlusten beider Seiten bei den Kämpfen kam es zu gezielten Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten, zu willkürlichen Massakern an der Zivilbevölkerung verschiedenster Nationen, zu Massenerschießungen und dem kalkulierten Sterben von Millionen Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft allein in den ersten sechs bis acht Monaten. In den folgenden fast vier Jahren kam es zu wahrscheinlich über 25 Millionen Toten unter den Völkern der damaligen Sowjetunion – keines dieser Völker, das nicht horrende Verluste zu ertragen hatte. Der Westen des Landes war fast vollständig zerstört. Die Zivilbevölkerung wurde in ganzen Landstrichen schlichtweg ausgelöscht. Menschen wurden erhängt, gefoltert, vergewaltigt, dem Hungertod preisgegeben.
Einmal mehr möchte ich mich im Namen dieses Hohen Hauses vor den Opfern, den Angehörigen und den Nachfahren in tiefer Demut verneigen und um Verzeihung bitten. Was vor 80 Jahren von deutschem Boden aus Europa widerfahren ist, darf nie wieder geschehen.
({0})
Der rassenideologische Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands ist, so wie die ganze Geschichte dieser Zeit und der deutschen Verantwortung für den Holocaust und für den Zweiten Weltkrieg, eben kein kleiner Fleck der deutschen Geschichte.
({1})
Im Gegenteil: Die Erinnerung an diese Zeit und die Verbrechen im deutschen Namen muss uns immer präsent sein; denn was mit dem Übertritt der Wehrmachtssoldaten über Niemen, Bug und San begann, endete quasi hier, in diesem Gebäude, im April 1945 mit der Eroberung Berlins durch die Rote Armee, dem Tod Hitlers und dem totalen Zusammenbruch des Deutschen Reiches.
Geschichte ist uns Mahnung. Sie muss uns eine Lehre sein; denn Erinnerung ist gelebte Verantwortung für die Zukunft. Die Lehre aus der Geschichte des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion muss für uns ein „Nie wieder“ sein. Deswegen wurde eine neue deutsche Republik gegründet, die sich Regeln gab, die eine verbrecherische und aggressive Diktatur in Zukunft verhindern sollen, deswegen die Westbindung – um Deutschland in einen Bund demokratischer Staaten einzubinden –, deswegen die anfangs emotional oft nicht einfache Aussöhnung der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und ihren Folgestaaten, für die wir, Herr Minister, in der Tat dankbar sind, und deswegen auch die Gründung der Vereinten Nationen.
Den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition war am Ende des Zweiten Weltkrieges klar, dass es Regeln des internationalen Umgangs braucht, um eine solche Menschheitskatastrophe für alle Zukunft zu vermeiden. Die Vereinten Nationen sollen der zentrale Ort sein, an dem Konflikte friedlich beigelegt werden, und es gibt ein klares Regelwerk, das Aggression und willkürlichen Eroberungsdrang verhindern soll. Diese internationale Ordnung hat in den vergangenen 75 Jahren nicht immer funktioniert. Aber sie ist die vorerst beste Lösung, die die Menschheit in ihrer Geschichte gefunden hat, um Krieg und Vertreibung zu verhindern. Auch in Europa haben wir eine Friedensordnung aufgebaut, die sich als relativ stabil erwies. Ich sage „relativ“; denn leider wird Europa wieder von Krieg und Krisen heimgesucht, und wir müssen erleben, dass Krieg wieder als Mittel zur Durchsetzung politischer oder territorialer Ziele eingesetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Verhältnis zu den Völkern der Sowjetunion ist ohne große Unterschiede sehr positiv, zu den Regierungen ist es sehr unterschiedlich: Einige stehen uns sehr nahe, wie die baltischen Staaten, die in der EU und der NATO Mitglied sind. Andere, wie Belarus, werden von einem menschenverachtenden, brutalen Diktator regiert; weiter entfernt von europäischen Werten kann man nicht sein. Und die Russische Föderation hat unabhängige Staaten wie Georgien und die Ukraine angegriffen und zielt darauf ab, mit militärischer Gewalt Grenzen zu verschieben.
Die historische Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des Nationalsozialismus entbindet uns nicht von der Pflicht bzw. nimmt uns nicht das Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu politisch Stellung zu beziehen. Man kann gerade jetzt der Auffassung sein, dass solche Konflikte nicht durch deutsche Waffenlieferungen befeuert werden sollten, sondern dass wir eher in Formaten wie dem Minsker Format vermitteln sollten. Aber das heißt nicht, dass wir gegenüber der derzeitigen russischen Außenpolitik sprachlos sein müssen oder dürfen. Die Geschichte verbietet uns nicht, die russische Führung klar und deutlich für ihre Politik zu kritisieren,
({2})
und sie verbietet uns nicht, uns in dieser Konsequenz und in Verantwortung für das internationale Regelwerk auch an internationalen Sanktionen gegen Russland zu beteiligen. Eine solche politische Untätigkeit hat auch keiner von uns verlangt. Sprach- und tatenlos die Geschehnisse zu akzeptieren, würde bedeuten, die völlig falschen Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen; denn es geht um den Schutz des Völkerrechts in so vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Herr Minister, ich habe deswegen in meinem Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister, das ich schon heute Morgen führen konnte, für meine Fraktion und, ich denke, für fast alle in unserem Haus auch klar gesagt: Die Krim-Annexion und die fortdauernde Befeuerung des Konfliktes in der Ostukraine durch Russland verstoßen gegen ebenjene internationale Friedensordnung, die doch Russland selbst mitentworfen und aus freien Stücken unterzeichnet hat. Das ist und bleibt nicht akzeptabel.
({3})
Die Schlussakte von Helsinki, der Zwei-plus-Vier-Vertrag, die Pariser Verträge und das Budapester Memorandum sind das von Russland bzw. von der früheren Sowjetunion selbst miterrichtete Gerüst unserer friedlichen Nachkriegsordnung. Das zu verteidigen, ist uns eine Verpflichtung, die von unserer Verantwortung herrührt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns gelingen kann, auch mit der Russischen Föderation wieder zu einem besseren Verhältnis zurückzufinden. Wir sind mit Russland wie mit anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion verbunden in unserer schmerzvollen Erinnerung an den Deutsch-Sowjetischen Krieg. Daraus wachsen für uns der Wunsch und der Wille nach Frieden, Zusammenarbeit und gemeinsamem Wohlstand.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, machten weder die nationalsozialistischen Machthaber noch das Oberkommando der Wehrmacht einen Unterschied zwischen Russen, Weißrussen und Ukrainern. Es war ein Überfall auf einen Vielvölkerstaat, den Deutschland in „Bloodlands“, in ein Blutland verwandelte, wie Timothy Snyder es geschrieben hat. Dieses Buch zu lesen, genauso wie Navid Kermanis Reisebericht „Entlang den Gräben“, entlang Schlachtfeldern, Erschießungsorten, Gedenkstätten, ist bis heute tief bewegend und für Deutsche tief beschämend.
Wladimir Putin, der Präsident der Russischen Föderation, hat in einem langen Gespräch kürzlich erklärt, die Sowjetunion habe damals durch ihren Sieg über den Faschismus die Welt gerettet. Gemeinsam mit den Alliierten ist das geschehen. Der Blutzoll, den die Völker der Sowjetunion entrichtet hatten, ist dramatisch. Unser Gedenken gilt den 24 Millionen Opfern der deutschen Aggression, unser Dank gilt all denen, die sich für Versöhnung einsetzen, und unsere Arbeit hier in diesem Hohen Haus gilt einer friedlichen Gegenwart und Zukunft Europas und seiner Völker in allen Teilen unseres Kontinents, meine Damen und Herren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jedes Jahr um den 27. Januar herum gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Es steht wie kein anderes der Vernichtungslager des wahnwitzigen NS-Regimes für den unbedingten Vernichtungswillen der NS-Herrschaft. Die Geschichte hat uns das so aufgegeben. Die Geschichte hat aber auf eine eigenartige Art und Weise dafür gesorgt, dass dadurch ein Leid ein wenig in den Schatten gerückt ist, dessen wir genauso gedenken müssen, und das ist die Blockade von Leningrad. Auch am 27. Januar, aber ein Jahr zuvor, 1944, endete sie, nach einer Zeit des Leidens, des Hungers, der Krankheit und des massenhaften Sterbens. 1 Million Menschen sind in Leningrad bei der völkerrechtswidrigen Blockade der Stadt umgekommen. Noch heute ist es so, dass, wenn Sie durch Sankt Petersburg gehen, Sie hin und wieder blaue Schilder entdecken, die die Bewohnerinnen und Bewohner davor warnen, dass auf dieser Straßenseite der Angriff der Artillerie schwerere Folgen hat als auf jener Seite der Straße. Das Gedenken an die Blockade von Leningrad in die richtige Position zu rücken, ist etwas, das wir gemeinsam beschlossen haben, und ich danke der Bundesregierung dafür, dass sie dieses sichtbare Zeichen gesetzt hat. Meine Damen und Herren, Leningrad und die Blockade stehen für das Leid der Völker der Sowjetunion. Es ist richtig, dass wir daran erinnern.
({1})
Genauso wichtig ist, dass wir akzeptieren, was Historiker ermittelt haben: Der Krieg war von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant, Leningrad ist ein Beispiel. Aber auch das Massaker von Babyn Jar ist ein solches Beispiel: 33 771 Jüdinnen und Juden wurden in der Nähe von Kiew erschossen, von SS-Einsatzgruppen, aber auch von ganz normaler deutscher Polizei – Männer, Frauen und Kinder, fast 34 000 Menschen. Dieser Vernichtungskrieg begann schon früher. 1939 ist Deutschland in Polen eingefallen, als Folge des Hitler-Stalin-Pakts; als Folge desselben Pakts hat die Sowjetunion 1940 die baltischen Staaten besetzt. Die Lehre, die wir aus diesem Pakt ziehen müssen, ist, dass es illegitim ist, souveränen Staaten ihre Existenz abzusprechen, ihr Territorium zu besetzen oder ihre Bevölkerung gewaltsam zu vertreiben.
Meine Damen und Herren, diese Lehren sind aktuell bis heute. Ich glaube, es ist ganz richtig, an das zu erinnern, was der Kollege Wadephul gerade erwähnt hat: Die Ukraine ist heute ein unabhängiger Staat; sie hat das Recht auf eine unabhängige Existenz. – Ich freue mich, dass der ukrainische Außenminister heute hier in Berlin Gespräche führt. Ich glaube, es ist richtig, dass wir die Souveränität dieses Staates verteidigen, dass wir ihr dabei helfen, ihre territoriale Integrität zu erhalten und ihre Zukunft friedlich zu gestalten.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast 80 Jahren überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Eines der größten Verbrechen der Geschichte ging von deutschem Boden aus. Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde als Angriffs- und Vernichtungskrieg konzipiert und geführt, der alle bis dahin geltenden Zivilisationsregeln suspendierte. Der Krieg wurde nicht als Krieg einer Armee gegen eine andere geführt, sondern als Krieg gegen eine Bevölkerung, die – wie die Juden – ausgerottet bzw. dezimiert und versklavt werden sollte. Die Völker der Sowjetunion kostete dieser Vernichtungskrieg 27 Millionen Menschenleben: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Balten, Kaukasier, Juden, Soldaten, Zivilisten, Kriegsgefangene, Männer, Frauen, Kinder, Angehörige Dutzender Nationalitäten. Fast jede Familie der Sowjetunion hatte Opfer zu beklagen. Meine Fraktion, ich hoffe, wir alle, wollen dem würdevoll gedenken, und auch ich verneige mich vor den Opfern.
Meine Damen und Herren, im Januar 2014 sprach der damals 95-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin hier an diesem Platz im Deutschen Bundestag. Er sagte, man dürfe nicht vergessen und man müsse doch vergeben können, Hass führe in die Sackgasse. Das sagte der Verteidiger von Leningrad. Heiko Maas, Graf von Lambsdorff haben darauf hingewiesen, was das an diesem Pult bedeutet. Granin sagte, es sei ihm eine große Ehre, hier zu sprechen.
Auch eingedenk dieser Worte beschämt es mich, wie der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung mit diesem Jahrestag umgehen. Ein offizielles Gedenken gibt es weder hier noch da, und das im 80. Jahr des Überfalls. Die dürftigen Begründungen und Verweigerungen sind in den Antworten auf die Anfragen meiner Fraktion nachzulesen. Ich finde, das ist ein Zeugnis von Geschichtsvergessenheit.
({0})
Ich bin froh, dass der Bundespräsident, Herr Steinmeier, hier anders handelt. Heute gedenken wir eines Tages größter deutscher Schuld. Es geht um Terror, der in dieser Stadt erdacht und inszeniert worden ist. Deshalb sind Zeichen der Demut und der Scham so notwendig.
Meine Damen und Herren, ich habe ein paar Jahre in der Sowjetunion gelebt, ich habe dort eine Aspirantur gemacht. Ich hatte eine Russischlehrerin, die mir sagte, dass ihrer Großmutter, als sie ihr erzählte, dass sie jetzt auch einen Deutschen unterrichtet, die Tränen gekommen sind, weil ihr Bruder, der Bruder der Großmutter, von Deutschen umgebracht worden ist. Sie konnte gar nicht verstehen, warum sie einen Deutschen unterrichtet. Ich habe mit der Lehrerin lange geredet und habe ihr natürlich auch versichert: Nie wieder! – Kurz vor meiner Verteidigung, das war im Mai 1990, gab es in den ostdeutschen Ländern (neu) riesige Nazischmierereien. Ihre Frage war damals im Mai 1990: Glaubst du, dass das wieder passieren kann? – Natürlich habe ich das verneint und gesagt: Das ist unmöglich! Nie wieder deutsche Soldaten.
Meine Damen und Herren, was soll ich meiner damaligen Lehrerin eigentlich sagen, wenn heute die NATO-Staaten ihr größtes Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges ausgerechnet im Osten Europas abhalten und die Bundeswehr dabei ist? Ich finde, das ist beschämend!
({1})
Wir sollten Lernfähigkeit zeigen gegenüber allen ehemaligen Republiken der Sowjetunion. Ich appelliere an die Bundesregierung: Lieber Heiko Maas, kappen Sie nicht die Drähte zu allen ehemaligen Sowjetrepubliken, auch nicht nach Russland, nicht die Gesprächsfäden, nicht die Handelswege, nicht die Pipelines. Fördern Sie die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, den Jugendaustausch, die Städtepartnerschaften, und – heute wichtiger denn je – arbeiten Sie an einer neuen Ära der Abrüstung!
({2})
Wer es heutzutage gering schätzt oder ignoriert, dass die Rote Armee in der Anti-Hitler-Koalition den größten und opferreichsten Beitrag erbracht hat, wer ignoriert, dass die Politik Gorbatschows das Tor zu Gewaltverzicht und Abrüstung öffnete, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Deutsche Einheit überhaupt erst ermöglichte, hat aus der Geschichte nichts gelernt, der handelt arrogant und ohne Empathie. Wer das ignoriert, brüskiert zahlreiche Staaten und Völker. Das heißt übrigens nicht „Sprachlosigkeit“, das heißt es ausdrücklich nicht.
Wir gedenken heute auch David Dushman, der in der Nacht auf Samstag in seiner Wahlheimat München mit 98 Jahren gestorben ist und der gerade in diesen Minuten verabschiedet wird. Er war ein Veteran der Roten Armee und der letzte noch lebende Befreier von Auschwitz. Unermüdlich hat er als Zeitzeuge bis zuletzt von den Schrecken des Krieges und dem Terror des Faschismus berichtet. „Nicht die Deutschen sind schuld, der Faschismus muss zerstört werden“, sagte dieser große Held, vor dem wir uns auch in Dankbarkeit verneigen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir leben in einer vermeintlich stabilen Demokratie. Doch das vermeintlich Sichere ist so sicher nicht. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen täglich erkämpft und verteidigt werden. Auch 75 Jahre nach dem Ende des faschistischen Raub- und Vernichtungskriegs haben wir keinen Grund, Bertold Brechts Warnung in den Wind zu schlagen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Gar nicht selten geht Verharmlosung mit Verherrlichung einher; wir erleben das, leider auch manchmal in diesem Haus. Brechts Stück, übrigens auch im Jahre 1941 geschrieben, trägt den Titel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Deshalb sehe ich darin Zuversicht und zugleich Auftrag für uns alle. Wir alle sind gefordert. Ja, es gibt keine Politik ohne Geschichte!
Herzlichen Dank.
({4})
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Juni 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion und begann mit der systematischen Vernichtung und Ermordung all dessen, was sich dem Versklavungsversuch der Nazis widersetzte. Das Ausmaß des menschlichen Leids und der Zerstörung bleiben auch 80 Jahre danach unvorstellbar, unfassbar. Der Rassenwahn der Nazis hatte den Boden für diesen Krieg bereits Jahre zuvor bereitet. Mit dem sogenannten jüdischen Bolschewismus wurden die Feindbilder klar umrissen. Die Antastbarkeit der Menschenwürde und die Bestimmung des sogenannten „unwerten Lebens“ wurden mit jahrelanger Propaganda und Reduzierung der Menschen auf ihre ethnische, religiöse und kulturelle Herkunft begründet.
Den Worten folgten grauenhafte Taten. Zur Erreichung der offiziellen Kriegsziele wurden große Teile der sowjetischen Bevölkerung vertrieben, versklavt und getötet: Lemberg, Minsk, Riga, Leningrad, Odessa, Babyn Jar stehen längst nicht vollzählig symbolisch dafür.
Am Ende der Besatzung war der Boden der Sowjetrepubliken blutgetränkt, waren Dörfer, Regionen, aber auch ganz gezielt jüdische Gemeinden dem Erdboden gleichgemacht. Forschungen sprechen heute von bis zu 40 Millionen Opfern. Allein in Weißrussland wurden bei Massakern gegen die Zivilbevölkerung 345 000 Menschen von deutschen Soldaten ermordet. In Babyn Jar erschossen die Sonderkommandos der Wehrmacht in 36 Stunden 33 771 Jüdinnen und Juden, darunter Säuglinge und Kinder.
In der Erinnerungspolitik der Bundesrepublik spielten diese Opfer und ihre Hinterbliebenen kaum eine Rolle. Aufgrund der politischen Spaltung Europas kamen sie unter die Räder des Kalten Krieges. Wo wurde ich, aufgewachsen in Süddeutschland, damit konfrontiert? Im Geschichtsunterricht nicht. Durch meine Oma vielleicht, die Zeit ihres Lebens hoffte, dass ihr Bruder Hans aus Stalingrad zurückkehrt, durch meinen Klavierlehrer, der immer viel zu große Stiefel trug, weil ihm die Zehen dort abgefroren waren.
Anlässlich des 80. Jahrestags stelle ich mit Scham und Schrecken fest, wie groß die blinden Flecken unserer Erinnerung sind, stelle fest, dass wir eine in Ost und West geteilte Erinnerung haben. Aber diese müssen wir zusammenführen, das Vergangene zusammendenken; denn auch die Erinnerung an die Verbrechen in der ehemaligen Sowjetunion gehört doch zu unserem kollektiven Gedächtnis, und das darf nicht verblassen, weil es die Sowjetunion nicht mehr gibt.
Eine ehrliche, eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte stärkt die Demokratie, und das beugt rassistischen Ideologien mit Vernichtungs- und Säuberungsfantasien vor. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unsere Aufgabe.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Jahren, als ich noch ein sehr junger Parlamentarier war, war ich in St. Petersburg und lief mit vielen jungen Leuten an der Newa entlang, also in der Stadt, in der die Deutschen eines der größten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verübt haben – mehrere Kolleginnen und Kollegen haben das heute schon erwähnt –, nämlich die Belagerung von Leningrad. Wenn man weiß, dass dabei über 1 Million Menschen starben, die Stadt über drei Jahre lang abgeschnitten war und ausgehungert werden sollte, dann ist es umso erstaunlicher, wie junge Russen uns dort heute begegnen, dass wir die Möglichkeit zum Dialog haben, dass sie uns Deutschen gegenüber offen sind.
Mir ist gerade erst wieder bewusst geworden, Frau Kollegin Roth, als Sie das Ihnen im Geschichtsunterricht vermittelte Bild schilderten, dass ich das in der DDR ganz anders erlebt habe.
({0})
Ich durfte Russisch lernen. Mir wurden all diese Dinge aus einem anderen Blickwinkel vermittelt. Es ist interessant, zu sehen, wie unterschiedlich die Erfahrungen in West- und Ostdeutschland sind, vielleicht auch in der Affinität und der Nähe zu Personen. Ich erinnere mich oft und gern daran – ich bin in einem Dorf in der Nähe von Weimar aufgewachsen; es gab dort einen großen Stützpunkt von sowjetischen Soldaten –, dass diese oftmals zu uns kamen und wir mit ihnen unter anderem Diesel gegen Nahrungsmittel getauscht haben. All das gehört zum Bild dazu. Es gehört vor allen Dingen zu der großen, fast unmenschlichen Leistung, die die Menschen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion uns Deutschen gewähren, nämlich uns zu verzeihen – den Überfall und den Krieg Nazideutschlands, begonnen 1941, zu verzeihen. Dafür bedanke ich mich im Namen meiner Fraktion und verneige mich vor den Opfern.
({1})
Neben dem Band der Kriegsgeschichte verbindet uns – ich will in die Zukunft schauen – natürlich auch das Band der Kulturgeschichte. Weimar habe ich genannt: Maria Pawlowna war diejenige, die die Kultur im großen Maße nach Thüringen, nach Weimar gebracht hat. Aber ich will auch Tschaikowski, Dostojewski, Puschkin, Schostakowitsch, Mozart und Goethe nennen. All dies ist europäische, deutsche, russische, sowjetische Kulturgeschichte, über 1 000 Jahre alt.
Es ist klar, dass wir in den letzten Jahren, insbesondere seit 1989, unterschiedliche Wege gehen: wir in der Einbindung in der EU und der NATO, Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken ihren eigenen. Trotz der großen Distanz – es ist bereits darauf hingewiesen worden – insbesondere gegenüber der Regierung oder dem Autokraten in Minsk als auch in Moskau ist es unabdingbar, dass wir gemeinsam im Dialog bleiben, dass es nicht über eine Spirale der Eskalation, der Sanktionen und des Nichtdialogs zu Sprachlosigkeit kommt. Vielmehr brauchen wir insbesondere mit Russland immer auch einen Gesprächsfaden, wobei klar sein muss – das hat auch Heinrich August Winkler in einer Rede in 2015 in diesem Hause gesagt, dass Deutschland bei seinen mittel- und osteuropäischen Partnern in EU und NATO nie wieder den Eindruck erwecken darf, dass wir bilateral mit Russland über ihre Köpfe hinweg und gegen ihre Interessen Politik machen. – Auch das ist für mich eine Lehre aus der Geschichte.
Wir müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen, durch Vorbild leben und inspirieren, durch klare Haltung, auch durch offene und womöglich kritische Worte.
Es gibt allerdings einen dritten Grund, warum wir insbesondere zu Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken ein vernünftiges, rationales Verhältnis brauchen, und der hat etwas mit Geografie zu tun. Russland nimmt fast die Hälfte unseres Kontinents ein. Russland ist, wie Egon Bahr es einmal formulierte, „unverrückbar“ ein Teil Europas. Daraus ergeben sich einige handfeste Folgen und Interessen. Wir haben ein fundamentales Interesse an friedvollen Verhältnissen auf dem Kontinent. Wir haben kein Interesse daran, dass sich Russland aus Europa verabschiedet. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Austausch, auch wenn er manchmal sehr, sehr schwer ist, ein Gebot aus bitterer Vergangenheit und strategisch gut geplanter Zukunft.
Deswegen ist der Jahrestag des Krieges – daran erinnern wir heute – so wichtig. Wir müssen den Frieden sichern, die Zusammenarbeit suchen und ausbauen. Frieden sichert man durch Abrüstung, militärisch und sprachlich. Zusammenarbeit entsteht durch gegenseitigen Respekt, Austausch und Gespräch, auch über wachsende Unterschiede hinweg. Die Verantwortung für Frieden auf unserem Kontinent ist größer als alle Unterschiede, die uns trennen. Es ist eine gemeinsame Verantwortung, für die Deutschland in besonderer Weise eintreten muss. Auch das ist für mich eine zentrale Lehre des 22. Juni 1941.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD.
({0})
Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Vertreter der Russischen Botschaft! Meine Damen und Herren! Der 22. Juni 1941 stellte einen Tiefpunkt der deutschen und europäischen Geschichte dar. Die deutsch-russischen Beziehungen lagen am Boden. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion brachte das nationalsozialistische Deutschland unermessliches Leid über Europa und die Welt. Kaum ein Land hat das mehr spüren müssen als Russland. Allein in der damaligen Sowjetunion starben zwischen 25 Millionen bis 27 Millionen Menschen. Das Ausmaß der Zerstörung ist weder in Worte noch in Zahlen zu fassen.
Dennoch hatte ich trotz all des Leids, das der Zweite Weltkrieg auch über das russische Volk gebracht hat, immer den Eindruck, dass es mir als deutschem Staatsbürger fast immer ohne Vorbehalte begegnet ist. Es hat den Blick nicht in die Vergangenheit, auf die Kriege und Divergenzen gerichtet, sondern auf das Hier und Heute, in die Zukunft und auf die positiven Elemente unserer jahrhundertelangen Beziehungen.
({0})
Und ich weiß, dass ohne das Zutun der späten Sowjetunion diese Plenardebatte heute hier sicherlich nicht im Reichstag zu Berlin stattfinden würde. Das dürfen wir nicht vergessen.
Europa ist und bleibt ohne Russland nicht denkbar und auch nicht die Bundesrepublik.
({1})
Deutschland wäre heute ohne Russland nicht das, was es ist: ein vereintes, demokratisches Land in der Mitte Europas.
Meine Damen und Herren, wir erinnern heute an einen der schwärzesten Tage der europäischen und deutschen Geschichte. Nach 80 Jahren müssen wir leider feststellen, dass sich die deutsch-russischen Beziehungen verschlechtern. Auch diese Bundesregierung, Herr Maas, muss sich fragen: Warum befindet sich unser Verhältnis zu Russland auf einem neuen Tiefpunkt und ist mittlerweile schlechter als zu Zeiten des Kalten Krieges?
({2})
Jetzt, da wir wieder an einem Scheideweg in den Beziehungen angekommen sind, werden wir nur durch kontinuierlichen Dialog, offene und verbindliche Gespräche weiterkommen, nicht aber durch Schuldzuweisungen und erhobene Zeigefinger. Vor allem dürfen wir aber eins nicht: den Graben noch tiefer machen, indem wir noch weiter auf Distanz zueinander gehen und schweigen.
Aber auch wenn das deutsch-russische Verhältnis derzeit so belastet ist: Uns eint eine über 1 000 Jahre andauernde gemeinsame Geschichte. Wir waren immer wieder Feinde, aber auch oft Verbündete und Freunde. Immer wieder ist es uns gelungen, nach Kriegen und Auseinandersetzungen neu anzufangen. Hier und heute haben wir die Gelegenheit, im respektvollen Umgang miteinander stark und ohne neue Ideologien pragmatisch an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten.
({3})
Der Respekt vor nationalen Interessen, Kulturen und Mentalitäten ist dabei der Garant für ein friedliches Europa.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserer heutigen Debatte zeigen wir als Bundestag, dass wir das Schicksal der über 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion und das Schicksal der Völker auf dem Boden der Sowjetunion nicht vergessen. Der Überfall auf die Sowjetunion war nicht ein Überfall auf das russische Volk oder auf Russland, sondern auf eine Vielfalt an Völkern und Sprachen, und unser Land hat zur Vernichtung von Kultur, zur Vernichtung von Sprachen und Bevölkerung beigetragen.
Wir haben hier heute sehr würdige Worte gefunden. Unsere Debatte soll auch ein Eckpfeiler sein für Aussöhnung, für das Reichen der Hand, aber auch, um eine gemeinsame Erinnerungsidentität zu schaffen. Deshalb sollten wir allen Versuchen entschieden entgegentreten, eine selektive Wahrnehmung der Geschichte zu wählen, aufzurechnen oder das Ganze zu relativieren.
Der Russlandfeldzug war von langer Hand vorbereitet. Er war bewusst – unsere Vorredner haben es gesagt – auf Vernichtung von Kultur, von Sprache und Völkern ausgelegt. In diesen Mahlstrom gerieten insbesondere die Länder zwischen dem damaligen Deutschen Reich und der Sowjetunion, die Balten, die Weißrussen, die Ukrainer – die Ukrainer übrigens, die auch noch unter dem Holodomor litten, einem von Moskau verursachten Aushungern der ukrainischen Bevölkerung innerhalb der Sowjetunion. Wir erleben auch heute, dass Missliebige, dass Oppositionelle unter den Handlungen der Hauptstädte mancher ehemaliger Sowjetstaaten leiden. Ich möchte nur am Rande Nawalny oder den Tiergartenmord ansprechen.
Aber viel entscheidender ist es, dass wir den Blick nach vorne richten. Wir erleben gerade, im 80. Jahr des Überfalls auf die Sowjetunion, dass Russland uns ein Deutschlandjahr ermöglicht, das Deutschlandjahr 2020/2021. Trotz allem, was hier die Vorredner und auch ich beschrieben haben, finden Verbindungen statt. Wir sollten einer heute 18-jährigen Deutschen oder einem heute 18-jährigen Russen abnehmen, dass sie zukunftsorientiert an Versöhnung interessiert sind, an Austausch, an Miteinander. Unsere Verantwortung ist es, deutlich zu machen, dass sich das, was in der Vergangenheit war, nicht wiederholt.
Aus der Sicht des Deutschen Reiches war es ein europäischer Kreuzzug gegen den Bolschewismus, mit über 3,5 Millionen Soldaten, darunter 600 000 aus besetzten oder sogenannten verbündeten Staaten, mit über 3 600 Kampfpanzern und unzähligem Leid und Befehlen im Tornister, die auf Vernichtung ausgelegt waren. Es war eine industrielle Variante der Völkervernichtung. Diese Einzigartigkeit des Russlandfeldzuges dürfen wir nicht relativieren. Wir müssen als Deutsche die Verantwortung übernehmen. Kollege Wadephul und Kollege Schneider haben auch sehr deutlich in Demut klargemacht, dass Verzeihung und Entschuldigung sicherlich wesentliche Schritte von uns sind, aber wir auch an tätiger Aussöhnung arbeiten müssen.
Lassen Sie mich deshalb abschließend auch auf die Östliche Partnerschaft eingehen. Wir dürfen unser Zusammen-Denken mit Russland immer nur im Zusammenhang mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sehen. Die Östliche Partnerschaft ist auch dank des Bundestages mit seinen Beschlüssen sehr stark auf die Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft ausgerichtet. Dies ist notwendig und hilfreich. Aber ich glaube, in der Östlichen Partnerschaft müssen wir mit Moldawien, Georgien und Ukraine ganz anders, nämlich aufwertend, umgehen als beispielsweise mit Weißrussland. Wir können es uns im Umgang mit diesen Ländern nicht mehr leisten, sie alle in denselben Topf zu werfen und für alle dieselben Verfahren vorzusehen. Wir müssen schauen: Welche dieser Länder stehen für die regelbasierte internationale Ordnung, welche nutzen sie aus, und welche zerstören sie? Ich bin da in Sorge, dass wir zu blauäugig sind und in der Europäischen Union verkennen, welche Kraft in den Zivilgesellschaften steckt und welche Kraft wir hier uns erschließen können, auch mit Blick auf Zukunftsperspektiven für die Jugend in diesen Ländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heutige Gedenken muss auch in die Zukunft gewandt sein. Ich glaube, in dem Deutschlandjahr in Russland müssen wir – neben unserer Unterstützung der Ukraine, indem wir sehr klar die völkerrechtswidrige Annexion der Krim wie auch den Krieg in der Ostukraine ansprechen, indem wir die Ukraine unterstützen, wo es nötig und angemessen ist, indem wir über die Energieversorgung Deutschlands debattieren, indem wir uns über Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft austauschen und die verschiedenen Dialogforen suchen – auch ansprechen, dass von russischer Seite drei Organisationen mit Sanktionen belegt wurden, von denen zumindest zwei in einem sehr regen, demokratiegestützten zivilgesellschaftlichen Austausch stehen.
Lassen Sie uns den Blick nach vorne richten. Dem „Nie wieder“ eines solchen Krieges muss eine Idee folgen, die eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok umfasst und die einen europäischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok zum Ziel hat. Aber es gehören immer zwei dazu. Unsere Hand ist ausgetreckt.
Herzlichen Dank.
({0})
Bijan Djir-Sarai, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Juni 1941 trat der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf die Sowjetunion in eine neue Phase ein. Der uneingeschränkte, vom Rassenwahn des Dritten Reiches befeuerte Vernichtungskrieg im Osten kostete viele Millionen Menschen das Leben und verwüstete ganze Landstriche. An Brutalität war dieser Überfall kaum zu überbieten. Zu welch schändlichen Taten Menschen fähig sind, darf niemals in Vergessenheit geraten. Unvergessen bleiben für mich persönlich die Bilder vom Einsatz der Sonderkommandos hinter der Front. Nur durch massive Opfer der Völker der Sowjetunion gelang es, den Vormarsch der Wehrmacht zu stoppen.
Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg kurz nach der Einnahme Berlins durch sowjetische Streitkräfte. Die Spuren dieser Zeit sind in diesem Haus und besonders in dieser Stadt, in Berlin, erkennbar, wo die Geschichte Narben hinterlassen hat.
Der barbarische Überfall auf die Sowjetunion darf nicht nur ein Kapitel im Schulunterricht sein. Nein, es ist unsere Aufgabe, dass 80 Jahre später, 100 Jahre später oder auch 180 Jahre später jedem Einzelnen in unserer Gesellschaft bewusst ist, welchen Horror und Terror Deutschland über die Welt gebracht hat. Daran müssen wir uns erinnern.
Die historischen Fakten sind für uns heute aber auch mehr als Erinnerung und Geschichte. Sie stellen für uns eine besondere Verantwortung dar, die Deutschlands Rolle in der Weltpolitik definiert. „Nie wieder!“ ist mehr als ein Lippenbekenntnis, mehr als ein Narrativ. „Nie wieder!“ ist die Maxime eines politischen Handelns.
({0})
Das Festhalten an der globalen Friedensordnung hat für Deutschland heute oberste Priorität. Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen in internationalen Organisationen, engagiert sich im Rahmen der Vereinten Nationen für Frieden, Freiheit und Menschenrechte weltweit und spielt schließlich auch eine tragende Rolle im Friedensprojekt Europa.
Meine Damen und Herren, es war ein langer Weg hierhin. Dass wir heute in Wohlstand und im Frieden mit unseren Nachbarn leben, ist nach zwei verheerenden Weltkriegen absolut keine Selbstverständlichkeit. Dafür müssen wir dankbar sein. Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, uns dafür einzusetzen, dass das so bleibt. Das gilt insbesondere für die deutsch-russischen Beziehungen. Deutschland und Russland sind heute, 80 Jahre nach dem abscheulichen deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wirtschaftlich und kulturell eng verbunden, obwohl große politische Probleme existieren.
Ich bedaure, dass die russische Führung die Geschichte heute als Instrument für eigene Interessen missbraucht. Dennoch: Die deutsch-russischen Beziehungen basieren auf einer langen und komplexen gemeinsamen Geschichte. Dass diese Geschichte friedlich, freundschaftlich und auf Augenhöhe fortgesetzt wird, ist heute wichtiger denn je.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir uns darüber bewusst sind, dass es eine neue Art und Weise von Geschichtskultur gibt – bei uns in Deutschland, aber auch in den Ländern, über die wir reden. Wenn ich in den sozialen Medien sehe, wie vor der Coronazeit junge Menschen mit ihren Eltern und Großeltern, wie Familien zu der Parade am 9. Mai in Moskau oder auch anderswo strömten, dann freut mich dieser Umgang, dieser positive Bezug auf die Väter, auf die Helden, die in der Roten Armee gekämpft haben. Gleichzeitig bin ich todtraurig, wenn ich durch Moskau fahre und bei wahrscheinlich sympathischen Menschen im Auto die Sankt-Georgs-Streifenbänder sehe, die letztlich von einer Solidarisierung mit einem absoluten Unrechtskrieg in der Ukraine aufgrund einer meiner Ansicht nach historischen Fehlannahme zeugen.
Über die Brüche in der Kultur – die Freude der russischen Jugend über den Sieg der Roten Armee auf der einen Seite, die Situation heute auf der anderen Seite – und über die Schwierigkeiten, die ich damit habe, möchte ich heute reden. Denn es wird ein Fehler gemacht, der auch in dieser Debatte gemacht wird, nämlich dass man versucht, absolute Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um daraus heutige Politik zu legitimieren. Ich denke, es ist richtig, dass wir die verschiedenen Perspektiven der Geschichte wahrnehmen. Jede der verschiedenen Perspektiven der Geschichte hat ihre Berechtigung. Sie alle haben ihren Ort, und sie alle müssen von uns wahrgenommen werden.
Wir müssen auch darüber reden, wie die Geschichtsrezeption nach dem Krieg politisch genutzt wurde. Dazu gehört auch, dass man anerkennt, dass nach Tschernobyl in den Jahren 1987 bis 1989 eine Veränderung von Geschichtsrezeption in Zentraleuropa und in der Ukraine stattgefunden hat. Deswegen ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir versuchen, das Gedenken an diesen unglaublich grausamen Krieg von zu viel Tagespolitik freizuhalten. Sie alle wissen, dass ich eine klare Meinung zu diesem Thema habe.
Ich möchte daran ansetzen und sagen: Wir sollten, anstatt zu viel über Sachen zu reden, die alle vielleicht schon wissen, viel mehr darüber reden, was wir zu wenig besprechen, beispielweise über den „Holocaust durch Kugeln“, der bereits angesprochen wurde, über das Schicksal der Zwangsarbeiter, über das Schicksal der Kriegsgefangenen und über die unendliche Grausamkeit dieses Krieges, den Deutschland über die Sowjetrepubliken gebracht hat – nicht Nazideutschland, sondern Deutschland! Der Krieg war von der Wehrmacht als Vernichtungskrieg geplant. Die Wehrmacht hat bewusst geplant, die Kriegsgefangenen verhungern zu lassen und sich selbst von dem Land zu ernähren. Es ist Deutschland gewesen, das diese Verbrechen begangen und diese bis heute historisch zu verantworten hat. Ich hoffe, dass wir dem gerecht werden können.
Wir müssen versuchen, allen Gesellschaften gerecht zu werden: nicht nur, aber auch der russischen Gesellschaft, nicht nur, aber auch der ukrainischen Gesellschaft, nicht nur, aber auch der belarussischen Gesellschaft. Wie vielfältig letztlich die Wahrheit der Rezeption und auch – wenn es sie gibt – die historische Wahrheit dieses Krieges ist, das zeigen die Inschriften, die hier schon genannt worden sind. Vor der Praxis der Parlamentsärztin finden Sie arabische Schriftzeichen baschkirisch-russischer Soldaten. Das zeigt, dass es wichtig ist, an die Geschichte zu erinnern. Aber wenn wir der Vielfalt der Geschichte gerecht werden wollen, sollten wir sie nicht mit aktueller Tagespolitik und absoluten Wahrheiten überfrachten.
Danke sehr.
({0})
Elisabeth Motschmann, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Schülerinnen und Schüler heute unvorbereitet fragen würde: „Was war vor 80 Jahren?“, bin ich nicht so sicher, ob prompt die Antwort käme: „Der Überfall auf die Sowjetunion.“ Viele junge Menschen, aber nicht nur junge, wachsen heute geschichtslos auf. Genau das ist der Grund, weshalb wir immer wieder an diesen schrecklichen Überfall und seine grausamen Folgen erinnern müssen. Es ist gut, dass wir junge Menschen durch das Peace-Line-Projekt, Herr Minister, zusammenführen. Das ist die beste Prophylaxe gegen etwas Vergleichbares.
25 bis 30 Millionen Menschen starben – wer will es genau sagen? –, darunter viele Zivilisten, Frauen und Kinder. Es war eben ein Vernichtungskrieg. Sie können mir glauben, dass es mich auch heute noch zutiefst traurig macht, dass mein eigener Vater an diesem Überfall beteiligt war. Das ist auch für Kinder ganz, ganz schrecklich. Er ist 1941 – zum Glück – schwerst verwundet worden und musste dann nicht mehr am Krieg teilnehmen.
Wir sind uns alle der historischen Schuld bewusst. Doch aus der Geschichte zu lernen, bedeutet, zu verhindern, dass sich Vergleichbares wiederholt; das „Nie wieder!“ ist hier heute oft angeklungen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns heute permanent für eine friedliche Nachbarschaft zwischen Russland und Europa einsetzen. Das sind wir dem russischen Volk und den Nachfahren der Opfer schuldig.
Die Schrecken des Krieges sind in vielen russischen Familien nach wie vor gegenwärtig. Ich denke nicht nur an den Überfall vor 80 Jahren, ich denke wie Graf Lambsdorff auch an die Blockade von Sankt Petersburg mit 1,1 Millionen zivilen Toten. Dieses Leiden dürfen wir niemals vergessen.
Aber was bedeutet das für uns 80 Jahre danach? Es ist bedrückend, dass das Verhältnis zu Russland durch Putin so erschwert wird wie im Augenblick. Wenn Sie, Herr Chrupalla, nicht verstehen, warum das Verhältnis heute so schlecht ist: Das liegt ganz bestimmt nicht an unserem Land,
({0})
sondern es liegt an dem russischen Regime und an Putins grausamer Politik.
({1})
Dazu gehören zum Beispiel, Herr Gauland, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine. Dazu gehört auch, dass sich die Situation der regierungskritischen Journalistinnen und Journalisten und der Oppositionellen in Russland dramatisch verschlechtert hat; ich nenne nur diese Beispiele. Oder die NGOs, die verboten werden: das Forum russischsprachiger Europäer, das Zentrum Liberale Moderne und der Verein „Deutsch-Russischer Austausch“; das sind ja nur einige Beispiele. Es tut mir leid für Marieluise Beck, unsere ehemalige Kollegin, die sich wie keine andere für die Erinnerung – zum Beispiel an das, was in Babi Jar passiert ist – einsetzt, dass sie mit dem Zentrum Liberale Moderne davon jetzt auch betroffen ist.
Kritische Stimmen, Zivilgesellschaft und Opposition haben in Russland keinen Platz mehr. Das sage ich ganz deutlich in Richtung AfD, und das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen.
({2})
Ich könnte fortsetzen: Putin erpresst die Ukraine, Russland instrumentalisiert Nord Stream 2 usw.
({3})
– Das hat mit Arroganz nichts zu tun, Herr Gauland.
Frau Kollegin, mit dem Fortsetzen ist es schwierig.
Wieso?
Die Redezeit ist vorüber.
Dann sage ich nur: Wer aus der Geschichte nicht lernt, kann Gegenwart und Zukunft nicht bewältigen; dann kann sie nicht gelingen.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Maske! – Am Platz dürfen Sie sie auch wieder absetzen; aber lassen Sie sie auf.
Voraussichtich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren begann das nationalsozialistische Deutschland einen der grausamsten Feldzüge der Menschheitsgeschichte. Rassenwahn und Naziideologie lösten in Osteuropa unbeschreibliches Leid aus. Zerstörung und millionenfacher Tod waren die Folge. Ob Baltikum, Weißrussland, Ukraine oder die anderen Sowjetländer: Das damalige Deutschland hinterließ im Osten Europas blutgetränkte Erde. Es muss uns deshalb mit großer Dankbarkeit erfüllen, dass viele Länder der ehemaligen Sowjetunion trotz dieser tragischen Vergangenheit heute gute und enge Partner Deutschlands sind.
Meine Damen und Herren, wir haben die historische und immerwährende Pflicht, an diese Verbrechen zu erinnern und aufzuklären. Aber bliebe es nur beim Erinnern, dann würden wir diese Pflicht nicht ausreichend erfüllen. Denn wir sprechen ganz besonders an diesem Jahrestag auch über eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft: die Verantwortung zu einem friedlichen Zusammenleben – und das gerade auch mit Russland.
Trotz aktueller Spannungen gibt es starke Brücken zwischen beiden Ländern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächstes Jahr jährt sich der Abschluss des Deutsch-Russischen Kriegsgräberabkommens zum 30. Mal. Es klingt wie eine Kleinigkeit, wenn man die Erhaltung und Pflege der Kriegsgräber im jeweils anderen Staat per Vertrag regelt. Aber als Anfang der 90er-Jahre der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seine Arbeit in der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen konnte und fast 50 Jahre nach Kriegsende Ruhestätten schaffte, waren es russische Veteranen, die gemeinsam mit deutschen Veteranen mithalfen, den Opfern eine würdige letzte Ruhe zu ermöglichen. Das zeigt: Ehemalige Feinde, die sich hier gemeinsam engagieren, gemeinsam Gräberpflege betreiben, gemeinsam damit auch den Schrecken dieses Krieges wachhalten, mahnen auch gemeinsam zum Frieden – für mich ein kräftiges Symbol dafür, wie wichtig gerade persönliche Beziehungen für die Versöhnung zwischen den Völkern sind.
Meine Damen und Herren, es ist natürlich äußerst bedauerlich, dass Kooperationen von russischer Regierungsseite immer wieder behindert werden. Einschränkungen der Zivilgesellschaft, die NGO-Gesetze, Sanktionen gegen deutsch-russische Organisationen sind nicht zielführend, vor allem, weil wir in den vergangenen Jahren an vielen Stellen konstruktiv zusammengearbeitet haben, aktuell beim „Deutschlandjahr in Russland“. Gerade in angespannten Zeiten müssen wir ein Zeichen für einen starken kulturellen Austausch setzen. Wir haben lebendige Städtepartnerschaften. Und heute studieren rund 11 000 russische Studenten in Deutschland. Es gibt knapp 1 000 Hochschulkooperationen. Russland ist eines der Länder mit den meisten ausländischen DAAD-Stipendiaten pro Jahr. Das ist so wichtig – gegenseitiges Verstehen, Kennenlernen – für bessere Beziehungen in der Zukunft.
Diese Beispiele, meine Damen und Herren, zeigen: Wir haben ein breites Fundament zur Zusammenarbeit mit den Menschen in Russland. Hierauf müssen wir weiter aufbauen, und wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Denn wir wollen gute Beziehungen zu diesem Land; das ist für uns eine zentrale Lehre aus der Geschichte.
Ich bin dankbar, dass es trotz aller Differenzen, die wir mit der politischen Führung in Russland haben, in der Bevölkerung auf beiden Seiten den Willen zu Freundschaft, Frieden und Kooperation gibt.
Herzlichen Dank.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Gerne.
Dann würde ich Ihnen auch gern das Wort dafür erteilen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich würde gerne einige einleitende Bemerkungen machen, weil sich in den kommenden Tagen auf der internationalen Bühne vieles ereignen wird, was auch für uns in Deutschland außerordentlich wichtig sein wird.
