Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland steht gegenwärtig wirtschaftlich sehr gut da. Wir haben gute Wachstumszahlen, wir haben eine gute Beschäftigungslage. Die Arbeitslosigkeit geht zurück, und die Zahl der Erwerbstätigen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, hat ständig zugenommen. Das alles führt dazu, dass die Finanzen des Staates Deutschland in guter Ordnung sind und wir über sehr hohe Einnahmen verfügen, die uns viele Möglichkeiten verschaffen.
Gleichzeitig wissen wir, dass, obwohl wir in einer wirtschaftlich sehr prosperierenden Phase sind, unser Land auch viele neue Herausforderungen hat. Eine dieser Herausforderungen hat etwas damit zu tun, dass, während wir all diese guten Entwicklungen verzeichnen, es keineswegs so ist, dass alle davon überzeugt sind, dass es für sie auch gut läuft. Die große Aufgabe demokratischer Politik muss aber sein, nicht nur dafür zu sorgen, dass es vielen Menschen und unserem Land gut geht, sondern jedem Einzelnen von uns. Nur wenn uns das gelingt, sind wir auch wirklich erfolgreich.
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Die Herausforderungen der Finanzpolitik ordnen sich darin ein. Deshalb müssen sie auch vor diesem Hintergrund beschrieben werden. Eine Sache brauchen wir auf alle Fälle, damit es gut läuft, nämlich auch weiterhin eine solide Haushaltspolitik. Wir sind auch weiter der Zielsetzung, keine neuen Schulden zu machen, verpflichtet. Die schwarze Null ist deshalb zu Recht Gegenstand des Koalitionsvertrages.
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Weil das ein Thema ist, über das ja viel diskutiert wird, will ich dazu ein, zwei Bemerkungen machen. Warum ist diese Politik richtig? Sie ist richtig, weil wir in den vergangenen Jahrzehnten zu viele Schulden gemacht haben, nicht nur als Gesamtstaat, sondern auch in den verschiedenen Gebietskörperschaften unseres Landes. Diese vielen über die Jahre gewachsenen Schulden führen dazu, dass wir über diese Frage nicht immer gleich diskutieren können, egal wie hoch nun der Schuldenstand gerade ist.
Manche Argumente, die ich höre und die mit sehr großem volkswirtschaftlichen Impetus vorgetragen werden, sind immer gleich, egal ob der Gesamtstaat 30, 40, 50 oder 80 Prozent Schulden im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat. Es kann nicht richtig sein, zu sagen: Man ist entweder für mehr und neue Verschuldungsmöglichkeiten oder für weniger Verschuldung. Vielmehr müssen wir immer die jeweils neue Lage betrachten.
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Weil wir in den letzten Jahrzehnten zu viele Schulden gemacht haben, ist es jetzt richtig, zu sagen: Wir wollen davon wieder wegkommen. Deshalb brauchen wir eine ganz lange Phase, in der wir keine neuen Schulden machen und in der wir die Defizite der Vergangenheit abbauen. Genau das werden wir tun.
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Im Übrigen ist es so, dass wir uns wegen der beschriebenen guten Konjunktur, wegen der beschriebenen guten Beschäftigungslage gegenwärtig in einer Phase befinden, in der wir große Gestaltungsspielräume haben. Es ist ja nicht so, als ob wir gar nichts machen könnten. Im Koalitionsvertrag haben wir nicht nur beschrieben, was wir mit den etwa 1,4 Billionen Euro anfangen wollen, die wir in den Haushaltsjahren dieser Legislaturperiode ausgeben wollen. Vielmehr wollen wir zusätzlich 46 Milliarden Euro mobilisieren. Das zeigt, dass wir einen sehr großen Spielraum haben.
Diesen Spielraum nutzen wir für all die Dinge, die notwendig sind. Das Erste, das notwendig ist, ist, auch in Zukunft für ein gutes Wachstum zu sorgen. Wenn wir wissen, dass unsere Konjunktur deshalb gut läuft, weil wir eine gute Beschäftigungslage haben, dann müssen wir dafür sorgen, dass das auch in den nächsten Jahren so bleibt. Aus diesem Grunde haben wir Investitionen vorgesehen, zum Beispiel in die Infrastruktur unseres Landes, weil das für die Zukunftsfähigkeit unserer Volkswirtschaft wichtig ist. Darum haben wir Investitionen in Wissenschaft und Forschung und die entsprechenden Maßnahmen vorgesehen, die für eine gute Zukunft erforderlich sind. Darum haben wir vorgesehen, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass diejenigen, die in unserem Land aufwachsen, gute Bedingungen vorfinden.
Die Entscheidung, dafür zu sorgen, dass die Betreuung in Krippen und Kitas gebührenfrei wird, und die Entscheidung, dafür zu sorgen, Ganztagsangebote an den Schulen zu schaffen, sind zwei Entscheidungen, die dazu beitragen werden, dass wir den dringend notwendigen Fachkräftebedarf unserer Gesellschaft auch in Zukunft abdecken können und auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen größer sein kann, als das heute der Fall ist. All das ist für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft notwendig.
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Selbstverständlich ist es auch absolut notwendig, dass wir in den sozialen Zusammenhalt investieren. Wenn es richtig ist, dass wir eine ganz ambivalente, schwierige Situation haben, die darin besteht, dass wir einerseits eine boomende Wirtschaft haben, aber andererseits viele mit Blick auf ihre eigene Zukunft skeptisch sind, dann muss man genau an dieser Stelle ansetzen.
Ich finde, da sind wichtige Weichen gestellt: Zum Beispiel, indem wir mit der Erhöhung des Kindergeldes oder des Kinderzuschlages etwas für Familien tun; zum Beispiel, indem wir dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die in boomenden Städten nach Wohnungen suchen, eine bessere Chance haben, eine Wohnung zu finden, und dafür den sozialen Wohnungsbau über das Jahr 2019 hinaus fortsetzen – eine wichtige Zukunftsentscheidung –;
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zum Beispiel, indem wir die Möglichkeit schaffen, dass diejenigen mit Familie, die zwar gerne ein Eigenheim, eine Eigentumswohnung erwerben wollen, aber nicht so viel Geld zur Verfügung haben, das tun können – die Entscheidung für das Baukindergeld ist genau die richtige, um das zu ermöglichen; eine Entscheidung für die Zukunft unseres Landes und für die Familien in Deutschland –;
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zum Beispiel, indem wir dafür Sorge tragen, bessere Bedingungen in der Pflege zu erreichen.
Wichtige Weichen sind zum Beispiel auch gestellt, indem wir dafür Sorge tragen, dass das, was eine lange Lebensleistung ausmacht, auch in Zukunft eine große Rolle spielen kann, nämlich dass man sich auf seine Rente verlassen kann. Wir werden das Rentenniveau stabilisieren, wir werden die Erwerbsminderungsrente verbessern, und wir werden dafür Sorge tragen, dass zum Beispiel diejenigen, die lange gearbeitet haben, aber auf Grundsicherung angewiesen sind, trotzdem eine bessere Rente bekommen. Das alles sind richtige Entscheidungen für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland.
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Man sieht also, beides ist gleichzeitig möglich: solide Haushaltspolitik bzw. keine neuen Schulden und Investitionen in die Zukunft und in den Zusammenhalt unseres Landes. Das wird auch der Maßstab sein, den wir in den nächsten Jahren verfolgen.
Ein Thema gehört dazu – deshalb will ich es aus den verschiedenen steuerpolitischen Maßnahmen, die wir uns vorgenommen haben und umsetzen werden, herausgreifen –: Wir sind fest davon überzeugt, dass wir, nachdem wir mit der deutschen Einheit so weit gekommen sind und weil der Solidarpakt 2019 auslaufen wird, auch den Weg aus dem Soli bzw. der zusätzlichen Steuer, die damit verbunden ist, heraus finden müssen. Das wird in dieser Legislaturperiode geschehen, indem wir 2021 90 Prozent derjenigen, die ihn zahlen, um 10 Milliarden Euro insgesamt entlasten.
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Die zweite große Frage, die für die Zukunft unseres Landes wichtig ist, ist: Wie geht es mit der Europäischen Union weiter? Ich will an dieser Stelle ausdrücklich wiederholen, was mir ein großes Anliegen ist: Wir als Deutsche mitten in Europa mit über 80 Millionen Einwohnern und dem höchsten Sozialprodukt haben ein ganz zentrales nationales Interesse daran, dass Europa funktioniert und dass diese Europäische Union eine Zukunft hat. Sie wird wichtig sein, damit wir Demokratie und soziale Marktwirtschaft in der Welt vertreten können.
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Darum sind wir jetzt gefordert. Das ist keine Frage für Debattenbeiträge, für große literarische Ausführungen oder Sonstiges, sondern die jetzt handelnden Politiker in Deutschland und in den anderen Ländern der Europäischen Union müssen die nächsten notwendigen Schritte zustande bringen: in diesem Jahr, im nächsten oder vielleicht auch noch im übernächsten Jahr, aber dann müssen die wichtigsten Weichen gestellt sein. Deshalb geht es auch darum, dass wir von allgemeinen Thesen und bloßen Haltungen zu solchen Themen wegkommen. Wir müssen vielmehr ganz konkret jede einzelne Frage durchdenken und Vorschläge machen, wie es tatsächlich funktioniert.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bedingungen dafür gar nicht so schlecht sind, wenn man bedenkt, wie anderswo gehandelt wird. Wir verhandeln gerade die Fragen der amerikanischen Handels- und Zollpolitik. Wir machen uns Sorgen wegen des Brexit. Wir sehen, wie sich die russische Politik auf Europa richtet und nicht nur Anlass zur Freude gibt, um es ganz höflich zu sagen. All diese Aspekte tragen dazu bei, dass wir noch besser verstehen, dass wir unsere Europäische Union zukunftsfest machen müssen, damit sie funktioniert und auch den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist.
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Dabei geht es übrigens um Außenpolitik, Sicherheitspolitik, um unsere gemeinsamen Außengrenzen, Flucht und Migration. Es geht aber auch um die Banken- und die Fiskalunion und die Frage, wie wir bei diesen Themen die nächsten Schritte gehen wollen.
Ich glaube, dass das, was im Koalitionsvertrag steht, richtig ist, nämlich dass wir zum Beispiel den ESM in Richtung eines Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln wollen, dass wir ihn im Rahmen des Unionsrechts entwickeln wollen und dass wir natürlich – auch das will ich in diesem Hause sagen – die parlamentarische Kontrolle dabei zukünftig weiter gewährleisten wollen. Das sind die Schritte, die jetzt gegangen werden müssen, und wir müssen die entsprechenden Bedingungen verhandeln, damit das auch funktioniert.
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Für mich heißt das im Übrigen, dass wir über die Initiativen des französischen Präsidenten sehr froh sein können, weil sie ein Aufbruchssignal und ein mutiges Signal sind, und zwar nicht deshalb – das ist auch nicht seine Vorstellung, wenn ich ihn richtig verstehe –, weil wir alles eins zu eins genau so machen sollen, wie es dort vorgeschlagen ist, sondern weil es das mutige Bekenntnis zu genau dem ist, was ich eben gesagt habe, nämlich dass in diesem, im nächsten und im übernächsten Jahr alle notwendigen Entscheidungen zu treffen sind und dass wir nicht mehr nur reden dürfen, sondern dass wir die Dinge zustande bringen müssen. Das werden wir gemeinsam mit Frankreich auch hinbekommen; denn nur in dieser Kooperation werden wir die Grundlagen dafür schaffen können, dass Europa insgesamt funktioniert.
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Aus meiner Sicht heißt das, dass wir genau schauen müssen, wie die Bankenunion funktionieren kann. Dabei geht es darum, dass wir eine resiliente Architektur schaffen, die auf künftige Krisen vorbereitet ist und dafür sorgt, dass wir nicht in große Schwierigkeiten geraten, wenn wieder schwierige Zeiten kommen. Wir müssen ganz genau hinschauen, wie das funktionieren kann. Natürlich ist klar: Das funktioniert nicht dadurch, dass die Bundesrepublik Deutschland für die Lösung aller Probleme zur Verfügung steht.
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Aber es funktioniert dadurch, dass wir uns mitverantwortlich dafür fühlen, dass die Lösungen, die wir wählen, gut sind in Schweden, Finnland, den Niederlanden, Südeuropa, den Euro-Ländern und in anderen Ländern der Europäischen Union. Alles das müssen wir gewährleisten. Ich bin sicher: Wir können und werden das auch schaffen.
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In diesem Zusammenhang werden wir natürlich auch über die Haushaltspolitik Europas zu diskutieren haben. Das wird noch eine schwierige Sache. Nicht jedem ist aufgefallen, dass es nirgendwo eine Aussage dazu gibt, welchen konkreten Finanzbeitrag Deutschland leisten will. Das ist bewusst so geschehen, weil wir uns darüber einig sind, dass das eine Sache ist, über die wir uns mit anderen noch verständigen müssen und über die verhandelt wird.
Ein Unterschied zu früheren Situationen ist vielleicht, dass sich die neue Regierung in dieser Frage mit einer klaren Aussage ehrlich in diese Debatte begibt. Wir wissen nicht, was das für konkrete Konsequenzen hat. Wir wissen aber, dass unsere Möglichkeiten nicht unendlich sind. Ich habe überall in Europa gesagt: Ein deutscher Finanzminister ist ein deutscher Finanzminister, egal welches Parteibuch er hat. Ich glaube, die Botschaft ist gut angekommen.
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Wir beginnen mit der wahren Aussage, dass wir uns darüber klar sind, dass Deutschland nach dem Brexit einen größeren Beitrag zu leisten hat, als das heute der Fall ist.
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Das ist ein Durchbruch in der Europapolitik, weil wir nicht mehr so vorgehen, dass wir am Anfang sagen: „Da kommt gar nichts“, und dann kommt ganz viel. Jetzt sagen wir am Anfang: „Da kommt mehr“, und vielleicht ist es dann gar nicht so viel. Das muss man in dieser Frage berücksichtigen.
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Insofern haben wir wohl den richtigen Weg gewählt.
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Dieser richtige Weg bedeutet: Wir denken die Lösung der Probleme aus einer europäischen Perspektive.
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Das ist die Voraussetzung dafür, dass das für viele funktioniert. Es ist gut, wenn sich zum Beispiel der niederländische Ministerpräsident zu Wort meldet und seine Vorstellungen, die zu unserer Kultur sehr gut passen, äußert. Wenn man seine Interviews genau verfolgt, versteht man, dass er sich mit allen einigen will und einigen wird.
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Das ist insbesondere vor dem Hintergrund richtig, wenn wir hören, dass es zum Beispiel in vielen südeuropäischen Ländern Vorstellungen gibt, wie man die Probleme, die sie mit Wachstum und Beschäftigung sowie im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit haben, besser lösen kann. Ich bin sicher: Wenn jeder erst einmal aus der europäischen Perspektive denkt, aber nie vergisst, wen konkret er in den Verhandlungen vertritt, dann wird es insgesamt gute Lösungen geben. Daran sollten wir arbeiten.
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Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen. Das Haushaltsrecht ist eines der wichtigsten Rechte der parlamentarischen Demokratie.
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Wir werden das schon gut miteinander hinbekommen.
Schönen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Peter Boehringer, AfD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Geehrter Minister Scholz, zunächst gratuliere ich Ihnen zu Ihrem neuen Amt und wünsche Ihnen eine gute Hand für Deutschland.
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Inhaltlich warten wir vor einer Lagebeurteilung natürlich den ersten Haushaltsentwurf aus Ihrem Ministerium ab. Bereits heute aber ist klar: Die Einnahmeseite des Bundeshaushalts 2018 wird wegen superhoher Steuereinkünfte des Staats erneut beeindruckend hoch sein. Hier zeigen sich wie schon in den Vorjahren die Effekte des Gelddruckens der EZB; der kreditgetriebene Keynesianismus lebt. Alan Greenspan hat einmal gesagt: Gebt mir eine Billion, und ich werfe euch eine Riesenparty. – 2017 hat die EZB die Geldmenge erhöht und so ein gewaltiges konjunkturelles Strohfeuer gezündet. So etwas kann niemals nachhaltig sein; aber es ist 2018 im Haushalt spürbar.
Auch auf der Ausgabenseite besteht weiterhin ein absoluter Ausnahmezustand: fast keine Zinsbelastung auf die Bundesschuld – auch das dank der permanenten Eingriffe der EZB. Das Ergebnis ist die Beste aller Scheinwelten. In diesem Umfeld müsste der kommende Bundeshaushalt eigentlich einen riesigen Überschuss ausweisen. Denn die Ausgabenseite enthält die eigentlich wichtigste Position überhaupt nicht: Die Mittel im Zusammenhang mit den Euro-Rettungs-Risiken – ich glaube, das kann ich im Hinblick auf den Entwurf des Haushalts 2018 vorwegnehmen – fehlen hier noch gänzlich. Damit ist das ganze Haushaltswerk aber unvollständig. Bürgschaften und Garantien müssen in einem seriösen Haushalt über angemessene Rückstellungen eingestellt werden.
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Sie werden eines Tages gezogen, und sie werden dann steuerwirksam.
Sie selbst, Herr Minister Scholz, müssten doch wissen, was es bedeutet, Garantien auszusprechen. Die Bürgschaften der Stadt Hamburg allein für die Rettung der HSH Nordbank lagen bei mehr als 7 Milliarden Euro, also bei der Höhe eines halben Hamburger Jahreshaushalts. Sie wurden zum Teil noch vor Ihrer Amtszeit in Hamburg ausgesprochen, zum Teil, ab 2012, auch in Ihrer Amtszeit. Jahrelang wurde in Hamburg behauptet: Das wird nie fällig. – Ja, nun sind sie doch fällig geworden. Erst vor zehn Tagen wurde bekannt, dass jetzt doch die gesamte HSH-Bürgschaft steuerwirksam wird. Diese Altlasten durch Bürgschaften und Garantien sind also kein rein theoretisches Problem. Das ist heute schon bittere Realität für die Menschen in Hamburg.
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Passen Sie also darauf auf, dass Sie im neuen Amt nicht „Hamburg mal 100“ erben. Der Bund übernimmt für die permanente Euro-Rettung, indirekt und ohne die deutschen Bürger bzw. die Bürgen zu befragen, jedes Jahr Bürgschaften über Hunderte Milliarden Euro, über TARGET2, über EZB-Anleihekäufe, über ESM-Garantien usw.
In einem Interview haben Sie kürzlich gesagt, Deutschland dürfe sich „auf einen seriösen Haushalt freuen“. Ja gut, das wäre dann der Haushalt, der, wie bei den ehrbaren Hamburger Kaufleuten üblich, die Risiken der Euro-Vergemeinschaftung endlich einmal abbildet.
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Ihre Vorgänger, Finanzminister Steinbrück und, bei allem Respekt, auch Finanzminister Schäuble, haben diese vollständige Einbuchung der Euro-Risiken im deutschen Haushalt seit 2005 niemals geliefert. Sie haben nun die nächste Chance dazu, die traditionelle Hamburger Seriosität der Buchführung wiederherzustellen. Herr Minister, glauben Sie der bisherigen BMF-Propaganda von der schwarzen Null nicht! In Wahrheit hat es seit 1969 in diesem Land niemals eine schwarze Null gegeben. Sie treten ein sehr schweres Erbe an. Ob Sie es schon wissen, weiß ich nicht.
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Dieser Bundeshaushalt ist Ihre einmalige Chance, bei der Euro-Rettung Tabula rasa zu machen oder, wie Sie vielleicht sagen würden, klar Schiff. Machen Sie also den Bundeshaushalt ehrlich, und steuern Sie beim Euro auch um. Nach Medienberichten und auch nach Ihrer Rede eben planen Sie leider genau das Gegenteil. Noch mehr EU-ropa, das ist unverantwortlich.
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Zwar ist Ihre Rhetorik irgendwie stabilitätsorientiert: „Wir werden keine Vergemeinschaftung der Schulden haben.“ Das aber ist Sophistik; denn wir haben bereits die Vergemeinschaftung der Schulden und bald auch die des deutschen Sparvermögens. Bereits heute ist die EZB netto die einzige Käuferin italienischer Staatsanleihen. Auch die privaten Banken der Euro-Südländer schieben 800 Milliarden Euro fauler Kredite vor sich her. Sie und die Kanzlerin waren trotzdem vorige Woche in Paris bereit, bei der absurden europäischen Einlagensicherung mitzumachen – Sie haben das bereits zugesagt; Sie haben das eben noch einmal angedeutet –, also deutsche Spareinlagen in die Gemeinschaftshaftung für diese Zombiebanken zu nehmen. Das war Ihre erste Amtshandlung, nur zwei Tage nach der Vereidigung.
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Ihre Stabilitätsrede ist vor diesem Hintergrund reine Ablenkungsrhetorik. Sie sagten in einem Interview am 18. März 2018, der Begriff der Transferunion sei ein politischer, inhaltsfreier Kampfbegriff. Nein, das ist die täglich milliardenschwere Realität in EU-ropa.
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Wir brauchen auch keinen modernen Haushalt, wie es die Kanzlerin vor vier Wochen hier beschworen hat; wir brauchen einen ehrlichen Haushalt.