Die nächste Woche zum Beispiel wird ganz im Zeichen der ersten Auslandsreise von Präsident Biden stehen. Die Tatsache, dass ihn diese erste Auslandsreise nach Europa führt – zunächst nach Cornwall zum G-7-Gipfel und nach Brüssel zur NATO und dann zur Europäischen Union –, ist, wie wir finden, ein gutes und starkes Zeichen für die transatlantische Erneuerung.
Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass man sagen muss, dass wir darauf lange gewartet haben; denn in den letzten Jahren, unter der Vorgängeradministration, gab es doch Entwicklungen, die uns befürchten ließen, dass die internationale Ordnung wirklich nachhaltigen Schaden erleiden wird. Deshalb sind wir in dieser Zeit oft in die Bresche gesprungen. Wir haben – um einige Beispiele zu erwähnen – unser politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, etwa beim Erhalt des Nuklearabkommens mit dem Iran, wo wir seit Anfang April in Wien mit den anderen Vertragsstaaten, aber auch, mittelbar, mit den Vereinigen Staaten verhandeln. Aber das gilt genauso für Themen der Klima- und auch der Handelspolitik. Wir haben in dieser Zeit große finanzielle Lücken geschlossen bei der humanitären Hilfe, bei der Impfstoffversorgung und bei der Finanzierung internationaler Organisationen. Ich bin dem Bundestag außerordentlich dankbar dafür, dass er uns jedes Jahr in den Haushaltsverhandlungen dafür auch ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt hat.
Wir haben in dieser schwierigen Zeit ebenso versucht, neue Formen der flexiblen internationalen Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen. Ich will nur die Allianz für den Multilateralismus nennen, der mittlerweile weltweit über 70 Staaten aus allen Kontinenten angehören. In dieser Allianz reden wir über viele wichtige Themen, etwa über autonome Waffensysteme oder darüber, was man gegen Desinformationskampagnen tun kann, bis hin zum Thema „Schutz der Menschenrechte im digitalen Zeitalter“. Wir haben uns dort nicht nur ausgetauscht, sondern wir haben auch gemeinsame Richtlinien erarbeitet, die von den Mitgliedern dieser Allianz in den internationalen Organisationen dann auch mitgetragen werden.
Wir können darauf aufbauen; denn jetzt, in den kommenden Tagen, finden diese wichtigen Veranstaltungen statt. Beim G-7-Gipfel wird die Bewältigung der Pandemiefolgen im Mittelpunkt stehen, mit dem klaren Bekenntnis zur globalen Impfstoffversorgung. Es wird natürlich auch um das Thema Klimaschutz gehen, vor allen Dingen im Zusammenhang mit der COP 26 in Glasgow.
Letztlich muss aber – und das ist uns ganz besonders wichtig – dieses Treffen auch ein Signal der Unterstützung senden an unsere Wertepartner, an unsere demokratischen Partner weltweit; denn in den letzten Jahren hat es daran, wie wir finden, doch arg gemangelt.
Beim NATO-Gipfel am 14. Juni wird es darum gehen, das Bündnis zukunftsfest zu machen und anzupassen an ein verändertes Sicherheitsumfeld. Dafür steht der „NATO 2030“-Prozess. Wir können dabei auf einen Reflexionsprozess aufbauen, den wir innerhalb der NATO angeregt haben und der ganz maßgeblich von Thomas de Maizière, einem Mitglied dieses Hauses, zusammen mit einem amerikanischen Kollegen geleitet wurde und in dem viele, viele Vorschläge gemacht wurden, die uns in der NATO noch lange beschäftigen werden.
Beim EU-US-Gipfel wird nicht zuletzt über die Einrichtung eines gemeinsamen Handels- und Technologierates verhandelt und hoffentlich auch eine Lösung gefunden werden. Auch das ist ein Thema, für das wir uns in der Vergangenheit immer starkgemacht haben.
Im Kern wird es auch bei diesen Themen, insbesondere bei den Handelsthemen, darum gehen, von gegenseitigen Zöllen und Sanktionen wegzukommen und hinzukommen zu gemeinsamen Antworten auf die drängende Frage „Wie kann man freien Handel besser mit Umwelt- und Sozialstandards verbinden?“. Das ist ja die Diskussion, die auch gesellschaftlich immer wieder geführt wird, wenn wir über Freihandelsabkommen diskutieren. Letztlich haben die G-7-Finanzminister beim Thema „globale Mindeststeuer“ letzte Woche ja bereits einen Durchbruch geschafft, auf den wir schon lange gewartet haben.
Schließlich begrüßen wir auch die Bereitschaft von Präsident Biden zu einem Treffen mit Präsident Putin am 16. Juni in Genf. Wir haben gegenüber Russland in den letzten Jahren immer einen klaren Kurs vertreten, der auf größere Resilienz, aber zugleich eben, so wie das auch hier in der Debatte dankenswerterweise immer wieder gesagt wurde, auf die Fortsetzung des offenen Dialoges selbst in schwierigstem Fahrwasser setzt. Das wird auch in Zukunft so sein. Ich glaube, dass das Treffen auf dieser Ebene dazu beitragen kann.
Dass es anscheinend zwischen den USA und Russland Möglichkeiten gibt, sich auch schnell zu verständigen, hat man zum Beispiel daran gesehen, dass, wenige Tage nachdem Joe Biden im Amt gewesen ist, der New-START-Vertrag auf der Basis einer Verständigung verlängert wurde, die sehr schnell erreicht wurde. Wir hoffen darauf, dass es in der Folge von Genf zu weiteren substanziellen Absprachen kommt. Wir erwarten dabei, zusammen mit anderen Partnern eng eingebunden zu sein; denn letztlich geht es bei der nuklearen Rüstungskontrolle auch um die Sicherheit Europas.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die amerikanische Regierung bei all diesen Themen – das ist die Erfahrung aus den letzten Monaten – ganz besonders auch auf die Zusammenarbeit mit Deutschland setzt, das eröffnet uns neue Gestaltungsmöglichkeiten, und wir werden sie nutzen, etwa indem wir uns in strategischen Fragen wie dem Umgang mit China noch enger abstimmen werden. Dass wir dabei möglicherweise nicht immer eins zu eins auf einer Linie liegen, das wird niemanden überraschen.
Die gute und enge Zusammenarbeit – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – zeigt sich nicht zuletzt auch in dem amerikanischen Beschluss, Sanktionsentscheidungen in Sachen Nord Stream 2 auszusetzen, und zwar ganz ausdrücklich – so hat es der Präsident selbst gesagt –, um das Verhältnis mit Deutschland als Freund und Verbündetem nicht weiter zu belasten.
Herzlichen Dank.
Die erste Frage stellt der Kollege Armin-Paul Hampel, AfD.
Danke sehr, Herr Präsident. – Herr Bundesaußenminister, Sie sind ja noch verhältnismäßig jung in diesem Amte. Ich habe die letzten 30 Jahre meines Lebens die Außenpolitik verfolgt und will Ihnen eine kleine Übersetzungshilfe geben.
Ich habe die Äußerung des US-Außenministers gehört, dass nach Ihren Gesprächen in den USA zu Nord Stream 2 Deutschland nun am Verhandlungstisch angekommen sei: Das ist an sich, auf Deutsch übersetzt, auf diplomatischem Niveau so ungefähr das niedrigste Level an Geringschätzung, das Sie erreichen können. Meine Frage ist: Wie interpretieren Sie denn die Äußerung von Herrn Blinken, Sie seien dank der Würde des amerikanischen Außenministers jetzt bei diesem deutsch-russischen Projekt am Verhandlungstisch angekommen?
Ich habe gerade vor Kurzem noch mal mit Tony Blinken telefoniert, auch über dieses Thema. Wir sind beide sehr froh darüber, dass wir über dieses Thema sprechen. Das ist übrigens genau das, was die deutsche Bundesregierung auch in den letzten Jahren immer wieder gesagt hat: dass nicht weniger Sanktionen verhängt werden sollen, sondern dass man zusammen über die schwierigen Fragen bei Nord Stream 2 sprechen sollte: Was bedeutet das für die Ukraine? Was bedeutet das für Länder in Mittel- und Osteuropa? – Das tun wir jetzt. Das ist ganz hervorragend. Ich bin sehr froh, dass das gelungen ist.
Sie haben meine Frage nicht beantwortet, wie Sie die Äußerung interpretieren, Sie seien am Verhandlungstisch angekommen.
Aber Herr Blinken hat Ihnen ja schon so ein bisschen den Weg gewiesen, wie man das Problem vom Eis kriegen könnte. Wenn ich das richtig interpretiere: Die möglichen Ausfälle für die Ukraine durch weniger Gastransfers durch Ihre Pipeline erzeugt in Kiew ein Milliardendefizit. – Wenn ich Herrn Blinken richtig interpretiere, hat er uns schon dafür ausersehen, dass wir mögliche Ausfälle der Ukraine dann finanziell entschädigen sollen.
Wahrscheinlich verfügen Sie über intensive Beziehungen zu dem amerikanischen Außenminister.
({0})
Mir hat er das in der Form noch nicht mitgeteilt. Aber wenn er es Ihnen mitgeteilt hat, bin ich dankbar für den Hinweis. Ich werde das auch in der Bundesregierung weiterverbreiten.
({1})
Der Kollege Alexander Graf Lambsdorff hat eine Nachfrage dazu.
In diesem Zusammenhang, Herr Minister: Der außenpolitische Berater der Bundeskanzlerin, der wirtschaftspolitische Berater der Bundeskanzlerin und ihre Staatssekretärin waren kürzlich in Washington und haben mit Sullivan, Bernstein und anderen exakt zu diesem Thema gesprochen. Würden Sie den Bundestag darüber informieren, was dort besprochen worden ist und was uns die Amerikaner vorgeschlagen haben?
In der Tat ist es ja so, dass jetzt, wo die erste Röhre von Nord Stream 2 fertig ist, Wladimir Putin in Sankt Petersburg bereits die geopolitische Dimension des Projekts deutlich gemacht hat. Er hat gesagt: Wenn die Ukraine weiter Gastransit will, muss sie sich so verhalten, wie wir uns das in Moskau wünschen. – Das ist genau das, was die Amerikaner uns ja immer vorgehalten haben. Also, was ist dort besprochen worden mit Frau Leendertse, Herrn Röller und Herrn Hecker?
Herr Abgeordneter, es sind die Themen besprochen worden, die ich bereits eben erwähnt habe. Es wird im Übrigen diese Woche in diesem Kreis eine erneute Videokonferenz geben, und wir wollen die Themen weiter sehr engmaschig besprechen. Wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem ich Lösungen verkünden könnte; aber es geht tatsächlich um die Auswirkungen von Nord Stream 2 auf die Ukraine.
Wie Sie wissen, haben wir einen Gastransitvertrag zwischen der Ukraine und Russland versucht mitzuverhandeln. Den gibt es; der ist aber zeitlich befristet. Es stellt sich die Frage, ob der nicht auch entfristet werden kann, um der Ukraine mehr Planungssicherheit zu geben.
Es geht insbesondere darum: Wie Sie wissen, sind wir seit einiger Zeit sehr darum bemüht, in der sogenannten Drei-Meere-Initiative Fuß zu fassen, in der die Vereinigten Staaten zusammen mit mittel- und osteuropäischen Ländern über viele Konnektivitäts-, aber auch Energiefragen sprechen. Wir könnten uns vorstellen, uns auch dort stärker einzubringen, und zwar auf der Basis unterschiedlicher Projekte, die jetzt auch noch nicht spruchreif sind.
Diese Gespräche haben mit dem ersten Termin in Washington begonnen. Sie werden jetzt auf Videokonferenzebene fortgesetzt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir bis zum August – das ist der Zeitraum, bis in den USA dem Senat der nächste Bericht vorgelegt werden muss – sehr konkrete Ergebnisse erzielen werden. Sobald sie vorliegen, werden wir den Bundestag darüber umgehend informieren.
Der Kollege Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen, hat eine weitere Nachfrage.
Herr Außenminister, Sie haben jetzt die Chance verpasst, die Ihnen Herr Lambsdorff gegeben hat, sich hier mit einer Bewertung zu Putins Äußerung noch mal eindeutig und klar zu verhalten, die geopolitische Dimension dieser Äußerung anzusprechen und vielleicht auch deutlich zu machen, dass die Bundesregierung auch nach 2024 den Transport relevanter Gastransitmengen durch die Ukraine befürwortet und von der russischen Seite verlangt. Ich wollte Ihnen einfach die Chance geben, das jetzt hier mit ein bisschen mehr Redezeit nachzuholen.
Herr Sarrazin, das ist wie immer sehr freundlich von Ihnen. Herzlichen Dank dafür. – Ich finde aber, das ergibt sich auch aus der Antwort, die ich gerade gegeben habe: Wir haben uns darum bemüht, dass es überhaupt einen Gastransitvertrag zwischen Russland und der Ukraine gibt.
Die Bundeskanzlerin hat gegenüber dem russischen Präsidenten sehr deutlich gemacht, dass das für sie eine Voraussetzung dafür ist, dass das Nord-Stream-2-Projekt wie geplant fortgesetzt werden kann. Das heißt, dem ist dann auch Genüge getan worden. Wir können uns ebenso vorstellen, darüber Gespräche zu führen, dass dieser Transitvertrag über die Laufzeit, die er bisher hat, weiter verlängert wird, weil wir wollen, dass Gas auch langfristig durch die Ukraine transferiert wird, weil das aus wirtschaftlichen Gründen für die Ukraine außerordentlich bedeutsam ist.
Ich würde mal sagen: Wir gehen – Sie haben auf die Ausführungen von Präsident Putin angespielt, dass wohlfeiles Verhalten der Ukraine Voraussetzung dafür ist, dass dieser Vertrag auch eingehalten wird – grundsätzlich mal davon aus: Pacta sunt servanda. – Aber wer sich auf diese Ebene begibt, der muss natürlich auch damit rechnen, dass er die Voraussetzungen dafür schafft, dass man bei Projekten mit anderen Pipelines ähnlich darüber nachzudenken beginnt, ob man aufgrund von politischen Entscheidungen oder politischem Fehlverhalten ein entsprechendes Projekt oder ein bereits in Betrieb genommenes Projekt möglicherweise noch einmal komplett unter die Lupe nehmen müsste. Ich glaube, das ist nicht im Interesse der Russischen Föderation. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir die Voraussetzungen schaffen können, langfristig Gas auch durch die Ukraine zu leiten.
Die nächste Frage stellt der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir freuen uns – Herr Minister, das haben Sie eben schon gesagt – auf den Besuch des amerikanischen Präsidenten in Europa aus Anlass einer ganzen Reihe von Gipfeltreffen. Eines der wichtigsten ist ganz sicher das Treffen der G 7. Bei diesem Anlass wollen die Vereinigten Staaten – das war bereits nachzulesen – das nationale „Build Back Better“-Projekt globalisieren, unter dem Titel „Build Back Better World“. Das ist aus Sicht der Fraktion der Freien Demokraten eine gute Idee. Denn worum geht es? Es geht darum, dem schädlichen Einfluss Chinas mit seiner „Belt and Road“-Initiative in zahlreichen Weltregionen etwas entgegenzusetzen.
Aus Ihrem Haus – das war im „Handelsblatt“ nachzulesen – gibt es dazu auch Ideen und Anregungen, insbesondere die, der Europäischen Investitionsbank eine zentrale Rolle bei der Entwicklungsfinanzierung einzuräumen, damit wir europäisch einen eigenen Beitrag leisten, also eine europäische Investitions- und Klimabank global aufzustellen.
Meine Frage an Sie ist – erstens –: Was erwarten Sie ganz konkret, was die Umsetzung betrifft? Wie realistisch sehen Sie das?
Zweitens. Was erwarten Sie von der Europäischen Kommission?
Drittens. Hat die Bundesregierung sich im Board of Governors der Europäischen Investitionsbank bereits dazu geäußert und dort eine Initiative unternommen?
Zu Letzterem. Das ist noch nicht der Fall, weil wir das zurzeit noch innerhalb der Bundesregierung abstimmen. Wir sprechen auch mit unseren europäischen Partnern darüber, weil wir die Initiative von Präsident Biden grundsätzlich unterstützen. Das ist auch auf dem G-7-Außenministertreffen vor einigen Wochen in London bereits ein Thema gewesen. Nachdem es auch dort eine grundsätzliche Übereinstimmung gegeben hat, haben wir uns darauf verständigt, dass wir jetzt darangehen, diese Dinge zu konkretisieren. Wir brauchen auch konkrete Vorschläge. Diese sollen auf dem G-7-Gipfel besprochen, diskutiert und womöglich und hoffentlich auch beschieden werden.
Ganz grundsätzlich sind wir uns darüber einig, dass wir uns nicht mehr darüber aufregen müssen, was China tut und wie China versucht, mit wirtschaftlichen und finanziellen Mitteln auch geopolitisch seinen Einfluss zu mehren. Wir müssen Alternativen schaffen; das gilt etwa für Afrika, für Südeuropa, das gilt für Lateinamerika, und das gilt auch für den Indo-Pazifik.
Das ist die Arbeit, die wir uns vorgenommen haben. Was Sie genannt haben, ist ein Instrument, bei dem wir der Auffassung sind, dass es dabei helfen kann.
({0})
Bitte, gern.
Noch mal ganz konkret: Es war zu lesen, dass es sehr viel Kritik an der Antwort der Europäischen Kommission auf Ihren Brief, den Sie gemeinsam mit zwei Kabinettskollegen geschrieben haben, gab. Worin besteht konkret die Kritik an der Kommission?
Zweite Frage. Ich stelle fest, dass wir uns einig sind, dass so ein europäischer Beitrag sinnvoll ist. Können Sie mir erklären, warum die regierungstragenden Fraktionen einen solchen Antrag meiner Fraktion erst vor Kurzem in diesem Haus abgelehnt haben?
Nein, das kann ich Ihnen nicht erklären; aber das werden die Regierungsfraktionen sicherlich tun können. Die Kommission will sich hinsichtlich des Themas, das Sie angesprochen haben, mit anderen Mitgliedstaaten weiter abstimmen. Das ist bisher noch nicht so umfassend möglich gewesen.
Ganz grundsätzlich haben wir aber die Hoffnung, dass wir in den Gesprächen mit der Kommission dafür ein positives Umfeld schaffen, was allerdings im Moment noch nicht in dem Umfang der Fall ist, wie wir uns das gewünscht hätten; das ist richtig.
Dazu hat der Kollege Hampel, AfD, eine Nachfrage. Und dann der Kollege Trittin.
Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, ich war bei der Rede in Sankt Petersburg anwesend. Putin hat dort nicht von einer geopolitischen Dimension gesprochen, er hat sogar konkret auf die wirtschaftliche Perspektive der Nord-Stream-2-Leitung hingewiesen. Er hat gesagt: Es ist für Deutschland wie für Russland ein Projekt, das unter rein wirtschaftlichem Nutzen zu sehen ist. Erstens: Das Gas ist billiger. Zweitens – für die Klimafreunde –: Es wird auch noch in einer Art und Weise gefördert, die im Gegensatz zum Fracking in den USA sehr viel umweltweltschonender ist.
({0})
Sie haben jetzt noch mal die Ukraine bewertet. Der Präsident hat ja auch ausgeführt: Wenn die Ukraine ihre Verträge einhält – 40 Milliarden Kubikmeter Gas sollen transportiert werden –, geht es weiter. Noch mal konkret: Wenn dies aus irgendwelchen Gründen, die vielleicht die Ukraine zu verantworten hat, nicht der Fall ist, wird sich die Bundesregierung dagegen wehren, dass sie eventuelle Ausfallkosten der Ukraine begleicht?
Das ist bisher von niemandem an mich herangetragen worden. Ich gehe auch nicht davon aus, dass das der Fall ist.
Wir gehen davon aus, dass die Ukraine selber ein großes Interesse daran hat, die Voraussetzungen zu schaffen, also ihren Teil des Vertrages einzuhalten, weil sie pro Jahr Milliardenbeträge dafür bekommt. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass die Ukraine ein Problem ist, wenn es darum geht, dass beide Seiten ihrer Vertragserfüllung gerecht werden.
Der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen, hat eine weitere Nachfrage.
Herr Bundesminister, im Anschluss an die Frage vom Kollegen Lambsdorff: Build Back Better ist ein komplett kreditfinanziertes Programm. Wenn das jetzt globalisiert und verstetigt werden soll: Glauben Sie, dass mit dieser Überlegung innerhalb der Europäischen Union die Vorstellung, dass die Anleihe, die man für den Recovery Fund aufgelegt hat, eine Ausnahme ist? Oder sehen Sie nicht vielmehr die Notwendigkeit, dass Europa wie auch die USA, wenn sie in diesen Wettbewerb mit China treten wollen, diese Programme auch künftig über Anleihen – sprich: kreditfinanziert – machen müssen und dass dafür die Potenziale der Europäischen Investitionsbank schlicht und ergreifend nicht ausreichen?
Sie wissen, dass es dazu beim Wiederaufbauprogramm innerhalb der Europäischen Union eine intensive Diskussion gegeben hat, auch innerhalb der Bundesregierung. Wir sind der Auffassung gewesen, dass diese Möglichkeiten genutzt werden sollten. Das haben Deutschland und Frankreich auch in einem gemeinsamen Papier, das die Grundlage des Kompromisses innerhalb der Europäischen Union gewesen ist, vorgeschlagen.
Inwieweit man darauf aufsetzen kann, aus der Ausnahme heraus eine weitere Ausnahme zu genehmigen – ich glaube nicht, dass es darum geht, den Regelfall daraus zu machen –, darüber wird zu sprechen sein. Es wird innerhalb der EU auch mit den anderen Mitgliedstaaten darüber zu sprechen sein, ob diese Einigung in Ihrem Sinne oder so, wie ich es Ihren Worten entnommen habe, zu erzielen ist. Das, glaube ich, wird keine einfache Diskussion innerhalb der Europäischen Union sein. Wir haben dies auch abschließend innerhalb der Bundesregierung noch zu besprechen. Ich glaube aber, dass man sich dieser Diskussion zumindest öffnen müsste.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Heike Hänsel, Die Linke. – Oh, ich habe Herrn Schraps übergangen; aber der kommt nachher.
Ja, Ladies first. – Danke schön, Herr Präsident.
Er wird’s überleben.
Deutschland ist im Bereich der Abrüstung – obwohl es im Koalitionsvertrag anders stand, Herr Maas – leider ein Totalausfall. Es liegt weltweit mittlerweile auf Platz 7, was die Ausgaben für Militär und Rüstung angeht. Die NATO-Staaten gaben im letzten Jahr insgesamt 1 Billion Dollar für Rüstung aus.
Nun gibt es einen Vorschlag von den Friedensforscherinnen und ‑forschern der Friedensinstitute im Rahmen des diesjährigen Friedensgutachtens, nämlich eine sogenannte Coronafriedensdividende zu schaffen. Es geht darum, massiv abzurüsten, im Bereich der Militär- und Rüstungsausgaben einzusparen, um die für die Bekämpfung der Pandemie und ihrer sozialen Folgen dringend benötigten globalen Mittel freizusetzen. Wir reden hier ja auch schon über die Kürzung von Renten durch Erhöhung des Rentenalters usw. – es geht also um die soziale Frage –, um aus der Krise herauszukommen. Unterstützen Sie die Idee einer Coronafriedensdividende durch massive Abrüstung und Einsparung im Rüstungsbereich?
Deutschland hat bei der Pandemiebekämpfung auch international eine führende Rolle übernommen, insbesondere wenn es darum ging, ausreichende Finanzmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Wir sind in der internationalen Impfstoffinitiative Covax nach den USA der zweitgrößte Geber. Wir haben im Übrigen – auch dank der Entscheidung des Bundestages – unser humanitäres Engagement ausweiten können. Es stehen in unserem Haushalt mittlerweile über 2 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung. Der Bedarf ist in der Pandemie noch einmal größer geworden.
Man sieht, dass Deutschland ein Land ist, das zum Glück in der Lage ist, die Herausforderungen, vor die die Pandemie uns gestellt hat, auch finanziell zu schultern, ohne dass wir unsere Verpflichtungen, die wir innerhalb der NATO eingegangen sind, außer Kraft setzen müssen.
Das sehe ich aber völlig anders. Sie wissen genau: Wir haben einen Rückgang an Steuereinnahmen, wir haben enorme Verschuldung. Insofern ist dieser aufgeblähte Rüstungshaushalt angesichts der sozialen Herausforderungen eigentlich nicht tragbar.
Meine Frage geht aber auch noch in Richtung atomare Abrüstung. Da hatten Sie sich im Rahmen des Koalitionsvertrages viel vorgenommen. Davon hat man nichts gesehen. Nun gibt es eine neue Umfrage, die zeigt, dass fast 60 Prozent der Bevölkerung die Stationierung der US-Atomwaffen in Deutschland ablehnen.
Meine Frage ist: Wird die Bundesregierung endlich dieser Herausforderung gerecht, und wird sie den Atomwaffenverbotsvertrag, der eine so wichtige Initiative im Rahmen konkreter nuklearer Abrüstung ist, nicht länger blockieren? Dieser Vertrag steht übrigens nicht im Gegensatz zum Nichtverbreitungsvertrag, wie Sie es gerne sagen, Herr Maas. Ein Gutachten des Deutschen Bundestages vom Januar hat festgestellt, dass sich diese Verträge ergänzen und konkrete Schritte für atomare Abrüstung beschreiben.
Werden Sie die US-Atomwaffen aus Deutschland abziehen?
({0})
Ich glaube, dass das im Laufe dieser Legislaturperiode nicht mehr der Fall sein wird. Wir haben eine Vielzahl von Abrüstungsinitiativen gestartet. Wir haben zusammen mit 16 anderen Ländern die Stockholm-Initiative gegründet, bei der wir auf unterschiedliche abrüstungspolitische Themen eingegangen sind.
Dabei sind wir im Übrigen nicht nur auf atomare Fragen eingegangen, sondern auch auf ein Thema, das, wie ich finde, von immer größerer Bedeutung ist, nämlich die Frage, wie es mit neuen Technologien aussieht: autonome Waffensysteme, Killerroboter, aber auch die Möglichkeiten, die die Cybertechnik bietet. Dafür gibt es insgesamt kein ausreichendes internationales Reglement.
Grundsätzlich wünschen wir uns – das haben wir unseren amerikanischen Partnern auch gesagt –, wenn es zu dem Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin kommt, dass auch das Thema Abrüstung auf der Tagesordnung steht. Wir brauchen die USA und auch Russland, wenn es um atomare Abrüstung gehen soll. Wir haben immer noch kein Nachfolgeinstrument für den INF-Vertrag. Die Tatsache, dass der New-START-Vertrag verlängert worden ist, ist aber schon mal ein guter Anfang.
Wir unterstützen daher alles, was in diesen Zeiten – in den letzten Jahren hat uns kaum eine Initiative im Abrüstungsbereich international weitergebracht – darauf hinausläuft, dieses Thema mit einer neuen amerikanischen Administration wieder auf die Tagesordnung zu setzen, und was dafür sorgt, dass es in den kommenden Jahren wieder effektiv zu Abrüstungspolitik und auch zu entsprechenden Entscheidungen kommt.
Jetzt hat die Kollegin Kathrin Vogler noch eine Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Außenminister, Sie hatten gerade über die Unterstützung von Deutschland für das Programm Covax gesprochen, das die ärmsten Länder der Welt, eigentlich alle Länder der Welt mit Impfstoffen versorgen soll.
Nun gibt es in Vorbereitung auf den G-7-Gipfel auch die Forderung, beispielsweise von UNICEF, dass die G-7-Länder, die sich große Mengen an Impfstoffen gesichert haben, die noch nicht zum Einsatz gekommen sind, einen Teil dieser Kapazitäten zur Verfügung stellen, damit in den ärmsten Ländern der Welt die Impfprogramme überhaupt Fahrt aufnehmen können, was aufgrund der Lieferprobleme, die durch den Ausfall von Indien als großem Lieferanten entstanden sind, wirklich dringend ist.
Wie stellt sich die Bundesregierung dazu? Werden Sie dazu auf dem G-7-Gipfel eine entsprechende Initiative starten?
Zunächst haben wir uns vorgenommen, dass das bisher avisierte Ziel, nämlich 20 Prozent der Weltbevölkerung über Covax mit Impfstoff zu versorgen, erhöht wird auf 30 Prozent. Das macht es notwendig, die Initiative mit mehr Geld auszustatten. Wenn sich alle in dem Umfang beteiligen würden, wie das bei Deutschland der Fall ist, wären wir schon längst da. Wir sind aber bereit, auch unsere Finanzzuführungen noch einmal anzupassen.
Nach den Zahlen, die mir vorliegen, werden wir in Deutschland ab dem dritten Quartal möglicherweise in die Situation kommen, überschüssigen Impfstoff zu haben. Dann wird darüber zu entscheiden sein, wie man damit umgeht. Die Haltung der Bundesregierung war immer die, dass es sich um eine globale Herausforderung handelt, und dass wir alle in Deutschland erst dann sicher sein werden, wenn auch alle um uns herum sicher sind. Deshalb würde ich es nicht ausschließen, dass überschüssiger Impfstoff im dritten und vierten Quartal dieses Jahres von der Bundesregierung auch für andere Länder zur Verfügung gestellt wird.
Jetzt aber kommt der Kollege Johannes Schraps, SPD, mit der nächsten Frage.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich denke, ich werde es trotz der Zurückstellung noch pünktlich in den Europaausschuss schaffen. – Sehr geehrter Herr Minister, ich möchte gern nach der Situation der politischen Gefangenen in Belarus fragen. Viele Kolleginnen und Kollegen hier im Haus haben über fast alle Parteigrenzen hinweg entweder schon seit vielen Jahren über das Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ oder seit dem Spätsommer letzten Jahres, nach den gefälschten Wahlen in Belarus, Patenschaften für politische Gefangene in Belarus übernommen. Auch ich habe eine Patenschaft übernommen, und zwar für Pavel Yukhnevich, der in der Europäischen Bewegung Belarus engagiert war und der seit letztem Herbst in Gefangenschaft sitzt.
Mit der vom belarussischen Regime als „Verhaftung“ betitelten Entführung des oppositionellen Bloggers Roman Protassewitsch nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Flugzeugs in Minsk hat sich die Situation auch für alle anderen politischen Gefangenen in Belarus ganz offensichtlich noch mal verschärft. Viele Kolleginnen und Kollegen hier im Haus sind in den letzten Tagen darüber informiert worden, dass teilweise langjährige Haftstrafen gegen politische Gefangene, für die wir die Patenschaft übernommen haben, verhängt wurden.
Ich möchte gern danach fragen, welche Anstrengungen die Bundesregierung aktuell unternimmt, um zur Freilassung dieser politischen Gefangenen beizutragen und darauf gemeinsam mit den europäischen Partnern zu drängen.
Zunächst will ich sagen, dass ich die Übernahme von Patenschaften ausdrücklich begrüße. Ich möchte das auch keineswegs geringschätzen, obwohl natürlich jeder weiß, dass dadurch unmittelbar nur wenig auszurichten ist. Solche Patenschaften ermöglichen es aber, solche Einzelfälle auf der Tagesordnung zu halten und damit auch das Thema insgesamt.
Wir haben mit unserer Botschaft im Rahmen der Dialogkanäle, die wir in Minsk noch haben, immer versucht, auch bei Einzelfällen auf die dortigen Machthaber einzuwirken. Es gibt aber keinen einzigen Fall, in dem es ein positives Ergebnis gegeben hat. Deshalb glaube ich, dass die Situation politischer Gefangener und die Möglichkeiten für ihre Freilassung insgesamt ein Thema sein muss, dem wir auf der internationalen Bühne mit viel Druck begegnen.
Die Sanktionsentscheidungen, die bisher getroffen worden sind, sind ganz sicherlich noch nicht das Ende der Fahnenstange. Weil wir mit weiteren Provokationen rechnen, werden wir bereits jetzt innerhalb der Europäischen Union weitere Sanktionen im Wirtschaftsbereich, im Finanzbereich vorbereiten, um deutlich zu machen, dass wir nicht nur die Dinge, die im Zusammenhang mit einem Ryanair-Flug geschehen sind, nicht akzeptieren, sondern auch die Situation politischer Gefangener.
Wir selber haben im Übrigen für Menschen, die bedroht sind, ein Programm aufgelegt – ich nenne nur noch die Zahlen, Herr Bundestagspräsident –, von denen mittlerweile schon 20 Bedrohte Gebrauch gemacht haben. Sie sind mit ihren Familien nach Deutschland gekommen und haben dafür kurzfristig Visa erhalten. Diese Praxis werden wir fortsetzen und gegebenenfalls noch weiter ausweiten.
Herr Schraps.
Ich möchte gerne noch eine Nachfrage stellen. Wir werden das sicherlich auch als Parlamentarier hier im Haus weiter unterstützen und nicht müde werden, auf die Freilassung der politischen Gefangenen in Belarus zu drängen. Zum Glück sind nicht alle Menschen, die sich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus einsetzen, inhaftiert.
Deshalb meine Nachfrage. Es ist sicherlich schwierig, eine klare politische Linie gegenüber dem Regime zu fahren und gleichzeitig Wege zu finden, wie man die engagierte Zivilgesellschaft unterstützen kann. Lukaschenko verschärft momentan die Ausreisebeschränkungen für die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Wer Belarus auf dem Landweg verlassen will, der braucht eine permanente Aufenthaltsberechtigung in einem anderen Staat; Sie haben das gerade schon angesprochen. Welche Dinge kann die Bundesregierung noch unternehmen, um der Zivilgesellschaft, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus einsetzt, den Rücken zu stärken?
Die Bundesregierung hat schon vor einiger Zeit den „Aktionsplan Zivilgesellschaft Belarus“ in Kraft gesetzt. Dort stehen 21 Millionen Euro zur Verfügung. Darüber wird versucht, freie Medien zu unterstützen, aber auch Zivilorganisationen vor Ort. Es ist in der Abwicklung außerordentlich problematisch, die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, dorthin zu bekommen.
Wir würden uns wünschen, dass von dem Programm noch mehr Gebrauch gemacht werden kann. Allerdings ist die Abwicklung aufgrund der Tatsache, dass in Belarus die Grenzen nahezu komplett dicht gemacht werden, nicht nur physisch, außerordentlich schwierig. Wir versuchen daher, mehr und mehr auf Einzelfälle zu reagieren, indem wir Menschen, die heute bedroht sind, die aber morgen schon Gefangene sein können, mit erleichterten Visabestimmungen in Deutschland aufzunehmen, wenn sie das wollen.
Der Kollege Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen, hat eine Nachfrage.
Herr Minister, ich möchte nachfragen, ob Sie sich als Bundesregierung bei der Vorbereitung dieser Sanktionen auch dafür einsetzen, dass die belarussische Kali- und Erdölindustrie Teil eines möglichen neuen Sanktionspakets werden könnte.
Das ist ein Punkt, der innerhalb der Europäischen Union bereits besprochen wurde und zu dem wir uns positiv verhalten haben.
Danke sehr. – Dann stellt die nächste Frage der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, in Ihrem Eingangsstatement haben Sie den derzeit sehr heiß diskutierten Versöhnungsprozess mit Namibia nicht angesprochen. Ich möchte Ihnen dazu eine Frage stellen.
Im namibischen Parlament hat gestern die Debatte über den Entwurf einer gemeinsamen Erklärung begonnen. Insofern ist das namibische Parlament – das muss man mal so sagen – dem Bundestag einen Schritt voraus, weil wir diese Möglichkeit leider nicht haben.
Es gibt widersprüchliche Signale. Es gibt Personen auch im Umfeld der Regierungsverhandler auf der namibischen Seite, die noch Probleme mit dem Abkommen sehen. Es gibt auch Berichte vom „Tagesspiegel“, dass der Vizepräsident, bei dem ja das Büro des Chefunterhändlers Dr. Zed Ngavirue angesiedelt war, Nangolo Mbumba in Aussicht gestellt hat, dass die Summe von 1,1 Milliarden Euro, die in dem Entwurf stehen, neu verhandelt werden könnte. Aber Ruprecht Polenz, der deutsche Chefunterhändler, meinte, dass das jetzt unterschriftsreif sei.
Das sind so ein bisschen widersprüchliche Angaben. Dazu hätte ich ganz gerne Ihre Einschätzung: Ist es denn so, dass da noch nachverhandelt werden kann, was die Summe angeht, oder nicht?
Die beiden Verhandlungsdelegationen haben den Text einer politischen Erklärung zusammen paraphiert. Das ist etwa vor vier Wochen in Berlin gewesen. Das ist die Grundlage dessen, was dem namibischen Parlament vorgelegt worden ist.
Die finanziellen Zuwendungen belaufen sich auf rund 1,1 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis des Verhandlungsprozesses. Das ist das Ergebnis, das ich auch dem Deutschen Bundestag mitgeteilt habe. Wir haben den Deutschen Bundestag darum gebeten, in der letzten Sitzungswoche dieses Thema auch noch einmal aufzurufen, um in Form einer Resolution dies zu induzieren und auch mitzutragen, genauso wie das im namibischen Parlament jetzt diskutiert wird.
Insofern gehen wir davon aus, dass es darum geht, die Erklärung, die paraphiert worden ist, auch zu beschließen, ohne noch einmal in die Verhandlungen einzusteigen. Deshalb bin ich guter Dinge, was die Diskussion, die es in Namibia gibt, angeht. Niemand hat erwartet, dass das eine Diskussion wird, in der alle zu 100 Prozent zustimmen. Wenn ich mir aber anschaue, dass insbesondere bei den finanziellen Fragen von denjenigen, die das kritisiert haben, Beträge von mehreren Hundert Milliarden Euro in den Raum gestellt werden, über die Vereinbarungen abgeschlossen werden müssten, glaube ich, dass das nicht ganz der Realität entspricht.
Wir sind der Auffassung, dass mit dem Text, den wir paraphiert haben, eine gute Grundlage vorliegt, um diese Verhandlungen, die sich über sechs Jahre hingezogen haben, jetzt auch endlich abzuschließen. Wir würden uns sehr freuen, wenn es möglich wäre, dies auch mit den Kolleginnen und Kollegen in Windhuk zügig abzuschließen.
Herr Kollege von Holtz, Nachfrage bitte.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Nur dass da kein Missverständnis entsteht: Ich finde es gut, dass diese Verhandlungen jetzt zu einem Abschluss gekommen sind, und ich finde es gut, dass jetzt etwas vorliegt, was man auch tatsächlich mal diskutieren kann, was vielleicht auch zu den ersten zwei wichtigen Schritten führt, nämlich der Anerkennung, dass das Völkermord war, und der Bitte um Entschuldigung; das sind ja zwei Säulen, die mit Geld nichts zu tun haben. – Nur dass da kein Missverständnis entsteht: Ich finde es gut, dass wir jetzt so weit gekommen sind.
Ich habe nur eine Sorge, was die Akzeptanz in Namibia angeht. Klar, es wird immer Einzelne geben, die das ablehnen. Das ist auch mir bewusst. Aber man müsste ja schon hoffen, dass es eine größtmögliche Akzeptanz gibt. Und wenn selbst in den Reihen derjenigen, die auf der Seite der Regierung verhandelt haben, noch Vorbehalte bestehen, dann wäre es doch sicherlich gut, wenn man diejenigen noch gewinnen könnte. Und deswegen die Frage noch mal an Sie, ob Sie möglicherweise Konsequenzen daraus ziehen, wenn jetzt der Protest anhält oder noch größer wird und auch aus Reihen der Regierungsfraktionen in Namibia Proteste kommen.
Das würden wir mit unseren Partnern in der namibischen Regierung besprechen. Natürlich versucht auch die dortige Regierung, eine größtmögliche gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Ich glaube aber nicht, dass das repräsentativ ist, was es an Kritik gegeben hat. Es ist auch sehr schwer, eine Summe zu benennen, die als angemessen betrachtet wird. Es wird immer die Möglichkeit bestehen, zu sagen: Na ja, es kann auch noch etwas mehr sein.
Wir haben uns an dem orientiert, was nötig wäre, um eine Stiftung langfristig finanziell auszustatten, um Projekte in der Landwirtschaft, des Landkaufes langfristig auf den Weg zu bringen, die etwa 400 000 Menschen und deren wirtschaftlicher Situation zugutekommen. Und dafür ist ein Betrag von 1,1 Milliarden Euro über einen bestimmten Zeitraum, wie wir finden, eine sehr angemessene Summe, mit der alle Projekte, die in den Verhandlungsdelegationen besprochen worden sind, auch finanziert werden können, und zwar nachhaltig und langfristig.
Es gibt zwei Nachfragen zu diesem Thema, einmal von der Kollegin Evrim Sommer, Die Linke, und dann von Herrn Kollegen Brandner, AfD. – Frau Sommer.
Vielen Dank, Herr Präsident. – In dem Zusammenhang möchte ich trotzdem wissen, bezogen auf die Akzeptanz der Vertreterinnen und Vertreter der vom damaligen deutschen Völkermord Betroffenen: Auf welche Weise sind diese Vertreter, also Nachfahren der vom damaligen deutschen Völkermord unmittelbar betroffenen Opfergruppen, an den deutsch-namibischen Regierungsverhandlungen beteiligt gewesen, und wie schätzen Sie die aktuelle Akzeptanz der ausgehandelten Vereinbarungen bei den Opfergruppen in Namibia ein?
Nahezu alle Opfergruppen – zugegebenermaßen nicht komplett alle, aber fast alle – sind in die Verhandlungen einbezogen worden. Sie sind teilweise auch Mitglied der Verhandlungsdelegation gewesen.
Es gibt aber auch Vertreter der Opfergruppen, die den Klageweg bevorzugt haben, die Deutschland in New York verklagt haben. Alle diese Klagen sind abgewiesen worden, und sie sind auch in der Instanz, in der sie vorliegen, jetzt nicht mehr zugelassen worden, sodass wir eigentlich davon ausgehen, dass der Klageweg auch zu keinem Ergebnis mehr führen kann. Aber es ist nun einmal so, dass es andere gibt, die einen anderen Weg, ein anderes Verfahren, bevorzugt haben, weil sie dachten, dass das auf Gerichtsebene entschieden werden kann und damit auch die Finanzfragen gerichtlich geklärt werden. Das ist nicht der Fall gewesen; das hat keinen Erfolg gehabt.
Wir haben verhandelt. Der namibische Verhandlungsführer ist selbst ein Herero; die maßgeblichen Opfergruppen sind eingebunden gewesen. Das, was wir zurzeit in Namibia sehen, ist eine Debatte darüber. Sie muss auch stattfinden. Wir haben zu respektieren, wenn es dort kritische Stimmen gibt. Aber wir sind als Bundesregierung nach wie vor der Auffassung, dass wir mit dem Angebot und auch den finanziellen Zusagen, die wir gemacht haben, um verabredete Projekte mittel- und langfristig nachhaltig auszustatten, wirklich jetzt zu einem guten Ergebnis gekommen sind, das wir gerne auch so abschließen würden.
Dann hat der Kollege Brandner noch eine Nachfrage.
Nur um das für mich und die Zuschauer etwas zu erhellen: Ich habe jetzt gerade gehört: Die Verhandlungen wären abgeschlossen. – Ihre einleitenden Worte habe ich auch so verstanden. Dann haben Sie gesagt: Es könnte auch noch etwas mehr sein, nicht ganz so viel, wie gefordert wird. – Das sind diese knapp 500 Milliarden Euro. Deshalb meine Frage: Sind die Verhandlungen abgeschlossen, ja oder nein? Und wenn nicht: Wer verhandelt auf welcher Grundlage nach, und welchen Spielraum sehen Sie da noch?
Und in dem Zusammenhang noch mal die Bemerkung, dass wir als Deutschland ja sehr häufig Reparations- oder anderen Forderungen ausgesetzt sind, sei es aufgrund des Zweiten Weltkriegs, sei es aufgrund des Ersten Weltkriegs, sei es jetzt aufgrund der Kolonialvergangenheit.
({0})
Können Sie uns kurz mal schildern, welche anderen Länder oder Gruppen noch Reparationsforderungen auf welcher Grundlage an Deutschland stellen?
Da der Text einer politischen Erklärung paraphiert worden ist – ich habe darauf hingewiesen –, sind die Verhandlungen auch abgeschlossen.
Sie können der Presse entnehmen, dass es in der Vergangenheit immer wieder Länder gegeben hat, in denen über Reparationen diskutiert wurde. Das gilt etwa für Polen, aber auch für Griechenland. Dazu muss man allerdings sagen, dass das mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun hat; denn dieser Abschluss ist ausschließlich einer auf freiwilliger Basis. Es gibt keine Rechtsgründe, aufgrund derer diese Zahlung geleistet oder in Aussicht gestellt wird. Insofern ist es auch nicht vergleichbar mit dem Reparationsthema an sich.
Die nächste Frage stellt der Kollege Siegbert Droese, AfD.
Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Außenminister, ich möchte auf die Östliche Partnerschaft zu sprechen kommen. Wir sind der Meinung, dass dort eine Neubewertung vorzunehmen wäre, idealerweise unter dem Leitgedanken „Kooperation statt Konfrontation“. Sie selber waren vor gar nicht so langer Zeit noch mit Äußerungen bezüglich Russlands zu vernehmen – man hat das von Ihnen gehört –, dass auch die Beziehungen zu Russland einer Überprüfung unterzogen werden sollten und gegebenenfalls eine Neuausrichtung vorgenommen werden sollte. Ich möchte anmerken, dass die Östliche Partnerschaft natürlich ohne die Berücksichtigung vitaler Interessen Russlands sicherlich nicht neu zu gestalten ist. Konkrete Frage: Wie ist der aktuelle Standpunkt Ihres Hauses in der Frage der Östlichen Partnerschaft?
Die Östliche Partnerschaft ist eines der wesentlichen Projekte, die wir zusammen mit anderen vorantreiben. Es geht, wenn es um Neubewertungen geht, dort im Wesentlichen um die Frage, wie wir uns gegenüber Belarus verhalten.
Was Russland betrifft, vertritt die Bundesregierung die Auffassung, die eben hier auch bei der Debatte zum 80. Jahrestag des Angriffes auf die Sowjetunion von nahezu allen, wenn ich mich richtig erinnere, vertreten worden ist, dass man das Dialogfenster offen halten muss. Ich hatte diese Woche ein Telefonat mit meinem russischen Amtskollegen, zusammen mit dem französischen Amtskollegen, wobei wir über Fragen der Region, aber auch insbesondere über die Ukraine gesprochen haben.
Insofern glaube ich, dass wir auch für unsere Russland-Strategie keine grundsätzliche Neubewertung brauchen. Wir haben ein Interesse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen. Allerdings haben wir im Moment den Eindruck, dass man in Moskau nicht in der Weise bereit zu sein scheint, diesen Dialog mit uns zu führen, wie wir uns das selber wünschen würden.
Nachfrage? – Herr Droese.
Sehr gerne eine Nachfrage, Herr Präsident. – Herr Außenminister, der Westen, zu dem ja Deutschland zweifelsohne zählt, hat den sogenannten Arabischen Frühling unterstützt. Das Ergebnis: Krieg, Chaos, Millionen von Flüchtlingen. Der Westen hat ebenfalls die Orangene Revolution in Kiew in der Ukraine unterstützt. Die Ergebnisse sind: an sich genauso viel Korruption und Misswirtschaft wie vorher. Viele Politiker aus der politischen Welt sagen, dass auch Herr Selenskyj mit Sicherheit nicht viel demokratischer ist als seine Vorgänger. Die Frage ist konkret: Ist die Strategie der Einmischung, vielleicht auch mit dem Ziel, einen Regimewechsel, einen Regime Change, herbeizuführen, nicht völlig kontraproduktiv und eigentlich als gescheitert anzusehen? – Danke.
Da wir an derartigen Versuchen gar nicht beteiligt waren, kann ich die Frage auch schlecht beantworten. Wir haben uns nicht in das eingemischt, was beim Arabischen Frühling geschehen ist, sondern wir haben das verfolgt und uns dazu verhalten. Das gilt auch für die Entwicklung in der Ukraine. Wir unterstützen die Ukraine maßgeblich bei allen Reformvorhaben. Dazu gehört vor allen Dingen die von Ihnen erwähnte Bekämpfung der Korruption.
Die Bekämpfung der Korruption ist eines der Reformvorhaben, die es in der ukrainischen Regierung gibt. Der ukrainische Präsident hat bei seiner Wahl vor allem zwei Themen benannt, die ihm wichtig sind. Das eine ist Korruptionsbekämpfung, das andere ist der Frieden im Donbass. Bei beiden Punkten, würde ich mal sagen, ist man noch nicht am Ende des Weges, aber man kann sich der deutschen Unterstützung auch in Zukunft sicher sein.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, nach 20 Jahren Einsatz in Afghanistan verlassen nun die Truppen dieses Land. In diesen Jahren hatten wir aus der heimischen Bevölkerung, von den sogenannten afghanischen Ortskräften, viel Unterstützung als Kulturvermittler, als Dolmetscher und auch als Dienstleister. Gerade die Kulturvermittler und Dolmetscher haben an die Demokratie geglaubt, an die Freiheit ihres Landes, an die Zukunft ihres Landes. Sie haben uns auch unter Lebensgefahr und mit hohem Risiko unterstützt und haben großes Vertrauen in uns. Nun ziehen wir aus Afghanistan ab. Das ist keine Überraschung, aber die Geschwindigkeit ist dann doch eine Überraschung.
Meine Frage an Sie ist: Letzte Woche wurde entschieden, dass die Kulturvermittler, die vor mehr als zwei Jahren die Bundeswehr unterstützt haben, nicht die Möglichkeit haben, nach Deutschland auszuweichen, um der Rache der Taliban zu entgehen. Vielleicht können Sie uns erklären, warum nach mehr als zwei Jahren die Gefahr für sie geringer ist als für die, die jetzt unmittelbar davor sind, nach Deutschland kommen zu können.
Frau Strack-Zimmermann, Frau Abgeordnete, ich will zunächst einmal sagen, dass wir uns der Bedeutung der Entscheidung, die wird hier treffen, bewusst sind. Sowohl das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt als auch das Innenministerium und das BMZ, das ja für viele Mittler verantwortlich ist, sind dazu in einem sehr intensiven Dialog; wir haben auch heute Morgen noch einmal darüber gesprochen. Wir gehen davon aus, dass der Personenkreis, um den es bisher geht, sich auf etwa 2 000 Menschen beläuft. Wir sind dabei auch bereit gewesen, weiter in die Vergangenheit zurückzugehen, teilweise bis in das Jahr 2013.
Wir haben innerhalb des Auswärtigen Amtes das Visaverfahren so gestaltet, dass davon auszugehen ist, dass bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Bundeswehr und andere Streitkräfte Afghanistan verlassen haben, alle Anträge abgewickelt sind, das heißt bis zum 4. Juli. Wir sprechen zurzeit noch einmal darüber, ob wir im Übrigen innerhalb dieses Zeitraumes auch Menschen darüber hinaus die Möglichkeit geben, zu uns zu kommen. Das müssen wir jetzt sehr zügig tun, weil der 4. Juli unaufhaltsam näher kommt. Das ist noch nicht komplett entschieden. Ich würde nicht ausschließen, dass es noch einige Personen zusätzlich geben wird, die die Möglichkeit bekommen, eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zu erhalten.
Frau Präsidentin, Sie erlauben mir eine Nachfrage?
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Vielen Dank. – Herr Minister, es geht da ja wirklich um Lebensgefahr, darum, dass diese Menschen Gefahr laufen, von den Taliban ermordet zu werden. Die Nachfrage geht dahin, inwieweit die Bundesregierung bereit ist, finanziell zu unterstützen, dass eben auch sehr schnell nach Deutschland ausgereist werden kann. Gibt es eine Regelung dahin gehend, dass man gegebenenfalls in Vorleistung tritt? Haben Sie sich damit beschäftigt?
Noch eine weitere Frage. Es ist jetzt eine Lage, in der alle zu uns schauen. Wir sind ja auch in anderen Krisengebieten. Wir werden immer wieder die Unterstützung der dortigen Menschen brauchen. Was bedeutet das für uns, wenn die Bundeswehr diese Hilfe braucht, aber am Ende das Image entstehen könnte: „Ja, die Bundeswehr braucht Hilfe, aber wenn es zum Schwur kommt, dann sind die Deutschen weg“?
Eben. Deshalb haben wir ein eigenes, und zwar ein vitales Interesse daran, auch bei zukünftigen Einsätzen mit den Menschen, die für uns gearbeitet haben, verantwortungsvoll umzugehen. Es wird auch nicht am Geld scheitern, die Menschen rechtzeitig aus Afghanistan rauszubekommen.
Ich will nur mal ein Beispiel nennen. Es ist auch darüber gesprochen worden, Sonderflüge zu organisieren. Allerdings hat man davon Abstand genommen, weil es ganz einfach auch in Afghanistan ein schwieriges Bild abgäbe, wenn Menschen in Afghanistan, jetzt mal unabhängig von der Begründung, die nachvollziehbar ist, sozusagen flugzeugweise das Land verließen, auf der Flucht wären. Deshalb hat uns die afghanische Regierung immer sehr, sehr deutlich gesagt, dass sie das unterstützt, aber dass wir bitte darauf achten sollen, dass kein Eindruck entsteht, der darauf hinausläuft, dass jetzt die große Flucht aus Afghanistan, aus Kabul beginne.
Auch viele Mittlerorganisationen, die weiter dort vor Ort sind, die wir auch vor Ort brauchen werden, haben uns darum gebeten, mit dem Thema so umzugehen, dass in Afghanistan nicht eine Diskussion darüber entsteht, ob es jetzt einen Run darauf gibt, dass möglichst viele das Land verlassen, insbesondere die Kräfte, die dort in den Mittlerorganisationen gebraucht werden. Deshalb haben wir es ja darauf beschränkt, dass nur diejenigen, die unmittelbar für die Bundeswehr gearbeitet haben, von den Angeboten, die wir machen, Gebrauch machen können.
Ich will nur sagen, auch wenn das aus hiesiger Sicht vielleicht schwieriger nachzuvollziehen ist: Wenn in Afghanistan Bilder entstehen, dass immer mehr Menschen das Land verlassen, ist das etwas, was auch zu einer Vertrauenskrise in diesem Land führen kann. Deshalb versuchen wir, den Menschen, die wirklich einer Gefährdung ausgesetzt sind, die nachgeprüft ist, die bewiesen ist, die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, schnellstmöglich zu gewährleisten.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Amtsberg das Wort.
Vielen Dank. – Herr Außenminister, das lässt ja überhaupt tief blicken, was den Umgang der Bundesregierung mit dem Land Afghanistan angeht. Deshalb möchte ich eine Frage dazu stellen, die im weitesten Sinne auch davon berührt ist.
Gestern fand ja wieder eine Sammelabschiebung nach Afghanistan statt. Wir wissen um die Sicherheitslage. Wir wissen, dass die Zahl der Anschläge gerade auch auf Zivile zunimmt. Wir wissen, dass die dritte Welle der Coronapandemie große Schwierigkeiten verursacht, vor Ort das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten.
Deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie unter all diesen Umständen die Fortführung der Sammelabschiebungen, die ja auch mit logistischer Unterstützung des Auswärtigen Amtes geschieht, weiter mit Ihrem Gewissen vereinbaren können. Verbunden damit ist die Frage, ob Sie sich für einen Abschiebestopp nach Afghanistan einsetzen werden – ich glaube, die Lage vor Ort lässt diese Überlegung zu – und ob es einen weiteren Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Lage in Afghanistan geben wird.
Den wird es sicherlich irgendwann geben. – Zu Ihrer einleitenden Bemerkung, das würde ja Bände sprechen, wie wir mit Afghanistan umgehen, würde ich mal einen Besuch in Afghanistan empfehlen, um mit den Verantwortlichen innerhalb der afghanischen Regierung, aber auch vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen dort zu sprechen und ihnen die Frage zu stellen, wie sie das deutsche Engagement über die letzten Jahre in Afghanistan empfinden.
({0})
Ich kann das mit meinem Gewissen vereinbaren. Von den 42 Menschen, die zurückgeführt worden sind, sind 40 Straftäter, die in Deutschland Straftaten begangen haben, teilweise schwerste Straftaten. Insofern glaube ich nicht, dass uns ein Abschiebestopp dort weiterhilft.
Wir haben die Lage in Afghanistan in den Lageberichten beschrieben. Wir werden ganz selbstverständlich, insbesondere nach dem Abzug der internationalen Truppen, den Lagebericht fortschreiben und an das anpassen, was dort geschehen wird, in der Hoffnung, dass das, was viele prognostizieren, dass nämlich das Chaos ausbricht, ausbleibt. Das ist ja ein Grund, weshalb die afghanischen Streitkräfte von der NATO und von unseren Verbündeten in den letzten Jahren dort ausgebildet worden sind.
Eine weitere Nachfrage stellt Dr. Christoph Hoffmann.
Herr Maas, ich will zur ursprünglichen Frage zurückkehren. Wir haben gehört, wie die Hilfskräfte unserer deutschen Soldaten behandelt werden. Aber im Grunde ist die Gefährdung für die Hilfskräfte der Entwicklungshilfe ähnlich. Dort arbeiten Leute in Projekten, zum Beispiel zur Frauen- und Demokratieförderung, die ein Dorn im Auge der Taliban sind. Sie haben dort Projekte diametral zu den Interessen der Taliban betrieben und werden jetzt nicht auf Wohlgefallen der Taliban stoßen.
Halten Sie es für richtig, dass nur für Kräfte, die den Verteidigungskräften geholfen haben, eine privilegierte Ausreisemöglichkeit geschaffen wird? Muss es so etwas nicht eigentlich auch für die Kräfte in der Entwicklungshilfe geben?
Ich will mal sagen: All diese Fragen haben ja zur Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban das Zepter in Afghanistan in der Hand haben werden. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen.
Wir gehen jedoch davon aus – insofern ist das sicherlich richtig –, dass die Kampfhandlungen erst einmal zunehmen werden. Gleichzeitig gibt es aber einen Friedensprozess zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, der ja nicht ausgesetzt worden ist und dessen Erfolg ich auch nicht für unerreichbar halte.
So sehr ich es unterstütze, dass alle die, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und einer unmittelbaren Gefährdungslage unterliegen, jetzt das Angebot bekommen, nach Deutschland zu kommen: Wenn wir diese Regelung auf die Entwicklungshilfeorganisationen ausweiten würden, dann reden wir nicht mehr über 2 000 Menschen, dann reden wir über 20 000 Menschen. Das sähe wie ein Massenexodus aus Afghanistan aus. Was gäbe das für ein Bild in der afghanischen Bevölkerung? Wie sollen wir die über 400 Millionen Euro an ziviler Hilfe, die wir jedes Jahr für Afghanistan zur Verfügung stellen, überhaupt noch dort hinbekommen, wenn die Organisationen dort über kein Personal mehr verfügen?
Wir reden darüber, wirklich jedem, bei dem die Gefährdungslage offensichtlich und anerkannt ist, ein Angebot zu machen, nach Deutschland zu kommen. Ich kann auch verstehen – das ist emotional total nachvollziehbar –, dass Sie das so weit ausweiten möchten, wie es nur geht. Bitte denken Sie aber auch an die Bilder, die dann in Afghanistan entstehen, und an die Vertrauenskrise in diesem ohnehin krisengeschüttelten Land, wenn immer mehr Menschen das Land verlassen.
Deshalb bin ich dafür, das Angebot, das wir gemacht haben, zunächst einmal auf den vorgesehenen Rahmen zu beschränken, nämlich auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter insbesondere der Bundeswehr, und es nicht auf alle zivilgesellschaftlichen Organisationen auszuweiten.
Ich kann Ihnen auch nicht sagen, ob immer unmittelbar eine Gefahrenlage vorliegt. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Taliban, wenn sie in Afghanistan die Macht übernommen haben, sehr wohl ein Interesse daran haben, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, die das internationale Geld verteilen, weiter funktionieren.
({0})
– Entschuldigen Sie, aber ich wollte nur darauf hinweisen, dass es auch eine andere Sichtweise gibt, nämlich auf Konsequenzen in Afghanistan, die ich nicht für positiv halte.
Bevor ich der Kollegin Vogler das Wort zu einer letzten Nachfrage zu dieser Frage gebe, weise ich darauf hin, dass wir noch zehn Minuten Fragezeit haben. Ich bitte also, sowohl bei den Fragen als auch bei den Antworten das optische Signal zu beachten. Wenn es auf Rot springt, ist auch die Antwortzeit beendet.
Bitte, Kollegin Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich noch mal nachfragen, wie die Bundesregierung genau gegenteilige Aussagen bewertet. Als bekannt wurde, dass der Abzug der Militärs jetzt schneller vonstattengehen soll, hat der Leiter der NGO Kinderhilfe Afghanistan, ein ehemaliger Bundeswehroffizier, im Deutschlandfunk nämlich sehr deutlich gesagt, dass das für ihn und seine lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedeutet, dass sie künftig sicherer sein werden und ihre Hilfsarbeit – den Aufbau von Schulen – in größerer Sicherheit vollziehen können, weil sie eben nicht in Verdacht geraten, Teil einer Kriegspartei zu sein oder ihr nahezustehen. Ist das nicht auch ein Aspekt, den man berücksichtigen muss?
Das ist zumindest eine Stimme, die es auch gibt. Es ist außerordentlich schwer, zu prognostizieren, wie sich die Lage in Afghanistan entwickeln wird, wenn die ausländischen Streitkräfte das Land verlassen haben.
Ich habe eben schon mal darauf hingewiesen, dass wir nicht nur die Hoffnung haben, sondern auch den Prozess unterstützen, dass die innerafghanischen Friedensverhandlungen fortgesetzt werden. Wenn das dazu führt, dass auf der Seite der Taliban einzelnen Organisationen gegenüber nicht mehr der Verdacht gehegt wird, dass sie fremden Mächten zuarbeiten, und das zu mehr Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führt, dann ist das sicherlich gut so. Ganz darauf verlassen kann man sich aber sicherlich auch nicht.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Helin Evrim Sommer.
Ich will noch mal das Thema „Die Vereinbarung mit Namibia“ aufrufen und möchte mit meiner differenzierten Frage in Erfahrung bringen, nach welchen Kriterien der zusätzliche Unterstützungsbeitrag von 1,1 Milliarden Euro ermittelt wurde, den Namibia auf 30 Jahre verteilt für den Wiederaufbau und die Versöhnung mit Deutschland erhalten soll. Wieso sind es 30 Jahre? Vielleicht können Sie das auch noch mal erläutern. Und inwieweit wurde hierbei auch geprüft, welche materiellen Schäden durch die deutsche Kolonialherrschaft und den Völkermord schätzungsweise insgesamt entstanden sind?
Das ist Gegenstand nicht der Verhandlungen, sondern der Gerichtsverfahren in New York gewesen. Wir haben mit der namibischen Verhandlungsdelegation über Projekte gesprochen, um der Landbevölkerung der Herero und Nama, die in Namibia marginalisiert ist, wirtschaftliche Hilfen zukommen zu lassen. Dabei geht es um die Bereiche Bildung, Landwirtschaft – weil das ein landwirtschaftlich sehr exponierter Bereich ist – und Landkauf.
Bei den Projekten geht es uns darum, sie langfristig zu finanzieren, also über einen Zeitraum von 30 Jahren. Um diese Projekte über diesen Zeitraum auch operationalisieren zu können, sind wir auf diesen Betrag von 1,1 Milliarden Euro gekommen – und nicht nur wir, sondern vielmehr zusammen in den Verhandlungsdelegationen. Ich selber habe drei Telefonate mit der namibischen Kollegin dazu geführt, und das ist das Ergebnis, das jetzt vorliegt. Wir werden alles daransetzen, dass das auch Gegenstand einer gemeinsam unterzeichneten politischen Erklärung wird.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Ja. – Als Sie die Vereinbarung auf der Pressekonferenz vor einer Woche öffentlich gemacht haben, haben Sie auch gesagt, dass diese Vereinbarung keinen Schlussstrich bedeute, was ich sehr richtig und wichtig finde. In diesem Zusammenhang will ich dennoch fragen: Wie sieht denn die deutsche Gedenkpolitik dann aus? Wie wird das in die Gedenkpolitik in Deutschland eingebettet?
Es wird eine gemeinsame Stiftung geben, die auch aus diesen Mitteln finanziert und langfristig unterhalten werden soll. Diese Stiftung soll die Gedenkarbeit leisten; das heißt mit Ausstellungen, mit Austauschen, auch Jugendaustauschen, mit den unterschiedlichsten Möglichkeiten, die es heute in der Erinnerungsarbeit gibt, sicherlich auch mit Publikationen, die sowohl in Namibia als auch in Deutschland vertrieben werden sollen. Der Nukleus dieser Gedenk- und Erinnerungsarbeit soll die Stiftung werden, die, wie gesagt, auch aus diesen Mitteln finanziert wird.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege von Holtz das Wort.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie sagten vorhin, dass sich die Projekte darauf beziehen, die Landbevölkerung der Herero und Nama zu unterstützen.
({0})
Wenn man in den Entwurf dieser gemeinsamen Erklärung guckt, dann sieht man, dass da sieben Regionen, also Regions genannt, sind, unter anderem die Region Khomas, die zum Beispiel auch die Hauptstadt Windhuk beinhaltet. In dieser Region leben ja sehr viele Menschen, die eben keine Herero oder Nama sind – gerade auch in der Stadt Windhuk. Die Frage ist jetzt: Wie wird sichergestellt, dass am Ende tatsächlich auch die Nachfahren bzw. Angehörigen der Opfergruppen in den unmittelbaren und – ich sage es mal so – spürbaren Genuss der Projekte kommen, auch wenn sich das offensichtlich auch auf Regionen erstreckt, die eben nicht schwerpunktmäßig von Herero und Nama bewohnt sind?
Die Regionen, die festgelegt worden sind, sind natürlich auch auf besonderen Wunsch der namibischen Seite festgelegt worden, und zwar aufgrund der Notwendigkeiten, die man dort gesehen hat. Dass die Mittel dort auch zielgerichtet ankommen, daran wird jetzt zusammen mit der namibischen Seite bei der praktischen Umsetzung zu arbeiten sein. Wir glauben, dass wir auch mit Organisationen wie der GIZ dabei durchaus behilflich sein können, also einzelne Projekte auch mitorganisieren oder mit deutschen Organisationen operationalisieren können. Damit haben wir natürlich auch die Möglichkeit, zusammen mit der namibischen Seite steuernd einzugreifen.
Aber das sind tatsächlich Fragen, die jetzt auf uns zukommen werden. Ehrlich gesagt, im Moment wäre ich schon ausreichend glücklich, wenn es uns gelingt, das Thema einmal grundsätzlich abzuschließen: mit der Erklärung, mit der Bitte um Vergebung, mit der Akzeptanz der Summe und mit den vereinbarten Projekten, die uns dann sehr, sehr lange beschäftigen werden, die aber auch die Grundlage dafür sind, dass sich das durch dieses Thema immer belastete Verhältnis zwischen Deutschland und Namibia endlich einmal verbessern wird.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege in der Beek.
Herr Bundesminister, erlauben Sie mir, zu dem Themenkomplex auch noch eine Frage zu stellen, und zwar: Wie soll denn jetzt das Ganze vollendet werden? Wir hörten, dass gerade in Namibia im Parlament diskutiert und debattiert wird. Wann wird das eigentlich im Deutschen Bundestag debattiert? Wird das Parlament überhaupt mit eingeschlossen? Wird das Parlament das sozusagen ratifizieren? Oder wie ist da die Planung der deutschen Bundesregierung?
Wir haben in den letzten Wochen erst einmal versucht, die Obleute in den Fortgang dieser Verhandlungen einzubeziehen. Die Verhandlungen waren alle immer sehr vertraulich. Deshalb ist das für uns ein bisschen schwierig gewesen, weil uns die Namibier gebeten haben, in Deutschland nicht öffentlich über Summen zu sprechen, weil das die Diskussion in Namibia erschwert hätte.
Unser Vorschlag wäre natürlich, dass der Bundestag sich damit befasst. Das ist jetzt kein Vertragswerk, das der Ratifizierung durch das Parlament bedürfte; das ist auch in Namibia nicht so. Man könnte aber zum Beispiel in einer Resolution des Bundestages eine Entscheidung treffen, dass man das, was man dort zusammen mit der namibischen Regierung abgeschlossen hat, unterstützt. Ratifiziert werden im formellen Sinne muss es nicht, aber ich glaube, es gibt in Namibia die Erwartungshaltung, dass sich genauso wie das namibische Parlament auch das deutsche Parlament damit auseinandersetzt und im besten Falle eine unterstützende Entscheidung dazu trifft.
Die wohl letzte Frage in dieser Befragung stellt der Kollege Jürgen Trittin.
Herr Minister, ich möchte gern noch mal auf den Anfang Ihrer Ausführungen, auf das Treffen der G 7, zurückkommen. Gestern hat die Bundeskanzlerin bei der Feier zu 20 Jahren Nachhaltigkeitsrat einen bemerkenswerten Satz zum Thema Klimaschutz gesagt: Was wir bisher gemacht haben, war schlicht zu wenig. – Wenn das jetzt im Mittelpunkt des G-7-Treffens steht, frage ich Sie: Was wollen Sie dort zusätzlich zu dem anbieten, was Ihre eigene Regierungschefin als zu wenig bezeichnet hat?
Es sind ja verschiedene Dinge denkbar. Sie könnten sich überlegen, dem Aufruf der Internationalen Energie-Agentur zu folgen und im Rahmen von Regeln für Green Finance keinerlei Investitionen in fossile Infrastruktur mehr zuzulassen. Sie könnten gemeinsam mit den USA – John Kerry hat das verschiedentlich vorgeschlagen – sagen: Wenn wir unsere Industrie CO2-frei gestalten, dann muss die vor Dumping-Konkurrenz geschützt werden; deswegen lasst uns doch auf so etwas wie ein Cross-Border Adjustment verständigen.
Was sind Ihre Vorschläge für die G 7, um das zu überwinden, was die Kanzlerin als „zu wenig“ bezeichnet hat?
({0})
Was den Dumping-Wettbewerb angeht, schließe ich mich an. Das ist auch die Haltung, die wir innerhalb der Europäischen Union in der Diskussion, die es dazu gibt, vertreten. Das ist auch ein Thema gewesen, das ich mit John Kerry besprochen habe, als er vor zwei Wochen hier gewesen ist. Er hatte dazu noch ein paar eigene Gedanken. Davon müssen wir also auch die amerikanischen Partner überzeugen. Wir wollen die Transatlantische Klimabrücke wiederaufsetzen. Ansonsten ist es mir leider nicht möglich gewesen, die komplette Rede der Bundeskanzlerin zu diesem Thema zu lesen.
({0})
Aber ich bin mir sicher, dass sie auch Vorschläge gemacht hat, die dann auf dem G-7-Gipfel thematisiert werden.
Darf ich noch mal nachfragen?
Sie dürfen nachfragen, bleiben aber dieses Mal bitte in der Zeit.
Herr Bundesminister, ich würde gern konkret nachfragen: Innerhalb der Europäischen Union gibt es ja Streit bzw. einen Auffassungsunterschied darüber, ob auch künftig fossile Infrastruktur aus Mitteln der Europäischen Union finanziert werden soll. Die IEA, die Internationale Energie-Agentur – bekanntermaßen keine grüne Veranstaltung –, plädiert dafür, das zu beenden. Plädieren Sie jetzt dafür, dass auch wir aussteigen aus der Finanzierung zum Beispiel von Gasinfrastrukturen, etwa beim südlichen Gaskorridor, aus der Finanzierung von neuen Flüssiggasterminals und Ähnlichem?
Nein.
Danke.
Bitte.
Danke, Herr Minister. – Ich beende die Befragung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Worum geht es? Laut „Spiegel“ wurden Millionen mangelhafter Masken in China für viel Geld von Gesundheitsminister Spahn eingekauft. Sie sollten, so die Berichterstattung, an Wohnungslose, Behinderteneinrichtungen und Hartz-IV-Empfänger weitergegeben werden. Sollten diese Berichte stimmen, ist der Vorgang an politischer und menschlicher Verkommenheit nicht mehr zu überbieten, um das hier in aller Klarheit auszusprechen.
({0})
– Das wollen wir mal sehen.
({1})
Ich finde es gut, dass die SPD das Ganze kurz vor der Bundestagswahl mit ihrer PR-Abteilung unterstützt; das ist etwas spät, aber immerhin eine späte Erkenntnis.
Jetzt wollen wir, Kollege Ziemiak, darüber sprechen, ob es stimmt oder nicht. Mir liegt ein Schreiben des Sozialministeriums Baden-Württemberg vom 5. Februar 2021 vor, in dem auf die Mangelhaftigkeit der eingekauften Masken aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen wird, dass eigene Untersuchungen und Prüfungen durch die DEKRA veranlasst wurden. Ich möchte aus diesem Schreiben und dem Ergebnis der Prüfung zitieren, damit wir uns der Wahrheit nähern, Kollege Ziemiak. Ich zitiere:
Die Ergebnisse liegen nun weitgehend vor und haben ergeben, dass von 27 getesteten Masken des Lagerbestandes aus der Bund- und Landesbeschaffung 13 nicht den Anforderungen nach EN 149 genügen.
Das ist das Ergebnis der DEKRA-Untersuchung. Die meisten Mängel sind übrigens hinsichtlich der Durchlässigkeit der Masken festgestellt worden. Wer sagt hier, Kollege Ziemiak, eigentlich die Wahrheit? Überlegen wir mal. Ich tippe: Jens Spahn tut es nicht.
Warum komme ich zu dieser Aussage und zu dieser Einschätzung? Ich möchte versuchen, es zu begründen. Dafür gehen wir ein wenig zurück im Verlauf der Pandemie, und zwar zum 20. Oktober 2020. Einen Tag vorher wurde erklärt, dass die Leute bitte in ihren Wohnungen bleiben, sich nicht mehr mit anderen Leuten treffen und schon gar keine Partys feiern sollen; der eine oder andere wird sich daran noch erinnern, vor allem aus der Union. Am 20. Oktober, also einen Tag später, fährt der Bundesgesundheitsminister zu einer Spendenparty nach Leipzig, wo sehr viele illustre Gäste – die wir übrigens bis heute alle nicht kennen; auch diese Frage stellt sich –,
({2})
zufällig 9 999 Euro an den Kreisverband des Gesundheitsministers gespendet haben, also einen Betrag genau 1 Euro unter der Veröffentlichungspflicht.
Ich will Ihnen sagen, was das Problem ist und warum das was damit zu tun hat: Wenn ich in meinem Wahlkreis – was weiß ich – in Bitterfeld, Köthen oder Bernburg abends zu einer Party gehe oder ein Bier trinken will, dann kriege ich maximal ein Pils mit 0,3 Litern ausgegeben.
({3})
Aber da hängen keine Leute rum, die mir fast 10 000 Euro in die Tasche stecken. Das ist der Unterschied.
({4})
Deswegen sollte man mal überlegen, mit wem man eigentlich so rumhängt. Das färbt nämlich irgendwann auch ab, wenn man nur noch mit dem Geldadel rumhängt und nicht mehr mitbekommt, was an der Basis dieser Gesellschaft stattfindet.
({5})
Zweiter Punkt. März 2021 – ja, ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören wollen –: die berühmte Maskenaffäre der CDU/CSU. Sie tun ja so, als ob nie irgendwas geschehen wäre, dabei war es ja nicht nur eine Person. Kollege Nüßlein zum Beispiel hat sich, glaube ich, 600 000 Euro in die eigene Tasche gesteckt. Auch da ist noch nicht aufgeklärt, inwieweit Ihr Haus eigentlich davon wusste und irgendwie involviert gewesen ist.
Kommen wir in die aktuelle Zeit, um den Reigen komplett zu machen. Kommen wir zum Mai 2021. Das ging ja breit durch die Medien. Jeder, der nicht völlig blind durch das Land geht, konnte anhand der Vorgänge in Testzentren sehen, dass Sie den roten Teppich für irgendwelche dubiosen Leute ausgelegt haben – also ein Teil davon waren dubiose Leute –, die unfassbar viel Geld mit Testzentren gemacht haben. Anstatt dafür Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, fällt Ihnen nichts anderes ein, als die Aufsichtspflicht an die Kommunen abzuschieben, die wegen der Pandemie – und davor übrigens auch schon – auf dem letzten Loch pfeifen. Verantwortung haben Sie nicht einmal übernommen. Das ist skandalös, um das hier klar zu benennen.
({6})
Leider reichen fünf Minuten überhaupt nicht. Man bräuchte zwei Stunden, um dieses ganze Fehlverhalten und das Versagen minutiös aufzuzeigen. Aber ich möchte trotzdem noch mal ein paar Sachen in Erinnerung rufen.
In einem sind Sie wirklich gut, Herr Minister, nämlich im Ankündigen. Anschließend werden die Ankündigungen von der Bundeskanzlerin – was macht die eigentlich? Die scheint ja dem Erdkreis mittlerweile völlig entrückt zu sein; keine Ahnung, was sie bezüglich dieser ganzen Affären eigentlich tut – zurückgenommen. Sie kündigen an, und dann kann es nicht eingehalten werden: immer wieder und immer wieder. Es geht immer so weiter.
Ganz aktuell – auch das kann ich belegen, Kollege Ziemiak, weil Sie immer mehr auf den Boden schauen –
({7})
verkünden Sie mit einem riesigen Tamtam die Aufhebung der Priorisierung – man muss sich das einmal reinziehen – und die Hinzunahme auch von jüngeren Menschen in die Impfkampagne. Immerhin funktionieren Ihre Social-Media-Kanäle nicht schlecht. Aber das verkünden Sie einfach, obwohl es gar keinen weiteren Impfstoff gibt. Und, siehe da, die Leute stehen da. Was ist das denn für eine Politik? So verspielt man die Akzeptanz der Leute gegenüber den Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie.
({8})
Und den letzten Punkt Ihres politischen Versagens will ich hier auch noch mal nennen: Anstatt sich in der Patentfrage an die Seite der Linken und des US-Präsidenten Joe Biden zu stellen und für die Aufhebung der Patente zu kämpfen, sind Sie der Schutzschirm der Pharmalobbyisten.
({9})
Das ist das Traurige. Und ich will Ihnen eins sagen: Wenn das Virus in einer Art und Weise im Globalen Süden so mutiert, dass Sie es hier nicht mehr in den Griff bekommen, dann tragen Sie aufgrund dieser Politik mit die persönliche Verantwortung dafür, um das auch hier ganz deutlich einmal anzusprechen.
({10})
Deswegen kann ich nur zusammenfassen:
Herr Kollege.
Ich habe viele Fakten über Ihre Tätigkeit hier dargelegt. Warum sollte man Ihnen glauben? Das Einzige, was bei Ihnen und übrigens auch bei Ihrem Kumpel Andi Scheuer wirklich beeindruckend ist, das ist, wie man eine so schlechte Politik, so viele Skandale und so viele Milliarden verbrennen kann und trotzdem noch im Amt bleibt. Das ist wirklich eine Leistung.
Kollege Korte.
Davor muss auch ich den Hut ziehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Scheuer, Ihre Fraktion hat Ihnen offensichtlich das Thema – –
({0})
– Entschuldigung: Herr Kollege Korte, Ihre Fraktion hat Ihnen offensichtlich das Thema der Aktuellen Stunde nicht mitgeteilt.
({1})
Deswegen zunächst einmal für den Rest des Plenarsaals vielleicht das Wichtigste: Jedenfalls die meisten von uns meinen, dass die Einrichtungen der Obdachlosen- und Behindertenhilfe selbstverständlich gute und sichere Masken ausdrücklich aus deutscher Produktion erhalten haben.
({2})
Genauso wichtig ist uns jetzt in der Union aber auch, dass die Masken, die ursprünglich für die Belieferung vorgesehen waren, die sogenannten CPI-geprüften Masken, diesen Zweck genauso gut und vollumfänglich erfüllt hätten.
({3})
Was heißt denn nun CPI? Sie wissen – oder zumindest die Gesundheitspolitiker hier wissen –, dass CE-zertifizierte und damit in Europa verkehrsfähige Masken zu Beginn der Pandemie nicht verfügbar waren. Deshalb hat die Kommission den Mitgliedstaaten einfachere Verfahren zur Einfuhr und Nutzung von persönlicher Schutzausrüstung zum Beispiel aus China ermöglicht.
Das BMG hat dann gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und weiteren Institutionen, renommierten Institutionen – dazu gehören, Herr Kollege Korte, auch die DEKRA, der TÜV Nord – einen besonderen Prüfmaßstab entwickelt, um Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen trotzdem jederzeit gewährleisten zu können. Der Prüfmaßstab ist wissenschaftlich abgesichert und hat mittlerweile unter dem Begriff CPI – Corona-Pandemie-Infektionsschutzmaske – Eingang in das Infektionsschutzgesetz und dort in die Anlage zu § 5b gefunden.
Das BMAS wiederum verwendet für seinen Bereich, den Arbeitsschutz, ebenfalls einen vereinfachten Prüfgrundsatz: CPA; das Kürzel steht für Corona-Pandemie-Atemschutzmaske.
Beide Verfahren sind, soweit es den Infektionsschutzbereich betrifft, deckungsgleich. Bei den CPI-geprüften Masken wird im Vergleich zu den CPA-Masken lediglich auf die Temperaturkonditionierung und eine verlängerte Anlegeprüfung, also ob die Maske passt, verzichtet – beides wichtige Aspekte für den Arbeitsschutz, aber nicht für die Schutzwirkung gegen das SARS-CoV-2-Virus; da sind diese beiden Aspekte nicht relevant.
Solche CPI-Masken sind in der Pandemie übrigens vom Bund und von allen Gesundheitsministern der Länder millionenfach eingesetzt worden und können zum Infektionsschutz auch weiterhin eingesetzt werden. Über diese Tauglichkeit zum Infektionsschutz besteht überdies Einvernehmen in der gesamten Bundesregierung, einschließlich, Herr Heil, mit dem BMAS. Genau deswegen wurden beide Prüfverfahren – CPA und CPI – auch als Voraussetzung dafür genommen, dass die Masken in die Nationale Reserve Gesundheitsschutz aufgenommen werden können.
Um was geht es also politisch?
({4})
Die Nutzung unterschiedlicher Prüfverfahren – Infektions- wie Arbeitsschutz – ist seit sechs Monaten geklärt. Und letzte Woche, kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wird daraus ein an den Haaren herbeigezogener Vorwurf konstruiert.
({5})
Der Skandal sind nicht die Masken, sondern das Handeln der Akteure vor allem aus dem Willy-Brandt-Haus und von Minister Heil.
({6})
Noch nicht einmal die Opposition hat ungeprüft solch ehrabschneidende, persönlich sehr verletzende Formulierungen und Anwürfe erhoben wie eben das Leitungspersonal unseres Koalitionspartners.
({7})
Jetzt kann ich verstehen, dass man bei den andauernden Umfrage- und Wahlergebnissen – jüngst wurden in Sachsen-Anhalt 8 Prozent erreicht – in Erklärungsnot kommt. Es ist für mich vielleicht sogar noch nachvollziehbar, wenn die Parteivorsitzenden deshalb zu jedem sich bietenden Ablenkungsmanöver greifen, um von der eigenen Ratlosigkeit abzulenken. Aber dass Sie nun bewusst besonders vulnerable Gruppen – die Obdachlosen, die Menschen mit Behinderung – verunsichern, nur um parteipolitisch Stimmung zu machen,
({8})
das ist schäbig, meine Damen und Herren.
({9})
Offensichtlich ist einigen auf der Zielgeraden der Koalition das Niveau vollständig abhandengekommen. Es mag ja nun, Herr Minister Heil, für Sie eine gute Ausgangsbasis für die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden in der nächsten Legislaturperiode sein, wenn Sie sich mit solchen falschen Vorwürfen zu Wort melden – die sich dann bei der Überprüfung in Luft auflösen –, aber Sie haben noch immer nicht begriffen, dass derjenige, der als Teil der Regierung die Regierung mit Dreck bewirft, sich auch selbst beschmutzt. Es sind noch wenige Monate, die wir zusammenarbeiten müssen. Ich erwarte, dass Sie sich gemeinsam mit uns um die Probleme der Menschen kümmern.
({10})
Lassen Sie uns arbeiten, seien Sie behilflich oder stören Sie wenigstens nicht; dann sind wir Ihnen sehr dankbar.
({11})
Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzten Jahre haben wir von den Linken hier nicht viel Vernünftiges gehört.
({0})
An dieser Stelle möchte ich mich bei Ihnen – Frau Sommer, hören Sie mal zu! – ausdrücklich bedanken,
({1})
dass Sie dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht haben; denn es ist extrem wichtig.
Das Maskenthema beschäftigt uns schon länger. Wir haben eine ganze Menge Anfragen diesbezüglich an die Regierung gestellt. Aus dem Hause Spahn kam da nicht viel – nur sehr viel heiße Luft: Die parlamentarischen Anfragen wurden meistens durch die Staatssekretärin Weiss abgetan. Wir haben hier keine Antworten der Bundesregierung erhalten.
Wenn man etwas mehr über diesen ganzen Maskenskandal erfahren möchte, muss man recherchieren,
({2})
und meine Fraktion hat recherchiert: Wir haben Lieferanten kontaktiert, wir haben Zuträger gehabt, wir haben Zuträger – passen Sie auf! – aus der Bundesregierung gehabt, von ihrem Rechtsberater, Ernst & Young, und hier sind Unterlagen ans Tageslicht gekommen, die schwer belastend und schwer beschämend für diese Bundesregierung sind.
Schauen wir uns an, wie die Masken beschafft worden sind: Vor einem Jahr, März/April letzten Jahres sind Verträge geschlossen worden mit Unternehmen wie Lufthansa, BASF, Otto etc. Die Verträge liegen hier vor. Das sind 16-seitige Verträge, die relativ ordentlich geschlossen sind.
Bei dieser Recherche sind aber auch andere Verträge aufgetaucht, unter anderem Verträge mit einer FIEGE Logistik Stiftung & Co. KG, die dann übertragen worden sind auf eine FIEGE International Beteiligungs-GmbH, eine klitschige GmbH, FIB abgekürzt, die vor Vertragsschluss 40 Millionen Euro aufs Konto überwiesen bekommen hat. Das ist ein Skandal sondergleichen, Herr Spahn.
({3})
Diese Verträge sind geschlossen worden. Hier stehen zwei Blätter Papier für über eine halbe Milliarde Euro Beschaffungsvolumen. Hier sind in Wildwestmanier Verträge geschlossen worden, wo noch nicht einmal ein Stempel vorhanden war; da ist handschriftlich „FIB GmbH“ ergänzt worden. Das ist unwürdig, hier sind Betrug Tür und Tor geöffnet.
({4})
Ich frage mich: Warum ist die FIB GmbH oder FIEGE überhaupt ausgewählt worden? Herr Spahn, hängt das damit zusammen, dass hier persönliche Bekanntschaften bestehen, dass das Ihr Nachbarwahlkreis ist? Die FIEGE Logistik hat überhaupt gar keine Expertise in der Logistik, die hier gefordert wird – wo es darum ging, Schutzausrüstung einzufliegen –, hat keine eigenen Flugzeuge. Ein Rahmenvertrag, der am 31. März 2020 geschlossen wurde, ist übertragen worden auf die FIB. Es ist dann drei Tage später, am 02. April 2020, noch einmal ein Preisnachschlag von 10 Cent vereinbart worden.
Bei Gesprächen mit Lieferanten ist mir versichert worden, dass es üblich ist, wenn noch ein Zwischenhändler mitverdienen will, dass das immer in 10-Cent-Schritten passiert. Da frage ich mich: Wer hat hieran noch mitverdient? Das Volumen alleine dieses FIEGE-Vertrages, dieses Rahmenvertrages, liegt bei 545 Millionen Euro. Die Konditionen sind ein Traum: Erfüllungsort: Shanghai; keine Frachtkosten; man musste keine Verzollung machen; man musste sich nicht um Zertifikate kümmern, darum, wie die Ware ins Land kommt. Vereinbart waren FFP2-Masken. Soweit ich weiß, war nur ein ganz geringer Bruchteil dessen, was durch die Bundesregierung eingeflogen wurde, tatsächlich FFP2-Masken. Man ist dem Problem entgangen, indem man selber als Inverkehrbringer aufgetreten ist.
Lieferanten bestätigten mir, dass der Markt im März/April letzten Jahres maximal 2 Euro für FFP2-Masken – verzollt, inklusive Fracht – und Einfuhrumsatzsteuer hergab. Diese Masken, die die Bundesregierung beschafft und in Verkehr gebracht hat, waren mangelhaft, grob mangelhaft. Insbesondere bemängelt wurde bei den Schnelltests ein Partikeldurchlass. Zulässig waren 6 Prozent, die Masken wiesen in der Regel um die 15 Prozent auf.
Außerdem taucht immer wieder ein Name auf, eine kleine Bude aus der Schweiz, Emix, mit der die Bundesregierung Milliardenverträge geschlossen hat. Hier möchte ich auch gerne einmal hinter die Kulissen schauen und gucken, was da tatsächlich passiert ist.
Im Gegenzug hat die Bundesregierung ein Open-House-Verfahren ausgeschrieben. 100 Lieferanten sind heute immer noch nicht bezahlt. 1 Milliarde Euro ist hier noch strittig. Man hat sich wieder mal seines Partners EY Law bedient, um diese Forderung abzuwehren. Hier stehen Existenzen von Kleinlieferanten auf dem Spiel, die alles verpfändet haben, um der Bundesregierung aus einer Krise zu helfen und Schutzausrüstung zu beschaffen. Mit juristischen Winkelzüge ziehen Sie sich jetzt auf ein Fixgeschäft zurück. Ich sage Ihnen: Mit den Unterlagen, die aus Ihrem Hause gekommen sind, lässt sich dieses Fixgeschäft kippen.
({5})
Außerdem: Wie laufen diese Beschaffungsketten? Es tauchen immer wieder Namen auf: Monika Hohlmeier, die Strauß-Tochter. Ich erinnere nur an die Amigo-Affäre: Man kennt sich, man hilft sich. Das ist offensichtlich hängen geblieben. Mir sind dazu Protokolle vorgelegt worden. Frau Hohlmeier empfiehlt an Emmi Zeulner, die wiederum gute Kontakte zum Bundesministerium hat. So kürzt man Beschaffungsprozesse ab.
Ich sage Ihnen: Der Fisch ist zum Teil ausgenommen worden. Die CDU hat sich bereits von einigen ihrer Abgeordneten getrennt, die sich persönlich bereichert haben oder bei denen der Verdacht im Raume steht.
({6})
Der Fisch stinkt aber immer vom Kopf, und hier in diesem Hause ist noch viel zu viel Verwesungsgeruch.
({7})
Wir haben hier in ein Wespennest gestochen.
Herr Keuter.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Ich sage Ihnen: Wir werden diese Sache noch aufarbeiten müssen. Das schreit nach einem Untersuchungsausschuss – leider erst nach der Bundestagswahl. Ich bin sicher: Das ist nicht nur ein Fall für den Untersuchungsausschuss, sondern auch noch für den Staatsanwalt.
Unser Vorsitzender sagte: Wir werden sie jagen.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Ja. – Herr Bundesminister, Sie wissen jetzt, was jagen bedeutet.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Maag, ich will Ihnen einmal sagen, dass Ihre Ausführungen zu den Qualitätsfragen in vielerlei Hinsicht fehlerhaft waren. Meine Kollegin Martina Stamm-Fibich wird das in ihrer Rede klarstellen.
Aber eines lasse ich mir von Ihnen nicht gefallen: den Vorwurf, das hier sei eine parteipolitische Debatte.
({0})
Sie haben es nötig, Ihren Generalsekretär sprechen zu lassen, nicht wir; das will ich an dieser Stelle nur einmal sagen.
({1})
Es geht hier nicht um Parteipolitik. Es geht hier auch nicht um eine Personalfrage.
({2})
Es geht hier einzig und allein darum, dass wir in der Pandemie alle Menschen im Land im gleichen Maße schützen. Darum geht es hier.
({3})
Deshalb haben sich die SPD-Bundestagsfraktion und die SPD dafür eingesetzt, dass Menschen mit Behinderung, Wohnungslose und Grundsicherungsempfänger FFP2-Schutzmasken erhalten. Ist doch eigentlich auch logisch und einfach nur anständig!
({4})
Schutzmasken haben in diesem Land Qualitätsstandards. Im März 2020 hat sich die Bundesregierung auf Standards geeinigt. Für Masken aus China – darum geht es – gilt eine verkürzte Prüfung nach CPA-Verfahren. Es wird kein Unterschied zwischen Infektionsschutz- und Arbeitsschutzmasken gemacht. Dieser CPA-Standard ist das Minimum.
({5})
Egal in welchem Bereich diese Masken eingesetzt werden, sie müssen wirksam schützen.
Durch die Berichterstattung im „Spiegel“ stehen jetzt Fragen im Raum:
({6})
Wurden zu jedem Zeitpunkt die Schutz- und Sicherheitsstandards der Bundesregierung durch das Haus von Jens Spahn gewährleistet? Gab es Versuche, die vereinbarten Sicherheits- und Prüfstandards zu unterlaufen? Lief hier alles sauber? Wurde versucht, nach diesen Standards nichtgetestete Masken an Menschen mit Behinderung, Wohnungslose und Grundsicherungsempfänger zu verteilen?
({7})
Und ganz konkret: Dreimal soll das Gesundheitsministerium den Versuch unternommen haben, die vereinbarten Qualitätsstandards gegenüber dem Sozialministerium abzusenken.
({8})
Das Sozialministerium hat das verhindert,
({9})
nicht das Gesundheitsministerium.
({10})
Die Leidtragenden wären besonders Schutzbedürftige gewesen. Das, meine Damen und Herren, wäre mehr als eine Unverschämtheit. Es wäre zynisch und völlig inakzeptabel;
({11})
denn zu dem Zeitpunkt waren genügend FFP2-Schutzmasken am Markt vorhanden. Dank Sozialministerium wurden dann sicher geprüfte Masken geliefert.
({12})
Was mich wahnsinnig ärgert, ist der unwürdige Vorwurf, die SPD und Hubertus Heil hätten diese Debatte forciert oder gar bestellt.