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Und: Wir brauchen ganz sicher auch keine Derivatinstrumente aus der Gruselkiste der Finanzalchemie. Zur Beherrschung der faulen Euro-Kredite und zur totalen Sozialisierung der Spareinlagen werden in Brüssel und jetzt auch hier in Berlin tatsächlich wieder Finanzderivate geplant. Das ist die Bündelung guter deutscher Staatsanleihen mit italienischen und spanischen Junk Bonds –
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als hätte man aus der Finanzkrise 2008 nichts gelernt. – Herr Schneider, Sie sollten sich an dieses Thema erinnern. Sie waren damals auch schon hier. Sie sind ja einer der hier länger Regierenden.
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Genau diese Derivate waren damals, vor gerade mal zehn Jahren, der Auslöser der Weltfinanzkrise.
Sie selbst, Herr Minister Scholz, haben nach Presseberichten und auch eben noch einmal der sogenannten EU-Bankenunion und damit der Vergemeinschaftung der Spareinlagen bereits zugestimmt.
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Wir fordern Sie auf, diesen wahnwitzigen Transfersozialismus mit deutschen Sparbillionen, wie heute schon, zu unterlassen.
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Sogar deutsche Bankvorstände und Sparkassenpräsidenten sind zutiefst empört, heute schon, und rufen zu Großdemos vor der EZB auf. Kein deutscher Sparer will diesen Wahnsinn. Unsere nationalen Einlagensicherungssysteme haben sich seit Jahrzehnten bewährt, und nun sollen sie EU-ropäisiert werden. Wollen Sie die deutschen Spareinlagen auf dem Altar von EU-ropa opfern?
Herr Minister, Ihr superschnell erfolgter Besuch in Paris macht uns große Sorgen. Wir werden Sie daran messen, ob Sie die Traumtänzereien vom totalen Europa aus Ihrem gescheiterten Wahlkampf, die letztlich in Paris formuliert wurden, fortsetzen. Vergessen Sie nicht, dass Sie die Koalition der Wahlverlierer sind, dass also ebendieser totale EU-ropawahn 2017 abgewählt wurde!
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Ralph Brinkhaus, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben keinen Grund, uns zu beklagen. Wir alle sind in die Politik gegangen, um zu gestalten. Wir haben das erste Mal seit 50 Jahren wieder die Spielräume, um zu gestalten. Darüber können wir uns freuen. Das können wir nutzen. Damit können wir die Probleme beseitigen, die wir sicherlich haben, aber nicht verzagt, sondern aus einer Position der Stärke heraus. Wir können vor allen Dingen eines machen: Wir können mit Freude an die nächsten dreieinhalb Jahre herangehen, und wir können Lust auf Zukunft machen; das ist das Wichtige, wenn ich mir die Debatten angucke, die wir hier doch sehr verzagt führen. Wir können Lust auf Zukunft machen. Das kann man selbst in der Finanz- und Haushaltspolitik: Lust auf Zukunft machen. Das möchte ich ausführen.
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Fangen wir mit der Haushaltspolitik an: Wir haben uns viel vorgenommen. Man kann das unter folgende Überschriften fassen: Wir wollen den Weg der letzten Legislaturperiode weitergehen. Wir wollen investieren, nicht nur in Infrastruktur, sondern insbesondere auch in Bildung. Wir wollen die Mitte der Gesellschaft stärken; denn das hält die Gesellschaft zusammen. Deswegen gibt es ein Baukindergeld. Deswegen sorgen wir für bessere Betreuungsmöglichkeiten. Wir wollen, dass die Menschen in diesem Land sicher leben können. Deswegen stärken wir die Polizei, aber auch die Bundeswehr. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger entlasten, und das können wir beim Solidaritätszuschlag, aber auch durch die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen.
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Meine Damen und Herren, wir haben uns da viel vorgenommen, und wir werden das schaffen – mit dem Geld, das wir haben. Wir stehen in dieser Koalition zu der schwarzen Null. Wir werden die schwarze Null halten, weil wir sie auch in der letzten Legislaturperiode gehalten haben. Wir haben das geschafft, Herr Schneider, obwohl wir weiter investiert haben, obwohl wir die Menschen entlastet haben, obwohl wir etwas für die Kommunen getan haben, obwohl wir etwas für die Länder getan haben. Wir haben das geschafft, obwohl wir viel für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft ausgegeben haben, und das können wir auch weiter schaffen, meine Damen und Herren.
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Wir werden das hinbekommen, indem wir auf der Ausgabenseite sehr diszipliniert sein werden. Wir haben im Koalitionsvertrag sehr genau geschrieben, was wir uns leisten können. Wir haben aber auch gesagt – das ist neu –: Wir werden uns weitere Spielräume erarbeiten, um die Dinge zu finanzieren, die wir uns vorgenommen haben. In diesem Koalitionsvertrag steht, dass wir Aufgabenkritik machen werden, dass wir alle Maßnahmen auf den Prüfstand stellen und gucken werden, ob sie effizient oder effektiv sind. Das kennt man normalerweise nur aus der Krise. Wir machen das jetzt im Boom, und wir werden das zusammen mit dem Bundesfinanzministerium machen. Da ist das Parlament gefordert. Das ist eine ausdrückliche Einladung auch an die Opposition, dabei mitzumachen: nicht mit Schaufensteranträgen, sondern mit harter, detaillierter Sacharbeit, meine Damen und Herren.
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Wir wissen aber auch, dass wir die Einnahmenseite stabilisieren müssen. Unsere Einnahmen werden immer noch von den Menschen erwirtschaftet, von der Wirtschaft erwirtschaftet.
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Es ist gar nicht garantiert, dass die Konjunktur immer so bleibt, wie sie jetzt ist.
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Deswegen besteht eine gute Haushaltspolitik nicht darin, Steuern zu erhöhen; eine gute Haushaltspolitik ist immer eine gute Wirtschaftspolitik. Gute Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren, das bedeutet, dass wir in unserem Haushalt Schwerpunkte setzen, um die Rahmenbedingungen zu schaffen, die notwendig sind, damit die Wirtschaft florieren kann: im Bereich Bildung, im Bereich Digitalisierung, im Bereich Infrastruktur.
Aber zu einer guten Wirtschaftspolitik gehört auch, dass wir als Staat ganz demütig sagen: Wir schaffen nachhaltig keinen einzigen Arbeitsplatz. Dieser Arbeitsplatz wird von den Unternehmen geschaffen. Wenn das so ist, dann bedeutet das auch, dass wir die Unternehmen machen lassen müssen. Wir dürfen denen nicht alles vorschreiben, so notwendig es auch war, dass wir Dinge wie die Befristung von Arbeitsverträgen geregelt haben. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir weniger bürokratische Lasten auf die Unternehmen abwälzen, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Auch dazu steht einiges im Koalitionsvertrag.
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Lassen Sie uns vom Haushalt zu dem Bereich Steuern kommen. Steuern sind ein spannendes Thema; aber nicht, indem wir die Steuern erhöhen oder neue Steuern erfinden. Wobei man fairerweise sagen muss – das gefällt mir auch nicht so gut; aber das gehört zur Wahrheit dazu –: Wir werden in den Bereichen Abgeltungsteuer und Finanztransaktionsteuer ein bisschen was machen. Aber das ist nicht die Lösung.
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Unser steuerlicher Gestaltungsanspruch besteht darin, dass wir zum Beispiel das Unternehmensteuerrecht international wettbewerbsfähig machen. Wir stehen unter großem Druck aus den Vereinigten Staaten, aber auch aus anderen europäischen Staaten sowie aus China und anderen Ländern. Da müssen wir etwas tun. Aber wir werden das nicht machen – darin sind wir uns auch mit der SPD einig –, indem wir Steuerdumping betreiben. Nein, wir werden ein handhabbares Steuerrecht machen. Wir werden ein faires und verlässliches Steuerrecht machen.
Wenn wir über ein faires Steuerrecht sprechen – ich schaue insbesondere zum Finanzminister und zur SPD –, dann bedeutet das natürlich, dass wir gegen diejenigen vorgehen, die sich der Steuerpflicht entziehen. Das ist doch selbstverständlich, dass wir das machen.
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Aber wir werden nicht diejenigen, die ehrlich sind, bestrafen, indem wir sie mit Bürokratie und Vorschriften überziehen. Das ist der Unterschied.
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Wenn wir vom Steuerrecht reden, dann müssen wir uns auch klarmachen: Wir müssen das Steuerrecht ins 21. Jahrhundert überführen. Die digitale Welt wird nicht mehr durch das Steuerrecht abgebildet. Das passt noch für den Maschinenbauer aus Ostwestfalen, aber das passt nicht mehr für digitale Internetkonzerne. Und das ist doch der Grund, warum Unternehmen wie Amazon zu wenig Ertragsteuer zahlen. Das ist eine ganz große Aufgabe, dass wir da rangehen. Das ist Mittelstandsförderung, wenn wir dort faire Wettbewerbsgleichheit schaffen.
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Wir werden das Steuerrecht auch bürgerfreundlicher machen. Jetzt können Sie sagen: Bierdeckel. – Bierdeckel war gut; aber Bierdeckel war 90er.
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Der heutige Bierdeckel ist die digitale Verknüpfung von Daten. Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode angefangen. Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern vorausgefüllte Steuererklärungen geben. Wir sind da schon auf einem guten Weg. Wir haben viel gemacht, und wir werden das entsprechend fortsetzen. Wir haben uns die digitale Kompetenz der Länder dazugeholt. Die werden wir als Bund nutzen, um an dieser Stelle zusammen mit den Ländern viel auf den Weg zu bringen, zum Beispiel mit Projekten wie dem Bürgerportal.
Natürlich werden wir im Steuerrecht auch entlasten. Deswegen ist es für uns selbstverständlich, dass wir an den Solidaritätszuschlag rangehen; aber vernünftig und so, wie es finanzierbar ist. Wir werden keine Wolkenkuckucksheime aufbauen, wie diejenigen Parteien, die sagen, der Solidaritätszuschlag müsse sofort weg, ohne es refinanziert zu haben.
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Auch die Finanzmärkte sind ein spannendes Thema mit viel Gestaltungsspielraum. Wir haben in den letzten acht Jahren unglaublich viel reguliert. Jetzt ist es an der Zeit, innezuhalten und zu fragen: Was bedeutet diese Regulierung überhaupt? Welche Effekte hat sie, insbesondere auf unsere Sparkassen, Volksbanken, auf kleine Privatbanken und kleine Versicherungsgesellschaften? Deswegen werden wir die Finanzmarktregulierung evaluieren.
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Wir werden nicht nur die Finanzmarktregulierung evaluieren, auch im Bereich Verbraucherschutz haben wir viel gemacht. Das ist auch nicht alles gut geworden. Dementsprechend müssen wir uns das noch mal anschauen. Wir müssen uns anschauen, was im Bereich Lebensversicherungen gelaufen ist. In diesem Bereich haben wir viel gemacht, aber es reicht wahrscheinlich noch nicht. Auch das werden wir uns in den nächsten Wochen anschauen, ob an der Stelle noch Nachbesserungsbedarf besteht.
Uns liegt die Altersvorsorge am Herzen. Die Altersvorsorge muss besser werden. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Wir haben bei der Riesterrente unglaublich viel Potenzial nach oben. An die Versicherungswirtschaft gerichtet: Wenn wir da nicht vernünftige, kostengünstige und transparente Produkte bekommen – die Versicherungswirtschaft hat dafür jetzt drei Jahre Zeit –, dann geht es wahrscheinlich in Richtung Staatsfonds. Das wollen wir nicht.
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Insofern müssen sie an der Stelle etwas liefern.
Finanzmarktregulierung heißt auch Geldwäsche; das ist ein ganz dunkles Thema. Wir haben auch im Bereich Geldwäsche viel gemacht; aber wir müssen ganz selbstkritisch sagen: Das reicht noch nicht. Wir müssen da mehr machen. Ich will nicht, dass hier in Berlin weiterhin Wohnungen durch asiatisches, russisches oder afrikanisches Schwarzgeld erworben werden. Da haben wir noch viel auf den Weg zu bringen, damit wir das entsprechend hinkriegen.
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Meine Damen und Herren, ich habe jetzt über den Haushalt gesprochen, ich habe über Steuern gesprochen, ich habe über Finanzmärkte gesprochen. Jetzt müssen wir auch über Europa sprechen. Ich glaube, bei all dem, was Sie, Herr Scholz, gesagt haben und was richtig ist, müssen wir auch sagen, dass es doch eigentlich traurig ist, dass Europa in den letzten vier Jahren immer nur auf Finanzfragen reduziert worden ist.
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Es ist traurig, dass der Finanzminister die Hälfte seiner Rede Europa widmen muss; denn Europa war nie als Finanzprojekt gedacht; Europa war nie als Umverteilungsprojekt gedacht.
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Europa ist ein Friedensprojekt, Europa ist ein Sicherheitsprojekt, Europa ist ein Entwicklungsprojekt. Europa ist ein Wirtschaftsprojekt; aber Europa war nie ein Finanzprojekt.
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Und wenn wir es nicht schaffen, die Diskussion wieder in diesem Bereich zu führen, dann wird Europa auch nicht erfolgreich sein. Das bedeutet für meine Fraktion:
Erstens. Wir sind bereit, in Europa zu investieren – ich sage ganz bewusst: investieren –, um Europa zukunftsfest zu machen; denn eines ist auch richtig: Wir werden in Deutschland nicht gut leben können, wenn unsere Nachbarn nicht gut leben können.
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Zweiter Punkt. Wir werden in Europa investieren, um Aufgaben zu lösen, die wir alleine nicht lösen können. Dazu gehört zum Beispiel die Grenzsicherung, dazu gehören Forschung und Bildung, und dazu gehört vieles weitere mehr. Wir werden aber kein Geld für Europa ausgeben, um Strukturen zu sichern, die schlecht, nicht zukunftsfähig und nicht nachhaltig sind. Daran werden wir uns messen lassen, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie uns einen Strich darunter ziehen. Wir werden all die Dinge, die ich gerade genannt habe, gemeinsam machen. Wir werden Kompromisse schließen müssen, die für beide Seiten schmerzhaft sein werden.
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Wir werden nicht immer alles richtig machen; auch das gehört dazu. Aber wir sind uns in einer Sache einig:
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Wir, die Große Koalition, sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das unterscheidet uns von einigen, die lieber nur nörgelnd auf der Tribüne sitzen. Verantwortung zu übernehmen, die Zukunft des Landes zu gestalten, Lust auf Zukunft zu machen, auch im Finanz- und Haushaltsbereich, das ist unser Anspruch.
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Nächster Redner ist der Kollege Christian Dürr, FDP.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut uns natürlich immer, Herr Kollege Brinkhaus, wenn Redner im Vorfeld Motivationsseminare besucht haben.
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Sie haben über Entlastung und Bürokratieabbau gesprochen. Wissen Sie was? Über weite Strecken Ihrer Rede war vor allen Dingen Ihr Koalitionspartner total irritiert; denn die Kollegen haben sich gefragt, über welchen Koalitionsvertrag Sie heute eigentlich gesprochen haben, Herr Kollege Brinkhaus.
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Sie wussten gar nicht, wie sie da reagieren sollten.
Ich möchte eines sagen: Nüchterne Ökonomen haben Ihnen ins Stammbuch geschrieben, Herr Brinkhaus, dass die Wünsche in Ihrem Koalitionsvertrag den Spielraum bei weitem überschreiten. Über 20 Milliarden Euro an Ausgaben sind überhaupt nicht finanziert. Um das einmal in aller Klarheit zu sagen: Mit Solidität hat das bisher, jedenfalls zum Start dieser Regierung, noch nichts zu tun.
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Herr Bundesminister Scholz, Sie haben ja heute viele interessante Punkte angesprochen. Es hat mich gefreut, dass Sie auch darüber gesprochen haben, dass man beim Bundeshaushalt auf lange Sicht über Schuldenabbau nachdenken muss. Interessant fand ich aber insbesondere das, was Sie heute nicht gesagt haben. Sie haben heute nicht vom demografischen Wandel in Deutschland gesprochen. Sie haben nicht davon gesprochen, dass der Bedarf der gesetzlichen Rentenversicherung an Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt noch in dieser Legislaturperiode, während Ihrer Regierungszeit, die 100-Milliarden-Euro-Marke knacken wird. Frau Kollegin Nahles hat gestern gesagt, diese Rentenpolitik sei eine gute Nachricht für die junge Generation in Deutschland. – Frau Kollegin Nahles, ich halte das für zynisch. Um das in aller Klarheit zu sagen: Das ist keine gute Nachricht für die junge Generation.
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Herr Scholz, Sie haben nichts zu der geplanten Abkehr von der deutschen Politik in Europa gesagt. Sie haben das Interview mit Mark Rutte, unserem liberalen Freund aus den Niederlanden, angesprochen; das hat mich gefreut. Aber Sie haben nicht davon gesprochen, dass sich die Große Koalition davon verabschiedet, in Europa insbesondere die kleinen Mitgliedstaaten ins Boot zu nehmen.
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Beim Thema EWF, beim Thema Reform der Euro-Zone empfehle ich, dieses Interview als Warnsignal zu verstehen, meine Damen und Herren. Wir sollten auf die baltischen Staaten, auf die Benelux-Länder und auf den Kollegen Rutte hören und an dieser Stelle mit ihnen zusammenarbeiten. Dann schaffen wir auch mehr Solidität in Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Scholz, Sie haben auch nichts zur Zinsentwicklung gesagt. Die Federal Reserve Bank, die US-amerikanische Notenbank, hat am gestrigen Tag den Leitzins erneut erhöht. Sie haben hier viel über die schwarze Null gesprochen, aber in Wahrheit wäre es doch jetzt die Aufgabe der Großen Koalition, in einen Schuldentilgungsplan einzutreten; denn wir wissen, dass die Zinsen auch in der Euro-Zone steigen werden. Der Bundeshaushalt muss sich jetzt darauf vorbereiten und nicht erst in der kommenden Wahlperiode, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Scholz, Sie haben auch nichts dazu gesagt, dass es bei den Unternehmenssteuern mittlerweile international einen strengen Wettbewerb gibt. Sie tun so, als ob das überhaupt gar kein Thema für die Steuerpolitik in Deutschland wäre. Ich empfehle das, was Ihre skandinavische Amtskollegin, die schwedische Finanzministerin, am gestrigen Tag gesagt hat: Schweden plant eine Entlastung der kleinen und mittleren Unternehmen. Sie sagte wörtlich:
Das kommt kleinen und mittleren Unternehmen zugute, wo ein Großteil der neuen Jobs geschaffen werden wird.
Stattdessen zahlen die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland auf absehbare Zeit weiterhin den Solidaritätszuschlag. Sie treten zulasten des deutschen Mittelstandes nicht in diesen Wettbewerb ein, Herr Scholz.
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Apropos Jobs: Herr Minister Scholz, Sie haben auch nichts dazu gesagt, dass Sie den Haushaltsausschuss gestern dazu gezwungen haben, 209 zusätzliche Planstellen im Bundeshaushalt bereitzustellen. Sie haben auch kein Wort über die sehr interessante Personalrochade in Ihrem eigenen Haus gesagt. Ich will in Richtung der Kollegen der SPD-Fraktion sagen: Ich stelle mir nur eine Sekunde vor, ein Finanzminister der FDP hätte als seinen wichtigsten Staatssekretär einen Investmentbanker eingestellt. Ich finde es gut, wenn Sie sich mit qualifiziertem Personal umgeben; aber ich hätte die Reaktion in den Reihen Ihrer Fraktion dazu gerne erlebt. Die wäre ganz anders gewesen als das, was wir in den letzten Tagen aus Ihren Reihen gehört haben.
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Herr Scholz, es gab auch kein einziges Wort von Ihnen zur Kritik des Bundesrechnungshofes an der Steuerverschwendung in Deutschland durch die Subventionen und insbesondere an dem, was die Große Koalition an zusätzlichen Subventionen plant. Nach Ihrer eigenen Rechnung hatte in der Geschichte unseres Landes keine Regierung zuvor einen solchen finanziellen Spielraum wie diese Große Koalition. Mithin zahlen die Menschen und die Unternehmen heute und in den kommenden Jahren so viel wie niemals zuvor in der Geschichte unseres Landes von dem, was sie selbst erwirtschaftet haben.
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Um 8,1 Prozent – das haben wir heute lesen dürfen – steigen die Steuereinnahmen gegenüber dem Vorjahr. Und obwohl das so ist, kommt eine Entlastung der Mitte der Gesellschaft beim Solidaritätszuschlag in Ihren Konzepten gerade einmal – wenn überhaupt – am Rande vor. Sie kommt nämlich frühestens im Jahr 2021 – acht Monate vor der kommenden Bundestagswahl! Nein, Herr Scholz, das ist für die Entlastung der hart arbeitenden Mitte unserer Gesellschaft und für die kleinen und mittleren Familienunternehmen in Deutschland viel zu wenig. Die brauchen jetzt Impulse und die Freiräume, um in Digitalisierung und in die Zukunft zu investieren, damit wir auch in Zukunft Wohlstand in Deutschland haben. An dieser Stelle müssen wir noch Hausaufgaben machen.
Wir als FDP sind eine Serviceopposition,
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und wir werden Sie in den kommenden vier Jahren sehr gerne mit eigenen kreativen Vorschlägen begleiten, damit die Große Koalition besser wird als das, was bisher im Koalitionsvertrag steht.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Finanzminister, ich wünsche Ihnen von Hanseat zu Hanseat eine glückliche Hand in Ihrem neuen Amt. Aber jetzt genug der Zärtlichkeiten.