({13})
Nichts davon ist wahr. Wahr aber ist – Ihr Schreien bestätigt ja, dass ich recht habe –, dass Hubertus Heil und sein Haus jederzeit das Gesundheitsministerium darauf aufmerksam gemacht haben, dass sinkende Standards nicht mitgetragen werden.
({14})
Klare Ansage: Nicht CPA-getestete Masken kommen nicht in den Umlauf. Auch wenn sie jetzt in der Notreserve liegen: Raus kommen sie nur vollständig getestet.
({15})
Hubertus Heil und das Sozialministerium sind die Garanten für das Einhalten von Sicherheitsstandards.
({16})
Die SPD macht hier anständig ihren Job.
({17})
Sie übernimmt Verantwortung. Nun steht die Frage im Raum, warum Sie, Herr Spahn, nach der Devise: „Angriff ist die beste Verteidigung“ agieren?
({18})
Was wollen Sie damit erreichen? Wollen Sie etwas vertuschen?
({19})
Wieso haben Sie nicht auf die Warnsignale aus den Bundesländern reagiert? Der Brief aus Baden-Württemberg war schon im Gespräch.
({20})
Es gab Verteilungen von Masken, die nicht den Standards entsprochen haben, die die Länder selbst geprüft haben, durch Ihr Haus an Pflegeeinrichtungen. Souveräner Umgang mit kritischen Hinweisen sieht anders aus.
({21})
Angriff ist nicht immer die beste Verteidigung. Demut und Aufklärung sind angebracht.
({22})
Wo ist Ihr Bekenntnis, sich jederzeit für die Einhaltung der vereinbarten Schutzstandards engagiert zu haben? Herr Spahn, haben Sie da Ihren Job gemacht? Diese Fragen müssen Sie beantworten und nicht Hubertus Heil oder das Sozialministerium.
({23})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es stimmt, die Coronapandemie war die größte Herausforderung seit Jahrzehnten für die Welt, für Deutschland. Minister Spahn ist derjenige, in dessen Ressort sie fällt. Jeder – ich zumindest – hätte immer Verständnis dafür, dass da auch einmal was danebengeht; gar keine Frage.
Aber, meine Damen und Herren, auch in solchen Krisen gilt ein Grundsatz: Ein Minister muss wenigstens zwei Dinge leisten: Offenheit und Selbstkritik. Minister Spahn wird heute in den Medien mit dem Satz von gestern zitiert – ich zitiere mit der Erlaubnis der Präsidentin –: „Da, wo ich herkomme ... sagt man Entschuldigung ...“ Gute Idee, Herr Minister. Dann fangen Sie doch mal selber damit an.
Entschuldigen Sie sich einmal für die vielen Fehler, die Sie jetzt gemacht haben. Lassen Sie mich die wichtigsten aufzählen; ich konzentriere mich wesentlich auf die Frage der Masken.
Erster Punkt. Sie haben dieses Land auf diese Pandemie nicht vorbereitet. Zu Beginn der Pandemie gab es praktisch keine Schutzausrüstung in Deutschland, obwohl seit 2013 bereits Krisenszenarien vorlagen, die genau das verlangen. Sie haben bereits vor der Pandemie versagt, meine Damen und Herren.
({0})
Der zweite Punkt. Als die Pandemie dann da war, haben Sie wochenlang gebraucht, um zu reagieren. Schließlich haben Sie für über 6 Milliarden Euro Schutzausrüstung eingekauft – zu völlig überteuerten Preisen und in ganz vielen Fällen mit unzureichender Qualität, meine Damen und Herren. Auch das geht nicht.
Dritter Punkt. Anstatt das einzuräumen und Konsequenzen zu ziehen, haben Sie einen neuen, für meine Begriffe völlig unzureichenden Prüfstandard für Masken erfunden oder erfinden lassen, den CPI-Prüfungsstandard. Dieser ist tatsächlich unzureichend. Dabei geht es am wenigsten darum, ob nun die Temperaturtestung gemacht wurde oder nicht. Es geht vor allem darum, dass zwar zig Millionen Masken stichprobenartig geprüft wurden, nicht aber die Herstellungseinrichtungen. Das gehört bei Medizinprodukten aber immer dazu: Es werden nicht nur in Stichproben einzelne Produkte geprüft, sondern es werden auch die Fertigungsanlagen geprüft. Das konnten Sie nicht machen, weil sie in China sind. Allein deshalb ist der CPI-Standard schon völlig unzureichend und gewährleistet den Bürgern dieses Landes keine Sicherheit, weder den Obdachlosen noch anderen Menschen, meine Damen und Herren. So geht es nicht.
({1})
Der vierte Punkt. Sie haben es auch jetzt nicht geschafft, eine Nationale Reserve Gesundheitsschutz aufzubauen; sie steckt bestenfalls in den Kinderschuhen. Der Hohn ist: Dort haben Sie vor allem genau diese CPI-Masken eingelagert. Mit anderen Worten: Wenn die nächste Pandemie kommt, dann dürfen sich alle Bürger mit Ihren unzureichenden Masken versorgen. Es allein ist schon ein Skandal, dass Sie es uns zumuten wollen, bei der nächsten Pandemie mit Ihren Masken auskommen zu müssen. So geht es nicht, meine Damen und Herren.
({2})
Fünftens. Sie haben Ende 2020 Schutzmasken für 2,5 Milliarden Euro an besonders gefährdete Personen, ich wollte gerade sagen: verteilt. Das haben Sie gerade nicht gemacht. Sie haben Gutscheine verschickt für 2,5 Milliarden Euro, etwa 70 Euro pro Person; das ist kein Witz. 70 Euro pro Person für ein paar Schutzmasken. Und das Schlimmste daran war: Diese Personen bekamen nicht etwa Schutzmasken nach Hause, sondern sie mussten mit diesen Gutscheinen ungeimpft in die gefährliche Umgebung gehen, wenn sie ihre Schutzmasken dort abholten. Meine Damen und Herren, wenn Sie schon viel Geld ausgeben, dann schicken Sie den Leuten die Masken wenigstens zu, damit sie sich nicht zusätzlich gefährden müssen. Auch was Sie da gemacht haben, ist ein Skandal, meine Damen und Herren.
({3})
Sechstens. Steuergeldverschwendung ist ein Markenzeichen dieses Ministers. Seit Amtsantritt hat er fast 200 Stellen in seinem Ministerium zusätzlich geschaffen, und zwar bereits vor der Pandemie.
({4})
– Doch, das können Sie nachlesen. Das habe ich alles gefragt. Machen Sie doch mal eine Kleine Anfrage. Ich mache das gerne, da erfährt man viel.
({5})
Sie haben über 500 Millionen Euro für zusätzliche Intensivbetten ausgegeben. Parallel dazu ist die Zahl der verfügbaren Intensivbetten zurückgegangen. Das muss man auch erst mal schaffen, meine Damen und Herren.
Auch die Verschwendung von Geld bei den Testzentren haben Sie, Herr Minister Spahn, mit zu verantworten. Es ist richtig, die Länder müssen die Kontrollen machen; aber die Kontrollgrundsätze werden vom Bund gemacht. Da haben Sie versagt. Sie haben keine ausreichenden Kontrollgrundsätze entwickelt. Sie wollen die jetzt nachbessern, was zeigt, dass sie am Anfang unzureichend waren. Auch die Geldverschwendung bei den Testzentren haben Sie mit zu verantworten, Herr Minister Spahn. Auch das passt zu dem Gesamtbild, das Sie hier abgeben.
Siebter Punkt. Sie haben auch mit zu verantworten, dass dieses Land viel zu wenig Impfstoffe bekommen hat. Ja, die Verträge wurden von der EU geschlossen. Aber wer hat denn die Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 gehabt? Deutschland! Und wer hatte in dieser Zeit den Vorsitz bei den EU-Ministern für Gesundheit? Herr Spahn. Herr Spahn, Sie hätten eingreifen müssen, als Sie feststellten, dass die EU falsche Verträge macht. Somit sind Sie auch mitverantwortlich dafür, dass dieses Land nach wie vor viel zu wenig Impfstoffe hat, viel weniger als manch andere Länder, die bessere Verträge geschlossen haben.
({6})
Meine Damen und Herren, finden Sie nicht auch, das sind ein paar Fehler zu viel? Nun, die SPD versucht ja hier, daraus Honig zu saugen. Meine Damen und Herren, das reicht nicht. Ich habe Minister Scholz vor drei Wochen hier gefragt, was er gegen die Geldverschwendung getan hat. Antwort: Er vertraut Minister Spahn. Das ist eines Finanzministers unwürdig. Ein Finanzminister hat auf das Steuergeld zu achten und nicht einen Minister einfach machen zu lassen.
Die Forderungen der Freien Demokraten, Herr Minister Spahn, sind drei: Erstens. Entschuldigen Sie sich hier und heute für Ihre Fehler. Zweitens. Gehen Sie sorgfältig mit Steuergeld um. Drittens. Denken Sie künftig ein bisschen länger nach, bevor Sie Versprechungen machen, die Sie nicht halten können.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Präsidentin! Kommen wir doch mal zum Thema der Aktuellen Stunde zurück. Wir haben allen Grund, zu diesem Thema zurückzukommen; denn es sind äußerst schwerwiegende Vorwürfe in der öffentlichen Debatte. Es geht darum, dass minderwertige oder zumindest unzureichend geprüfte Schutzmasken an Menschen ausgegeben worden sind, die in besonderer Weise durch eine Coronainfektion gefährdet sind: Menschen mit Behinderung, Menschen in Wohnungsloseneinrichtungen. Darum geht es.
Damit verbunden, meine Damen und Herren, ist auch eine ganz massive Verunsicherung: Wie sehr kann ich mich darauf verlassen, dass Gesundheitsschutz in diesem Staat tatsächlich ganz, ganz vorne steht und dass eben nicht das Kungeln, das Verstecken von irgendwelchen Vorgängen vorherrschend sind? Auch darum geht es.
({0})
Die Regierung und beide Fraktionen müssen hier an dieser Stelle die Chance ergreifen, diesen Verdacht auszuräumen; denn er ist zutiefst verstörend.
({1})
Wenn ich dann mal schaue, was Sie hier abgeliefert haben, dann würde ich sagen: Szenen einer zerrütteten Ehe.
({2})
Aber dazu beigetragen, hier wirklich Klarheit herzustellen, haben Sie nicht.
({3})
Das muss man ganz klar einfordern.
Wir haben bereits im letzten Jahr eine Kleine Anfrage zu genau diesen Vorgängen gestellt: Wie sehr können wir uns auf die Qualitätsstandards dieser aus China beschafften Masken verlassen? Im April dieses Jahres haben wir erneut eine Kleine Anfrage gestellt, weil es seit Beginn dieses Jahres vielfältige Hinweise auf mangelhafte Masken aus diesen Beschaffungen gegeben hat. Wir haben dazu keine ausreichenden Antworten erhalten. Da muss ich sagen, Herr Minister Spahn, aber auch Herr Minister Heil: Ich hätte schon erwartet, dass Sie diese Kleine Anfrage nutzen, um die notwendige Klarheit herzustellen; denn darauf haben die Bürgerinnen und Bürger einen wirklichen Anspruch.
({4})
Da muss man sagen: Sie bleiben viele Antworten schuldig. Seit Anfang des Jahres gab es so viele Hinweise darauf, dass aus diesen beschafften Mengen tatsächlich vermehrt minderwertige Masken aufgetaucht sind, in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz, in Schleswig-Holstein, bei der Probe, die „Zeit Online“ veranlasst hat, bei Stiftung Warentest und den eigenständigen Untersuchungen, die der „Spiegel“ vorgenommen hat. Das muss doch dann Anlass sein, tatsächlich zu überprüfen: Was tue ich denn eigentlich? Wie können wir sicherstellen, dass diese Masken nicht in den allgemeinen Verkehr und schon gar nicht in die Einrichtungen kommen, wo besonders gefährdete Menschen leben? Das wäre Ihre Aufgabe.
({5})
Deshalb von unserer Seite: Wir verlangen maximale Transparenz und sachliche Aufklärung. Es muss um sachliche Aufklärung gehen. Natürlich ist es so gewesen, dass wir letztes Jahr froh waren um jede Maske, die irgendwoher beschafft werden konnte. Natürlich haben wir damals zu Recht Abstriche bei der Sicherheit gemacht, weil es darum ging: Entweder habe ich eine Maske, oder ich habe keine;
({6})
entweder habe ich nur eine Alltagsmaske oder mindestens einen halben Standard. Das gilt aber in Zeiten des Mangels. Aus denen sind wir längst heraus,
({7})
und mindestens seit Ende letzten Jahres hätte das aufhören müssen. Es hätte nicht dazu kommen dürfen, dass man versucht, diese mindestens unzureichend geprüften Masken an Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, an Pflegeheime und auch an die Wohnungslosenhilfe weiterzugeben.
({8})
Das hätte nicht passieren dürfen.
({9})
– Es ist passiert, und das war nachweislich an ganz, ganz vielen Stellen zu sehen, weshalb es ja diese Rückrufe gegeben hat.
({10})
Deshalb: Schaffen Sie Klarheit, geben Sie uns Akteneinsicht in alle relevanten Akten, die damit verbunden sind, insbesondere auch in die Prüfberichte aus den Testprüfungen und Margenprüfungen; das ist das eine. Und: Prüfen Sie die Masken in der Reserve nach, damit sichergestellt wird, dass wir nicht eine Nationale Gesundheitsreserve haben, die letztendlich nur aus Schrottmasken besteht.
({11})
Das erwarten wir von Ihnen, und ich finde, das können die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von Ihnen verlangen. Herr Gesundheitsminister, aber auch Herr Minister Heil: Gesundheitsschutz gehört in Ihren beiden Ressorts zu den sehr prominenten Aufgaben. Lösen Sie das ein!
({12})
Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung der Coronapandemie ist erfolgreich; das merken wir jeden Tag. Das zeigen alle Zahlen, das zeigen die stattfindenden Lockerungen, und das zeigt nicht zuletzt die täglich steigende Zahl der Impfungen.
Ja, manches hätte schneller, manches hätte auch besser laufen können. Wir reden jetzt aber über einen Vorgang – einen „Megaskandal“ –, der über ein Jahr zurückliegt und kurz vor einer Landtagswahl plötzlich aktuell wird; dazu komme ich noch. Insgesamt ist festzustellen: Diese Bundesregierung hat das Land bisher gut durch die Pandemie geführt.
({0})
Das liegt nicht zuletzt an der tatkräftigen und sehr guten Arbeit des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Dafür sind wir sehr dankbar.
({1})
Jetzt wurde zufällig kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt eine Sache hervorgeholt. Man weiß nicht, wie so etwas passiert; das mag alles wirklich Zufall sein. Ich weiß auch nicht, ob das Arbeitsministerium daran beteiligt war, wie man lesen musste. Ich weiß das alles nicht. Ich will es auch nicht behaupten. Aber es wird ja ein bisschen versucht, aus einer Sache, die vor einem Jahr stattgefunden hat, jetzt einen großen Skandal zu konstruieren. Dafür gab es extragroße Lautsprecher in Form der beiden SPD-Parteivorsitzenden: „Menschenverachtend“ und „menschenunwürdig“ schallte es aus dem Willy-Brandt-Haus.
Skandal um Masken im Ministerium! – Wir wissen heute: Alles heiße Luft. Die betroffenen Masken sind sogar mit Zustimmung der SPD in die nationale Pandemiereserve aufgenommen worden.
({2})
Die SPD-Landesregierungen bewerten die Masken als unbedenklich und haben sie teilweise selbst gekauft. Der angebliche Skandal – das muss man heute feststellen – des Bundesgesundheitsministers ist längst ein echter Skandal im Willy-Brandt-Haus geworden. Das ist mal sicher.
({3})
Ein deutsches Nachrichtenmagazin – das Thema der Aktuellen Stunde betrifft ja auch die Pressemagazine – hat sich schon längst korrigiert. In den Presseberichten liest man von einem Vorgehen unterster Schublade, oder man schreibt, man hätte mit Dreck geworfen, nach dem Motto: Irgendwas bleibt schon hängen. Ich sage an dieser Stelle: Frau Esken – wo sind Sie eigentlich? schade, nicht da –, Herr Walter-Borjans, zeigen Sie Rückgrat, und entschuldigen Sie sich endlich wegen dieser Nummer.
({4})
Mich interessiert noch eine weitere Frage: Ist das die Umsetzung Ihres Achtpunkteplans? Ich habe gelesen, dass Sie sich darin zu einem fairen Wahlkampf verpflichten, Herr Scholz. Dort heißt es: „Der bewussten Verbreitung von Falschmeldungen … stellen wir uns entschieden entgegen.“ Ich glaube das; ich empfehle nur, im eigenen Haus damit zügig zu beginnen.
({5})
Es gibt einen Skandal, keine Frage, wenn man nämlich auf diese Weise parteitaktisch agiert. Frau Mast bestreitet das erstaunlicherweise. Okay, dann hat das mit Parteitaktik nichts zu tun, obwohl sie selbst mehrfach die SPD hier erwähnt hat. Wenn man aber mit parteitaktischen Manövern Ängste bei den Menschen schürt, dann macht man Wahlkampf auf dem Rücken der Schwächeren. Ich glaube, das ist eher ein Skandal als alles andere, was hier angesprochen wurde.
({6})
Die spannende Frage ist: Nutzt einem das parteipolitisch überhaupt? Ist es wirklich sinnvoll, andere schlechtzumachen? Wer über andere schlecht redet, ist ja selbst noch längst nicht besser geworden. Das wissen die Menschen. Sie haben es in Sachsen-Anhalt deutlich gezeigt, dass sie das verstanden haben. Ich sage nur: einstellig in Sachsen-Anhalt. Viel Vergnügen mit dieser Strategie für die nächsten Wochen!
({7})
Und ja, der Wahlkampf zieht herauf. Die Menschen erwarten und haben natürlich auch ein Recht darauf – jedenfalls aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion –, dass diese Koalition bis zum letzten Tag der Wahlperiode seriös arbeitet. Wir als CDU/CSU werden das tun. Wir werden weiter mit aller Kraft die Pandemie bekämpfen, im Übrigen gemeinsam mit einem sehr erfolgreichen Bundesgesundheitsminister. Wir werden entschlossen für die wirtschaftliche Erholung unseres Landes kämpfen und sie weiter vorantreiben.
Das ist nämlich eine wichtige Aufgabe, die die Menschen in diesem Lande wirklich interessiert:
({8})
dass man nach der Pandemie wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Wirtschaftliche Kompetenz ist im Übrigen auch die Grundlage für soziale Sicherheit. Da kann ich unserem Koalitionspartner nur sagen: Vergesst das nie!
Ich will abschließend sagen: Gutes Regieren bis zur Wahl – das ist aus unserer Sicht unser Auftrag. Gutes Regieren nach der Wahl – auch dafür steht die CDU/CSU im Anschluss an die nächste Bundestagswahl bereit. Wer schon in der Regierung von der Opposition träumt, der wird sich nicht wundern dürfen, wenn er nach der Wahl auch als Opposition aufwacht.
Vielen Dank für Ihr Interesse.
({9})
Vielen Dank, Michael Grosse-Brömer. – Sie haben uns 20 Sekunden geschenkt.
({0})
– Das weiß ich, deswegen habe ich es Ihnen ja gesagt.
({1})
– Eben, deswegen habe ich es doch gesagt.
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stephan Brandner.
({2})
Meine Damen und Herren! Bei Ihnen in der GroKo und bei Ihnen in der CDU muss ja die Hütte ganz gewaltig brennen, oder?
({0})
Wenn sich schon der Erste PGF der CDU in so einer Sache, die angeblich gar keine Bedeutung hat, hierhinstellt, der Erste PGF der SPD noch hinterherkommt und der Generalsekretär der CDU sich hier gleich als Feuerlöscher beweisen will, dann kochen die Emotionen richtig hoch bei Ihnen, und das Ende von Jens Spahn ist nicht mehr besonders weit. Denn schon wieder steht Jens Spahn in den Schlagzeilen. Die negativen Berichte über seine Person, seine Leistungen und seine Geschäfte nehmen nicht ab, sondern zu.
Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass die gegenwärtigen Ereignisse eigentlich mehr der Gipfel eines Eisberges sind oder auch der Tropfen, der den Eimer zum Überlaufen bringt. Aber die SPD macht da natürlich gerne mit, klammert sich an jeden Strohhalm, um die Fünfprozenthürde bei der nächsten Bundestagswahl zu überwinden, und macht sich hier zum Vorkämpfer der Entrechteten und Armen.
Ausgerechnet die SPD, deren „Gesundheitsexperte“ Lauterbach nicht mal im Gesundheitsausschuss sitzt – und der heute auch nicht da ist –, ausgerechnet diese SPD, deren „Gesundheitsexperte“ Lauterbach vor Kurzem noch empfohlen hatte, sich Staubsaugerbeutel um den Kopf zu wickeln, um Corona zu bekämpfen, ausgerechnet Sie skandalisieren jetzt eine angeblich fehlende Zertifizierung von Masken.
({1})
Wirklich sehr eigenartig!
Aber es geht nicht um die SPD – über diese Splitterpartei haben wir genug geredet –, sondern es geht um Jens Spahn. Denken wir mal 15 Monate zurück: Am Anfang der Coronakrise sah es noch ganz gut aus. Jens Spahn wurde in den Medien als Shootingstar der Krise gefeiert und als souverän agierend dargestellt. Dann begab er sich in den Wahlkampf um die Spitzenkandidatur und als CDU-Vorsitzender, beschäftigte sich mit dubiosen Immobiliengeschäften und wurde dann selbst zur größten Krise.
Wir erinnern uns: Bereits im Frühjahr 2020 scheiterte er bei der Beschaffung der Masken. Deshalb wurde zunächst behauptet, Masken brächten nichts. Es wären Virenschleudern, hat sogar Frau Merkel gesagt, und im Zweifel reichte es, ein Tuch um den Kopf zu wickeln oder einen Staubsaugerbeutel, wie es die SPD empfohlen hat.
Als das Spahn-Ministerium dann aufwachte, nachdem Herr Spahn zwischen mehreren Notarterminen mal etwas Zeit gefunden hatte, hat er dann planlos weltweit, kreuz und quer, irgendwelche Masken geordert, die allerdings zu größten Teilen unbrauchbar und maßlos überteuert waren. So hat er mal eben Milliardenschäden verursacht, und wahrscheinlich sind Millionen Euro an Anwaltskosten fällig – ganz dubiose Geschäfte; der Kollege Keuter hatte darauf hingewiesen.
Von den Maskendeals profitiert haben auch und vor allem – jetzt schaue ich mal wieder in die Reihen der CDU/CSU – viele von Ihren Abgeordneten, wobei interessanterweise bisher lediglich die Hinterbänkler bekannt geworden sind. Ich bin mal gespannt, was in Zukunft noch alles dazu herauskommt, was sich die Vorderbänkler so alles eingesteckt haben.
Herr Spahn kümmerte sich um das Unternehmen Fiege; wir haben es schon gehört. Das ist nicht weit von seinem Wahlkreis weg, und man kennt sich sicher. Auch der Ehegatte des Herrn Spahn, eine Art Strippenzieher des Burda-Konzerns – kein Wunder, dass Herr Spahn so gut in den Medien davonkommt –, soll beteiligt gewesen sein. Alles in allem möglicherweise ein Finanzierungsmodell für Immobiliengeschäfte der Familie Spahn.
Dann der Impfstoff: zu wenig bestellt, auf die Europäische Union verlassen, Chaos bei der Lieferung, keine verlässlichen Impftermine – mal der September, mal der Juni, dann weiß man’s nicht genau, alles möglichst noch vor der Wahl. Versprechen, aber nix halten, nur um an der Wahlurne erfolgreich zu sein. Aber, Herr Grosse-Brömer, das wird nicht geschehen.
Die Schnelltestzentren schossen wie Pilze aus dem Boden. Jeder Anbieter erhält ohne Überprüfung 18 Euro. Es wird nicht geprüft, ob getestet wurde; es wird nicht geprüft, wie getestet wurde. Jeder kann sich die Taschen vollmachen; Betrüger und Krisenprofiteure kommen auf ihre Kosten. Alles auf Kosten der Steuerzahler, Herr Spahn, und Sie bemühen sich nicht mal, den Betrügern auf die Schliche zu kommen.
Ich bin gespannt, wer sich da bei den Altparteien die Taschen vollgemacht hat. Die Masken hatten wir gerade. Die Schnelltests sind ein Milliardengeschäft. Ich denke mal, da wird der Corona-Untersuchungsausschuss in der nächsten Wahlperiode einiges zum Vorschein bringen. Und was die Beschaffung des Impfstoffs angeht, ist es das Gleiche.
Der nächste Reinfall, Herr Spahn: die Corona-Warn-App: völlig überteuert, viel zu spät, kaum genutzt, kaum einer will sie, keiner braucht sie, Weiterentwicklungen gibt es nicht – peinlich für „Made in Germany“. Das ist ein Beweis dafür, in welch erbärmlichen Zustand Sie und Ihre Regierung unser Land gewirtschaftet haben. Nichts funktioniert hier; wir machen uns zum Gespött der Welt.
({2})
Das feuchtfröhliche Spendendinner von Herrn Spahn wurde noch erwähnt: 9 999 Euro Eintritt. Herr Spahn hat mit seinen Parteigenossen gefeiert, als die Leute draußen an Corona gestorben sind. – Und das ist erbärmlich, Herr Spahn, was Sie sich da geleistet haben.
({3})
Meine Damen und Herren, üblicherweise endet man mit einer Rücktrittsforderung und sagt: So geht es nicht weiter, Herr Spahn, treten Sie zurück. – Aber ich bin sicher, Frau Merkel wird Sie im Amt halten. Deshalb von dieser Stelle, Herr Spahn: Genießen Sie die letzten Monate im Amt. – Jetzt fragt man sich: Wie hört man auf?
({4})
Ich habe gestern mit dem Kollegen Martin Hohmann gesprochen, und der hat gesagt: Stephan, ich empfinde eigentlich nur noch Mitleid mit Herrn Spahn. – Und wissen Sie was, Herr Spahn?
({5})
Mir geht es genauso. Genießen Sie die letzten Monate im Amt, und dann ist auch Feierabend, denke ich mal, für Ihre parteipolitische Karriere hier in Deutschland.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Carsten Schneider.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist auch ein Ort für eine scharfe politische Auseinandersetzung. Dazu komme ich noch.
Ich finde aber, dass das, Herr Brandner, was Sie hier eben gemacht haben, und zwar dieses Insinuieren von möglichen Geschäften des Ehemanns von Herrn Spahn, wofür es keinen Beweis und auch keinen Beleg gibt, nur Ihre Verleumdung, eine Sauerei ist.
({0})
Das gehört sich nicht. Ich weise das in aller Schärfe zurück. Ich finde, Sie können sich mit dem Gesundheitsminister als politischer Person auseinandersetzen, aber nicht mit Angehörigen, wofür Sie keinerlei Belege haben.
Ich will zu drei Punkten was sagen: erstens zum Vorgang der Masken, zweitens zur Bilanz des Gesundheitsministers und drittens zur Koalition. Herr Ziemiak kommt ja auch noch.
Erstens: dieser Maskenvorgang. Die Sozialdemokraten stehen dafür – das haben wir auch durchgesetzt –, dass vulnerable Gruppen, Leute, die wenig Geld haben, die aber Schutz brauchen – Obdachlose, auch Arbeitslosengeld-II-Empfänger und andere –, die notwendige Schutzausrüstung bekommen: FFP2-Schutzmasken. Das haben wir gefordert; das haben wir politisch auch durchgesetzt. Es war auch richtig.
Und diese Masken sollen natürlich die gleichen Schutzstandards und Vorkehrungen haben wie die allen anderen zur Verfügung gestellten Masken. Deswegen hat das Arbeits- und Sozialministerium klar gesagt, dass die nicht getesteten Masken, die sich jetzt in Reserve befinden und die, sollten sie mal genutzt werden, nach allen Standards getestet werden müssen, nicht zur Verfügung gestellt werden. Diese Entscheidung war richtig, und ich bedanke mich bei Hubertus Heil für diese klare Kante.
({1})
Dass daraus jetzt eine Aktuelle Stunde, ein politischer Vorgang an sich geworden ist, hat ein bisschen was mit der gesamten Leistungsbilanz der politischen Person Jens Spahn zu tun; zu der komme ich jetzt.
({2})
– Ja, die Aktuelle Stunde findet statt auf Antrag der Linken.
Das Erste ist: Diese Koalition hat, glaube ich, in der Coronapandemie zwar mit Fehlern, klar, aber dem Grunde nach richtig und ordentlich gehandelt. Wir sind in Deutschland gut damit gefahren.
Zweitens. Herr Spahn hat zu Beginn der Pandemie gesagt – das war, glaube ich, hier im Bundestag, in einer Regierungsbefragung –, man werde sich viel verzeihen müssen. Das war sehr vorausschauend, insbesondere was das eigene Ressort betrifft. Und da habe ich doch mehr als Kritikpunkte, nämlich auch wirklich einschlägig eine andere Einschätzung.
Erstens. Die Impfstoffbeschaffung kam zu spät. Sie war auf europäischer Ebene zu gering. Sie war in Teilen zu geizig. Und wenn Deutschland und Herr Spahn als Gesundheitsminister damals in der EU die Federführung dafür auch mit hatte, so hätten wir dort schneller und auch tiefgreifender handeln müssen. Das hätte uns ein, zwei Monate früher mehr Impfstoff beschafft.
Zweitens. Worüber ich mich wirklich sehr geärgert habe, war die Testverordnung.
({3})
– Herr Ziemiak, es geht um Milliarden.
Herr Spahn hat – ich glaube, es war Mitte Februar – angekündigt: Zum 1. März haben alle Tests. – Nichts war vorbereitet, gar nichts. Was daraus folgte, war zum 1. April in der Konsequenz ein viel zu hoher Preis – 18 Euro – und durch fast keine Kontrollen eine Einladung zur Selbstbedienung. Dieser Fehler kostet uns sehr, sehr viel Geld, und er war absehbar. Er war absehbar, und auch Haushaltspolitiker dieser Koalition haben darauf hingewiesen, dass es in weiten Teilen eine Einladung zum Betrug ist und vor allen Dingen auch mit zu hohen Kosten verbunden ist. Das ist eine politische Verantwortung, Herr Spahn, die Sie tragen und die wir als Sozialdemokraten nicht mittragen, im Gegenteil.
Zum Zweiten: das Impfangebot für Kinder ab zwölf, wenn kein Impfstoff da ist. All das sind Enttäuschungen, die hervorgerufen wurden, die nichts mit klugem Erwartungsmanagement in der Politik zu tun haben.
Nun will ich aber noch einen Satz zur Koalition sagen. Die SPD hat diese Debatte nicht aufgemacht.
({4})
Die SPD hat auch nicht dafür gesorgt, dass es dafür eine Veröffentlichung gäbe, überhaupt nicht. Was ich aber sagen will, ist, dass diese sozialdemokratische Partei und diese Fraktion zu dieser Regierung stehen.
Und ich kann Ihnen nur eines sagen, Herr Grosse-Brömer, von Kollege zu Kollege: Es ist eure Fraktion, die viele Beschlüsse, die das Kabinett getroffen hat, blockiert und nicht zum Abschluss im Deutschen Bundestag bringt. Ich nenne mal das Wehrhafte-Demokratie-Gesetz, ich nenne Kinderrechte im Grundgesetz, Streichung des Rassebegriffs, Unternehmenssanktionsrecht, die hälftige Aufteilung der Erhöhung des CO2-Preises zwischen Vermietern und Mietern:
({5})
All das hat das Kabinett, hat eure Bundeskanzlerin mit beschlossen, und ihr seid als Fraktion nicht bereit, es hier im Bundestag mit zu beschließen.
({6})
Das ist so eine Entfernung von Regierungsfähigkeit und letztendlich auch eine Entfremdung zur Regierung, dass ich nur sagen kann, um das abzuschließen: Wir werden es im September sehen. Aber ein paar Jahre in der Opposition täten euch auch gut.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Carsten Schneider. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Susanne Ferschl.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ganz offensichtlich haben wir erneut einen Maskenskandal. Milliarden an Steuergeldern werden verbrannt, während gleichzeitig viele Menschen dringend Unterstützung bräuchten. Verantwortlich dafür ist Gesundheitsminister Jens Spahn. Es ist der Jens Spahn, der vor drei Jahren sagte – ich zitiere –: Hartz IV bedeutet keine Armut. Damit hat jeder, was er zum Leben braucht. – Und: Andere bezahlen schließlich über ihre Steuern diese Leistungen. – Dieses schräge Bild gegenüber armen Menschen und dem Umgang mit Steuergeldern setzt sich jetzt fort.
Aber fangen wir von vorne an. Ich muss ein bisschen ausholen, um den Gesamtzusammenhang darzustellen. Am Anfang der Pandemie waren die Masken knapp, weil man es versäumt hatte, Bestände aufzubauen, obwohl Krisenszenarien ganz eindeutig vorhersagten, was passieren könnte. Es musste ein schnelles unbürokratisches Beschaffungsverfahren organisiert werden, und irgendwann wurde das Ministerium mit Angeboten überschüttet.
Es gibt Lieferanten, die warten noch bis heute auf ihr Geld. Das alleine hat Gerichtskosten in Millionenhöhe verursacht. Auf der anderen Seite gab es Lieferanten, denen man die Kohle hinten und vorne reingesteckt und Mondpreise für überteuerte Masken bezahlt hat, wie zum Beispiel das Schweizer Jungunternehmen Emix, dessen Geschäftsführer sich jetzt den einen oder anderen Ferrari leisten können. Dieser Deal wurde über Frau Tandler, die Tochter des CSU-Politikers, ganz offensichtlich mit Ihnen persönlich eingefädelt. In der Union war es immer schon so, dass man sich offensichtlich ganz gut kennt.
Von dieser Goldgräberstimmung fühlten sich auch weitere Unionskollegen von Spahn wie Georg Nüßlein und der frühere bayerische Justizminister Alfred Sauter angezogen. Die haben mit ihren Maskengeschäften mitten in der größten Krise ohne Skrupel die eigenen Taschen vollgestopft. Das ist doch ungeheuerlich, meine Damen und Herren!
({0})
Was bei all dem durch zu lasche Prüfverfahren auf der Strecke blieb, war die Qualität der Masken. Und jetzt ist öffentlich geworden, dass das Gesundheitsministerium Hunderte Millionen von Masken bestellt hat, die gar keine europäische Zulassung haben. 1 Milliarde Euro hat das Ministerium dafür ausgegeben, 1 Milliarde Euro für minderwertige Masken! Und was mich wirklich anwidert: Bei Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern gerieren Sie sich als Steuersparer. Aber wenn Steuergelder in Millionenhöhe verbrannt werden, dann spielt das keine Rolle. Es ist wirklich ungeheuerlich.
({1})
Aber es geht noch weiter. Diese Masken sollten jetzt offensichtlich an Menschen mit Behinderung, Obdachlose und Grundsicherungsempfänger verteilt werden. Und das Gesundheitsministerium behauptet, diese Masken seien auch ohne Zertifikat für die Pandemie geeignet. Aber ich habe ja gelernt: Offensichtlich kann sich hier jeder sein eigenes Zertifikat basteln.
Um eines in aller Deutlichkeit zu sagen: Ein Pandemieschutz erster und zweiter Klasse ist definitiv nicht hinnehmbar. Alle Menschen haben den gleichen Schutz verdient.
({2})
Diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, trifft die Pandemie sowieso schon viel härter als Wohlhabende. Während Deutschlands Milliardäre in der Krise um 100 Milliarden Euro reicher geworden sind, haben Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen massive Einkommensverluste und sind siebenmal häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. Aber die Bundesregierung hat weder ein Mindestkurzarbeitergeld eingeführt noch die Bezugszeiten vom Arbeitslosengeld verlängert. Empfänger/-innen von Grundsicherung hatten mit Mehrausgaben und gestiegenen Lebensmittelpreisen zu kämpfen. Aber es gab keinen monatlichen Pandemiezuschlag, so wie wir ihn gefordert hatten.
Dauernd wird uns hier erzählt, dafür gäbe es kein Geld. Aber hier wird vom Gesundheitsministerium – jetzt rede ich noch nicht mal vom Verkehrsministerium – Geld in Milliardenhöhe verbraten. Das ist doch mit vollen Händen zum Fenster rausgeworfen. Das ist doch skandalös.
({3})
Ich könnte jetzt noch einiges sagen, aber auch meine Redezeit reicht dafür nicht aus: über die verschlafene Impfkampagne, die vermasselte Corona-Warn-App, über die Bereicherung an den Teststationen, die Verwirrungen um den digitalen Impfnachweis, die Impfaktion für Kinder usw. Aber dafür bräuchte ich tatsächlich eine längere Redezeit.
Sie haben gesagt, Herr Spahn, man müsse sich in der Pandemie vieles verzeihen können. Aber es geht nicht um Verzeihen. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für die Politik, die unter Ihrer Führung gemacht wurde, und die Skandale, die Sie produziert haben.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Rudolf Henke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe ja die Aufgabe, mich für meine Fraktion im Gesundheitsausschuss um das Infektionsschutzgesetz zu kümmern. Deswegen kenne ich die dortigen Debatten und die Gesetzgebungsprozesse, die wir als Koalition vorgenommen haben.
Da gibt es jetzt diesen heiß diskutierten CPI-Standard. Da wird so getan, als wäre dieser CPI-Standard nichts wert, hätte keine Bedeutung und als wären diejenigen, die diesen CPI-Standard anwenden, welche, die menschenverachtend sind, weil sie anderen zumuten, mit Masken versehen zu werden, die kein Schutzniveau liefern, während andere Masken, die nach einem anderen Standard geprüft sind, ein Schutzniveau gewährleisten. Das ist ja der Kern- und Ausgangspunkt dieser Debatte. Dann wird das mit dem Vorwurf der Menschenverachtung garniert.
Ja, es kann ja sein, dass jemand außerhalb des Parlaments zu einem solchen Eindruck gelangt. Jedenfalls konnten wir das in der „Bild am Sonntag“ lesen. Aber dieser heiß diskutierte CPI-Standard ist in einer Anlage zu § 5b Infektionsschutzgesetz abgebildet, der die Schutzmasken für die Nationale Reserve Gesundheitsschutz bestimmt. Auf welches Gesetz geht dieser Paragraf zurück? Auf das Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze. Das ist hier in diesem Haus von beiden Koalitionsfraktionen eingebracht worden, ist am 20. Mai beschlossen worden und hat am 20. Mai auch die Zustimmung der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen erhalten.
({0})
– Da müssen Sie sich mal dran erinnern, Herr Schinnenburg.
({1})
Ich habe Verständnis dafür, wenn Parteien, die das damals abgelehnt haben, jetzt sagen: Wir leiten aus unserer damaligen Ablehnung heute Kritik ab. – Aber das Protokoll des Parlaments zu der Verabschiedung dieses Gesetzes ist eindeutig. Bei diesem Gesetzentwurf ging es um einen Änderungsantrag zu § 5b Absatz 4 Infektionsschutzgesetz. Da haben wir gemeinsam folgenden Satz beschlossen:
Die in der Nationalen Reserve Gesundheitsschutz vorgehaltenen Schutzmasken müssen einem in der Anlage genannten Maskentyp entsprechen.
Auch der Maskentyp CPI ist dort aufgeführt. Zielland: Deutschland, Prüfgrundsätze nach BMG, BfArM und TÜV, „Vom Bund im Rahmen seiner hoheitlichen Aufgaben nach … der Verordnung vom 8. April 2020 … beschaffte Schutzmasken“. Alles völlig transparent.
Ich weiß nicht, ob sie hier ist, aber ich würde Frau Mattheis als Berichterstatterin zur Zeugin anrufen; denn sowohl sie als auch ich haben im Gesundheitsausschuss diesen Änderungsantrag eingebracht, begründet und vertreten und haben dafür geworben, dass der Gesundheitsausschuss das in seine Beschlussempfehlung aufnimmt. Und ja, es gab und gibt zwischen Gesundheitsministerium und Arbeitsministerium offenbar Differenzen, aber am Ende gar keinen fachlichen Dissens, nach diesem Verfahren vorzugehen. Die Beratungen zur Belieferung von vulnerablen Gruppen waren zwischen beiden Ministerien abgestimmt.
Übrigens hat auch in der Antwort auf Ihre, Frau Klein-Schmeink, vorhin genannte Anfrage die Bundesregierung einvernehmlich geantwortet und hat ja gesagt, dass die Durchlassprüfung mit Paraffin nicht notwendig ist, sondern dass eine Durchlassprüfung mit NaCl ausreicht. Diese Position ist keine, die das BMG alleine vertreten hätte. Herr Minister Heil, das haben Sie im Rahmen der Ressortabstimmung gemeinsam so in die Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen reingeschrieben.
({2})
Deswegen, finde ich, muss man sich auch jetzt daran gebunden halten.
Daher ist der Vorwurf, dass dort Menschenverachtung am Werk sei – –
({3})
– Ja, es ist aber Ihr Parteivorsitzender, verehrter Herr Minister Heil, der es der „Bild am Sonntag“ vorgetragen hat. – Das will ich doch noch mal in Erinnerung rufen: Wer als Gesundheitsminister Menschen in zwei Klassen einteilt, nämlich in solche mit Anspruch auf qualitätsgeprüfte Masken und die, für die absolut untaugliche Masken gut genug sind, der ist unwürdig und menschenverachtend. – Wenn das stimmt, dann sind wir Abgeordnete von Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen,
({4})
die dem zugestimmt haben, in der gleichen Weise betroffen wie Jens Spahn. Das, finde ich, muss man festhalten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Rudolf Henke. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Martina Stamm-Fibich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wäre mir lieber, wenn wir uns heute nicht schon wieder mit dem Thema Schutzmasken auseinandersetzen müssten. Aber es stehen Vorwürfe im Raum, die einfach aufgeklärt werden müssen.
Lieber Herr Spahn, zu Beginn der Pandemie haben Sie sinngemäß gesagt, dass wir uns in ein paar Monaten wahrscheinlich gegenseitig viel verzeihen müssen.
({0})
Dieser Satz gilt für mich nach wie vor. Ich mache Ihnen deshalb auch keinerlei Vorwürfe bezüglich der chaotischen Beschaffungsphase zu Beginn der Pandemie. Dass in solchen Krisensituationen auch mal Ware im Einkaufskorb landet, die nicht alle regulären Standards erfüllt, ist fast unvermeidlich. Auf diese Klarstellung lege ich großen Wert.
Heute und hier geht es aber um etwas anderes. Heute geht es darum, wie Sie und Ihr Ministerium mit dieser Ware umgegangen sind. Was wir aktuell wissen: dass das BMG insgesamt dreimal versucht hat, diese nicht regulär zertifizierten Masken auf verschiedene Art und Weise unters Volk zu bringen. Jedes Mal hat das BMAS diesen Versuchen widersprochen. Interessantes Detail ist da, dass zu dem Zeitpunkt, im Herbst 2020, in Deutschland kein Mangel an FFP2-Masken herrschte.
({1})
Es ist also eindeutig, dass das BMG mehrfach versucht hat, Masken, die nicht dem ursprünglich von BMG, BMAS und den Ländern erarbeiteten CPA-Prüfstandard entsprechen, unter die Leute zu bringen, und das, obwohl sichere Masken verfügbar waren. Allein das Einschreiten des BMAS hat diesen Vorgang letztlich verhindert und dazu geführt, dass korrekt zertifizierte Masken ausgegeben wurden.
({2})
Jetzt wird vonseiten des Ministers vorgebracht, dass dies alles ja überhaupt nicht verwerflich sei, denn die CPI-zertifizierten Masken würden ja aus infektionstechnischer Sicht gegenüber den CPA- und CE-zertifizierten Masken keine Nachteile aufweisen. Darüber hinaus sei ja auch streng und engmaschig kontrolliert worden.
Genau hier ist aber die Krux: Diese Behauptung des Ministeriums steht auf wackeligen Beinen, weil uns zahlreiche Berichte über Schrottmasken ohne CE-Kennzeichnung erreichen, die bereits ausgeliefert worden sind.
In Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern haben Nachprüfungen ergeben, dass ein großer Teil der vom Bund gelieferten CPI-Masken in puncto Durchlässigkeit weit über den zugelassenen Normwerten liegt. Daraus könnte man verschiedene Schlüsse ziehen: Entweder ist das eigens entwickelte CPI-Prüfverfahren von BMG und seinen Partnern nicht geeignet, oder es wurde einfach nicht korrekt und ausreichend häufig angewendet. In diesem Zusammenhang kann das BMG dann auch gleich noch die Frage beantworten, weshalb die einschlägigen Experten aus den Bereichen Unfallversicherung und Produktsicherheit – dazu gehören die ZLS, die DEKRA und das IFA – den vom BMG ausgearbeiteten CPI-Prüfgrundsatz in puncto Infektionsschutz für unzureichend halten. Vielleicht liegt diese Meinungsverschiedenheit ja auch darin begründet, dass Ihnen die an der Ausarbeitung beteiligten Organisationen und Institutionen unterstehen.
Wenn das BMG wirklich beweisen will, dass kein Fehlverhalten vorliegt, dann muss es jetzt Auskunft darüber geben, wann, wo, wie und mit welchem Ergebnis die betroffenen Masken getestet worden sind.
({3})
Weiter muss aufgeklärt werden, ob das BMG den Berichten über Lieferungen von mangelhaften CPI-Masken im vergangenen Sommer entsprechend nachgegangen ist und ob daraus dann auch Konsequenzen für das Testverfahren gezogen worden sind.
Ich fasse zusammen: Wir haben in den Ländern KN95-Masken, die vom Bund beschafft wurden und trotz Durchlaufs eines mehrstufigen Prüfverfahrens offenbar nicht verwendbar sind. Wir haben ein Ministerium, das dreimal versucht hat, Schutzmasken, die nicht den konsentierten Standards entsprechen, unters Volk zu bringen. Und wir haben ein Ministerium, das wichtige Details über die tatsächliche Prüfpraxis bei diesen Masken noch nicht herausrückt und eine Nachprüfung der Masken bisher verhindert hat.
Fehler können passieren, gerade in der Pandemie. Aber dieses Haus hat jedes Recht, Aufklärung zu verlangen, um Wiederholungen zu vermeiden. Das, sehr geehrter Herr Minister Spahn, ist der Auftrag aus dieser Debatte.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Martina Stamm-Fibich. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: Paul Ziemiak für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt die ersten Meldungen über das Thema der heutigen Aktuellen Stunde las, blieb mir der Atem stehen;
({0})
denn die Meldungen lauteten, dass der Bundesgesundheitsminister vorsätzlich wollte,
({1})
dass sogenannte Schrottmasken, die nicht vor Corona schützen, perfiderweise an Hartz-IV-Empfänger und Behinderte ausgeliefert werden. Das fand ich skandalös. Ich konnte es nicht glauben, und ich sollte recht behalten. Das Bundesgesundheitsministerium und der Bundesminister selbst haben bezüglich der Frage, welche Masken wie ausgeliefert wurden, alles aufgeklärt.