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Man kann nicht die Integration und den Zusammenhalt in der Gesellschaft dadurch gefährden, dass einem die schwarze Null wichtiger ist als zum Beispiel die Einstellung von Lehrern, die Sanierung von Schulgebäuden …
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Wenn wir das nicht machen, werden die sozialen Spannungen in Deutschland steigen.
Ein kleines Ratespiel für die SPD-Fraktion: Wer hat das gesagt? – Sigmar Gabriel, SPD-Vizekanzler außer Dienst, falls Sie vergessen haben, wer das ist.
Sie, Herr Scholz, haben gleich einmal klargestellt: Die schwarze Null bleibt. Wer rechnen kann, weiß: Ob schwarze Null oder rote Null – es kommt immer Null dabei heraus.
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Der Volksmund sagt: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“ Aber eine alte finanzpolitische Regel lautet: Man soll bei niedrigen Zinsen investieren, weil dies Vermögen für die Zukunft schafft.
Die Investitionslücke bei Krankenhäusern, Schulen oder Wohnraum beträgt 100 Milliarden Euro jährlich. Bei der Rüstung bekommen Sie es ja hin. Aber auch ohne Kredite lassen sich mehr Investitionen finanzieren.
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In Deutschland besitzen die 45 reichsten Haushalte so viel wie 40 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung. BMW trickst bei Abgasen, aber die Quandts und Klattens kassieren über 1 Milliarde Euro an Dividenden von BMW. Die haben das nicht erarbeitet, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Deutschland ist laut der Credit Suisse eines der Länder in Europa mit der größten Ungleichheit der Vermögen und liegt damit sogar auf dem Niveau von Togo und Marokko. Eine seriöse Finanzpolitik erfordert daher eine Vermögensteuer für Millionäre und Milliardäre.
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Übrigens: Es war ein CDU-Finanzminister – er sitzt hinter mir –, der Hamburg unter Ihrer Führung zwingen musste – es wäre nett, wenn Sie ein wenig zuhören würden, Herr Scholz –, bei der Warburg-Bank Steuern einzutreiben, weil der Anspruch sonst verjährt wäre. Es ging um über 150 Millionen Euro durch Cum/Ex-Abzocke. Ehrbarer Kaufmann geht anders.
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Konzerne wie Apple, Google oder Facebook zahlen in der EU oft weniger als 1 Prozent Steuern auf ihre Gewinne. Erklären Sie das mal einem Mittelständler! Hören Sie auf, sich hinter Luxemburg oder Malta zu verstecken! Wo bleibt die Kavallerie? Deutschland könnte gemeinsam mit Frankreich Quellen- bzw. Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen erheben.
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Wahr ist auch: Weil Deutschland zu wenig investiert und die Löhne wegen der Lohnbremsen der Agenda 2010 nicht hinreichend vom Fleck kommen, droht nun ein Handelskrieg mit Donald Trump; denn wir verkaufen immer mehr und billiger ans Ausland, als wir von dort einkaufen. Dies war eine zentrale Ursache der Euro-Krise. Aber die USA sind nicht Griechenland. Es macht einen Unterschied, ob ein Schäferhund einen Hamster oder einen Pitbull beißt. Stellen Sie sich vor, Herr Scholz, Sie würden Fischbrötchen an der Elbe verkaufen – für einen anständigen Lohn – und ich würde zum Mindestlohn von 8,84 Euro auf der Reeperbahn Astra zapfen. Mein Bier wäre spottbillig. Deswegen würden Sie immer bei mir tanken. Aber ich könnte mir Olafs Fischbrötchen nicht leisten – kein Umsatz für Sie. Irgendwann wären Sie pleite und müssten bei mir anschreiben. Hätte ich einen anständigen Lohn, könnte ich bei Ihnen Fischbrötchen kaufen, und Sie könnten bei mir trinken bis zum Umfallen. Davon hätten wir beide etwas.
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Herr Scholz, Sie ernennen den Deutschlandchef von Goldman Sachs zum Staatssekretär. Er soll auch die Regulierung der Finanzmärkte verantworten.
Da kommt jemand von der Heuschrecke … Da stellt sich die Frage, ob er wirklich dem Interesse der Bundesregierung oder denen seines früheren Geschäftsbereiches dient.
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Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sagte nicht Sahra Wagenknecht, sondern Ihr Koalitionspartner und CDU-Haushaltspolitiker Eckhardt Rehberg. Recht hat er.
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Herr Draghi, der US-Finanzminister, Frau Weidel von der AfD: Goldmänner und -frauen in der Politik haben wir genug. Wo die sitzen, halten die Steuerzahler ihr Portemonnaie fest, und die Sparkassen haften, weil Zombiebanken wie die Deutsche Bank immer noch zu groß und zu vernetzt zum Scheitern sind.
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Einen Vorteil hat es ja: Sie müssen Lobbyisten nicht mehr Ihre Gesetzentwürfe schicken. Die schreiben die jetzt selbst. Aber was kommt als Nächstes? Al Capone im Justizministerium? Jens Spahn, der, seit er 22 ist, von Bundestagsdiäten lebt, als Armutsbeauftragter der Bundesregierung? Daher ein Vorschlag zur Güte: Netflix stellt ja die Serie „House of Cards“ ein. Wie wäre es mit einer neuen Serie „House of Banks“ aus dem Bundesfinanzministerium mit Staatssekretär Jörg Kukies in der Hauptrolle? Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese neue Große Koalition ist quasi als das langsame Ende der Ära Merkel angelegt und damit ein Übergang in eine neue politische Zeit. Der Preis für diese Übergangslage ist: Jetzt finden nicht die notwendigen Richtungsentscheidungen statt. Vielmehr werden wichtige Zukunftsentscheidungen, ob sie die Klimakrise oder die Zukunft unserer sozialen Sicherung betreffen, nicht getroffen, sondern durch den Koalitionsvertrag weitgehend vertagt.
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Im Kapitel Europa des Koalitionsvertrags – dem haben Sie viel Zeit gewidmet, Herr Finanzminister – wird zu Anfang ein europäischer Aufbruch versprochen. Dazu liegen ja schon seit Monaten Vorschläge auf dem Tisch, sei es von Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten, oder der EU-Kommission. Die Kanzlerin und Sie sind auch schon nach Paris gereist. Aber was haben Sie uns heute hier vorgestellt?
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Was ist zu tun?
Ja, es stimmt, im Vertrag steht eine ausformulierte Zusage, dass Deutschland bereit ist, höhere Beiträge in den EU-Haushalt zu zahlen. Ich finde es richtig, dass Sie das sagen. Aber Sie können uns doch nicht allen Ernstes sagen, eine solche Aussage sei die Antwort auf die notwendige Dynamik, die wir brauchen, sie garantiere einen Aufbruch für Europa.
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Ich will das begründen. Sie haben davon gesprochen, dass man konkret werden muss, dass man etwas machen muss. Dann muss man aber auch klar Position beziehen können. Wollen und werden wir in jedem Fall den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds umbauen, ja oder nein? Verfolgen wir die Idee eines europäischen Wirtschafts- oder Finanzministers, ja oder nein? Wenn ich weiß, wie sich im Bundesrat die sogenannten B-Länder, CDU-regiert, aufstellen, dann stelle ich fest, dass sie alle beschlossen haben, das nicht zu wollen. Hier sieht man doch schon: Mit dieser GroKo droht uns leider nicht – das wäre etwas Schönes – ein Aufbruch, sondern eine Bremse, auf die Deutschland in Europa drückt. Das ist alles andere als das, was wir brauchen.
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Als Nächstes möchte ich auf die finanziellen Planungen und Prioritäten dieser Großen Koalition blicken. Es ist ein Spielraum in Höhe von 46 Milliarden Euro für die Jahre 2018 bis 2021 ausgerechnet worden. Das ist wahrlich viel Geld. Das sind sehr gute finanzielle Rahmenbedingungen. Drei Bemerkungen möchte ich dazu machen.
Wir finden es richtig, dass Sie die Zielsetzung verfolgen, Familien mit Kindern besser zu fördern. Aber ich kann nicht nachvollziehen, dass der weitaus größte Teil der zusätzlichen Förderung immer für die vorgesehen ist, die es eigentlich nicht so nötig haben.
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Ich finde die Kindergelderhöhung gut. Ich finde es auch gut, dass die Freibeträge angepasst werden. Aber warum konzentrieren Sie nicht den Hauptbatzen auf die Familien, in denen Kinder in Armut leben
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und die Eltern so wenig verdienen, dass sie zusätzliche Hilfe beantragen müssten, wobei wir nicht sicher sein können, dass sie sie auch in Anspruch nehmen? Ich spreche hier vom Kinderzuschlag. 1 Milliarde Euro reicht nicht. Er muss automatisch ausgezahlt werden. Es ist nicht richtig, dass für diejenigen, die es nicht brauchen, drei- bis viermal so viel ausgegeben wird und die Armutsbekämpfung darunter leidet.
Gestern hat die Bundeskanzlerin davon gesprochen, es gebe einen neuen Aufbruch in der Rentenpolitik, eine Grundrente, wie Union und SPD es nennen. Wissen Sie eigentlich, was das ist? Es ist die Garantie für jemanden, der 35 Jahre lang gearbeitet hat, dass 10 Prozent seiner Rente nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Das heißt faktisch, Sie lassen diese Menschen in einem System, bei dem der Bedarf überprüft wird und 10 Prozent anrechnungsfrei von der Grundsicherung sind. Sie meinen, das sei eine anständige Grundrente. Davon haben wir eine ganz andere Vorstellung. Wenn man Armut im Alter bekämpfen will, dann muss die Garantierente stärker gefördert werden. Hierfür kann man bei der Mütterrente auf eine ganze Menge verzichten. Die geht nämlich per Gießkanne an viel zu viele Menschen, die darauf gar nicht angewiesen sind.
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Ich komme zum Fazit: Ihre Sozialpolitik ist nicht zielgenau. Es ist richtig, auch in die Breite der Gesellschaft zu wirken, aber eine mutigere Schwerpunktsetzung gegen Armut wäre allemal wichtig.
Nächster Punkt. Sie haben überhaupt keinen Elan beim Subventionsabbau. Es gibt keinerlei Ziele und Maßnahmen. Betrachten wir es mit ein bisschen Abstand: Wir diskutieren im Jahr 2018 darüber, dass es wegen der Luftbelastung in den Städten möglicherweise Fahrverbote geben muss, während gleichzeitig eine der größten Subventionen, die wir mit Steuergeld bezahlen, die Privilegierung von Diesel ist. Das ist doch ein Zeichen dafür, wie mutlos die Politik in Deutschland ist, mit solchen Widersprüchen umzugehen.
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Dass die Kanzlerin die Abschaffung solch einer Subvention zum Tabu erklärt, obwohl die Phänomene so auseinanderlaufen, zeigt, dass sich diese Große Koalition nicht an die wichtigen Zukunftsprojekte herantraut. Beim Subventionsabbau insgesamt reden wir über den Abbau von bis zu 50 Milliarden Euro anreizfeindlicher, klimaschädlicher, wettbewerbsfeindlicher Subventionen. Dass Sie sich da nichts vornehmen, ist wirklich kleinlich.
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Die letzte haushaltspolitische Bemerkung, die ich machen muss, Herr Scholz, bezieht sich darauf, dass Ihr Tableau von 46 Milliarden Euro so angelegt ist, dass die ganz dicken Brocken 2021 kommen: Dann kommen 10 Milliarden Euro Entlastung beim Soli, dann kommt das Baukindergeld, dann wird es anwachsende Ausgaben geben, die strukturell wirken. Das heißt, ab dem Jahr 2022 haben wir es mit Sicherheit mit einem jährlichen strukturellen, zusätzlichen Volumen von 20 Milliarden Euro zu tun. Dies zeigt, es ist nicht nachhaltig angelegt. Was passiert eigentlich in den anspruchsvollen 20er-Jahren hinsichtlich der demografischen Entwicklung? Sie verteilen jetzt 46 Milliarden Euro, ohne dass das Konzept nachhaltig ausgearbeitet ist.
Als Sahnehäubchen zum Schluss: Gestern im Haushaltsausschuss durften wir erfahren – es ist schon angesprochen worden –, dass 209 neue Stellen bei der Regierung geschaffen werden sollen. Ich bin nicht darauf gekommen, dass wir mal in die Verlegenheit kommen, Stellen für die Bundespolizei, die wir in der vergangenen Legislaturperiode mitbeschlossen haben – Stellen für die Bekämpfung von Schwarzarbeit, die wir geschaffen haben –, als Puffer zu nutzen, um 209 Regierungsstellen zu parken.
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Im Selbstbedienungsladen von Herrn Seehofer, dem Heimatministerium, werden 98 Stellen geschaffen. 41 Stellen werden beim Finanzminister geschaffen. Wofür? Ein Vizekanzleramt wird geschaffen. Das hatten wir schon einmal im Auswärtigen Amt, war da aber viel kleiner. Da wird jetzt nicht einmal eingespart, um wenigstens etwas zu kompensieren.
Ich kann nur ein Fazit ziehen: Das ist die dritte Große Koalition. Die Mehrheit der Großen Koalition ist ständig geschmolzen – 2005, 2013, 2018. Pikant ist: Je mehr sie einschmilzt, desto größer ist die Stellenkompensation im Vizekanzleramt.
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Damit ist diese Regierung eine inhaltlich wirklich ganz unambitionierte Veranstaltung. Sie ist eine teure Konkurrenzveranstaltung auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger.
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Nächster Redner ist der Kollege Achim Post, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will an die Debatte der letzten Stunde anknüpfen. Ich finde es hochinteressant, was diese Bundesregierung in den letzten sieben Tagen alles hätte machen oder unterlassen sollen. Vielleicht fangen wir erst einmal damit an, darüber nachzudenken – der Kollege Brinkhaus hat darauf hingewiesen –: Was sind eigentlich die Ziele, die SPD, CDU und CSU im Koalitionsvertrag vereinbart haben? Was sind eigentlich die großen finanz- und haushaltspolitischen Erfordernisse, die wir zügig angehen müssen, gerade jetzt, wo die Steuereinnahmen hoch sind, wo die wirtschaftliche Lage in Deutschland gut ist und wo es darauf ankommt, die richtigen Prioritäten zu setzen?
Der Bundesfinanzminister hat aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion die richtigen Prioritäten gesetzt. Er hat über Zukunft, über Zusammenhalt und über Europa geredet.
({0})
Wir werden auf der Grundlage eines guten Koalitionspapiers in den nächsten knapp vier Jahren gute Politik machen und dafür das Geld vernünftig einsetzen. Das ist für meine Fraktion und für mich mit einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik gemeint. Ich bin dem Bundesminister der Finanzen, Olaf Scholz, dankbar, dass er überzeugend deutlich gemacht hat, wie ein solcher Weg gelingen kann, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will aus meiner Sicht schildern, was man für eine ordentliche Finanzpolitik braucht. Man braucht erstens einen soliden Kompass. In guten Zeiten wie diesen ist es eben keine Quadratur des Kreises, sondern möglich, sich um beides zu kümmern: um solide Staatsfinanzen und um nötige Zukunftsinvestitionen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn sich hanseatische Solidität mit nachhaltigen Zukunftsinvestitionen verbindet, dann kann und wird etwas Gutes dabei herauskommen.
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Es ist eine große gemeinsame Leistung, dass in den vergangenen vier Jahren keine neuen Schulden gemacht wurden. Diese Bundesregierung wird darauf aufbauen und auch in den nächsten vier Jahren keine neuen Schulden machen. Wer aber so tut, als sei die schwarze Null das alleinige Allheilmittel und schon für sich genommen eine Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft, der irrt. Schulden vermeiden ist nötig, aber noch kein politischer Zukunftsplan.
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Zweitens. Es geht darum, einen realistischen Blick auf die Rahmenbedingungen zu haben. Der Bundesfinanzminister hat diesen realistischen Blick, und zwar global, europäisch und national. Deswegen sollten wir uns freuen und ruhig etwas stolz darauf sein, dass die konjunkturelle Lage, das Wachstum und die Beschäftigung in Deutschland solide und robust sind wie lange nicht.
Aber wir stehen auch vor fundamentalen Herausforderungen; – einige Kollegen hatten darauf hingewiesen. Das ist nicht zu übersehen. Was tun mit einem US-Präsidenten, der dabei ist, einen Handelskrieg mit Europa und der Welt anzuzetteln? Was tun mit der neuen Supermacht China, die immer deutlicher ihren globalen Führungsanspruch formuliert? Und nicht zuletzt: Was tun mit einem engen politischen Freund und großen Handelspartner Deutschlands, der leider entschlossen ist, die Europäische Union zu verlassen?
Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es drittens richtig und wichtig, dass wir unsere Haushaltspolitik von vornherein im europäischen Kontext denken und anlegen. Der Finanzminister hat darauf hingewiesen: In diesen Tagen, Wochen und Monaten werden die Weichen für eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion, für eine Stabilisierung der Euro-Zone und auch für die Aufstellung vernünftiger, solider und zukunftsorientierter Haushalte in der Europäischen Union gestellt.
Jetzt zu uns – vierter Punkt –: Was machen wir in Deutschland? Wir wollen und werden bei uns in Deutschland einen neuen Aufbruch, eine neue Dynamik hinbekommen. Darauf können Sie sich verlassen; jedenfalls wenn es nach den Fraktionen von SPD und CDU/CSU geht. Alles, was wir uns vorgenommen haben, werden wir umsetzen. Ein normales Weiter-so, ein ambitionsloses Vor-sich-hin-Wurschteln wird es, egal was die Opposition sagt, mit uns nicht geben, und ich will Ihnen auch sagen, warum.
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Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen. Wir werden in Bildung und Digitalisierung investieren: 2 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen, 3,5 Milliarden Euro für die Kitas, 5 Milliarden Euro für den Digitalpakt für Schulen und über 10 Milliarden Euro für den Breitbandausbau. Das ist kein Pappenstiel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und: Das ist solide finanziert.
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Genauso wichtig ist, dass Zusammenhalt und gerechte Lebenschancen gestärkt werden: mit 2 Milliarden Euro zusätzlich für den sozialen Wohnungsbau, mit 4 Milliarden Euro für die bessere Teilhabe am Arbeitsleben und für einen sozialen Arbeitsmarkt, mit der Anhebung des Kindergeldes und schließlich mit der Abschaffung des Soli für 90 Prozent der Steuerzahler. Darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verlassen.
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Wenn wir schon beim Thema Verlässlichkeit sind: Auch unsere Kommunen haben Anspruch auf Verlässlichkeit und Stetigkeit. Deshalb müssen wir die Grundsteuer erhalten und zügig eine bundeseinheitliche Regelung auf den Weg bringen, die das Aufkommen für die Kommunen sichert; denn mit rund 14 Milliarden Euro ist sie eine der wichtigsten Einnahmequellen der Kommunen.
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Fünftens. Ohne mehr Gerechtigkeit wird die Stärkung des Zusammenhalts in unserem Lande nicht gelingen. Ich will deshalb zwei Punkte herausgreifen, die mir besonders wichtig sind und die mich zugegebenermaßen besonders ärgern.
Erstens. Bei der Besteuerung der Unternehmen in Europa muss endlich Schluss sein mit den Schlupflöchern für Steuertricks und Steuerdumping. Es ist deshalb überfällig, dass wir hierzu gemeinsam mit Frankreich mehr tun als bisher, und wir werden mehr tun als bisher. Darauf können Sie sich verlassen.
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Zweitens. Ein besonders trauriges Beispiel für Gier und Maßlosigkeit sind die jüngsten Bonizahlungen an das Topmanagement von VW. Sie sind keinem Menschen zu vermitteln, schon gar keinem Käufer eines Autos,
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– und auch nicht im Aufsichtsrat, so ist es –, und erst recht nicht einem Kunden, der Leidtragender der Schadstofftricksereien ist.
({10})
– Liebe Britta, ich habe das Wort, danach kommst du. – Deshalb bin nicht nur ich der Meinung: Wir brauchen dringend schärfere Regelungen, wenigstens zur Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Managergehältern.
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Zusammengefasst: Mit dem richtigen Kompass, einem realistischen Blick auf die Rahmenbedingungen, einem handlungsfähigen Europa und einer verlässlichen, gerechten und mutigen Politik in Deutschland werden wir, wird die neue Bundesregierung erfolgreich sein – und sie wird erfolgreicher sein, als es manchem in diesem Haus lieb ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser von der Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das mit dem Erfolg werden wir bitter zu erleben haben.
Zum „neuen Aufbruch für Europa“, dem Leitmotiv der GroKo. Die deutsche Politik der vergangenen 25 Jahre hat sich auf das Abenteuer eingelassen, die eigene Währung nicht auf das Fundament der eigenen Volkswirtschaft zu stellen, sondern auf die sehr unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten der derzeit 19 Volkswirtschaften. Zu diesen gehören Schwellenlandökonomien und Volkswirtschaften der ersten Liga der Weltwirtschaft. Ein solcher Vorgang ist weltweit und weltwirtschaftsgeschichtlich vorbildlos, die gescheiterte Lateinische Münzunion im 19. Jahrhundert einmal außen vor gelassen.