Wir haben gerade über Prüfnormen diskutiert. Fest steht heute in der Aktuellen Stunde, dass es weder den Plan gab, irgendwelche Masken, die nicht vor Corona schützen, an Behinderteneinrichtungen, an Sozialhilfeempfänger und an Hartz-IV-Empfänger auszuliefern, noch dass sie am Ende ausgeliefert wurden. Das stimmt einfach nicht.
({2})
Es waren gute Masken; sie waren geprüft. Der Schutz der Menschen und insbesondere der vulnerablen Gruppen stand immer ganz oben auf der Agenda des Bundesgesundheitsministers und des Bundesgesundheitsministeriums. Herr Bundesminister Heil sitzt doch hier. Er würde ja widersprechen, wenn das, was ich hier sage, nicht stimmen würde. Deswegen gab es keinen Dissens.
Wissen Sie, was schlimm ist? Schlimm ist, dass, obwohl alles aufgeklärt ist, obwohl wir wissen, dass die Behauptung eines menschenunwürdigen Vorgehens falsch ist, dies nicht zum Anlass genommen worden ist, sich zu entschuldigen und zu sagen: So war es in Wahrheit nicht. – Stattdessen wurde hier auf eine Aktuelle Stunde beanstanden, obwohl man weiß, wie viele Millionen Menschen man in Deutschland verunsichert, wenn man das immer wieder trotz besserem Wissen behauptet.
({3})
Gerade wurde gefragt: Warum spricht der CDU-Generalsekretär in dieser Debatte? – Ich kann es Ihnen sagen: Die Vorsitzende der SPD und die ganze SPD-Führung sprechen von menschenunwürdigem Verhalten und plappern dies in jedes Mikrofon, das da draußen steht; aber wenn dieses Thema im Plenum des Deutschen Bundestages behandelt wird, sind sie irgendwo anders und geben wieder andere Interviews, anstatt hier mal das Wort zu ergreifen und zu sagen, was sie eigentlich meinen.
({4})
Im Gegensatz zur Führung unseres Koalitionspartners finde ich, dass es ein Zeichen des Respekts ist, dass ich, wenn ich als Generalsekretär Interviews zu dem Thema gebe, dann auch hier im Plenum stehe und dazu etwas sage.
({5})
Ich muss, an unseren Koalitionspartner gerichtet, etwas leider ganz offen sagen. Ich habe mir noch mal die Selbstverpflichtung der SPD zum fairen Wahlkampf angeschaut; das wurde durch die PR-Abteilung ja noch mal nach vorne gebracht. Da steht unter Punkt 2 – bitte zuhören –: Verlässliche Quellen und Fakten sind das Fundament unserer politischen Kommunikation. – Jetzt wird es noch besser: Wir überprüfen Behauptungen Dritter, bevor wir sie verbreiten. -
({6})
Jetzt ist die Frage: Was ist die Konsequenz daraus? Was heißt das jetzt? Sie haben gegen Ihre eigene Selbstverpflichtung verstoßen.
({7})
Übrigens glaube ich nicht, dass Parteien, wenn sie in der politischen Mitte sind, Selbstverpflichtungen brauchen. Wir brauchen keine Selbstverpflichtung. Fairer Wahlkampf ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
({8})
Aber was heißt das jetzt? Sie haben dagegen verstoßen, behaupten das in Teilen noch weiter, und es gibt keine Konsequenz. Das ist das Papier nicht wert, auf dem das geschrieben steht. Diese Selbstverpflichtung funktioniert offensichtlich nicht.
Ich bin Vater zweier Kinder, und ich gebe Ihnen einen Tipp. Es gibt ein wunderbares Buch; „Fredy flunkert“ heißt es.
({9})
Der Verlag schreibt – das gilt nicht nur für die SPD, sondern auch für alle anderen, die heute Falsches behauptet haben –: Nett und liebevoll werden die Charaktere gezeichnet. Sicher ein gutes Buch, um mit Kindern über das Thema „Schwindeln, Lügen, Übertreiben und wie schlecht es ist, andere schlechtzumachen“ zu diskutieren. – Das sollten Sie mal verteilen.
({10})
Es sind, wie leider so häufig in der Geschichte unseres Landes, Falschbehauptungen. Die Grünen sind vor dem Parteitag wieder mit sich selbst beschäftigt. Alles geschenkt! Sie haben jetzt keine Zeit fürs Land. Vielleicht streichen Sie „Deutschland“ sogar aus dem Titel Ihres Wahlprogramms. Am Ende geht es darum, wer Verantwortung dafür übernimmt, wie wir nach dem Sommer aus dieser Krise kommen, wie wir unsere wirtschaftliche Stabilität bewahren und wie wir vernünftig und schlicht auf dem Boden von Tatsachen diesem Land dienen. Dafür steht die CDU/CSU bei dieser Bundestagswahl.
({11})
Ihre Redezeit ist zu Ende, Herr Generalsekretär.
Die Bundesregierung soll für das Land arbeiten, die Parteizentralen machen Wahlkampf – nicht andersrum. Manche Ministerien der SPD kann man leider mit dem Willy-Brandt-Haus verwechseln.
Danke.
({0})
Danke schön, Herr Ziemiak. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für den schönen Gruß zum Geburtstag. Jawohl, es ist eine Freude und ein schönes Geschenk, diesen Jahresbericht 2020 heute vorbringen zu können und auch an den Präsidenten übergeben zu haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie viel wissen Sie über den blutigen Konflikt in Kamerun? Was glauben Sie, wie viele Familien noch heute unter den Folgen der Zwangsadoption zu Zeiten der DDR leiden? Oder kennen Sie die Probleme von Patienten, die zur Behandlung ihrer Schmerzen Cannabis verschrieben bekommen und sich dennoch oft einem Strafverfahren stellen müssen? Diese und andere Fälle sind die Grundlage unserer Arbeit im Petitionsausschuss. Mit der schieren Bandbreite, die ich beschrieben habe, beschäftigen wir uns regelmäßig; wir gehen den Fragen auf den Grund. Der Petitionsausschuss des Bundestages mischt sich in Themen ein, die wesentliche Teile unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger bewegen. Wir tragen sie letztlich in dieses Parlament, auch wenn sie nicht immer auf Platz eins des öffentlichen Fokus stehen.
Während zu Beginn dieser Legislatur im Jahre 2017 noch gut 11 500 Petitionen jährlich beim Ausschuss eingingen, waren es inzwischen gut 14 300 Petitionen im Jahr 2020. Das ist ein Zuwachs um 25 Prozent. Etwas über die Hälfte dieser Eingaben enthielt Beschwerden im Einzelfall, 43 Prozent enthielten Anregungen zur Gesetzgebung. Während der Anteil persönlicher Beschwerden zu Beginn dieser Legislatur mit knapp 80 Prozent noch deutlich überwog, hat sich der Anteil konstruktiver Vorschläge zur Gesetzgebung bis Ende letzten Jahres um 50 Prozent gesteigert und ist fast gleichauf mit den persönlichen Anliegen. Dies zeigt: Bürgerinnen und Bürger wollen sich beteiligen, sich stärker mit ihren persönlichen Ideen für die Zukunft unseres Landes einsetzen. Das Petitionsrecht ist dabei zu einem bereichernden Instrument direkter Demokratie geworden und wird von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch als solches verstanden. Diese positive Entwicklung macht mich als Vorsitzenden persönlich sehr stolz.
Wie zu erwarten war, stand das vergangene Jahr auch für uns mit rund 1 800 Petitionen im Zeichen der Coronapandemie. Viele der Petitionen sind dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zuzuordnen. Gerne möchte ich dem BMG an dieser Stelle für die wirklich stets gute Zusammenarbeit – trotz der widrigen Umstände – danken. Besonders freut mich, dass Jens Spahn als einziger Minister persönlich sein Haus regelmäßig in öffentlichen Anhörungen vertritt und sich den Fragen unseres Ausschusses stellt. Ganz herzlichen Dank!
({0})
Petitionen dienen dem Parlament als wichtiger Gradmesser für die Umsetzung von Gesetzen und zeigen auf, was die Menschen bewegt. Die Mitglieder des Ausschusses bemühen sich mit großem Engagement, für jeden Einzelnen die bestmögliche Lösung zu erreichen. Bei sehr komplexen Themen kann sich die Bearbeitung auch über mehrere Jahre strecken. Aber wenn am Ende ein gutes Ergebnis herauskommt, lohnt sich die Mühe. So ist es beispielsweise bei der Petition zu den gestohlenen Kindern der DDR, die ich damals als eine meiner ersten Amtshandlungen im April 2018 übernommen habe. In den vergangenen dreieinhalb Jahren konnten wir sehr viele gute, konstruktive Gespräche im Hause mit den Betroffenen und der Bundesregierung führen und Gesetzesänderungen initiieren. Ich bin nun zuversichtlich, dass wir dies in der letzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode zu einem guten Abschluss bringen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an keiner anderen Stelle dieses Parlaments – das zeigt dieses Beispiel – ist man näher an den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Themen dran als im Petitionsausschuss. Die Arbeit macht mir persönlich viel Freude und am Ende häufig auch einen Unterschied für unsere Petenten, wenn wir als Ausschuss ein gutes Ergebnis vortragen.
In 26 Ausschusssitzungen wurden letztes Jahr 727 Petitionen zur Einzelberatung aufgerufen; das sind übrigens fast 75 Prozent mehr als zu Beginn dieser Legislatur. Mehr als eine halbe Million Menschen haben sich im Onlineportal des Petitionsausschusses neu registriert. Inzwischen zählt unser Portal annähernd 3,7 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer. Das sind gut 1,6 Millionen mehr als zu Beginn dieser Wahlperiode.
({1})
Das sind doppelt so viele registrierte Nutzer, wie es aktive Accounts bei Twitter in Deutschland gibt. Ich finde, auch das ist anerkennenswert.
({2})
Mit dem Instrument der öffentlichen Petition leistet der Petitionsausschuss einen wichtigen Beitrag zur Onlinepräsenz des Deutschen Bundestages und zur Versachlichung einer Debatte. Ich glaube, das können wir uns im Sinne einer ordentlichen parlamentarischen Diskussionskultur nur sehr wünschen.
890 Petitionen wurden auf der Internetplattform veröffentlicht und diskutiert – wiederum ein gutes Viertel mehr als noch zu Beginn dieser Legislaturperiode. Insgesamt konnten wir knapp 1 Million Mitzeichnungen, also Unterschriften, zählen.
Im Gegensatz zu mancher Diskussion bei Twitter oder anderen sozialen Medien werden Debatten auf unserer Plattform konstruktiv und mit Respekt für den Standpunkt des anderen geführt. Wir geben Petenten die Möglichkeit, ihre Themen öffentlichkeitswirksam zu platzieren, um Unterstützung für ihr Anliegen oder ihre Ideen zu gewinnen. Das große Engagement der Bürgerinnen und Bürger führte 2020 dazu, dass elf Petitionen das Quorum von 50 000 Mitzeichnungen erreichten und somit in einer öffentlichen Anhörung beraten wurden. Ich möchte folgende besonders hervorheben: Eine Petition war die Eingabe einer Petentin aus Hongkong, die Sanktionen der Bundesrepublik gegen das chinesische Regime wegen dessen fortlaufender Angriffe auf die Demokratie und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger Hongkongs forderte. Eine andere Petition beschäftigte sich unter anderem mit der CO2-Kennzeichnung für Lebensmittel, die Bürgerinnen und Bürger zu einem umwelt- und klimabewussteren Einkauf befähigen sollte. Ebenso beschäftigte uns in öffentlicher Sitzung die Petition zur Verlängerung und rechtssicheren Ausgestaltung von Soforthilfen für Selbstständige, damit sie die Coronapandemie wirtschaftlich überstehen.
All diese Petitionen greifen – das zeigen die Beispiele – höchst relevante Themen auf. Ich bin unseren Petenten sehr dankbar für ihr Engagement und ihre ehrenamtliche Einsatzbereitschaft für ein höheres Gut und eine bessere Zukunft, teils, wie im Fall der Hongkonger Petentin, unter Inkaufnahme eines hohen persönlichen Risikos. Dieser zivilgesellschaftliche Einsatz für Freiheit und Demokratie kann uns allen nur Beispiel sein.
({3})
Ich möchte deswegen alle Bürgerinnen und Bürger ermutigen, ihr Petitionsrecht wahrzunehmen. Egal ob es sich um ein ganz persönliches Anliegen im Konflikt mit Behörden oder eine Idee zur politischen Gestaltung handelt, die Mitglieder des Petitionsausschusses werden sich Ihrer Angelegenheit mit Engagement und Sorgfalt annehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach vier Jahren erfolgreicher Arbeit stehen wir nun vor dem Ende dieser Legislaturperiode. Ich selber werde dem 20. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören. Bitte erlauben Sie mir daher an dieser Stelle, mich bei allen Mitgliedern unseres Ausschusses sehr herzlich für die stets kollegiale und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu bedanken.
({4})
Gemeinsam haben wir in den letzten vier Jahren viele spannende Diskussionen zu den unterschiedlichsten Themen geführt. Trotz teilweise unterschiedlicher und großer inhaltlicher Differenzen stritten wir immer fair und mit Respekt für unser Gegenüber.
({5})
Wir sind ein gutes Team, und das hat mich als Vorsitzender mit Stolz erfüllt. Ich würde mich freuen, wenn nur der halbe Geist unseres Ausschusses in den Debatten des Plenums Eingang finden würde.
Aber ohne die exzellenten Vorbereitungen unseres Ausschussdienstes hätten wir das hohe Niveau unserer Zusammenarbeit besonders in diesen herausfordernden Zeiten nicht leisten können. Stellvertretend für den ganzen Ausschuss haben hinter mir Herr Dr. Paschmanns und Herr Dr. Janß Platz genommen. Ihnen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Ausschussdienstes möchte ich von Herzen danken.
({6})
Als ich 2018 Mitglied des Petitionsausschusses wurde, galt die Arbeit in diesem Gremium manchem noch als Bürde, als etwas, was gemacht werden musste, um an anderer, vermeintlich spannenderer Stelle mitarbeiten zu dürfen. Nach knapp vier intensiven Jahren der Ausschussarbeit möchte ich Ihnen und besonders den künftigen Mitgliedern dieses Hauses heute eines ans Herz legen: Gehen Sie in den Petitionsausschuss. Sie werden viel mehr über unser Land und unsere Mitmenschen lernen als an jeder anderen Stelle in diesem Haus.
({7})
Und was noch wichtiger ist: Sie können Menschen in konkreten Notlagen helfen und im Einzelfall mitunter mehr bewirken als im ganzen Verlauf eines Gesetzgebungsverfahrens.
Obgleich ich in naher Zukunft nicht mehr Mitglied dieses Hauses sein werde, möchte ich Ihnen versichern: Ich bleibe ein Botschafter des Petitionsausschusses. Dort arbeiten tolle Menschen, die sich mit voller Kraft für unsere Petenten und unser Land einsetzen. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger können sich voll auf sie verlassen. Das macht sie stolz. – Ich kann Ihnen zum Schluss nur zurufen: Werden auch Sie alle hier im Hause und dort draußen Botschafter dieses wunderbaren Ausschusses!
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Marian Wendt.
Ich möchte mich diesem Dank anschließen und Ihnen und allen Mitgliedern im Petitionsausschuss von ganzem Herzen danken. Ich glaube in der Tat: Kaum jemand, der nicht im Ausschuss arbeitet, hat eine Vorstellung davon, was Sie wuppen und was Sie wirklich leisten. Mit Ihrer Arbeit garantieren Sie, dass es Bürger- und Bürgerinnennähe gibt. Mit Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement zeigen Sie, was „Herzkammer der Demokratie“ dieses Parlaments bedeutet, indem Sie nah dran sind an den Sorgen und Problemen der Menschen. Ich danke Ihnen wirklich von ganzem Herzen! Das gilt für alle, die in diesem Ausschuss mitgearbeitet haben. Sie haben gesagt, Sie seien ein Team. Das kann man von den allermeisten Ausschüssen nicht behaupten. Tatsächlich ist es so, dass die Kolleginnen und Kollegen im Petitionsausschuss ihre Arbeit und ihr Engagement immer in den Vordergrund gestellt haben, auch über Parteigrenzen hinweg. Dafür von Herzen danke!
Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. Und vergessen Sie unsere Verabredung nicht!
({0})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin, ich weiß ja nicht, ob Sie mir nachher auch eine Verabredung anbieten. Warten wir’s mal ab.
({0})
Nein, das war umgekehrt. Er hat sie mir angeboten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bearbeiten jedes Jahr eine Menge Petitionen. Mehr Menschen wollen sich einmischen, und das ist auch gut so. Der Petitionsausschuss ist eben eine wichtige direkte Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Parlament. Wer starke Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern will, der muss auch den Petitionsausschuss und seine Arbeit stärken; denn es geht um den Kontakt unserer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu ihrem Parlament. Um diesen Kontakt zu verbessern, um deutlich zu machen, dass Petitionen willkommen sind, weil sie oft Schwachstellen in Gesetzen oder im Verhalten von Ämtern und Behörden offenlegen, ist es Zeit, dass der Ausschuss seine Arbeitsweise und seine Instrumente überdenkt.
({0})
Manche wenden sich aus Not, aus Verzweiflung, aus Unverständnis über den Umgang mit ihrem Anliegen durch Ämter und Behörden an uns. Zwei Beispiele: In einer Petition beklagt sich die Mutter einer schwerbehinderten jungen Frau über das bürokratische Gestrüpp zwischen Bundesteilhabegesetz und Krankenkassen. Offenbar hat ihr niemand ausführlich erläutert, an wen sie sich wenden kann, welche Leistungen ihr zustehen – das erst recht nicht – und wo sie sich beraten lassen kann. Hilfe aus einer Hand ist etwas anderes.
({1})
Im zweiten Fall hat ein sehbehinderter Mann ein Auto gekauft und wusste nicht, dass er dafür einen Zuschuss in Anspruch nehmen kann. Mit dem Hinweis, er habe aber den Empfang eines 47 Seiten langen Merkblatts unterschrieben, in dem unter anderem diese finanzielle Hilfe aufgeführt ist, wurde die nachträgliche Förderung abgelehnt. – In beiden Fällen mag es vielleicht formal korrekt zugegangen sein. Das in Ordnung zu finden, fällt schwer, und bürgerfreundlich ist sicher etwas ganz anderes.
({2})
Was ich von Anfang an nicht verstanden habe – das muss ich an dieser Stelle auch mal sagen –: Auch im Petitionsausschuss stimmen die Koalitionspartner nur gemeinsam ab.
({3})
Daher liegen viele Petitionen auf Halde. In Hessen, habe ich gehört, soll das auch so sein, Frau Rüffer.
({4})
Weil wir uns in der Koalition nicht einigen konnten, liegen viele Petitionen auf Halde. Manchmal ist schon der Wunsch, das zuständige Ministerium um eine Verbesserung der Informationen für Hilfe- und Ratsuchende zu bitten, nicht konsensfähig. Das versteht außerhalb dieser Mauern niemand, ich oft auch nicht.
({5})
Der Petitionsausschuss ist eben nicht wie andere Ausschüsse unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligt; er spielt eine Sonderrolle. Da wäre auch in einer Koalition manchmal mehr Souveränität und Selbstbewusstsein angebracht.
Aber auch andere Aspekte der Ausschussarbeit gehören auf den Prüfstand, etwa die Zugänglichkeit und Verbreitung unseres Onlineangebots oder die teilweise extrem lange Bearbeitungsdauer trotz des großen Engagements unserer Büromitarbeiter/-innen und auch der Mitarbeiter/-innen im Ausschussdienst.
({6})
Das sind einige Stellschrauben, um das Image des Petitionsausschusses als zentrales Argument für Bürgerbeteiligung zu stärken.
Ich komme sofort zum Schluss. – „Demokratie beginnt mit Dir“ ist das Motto der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Ein großartiger Satz! Der passt auch hier. Es ist ein Angebot und eine Aufforderung gleichermaßen, gerade in dieser Zeit. Lassen Sie uns als Demokraten bei allen Unterschieden dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger das auch so verstehen und sich weiter einmischen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Ralf Kapschack. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Johannes Huber.
({0})
Auch wenn ich keine Verabredung habe: Sehr geehrte Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages wurde in der 19. Wahlperiode auch und vor allem durch die AfD wiederbelebt.
({0})
– Ich kann das begründen. – Seit wir 2017 in dieses Hohe Haus eingezogen sind, hat sich die Anzahl der Petitionen jedes Jahr erhöht. Wir haben viele Menschen zurück in den politischen Diskurs gebracht, die sich vorher nicht mehr vertreten gefühlt hatten.
({1})
Im Jahr 2020 erreichten den Bundestag 6 Prozent mehr Petitionen als im Vorjahr. Vor allem zeigt sich eine signifikante Steigerung um 43 Prozent bei Anliegen an das Gesundheitsministerium. Sogar um knapp 50 Prozent gestiegen sind die Eingaben beim Bundeskanzleramt. Beide Steigerungen beruhen zum Großteil auf Petitionen, welche die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten kritisieren. Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Die Bürger bestätigen unseren alternativen Coronakurs.
({2})
Die Steigerung um 54 Prozent bei Beschwerden an den Bundestag selbst weist auf ein deutliches Versäumnis der Regierungsfraktionen hin – wozu Sie von den Grünen nicht gehören –, nämlich auf den abermals missglückten Versuch, eine überfällige Wahlrechtsreform zu beschließen. An der AfD-Fraktion scheiterte dieses Vorhaben nicht. Die Petenten wurden von uns selbstverständlich über unseren Vorschlag informiert, mit dem wir eine echte Verkleinerung auf nicht mehr als 598 Abgeordnete erreichten wollten – und das, ohne die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Wir liefern also!
({3})
Was die Veröffentlichung der Petitionen zum Mitzeichnen anbelangt, so haben wir in der laufenden Legislatur auch unser Ziel erreicht, nämlich dass faktisch mehr veröffentlicht wird als früher. Der Ausschussdienst hat das entsprechende Verfahren verändert; das hat zu noch mehr öffentlichen Petitionen, die online mitgezeichnet werden können, geführt.
Ein großer Dank gebührt auch von meiner Stelle den Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die Arbeit im Dienst der Bürger.
({4})
Zwei kurze Beispiele: Eine Petentin stellte einen Antrag auf Witwenrente, der abgelehnt wurde. Sie wandte sich an den Petitionsausschuss, und die Mitarbeiter kontaktierten das Bundesamt für Soziale Sicherung mit der Bitte um Überprüfung des Falls. Dabei stellte sich heraus, dass der Petentin die Rente tatsächlich zu Unrecht nicht ausgezahlt wurde. Der Fehler wurde behoben, und die Frau erhält nun knapp 90 Euro mehr im Monat – immerhin. In einem anderen Fall weigerte sich ein Versicherungsunternehmen einer Petentin, die Kosten einer Operation ihres alten fußkranken Hundes zu übernehmen, obwohl sie eine Tierkrankenversicherung abgeschlossen hatte. Der Ausschussdienst wandte sich an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die sich der Sache annahm. Das Versicherungsunternehmen sah den Fehler ein und zahlte der Petentin daraufhin die Kosten der Operation. – Auch mit diesen kleinen Dingen beschäftigen wir uns. So wird im Namen des Bundestags den Petenten geholfen, um ihnen bei berechtigten persönlichen Anliegen einen zeitraubenden und auch potenziell kostspieligen Gang über die Gerichte zu ersparen.
Dem großen Lob an die Mitarbeiter muss aber eine angemessene Kritik bei der Behandlung von politischen Anliegen folgen. Wenn Petenten zum Beispiel fordern, dass sich unsere Heimat nicht weiter zum Paradies für illegale Einwanderer entwickeln soll, oder wenn Bürger einfach frei leben wollen, was ihre Grundrechte anbelangt, dann spielt das für die Regierungsfraktionen leider nur eine untergeordnete Rolle.
({5})
Letztlich werden Petitionen nämlich nur danach beschieden – das müssen auch Sie einsehen –, ob deren politische Richtung dem Koalitionsvertrag entspricht oder eben nicht. Dem Petenten wird jedoch suggeriert, dass seine Petition einen Unterschied bewirkt habe. Falls die Koalition sich nicht für das Anliegen interessiert, hat die Eingabe von vornherein keine Chance.
Hier ist die Gefahr – das ist gleichzeitig auch die Chance –, dass wir – an uns hat es nicht gelegen; es hätte so viele interessante Abstimmungen im Laufe der Legislatur gegeben – ohne den Koalitionszwang, da bin ich mir sicher, vor allem mit Ihnen von der Union und auch von der FDP, mit denen wir zusammen sogar eine Mehrheit in diesem Hohen Haus hätten, in vielen Fragen übereinstimmend votiert hätten. Dass Sie das aber nicht dürfen, ist letztendlich eine Missachtung des Bürgers.
({6})
Wir wollen hingegen die Bürger nicht missachten, sondern wollen mehr direkte Bürgerbeteiligung.
In diesem Sinne ist unsere kürzlich vorgeschlagene Bürgerstunde ein wichtiger Schritt zum Ausbau der direkten Demokratie auf Bundesebene. Packen wir dieses Projekt an! Es gibt in der Zukunft hier noch sehr viel zu tun.
Vielen Dank.
({7})
Danke, Johannes Huber. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Andreas Mattfeldt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen aber: Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger unseres Landes! Wenn wir als Ausschussmitglieder über unsere Arbeit berichten und den Tätigkeitsbericht bekommen, dann bin ich immer wieder erstaunt, welch eine Arbeitsleistung vor allem unsere Mitarbeiter im Ausschussdienst über das Jahr hinweg leisten. 14 314 Petitionen sind 2020 bei uns eingegangen. Ich meine, wir alle dürfen sagen: Das ist mehr als beachtlich. Diese immer fachlich und qualifiziert zu bearbeiten, ist mehr als eine enorme Leistung. Dafür mein und unser Dank an alle Mitarbeiter im Ausschussdienst, aber auch in den MdB-Büros!
({0})
Meine Damen und Herren, was ich ganz besonders toll finde: Es wird sich seitens des Ausschussdienstes in die Petenten hineinversetzt. Ich habe es sogar schon erlebt, dass sich Bürger bei mir bedankt haben, weil erst die schriftliche Begründung des Petitionsausschusses ihnen einen Sachverhalt eines Vorgangs verständlich gemacht hat. Ein Petent teilte mir zum Beispiel mit, dass er die juristische – wie hat er sich ausgedrückt? – „Verbalakrobatik“ der Behörde, über die er sich beschwert hat, überhaupt nicht verstanden habe. Erst die Begründung des Petitionsausschusses habe ihm den Sachverhalt verständlich gemacht, und er könne es nun auch vollziehen. Ich meine, das ist ein sehr schönes Kompliment.
({1})
Meine Damen und Herren, 122 Seiten umfasst der Bericht in diesem Jahr, und er spiegelt wider, wo die Menschen in unserem Land der Schuh drückt, welche Sorgen sie haben, was sie umtreibt. Was ich besonders klasse finde: Die Menschen in unserem Land wollen über Petitionen unsere Welt ein wenig besser machen. Sie wollen ihre Ideen einbringen und den Umgang unserer Gesellschaft miteinander gestalten. In besonderer Erinnerung ist mir da zum Beispiel eine Eingabe eines Landwirtes geblieben, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass gerade die Landwirtschaft beim Gewässerschutz in den vergangenen Jahren sehr viel getan hat, er es aber überhaupt nicht nachvollziehen kann, dass einige Städte und Gemeinden bei Starkregenfällen ungeklärte Hausabwässer immer noch in die Flüsse einleiten. Meine Damen und Herren, ich konnte das Ansinnen des Bauern verstehen. Und dass klar ist, dass im Jahr 2020 vor allem auch Corona die Menschen – übrigens in jedweder Richtung – beschäftigt hat, sehen wir an unzähligen eingegangenen Petitionen.
Besonders wichtig ist mir, auch dieses Mal wieder darauf hinzuweisen, dass wir uns im Petitionsausschuss von einigen sogenannten Onlinepetitionsportalen massiv unterscheiden. Diesen Portalen geht es häufig ausschließlich um kurzfristige politische Aufmerksamkeit zu bestimmten Themen. Sobald – häufig nach kurzer Zeit – ein neues Thema in den Medien bei uns en vogue ist, verschwindet das vorherige Thema in den Weiten des Internets, und nichts geschieht, außer dass die Teilnehmer der Onlinepetitionsportale enttäuscht werden. Bei diesen Portalen geht es leider allzu oft nur um politische Stimmungsmache und nicht darum, wirklich etwas verändern zu wollen. Wenn man wirklich etwas verändern will, wenn Anregungen und Ideen uns Abgeordnete erreichen sollen, dann gibt es hierfür nur ein Original, und zwar eine Petition bei uns, dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, einzureichen.
({2})
Meine Damen und Herren, ja, es war ein heftiges Jahr. Die sonst lebhaften Sitzungen des Ausschusses wurden beschnitten durch das Format der Videokonferenzen. Wir alle wissen: Das geht nur über einen gewissen Zeitraum. Ich meine aber, wir haben das alle gemeinsam gut hinbekommen. Zuallererst gilt hier mein Dank aber unserem ausscheidenden Ausschussvorsitzenden Marian Wendt, der den Ausschuss trotz erschwerter Bedingungen zuverlässig für uns geleitet hat. Herzlichen Dank, Marian, dafür!
({3})
Frau Präsidentin, wenn ich abschließend für die kommende Legislaturperiode als eines der dienstältesten Mitglieder dieses Ausschusses vielleicht einen Wunsch bei Ihnen frei hätte, dann wünschte ich mir erneut einen eigenen Sitzungssaal. Der Petitionsausschuss ist das Bindeglied zwischen Bürgern und Parlament. Ich sage das auch deutlich an die Spitzen der Fraktionen: Ich meine, es wäre eine überfällige Anerkennung, dies endlich auch mit einem eigenen Sitzungssaal hier bei uns zu würdigen.
Danke schön.
({4})
Vielen herzlichen Dank, lieber Andreas Mattfeldt. Da gebe ich Ihnen einen Tipp: Am Donnerstagabend der nächsten Sitzungswoche findet eine lange Sitzung unserer Baukommission statt. Die Kolleginnen und Kollegen freuen sich mit Sicherheit.
({0})
– Nein, aber über so einen Vorschlag. Bitte bringen Sie das doch ein.
({1})
– Ich weiß nicht, bei uns in der Mitarbeiterinnenkommission gibt es eher Tee oder so etwas.
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Manfred Todtenhausen.
({2})
Frau Präsidentin, bei Ihnen muss ja ein Gedränge sein, wenn man sieht, wer sich alles mit Ihnen treffen möchte. Ich stelle mich hinten an.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte es noch einmal bekräftigen: Wer die Ausschüsse hier im Bundestag kennt, der weiß, dass der Petitionsausschuss schon ein besonderer Ausschuss ist. Er ist der direkte Draht des Bürgers und der Bürgerin ins Parlament; und das ist gut so. Nirgendwo sonst wird parteiübergreifend so an Lösungen gearbeitet wie gerade in diesem Ausschuss.
Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel den Bund und die Länder einstimmig aufgefordert, mehr Geld in die Sanierung von Schwimmbädern zu investieren. Kinder sollen und müssen schwimmen lernen. Oder: Alle gemeinsam haben wir nach dem Brand im Krefelder Zoo beschlossen, dass der Verkauf von Himmelslaternen verboten wird. Noch ein Beispiel: Eichfristen für Wasserzähler,
({1})
die bei Kalt- und Warmwasserzählern unterschiedlich und willkürlich waren, wollen wir vereinheitlichen.
({2})
Es gibt noch viele, viele weitere Beispiele. Für diese kollegiale Zusammenarbeit und die Arbeit des Ausschussdienstes möchte ich mich herzlich bedanken,
({3})
auch im Namen meiner Kollegen.
Es gibt aber – jetzt kommt das Negative – zahlreiche Petitionen, bei denen wir uns nicht einig waren – das muss auch erwähnt werden –, zum Beispiel bei den Freiberuflern und Soloselbstständigen. Wegen der Coronapandemie hatten sich über 58 000 Mitbürger an uns gewandt. Sie hatten sich von der Regierung mehr Hilfe erhofft. Hier hätte die Regierung schneller handeln und mehr tun müssen.
({4})
Auch bei der Förderung des mobilen Arbeitens hat sich die Regierung wirklich schwergetan. Ein Petent aus Berlin hatte schon – man achte auf das Datum! – im September 2017 eine Digitalisierungsoffensive gefordert, aber erst vor drei Monaten wurde seine Eingabe im Ausschuss beraten. Dabei hatte die Pandemie doch gezeigt, wie wichtig gerade dieses Thema ist.
Wir befassen uns wirklich mit jeder Petition, egal wie viele Unterschriften sie hat; das verwechseln viele Leute. Eine Petition muss nicht 50 000 Unterschriften haben, um in einer öffentlichen Anhörung beraten zu werden. Von über 14 000 Petitionen – wir haben es gehört –, die uns letztes Jahr erreicht haben, haben die meisten nur eine Unterschrift. Es gab gerade einmal elf Petitionen mit 50 000 und eine mit mehr als 100 000 Unterschriften. So große Petitionen gab es in vier Jahren auch nur viermal.
Hinter diesen besonders erfolgreichen Petitionen steht leider immer häufiger kommerzielles oder politisches Interesse. Dafür ist das Petitionsrecht aber eigentlich nicht gedacht. Das Petitionsrecht darf und soll nicht missbraucht werden. Hier müssen wir gemeinsam aufpassen. Es geht um die Bürger, nicht um Unternehmen oder Verbände.
({5})
Liebe Mitbürger, mein Aufruf an Sie: Jeder hat das Recht, sich an den Petitionsausschuss des Bundestages zu wenden. Wir kümmern uns gerne um Wünsche und Probleme und versuchen, zu helfen. Das passiert übrigens normalerweise nichtöffentlich; wir schützen Ihre Persönlichkeitsrechte. Auch deshalb sollten Sie sich an uns wenden und nicht an private Petitionsplattformen; wir haben das gerade schon gehört. – Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch in Zukunft ein offenes Ohr für Ihre Anliegen haben und uns gemeinsam für Sie einsetzen werden.
Lieber Marian, vielen Dank für deinen Vorsitz! Du hast das hervorragend gemacht. Wir wünschen dir auch nach der politischen Aufgabe eine gute Zeit. Ich hoffe, wir anderen sehen uns alle wieder.
({6})
Vielen Dank, Manfred Todtenhausen. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Kerstin Kassner.
({0})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuallererst der Dank an das Ausschusssekretariat, an all die fleißigen Kollegen, die dort unendlich viel Arbeit zu leisten haben, aber auch an die Referentinnen und Referenten meiner Fraktion und an meine Mitarbeiter, die mir in dieser Legislatur geholfen haben, etwa 4 000 Petitionen zu bearbeiten und manchmal auch zu verarbeiten; denn es ist nicht immer leicht, all das aufzunehmen, was einem die Petenten so auf den Tisch packen: zum Beispiel ein Schüler, dessen sauerverdientes Feriengeld, also das Geld, das er für eine Tätigkeit während der Ferien bekommen hat, angerechnet wird auf das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, in der er mit seinen Eltern leben muss. Das ist ungerecht. Es wurde etwas geändert, aber teilweise ist das auch heute noch so. Und das geht überhaupt nicht!
({0})
Eine andere Sache ist, dass wir immer noch nicht geklärt haben, wie wir den Menschen helfen können, die im Grenzstreifen zwischen DDR und BRD gewohnt haben und noch immer keine adäquate Entschädigung für die Verluste bekommen haben, die sie hinnehmen mussten, als sie aus diesem Gebiet zwangsausgesiedelt wurden. Das muss geändert werden.
({1})
Ich bin, so wie viele im Petitionsausschuss, in diesen Ausschuss gegangen, weil ich gerne für die Bürger da sein möchte. Das ist die Hauptaufgabe des Petitionsausschusses, und es ist in dieser Situation in unserer Gesellschaft bitter nötig, dass wir direkt auf die Bürger zugehen,
({2})
dass wir uns um ihre Sorgen und Anliegen kümmern. Das haben auch die Koalitionäre erkannt. Es sollte laut Koalitionsvertrag eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit der Bürgerbeteiligung beschäftigt. Unser Präsident hat vorgeschlagen, einen Bürgerrat einzuführen. Aus alldem ist nicht wirklich etwas geworden. Alles steckt noch in den Kinderschuhen. Das muss dringend geändert werden, wenn wir wollen, dass sich die Situation – die Politikverdrossenheit, die mangelnde Teilnahme an Wahlen und auch die schlechte Meinung über uns Politiker – verändert. Wenn wir das wollen, dann müssen wir uns an die Arbeit machen.
({3})
Aber wir haben da ja etwas. Wir haben das Original, und dieses Original ist unser Petitionsausschuss. Er steht in der Verfassung, und was wir daraus machen, liegt in der Hand von uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Deshalb verstehe ich nicht, dass tatsächlich nur 3 Prozent der Petitionen in dieser Legislaturperiode an die Ministerien weitergeleitet wurden. Wissen Sie, warum das so ist? Weil sich die Vertreterinnen und Vertreter von SPD und/oder CDU/CSU einfach vor die Türen der Ministerien legen und sagen: Nein, wir wollen nicht, dass das weiterkommt. – Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger haben es verdient, dass ihre Anliegen auch dorthin gehen, wo sie politisch verarbeitet werden sollen.
({4})
Das ist unsere Schuld und unsere Pflicht, die wir den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber zu erfüllen haben. Machen wir in der nächsten Legislaturperiode daraus wirklich etwas, was für die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich in jedem Fall wirkt.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Kerstin Kassner. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Corinna Rüffer.
({0})
Liebe Demokratinnen und Demokraten! Hochverehrte Präsidentin! Das ist der letzte Jahresbericht für diese Legislaturperiode, und das ist natürlich Anlass für Dank und für ein Resümee. Ich will mich dem Dank an die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausdrücklich anschließen. Das kann sich wirklich kein Mensch vorstellen, wie viel da geleistet wird.
({0})
Ein Dank geht auch an tatsächlich alle Kolleginnen und Kollegen, die so viel Herzblut in unsere Arbeit gesteckt haben, insbesondere dafür, dass es so oft möglich gewesen ist, über die Fraktionsgrenzen hinweg Mehrheiten zu schaffen, die Anliegen von Bürgern über die Fraktionsgrenzen hinwegzuhieven. Ich muss sagen: Das hat mir am allermeisten Freude bereitet, wenn das zustande gekommen ist.
Das zeigt auch, dass der Petitionsausschuss ein ganz besonderer Ausschuss ist, der enorm starke Instrumente hat. Wir können Regierungsvertreter laden, wir können Akten einsehen, wir können Fachleute hinzuziehen, wir können ganz viele Dinge tun. Aber wir müssen diese Instrumente auch anwenden, damit wir in viel mehr Fällen zum Erfolg kommen. Ich sehe so viele Köpfe in diesem Ausschuss, die das wollen; aber manchmal hapert es noch an der Anwendung dieser Instrumente. Wir wollen doch Anwältinnen und Anwälte unserer Petenten sein. Genau das verlangen die Leute auch von uns, das ist deren Erwartung. Sie setzen ganz große Hoffnung in unsere Arbeit, sie kommen mit ihren persönlichsten Sorgen und Problemen und bitten um Unterstützung, weil sie sich im Behördendschungel verirrt haben, weil bei der Formulierung von Gesetzen ihr Fall nicht vorgesehen wurde und Ähnliches.
Manches Mal, wenn wir uns am Riemen reißen, wenn wir zusammenarbeiten, dann finden wir Lösungen für diese Probleme dieser Menschen, und die machen oftmals für ihr gesamtes Leben einen ganz elementaren Unterschied. Das sind die Momente, über die wir alle sagen können: Dafür lohnt sich die viele Arbeit in diesem Petitionsausschuss. Da ist Politik nicht abstrakt, sondern da ist Politik ganz konkret.
({1})
Dieser Ausschuss kann Menschen aber nicht nur im Einzelfall helfen. Über diesen Ausschuss bekommen wir im besten Sinne des Wortes Bürgerinnen- und Bürgerrat. Die Bürgerinnen und Bürger kommen mit ihrer Weisheit zu uns, und die sollten wir aufnehmen. Das ist heute wichtiger als zuvor. Unsere Demokratie braucht Stärkung; denn es gibt eben dieses weitverbreitete Gefühl: Die Politik steht da oben und wir Menschen ganz unten, und unsere Anliegen werden von der Politik da oben gar nicht wahrgenommen. – Daran kann dieser Ausschuss tatsächlich richtig viel ändern. Heute werden hier im Parlament große Reden gehalten. Wir haben einmal im Jahr pro Rednerin und Redner drei Minuten Zeit, um hier im Parlament über Petitionen zu reden. Das Parlament kann echt einmal daran arbeiten, die Wertschätzung auch im Tagesgeschäft irgendwie stärker zum Ausdruck zu bringen.
({2})
Aber außerhalb dieses Parlamentes hat dieser Ausschuss eine Wahnsinnsbedeutung. Das wird deutlich, wenn ich mir allein die Petition zur Pflege anschaue. Hunderttausende von Menschen teilen dieses Anliegen und sagen: Wir wollen mit alten Menschen in diesem Land nicht länger so umgehen; wir brauchen eine echte Pflegereform, eine Reform in der Gesundheitspolitik; wir lassen es nicht mehr zu, dass behinderte Menschen und ihre Eltern stehen gelassen werden, allein im Behördendschungel.
Frau Kollegin.
Da schauen richtig viele Menschen drauf. Deswegen brennen wir so darauf, dass alle Demokratinnen und Demokraten in der nächsten Legislaturperiode das wahrmachen, was heute von vielen gesagt wurde, und diesen Ausschuss einmal richtig stärken und zu einem echten Beteiligungsinstrument, zu einer Perle dieser Demokratie weiterentwickeln.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Corinna Rüffer. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Stefan Schwartze.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Petentinnen und Petenten! Mein Dank geht auch an die Vertreter auf der Regierungsbank. Ich glaube, fast alle, die da sitzen, haben wir schon in Berichterstattergesprächen im Ausschuss gesehen. Auch für diese Zusammenarbeit herzlichen Dank!
({0})
Vorab möchte auch ich mich ganz herzlich beim Ausschussdienst und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Büros für die engagierte Arbeit bedanken; ohne sie wäre vieles nicht möglich.
Das Jahr 2020 war durch die Coronapandemie für die Arbeit des Ausschusses ein besonderes Jahr. Wir mussten sicherstellen, dass der Ausschuss handlungsfähig bleibt. Dies ist uns gut gelungen, auch wenn der Ausschuss im Jahr 2020 nicht alle Instrumente nutzen konnte. Wir haben pandemiebedingt auf die Durchführung von Vor-Ort-Terminen verzichten müssen. Dabei lassen sich Beschwerden über Lärm, über Straßenbau, über Schienenbau am besten vor Ort klären.
Für die Zukunft gilt es, zu überlegen, ob das Format der Vor-Ort-Termine vereinfacht werden kann – mit einer reduzierten Personenzahl oder auch mit einem reduzierten Format. Ich freue mich, dass wir das in meinem Wahlkreis in Bünde jetzt ausprobieren.
Was die Coronapandemie auch unmöglich gemacht hat, war die Sammlung von Unterschriften auf Papier. Mit der Pandemie verschwanden die Sammelpetitionen. Sammelpetitionen erleichtern es den Petentinnen und Petenten aber, das hohe Quorum von 50 000 Mitzeichnungen und eine Anhörung im Petitionsausschuss zu erreichen.
Zum dritten Mal in Folge hat die Zahl der Eingaben an den Petitionsausschuss zugelegt. Es ist ein sehr gutes Zeichen, dass es mehr Petitionen gibt. Politik braucht selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger, die ihre Meinung, Vorschläge und Kritik äußern. Wir wollen gute Gesetze machen und Gesetze korrigieren, wenn dies notwendig ist. Dafür brauchen wir die Rückmeldungen aus dem Leben.
({1})
Petitionsarbeit bedeutet aber nicht nur Aktenlektüre, sondern auch Gespräche mit Petentinnen und Petenten, Gespräche mit der Bundesregierung zu konkreten Anliegen oder Vor-Ort-Termine, oft auch das Bohren dicker Bretter.
Das Petitionsrecht muss moderner und transparenter werden. Wir brauchen endlich eine Petitions-App. Wir brauchen Verfahren, bei denen jederzeit für Petentinnen und Petenten nachvollziehbar ist, wie der Stand ihrer Petition gerade ist. Ich wünsche mir schnellere Verfahren, eine Absenkung des Quorums. Ich wünsche mir halbjährliche Debatten über unsere Arbeit, und eine Debatte über die Einführung eines Bürgerbeauftragten gehört auf die Tagesordnung des nächsten Bundestages.
({2})
Was wir nicht brauchen, sind Schaufensteranträge, Schaufensteranträge der AfD, wie wir sie auch heute Morgen im Ausschuss hatten, oder eine Schaufensterrede wie eben von Ihnen, Herr Huber.
({3})
Schauen wir doch einmal, wie Sie Petitionen bearbeiten. Die Bilanz der AfD nach vier Jahren im Petitionsausschuss: keine Anträge auf Sachaufklärung, keine Anträge auf Berichterstattergespräche, keine Anträge auf Ladung von Regierungsvertretern in den Ausschuss, keine Anträge auf Vor-Ort-Termine – nicht ein Mal in vier Jahren eine Initiative von Ihnen. Kein Wunder! Das ist ja auch Sacharbeit im Stillen; sie dient dazu, die Probleme der Menschen zu lösen. Das taugt nicht für soziale Medien, und das taugt auch nicht für dicke Überschriften.
({4})
Jetzt beantragen Sie eine Bürgerstunde im Parlament für Petitionen,
({5})
die wie eine Aktuelle Stunde laufen soll. Warum machen Sie das denn nicht einfach? Sie können jetzt schon jederzeit Petitionen auf die Tagesordnung setzen; unsere Geschäftsordnung sieht das vor. Warum haben Sie das nicht getan? Das war Ihrer Faktion wohl nicht wichtig.
Nur wenn es um die Instrumentalisierung des Ausschusses für Ihre Zwecke geht, sind Sie ganz vorne. Da lassen Sie schon einmal Mitarbeiter aus Ihren Büros Petitionen schreiben, die in Ihre Kampagnen passen.
Die Bürgerinnen und Bürger, die auf die AfD bauen, sind verraten und verkauft.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Stefan Schwartze. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Saskia Ludwig.
({0})
Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man sagt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht, und der Petitionsausschuss ist das Bürgerrecht. – Das merkt man auch im Umgang innerhalb des Ausschusses selbst: für meine Begriffe gutbürgerlich. Man diskutiert miteinander, man hört zu, und man findet auch gemeinsame Lösungen.