Eine Wirtschafts- und Währungstheorie lag diesem Vorgang nie zugrunde, sondern ausschließlich ein politisches Kalkül. Der französische Präsident Mitterrand, der Macron der 90er-Jahre, hatte die Chance gesehen, sich die Aufhebung seines Einspruchs gegen die deutsche Wiedervereinigung politisch bezahlen zu lassen. Er hatte öffentlich erklärt, er liebe Deutschland; deshalb sei er für zwei deutsche Staaten anstatt nur für ein Deutschland, die D‑Mark sei eine Atombombe der Deutschen. So hat er Helmut Kohl zur Abschaffung der D‑Mark gezwungen – eine reine machtpolitische Auseinandersetzung.
In Wahrheit ging es nicht nur um die Währung, wie man damals wissen konnte und heute weiß; es ging um den Plan, auf lange Sicht Zugriff auf die wirtschaftliche Leistung des Nachbarn zu bekommen. Ein Berater von Mitterrand, Monsieur Attali, formulierte öffentlich: „Le boche payera tout“ – die Deutschen – in pejorativer Ausdrucksweise, die er pflegte – werden alles bezahlen.
({0})
In diesen Hintergrund ist der jüngste Plan von Monsieur Macron einzuordnen, Monsieur le Président, mit welchem er einen EU-Finanzminister will, einen gemeinschaftlichen EU-Haushalt, EU-Steuern, eine EU-Bankenrettung, eine EU-Arbeitsverwaltung, kurzum: eine Neugründung der EU, wie er es formuliert. Sieben nordeuropäische Länder haben schon ihre berechtigte Skepsis öffentlich zum Ausdruck gebracht, während Deutschland diesen Vorgang beschweigt und in Ehrfurcht erstarrt. Politische Naivität versus Interessenspolitik.
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Frankreich hat soeben Deutschland mit der absoluten Höhe seiner Staatsschulden überholt: 2,147 Billionen Euro bei einem BIP, das um 1 Billion kleiner ist als das deutsche. Frankreich hat derzeit eine Staatsschuldenquote von fast exakt 100 Prozent des BIP; nach europäischem Recht sind 60 Prozent erlaubt. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone, Italien, übertrifft mit ihren Staatsschulden bereits in absoluter Höhe die größere französische Volkswirtschaft. Es geht dabei um 2,4 Billionen Euro; das bedeutet einen relativen Schuldenstand von 130 Prozent gegenüber dem eigenen BIP. 60 Prozent dürfte es betragen; es ist also ein Verstoß gegen europäisches Recht. Von Griechenland mit einer Verschuldungsquote von 190 Prozent des BIP soll erst gar nicht die Rede sein.
Dies alles sind nicht nur Zahlen in Büchern, sondern Lebensrealität. Sie finden ihren markanten Niederschlag im wirklichen sozialen Leben, etwa bei der Jugendarbeitslosigkeit. Sie beträgt in Frankreich über 20 Prozent, in Italien deutlich über 30 Prozent, in Spanien fast 40 Prozent und in Griechenland deutlich über 40 Prozent. Das ist europäische Realität. Vor zehn Jahren betrug der Anteil der EU am Weltinlandsprodukt 25 Prozent, heute noch 17 Prozent, in fünf Jahren wird er noch 10 Prozent betragen. Das ist das Erfolgsmodell EU.
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Man muss sich der Wirklichkeit schon mit großer Leidenschaft verweigern, wenn man das alles nicht sieht. Die EZB ist zur Bad Bank mutiert. Sie hält Staatsanleihen von ebendiesen Ländern im Wert von über 2 Billionen Euro, die auf dem Weltmarkt nicht verkäuflich sind. Deutschland sitzt auf 1 Billion Euro TARGET-Forderungen, deren Beitreibung ungeklärt ist. Die Nullzinspolitik ist eine Enteignung, die die EZB betreibt. Sie kostet die deutschen Sparer pro Jahr 25 Milliarden Euro. Alle, die ein nachhaltiges Leben führen wollen, werden durch die EZB in die Irre geführt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Euro-Zone hat die Schuldenkrise hervorgebracht – vorhersehbar –, und sie wird die nächste ebenfalls hervorbringen. Wenn man eine wissenschaftliche Bewertung des Euro-Projekts durch ein hochkarätiges wissenschaftliches Institut durchführen ließe, käme ein vernichtendes Urteil heraus. Der Euro war eine politische, keine ökonomische Idee, wenngleich das unablässig mit Emphase von Euromanen und Eurokraten beschworen wird. Der ehemalige Bundesfinanzminister erklärte am 21. August 2011 auf die Frage, warum man bei der Euro-Einführung eine vergemeinschaftete Finanzpolitik vergessen habe – Zitat –:
Schon damals war Deutschland für eine politische Union, fand dafür aber keine Mehrheit. Wir haben uns deshalb entschieden, über die Wirtschafts- und Währungsunion hin zur politischen Einheit zu kommen. Wir hatten
– und haben –
die Hoffnung, … dass der Euro schrittweise die politische Union herbeiführen wird.
Zitat Ende.
Die Hauptursache für das skizzierte Scheitern des Euro kann man in einem Bild zusammenfassen: Wenn man mehrere Kranke und einige Gesunde in ein Bett legt, dann ist es wahrscheinlicher, dass alle krank werden als umgekehrt.
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Ein Erfahrungssatz, der besagen würde, dass die Gesunden die Kranken anstecken, ist infektiologisch eher unbekannt.
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Insbesondere dass ein gesunder Riese dem Bett entsteigt – eine Suggestion, die derzeit mit täglich neuen Zentralisierungsideen vermittelt werden soll –, ist eine völlig abwegige Vorstellung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine Wahnidee.
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Europa hat die Migration versemmelt, Europa hat die Finanzen versemmelt, Europa versemmelt die innere Sicherheit – das alles kommt in diesem Hause nicht vor. Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Kunst des Umgangs mit der Wirklichkeit.
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Wer den neuen Menschen will – ich bin sofort am Ende meiner Rede, Herr Präsident –, wer den Kontinentalstaat oder den Weltstaat will, hat vielleicht Thomas Morus, vielleicht auch Immanuel Kant und Karl Marx gelesen, nicht jedoch George Orwell. Leute, die das ins Werk setzen, sind gefährlich. Sie beseitigen die Freiheit, die Demokratie und die Menschenrechte.
({8})
Und zu den Menschenrechten gehört die Souveränität der Völker. Das sollten Sie alle bedenken.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltspolitik zeichnet sich durch lange Linien, durch lange Zeiträume aus. Herr Minister Scholz, Sie treten Ihr Amt in einer Zeit an, in der die Voraussetzungen nicht besser sein könnten: seit vier Jahren keine neuen Schulden, eine Rücklage von 24 Milliarden Euro im Bundeshaushalt, ein gesamtstaatlicher Überschuss im letzten Jahr von 37 Milliarden Euro, davon über 14 Milliarden Euro bei den Ländern. Deswegen richte ich an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Ihren Vorgänger, Wolfgang Schäuble, der mit die Basis für diese Situation geschaffen hat. Ich glaube, ohne diese Basis hätten Sie heute nicht so reden können, wie Sie geredet haben, Herr Scholz, und dann sähe auch der Koalitionsvertrag im Bereich Haushalt und Finanzen nicht so aus, wie er aussieht.
({0})
Was die 14,2 Milliarden Euro Überschuss bei den Ländern angeht, Herr Kollege De Masi: Der Bund ist nicht für Kitas zuständig, der Bund ist nicht für Lehrer zuständig, und der Bund ist nicht originär für Schulen zuständig. Wenn die Länder einen Überschuss von insgesamt 14 Milliarden Euro haben – 700 Millionen Euro sind es in meinem Heimatland, circa 10 Prozent des Gesamtetats –, dann sollen die Länder, verdammt noch mal, ihre gesamtstaatliche Verantwortung an dieser Stelle wahrnehmen.
({1})
Herr Kollege Dürr, ich habe den Eindruck, ihr seid große Rechenkünstler bei der FDP.
({2})
Sie fordern einen Schuldentilgungsplan, wollen aber gleichzeitig den Soli sofort abschaffen,
({3})
wodurch ein Minus von 80 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode entstehen würde.
({4})
Wie das mit der Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit, Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung usw. zusammenpassen soll, müssen Sie mir einmal bei einem guten Kaffee oder einem guten Gläschen Bier erklären. Ich kann das jedenfalls nicht nachvollziehen.
({5})
Herr Kollege Rehberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Immer.
Herr Kollege Rehberg, wir sind ja, wie der Kollege Dürr gesagt hat, eine Serviceopposition. Deswegen wollte ich Sie nur kurz auf eine kleine mathematische Aufgabe hinweisen, die sehr einfach ist.
Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass der Minister eben gesagt hat, dass es in den nächsten vier Jahren 45 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen geben soll. Sie wissen auch, dass die Finanzplanung, die Basis für das Ganze ist, bereits 160 Milliarden Euro Mehreinnahmen in den nächsten vier Jahren vorsieht. Sie stimmen mir dann sicherlich auch zu, dass 160 Milliarden Euro und 40 Milliarden Euro 200 Milliarden Euro Mehreinnahmen für die nächsten vier Jahre ergeben.
Würden Sie mir deshalb nicht zustimmen, dass, wenn man 200 Milliarden Euro Mehreinnahmen in den nächsten vier Jahren hat,
({0})
80 Milliarden Euro weniger durch den Wegfall des Soli überhaupt kein Problem ist?
({1})
Herr Kollege Fricke, ich könnte Ihnen jetzt das Steuerschätzungstableau bis 2022 zeigen; es liegt auf meinem Platz. Beim Bund sind, wenn ich das überschlage, garantiert 10 Milliarden Euro per anno Steuermehreinnahmen eingepreist, bei den Ländern übrigens auch. Dann komme ich in etwa auf 40 Milliarden Euro. Wenn ich dann minus 80 Milliarden Euro gegenrechne, bin ich schon bei minus 40 Milliarden Euro. Und zu den 46 Milliarden Euro prioritäre Maßnahmen, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, kommen natürlich Herausforderungen, die noch nicht abgebildet sind; Stichworte: Bundeswehr, Bundespolizei, Digitalisierung, Entwicklungshilfe. Wenn Sie dann solche Zahlen wie 160 Milliarden Euro in den Raum werfen, Herr Kollege Fricke, dann muss ich sagen: Sie können mich gerne einladen, um mir mit Zettel und Bleistift – die vier Grundrechenarten kann ich noch ziemlich gut – die 160 Milliarden Euro zu beweisen. Ich sehe sie jedenfalls nicht.
({0})
Übertroffen wird das nur von der AfD. Das sind besonders große Künstler. 7 Prozent weniger Mehrwertsteuer – das wäre eine gesamtstaatliche Mindereinnahme von 80 Milliarden Euro, beim Bund von 40 Milliarden Euro. Der Soli soll sofort weg – das wären jährlich minus 60 Milliarden Euro für das Haushaltsjahr 2018 und die folgenden Jahre, also 240 Milliarden Euro weniger in dieser Legislaturperiode.