In der letzten Legislatur kamen 500 000 Bürger neu dazu, die sich auf der Plattform eingeschrieben haben. Ich selbst bin erst seit 18 Monaten dabei. Für mich war das ein sehr bereichernder Ausschuss. Ich bedanke mich bei meinen Kollegen recht herzlich, die mich wirklich nett aufgenommen haben, sowie beim Ausschussvorsitzenden, aber vor allen Dingen beim Ausschussdienst. Wenn man neu in diesen Ausschuss kommt, kennt man das Verfahren nicht und denkt: Oh Gott, wenn du diese Petition auf den Tisch bekommst! – Aber der Ausschussdienst hat sich vorher schon intensiv damit befasst und gibt auch eine Empfehlung. Das ist natürlich wunderbar. Manchmal hat man ein paar Vorbehalte und denkt: Oh, das siehst du aber anders als der Ausschussdienst. – Dann gibt es aber Möglichkeiten, das prüfen zu lassen; das ist schon angesprochen worden. Frau Kassner, vielleicht liegt es auch daran, dass nur 3 Prozent überwiesen wurden, weil man einige Petitionen im Vorfeld doch schon anders erledigen konnte.
({0})
57 Prozent der Petitionen sind persönliche Anliegen. Da gibt es Petitionen, bei denen man als Abgeordnete das Gefühl hat: Puh, jetzt muss ich erst einmal tief durchatmen. – Herr Schwartze, ich erinnere mich an eine gemeinsame Anhörung, eine Beratung, die wir hatten, in der es um eine Mutter ging, deren Kinder vom Vater entführt wurden. Sie hatte auf ihr Mutterherz hörend reagiert und die Kinder wieder zurückgeholt, sich aber damit ins Unrecht gesetzt hat. Das ist eine schlimme Geschichte.
Dann gibt es natürlich auch Petitionen, bei denen man schallend lacht. Mein Mitarbeiter, bei dem ich mich auch ausdrücklich bedanken will, der sich super eingearbeitet hat, schaut manchmal ins Büro und fragt: Was ist denn jetzt los? – Wir haben Themen wie „Mein Mann ist mir untreu geworden; jetzt müssen Sie tätig werden“ -
({1})
Dann haben Sie aber viel zu tun im Ausschuss.
({0})
– Frau Roth, wir machen keinen Termin dazu –
({0})
bis hin zur Erbschleicherei.
Es gibt natürlich auch Themen, bei denen man weiß: Wir können leider nicht helfen, wir können nur auf Abschluss votieren, auch wenn ein tieferer Sinn dahintersteckt und man merkt: Das ist ein Thema, das durchdringt die Gesellschaft. – Es wurde von einem Vater eine Petition eingereicht, mit der er uns bat, eine Verpflichtung zur Selbstverteidigung für Mädchen ab sechs Jahre einzuführen. Die Begründung war, dass man später keine Gewalt in der Ehe befürchten muss.
Was ich damit sagen will, ist, dass der Petitionsanzeiger ein Frühwarnsystem ist, dass man eine Art Erregungskurve auch innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen kann. Gerade zu Themen, die den Schutz von Kindern vor Missbrauch betreffen, gibt es Petitionen – davon haben wir auch eine Menge lesen müssen –, die einen persönlich berühren. Was ich gut finde – auch das weiß man vorher nicht –, ist, dass man im Petitionsausschuss mit unterschiedlichen Voten arbeiten kann. Deswegen ist der Petitionsausschuss ein sehr machtvoller Ausschuss. Wenn wir uns einig sind, dass Petitionen als Material überwiesen werden und es dann ans Ministerium geht, kann man sich irgendwann über das Ergebnis freuen: Am 25. März dieses Jahres wurde ein Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder hier im Parlament verabschiedet. Das ist auch ein Ergebnis der Arbeit des Petitionsausschusses.
({1})
Was viele nicht wissen, ist, dass es einfach ist, Petitionen einzureichen – sehr einfach! Mich hat vor Kurzem ein Siebenjähriger gefragt, wie er denn eine Petition einreichen kann. Ja, auch er kann eine Petition einreichen. Ich hatte vier Familien bei mir, die wegen der Coronasituation und Schule eine Petition einreichen wollten. Sie kannten zwar andere Portale, wussten aber gar nicht, wie das bei uns funktioniert. Ich würde mich freuen, wenn auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk uns nicht als eine Plattform bezeichnet, sondern klar und deutlich macht: Ihr müsst schon auf die Plattform des Bundestages gehen, damit eure Petition so bearbeitet wird, dass sie auch Einfluss auf die Rechtsetzung hier hat.
Meine Damen und Herren, ich muss leider hier enden. Ich freue mich sehr, dass ich zum Jahresbericht hier heute reden konnte. Mir ist es wichtig, den Bürgern deutlich zu machen, dass wir ihre Anliegen sehr, sehr ernst nehmen und sie auch in ihrem Sinne ganz gewissenhaft miteinander diskutieren.
Herzlichen Dank und alles Gute auch dem nächsten Petitionsausschuss.
({2})
Vielen Dank, Dr. Saskia Ludwig. – Der letzte Redner in dieser wichtigen Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Gero Storjohann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Berichterstatterjahr 2020 war von der weltweiten pandemischen Lage bestimmt. Gerade in so einer Zeit ist es wichtig, dass der Petitionsausschuss jederzeit erreichbar und ohne Einschränkungen arbeitsfähig war. Die Bürgerinnen und Bürger konnten auf direktem Wege Kontakt aufnehmen und sich an den Deutschen Bundestag wenden. Es gab öffentliche Beratungen, ja, aber nicht mit Zuschauern. Es gab Berichterstattergespräche, ja. Es gab aber keine Termine vor Ort, was immer auch ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist.
Wir haben in diesen Zeiten auch festgestellt, dass es weiterhin nicht einschätzbar ist, inwieweit Gesetzgebungsprozesse durch uns wirklich angestoßen oder weiter formiert werden. Das wissen wir nicht, aber wir haben so manches Mal das Gefühl: Ohne uns wäre manches nicht passiert. Das schweißt uns in der Arbeit im Petitionsausschuss immer auch zusammen.
({0})
Hier wurde von guten Petitionen berichtet, die von uns verabschiedet und positiv bevotet worden sind. Es gibt natürlich in der Masse mehr Petitionen, die abgelehnt werden, auch mit breiter Mehrheit. Da ist mir eine aufgefallen, die nicht mal der Kollege Kapschack mit einem „Man könnte eventuell auch überlegen, ob man nicht so was noch machen könnte“ bedacht hat. Es ging da um Rentenfragen. Zugausfälle könnten Rentner vielleicht dazu bringen, näher an die Rente zu kommen. Ein Mann aus Tecklenburg forderte, dass Fahrgäste der Deutschen Bahn bei Verspätungen und Zugausfällen die entsprechenden Ausfallzeiten auf einem Lebenszeitkonto gutgeschrieben bekommen, was anschließend zur Absenkung des Renteneintrittsalters genutzt werden könnte.
({1})
Das hat Herr Kapschack überlesen; da bin ich mir ganz sicher. – Es gibt also kein Anliegen, das zu klein ist, um eventuell beraten zu werden. Das ist das Salz in der Suppe bei unserer Petitionsarbeit.
Ich möchte hier auch deutlich machen, dass die CDU/CSU-Fraktion im Gegensatz zur SPD keinen Bedarf für einen weiteren Beauftragten sieht, nämlich den sogenannten Bürgerbeauftragten. Da sind wir im Dissens; aber es steht ja auch nicht im Koalitionsvertrag.
Was wir festgestellt haben, ist, dass wir immer häufiger Initiativen von Lobbyisten kriegen, die versuchen, über Petitionen ihre Themen nach vorne zu bringen. Das lehnen wir ab. Es ist möglich; aber wir finden das nicht richtig sexy.
Ich möchte sagen, dass wir ein positives Fazit für das Jahr 2020 ziehen können, aber auch feststellen, dass die Gesellschaft sich verändert. Kommunikation verändert sich, und die Verwaltung muss darauf auch reagieren. Wir brauchen also die digitale Akte. Eigentlich ist das ja eine Selbstverständlichkeit, und wir hoffen mal, dass das in der nächsten Wahlperiode endlich klappt. Es muss benutzerfreundlicher werden, wenn man sich auf das Petitionsportal des Bundestages begibt; denn es kann ja sein, dass wir gar nicht zuständig sind, sondern ein Land. Deswegen ist, damit keine Doppelarbeit anfällt, schon die Vorentscheidung wichtig: Das muss Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg machen und nicht der Bundestag.
Herzlichen Dank an die Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Herzlichen Dank an unseren Vorsitzenden Marian Wendt, dem wir alles Gute wünschen!
Und dann kommt mein Schlusssatz – frei nach dem römischen Staatsmann Cato möchte ich schließen –: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Petitionsausschuss einen eigenen Sitzungssaal dringend benötigt.
({2})
Vielen Dank, Gero Storjohann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Ich glaube, Sie haben, was die Kolleginnen und Kollegen angeht, die vielleicht noch nicht so genau wissen, für welchen Ausschuss sie sich in der nächsten Legislatur bewerben wollen, wirklich gute Werbung gemacht. Herzlichen Dank für die sehr angenehme Debatte!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Webseite der Bundesregierung steht:
Die Bundesregierung ist durch die Beschlüsse des Deutschen Bundestages … aufgefordert, regelmäßig in der Mitte einer Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht als Instrument zur Überprüfung politischer Maßnahmen … vorzulegen.
Die Mitte der Legislaturperiode ist seit anderthalb Jahren vorbei, und noch immer hat die Bundesregierung nichts vorgelegt. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Bundesregierung will der parlamentarischen Konfrontation aus dem Weg gehen.
({0})
Das werden wir als AfD-Fraktion aber nicht durchgehen lassen, und deswegen haben wir diese Debatte beantragt. Denn die Öffentlichkeit hat ein Recht, zu erfahren, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut aufwächst, dass 68 Prozent der Alleinerziehenden armutsgefährdet sind, dass überall der Fachkräftemangel beklagt wird, dass wir aber 2,1 Millionen junge Menschen unter 34 haben, die keinen Berufsabschluss haben, dass die Aufstiegschancen in Deutschland schlechter sind als in den 80er-Jahren, dass jeder Fünfte im Niedriglohnsektor arbeitet und dass viele von denen nach Abzug von Miete, Stromkosten, Spritgeld und Kosten des Zoobesuchs für die Kinder weniger in der Tasche haben als einer der rund 2 Millionen ausländischen Hartz-IV-Bezieher, von denen viele nie auch nur einen Cent in unser Sozialsystem eingezahlt haben.
({1})
Die Öffentlichkeit soll erfahren, dass die Altersarmut seit Jahren steigt, dass 1,3 Millionen Rentner nebenbei arbeiten müssen und dass immer mehr Rentner sich ihr Essen von der Tafel holen. – Das alles ist ein Armutszeugnis für die Politik der Bundesregierung.
Es ist aus unserer Sicht höchste Zeit für genau die effektiven Maßnahmen, die wir mit unserem Antrag hier vorlegen, und das beginnt vor allem mit dem Stoppen der Ausbeutung der Leistungsträger in unserer Gesellschaft.
({2})
Wir fordern, eine verbindliche Steuer- und Abgabenbremse ins Grundgesetz zu schreiben. Wir fordern die Abschaffung der Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, damit der Strom wieder bezahlbar ist. Wir fordern die Abschaffung der CO2-Steuer, damit der Sprit wieder bezahlbar ist. Wir fordern die Ermöglichung von Vermögensaufbau, insbesondere durch Immobilieneigentum, für Familien. Wir fordern die Unterstützung junger Familien mit einem Ehe-Start-Kredit und einem steuerlichen Familiensplitting. Wir fordern einen Stopp des Lohndumpings durch illegale Massenmigration und EU-Freizügigkeit. Und wir fordern ein Ende der vermögensvernichtenden Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank.
({3})
Das alles brauchen wir.
Was wir nicht brauchen, ist ein Arbeiten bis zum Umfallen. Und deswegen ist die Debatte über die Rente mit 68 auch grundfalsch.
({4})
Ich persönlich kenne Maurer, Maler, Gas-Wasser-Installateure, Trocken- und Gerüstbauer, die stehen mit 50 mit Schmerzen auf, arbeiten hart und gehen mit Schmerzen ins Bett. Die sind froh, wenn sie mit 60 Jahren noch arbeitsfähig sind. Eine Rente mit 68 bedeutet für diese Gruppe faktisch eine Rentenkürzung, und ja, das ist asozial.
({5})
Die Forderung nach einer längeren Lebensarbeitszeit ist im Übrigen keine Forderung aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern auch eine Forderung aus der Mitte der CDU. Ich erinnere nur an den Aufruf von Christoph Ploß, dem Vorsitzenden der CDU in der Hansestadt Hamburg. Was wissen wir über ihn? Abitur, Zivildienst, Bachelor, Master, Pressereferent, Bundestag. Von Berufs wegen hat der Mann noch nie einen Ziegel in der Hand gehalten, will aber denjenigen, die jeden Tag tausend Ziegel bewegen und die zwei Tonnen Ausgleichsmasse in den vierten Stock tragen, sagen, dass sie länger arbeiten sollen. Da, meine Damen und Herren, verwundert es überhaupt nicht, wenn die Leute da draußen sagen, dass sie keine Lust mehr haben auf diese Politik. Sie müssen sich hier nicht wundern, wenn die Politikverdrossenheit steigt und der Vertrauensverlust in der Gesellschaft zunimmt.
({6})
Herr Ploß geht übrigens – wie wir alle hier im Deutschen Bundestag – nach vier Jahren im Bundestag, wenn er denn geht, mit einem Pensionsanspruch von 1 000 Euro; das ist mehr als der Rentner im Durchschnitt in Deutschland bekommt.
Meine Damen und Herren, wir fordern eine Abschaffung der Politikerpension und eine Einbeziehung der Politiker in die gesetzliche Rentenversicherung. Und wir fordern noch etwas anderes, nämlich dass die Prioritäten richtig gesetzt werden. Die Bundesregierung überweist Milliardenbeträge an Kindergeld ins europäische Ausland. 23 Milliarden Euro an Flüchtlingskosten zahlen wir im Jahr. 44 Milliarden Euro werden wir dieses Jahr nach Brüssel überweisen. Von dort wird es in Länder verteilt, wo das Rentenniveau höher ist, die Lebensarbeitszeit und das Renteneintrittsalter aber niedriger sind. Hören Sie auf, den Leuten in diesem Land zu erzählen, es sei kein Geld für die Rente da.
({7})
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. – Das Geld ist da, die Prioritäten bei den Altparteien, bei der Regierung werden aber falsch gesetzt. Unsere Prioritäten liegen bei den Leistungsträgern und bei deren Familien. Wir stehen für ein soziales, nachhaltiges, ein kinder- und familienfreundliches Deutschland.
Vielen Dank.
({0})
Danke, René Springer. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Matthias Zimmer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon einigermaßen ungewöhnlich, dass wir über Anträge zu einem Bericht reden, bevor wir über den Bericht reden. Das ist ein bisschen so, als ob wir über die Fußnoten reden, bevor wir über den Text reden. Aber die Skurrilität der ganzen Situation lässt sich noch mal deutlich steigern; das hat eben die Rede des Kollegen Springer deutlich gemacht. Der Kollege Springer hat vergessen, in seiner Rede eines zu erwähnen – was mich besonders amüsiert hat –: Um die Kinderarmut zu überwinden, will die AfD nämlich einen „Ehe-Start-Kredit“ einführen – nur für Deutsche.
({0})
Also, man spürt hier also förmlich den Willen, der zum Ehrenkreuz der Deutschen Mutter drängt. „Deutsche Frauen … Deutscher Wein“, heißt es ja bei Hoffmann von Fallersleben. Man hat schon ein bisschen den Verdacht, dass vom deutschen Wein bei der Abfassung dieses Antrages ein bisschen zu viel genossen wurde.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will das eine oder andere zu dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sagen. Er stellt der Politik der Bundesregierung nämlich insgesamt ein gutes Zeugnis aus.
({2})
– Dass Sie von der AfD das nicht gerne hören, ist mir völlig klar: weil es nicht Wasser auf die Mühlen Ihres Populismus ist.
({3})
Wir haben in den vergangenen Jahren vieles durch gute und kluge Gesetzgebung erreicht. Wir hoffen, dass wir das Erreichte durch die Coronapandemie nicht verlieren; aber das muss der nächste Armuts- und Reichtumsbericht beleuchten.
Richten wir den Blick in die Zukunft, da wir jetzt die Wahlprogramme formulieren: Was bleibt zu tun? – Bildung weiter ausbauen, das ist, glaube ich, die zentrale Erkenntnis des Armuts- und Reichtumsberichtes. Das ist zentral, im Übrigen auch für die Integration von Zuwanderern. Bildung ist der wirksamste, der sicherste, der wichtigste Motor des Aufstiegs. Armut ist kein Schicksal. Niedrigeinkommen ist für die meisten Menschen eine Übergangssituation. Deswegen gilt es, die Hilfen gezielt auszubauen. Ich denke etwa an das Qualifizierungschancengesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, oder an die Verbesserung der Situation alleinerziehender Mütter und auch Väter. Aus der Sicht eines Großstadtabgeordneten sage ich auch: Wohnen muss preiswerter werden. Die Stadt gehört den Menschen, die dort wohnen oder dort wohnen wollen, und nicht den Spekulanten.
({4})
An dieser Stelle ist auch Zeit für ein kleines Resümee, für einen Rückblick auf die vergangenen acht Jahre, die wir in der Großen Koalition miteinander verbracht haben. Wir stellen fest: Der Anteil der Menschen, die in erheblicher materieller Deprivation leben, hat deutlich abgenommen; das ist gut. Die Zahl der Menschen in Mindestsicherung war vor der Coronaepidemie auf einem Tiefststand; das war gut. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass wir wieder dorthin kommen. Die familienpolitischen Leistungen, die wir auf den Weg gebracht haben, wirken stark armutsreduzierend, vor allem bei Kindern. Das zeigt: Unser Weg hat funktioniert, und damit meine ich den gemeinsamen Weg der Koalition in den letzten acht Jahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bei allen Debatten, die wir auf dem Weg in der Zeit vor der Wahl miteinander zu führen haben: Lasst uns doch auch einen Moment auf die kluge Sozialpolitik stolz sein, die wir gemeinsam formuliert und getragen haben.
({5})
Ich jedenfalls bin es.
Wir haben im Kampf gegen Armut viel erreicht. Wir haben viel erreicht, wenn es darum geht, Menschen Chancen zu geben. Vor allen Dingen haben unsere sozialen Sicherungssysteme wieder einmal ihre Krisenfestigkeit unter Beweis gestellt. Das ist aus meiner Sicht die wichtigste Nachricht des Armuts- und Reichtumsberichtes. Es gibt an der einen oder anderen Stelle viel zu tun. Aber ich glaube, wir sollten nicht vergessen, was wir gemeinsam erreicht haben; denn das war gut. Wir sollten uns für den nächsten Deutschen Bundestag vornehmen, dass wir dort weiterarbeiten, damit wir die guten Befunde des Armuts- und Reichtumsberichts auch in der nächsten Legislaturperiode fortschreiben können.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Dr. Matthias Zimmer. – Ich glaube, ich kann Ihnen im Namen von vielen Kolleginnen und Kollegen des Hauses für Ihre Arbeit danken, und zwar weit über die CDU/CSU-Fraktion hinaus. Das war wohl Ihre letzte Rede in diesem Deutschen Bundestag, zumindest was die jetzige und die nächste Legislaturperiode angeht; aber man weiß ja nie, wie es dann weitergeht. Alles Gute, lieber Dr. Matthias Zimmer!
({0})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Allein schon die Tatsache, dass dieser Bericht nicht, wie vorgesehen, zur Mitte der Legislaturperiode fertiggestellt und eingereicht worden ist, zeigt, dass Sie sich offensichtlich von seinen Erkenntnissen in Ihrem täglichen Regierungshandeln nicht stören lassen wollten. Das zeigt letzten Endes, dass Ihnen die Armut in unserem Land nichts bedeutet, und das ist bemerkenswert für einen Sozialminister der SPD.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Zeit der SPD-Sozialminister Andrea Nahles und Hubertus Heil ist ausweislich dieses Armuts- und Reichtumsberichts die Zahl der Abgänger ohne Schulabschluss in Deutschland mit einem Höchststand ausgewiesen. Das ist nicht die Schuld der Sozialminister. Aber Sie haben eine Schuld, wenn Sie Anträge der FDP hier im Bundestag, dass man bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler über eine Erhöhung der Mittel des Bildungs- und Teilhabepakets besser fördert, damit sie im besten Fall einen Schulabschluss erreichen können, ablehnen; denn Sie haben eine Verantwortung für die soziale Situation in diesem Land. Das geht für einen Sozialminister der SPD so nicht.
({1})
Es war der Sozialminister der SPD, der es zugelassen hat, dass Jugendliche aus benachteiligten Familienverhältnissen in der Pandemiezeit, in der Zeit des Homeschoolings keinen Laptop hatten, sodass diese Jugendlichen bei Gerichten durchklagen mussten, damit sie einen ein digitales Endgerät wie einen Laptop bekommen. Fast ein Jahr hat es gedauert – fast ein Jahr! –, bis Bundesminister Hubertus Heil sich hat erweichen lassen, über eine Weisung an die Bundesagentur für Arbeit die Jobcenter zu veranlassen, diesen Jugendlichen Laptops zur Verfügung zu stellen. Das muss man sich vor dem Hintergrund, dass Bildung die Voraussetzung für Aufstieg und für ein auskömmliches Leben in unserer Gesellschaft ist, mal vorstellen. Diese Erkenntnis ist nicht neu; das hat man schon immer gewusst. Dass er zugelassen hat, dass die Jugendlichen ein Jahr lang auf ihre Laptops warten mussten, ist unverantwortlich, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Zum Thema der Altersarmut. Auch die Altersarmut ist in der Zeit der SPD-Sozialminister auf einen Höchststand angewachsen. Was war Ihre Lösung in dieser Legislaturperiode? Ihre Lösung war das Grundrentenmodell, die Grundrente – ein teures Projekt, bei dem man feststellen muss, dass drei Viertel derjenigen, die im Alter tatsächlich arm sind, überhaupt keine Grundrente bekommen, weil sie die Beitragsjahre, die Voraussetzung dafür sind, nicht erreichen, und dass umgekehrt 90 Prozent derjenigen, die Grundrente bekommen, die Grundrente gar nicht brauchen, weil sie nicht altersarm sind.
Die Bilanz des Sozialministers Hubertus Heil mögen Sie so oder so bewerten. Ich kann sie vonseiten der FDP bewerten: Sie war im Sozialen null, und das wird in diesem Wahlkampf von uns auch betont werden, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD.
({3})
Danke schön, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Daniela Kolbe.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig gut, dass wir hier über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland sprechen. Aber im Kern tun wir das natürlich nicht wegen der AfD, sondern wegen der rot-grünen Parlamentsmehrheit, die im Jahr 2000 beschlossen hat, eine solche Armuts- und Reichtumsberichterstattung von der Regierung einzufordern,
({0})
weil wir die Verteilung im Blick haben wollten, weil das sozial, aber auch ökonomisch sehr wichtig ist.
Ein erster Befund mit Blick auf den Armuts- und Reichtumsbericht besagt: Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Deutschland sehr, sehr, ich finde, zu weit geöffnet. Sie geht zwar nicht dramatisch auseinander, aber – und das ärgert uns sehr stark – sie schließt sich auch nicht. Deshalb ist es wichtig, dort hinzuschauen, und die Sozialdemokratie tut genau das.
Es ist insofern ziemlich absurd, dass gerade die AfD vorgibt, sie würde etwas für ärmere Menschen tun.
({1})
Ich musste mir das ja jetzt vier Jahre lang hier anhören. Wirklich, einen Preis für die neoliberalste und menschenverachtendste Rede, den hätten Sie hier mit großem Abstand gewonnen.
({2})
Es ist wirklich ein Popanz, den Sie hier aufführen; Ihre Forderungen zeigen das. Ich glaube, die alleinerziehende Einzelhandelskauffrau aus Leipzig hat sicherlich andere Probleme, als – wie sie das hier anklingen lassen – über die Förderung von Immobilienkäufen nachzudenken; das ist wirklich einfach nur absurd.
({3})
Deswegen rede ich lieber zum Armuts- und Reichtumsbericht. Da gibt es Details, die mich positiv stimmen, zum Beispiel, dass die unteren Einkommensgruppen endlich aufgeholt haben.
Ich habe mich entschieden, nicht noch einmal für den Bundestag zu kandidieren. Rückblickend muss ich sagen: Es war eine meiner Sternstunden hier in diesem Hohen Haus, für den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland stimmen zu dürfen.
({4})
Ich wusste, das hilft Menschen ganz konkret. Im Armuts- und Reichtumsbericht ist das auch nachzulesen; man kann sehen, dass das etwas gebracht hat.
Aber dadurch, dass darüber auch die Löhne gestiegen sind – was wir natürlich gut finden –, ist der Abstand dieser unteren Einkommensgruppen zur Mitte gerade nicht kleiner geworden. Wenn es also noch ein Argument gebraucht hätte, dann haben wir hier mit dem Armuts- und Reichtumsbericht ein wirklich gutes, gutes Argument dafür, dass wir einen höheren Mindestlohn brauchen und dass wir eine bessere Tarifbindung brauchen, und dafür kämpft die SPD.
({5})
Von der AfD und auch von der FDP kam der Vorwurf, der Armuts- und Reichtumsbericht sei zu spät herausgekommen. Ja, er ist spät herausgekommen. Er war eigentlich schon fast fertig. Allerdings wäre es schon ein bisschen absurd gewesen, in einer Pandemiesituation so einen Bericht herauszugeben, der genau dieses Thema überhaupt nicht widerspiegelt. Deswegen finde ich es richtig, dass der Armuts- und Reichtumsbericht überarbeitet worden ist und die Pandemie mit aufgegriffen wurde. Denn die Pandemie hat die Verteilungsfragen noch einmal verschärft.
Ich formuliere es einmal plakativ: Die einen wussten nicht, was sie mit ihrem Geld machen sollten, wo die Restaurants und die Konzerthallen geschlossen waren und man gar nicht reisen konnte. Und die anderen wussten nicht, wie sie bis zum Ende des Monats kommen sollten. Ja, es gab Kurzarbeitergeld – sie sind Gott sei Dank nicht arbeitslos geworden –; aber es war weniger Geld, und die Teuerung in manchem Bereich war hart für viele Menschen. Deswegen war es gut, dass wir die Regelungen für das Kurzarbeitergeld verbessert und es erhöht haben, dass wir den Sozialstaat in dieser Zeit ausgebaut und ihn nicht geschwächt haben, dass wir mit einem Konjunkturpaket in die Zukunft investiert haben und dass wir jetzt ein Coronaaufholpaket für die Kinder ins Leben gerufen haben – Katja Mast hat sich gerade hingesetzt –; das war ein richtig guter Schritt. Vielen Dank auch fürs Kämpfen!
({6})
All diese Maßnahmen hat die SPD hart erkämpft. Ich sage das deutlich: Ohne die SPD in der Regierung hätte es nichts davon gegeben.
({7})
Mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen würde ich sagen: Ich wünsche mir Mehrheiten, die noch mehr davon umsetzen, weil wir mehr dafür tun müssen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland wieder schließt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Katja Kipping.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Armuts- und Reichtumsbericht ist ein Weckruf. Jahrzehntelang beschworen FDP-nahe Wirtschaftswissenschaftler den sogenannten Fahrstuhleffekt, der besagt, dass die Wirtschaft nur florieren müsse, und dann würden Arme und Reiche gleichermaßen wie in einem Fahrstuhl nach oben befördert. Dieser Effekt ist eine Illusion. Vielmehr schrumpft die Mitte, und unten erleben wir eine Verfestigung von Armut. Ein großer Teil der Gesellschaft befindet sich eben nicht in einem Fahrstuhl auf dem Weg nach oben, sondern auf einer abwärtsfahrenden Rolltreppe, und viele müssen immer schneller laufen, um nicht abzurutschen. Insofern ist dieser Bericht vor allem eins: ein Auftrag, zu handeln und umzusteuern.
({0})
Nur wenige Arme besuchen ein Gymnasium. Die Geburtslotterie entscheidet also auch – besser gesagt: vor allem – über den Bildungsweg. Ich meine jedoch: Der Bildungsweg eines Kindes sollte nicht vom sozialen Status der Eltern, sondern vielmehr von seinen Fähigkeiten und Wünschen abhängen.
({1})
Wer arm ist und in prekären Arbeitsverhältnissen tätig ist, der ist häufiger Lärm und Luftverschmutzung ausgesetzt. Der Bericht bestätigt also auch, dass Soziales und Ökologisches eng zusammenhängen, und das unteilbar. Armut macht das Leben nicht nur härter, sondern auch kürzer: Im Schnitt sterben ärmere Männer, also Männer der unteren Einkommensgruppe, 8,4 Jahre eher als reiche – 8,4 Jahre weniger Leben!
({2})
Soziale Ungleichheit ist ein Sprengsatz an den Pfeilern unserer Demokratie. Der Bericht zeigt nämlich auch: Das Gefühl, das eigene Schicksal sowieso nicht bestimmen zu können, führt dazu, dass sich arme Menschen aus der politischen Beteiligung zurückziehen, auch weniger an Wahlen teilnehmen. Wem also die demokratische Zukunft am Herzen liegt, der muss jetzt handeln!
({3})
Ein erster Schritt wäre, den Mindestlohn endlich armutsfest zu machen. Zweitens müssen wir das Sanktionssystem Hartz IV überwinden, es durch gute Arbeit und soziale Garantien ersetzen.
Der Bericht liefert auch eine erfreuliche Zahl – somit kann ich hier mit einem optimistischen Ausblick enden –: 68 Prozent, also zwei Drittel aller Befragten, meinen, Steuern auf massiven Reichtum müssten deutlich höher ausfallen. Übrigens, liebe FDP: Sogar jeder Zweite der reichsten Gruppe ist dieser Meinung. Damit haben wir einen Ansatzpunkt für das so notwendige Umsteuern: Millionengewinne, Millionenerbschaften und Millionenvermögen müssen stärker besteuert werden – dann haben wir auch genügend Geld, damit jedes Kind einen guten Start ins Leben hat
({4})
und damit wir alle, vom Kleinkind bis zum betagten Senior, vor Armut schützen können. Gegen die Armut der vielen hilft Geld. Gegen soziale Ungleichheit hilft Umverteilung.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Katja Kipping. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
({0})
Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Matthias Zimmer hat eben gesagt, der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung würde der Bundesregierung ein gutes Zeugnis ausstellen. Das mag in dem Text der Fall sein – ist ja auch von der Bundesregierung geschrieben –; aber wenn man sich die Zahlen anguckt, zeigt sich: Er tut das mitnichten.
({0})
Wir hatten 16 Jahre lang eine CDU-geführte Regierung, davon übrigens 12 Jahre zusammen mit der SPD. In der gesamten Zeit lag die Armutsquote über 15 Prozent. 15 Prozent der Bevölkerung, das sind über 12 Millionen Menschen, die ein Einkommen unter der Armutsgrenze haben. Bei den Kindern haben wir eine Armutsquote über 20 Prozent, auch in der ganzen Zeit konstant, ohne dass sie abnimmt. Jedes fünfte Kind lebt in Armut. Die Altersarmut steigt. Wir haben mehrere Millionen Menschen, die trotz Arbeit arm sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein gutes Zeugnis, sondern das ist ein Armutszeugnis.
({1})
Wenn Sie vielleicht darauf setzen, dass die Zahlen immer konstant sind – alle vier Jahre gibt es diesen Armuts- und Reichtumsbericht, und seit einigen Legislaturperioden sind es immer wieder die gleichen Zahlen –, wenn Sie auf den Gewöhnungseffekt setzen, kann ich Ihnen sagen: Wir werden uns an diese Situation nicht gewöhnen und wir werden sie auch nicht akzeptieren, sondern wir müssen sie ändern!
({2})
Denn die Ungleichheit und die Armut in diesem Land sind einfach viel zu hoch. Deswegen brauchen wir Maßnahmen, um das zu ändern. Eigentlich sollte es für ein reiches Land wie Deutschland der Anspruch sein, dass niemand von Armut betroffen ist, dass alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben können. Das muss unser Anspruch sein!
Dafür haben wir Grünen jetzt einen Antrag vorgelegt, der das auch erreichen kann. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, um Kinderarmut endlich effektiv zu bekämpfen.
Wir brauchen eine Garantiesicherung statt Hartz IV, die den Menschen gerade in diesen Zeiten der Veränderung ein Existenzminimum ohne Sanktionen garantiert, das vor Armut schützt. Die Garantiesicherung muss so ausgestaltet sein, dass sie bei den Leuten unbürokratisch ankommt. Sie muss so ausgestaltet sein, dass sich zusätzliche Erwerbsarbeit endlich stärker lohnt. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage. Daran müssen wir unbedingt arbeiten.
({3})
Natürlich geht es nicht nur um die Grundsicherung, sondern wir müssen durch Stärkung der Sozialversicherung Armut im vorgelagerten System vermeiden. Um Altersarmut zu vermeiden, müssen wir vor allem die gesetzliche Rente stärken: durch eine Stabilisierung des Rentenniveaus, durch eine Garantierente und durch die schrittweise Weiterentwicklung zur Bürgerversicherung. Dadurch vermeiden wir Armut im Alter. Auch das ist ein wichtiger Punkt, an den wir jetzt rangehen müssen.
({4})
Das Gleiche gilt für die Arbeitslosenversicherung. Viel zu wenige Arbeitslose beziehen noch Arbeitslosengeld I. Die meisten beziehen gleich Arbeitslosengeld II. Deswegen müssen wir die Arbeitslosenversicherung stärken. Wir brauchen gute Arbeit. Wir brauchen einen höheren Mindestlohn, eine stärkere Tarifbindung, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen, damit die Beschäftigten endlich mehr Lohn haben.
({5})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das ist ja gar nicht mehr Claudia Roth.
Deshalb ja.
({0})
Aber vielleicht schaffen Sie den Rest in zehn Sekunden.
Also: Es gibt ganz viel zu tun. Der Rest steht in unserem Antrag, inklusive Bildung, guter Zugang zu Gesundheit. Wenn es um Armut geht, geht es nicht nur um Geld, sondern wir brauchen ein gesamtes Paket, um endlich der Armut in Deutschland Herr zu werden und die Armut endlich effektiv zu senken und sie nicht, wie es die Regierung in den letzten Jahrzehnten getan hat, immer nur konstant zu halten. Das reicht nicht.
({0})
Vielen Dank. – Schrecksekunden waren zugegeben. Ich dachte, Sie wären freudig erregt, aber es hat Sie erschreckt, dass ich nicht Claudia Roth bin. Na gut.
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist festzustellen, dass die zentralen Aussagen sehr positiv sind, nämlich dass Einkommenszuwächse in den letzten Jahren großartig über alle Einkommensgruppen feststellbar sind. Das Nettoäquivalenzeinkommen ist um rund 3,5 Prozent gestiegen. Aber wenn das über alle Einkommensgruppen steigt – bei den Geringverdienern, bei den Niedrigverdienern genauso wie bei denen, die im mittleren Bereich verdienen –, dann kann es natürlich auch keine Verschiebungen nach unten und oben in soziologischer Form geben. Natürlich wird es bei solchen Einteilungen immer sogenannte Arme geben.
({0})
Selbst wenn Ihr Programm, Herr Strengmann-Kuhn, mit einem sanktionslosen Grundeinkommen in Höhe von 1 200 Euro durchkommen würde, dann würden Sie die Bürger, die dies bekommen, später als arm bezeichnen gegenüber denen, die wesentlich mehr verdienen.
({1})
– Ja, natürlich. Sie bezeichnen ja heute auch die Menschen in unserem Land, für die die Grundsicherung eine große soziale Stütze ist, als arm. Das ist immer Ihre Definition, die Sie an den Tag legen. Und in Wirklichkeit ist es so, dass wir stolz sein dürfen auf den Sozialstaat und auf die Errungenschaften des Sozialstaates, die wir hier mit geschaffen haben, werte Damen und Herren.
({2})
Herr Kollege Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Straubinger, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben eben behauptet: Selbst dann, wenn alle Menschen 1 200 Euro bekommen würden, zum Beispiel durch ein Grundeinkommen, was nicht in unserem Antrag steht, aber was ich durchaus sinnvoll fände, würde es Armut geben.
({0})
Das stimmt nicht.
({1})
Armut ist nach der Definition bei weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens gegeben. Wenn es eine untere Grenze gäbe – durch die Garantiesicherung, durch ein Grundeinkommen, wie auch immer gestaltet – und diese über diesen 60 Prozent läge, dann wäre niemand mehr arm. Durch ein Grundeinkommen oder eine Garantiesicherung oder durch eine Garantie des Existenzminimums ändert sich das Medianeinkommen nicht, wenn man das richtig gut macht.
Natürlich.
Es hängt davon ab, wie man es finanziert. Wenn man es gut finanziert, nämlich von oben nach unten umverteilt, dann ändert sich das Medianeinkommen nicht, idealerweise steigt das Medianeinkommen sogar und dann sind die Menschen nicht arm. Das heißt, man kann durch so eine Maßnahme tatsächlich auch Armut überwinden. Anderenfalls gäbe es ja auch nicht unterschiedliche Armutsquoten in den unterschiedlichen Ländern. Es gibt Länder, die stehen viel besser da als Deutschland.
Herr Kollege, Sie wollten eine Frage stellen und kein Korreferat halten.
Also: Die Aussage, die Sie getroffen haben, stimmt leider einfach rein rechnerisch, mathematisch so nicht.
({0})
Vielen Dank.
Also ich verstehe Ihre Logik nicht, Herr Strengmann-Kuhn. Das sage ich ganz offen. Denn natürlich werden damit auch viele andere Einkommen zusätzlich steigen, und wir werden wieder einen Median haben. Aber Sie werden die unterste Linie immer als Armut bezeichnen.
({0})
– Doch, das ist ja Ihr Programm. Wir haben das erlebt. Sie waren ja Mitbegründer. Ich weiß nicht, ob Sie damals im Parlament waren. Unter Rot-Grün wurde die Grundsicherung eingeführt. Sie haben gesagt: Die Grundsicherung hebt letztlich ab von der früheren Sozialhilfe. – Das stimmt auch. Sie war nur falsch finanziert.
({1})
Die Kommunen mussten sie finanzieren. Sie haben seinerzeit in der politischen Begründung festgestellt, dass das letztendlich das Herausführen der Menschen aus der Armut bedeutet. Das waren Ihre Begründungen unter Rot-Grün. Mittlerweile ist das für Sie in der politischen Auseinandersetzung Armut geworden. Das ist doch die Realität, die wir hier zu verzeichnen haben.
Deshalb ist es wesentlich besser, weniger auf die Sozialleistungen des Staates angewiesen zu sein. Vielmehr muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen, dass jeder in eigener Verantwortung Erwerbseinkommen erzielen kann – unabhängig davon, ob das Niedriglohn oder Sonstiges ist. Selbst der Niedriglohn ermöglicht ein höheres Einkommen als das staatliche Einkommen. Das muss auch weiterhin so sein, weil sich sonst keiner mehr anstrengen würde. Das muss man doch auch sehen.
({2})
Von daher können wir stolz sein auf das Erreichte, weil wir in den vergangenen 16 Jahren der Bundesregierung unter Angela Merkel mehr Erwerbstätigkeit geschaffen haben. Das muss man hier feststellen. Das ist mit Einkommenszuwächsen verbunden. Das ist mit der Absenkung der Langzeitarbeitslosigkeit verbunden. Bis 2019 haben wir die niedrigste Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land erreicht. Selbst die Herausforderung der Covid-Pandemie hat dazu geführt, dass sie nicht signifikant angestiegen ist. Mit Kurzarbeit und mit weiteren sozialen Maßnahmen haben wir es ermöglicht, dass die Menschen weiterhin eine vernünftige Grundlage für ihren Lebensunterhalt bekommen haben. Das ist die großartige Leistung dieser Bundesregierung, die wir mit herbeigeführt haben, werte Damen und Herren.
({3})
Was sagt dieser Bericht noch? Dass der soziale Aufstieg möglich ist in unserem Land! Das bedeutet natürlich: Sozialer Aufstieg ist auch mit Anstrengung verbunden und nicht mit bedingungslosem Grundeinkommen, wie Sie es in Ihren Anträgen präferieren,
({4})
wie es Die Linke in ihren Anträgen präferiert und auch – in abgewandelter Form – die SPD. Wir müssen die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern, um sie damit in die Lage zu versetzen, ein hervorragendes, ausreichendes Einkommen zu erzielen.
Heute ist bei einzelnen Debattenbeiträgen so ungefähr durchgeschimmert, Eigentumsbildung sei was Schlimmes. Wir stehen für Eigentumsbildung, für Wohneigentumsbildung. Wir haben es mit dem Baukindergeld durchgesetzt, das rege in Anspruch genommen worden ist und wodurch letztendlich im Alter eine Stütze vorhanden ist, weil man eine gute Wohnversorgung hat. Hier sind wir in diesem Land gefordert, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Das bedeutet, dass man unser Bauen nicht noch zusätzlich verteuern darf. Wir haben es in den vergangenen Jahren schon dermaßen verteuert. Aber wenn wir jetzt auch noch zusätzlich eine Fotovoltaikanlage vorschreiben, dann kann sich bald überhaupt keiner mehr ein Haus bauen. Das muss man doch auch sehen.
({5})
Also von daher ist es notwendig, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen, sodass die Menschen die Möglichkeit der Qualifizierung haben; das ist mit entscheidend. Kollege Zimmer hat auf die Bildung hingewiesen. Jeder hat Zugang zu guter Bildung. Aber das bedeutet auch, eigene Anstrengungen zu unternehmen. Ich wende mich dagegen, das ständig nur damit abzutun, die einen hätten reiche Eltern und damit auch eine bessere Bildung. Wenn man sich anstrengt, kann jeder aufs Gymnasium gehen,
({6})
unabhängig davon, ob die Eltern reich oder arm sind. Das ist überall möglich, verehrte Damen und Herren.
({7})
Herr Kollege.
In diesem Sinne wünsche ich uns einen weiteren starken Wettstreit, dann natürlich auch im Bundestagswahlkampf.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Straubinger. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie hat uns alle berührt, aber sie hat uns unterschiedlich hart getroffen. Es macht eben einen Unterschied, ob das Gehalt weitergezahlt wurde, ob man Kurzarbeitergeld bekommen hat, das, wenn man Glück hatte, gut aufgestockt worden ist, oder ob das eigene Geschäft keinen Umsatz gemacht oder man seinen Arbeitsplatz verloren hat.
Familien hat es in dieser Pandemie besonders hart getroffen: mit Existenzängsten, mit Ängsten, die man nicht nur für sich selber hat, sondern die man auch für die Zukunft der eigenen Kinder hat; mit den Schwierigkeiten, Kinderbetreuung sicherzustellen, wenn man nicht im Homeoffice arbeiten konnte, oder Kinderbetreuung sicherzustellen, wenn man im Homeoffice arbeiten und das alles unter einen Hut kriegen musste oder wenn man die Kinder im Distanzunterricht zu begleiten hatte. Für viele war das die Situation, dass sie das ihren Kindern gar nicht oder nur sehr schlecht ermöglichen konnten, weil die Ausstattung vor Ort lange fehlte. Und, Herr Kober, da muss man sich dann schon mal die Frage stellen, ob das eine Frage der Lehrmittelfreiheit und der Bildung ist oder ob man all diese Fragen über die Sozialpolitik zu regeln probiert.
({0})
Arbeitsplätze durch das Kurzarbeitergeld zu sichern, aber auch durch die vielen Wirtschaftshilfen, die wir auf den Weg gebracht haben, war wichtig und richtig, und das muss klug weitergeführt werden; auch dann, wenn sich die Lage für die meisten von uns wieder entspannt hat. Ich finde die Vorwürfe, die man immer mal vernehmen konnte – ich habe sie heute zum Glück nicht gehört –: „Es wird so viel Geld für die Wirtschaft ausgegeben, und die Familien bekommen nichts“, immer etwas wohlfeil; denn unsere wirtschaftliche Grundlage – Arbeitsplätze zu erhalten, gute Arbeit, auch neue Arbeit zu schaffen mit unserem Konjunkturprogramm – ist die Basis für ein gutes Familieneinkommen. Deswegen war das richtig und gut, was wir gemacht haben.
({1})
Das hat der Armuts- und Reichtumsbericht gezeigt. Deswegen kämpfen wir auch weiter für jeden Arbeitsplatz.
Aber richtig ist auch, dass das alleine nicht reicht. Kinder und Jugendliche haben besonders gelitten, und arme Kinder und Jugendliche, die es schon vorher schwerer hatten, haben es jetzt noch mal schwerer. Deswegen ist es richtig, dass wir das Aufholpaket haben. Dabei dürfen wir aber nicht stehen bleiben. Wer nachhaltig Kinderarmut bekämpfen und Chancengleichheit schaffen möchte, muss in dieser Richtung weitergehen. Niemand darf wegen seiner Kinder finanzielle Sorgen haben. Deswegen brauchen wir ein neues Kindergeld. Deswegen brauchen wir eine Kindergrundsicherung, eine, bei der die, die wenig haben, mehr bekommen und nicht wie jetzt die, die schon viel haben.
({2})
Und ja: Gute Arbeit ist eine Grundlage für ein gutes Familieneinkommen; aber um arbeiten gehen zu können, muss man nicht nur einen Arbeitsplatz haben; die Eltern müssen ihre Kinder auch gut betreut wissen. Ganztagskitas und Ganztagsschulen müssen Standard werden, auch um allen Kindern die gleichen Chancen und ein gemeinsames Aufwachsen zu ermöglichen. Deswegen heißt Armutsbekämpfung nicht nur, ein ausreichendes Einkommen zu garantieren; Armutsbekämpfung heißt eben auch: Türen öffnen, Hürden wegräumen, gläserne Decken durchbrechen und allen Menschen mit dem gleichen Respekt begegnen.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Vielen Dank auch für Ihre Anrede, aber so weit ist es noch nicht. Ich bin noch nicht Ihr Vorsitzender, sondern nur der amtierende Bundestagspräsident.
({0})
– Perspektivisch haben Sie sich das wahrscheinlich gewünscht.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach längerer Zeit intensiver Beratung und auch Diskussionen werden wir heute ein Gesetz verabschieden, das Demokratiegeschichte anhand von konkreten Orten und Erlebnissen erfahrbar macht.
Oft reden wir ja über Demokratie und darüber, wie wichtig es ist, Demokratie immer wieder neu zu erringen, relativ theoretisch; aber gerade junge Menschen können, da sie an eine digitale Bilderwelt gewohnt sind, viel mehr damit anfangen, wenn sie an einen ganz konkreten Ort kommen, wo sie erleben können, wie Menschen gerungen haben, wie Menschen gelitten haben. Fast alle hier in diesem Deutschen Bundestag kennen die Erfahrung, die wir machen, wenn wir beispielsweise in die beklemmenden Konzentrationslager der Nationalsozialisten kommen. Da kann sich keiner mehr dem Eindruck dieses Ortes widersetzen, und er kann erleben, nachvollziehen, wie es Menschen dort ergangen sein muss.
Wir haben in unserem Land – in Ost und West, in Nord und Süd – eine ganze Reihe von Erfahrungsorten. Einige sind besonders bekannt, andere weniger. Viele von diesen Erfahrungsorten werden von ehrenamtlich tätigen Menschen betreut und in Schwung gehalten. Einige von diesen Orten sind aber, wie man so schön sagt, in die Jahre gekommen und erfüllen nicht mehr die museumspädagogischen und museumsdidaktischen Anforderungen, die heute notwendig sind, um junge Menschen zu begeistern.
Mit diesem Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Orte der Demokratiegeschichte“ wollen wir in erster Linie – das muss ich ausdrücklich betonen, weil die Anhörung es auch gezeigt hat – eine Förderstiftung errichten. Wir verfolgen mit dieser Stiftung in erster Linie also nicht den Ansatz, neue Orte zu schaffen, neue theoretische Gebäude zu entwickeln, sondern wir wollen alles, was an jetzigen Strukturen vorhanden ist, über diese Stiftung fördern.
Der Deutsche Bundestag hat in dieser Legislaturperiode einem Antrag zugestimmt, in dem formuliert worden ist, dass jährlich 10 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt werden. Es war etwas ganz Außergewöhnliches, dass wir den Haushältern nicht gesagt haben: „Jetzt helft uns mal ein bisschen, dass wir da Geld bekommen“, sondern dass wir das ganz konkret beschlossen haben. Ich bitte darum, dass wir das auch konsequent umsetzen. In diesem Jahr sind 3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden. Das reicht auch; aber es reicht natürlich nicht für die nachfolgenden Jahre. Es muss auch eine – Modewort – nachhaltige Zusage da sein, damit die ganzen Programme, die jetzt wirken sollen, von den Ehrenamtlichen umgesetzt werden können.
Neben den vielen Orten – ich will gar keine besonders nennen – glaube ich aber, dass wir bei der inhaltlichen Konzeption, die ja auch Gegenstand des Beschlusses ist, noch etwas nachbessern müssen. In der Anhörung ist deutlich geworden, dass wir den einen oder anderen Ort in den neuen Ländern noch etwas pointierter herausstellen sollten. Dafür nenne ich mal ein Beispiel, damit es konkret wird: In der Konzeption steht Leipzig drin, aber die deutsche Einheit wird vor allem mit den Montagsdemonstrationen an der Nikolaikirche in Leipzig verbunden. Diese sollte auch zu einem solchen Ort werden.
Wir haben einen Punkt in der Konzeption, der über das hinausgehen wird, was wir in der sogenannten Förderstiftung machen, und das betrifft die Paulskirche in Frankfurt – ein Thema, das auch vom Bundespräsidenten in besonderer Weise angesprochen wurde, und das ist ein sensibles Thema. Jeder, der die Paulskirche kennt, weiß, dass die Ausstrahlung nicht besonders charmant und ansprechend ist.
({0})
– Frau Kollegin, das sagen mir auch die Frankfurter selber. Ich war mehrfach dort. – Die Paulskirche soll natürlich nicht total umgestaltet werden, aber es soll etwas von dem erfahrbar werden, was dort stattgefunden hat. Das Ganze wird außerhalb der vorgesehenen 10 Millionen Euro finanziert. Wir wollen an der Paulskirche ein „Haus der Demokratie“ errichten, in dem Schülerinnen und Schüler, aber auch ehrenamtlich tätige Vereine in Diskussionen erfahren können, was sich in der Paulskirche zugetragen hat.
Dafür wird nicht die Bundesregierung einen Vorschlag machen, sondern es gibt eine Expertenkommission, und die wird einen Vorschlag unterbreiten. Dann wird hier im Plenum, in der Bundesregierung darüber entschieden, was aus der Paulskirche werden soll. Ich glaube, die Paulskirche ist ein wunderbares Beispiel dafür, was Demokratie in Deutschland zu leisten in der Lage war.
Deswegen freue ich mich, dass wir das jetzt noch in dieser Legislaturperiode geschafft haben. Noch in dieser Legislaturperiode wird die Stiftung eingerichtet werden und dann mit ihrer Arbeit beginnen. Demokratie wird erfahrbarer. Demokratie – so wird deutlich – ist nicht ohne täglichen Einsatz und manchmal auch nicht ohne Opfer möglich.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Kauder. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, wir sind Ihnen dankbar, dass Sie soeben ein Plädoyer gehalten haben für eine erweiterte Geschichtsbetrachtung. Dafür setzen wir als AfD-Fraktion uns schon länger ein.
Meine Damen und Herren, der heute zu diskutierende und zu beschließende Vorschlag ist ein guter Vorschlag. Wir wollen Orte der deutschen Demokratiegeschichte würdigen. Kollege Kauder hat bereits die Paulskirche erwähnt. Wir finden es sehr gut, dass dieser Ort auch ein Bestandteil des Konzepts ist. Wir finden das sogar so gut, dass wir unseren Fraktionssaal nach der Paulskirche benannt haben. Wir tagen im „Saal Paulskirche“.
({0})
Leider haben die sich selbst demokratisch nennenden Fraktionen offenbar etwas dagegen, dass wir den Saal auch offiziell so nennen. Wir würden gerne außen ein Schild anbringen dürfen, Herr Präsident, um diesen Saal auch offiziell „Saal Paulskirche“ nennen zu dürfen. Da könnten Sie mal gelebte Demokratie beweisen, meine Damen und Herren!
({1})
Herr Präsident, gestatten Sie mir, mit einem Zitat zum eigentlichen Teil zu kommen:
Die Zeit schreitet in Stürmen vorwärts, ihren ungestümen Gang gewaltsam aufhalten zu wollen, wäre ein eitles Unternehmen.
Man kommt kaum darauf, wer das gesagt hat: Klemens Fürst von Metternich im Jahre 1820 – fast schon prophetische Worte. Sie erinnern sich: Metternich war derjenige mit dem Metternichʼschen System. Dieses System steht für die Unterdrückung der Opposition. Es steht für die Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Es steht für Zensur. Es steht für die Verfolgung von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Gelehrten – denken Sie an die Göttinger Sieben. Das sind alles Einschränkungen, wie wir sie jetzt auch erleben, und so bekimmen wir ein eindrückliches Bild, wie es damals zur Zeit der Restauration in Deutschland ausgesehen hat.
Meine Damen und Herren, wir wissen aber auch, dass der Wunsch, die Sehnsucht nicht nur nach Demokratie, Freiheit und Recht, sondern auch nach Einigkeit nicht auszulöschen war, auch nicht durch die stärkste staatliche Observation und Repression. Genauso wird es auch heute sein: Kein Verfassungsschutz der Welt kann die Demokratie in ihrem Gang aufhalten.
({2})
Ich hatte es schon gesagt: Wir begrüßen grundsätzlich den Vorschlag, die Orte der Demokratiegeschichte zu würdigen. Erstaunlicherweise haben im Ausschuss nicht alle Fraktionen dieses Projekt begrüßt. Es gibt besonders aus einer Ecke Vorbehalte. Wir haben uns doch sehr gewundert, dass es sogar Initiativen gibt, die sich auch gegen eine Rekonstruktion der Paulskirche aussprechen.
Liest man mal in den offenen Briefen dieser Initiative nach, dann wundert man sich, mit welchen Argumenten hier argumentiert wird: Die Paulskirche solle deshalb nicht wieder in einen ansehnlichen Zustand gebracht werden, weil damit Geschlechterungerechtigkeit zementiert würde; denn damals hätten die Frauen nicht direkt neben den Männern gesessen usw. Meine Damen und Herren, wenn man solche Vorurteile von heute auf die Zeit von damals überträgt, dann wird man der Geschichte nicht gerecht, und dann kommen wir mit diesem Projekt überhaupt nicht voran. Das ist Unsinn.
({3})
Wir hingegen meinen, dass dieses Projekt sowohl zeitlich als auch räumlich durchaus noch erweitert werden könnte. Wir sollten den Blick über die bundesrepublikanische Provinz hinaus wagen. Denken Sie bitte daran, dass auch außerhalb Deutschlands Orte der deutschen Demokratie zu finden sind; ich nenne da zum Beispiel Kreisau. Der Kreisauer Kreis wird einigen bekannt sein. Dort ist auch Demokratie gemacht worden. Wir sollten zeitlich vielleicht ein bisschen weiter zurückschauen. Denken Sie zum Beispiel an die Stadt Memmingen; dort gab es die ersten Bauernaufstände. Auch dort sind schon erste Ideen formuliert worden, wie Demokratie aussehen kann.
Lassen Sie mich schließen mit einem Appell, dass wir nicht nur zurückblicken, dass Sie nicht nur zurückblicken, dass Sie nicht nur Demokratiegeschichte würdigen. Noch besser wäre es, wenn die sich selbst seit einiger Zeit so nennenden demokratischen Parteien auch mal mehr Demokratie leben, mehr Demokratie wagen würden.
({4})
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Wagen Sie es doch einfach mal, unseren Vizepräsidenten zu wählen. Dann würden Sie sich als wahre Demokraten erweisen.
Bitte kommen Sie zum Schluss.
Denn zur Demokratie, meine Damen und Herren, gehört auch der Schutz der Minderheiten. Das können Sie morgen beweisen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Frömming. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den heutigen Plenartag haben wir begonnen mit dem Gedenken an eine der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte, nämlich den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Wir waren uns in der Debatte, wenn ich sie richtig verstanden habe, alle einig, dass so etwas von deutschem Boden nicht wieder ausgehen darf.
Damit bin ich bei dem jetzigen Tagesordnungspunkt. Wir setzen Hass und Gewalt, Totalitarismus und Diktatur Demokratie entgegen. Deswegen ist es ein besonders guter Tag für die Demokratie, wenn wir heute die Stiftung für die Orte der Demokratiegeschichte beschließen. Ich will dazusagen, dass das für uns als SPD ein Herzensprojekt war, das wir aber in großem Einvernehmen in der Koalition angegangen sind und umgesetzt haben. Ich kann mich den Worten von Herrn Kauder anschließen: Es ist gut, dass es noch in dieser Legislaturperiode gelingt, das umzusetzen.
Denn wir wissen doch alle: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern sie ist eine historische Errungenschaft. Demokratie muss gestaltet, gelebt und weiterentwickelt werden. Und wir wollen mit dem Gesetz die Erinnerung an die wechselvolle Geschichte der Demokratie in Deutschland sichtbar machen, wir wollen Verständnis für Ursachen und Wirkungen wecken, das Wertefundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anschaulich vermitteln und die Werte eines demokratisch verfassten Gemeinwesens noch stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung heben.
({0})
Wir haben uns – Herr Kollege Kauder hat darauf hingewiesen – darauf verständigt, dass wir 10 Millionen Euro jährlich dafür in die Hand nehmen respektive zur Verfügung stellen. Das ist Auftrag an den nächsten Deutschen Bundestag, das tatsächlich so zu verstetigen. Es ist ein wirklich großer Schritt, den wir damit gehen können.
({1})
Mir als hessischem Abgeordneten – das will ich nicht verschweigen – ist es natürlich auch eine besondere Ehre, dass der Sitz dieser Stiftung in Frankfurt sein wird,
({2})
um damit der besonders herausragenden Bedeutung der Frankfurter Paulskirche Rechnung zu tragen und Anerkennung zu zollen; denn dort haben am 18. Mai 1848 die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Parlamentes über eine freiheitliche Verfassung mit Grundrechten und über die Bildung eines deutschen Nationalstaates beraten. Die Einflüsse der Paulskirchenverfassung wirken übrigens bis heute ins Grundgesetz nach.
Zudem haben wir in den parlamentarischen Beratungen auch noch Änderungen aufgenommen. Wir erweitern den Stiftungsrat um zwei Mitglieder der Länder. Auch das zeigt die Vielfalt unseres Landes und trägt unserer föderalen Struktur in besonderer Weise Rechnung.
Ich bin auch froh, dass wir in einem weiteren Artikel noch ein paar Änderungen am Stiftungsgesetz „Haus der Geschichte“ umsetzen können. Es ist insbesondere der Arbeitskreis der gesellschaftlichen Gruppen, der da betroffen ist. Das war ein Wunsch des Kuratoriums aus dem Haus der Geschichte, den wir hiermit umsetzen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das stärkt unsere Demokratie und unser Bewusstsein für das gesellschaftliche Miteinander. Das ist heute wichtiger denn je. Und zur Stärkung dieses Bewusstseins trägt das Gesetz, aber vor allen Dingen auch die Stiftung bei. Damit ist es ein guter Tag für die Demokratie.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Hartmut Ebbing aus der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir über die Errichtung einer „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“. In der ersten Lesung am 23. April 2021 haben wir bereits die grundsätzlichen Argumente zu dieser geplanten Stiftung ausgetauscht. Unklar ist weiterhin – und dazu wurden offenbar im Zeitraum von der ersten Lesung bis heute keine Veränderungen eingebracht – die konkretere Ausgestaltung der Stiftung. Klar sollte sein, dass es sich dabei nicht um eine bloße Aufzählung der Orte handeln darf, sondern um die Vermittlung der Geschichten gehen soll, die sich hinter den Orten verbergen.
Die FDP hat einen Änderungsantrag eingebracht, der, wie ich meine, ohne Probleme übernommen werden könnte und für den ich hier noch einmal werbe. So sollte es, denke ich, klar sein, dass die Stiftung im Wesentlichen eine Förderstiftung sein soll und nicht eigene Aktivitäten entwickelt. Dazu hat Volker Kauder aber eben gerade Klarstellendes gesagt; von daher stimmen wir da überein.
Auch halten wir eine Kooperation der Stiftung mit dem Bundesarchiv für selbstverständlich.
Die Orte der Friedlichen Revolution im Osten Deutschlands sind stärker zu berücksichtigen. Auch da habe ich gerade gehört, dass das auch so gesehen wird.
Der Stiftungsrat sollte um die jeweiligen Präsidentinnen bzw. Präsidenten der Kultusministerkonferenz, des Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes erweitert werden.
Die jeweils zu wählenden Mitglieder des Stiftungsrates müssten gerade vor dem Hintergrund des Stiftungszweckes nicht von der jeweiligen Bundesregierung, sondern meines und unseres Erachtens natürlich vom Parlament gewählt werden.
({0})
Und eine regelmäßige Evaluierung des Gedenkstättenkonzeptes der Stiftung sollte im Gesetz verankert werden.
Insgesamt aber ist es zu begrüßen, dass mit der Errichtung dieser Stiftung neben der Aufarbeitung der NS-Zeit und des SED-Unrechtes nun eine dritte Säule der Erinnerungskultur in Deutschland etabliert wird.
({1})
Daher werden wir als FDP der Errichtung zustimmen.
Unzweifelhaft ist der Reichstag, dieses historische Gebäude hier, das heute Sitz des Bundestages ist, des deutschen Parlamentes, ebenso ein Ort der Geschichte. Und ich bin dankbar, dass ich dem Parlament an diesem Ort für eine Legislaturperiode angehören durfte.
Das Jahr 2021 ist für mich und viele Mitglieder meiner Familie ein Jahr der Veränderungen. Mein großer Sohn Tobias wird bald seine Doktorarbeit abgeben, mein mittlerer Sohn Florian hat eine neue Wohngruppe gefunden und mein jüngster Sohn Robin hat gerade sein Abitur mit einer hervorragenden Note abgeschlossen.
({2})
Dies hier ist meine voraussichtlich letzte Rede in diesem Hohen Hause.
({3})
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, vor allem und insbesondere meiner Fraktion wie auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, die ich kennenlernen durfte und mit denen ich ein gemeinsames Stück des steinigen, aber überaus lohnenswerten Weges der Demokratie gehen durfte. Ich wünsche mir, mit vielen von Ihnen in Kontakt zu bleiben.
({4})
Bei allen Meinungsverschiedenheiten habe ich probiert, jedem von Ihnen und euch mit Respekt und auf Augenhöhe zu begegnen. Behandle jeden so, wie du selber behandelt werden möchtest!
({5})
Wenn wir alle versuchen, –
Herr Kollege.
– diesen Grundsatz zu beherzigen, würden wir vielleicht den anderen besser verstehen können, gäbe es weniger Konflikte auf dieser Welt, das Leben wäre bunter, vielfältiger und – ja – lebenswerter.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen.
Ich danke dafür, dass ich für eine Zeit Teil dieses Hohen Hauses sein durfte.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Ebbing. Ich gehe davon aus, dass Ihre Familie auch Eingang in das Haus der deutschen Geschichte finden wird.
({0})
Jedenfalls ist es jetzt im Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages verankert, wie erfolgreich Ihre Familie ist.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Und an der Stelle muss auch sein: Lieber Hartmut! Vom große Anerkennung genießenden Sozialphilosophen Oskar Negt stammt der Satz – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –:
Eine demokratisch verfasste Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, alle anderen Gesellschaftsordnungen bekommt man so.
Der Mann hat recht; denn Demokratie heißt eben nicht, dass sie da ist und fertig. Sie muss gehegt und gepflegt werden. Sie muss immer wieder auf den Prüfstand; denn die Gesellschaft verändert sich.
Und dann fragt man sich: Demokratie, was ist das eigentlich?
({0})
Je nach Fraktion ist unser Demokratiebegriff wahrscheinlich auch ein bisschen unterschiedlich an der einen oder anderen Stelle. Und dass die Herrschaften von rechts gerne eine völkische Demokratie hätten,
({1})
in der Biodeutsche, bevorzugt Männer, das Sagen haben, ist auch klar. Dass es dann aber keine Demokratie mehr wäre, das wissen wir natürlich.
({2})
Was aber gehört zu einer Demokratie? Freie Wahlen natürlich, das aktive und das passive Wahlrecht und, dass nicht nur die, die es sich leisten können, in Parlamenten landen. Deshalb wurde übrigens in der Weimarer Reichsverfassung die sozialdemokratische Forderung nach Diäten umgesetzt – die Diäten, die heute so umstritten sind –, eine Forderung, die sicherstellen sollte, dass auch Menschen ohne großes Vermögen in Parlamente einziehen. Denn wirklich demokratische Verhältnisse haben wir nur dann, wenn sich alle Teile der Bevölkerung in den gewählten Institutionen wiederfinden. Denn nur so ist gesichert, dass auch ihre Themen und ihre Perspektiven eine Rolle spielen in der politischen Willensbildung. Und wenn ich mich dann hier umschaue, ist da noch deutlich Luft nach oben. Die Zahlen belegen das.
({3})
In der öffentlichen Anhörung wurde deutlich, dass die Idee einer Stiftung zur Förderung der deutschen Demokratiegeschichte nicht schlecht ist, aber die Frage ist wie immer: Wie wird sie umgesetzt? Dass es Orte gibt, an denen die Demokratie geboren wurde, und solche, an denen sie entwickelt und verteidigt wurde, ist ja Menschen geschuldet; diese müssen also in den Mittelpunkt. Erst wenn sie im Mittelpunkt dieser Geschichten stehen, dann wird Geschichte aus dem Abstrakten ins Greifbare gehoben. Insofern finden wir die Grundidee zwar richtig, den im Koalitionsgesetzentwurf skizzierten Ansatz aber nicht. Deshalb werden wir uns enthalten.
Auch der Antrag der FDP würde zwar Verbesserungen bringen, aber er geht uns nicht weit genug. Auch hier enthalten wir uns.
Unsere Sorge ist, dass die Fördergelder am Ende in Bauten fließen, in staatliche Institutionen. Demokratie wird aber nicht einzig von Politikerinnen und Politikern sowie Institutionen gestaltet; sie wird entwickelt, gelebt, vorangebracht, auch und ganz besonders von sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen.
({4})
Zivilgesellschaftliches Engagement ist sozusagen das Lebenselixier der Demokratie.
Der Zweck der Stiftung darf also nicht sein, dass wir uns am Ende alle auf die Schulter klopfen und Denkmäler haben. Der Zweck muss sein, dass wir den kommenden Generationen Geschichten erzählen, dass Demokratie immer schon erkämpft, verteidigt und gestaltet wurde und dass dieser Kampf um und für die Demokratie niemals enden darf.
Ein letzter Satz sei mir gestattet. Lieber Hartmut Ebbing, es war deine letzte Rede. Ich habe die Arbeit mit dir im Kulturausschuss und auch den guten Austausch wirklich geschätzt. Es war ein gutes Gefühl, auf Augenhöhe miteinander Dinge zu diskutieren, andere Ansichten zu haben, aber auch voneinander zu lernen. Insofern war es schön, dich hier zu haben. Ich hoffe, ich bin wieder dabei. Du wirst fehlen. Aber schau einfach vorbei, dann sehen wir uns wieder. – Tschüs!
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Ich weise darauf hin, dass der Garten der Parlamentarischen Gesellschaft geöffnet ist, wenn es Versöhnungsfeiern oder Abschiedsfeiern geben soll.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Triumph der Menschenrechte über Rassismus, als Triumph der Demokratie über den Terror hat der israelische Bildhauer Dani Karavan einmal sein Werk „Straße der Menschenrechte“ in Nürnberg bezeichnet. Ihm, dessen Familie der nationalsozialistischen Vernichtung zum Opfer fiel, verdanken wir auch das Kunstwerk „Grundgesetz 49“ in Sichtweite vom Reichstagsgebäude an der Spree und der früheren Mauer. Die Glasplatten mit den 19 ersten Artikeln des Grundgesetzes, den Artikeln, die der Ewigkeitsklausel unterliegen, ersetzen einen Zaun und verbinden in ihrer Transparenz den Souverän und seine Mandatsträger/-innen. Ganz im Sinn von Hannah Arendt, die Demokratie als „aktive Mitbestimmung öffentlicher Angelegenheiten“ verstanden wissen wollte, zeigt Karavan Demokratie als Angelegenheit aller Bürgerinnen und betont ihre unbedingte Verbindung mit den Menschenrechten, so auch in seinem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma.
Meine Damen und Herren, Demokratie braucht Orte wie diese von Karavan geschaffenen. Sie braucht Orte der Erinnerung, der Reflexion, der Begegnung, der Identifikation, auch des Triumphs der Menschenrechte. Sie braucht sie überall im Land. Dann ist Demokratie widerständig, wenn sie gelebt wird, wenn sie mit Händen zu greifen ist.
({0})
Die große Kunst des jüngst verstorbenen Karavan legt uns die Zukunft der Menschenrechte und der Demokratie ans Herz, eindringlich und voller Hoffnung. Es ist gerade das Fehlen von Eindringlichkeit, von innerer Leidenschaft, die fehlende Ansprache an die Jugend, an künftige Demokratinnen und Demokraten, die Ihrem Gesetzentwurf bei aller positiver Grundhaltung die Bleischuhe anzieht. Das kritisieren wir.
Sie konzentrieren sich auf namhafte Orte und große Bauten besonders im Westen und besonders aus dem 19. Jahrhundert. Dabei ist Demokratie dann stark, wenn sie sich nicht auf Repräsentation konzentriert, sondern wenn sie zur Teilhabe anregt. Und es stimmt: Wenn die Demokratiegeschichte von uns Deutschen je vorbildhaft gewesen ist, dann in der Friedlichen Revolution. Im Gesetzentwurf bleibt das blass. Da bleiben Sie blass und mutlos und würdigen die ostdeutsche Demokratieerfahrung eben nicht in ihrer tatsächlichen Bedeutung.
({1})
Gerade zum Thema Friedliche Revolution entwickelt Ihr Konzept keine Perspektive für die Zukunft. Weitere Orte wären einzubeziehen. Ja, man muss sie nennen, etwa die Gründungstreffen des Neuen Forums in Grünheide, die Schülerproteste an der Geschwister-Scholl-Oberschule in Anklam im September 1961, die Demonstrationen am 1. September 1989 zum Weltfriedenstag auch in kleineren Städten wie Neuruppin und Forst bei Cottbus, die Demonstrationen in Rostock ab dem 5. Oktober 1989. Vorhandene Institutionen wie die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße und das Leipziger Ensemble aus Nikolaikirche und Runder Ecke sollten in den Gesetzentwurf und das Konzept aufgenommen werden.
Orte der Erinnerung, der Reflexion, der Begegnung, der Identifikation, Orte des Triumphs der Demokratie und der Menschenrechte: Das alles finden wir leider nicht in ausreichendem Maße. Deshalb werden wir uns enthalten. Nehmen Sie unsere Enthaltung als Aufforderung, die Bleischuhe auszuziehen und mehr Verve an den Tag zu legen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser ehemaliger Fraktionsvorsitzender Volker Kauder hat über viele Jahre lang hier im Deutschen Bundestag hart in der Sache gestritten, aber stets auch die Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Haus betont. Deswegen bin ich ihm sehr dankbar, dass er es sich als eine der letzten parlamentarischen Aufgaben zu eigen gemacht hat, eine solche Stiftung zu befördern. Wenn wir ihre Gründung heute verabschieden, ist das auch sein ganz persönlicher parlamentarischer Erfolg. Dafür sagen wir herzlichen Dank.
({0})
Wer in Deutschland im Deutschen Bundestag Politik machen darf, kommt um eine wichtige historische Fragestellung niemals herum: Wie konnte es geschichtlich passieren, dass in einem zivilisierten Land unter der Geltung einer liberalen und sozialen Verfassung wie der Weimarer Reichsverfassung letztlich der Weg zu Nationalsozialismus, Diktatur, Weltkrieg und Holocaust gegangen werden konnte? Deswegen hat jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages und haben alle, die politisch verantwortlich sind, die Aufgabe, Geschichte nicht nur zu verstehen und zu kennen, sondern auch daraus zu lernen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Auch wenn unsere Geschichte mit einem so großen Schattenfleck verbunden ist, der uns auf ewig belastet, dürfen wir nicht vergessen, dass auch in der Zeit vor dem Dritten Reich Demokratiegeschichte in unserem Land gelebt und Menschen für Freiheit und Menschenrechte eingestanden sind.
({1})
Auch wenn das erst mal gescheitert ist, so müssen wir zu Recht auch den Menschen danken und an sie erinnern, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie eingetreten sind. Es ging im 19. Jahrhundert zu Zeiten des Vormärz um die Frage der Meinungsfreiheit, der demokratischen Verfasstheit. Und wenn wir über die Paulskirchenverfassung sprechen, dann sprechen wir über eine moderne, weltoffene, liberale Verfassung.
Ich muss Ihnen widersprechen, Herr Kollege Frömming, wenn Sie sagen, dass die AfD ihren Saal nach der Paulskirche benennen möchte. 1848 wären Sie nicht auf der Seite der Demokraten gestanden,
({2})
sondern so, wie Sie sich heute aufführen, wären Sie auf der Seite der antidemokratischen, absolutistischen Restauration gestanden.
({3})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der AfD-Fraktion?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. Ich möchte nicht auf das zuletzt Gesagte eingehen; denn das halte ich nicht für sachlich, Vermutungen anzustellen, wer wo, wann, wie gestanden hätte.
Ich möchte aber zu einer anderen Stelle Ihrer Rede zurückfragen, wie Sie das wirklich gemeint haben oder ob das vielleicht nur ein Versprecher war. Sie bezeichneten, glaube ich, die Zeit des Nationalsozialismus als „Schattenfleck“.
({0})
Vielleicht können Sie uns mal erklären, wie Sie das gemeint haben.
Die Zeit des Nationalsozialismus war die der bittersten Stunden unserer Geschichte.
({0})
Eine Schande, die uns auf ewig bleiben wird. Wir müssen daraus lernen und dürfen die Erinnerungen nicht vergessen.
Ich darf Sie von der AfD daran erinnern, dass Ihr Fraktionsvorsitzender zu Wort gegeben hat, dass die Zeit des Nationalsozialismus „nur ein Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte gewesen wäre. Diese Worte sollten jeden in diesem Hohen Haus beschämen.
({1})
Ich möchte daran erinnern, dass trotz des Scheiterns der Paulskirchenverfassung auch im ausgehenden 19. Jahrhundert demokratische Fragen und demokratische Orte in Deutschland entstanden sind, beispielsweise die Frage nach dem Frauenwahlrecht genauso wie Bemühungen, das Kaiserreich zu demokratisieren. Wir müssen an die Weimarer Reichsverfassung denken und an die modernen Gedanken, die in dieser Verfassung, die leider gescheitert ist, verankert waren. Wir müssen in der Tat auch über die Orte der Friedlichen Revolution sprechen: über die Nikolaikirche und andere Orte in Leipzig, in Berlin, in Dresden und in vielen anderen Städten. Und wir müssen diese Orte begreifbar machen.
Es geht darum, dass wir ein Signal an die Menschen in unserem Land aussenden – vor allen Dingen auch an die junge Generation –, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Wir müssen sie erfahren, wir müssen sie verteidigen, und wir müssen sie jederzeit leben. Dazu dient diese Stiftung, und deswegen bitte ich Sie um Zustimmung.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Katrin Budde, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland hat eine wechselvolle Geschichte. Wenn wir über Erinnerungskultur reden, reden wir meist über die schlimmen Zeiten: Wir dürfen nicht vergessen – wir müssen uns erinnern – das darf nie wieder passieren. – Und das hat seine Gründe, weil das letzte Jahrhundert das Jahrhundert der Diktaturen war. Das hat Deutschland geprägt, und das hat viel Leid nicht nur in Deutschland, sondern auch über Europa und die gesamte Welt gebracht.
Es gibt in unserer Geschichte aber selbstverständlich auch Zeiten und auch Dinge, auf die wir nicht nur stolz sein dürfen, sondern auch stolz sein müssen: das Entstehen der Demokratie, das Stabilbleiben der Demokratie nach 1945, die Friedliche Revolution, Gleichberechtigung, das Grundgesetz, freie Wahlen, freie Gewerkschaften, freie Presse.
In dem Rahmenkonzept werden große Orte genannt wie die Frankfurter Paulskirche, das Hambacher Schloss und das Haus der Weimarer Republik. Dabei soll es aber, lieber Erhard Grundl, nicht bleiben, sondern das ist die erste Rahmenkonzeption, und – ja – da muss weitergemacht werden; darin sind wir uns einig. Denn es gibt natürlich zahllose Erinnerungs- und Ereignisorte in unserem Land, die positiv mit Demokratie in all ihren Facetten besetzt sind.
Das Konzept muss ein lernendes Konzept sein; es darf kein statisches Konzept sein, weil wir diese weiteren Orte überall bzw. nebenan brauchen. Wo ist Demokratiegeschichte nebenan zum Anfassen geschrieben worden? – Und das ist wichtig.
({0})
Ja, die Friedliche Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung sind natürlich herausragende Momente in der Freiheits- und Demokratiegeschichte unseres Landes. Das müssen wir würdigen. Dazu gehört für mich auch ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig; das muss in der nächsten Legislatur beschlossen und bezahlt werden. Deutschlandweit gibt es aber überall kleinere und größere Orte nicht nur aus der Zeit der Friedlichen Revolution, sondern aus der gesamten Zeit der Entstehung der Demokratie und der Bewahrung der Demokratie, sodass wir nebenan sichtbar machen müssen, wo Demokratie ist und wie man sie bewahren kann.
Dazu gehören zum Beispiel auch ganz alte Orte. Thomas Müntzer hat in Altstädt in Sachsen-Anhalt das erste Mal gegenüber den Fürsten das Widerspruchsrecht des gemeinen Mannes eingefordert. Okay, mit den Frauen hatte er es noch nicht so gehabt, und so richtig Demokratie wollte er auch nicht. Aber ein Widerspruchsrecht einzuführen, ist ja überhaupt erst mal ein erster Schritt. Und auch das ist wichtig.
Wir haben in unserem Land eine inzwischen schon erwachsene Generation und viele, die nachkommen, die unser Land nur noch so kennen, wie es ist. Gott sei Dank! Sie leben in Freiheit, in Demokratie. Man kann sagen, was man will, und wird nicht bestraft. Das heißt aber auch, dass wir ihnen zeigen und immer wieder sagen und sichtbar machen müssen, dass es Demokratie nicht einfach zum Nullkostenpreis gibt, sondern dass Demokratie jeden Tag erkämpft, erarbeitet, bewahrt werden muss; und dafür brauchen wir diese Orte.
({1})
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Ich würde gerne schließen mit einem Satz von Frank-Walter Steinmeier – mein letzter Satz in meiner Rede –:
Was sich nicht wiederholen soll, darf nicht vergessen werden. Aber auch an das, was Vorbild war, was Bestand und Zukunft haben soll, muss erinnert werden.
Dazu soll die Stiftung beitragen, und das ist gut.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Budde. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Oberfeldarzt Dr. Ulrich Graf wurde in diesem Frühjahr 65 Jahre alt und muss deshalb zwingend das Sanitätsregiment 5 in Rennerod verlassen. Ein eingespieltes Team wird ohne Not zerrupft – wegen einer starren Altersgrenze im Gesetz.
Unser Antrag, den wir heute einbringen, hat zum Ziel, dass Reservisten alleine nach körperlicher und geistiger Fitness beurteilt werden, aber nicht mehr nach einer starren Altersgrenze.
({0})
Durch das Wehrpflichtgesetz kann niemand über 60 zum Dienst gezwungen werden. Wir reden hier also komplett über freiwilligen Reservistendienst; es geht ausschließlich um Freiwilligkeit. Viele Menschen fühlen sich mit 65 noch topfit und empfinden den Rauswurf mit 65 Jahren als eine Art von Altersdiskriminierung. Und natürlich geht es hier weniger um Infanteristen oder Kampfschwimmer, sondern um erfahrene IT-Experten, sachkundige Logistiker und medizinisches Fachpersonal.
In diesem Frühjahr startete die Bundeswehr medizinische Hilfseinsätze in den von Covid besonders stark betroffenen Ländern Portugal und Indien. Warum soll denn ein 65-jähriger Lungenfacharzt oder Anästhesist, der gerne mithelfen möchte, dafür nicht geeignet sein? Die ganze Lebenserfahrung der älteren Mediziner ist unschätzbar wertvoll für die jungen Kameraden. Man reißt doch eingespielte und funktionierende Teams auseinander, wenn man Reservisten entgegen ihrem Willen aus der Reserve drängt und zwangsweise auskleidet.
({1})
Wer von Ihnen schon mal auf einem Kameradschaftsabend oder einem Reservistentag war, der spürt, wie die Uniform für viele Kameraden eine besondere emotionale Bedeutung hat. Sie verbinden damit viele Erinnerungen, viele Lebensereignisse mit ihrer Zeit bei der Bundeswehr. Das Wegnehmen der Uniform spart überhaupt kein Geld; denn die abgetragenen Uniformen werden verbrannt und nicht wiederverwertet.
Viele von Ihnen kennen Gail Halvorsen, Träger des großen Bundesverdienstkreuzes, den berühmten US-amerikanischen Piloten der Luftbrücke nach Berlin, der die kleinen Fallschirme mit Schokolade über den Kindern abgeworfen hatte. Diesen Mann kann man sich gar nicht ohne Uniform vorstellen. Er kommt auch heute zu allen feierlichen Anlässen selbstverständlich immer noch in seiner alten Colonel-Montur.
Die Bundeswehr ist manchmal stilsicher, manchmal ist sie es aber auch nicht.
({2})
Nach meiner 15-monatigen Wehrdienstzeit in den 80er-Jahren bekam ich diese Urkunde mit dem Dank im Namen der Bundesrepublik Deutschland für meine geleisteten Dienste.
({3})
Bei meiner Beförderung als Reservist im letzten Herbst bekam ich diese stilvolle Urkunde, durchaus wertig, mit schwarz-rot-goldenem Bändchen.
({4})
Oberfeldarzt Dr. Graf wird mit diesem Einzeiler vom Karrierecenter der Bundeswehr aus seinem Team herausgenommen. Das ist respektlos. Es ist nicht angemessen nach Jahrzehnten treuen Dienstes für die Sicherheit Deutschlands.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der SPD, Sie werden ja gleich alle diese Initiative der Freien Demokraten loben und uns dann wortreich erklären, warum sie aus taktischen Gründen leider nicht zustimmen können. Helfen Sie doch mit, würdig mit unseren älteren Reservisten und Reservistinnen umzugehen, und stimmen Sie unserer Gesetzesinitiative zu.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Als weiteren Redner haben wir jetzt den Kollegen Jens Lehmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorab möchte ich mich tatsächlich bei den Antragstellern bedanken,
({0})
dass wir nach diversen Rückzügen von der Tagesordnung nun über diesen durchaus diskutablen Antrag debattieren können. Denn Sie greifen einen Punkt auf, der seit einem Jahr in der Praxis tatsächlich eine Hürde darstellt.
Im Frühjahr vergangenen Jahres rief die Bundeswehr ihre Reservisten auf, sich wegen der Coronapandemie zu melden und ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Dienst zu erklären. Gerade die im Antrag erwähnten Lungenfachärzte sind in der Coronapandemie eine wertvolle Ressource, die genutzt werden muss. Insofern begrüße ich Ihren Antrag, solches Personal weiterhin als Reservist in der Bundeswehr Dienst verrichten zu lassen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass wir in Krisenzeiten pragmatisch mit unseren Ressourcen umgehen müssen und uns starre Verfahren, Vorschriften und Verordnungen gelegentlich den notwendigen Pragmatismus nehmen.
({1})
Dann kommt die im Antrag ins Visier genommene Altersgrenze ins Spiel. In der jetzigen Pandemie brauchen wir beispielsweise jeden Lungenfacharzt, der dienen kann und arbeiten will. Aber, werte Kollegen, wir müssen auch über die Folgen Ihres Antrages diskutieren. Das ist aus meiner Sicht enorm wichtig, damit wir Ihre Idee weiter verfolgen können. Denn ich möchte unbedingt eine Zweiklassengesellschaft in der Bundeswehr verhindern, die meiner Ansicht nach entstehen kann, wenn Reservisten generell über das 65. Lebensjahr hinaus dienen können, Berufssoldaten aber je nach Dienstgradgruppe zwischen 55 und 65 Jahren in den Ruhestand versetzt werden.
Meine Damen und Herren, wir haben eine Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und Reservisten. Denn der Dienst in der Bundeswehr ist und bleibt herausfordernd. Jahrzehntelanger Dienst in der Truppe geht nicht spurlos am Körper vorbei; das müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen. Deshalb gibt es die bislang geltende Regel ohne Ausnahme, dass Soldaten spätestens mit 65 Jahren in den Ruhestand eintreten. Selbst die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages schreibt in ihrem aktuellen Bericht – Zitat –: „Gerade die Verstärkungsreserve erfordert zudem mehrheitlich lebensjüngere, wehrrechtlich verfügbare Menschen.“
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Faber, FDP-Fraktion?
Ja, gerne.
Danke, Herr Präsident. – Herr Lehmann, vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie haben eben darauf hingewiesen, dass Sie keine Zweiklassengesellschaft in der Bundeswehr wollen, und darauf abgezielt, dass ja Berufssoldaten schon früher in den Ruhestand gehen. Sind Sie sich denn der Tatsache bewusst, dass es gerade die Idee ist, ausscheidende Zeit- und Berufssoldaten danach als Reservisten zu gewinnen, die dann auch nicht mit 65 Jahren aus dem Reservistendienst ausscheiden müssten? Ist Ihnen bewusst, dass sich das überhaupt nicht widerspricht, sondern es quasi ein Argument dafür ist, diesem Antrag zuzustimmen?
({0})
Ich bin mir dessen bewusst. Ich sehe dies trotzdem als Widerspruch und als eine Zweiklassengesellschaft an.
Wir müssen sorgfältig abwägen, ob die Regelungen, so wie im Antrag gefordert, nicht zu Situationen führen können, die darauf hinauslaufen, dass sich viele rüstige Senioren noch mal einberufen lassen. Stellen Sie sich vor, Sie schaffen das Höchstalter der Reserve ab. Im Endeffekt könnte dann ein altgedienter über 80-Jähriger, der vielleicht 1957 zu den ersten 10 000 Wehrpflichtigen gehörte, beim Truppenarzt vorstellig und in der Reserve der Bundeswehr aktiv werden. Das wünsche ich mir, ehrlich gesagt, nicht, meine Damen und Herren, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dies die Intention Ihres Antrages ist.
Ich möchte keinem älteren Mitbürger die körperliche Fitness absprechen. Aber dennoch sollten wir hier realistisch und ehrlich bleiben. Das sind aus meiner Sicht Argumente, die gegen eine generelle Abschaffung der Höchstaltersgrenze sprechen. Ich befürworte im Bedarfsfall jedoch Einzelfallentscheidungen. Deshalb sollten wir diesen Gedanken weiterverfolgen, wenn es um die Bewältigung von außergewöhnlichen Situationen oder Anforderungen geht, wie wir sie aktuell erleben.
Meine Damen und Herren, der Gedanke der FDP, die Expertise älterer Menschen weiterhin nutzen zu wollen, ist nicht verkehrt, sofern sich diese freiwillig melden. Das Beispiel der Lungenfachärzte aus dem Sanitätsdienst hat uns gezeigt, dass wir alte Regeln unter Umständen anpassen müssen, um zukünftig besser und flexibler auf neue Situationen reagieren zu können.
Daher kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ältere und erfahrene Reservisten eingesetzt werden, wenn der Stammtruppenteil den Bedarf anmeldet. Das wäre die Bedingung. Nur wenn die Bundeswehr den Bedarf anmeldet und dringend über 65-jährige Reservisten benötigt, wäre es begrüßenswert, die bisherigen Regeln anzupassen, und zwar dahin gehend, dass im speziellen Einzelfall und nicht mit einer generellen Lösung entschieden wird. Somit können wir Ihrem Antrag in der jetzigen Form momentan nicht zustimmen.
Werte Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion, ich gebe Ihnen recht: Wir sollten eine Lösung für das Thema Auskleidung finden. Aus Respekt vor der für die Bundeswehr erbrachten Leistungen der Reservisten muss es möglich sein, den altgedienten Soldaten einen Uniformsatz und die damit verbundenen Erinnerungen zu überlassen. Andere Länder zeigen, wie das geht.
Danke.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich rufe nun den Kollegen Gerold Otten, AfD-Fraktion, auf.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag „Höchstalter der Reserve abschaffen“ enthält einige Aspekte, die durchaus auch die Zustimmung unserer Fraktion finden. Mit § 4 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Reservisten dürfen diese längstens bis zum Ablauf des Monats, in dem sie das 65. Lebensjahr vollenden, in ein Reservewehrdienstverhältnis berufen werden. Nun möchten aber viele Reservisten auch nach dieser Altersgrenze noch einen Dienst für die Gesellschaft leisten. Dies kann ich aus meiner persönlichen Perspektive nachvollziehen; denn mit Ablauf des vergangenen Jahres bin ich, eben weil ich die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatte, als Oberst der Reserve aus meinem Reservewehrdienstverhältnis bei der Bundeswehr verabschiedet worden.
Aber auch zwei objektive Gründe sprechen für einen Wegfall dieser Altersbeschränkung. Zunächst einmal handelt es sich bei der Altersgrenze von 65 Jahren um eine gesetzliche Normierung, die allerdings dringend den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst werden muss. So wurde mittlerweile bereits das Renteneintrittsalter stufenweise heraufgesetzt, aktuell auf 65 Jahre und 9 Monate für den Jahrgang 1955, mit dem Ziel des Renteneintritts mit 67 Jahren. Jetzt wird sogar die Rente mit 68 oder noch darüber hinausgehend bis 70 diskutiert. Außerdem würde durch eine unverändert gründliche und umfassende medizinische Untersuchung am Beginn einer Reservewehrdienstleistung die Tauglichkeit auch von älteren Reservisten gewährleistet, wobei die Eingangsuntersuchung auch um spezielle Bereiche erweitert werden könnte.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag verdeutlicht aber auch zwei Probleme, mit denen die Bundeswehr zu kämpfen hat:
Erstes Problem. Das Aussetzen der Wehrpflicht hat nicht nur das Band zwischen den Streitkräften und der Gesellschaft zerrissen, sondern hat auch eine vitale Quelle versiegen lassen, aus der die Streitkräfte einen wesentlichen Anteil der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere bezogen haben, die sich für ein Dienstverhältnis als Zeit- oder Berufssoldat verpflichten. Heute muss die Bundeswehr massiv um Bewerber für diese Laufbahn, im Besonderen um Spezialisten, werben.
Junge Rekruten kommen dabei nicht selten mit falschen Vorstellungen zur Bundeswehr, denen man durch den Truppenalltag und militärische Notwendigkeiten nicht gerecht werden kann. Eine hohe Anzahl von Abbrechern – durchweg zwischen 20 und 25 Prozent – ist das kurzfristige Ergebnis. Langfristig wird sich der Personalmangel verstetigen; er wird von Jahr zu Jahr gravierender werden.
Als logische Folge dieser Entwicklung werden Reservewehrdienstleistende in vielen Bereichen zunehmend zu unersetzlichen Stützen im Dienst. Das gilt dabei nicht nur für den Grundbetrieb im Inland, sondern auch für den Bereich der Auslandseinsätze, wo gerade Reservisten mit besonderen Qualifikationen wertvolle Unterstützung leisten.
Das zweite Problem ist der Glaube bei weiten Teilen der etablierten Politik und Medien, die Bundeswehr sei ein mehr oder weniger kostenloses Reservoir an Hilfskräften: billige Hilfskräfte, die immer abrufbar sind, um Versäumnisse bei der Ausstattung anderer staatlicher Organe oder der Zivilgesellschaft auszubügeln. Das zeigt sich zum Beispiel in der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Krise. Mehr als 20 000 Soldaten übernehmen derzeit Unterstützungsleistungen in Gesundheitsämtern, Impfzentren und anderen Einrichtungen. Auch die regelmäßige Heranziehung der Bundeswehr bei der Bekämpfung von Hochwassern, Schneekatastrophen, Waldbränden und anderen Desastern wäre hier zu nennen.
Das ist fallweise sicher richtig und geboten, ist jedoch nicht die Kernaufgabe der Bundeswehr. Sie leitet daraus weder ihr Selbstverständnis noch die Legitimation für ihre Existenz ab. Verteidigung ist der Kernauftrag der Bundeswehr laut Grundgesetz.
({0})
Im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung geht es dabei um die Sicherstellung der territorialen Integrität und die Verteidigung des Landes gegen äußere Feinde. Vor diesem Hintergrund leisten die Reservisten der Bundeswehr einen unschätzbaren Dienst für unser Land, und dafür sind wir ihnen zu Dank verpflichtet.
({1})
Wir sehen daher keinen triftigen Grund, warum dieser Beitrag mit einer starren Altersgrenze beschränkt wird. Wir befürworten den vorliegenden Antrag und hoffen – vor allen Dingen im Sinne der älteren Reservisten – auf eine breite parlamentarische Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Otten. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen Sympathieschub für die Bundeswehr erlebt. Zivil-militärische Zusammenarbeit – ein sperriger Begriff – ist für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfahrbar geworden bei allen möglichen Katastrophen. Wir müssen nur zur Kenntnis nehmen und darauf achten, dass die Bundeswehr nicht als Aushilfe für viele andere gesellschaftliche Aufgaben gedacht ist, sondern ganz andere Aufgaben hat. Sie muss die Bündnisverteidigung und insbesondere die Ausbildung dafür in den Vordergrund stellen.
Wir haben in den letzten Monaten erfahren, was die Bundeswehr kann. Ich denke, bei der Logistik, bei den Impfzentren, bei den Testzentren und auch auf den Intensivstationen haben Bundeswehrangehörige Fantastisches geleistet. Herzlichen Dank!
({0})
Ich kenne den Chefarzt einer Klinik, der zu mir gesagt hat: Ohne die Hilfe der Bundeswehr in den Monaten Dezember und Januar wäre bei uns die medizinische Versorgung zusammengebrochen.
Umgekehrt muss mit Blick auf den Antrag der FDP auch die Frage erlaubt sein, ob in irgendeinem Krankenhaus in Deutschland Patienten deshalb nicht behandelt werden konnten, weil medizinisch ausgebildete Reservisten im Rentenalter nicht zur Verfügung standen. Wenn das der Fall gewesen wäre, ließe sich der Antrag der FDP mit einem dringenden Handlungsbedarf gut begründen.
({1})
Stattdessen bezieht sich die FDP vorrangig auf den Wunsch älterer Reservisten, länger der Reserve angehören zu können. Ich kann diesen Aspekt gut verstehen. Wir alle haben das Bedürfnis nach Gemeinschaft, einer Gemeinschaft von gleichartig sozialisierten Menschen, Kameradinnen und Kameraden, gerade im Rentenalter. Ich unterstelle der FDP einmal, dass sie sich dieses Bedürfnisses durchaus bewusst ist – ich habe gerade was von Bändchen, Büttenpapier und Ähnlichem gehört – und sich mit Blick auf den 26. September auch eine gewisse Wirkung ihres Antrages verspricht.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ernsthaftigkeit des Auftrages der Reserve gebietet es aber, den FDP-Antrag etwas genauer zu betrachten. Die Reserve ist kein Freundschaftsverein, sondern ihre Mitglieder sind neben der zivilen Amtshilfe auch zu den körperlich fordernden Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung verpflichtet. Nun frage ich: Gibt es tatsächlich so viele ehemalige Bundeswehrangehörige im fortgeschrittenen Alter,
({3})
die bereit und auch vom Gesundheitszustand her in der Lage sind, diese Aufgaben wahrzunehmen?
({4})
Jetzt kommt der Zwischenruf von der FDP: Wir haben ja eine Tauglichkeitsuntersuchung!
({5})
Ich glaube aber, die Frage der Fürsorge geht weit über die Tauglichkeitsuntersuchung hinaus und endet nicht beim medizinischen Gutachten. Sie ist weiter gefasst. Ansonsten könnte man ja auch das allgemeine Renteneintrittsalter in Deutschland auf 90 Jahre anheben, soweit der Beschäftigte kein gesundheitliches Negativattest vorlegen kann.
({6})
Folgt man der Strategie der Reserve aus dem Jahr 2019 – die müssten Sie ja kennen –, so liegt der Bedarf vor allem bei jüngeren Reservisten. Es gibt ein beträchtliches Potenzial an ausscheidenden Bundeswehrangehörigen, die noch über Jahre hinweg als Reservisten dienen können. Diese Feststellung ergibt sich aus einer ganz einfachen Betrachtung: Der größte Anteil an ausscheidenden Soldatinnen und Soldaten besteht aus freiwillig Wehrdienstleistenden und Soldaten auf Zeit. Diese sind aufgrund ihres Alters in der Lage, über lange Jahre hinweg Reservedienst leisten zu können.
Aber auch die Berufssoldaten, die im Alter zwischen 55 und 62 Jahren aus dem aktiven Dienst ausscheiden, können noch drei bis zehn Jahre in der Reserve mitwirken. Da ihre Zahl nun wiederum im Vergleich zu den freiwillig Wehrdienstleistenden und Soldaten auf Zeit deutlich geringer ist, entspricht der Status quo bei der Altersbegrenzung dem Grundmodell einer sogenannten Grundbeorderung von sechs Jahren nach dem jeweiligen Dienstzeitende. Zudem habe ich den Eindruck gewonnen, dass Jüngere ganz gerne die Dienstposten von Älteren übernehmen würden.
({7})
Schließlich sollte man sich noch mal genau überlegen, ob man die Büchse der Pandora öffnet. Ein Entfall der Altersgrenze für Reservisten würde zu einer erneuten Diskussion über die allgemeine Altersgrenze in der Bundeswehr führen. Sie liegt für Berufssoldaten nach § 45 des Soldatengesetzes bis auf Ausnahmen bei 62 Jahren. Würden wir also bei der Reserve die Altersgrenze verschieben, provozierten wir damit die Frage nach einer mit der demografischen Entwicklung korrespondierenden Anpassung des regulären Ruhestandes in den Streitkräften.
({8})
Aktive Bundeswehrangehörige und Reservisten unterliegen in ihrem Dienst oftmals derselben körperlichen Belastung, sodass man beide Gruppen durchaus vergleichen kann. Warum sollten also Berufssoldaten mit 63 Jahren den physischen Anforderungen des Dienstes nicht mehr gewachsen sein, während Reservisten mit 73 Jahren auch in einem hoffentlich nie eintretenden Bündnisfall ihre Frau oder ihren Mann zu stehen haben?
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der FDP, grundsätzlich stehen wir einer erneuten Erörterung der Abschaffung der Altersgrenze für die Reserve offen gegenüber. Dafür müsste zunächst aber nachgewiesen werden – das hat Kollege Jens Lehmann schon betont –, ob es im Bereich der Flankierung der Landes- und Bündnisverteidigung oder für die zivil-militärische Zusammenarbeit wirklich einen zusätzlichen Personalbedarf von Älteren in der Reserve gibt. Auf der Grundlage von validen Daten, auf die Sie in Ihrem Antrag großzügig verzichten –
({9})
es gibt gar keinen Begründungsteil –, könnte man Ihr Anliegen erneut aufgreifen. Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt den FDP-Antrag in der vorliegenden Form ab.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brecht. – Nächster Redner ist der Kollege Tobias Pflüger, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag der FDP liegt jetzt zum vierten Mal vor. Dreimal wurde er eingebracht und dann wieder von der Tagesordnung genommen. Offensichtlich scheint er nicht so wichtig zu sein – oder vielleicht doch. Ich habe außerdem festgestellt: Dieser Antrag wurde nie in den Verteidigungsausschuss eingebracht, sondern ausschließlich hier ins Plenum. Ich glaube, da ist die Vermutung des Kollegen Brecht, dass das etwas mit der Wahl zu tun hat, nicht ganz unzutreffend.
Jetzt zu dem, was Sie vorschlagen. Sie schlagen vor, dass die Altersgrenze für Reservistinnen und Reservisten fallen soll, und begründen das unter anderem damit, dass Lungenfachärzte im Ruhestand der Bundeswehr bei der Pandemiebekämpfung helfen sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, also wenn es darum geht, kommt der Antrag reichlich spät. Corona zeigt deutlich, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitswesen ist. Dort muss mehr investiert werden. Deshalb dürfen nicht Milliarden in neue Rüstungsprojekte versenkt werden, sondern müssen in den Bereich des Gesundheitswesens gesteckt werden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr Geld für Gesundheit und weniger für die Bundeswehr. Dieser Antrag ist mal wieder typisch FDP: Erst privatisieren Sie, dann sparen Sie das Gesundheitswesen kaputt, und dann rufen Sie nach der Bundeswehr. Das lehnen wir Linke ab.
({1})
Im Übrigen: Mahnt nicht auch die FDP – wo ist die Kollegin Strack-Zimmermann? die mahnt das doch immer an –,
({2})
dass die Bundeswehr nicht mit Aufgaben belastet werden soll, die nicht zu ihrem eigentlichen Auftrag gehören? Was soll dann dieser Antrag, der hier vorgelegt wird?
({3})
Sie fordern, die Altersgrenze für Reservisten zu streichen. Das heißt, dass Reservisten künftig bis zum Lebensende in ein Wehrdienstverhältnis berufen werden können.
({4})
Ein Ausscheiden gibt es dann nicht mehr. Das ist die Realität! Ob 70-Jährige, 80-Jährige oder 90-Jährige: Alle werden dann weiter als Reservisten geführt. Das ist der Effekt Ihres Antrages.
({5})
Was soll das bringen? Was glauben Sie denn, wie viele 90-Jährige am Ende als Reservisten diensttauglich sind? Das ist doch einfach Unsinn!
({6})
Herr Kollege Pflüger, erlauben Sie eine Frage des Kollegen Faber aus der FDP-Fraktion?
Bitte, ja.
Vielen Dank. – Herr Kollege Pflüger, ich habe versucht, die Zwischenfrage zu vermeiden, aber das ist mir bei Ihren Ausführungen nicht ganz gelungen. Sie sind ja Mitglied des Verteidigungsausschusses und kennen sicherlich auch den Soll-Ist-Vergleich beim Personal der Bundeswehr. Sie wissen wahrscheinlich, dass wir über 20 000 unbesetzte Dienstposten haben. Sie wissen auch, dass die Reservisten einen erheblichen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Bundeswehr in all ihren Teilbereichen leisten, nicht nur die Lungenfachärzte, –
Das ist aber das, was Sie in Ihrem Antrag genannt haben.
– sondern auch die Reservisten bei der Streitkräftebasis, bei der Luftwaffe, bei der Marine – in allen Bereichen.
Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, dass jeder 66-Jährige, jeder 71-Jährige, der willens – also freiwillig – und wehrtauglich ist, einen Mehrwert für die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr hat und wir deswegen diesen Antrag hier brauchen?
({0})
Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn Sie Ihren eigenen Antrag mal lesen.
({0})
In Ihrem eigenen Antrag steht nämlich als zentrales Beispiel der Lungenfacharzt. Dort wird ausgeführt, dass der genau jetzt notwendig sei, weil die Pandemie bekämpft werden müsse.
({1})
Das ist genau der zentrale Punkt, wo Sie meiner Ansicht nach völlig falschliegen. Denn wenn es darum geht, die Pandemie zu bekämpfen, gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich insbesondere bei zivilen Stellen zu melden. Zum Beispiel können sich auch die Ärzte, die Sie da benennen, bei zivilen Stellen melden. Das wäre das, was notwendig ist.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau bei diesen Helferinnen und Helfern würde ich mich gerne dafür bedanken, dass sie sich freiwillig melden. Wir wollen, dass diese Pandemie effektiv bekämpft wird, aber nicht dadurch, dass das Einzugsalter bei Reservisten weiter nach oben gesetzt wird, sondern dadurch, dass es möglich ist, sich freiwillig zu melden. Das haben sehr viele gemacht, und das ist sehr gut. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass es sinnvoll ist, sich tatsächlich Realitäten zu stellen
({4})
und nicht irgendwelche Anträge dreimal oder viermal vorzulegen. Deshalb: Wir werden diesen Antrag ablehnen, weil es keinen Sinn macht, Reservisten noch in hohem Alter einzuziehen. Wir wollen eine zivile Bekämpfung der Pandemie, und dafür sollten wir kämpfen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Pflüger. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welch eine Stimmung angesichts eines so kurzen Antrags! Ich will noch zum Kollegen Pflüger eine Bemerkung machen, weil er es geschafft hat, mich zu verwirren. Herr Kollege, der Antrag ist deswegen noch nicht im Verteidigungsausschuss aufgetaucht, weil wir uns heute hier in der ersten Lesung befinden.
({0})
Im Anschluss daran findet die Überweisung in den Ausschuss statt, und dann wollen wir mal schauen, ob der Antrag nächste Woche noch auf der Tagesordnung ist. Damit kann die FDP durchaus dem Vorwurf des Wahlkampfgags entgehen.
Jetzt zur Sache selbst. Ich finde, da ist Polemik fehl am Platz; denn Sie adressieren in Ihrem Antrag zwei Probleme, und zwar durchaus berechtigt, wie ich finde.
Erstens. Der Kollege Müller hat hier sehr eindringlich dargestellt, wie vielfach mit Reservistinnen und Reservisten, die über Jahrzehnte neben ihrem normalen Beruf für unser Land einen wertvollen Dienst geleistet haben, umgegangen wird, sowohl was die Schriftform des Dankes und der Anerkennung betrifft als auch die Tatsache, dass man dann noch einen netten Brief bekommt, jetzt bitte die Bekleidung zurückzuschicken. Ich finde, damit kann man anders umgehen. Auch in der Bekleidungsfrage, gerade bei besonderen Anlässen wie Gelöbnissen, Kranzniederlegungen und solchen Dingen, sollte man, ehrlich gesagt, pragmatischer denken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dafür allein die Abschaffung des Höchstalters der Reserve nicht notwendig ist.
Der zweite Punkt betrifft die Grenzfälle, die Sie beschreiben: den Lungenfacharzt, die Cyberspezialistin – solche Fälle. Ja, darüber müssen wir nachdenken. Selbstverständlich müssen wir bei solchen Grenzfällen darüber nachdenken, wie wir das Wissen und das Engagement, das diese Menschen für unsere Gesellschaft, ob in Uniform oder in Zivil, einbringen wollen, dann auch weiter nutzbar machen können. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Ich habe gesagt, wir reden hier über Grenzfälle. Deswegen, glaube ich, müssen wir sehr differenziert diskutieren. Das hat man ja auch an der Historie Ihres Antrags gemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Sie hatten am 20. November des letzten Jahres einen Antrag auf Drucksache 19/24533 eingebracht, in dem am Ende der Deutsche Bundestag fordert, das Höchstalter der Reserve pauschal aufzuheben.
Ich bin froh, dass bei Ihnen anscheinend ein Erkenntnisprozess eingesetzt hat; denn heute sagen Sie, es gibt zwei Voraussetzungen: gesundheitliche Eignung und Freiwilligkeit. Ich erkenne an, dass das ein Fortschritt ist, will Ihnen aber sagen: Meiner Fraktion genügt das allein noch nicht. Wir werden uns in den Ausschussberatungen sehr genau darüber unterhalten müssen, wie man Grenzfälle betrachtet. Ich finde, man muss da Unterschiede machen und festlegen, für welche Truppengattungen das gilt, ob das für Mannschaftsdienstgrade gilt. Man muss, glaube ich, auch deutlich machen: Welche Anreize setzen wir? Auch wir als Staat, als Dienstherr haben mit den Anreizen, die wir setzen, eine Verantwortung gegenüber älteren Männern und Frauen.
Über all das muss man diskutieren, und wenn wir darüber diskutiert haben, werden wir sehen können, wie wir damit umgehen. Ich muss Ihnen sagen: Die Lösung für zwei berechtigterweise angesprochene Probleme, die heute auf dem Tisch liegt, überzeugt uns noch nicht.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lindner. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Professor Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Wehrbeauftragte! Ich freue mich sehr, Sie heute hier zu sehen, weil Sie in den letzten Monaten, seitdem Sie im Amt sind, immer ein Ohr für die Soldatinnen und Soldaten, aber eben auch für die Reservistinnen und Reservisten hatten. Dafür ganz herzlichen Dank! Bitte bleiben Sie so dabei!
({0})
– Ja, ich glaube, da kann man auch mal klatschen. – Ich möchte auch einen Dank an die Reservistinnen und Reservisten in Deutschland sagen, die nicht nur in den letzten Monaten der Pandemie, sondern in all den Jahren exzellente Arbeit für unser Land geleistet haben, unserem Land gedient haben. Wir haben das in Coronazeiten gesehen. Ob im Lagezentrum oder zur Unterstützung der Gesundheitsämter vor Ort, überall waren Reservistinnen und Reservisten im Einsatz, natürlich auch in den Einsätzen und in den Missionen. Überall leisten Reservistinnen und Reservisten ihren Dienst. Auch dafür ganz, ganz herzlichen Dank!
({1})
Ich begrüße den Antrag der FDP, der jetzt und hier ein Thema in das Plenum bringt. Wir werden – Kollege Lindner hat es gerade dargestellt – im Ausschuss darüber diskutieren können; dann zeigt sich, ob dieser Drive mit in den Ausschuss genommen wird. Der Antrag wirft einige Fragen auf, und er gibt auch Antworten.
Zum einen geht es um die Frage – und da muss man jetzt trennen –: Wie gehen wir mit der Uniformtrageerlaubnis um? Es kann nach unserer Ansicht, auch nach Ansicht des Reservistenverbandes, dem ich ja vorstehen darf, nicht sein, dass in diesen Schreiben, die gerade mehrmals zitiert worden sind, Reservistinnen und Reservisten, die die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht haben, aufgefordert werden, ihre Uniform abzugeben, ohne Dank, ohne großartige Anerkennung. Und dann kommt noch der Schlusssatz: Falls Sie gar keine mehr haben, erachten Sie dieses Schreiben als gegenstandslos. – Das ist nicht nur unprofessionell, damit wird den Reservistinnen und Reservisten noch nicht einmal der gebührende Dank entgegengebracht, den man ihnen schuldet. Deswegen haben wir schon seit November letzten Jahres, seitdem das so peu à peu aufgekommen ist, intensiv in einer Arbeitsgruppe mit dem Verteidigungsministerium besprochen, dass so etwas nicht mehr passiert, sondern das ordentlich gehandhabt wird, dass Reservistinnen und Reservisten, die weiter ihren Dienst leisten wollen, die Uniform behalten können. Wir werden da, glaube ich, zu guten Ergebnissen kommen. Wir werden das vermutlich im Rahmen der Überarbeitung der Bekleidungsvorschriften ordentlich regeln. Dafür ganz herzlichen Dank an das Verteidigungsministerium, an Thomas Silberhorn, der hier ist, und insbesondere auch an Peter Tauber, der diesen Themenbereich in früheren Jahren bearbeitet hat. Da hatten wir eine große Unterstützung vonseiten des Ministeriums. Deswegen bin ich mir sicher: Wir werden eine gute Regelung beim Thema „Behalt der Uniform“ bekommen. So hat es übrigens auch die Ministerin in unserer Zeitschrift „Loyal“ zugesichert.
({2})
Getrennt davon ist das Thema der Altersgrenze zu betrachten. Darüber kann man intensiv diskutieren. Ich kenne Reservistinnen und Reservisten, Ü 65, die fit wie Turnschuhe sind, die sich engagieren möchten, die Fachwissen mitbringen und die die Truppe auch gerne haben möchte. Ich glaube aber, dass wir so etwas intensiv diskutieren und beraten müssen, dass wir dabei auch den BundeswehrVerband mit ins Boot holen müssen. Deswegen wundert es mich, dass man diesen Antrag, der schon mehrere Wochen waberte, den man früher hätte einbringen können, den man früher auch hätte breit diskutieren können, jetzt, in der vorletzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode stellt. Ich hätte mir den Antrag etwas früher gewünscht. Das erweckt nun wirklich den Eindruck, dass man den Antrag jetzt ins Schaufenster stellen möchte, wohl wissend, dass man so ein komplexes Thema, das eine so große Bandbreite hat, in den letzten zwei Sitzungswochen gar nicht mehr ausdiskutieren kann; aber man hat den Pflock für die eigene Partei reingehauen.
({3})
Ich wünsche mir, dass wir das jetzt wirklich intensiv miteinander beraten. Wir stimmen heute ja nicht ab, sondern wir überweisen den Antrag in den federführenden und die mitberatenden Ausschüsse. Wenn Sie es ernst meinen, dann lade ich Sie ein: Bitte bilden Sie seitens der FDP doch mal ein Forum – Sie haben ja Stiftungen –, laden Sie den BundeswehrVerband und den Reservistenverband ein, und lassen Sie uns gemeinsam diskutieren, auch außerhalb des Parlaments, auch außerhalb der Ausschüsse, wie man so etwas hinbekommen kann. André Wüstner ist sicherlich bereit, mit uns gemeinsam darüber zu diskutieren. Wir müssen das Thema gemeinsam voranbringen und überlegen, wie wir zu guten Lösungen kommen, aber bitte auch mit den aktiven Soldatinnen und Soldaten; das ist uns als Reservistinnen und Reservisten wichtig. Spielen wir nicht einzelne Gruppen innerhalb der Bundeswehr gegeneinander aus. Wir Reservisten wollten nie ein Extrabrötchen gebacken haben, wir denken an unsere Kameradinnen und Kameraden, die aktiv ihren Dienst leisten. Die machen das umgekehrt auch; denn sie werden auch alle irgendwann mal Reservistinnen und Reservisten sein.
Abschließend: Ich finde, der Antrag ist gut. Lassen Sie uns ihn in den nächsten Wochen seriös und intensiv beraten. Sollte es aufgrund der Diskontinuität nicht gelingen, ihn abzuschließen – Sie haben ihn wirklich spät eingebracht –, dann können Sie als FDP ja – die Union wird das garantiert auch machen – ein Forum für eine gute Diskussion liefern, damit das Vorhaben in der nächsten Legislaturperiode gelingt. Ich würde das sehr begrüßen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Herr Professor Sensburg. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir modernisieren und digitalisieren unsere Verwaltung, und heute machen wir einen weiteren Schritt beim Ausländerzentralregister, damit das Register auch wirklich den Namen „Zentralregister“ verdient. Es geht um Modernisierung, um mehr Effizienz, um mehr Sicherheit und auch um eine höhere Datenqualität.
Die Betroffenen, aber auch die Ämter sollen Daten nicht mehr mehrfach erheben müssen, sie sollen alle zentral gespeichert und synchronisiert werden. Das hat eindeutige Vorteile für die Betroffenen und für die Fachbehörden. Im Gegensatz zu dem einen oder anderen im Saal, der eine kritischere Haltung dazu hat, bin ich der Meinung, dass der Vorteil des einen nicht der Nachteil des anderen sein muss, im Gegenteil.
Erster Vorteil: mehr Effizienz. Die Datenzentralisierung und ‑synchronisierung bringt eine Entlastung der Behörden, des BAMF, des Bundesverwaltungsamts, und gleichzeitig müssen die Betroffenen ihre Dokumente nicht mehrfach vorzeigen, ihre Angaben nicht bei verschiedenen Behörden machen. Hier sind beide Seiten sozusagen entlastet.
Zweiter Vorteil: Wir haben eine höhere Datenqualität durch Synchronisierung und mehr Vollständigkeit. Diese höhere Qualität ist durchaus auch ein Garant dafür, dass wir eine einheitlichere Rechtsanwendung in den Behörden erreichen können. Das kommt auch beiden Seiten zugute.
Dritter Vorteil: höhere Sicherheit. Wir haben in der Vergangenheit durchaus erleben müssen, dass verschiedene Behörden bei hochmobilen Identitätstäuschern, etwa im Fall Amri, Probleme haben, die Täuschungen zu entdecken. Die zentrale Dokumentenablage bedeutet einen besseren Datenabgleich, auch einen Vergleich der eingegebenen Auskünfte. Das ist sicherlich ein Nachteil für diejenigen, die täuschen wollen, für Kriminelle, aber im Rechtsstaat kann das kein belastbares Argument sein.
({0})
Neu ist in Sachen Sicherheit in der Tat, dass zukünftig Staatsanwaltschaften Haftbefehle und Anklageerhebungen an das Zentralregister melden müssen. Auch das kann ein wichtiger Beitrag zur Rechtsfindung, zur Entscheidungsfindung der Behörden sein. Das ist hinsichtlich der Rechtsanwendung sicherlich ein großer Vorteil für unseren Rechtsstaat.
Vierter Vorteil: Verfahrensbeschleunigung. Für die von den meisten hier gewünschten Fachkräftezuwanderungen bedeutet es einen Zeitgewinn, wenn etwa die Vorabzustimmung der Bundesagentur für Arbeit zentral gespeichert werden kann. Dadurch kann die Fachkräftezuwanderung beschleunigt werden.
Alle fordern mehr Digitalisierung. Diejenigen, die hier mit am lautesten einen Rückstand beklagen, sind aber teilweise selbst die größten Bremser, indem sie etwa die Keule des Datenschutzes hervorholen. Aber klar ist – bei aller Transparenz und Partizipation, die wir im Datenschutz gewährleisten müssen –: Digitalisierung ohne Daten geht nicht.
({1})
In dem Gesetzentwurf haben wir – das wurde auch in der Diskussion hier im Parlament deutlich – dem Datenschutz durchaus Rechnung getragen. Ich will aber zunächst noch einmal klarstellen, dass es beim Zugang zur zentralen Ablage nur um die Fachbehörden geht, die bereits nach geltender Rechtslage entsprechende Dokumente einsehen können. Es werden keine neuen Rechte geschaffen. Die Zugriffe erfolgen auch nicht im luftleeren Raum. Es gilt die datenschutzrechtliche Kontrolle, etwa durch die Datenschutzbeauftragten – Bund und Länder –, und natürlich auch die Datenschutz-Grundverordnung. Weil gerade Asylbescheide sensible Daten enthalten können, ist vorgesehen, dass diese nur dann abrufbar sind, wenn sie im jeweiligen Einzelfall für die abrufende Behörde unerlässlich sind und weitere Informationen von der zuständigen Behörde sonst nicht rechtzeitig erlangt werden können. Wir haben dies jetzt auch mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen nochmals verstärkt. Erkenntnisse etwa aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung sind zukünftig unkenntlich zu machen.
Und auch an anderer Stelle haben wir den Bedenken Rechnung getragen und den Datenschutz weiter gestärkt. Die ausländische Personenidentitätsnummer kann nur zu dem Zweck der Identitätsklärung verwendet werden und zu keinem anderen Zweck.
Letztlich: Die Übermittlung von irgendwelchen Daten aus dem Zentralregister an Drittstaaten wird ausdrücklich ausgeschlossen. Es gilt auch heute bereits, etwa im Asylrecht, dass selbstverständlich keinerlei Daten während des laufenden Asylverfahrens an die Herkunftsstaaten übermittelt werden.
({2})
Sie sehen also: Wir haben einen durchaus guten Gesetzentwurf der Bundesregierung durch unseren Änderungsantrag noch ein bisschen besser gemacht. Und entgegen aller Befürchtungen wird mit der Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters das Rad nicht neu erfunden, aber vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas leichtgängiger gemacht. Deswegen bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Throm. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Es sind fast sechs Jahre vergangen, seitdem die Bundesregierung unter Angela Merkel einen wortwörtlichen Dammbruch an unseren Grenzen beschlossen hat – nicht toleriert, nicht schöngeredet, sondern beschlossen. Man darf sich dennoch nicht der Illusion hingeben, dass vor 2015/16 die Welt in Ordnung war. Die Migrationskrise hatte schon längst begonnen. Vor den Problemen wurde gewarnt, auch von den Sicherheitsdiensten unseres Landes. Gemacht wurde so gut wie nichts.
Jetzt, im Jahre 2021, hat man sich dazu durchgerungen, ein längst überfälliges Ausländerzentralregister einzurichten,
({0})
mit dem Asylentscheidungen und dazugehörige Vorgänge endlich auf einer besseren Datenbasis stattfinden könnten. Warum es so lange gedauert hat, weiß wahrscheinlich nur die Regierung selbst. Vielleicht musste man noch von Lochkarte auf „Zusemann“ umrüsten; keine Ahnung. Oder man war vielleicht ganz glücklich, dass die Betrugsberater der NGOs und Schlepper es waren, die bestimmten, was auf dem Schreibtisch der Behörden landete.
Das Schneckentempo bei der leidlichen Bewältigung dieser andauernden Krise offenbart Ihre ganze Einstellung zu dieser Krise. Schon bei der ersten Lesung habe ich auf mehrere Mängel in Ihrem Gesetzentwurf hingewiesen, die allerdings auch Ihre Scheinbemühungen hier wieder weitgehend verpuffen lassen, ja, sogar mehr schaden als nutzen können. Weiter bleibt der Datenabgleich zwischen den Beständen eine Möglichkeit auf Abruf statt eines Automatismus. Weiter soll der Verdacht auf eine Diskrepanz zum Abgleich führen, der ja, wenn er denn automatisiert wäre, überhaupt erst zu solchen Verdachtsmomenten führen würde. Natürlich haben Sie das nicht vollautomatisiert. Sie wollen, dass die Meldungen über die durchgewinkten Mehrfachidentitäten und Falschaussagen bestenfalls über Jahre hinweg eintröpfeln.
Eine unserer Forderungen haben Sie tatsächlich umgesetzt, indem Sie den Schutz privatester Details zu Asylentscheidungen verbessert haben. Auch hier sind noch Verbesserungen möglich. Aber es ist nun zumindest erschwert, gerade für Unbefugte sowie ausländische Personen und Dienste, auf Informationen zum Beispiel zu Religion, politischer Einstellung oder sexueller Orientierung zuzugreifen. So weit die Theorie. Die Praxis hat gerade in den letzten Wochen gezeigt, dass man offenbar mehrere Asylsuchende gegenüber ihren Familien zwangsweise geoutet hat. Da nützt der beste Sperrvermerk natürlich nichts, wenn die Behördenmitarbeiter sofort zum Hörer greifen.
Wie ein roter Faden zieht sich leider durch Ihre Asylpolitik: Wer dreist ist, wer sich über Recht und Gesetz hinwegsetzt, wer ohne Asylgrund, aber mit krimineller Energie hierherkommt, der wird zur Vermeidung von Aufwand durchgewinkt. Echte Verfolgte und gesetzestreue Flüchtlingen begegnen ihren alimentierten Peinigern oder verlieren die Reste ihrer Existenz in der Heimat.
Die Asylzahlen im Mai 2021 haben sich gegenüber dem Mai 2020 mehr als verdoppelt. Niedrig wirken die Zahlen der letzten zwei bis drei Jahre nur im Vergleich zu den Rekordjahren 2015 und 2016. Weiter steht jedes Jahr eine Großstadt vor der Tür, selbst unter Pandemiebedingungen. Unter diesen Bedingungen hätte ein solches Register schon längst in Betrieb und nicht in Planung sein sollen. Klopfen Sie sich deswegen nicht zu sehr für diese Minimalleistung auf Ihre Schultern.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Sylvia Lehmann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Kollege Wirth, nur so viel: Schauen Sie mal nach! Das Ausländerzentralregister gibt es schon ganz lange. Wir entwickeln es jetzt weiter.
({0})
Mit der Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters – im weiteren Verlauf werde ich dann vom AZR sprechen – stellen wir die Weichen dafür, dieses zu einem zentralen Dateiensystem für alle Fachverfahren zu entwickeln. Die Anliegen Nichtdeutscher sollen schneller geklärt, die Verfahren vereinfacht und die allgemeine Datenqualität verbessert werden.
Wer es eilig hat, sollte es langsam angehen. Schon zur ersten Lesung war allen Beteiligten bewusst, dass in puncto Datenschutz, insbesondere Schutz von sensiblen persönlichen Daten, nachgesteuert werden müsste. Die Sachverständigen haben dies in den Stellungnahmen und in der Anhörung auch noch einmal eindrücklich herausgestellt. Zusätzlich forderten sie erweiterte Schutzmechanismen für den Abruf von Daten und bessere Kontrollmöglichkeiten für den Datenverkehr innerhalb des AZR.
Inzwischen hat es neben der Anhörung mehrere Berichterstattergespräche sowie interne Koordinierungen mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gegeben. Darüber hinaus habe ich mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz, mit den SPD-Arbeitsgemeinschaften Migration und Vielfalt im Bund und in Brandenburg sowie dem Bundesverband der Lesben und Schwulen gesprochen. Zudem haben der Bundesrat und somit wohl auch Bündnis 90/Die Grünen in einigen Länderparlamenten signalisiert, dieses Gesetz zu wollen, und haben durch Stellungnahmen und Forderungskataloge, die sukzessive eingearbeitet wurden, daran mitgearbeitet.
Nachdem ich anfangs einige Inhalte des Gesetzentwurfs skeptisch gesehen habe, bin ich nun froh, dass wir als SPD entscheidende Verbesserungen durchsetzen konnten. Zudem haben wir einen aussagekräftigen Entschließungsantrag mit auf den Weg gebracht. Diese Verbesserungen und die Inhalte des Entschließungsantrags möchte ich hier benennen:
Die ausländische Personenidentitätsnummer ist neu zu den Speichersachverhalten des AZR hinzugekommen. Insbesondere Schutz- und Asylsuchende müssen darauf vertrauen können, dass diese nicht an Verfolgerstaaten weitergereicht wird und gegebenenfalls den Aufenthaltsort verrät. Mit dem Änderungsantrag stellen wir klar, dass diese Nummer ausschließlich für die eindeutige Identifizierung einer Person genutzt werden darf. Die SPD hat bewirkt, dass die Personenidentitätsnummer nur unter strengen Auflagen von Behörden im Inland zum Zwecke der Identifizierung abgerufen und genutzt werden darf. Eine Weitergabe an Drittstaaten ist ausgeschlossen.
Neue Speichersachverhalte des AZR sind auch Dokumente wie Asylanträge, Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge oder Gerichtsentscheidungen zu asylrechtlichen Verfahren im Volltext. Die SPD hat durchgesetzt, dass solche Entscheide ebenfalls nicht an Drittstaaten oder an zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden dürfen. Bei einer Übermittlung von Dokumenten innerhalb der Europäischen Union ist zusätzlich darauf hinzuweisen, dass diese Dokumente nur zweckgebunden verarbeitet werden dürfen.
Als einen großen Erfolg – das ist mir besonders wichtig – betrachte ich die Begrenzung der Volltextspeicherung in besonders sensiblen Bereichen. Ich zitiere: „Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung sind unkenntlich zu machen.“ Kein Staat der Welt sollte höchstpersönliche Daten zur sexuellen Orientierung, zu Empfindungen und Erlebnissen, zu politischen und religiösen Überzeugungen, welche zu einer Flucht motivieren, zentral speichern dürfen, erst recht dann nicht, wenn diese einem Beamten entweder im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses oder aber unter großen Überwindungen mitgeteilt wurden.
Auch der Austausch mit dem Lesben- und Schwulenverband hat mir die Wichtigkeit all dieser Änderungen sehr eindrücklich vor Augen geführt. Sie sind ein Verdienst der SPD-Fraktion.
Ich komme jetzt zu unserem Entschließungsantrag. Mit diesem Antrag haben wir dafür gesorgt, dass über die Bund-Länder-Arbeitsgruppen zukünftig auch unterhalb der gesetzlichen Ebene die Datenqualität und die Schnittstellengestaltung verbessert werden. Das Behördenpersonal, also die Nutzer des AZR, soll fachliche Schulungen erhalten. Dies garantiert, dass die Potenziale des AZR optimal genutzt werden können.
Eine vereinfachte Auswertbarkeit der Protokollierung soll den Bundesdatenschutzbeauftragten zudem bei der regelmäßigen datenschutzrechtlichen Kontrolle des AZR unterstützen.
Informationen aus dem AZR sollen in Zukunft mit dem im Registermodernisierungsgesetz beschlossenen Datencockpit verbunden werden. Das verbessert die Rechte der Betroffenen, das baut datenschutzrechtliche Doppelstandards zwischen deutschen und ausländischen Mitbürgern ab, und das schafft Transparenz für die Betroffenen.
Zu guter Letzt haben wir als SPD-Fraktion ausgehandelt, dass vor einer Evaluation des Datenaustauschverbesserungsgesetzes kein weiterer inhaltlicher Ausbau des Ausländerzentralregisters stattfinden wird.
Alles in allem meine ich, dass wir viele Hinweise der Sachverständigen und potenziell Betroffenen aufgegriffen haben. Ich bedanke mich bei allen für die konstruktiven Gespräche.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lehmann. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Die Bundesregierung baut mit dem vorgelegten Gesetzentwurf das bestehende Ausländerzentralregister zu dem zentralen Dateisystem für alle ausländerrechtlichen Fachverfahren aus. Künftig wird eine Vielzahl von Daten in diesem Ausländerzentralregister zusammengefasst sein: Asyldokumente und ‑entscheide, Gerichtsentscheidungen, biometrische Daten, Daten zu religiösen, weltanschaulichen, politischen Überzeugungen und Gesundheitsdaten.
Eine solche Zentraldatei kann sehr sinnvoll sein, wenn die darin enthaltenen Daten aktuell bereinigt sind, wenn die Datenqualität stimmt, und bei der Datenqualität dieses AZR steht noch nicht alles zum Besten. Aber natürlich erfordert eine Zentralisierung solcher Daten auch erhöhte Wachsamkeit. Persönlichkeitsrechte von Ausländern sind keine Persönlichkeitsrechte zweiter Klasse, meine Damen und Herren.
({0})
Wenn verschiedene Daten zusammengeführt werden, ist es möglich, Persönlichkeitsprofile zu erstellen, und das erfordert höchste Wachsamkeit von uns. Gerade wenn etwa 100 000 Zugriffsberechtigte auf solche Daten zugreifen können, ist es erforderlich, dass durch externe Protokollierung nachvollziehbar ist, wer auf diese Daten zugreift. Ich erinnere an den Fall „NSU 2.0“. Deswegen braucht es effektive Sicherungssysteme; denn gerade wenn es um die Daten von Asylbewerbern und Asylberechtigten geht, die hier sind, weil sie Schutz vor Verfolgung in ihrer Heimat suchen, müssen wir diesen Schutz effektiv gewähren, auch bei der Sicherung ihrer Daten, meine Damen und Herren,
({1})
vor allem dann, wenn noch Angehörige im Herkunftsland sind oder wenn sie vielleicht nach erfolglosem Asylverfahren ausgewiesen und abgeschoben werden. Hier erscheinen uns diese Sicherungssysteme noch nicht ausreichend.
Wir würdigen allerdings auch, dass die Koalition noch einige Verbesserungen vorgenommen hat, durch den schon angesprochenen Änderungsantrag und den Entschließungsantrag, zum Beispiel bei zusätzlichen Voraussetzungen für die Speicherung von Daten – ein Punkt, auf den die FDP immer sehr gedrungen hat –, der Evaluation des Gesetzes und der Stärkung des Bundesdatenschutzbeauftragten und der Zugangsrechte, sodass wir am Ende, nach Abwägung des Für und Wider und von Licht und Schatten in diesem Gesetz, heute zu einer Enthaltung kommen werden.
Ich danke Ihnen.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Deshalb hat als nächste Rednerin das Wort die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das AZR – 16 000 Behörden, rund 100 000 Personen, haben Zugriff auf Daten von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Bereits in der Vergangenheit sind Datenschützer/-innen immer wieder Sturm gelaufen gegen die ständige Erweiterung der gespeicherten Daten in diesem Register, und das zu Recht. Statt dieser völlig kopflosen Datensammellust des Innenministers nachzukommen, wäre es eigentlich richtig, dieses Register auf datenschutzrechtlich stabile Füße zu stellen, respektvoll, verantwortungsbewusst, vor allen Dingen verfassungskonform mit diesen hochsensiblen Daten umzugehen.
({0})
Aber Sie waren auch hier mal wieder beratungsresistent; denn die kritische Einmütigkeit der Expertinnen und Experten in der Anhörung hat Sie nicht zum Umlenken bewegt. Wir teilen aber die Auffassung nahezu aller Expertinnen und Experten, dass die Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht ins Ausländerzentralregister gehören. Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Speicherung wurde von Ihnen leider auch nicht wirklich begründet. Und da helfen auch die vielen von Ihnen angedachten Schwärzungen in den Bescheiden nichts. Die würden vielleicht in dem Zusammenhang datenschutzrechtliche Bedenken abmildern, aber dann ja grundsätzlich wieder die Frage verstärken, warum diese Speicherung überhaupt notwendig ist.
Es handelt sich bei den Bescheiden des Bundesamtes um Dokumente mit äußerst sensiblen Daten, in denen Fluchtgründe und Einzelheiten zur Verfolgungssituation enthalten sind. Und ich habe gerade deutlich gemacht, wie viele Tausende Personen Zugriff auf diese Daten haben. Die Sorge, dass Daten in falsche Hände, zum Beispiel die der Verfolgerstaaten, geraten, ist ja nicht von der Hand zu weisen.
({1})
Die Entführung des belarussischen Bloggers und der Tiergartenmord stehen doch exemplarisch dafür. Aber auch der Umstand, dass türkische Behörden durch die Festnahme eines Vertrauensanwalts der deutschen Botschaft an Akten von politisch Verfolgten kommen konnten, müsste Sie doch eigentlich überzeugen.
({2})
Verfolgerstaaten haben ein Interesse daran, Daten von aus ihrem Land geflüchteten Menschen zu bekommen – sie machen Politik damit –, nicht zuletzt, um im Heimatland verbliebene Angehörige zu erpressen und zu drangsalieren. Aber wir haben eine Schutzpflicht, wenn die Menschen hier im Asylverfahren sind oder eben dauerhaft Schutz gefunden haben, meine Damen und Herren. Und statt dem Rechnung zu tragen, setzen Sie dem Ganzen noch die Krone auf: Sie verknüpfen diese Daten dann auch noch mit einer ausländischen Personenidentitätsnummer und vereinfachen damit ja sogar das Abfließen von Daten an die Verfolgerstaaten.
Die Risiken, die von diesem Gesetz für die Betroffenen ausgehen, sollten eigentlich dazu führen, dass Sie sich dazu gedrungen oder genötigt fühlen, die Speicherung dieser Daten noch besser zu begründen, aber das tun Sie gar nicht. Im Gegenteil: In der Gesetzesbegründung steht, es handele sich um einen Service für die Betroffenen. Das ist ja so was von absurd. Wenn dem so wäre, warum haben Sie dann zum Beispiel nicht eine Zustimmungspflicht für die Weitergabe der Daten ins Gesetz geschrieben oder ein Datenschutzcockpit wie beim Registermodernisierungsgesetz? Das wäre eine Möglichkeit gewesen, zumindest Transparenz für die Menschen herzustellen, denen die Daten gehören.
Und abschließend als Randnotiz: Sie novellieren zum wiederholten Mal dieses Gesetz, ohne das vorherige zu evaluieren. Das ist schlechte Regierungsarbeit.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist unverhältnismäßig. Er schützt keine Daten, sondern er gefährdet sie, und deshalb lehnen wir ihn auch ab.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. – Wir werden mal das Hochhalten von Kärtchen zur Benotung einführen.
Letzter Redner des heutigen Tages ist der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute abschließend über das Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters. Was auf den ersten Blick vielleicht nicht so sexy aussieht, ist wichtig und hat in vielerlei Hinsicht positive Effekte; mein Kollege Alexander Throm hat einige angesprochen. Es geht um den Abbau von Bürokratie, um den Gewinn von Komfort und Zeit, um einen deutlichen Zuwachs an Transparenz und um eine Beschleunigung der Fachkräfteverfahren – das ist bisher nicht angesprochen worden –; aber es geht auch um einen erheblichen Sicherheitsgewinn für unser Land. Insofern ist dieses Gesetz ein sehr gelungenes Gesetz und auch ein sehr gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
({0})
Es ist ein Riesenfortschritt, dass Daten, die bisher in über 600 dezentralen Ausländerdateien vorgehalten wurden, künftig an das AZR übermittelt werden und nur noch dort gespeichert werden. So können die dezentralen Ausländerdateien schrittweise abgelöst werden. Ich kann Ihre Bedenken gar nicht verstehen, Frau Amtsberg. Künftig werden die Daten nur einmal erhoben und von dort in Fachverfahren übernommen, wie zum Beispiel bei Asylantragsverfahren, statt immer wieder identische Daten isoliert voneinander zu erheben. Das ist aus unserer Sicht ein wichtiger Baustein zur Verwaltungsmodernisierung und auch zur Digitalisierung.
({1})
Ich bin sicher: Diese Verbesserung wird sich auch auf die Dauer von Asylverfahren auswirken. Sie wird Fehlerquellen beseitigen. Sie schafft aber auch Transparenz. Es ist angesprochen worden: Ein Fall wie der von Anis Amri, dem es durch Wohnortwechsel und wechselnde Aliasnamen immer wieder gelungen ist, sich der Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden zu entziehen, wird durch diese Maßnahmen mindestens erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht; denn künftig werden auch biometrische Daten erfasst und zentral gespeichert. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme, meine Damen und Herren.
({2})
Insofern bringt dieses Gesetz auch einen Sicherheitsgewinn – ich habe es gesagt: wir als Union begrüßen das ausdrücklich –, und das gilt nicht nur in Bezug auf Gefährder, das gilt auch in Bezug auf Identitätstäuscher oder Sozialbetrüger, und das ist auch gut so.
Man muss es auch mal aus Sicht der Betroffenen sehen: Auch die Antragsteller haben einen erheblichen Mehrwert. Betroffene Ausländer, zum Beispiel Asylbewerber, müssen Dokumente, die bereits im System eingepflegt sind, nicht mehr vorlegen. Die Echtheit von Dokumenten muss nicht mehrfach überprüft werden. So werden Verfahren nicht unnötig in die Länge gezogen. Das ist eine deutliche Erleichterung im Sinne der Betroffenen.
({3})
Es ist angesprochen worden: Das ist nicht das einzige Gesetz in diesem Zusammenhang. Dieses Gesetz und das bereits beschlossene Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz sind zusammen wichtige Bausteine unserer erfolgreichen Migrationspolitik, die auf Steuerung, Ordnung und Begrenzung als Grundprinzipien unsere Migrationspolitik setzt, die Einwanderung von Fachkräften ermöglicht, die aber auch das Ziel hat, die Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht möglichst rasch und effektiv durchzusetzen. Auch dafür kann das ein gutes Gesetz und Instrument sein. Wir glauben nämlich, dass beides nur zusammen geht: dass unsere Bevölkerung mit großer Mehrheit eine Asylpolitik unterstützt, die Verfolgten und Kriegsflüchtlingen hilft, aber illegaler Migration einen Riegel vorschieben will.
Es gibt eine gewisse Tradition, dass die Grünen hier im Deutschen Bundestag eigentlich keinem Gesetz zustimmen, das sich diesen Zielen verpflichtet fühlt. Deswegen lohnt es sich auch, einen Blick in das grüne Wahlprogramm zu werfen. Sie wollen, dass Geduldete, also ausreisepflichtige Ausländer ohne Recht auf Asyl, nach fünf Jahren künftig ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Das ist im Grunde die Legalisierung illegaler Migration. Sie wollen die Maßnahmen des Migrationspakets zur Begrenzung des Familiennachzugs rückgängig machen.
({4})
Sie wollen einen generellen Abschiebestopp in Kriegs- und Krisenländer, also auch für Straftäter und Gefährder. Sie lehnen die Ausrufung sicherer Herkunftsstaaten ab. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, im Grunde ist das eine Politik der offenen Türen für alle. Sie selbst nennen das eine „einladende Migrationspolitik“.
({5})
Wir nennen das einen migrations- und integrationspolitischen Wahnsinn, der mit der Union nicht zu machen ist.
({6})
– Nein, das ist nicht Wahlkampf. Das ist Ihr Wahlprogramm, mit dem wir uns auseinandersetzen. Und da stellen wir uns schon die Frage, ob Sie eigentlich nichts dazugelernt haben.
({7})
Nach den Erfahrungen von 2015 und der Polarisierung, die wir erlebt haben, die, Gott sei Dank, in dieser Form nicht mehr besteht, sind solche Forderungen doch brandgefährlich.
({8})
Damit nehmen Sie auch bewusst eine Gefahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt in Kauf.
({9})
Das ist nicht unsere Politik. Wir machen weiter mit einer Politik, die auf Humanität und Ordnung gleichzeitig setzt. Dafür ist auch dieses Gesetz ein wichtiger Baustein.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Damit schließe ich die Aussprache.