({1})
Man kann ja sagen, das kann der Bund verkraften. Nur, Herr Kollege Boehringer, 40 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen bei den Ländern würde für Nordrhein-Westfalen ein Minus von 8 Milliarden Euro bedeuten und für mein Heimatbundesland ein Minus von 800 Millionen Euro – bei einem Etat von 7 Milliarden Euro. Das hieße: weniger Polizei, weniger Lehrer, weniger Sanierungsmittel für Schulen, weniger Kitaausbau. So ein Blödsinn! Das zeigt Ihren ganzen Unverstand. Anstatt hier Märchenstunden zu halten, sollten Sie sich lieber mit der finanzpolitischen Wirklichkeit befassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen außer der AfD sind in Landesregierungen in der Verantwortung.
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Herr Kollege Scholz, Sie haben bis vor ein paar Tagen auf der anderen Seite gesessen, Ihr Kollege neben Ihnen, Horst Seehofer, genauso. Ich will Ihnen an zwei oder drei Beispielen zeigen, vor welcher Herausforderung diese Bundesregierung steht.
Niemandem in diesem Hause – vielleicht außer der AfD – ist damit gedient, wenn das Geld, das wir für Kommunalinvestitionen – für Kitaausbau, für Schulsanierung, für sozialen Wohnungsbau – zur Verfügung stellen, nicht da ankommt, wo es hingehört.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Das Land Berlin hat zwischen 2006 und 2013 nicht eine einzige Sozialwohnung gebaut, aber 300 Millionen Euro für den sozialen Wohnungsbau bekommen und in dieser Zeit 150 000 Mietwohnungen privatisiert. Heute stellt sich der Regierende Bürgermeister hin, fordert vom Bund mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau und bekommt für die Zeit von 2016 bis 2019 rund 250 Millionen Euro.
Dieses Beispiel könnte ich fortführen – auch aus meinem Heimatland.
Thema Entflechtungsmittel. Nein, es gibt kein Förderprogramm des Bundes für kommunalen Straßenbau. Das ist formal richtig. Das steckt in den Entflechtungsmitteln; das waren 35 Millionen Euro.
Der Satz im Koalitionsvertrag, in dem es um die Zweckbindung der Mittel geht, ist sehr wichtig. Herr Scholz, eine Aufforderung an Sie: Wenn der Bund Geld zur Verfügung stellt, dann müssen diese Mittel auch dahin fließen, wo sie hingehören. Dahin müssen wir wieder zurückkommen.
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Ein anderer Punkt, der mir sehr wichtig ist: Wer in diesem Hohen Haus weiß oder hat darüber gelesen oder gesprochen, dass wir die ungebundenen Zuweisungen an Länder und Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro im letzten Jahr auf 5 Milliarden Euro verdoppelt haben? Die Länder haben sich 1 Milliarde Euro davon abgezwackt, und teilweise werden die Mittel durchgereicht, zum Beispiel 4 Milliarden Euro über die Kosten der Unterkunft und Umsatzsteuerpunkte. Das ist für Nordrhein-Westfalen und für die neuen Bundesländer 1 Milliarde Euro. Ich sehe nicht, dass dort mit diesem Geld Sonderprogramme für dringende Maßnahmen aufgelegt worden sind.
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Herr Scholz, deswegen sage ich eine Debatte voraus. Die Entflechtungsmittel ergeben sich ab 2020 nur noch aus den Umsatzsteuerpunkten. Die Debatte wird folgendermaßen laufen: Bund, gib Geld für den Wohnungsbau; Bund, gib Geld für den Hochschulbau; Bund, gib Geld für kommunale Verkehrswege.
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Ich sage das in aller Eindringlichkeit, weil mir die Bürgermeister in meinem Wahlkreis, wenn ich ihnen sage, wofür wir Geld zur Verfügung stellen, den „Scheibenwischer“ und Piepmatz zeigen und mich fragen: Rehberg, wo denn? – Deswegen sehe ich es als eine wichtige gesamtpolitische Aufgabe an: Wir nehmen unsere gesamtstaatliche Verantwortung wahr, aber dann müssen das auch die Länder tun, indem sie das Geld zweckentsprechend verwenden bzw. an die Kommunen durchreichen.
Die Länder und Kommunen erhalten Mittel für prioritäre Maßnahmen. Mehr als die Hälfte dieser 46 Milliarden Euro erhalten sie für Aufgaben, die keine originären Aufgaben des Bundes sind. Das Geld muss da ankommen, wo es hingehört, und darf nicht irgendwo versickern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich bin für mehr Dynamik in Europa; das ist gar keine Frage. Herr Scholz, wir müssen uns aber auch darüber unterhalten, wo es in Europa hakt. Ich finde, es kann nicht sein, dass im letzten Jahr 10 Milliarden Euro des Kohäsionsfonds nicht abgerufen worden sind. Ich nenne den Europäischen Sozialfonds, EFRE, ELER usw. Für dieses Jahr sind 5 Milliarden Euro prognostiziert. Das heißt, in zwei Jahren werden Brüssel und die Mitgliedstaaten nicht in der Lage gewesen sein, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zweckentsprechend bzw. sachgerecht auszugeben.
Ein Teil des Überschusses, dieser 24 Milliarden Euro, resultiert aus dieser Nichtverwendung. Deswegen müssen wir von den 24 Milliarden Euro Überschuss eigentlich 7,4 Milliarden Euro abziehen, weil wir die Rechtsverpflichtung haben, dass nicht abgerufene EU-Mittel wieder dahin zurückfließen, wo sie hingehören.
Deswegen glaube ich, dass wir uns wirklich nicht darüber unterhalten sollten, unkonditioniert mehr Geld nach Europa zu geben; die CDU/CSU-Fraktion ist strikt dagegen. Um erfolgreich zu sein, müssen wir ein regelbasiertes Europa haben, und das Geld muss konditioniert nach Brüssel fließen und an die Mitgliedsländer weitergegeben werden. Alles andere hilft an dieser Stelle nicht.
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Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen, nämlich zum Thema „schwarze Null“. Es gibt in der SPD-Bundestagsfraktion zwölf Abgeordnete, die meinen, das sei weder ein finanzpolitisches Ziel noch irgendwie notwendig. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe drei Enkel, 13 Jahre, 5 Jahre, und die Kleine ist gerade geboren. Ich werde in ein paar Tagen 64 Jahre alt. Ich möchte nicht, dass einer der drei, zu welchem Zeitpunkt auch immer, sagt: Opa, du warst doch Haushälter. Du hast nicht dafür gesorgt, dass wir heute nicht für die Lasten deiner Politik zahlen müssen. – Deswegen: Keine neuen Schulden zu machen, heißt Nachhaltigkeit. Es heißt auch Generationengerechtigkeit. Es ist die beste Sozialpolitik für heute und für nachfolgende Generationen.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister, es gibt die schöne 100-Tage-Tradition: Man soll einem Amtsinhaber 100 Tage Zeit geben. Das soll an uns nicht scheitern. Ich habe in Ihrem Fall nur die Sorge, dass die Welt um uns herum, von den USA, von Trump, bis hin zur Europäischen Union, diese 100-Tage-Frist in Gefahr bringt. Aber ich meine, Sie werden in sehr naher Zukunft konkreter werden müssen als das, was wir heute von Ihnen gehört haben.
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Die Welt um uns herum ändert sich stark. Ich kann Sie nur ermuntern, darauf zu reagieren, indem Sie sich zutrauen, groß zu denken, in großen Zusammenhängen zu denken. Ich glaube, am Ende wird es sogar so sein, dass Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt.
Das, was die USA im Bereich Steuern planen, das, was unser Nachbar und Freund Emmanuel Macron im Bereich der Unternehmensbesteuerung vorhat, ist ein ganz klares Werben um die Investitionen der Zukunft. Wenn es Deutschland nicht schafft, darauf schnell eine eigene Antwort zu finden, dann werden Investitionen und Arbeitsplätze woanders hingehen. Dann werden wir in fünf oder zehn Jahren auch keine Steuereinnahmen in der heutigen Höhe mehr haben. Sie müssen da ran, und das sollten Sie ambitioniert tun, lieber Herr Minister.
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Zum Solidaritätszuschlag. Ich finde, Kollege Rehberg, manchmal ist es wichtig, die richtigen Dinge ganz zu machen und nicht nur halb. Nur um die Finanzspielräume, die Sie angesprochen haben, offenzulegen: Nach der gültigen Steuerschätzung steigt das Steueraufkommen des Bundes zwischen 2017 und 2022, also innerhalb von fünf Jahren, von 308 auf 360 Milliarden Euro. Um 52 Milliarden Euro wird das Steueraufkommen des Bundes 2022 also höher sein als 2017. Die vollständige Abschaffung des Soli würde ungefähr 20 oder 21 Milliarden Euro ausmachen. Sie hätten also immer noch über 30 Milliarden Euro strukturell mehr zur Verfügung, um Schwerpunkte zu setzen. Es kann mir keiner erzählen, dass bei diesen Rekordeinnahmen eine Abschaffung des Solidaritätszuschlages nicht finanzierbar sein sollte.
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Herr Scholz, Sie haben es geschafft, Ihrer eigenen Partei die Mentalität auszutreiben, dass es gut ist, ein Zwerg zu sein. Ich wünsche mir einen Bundesfinanzminister, der auch seiner Koalition die Mentalität, dass es gut ist, ein Zwerg zu sein, austreibt. Denken Sie groß! Denken Sie ambitioniert! Dann haben Sie die Unterstützung jedenfalls unseres Teils der Opposition für Ihre Politik.
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Sie werden wahrscheinlich auch ein Riese sein müssen, um auf europäischer Ebene das auszubügeln, was im Bereich der Bankenunion falsch aufgegleist worden ist. Der Trend, der Wunsch geht ganz klar dahin, dass es relativ schnell eine einheitliche Einlagensicherung für alle europäische Banken geben soll, dass alle in denselben Topf zahlen sollen. Das hat zur Folge, dass vor allem die Kunden der deutschen Banken, ganz egal ob das Sparkassen, Volksbanken oder andere Banken sind, für die Finanzierung und Sanierung von Bankensystemen anderer Länder indirekt zur Kasse gebeten werden. Geld zur Bank zu bringen, wird dadurch teurer.
Ihre Koalition hat im Koalitionsvertrag zu Recht festgelegt: Es kann nicht sein, dass der Steuerzahler für die Sanierung von Banken geradesteht. Aber wenn das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass nicht der Steuerzahler, sondern alle Bankkunden für die Sanierung von Banken zahlen müssen, dann haben Sie fast das gleiche Ergebnis auf andere Weise erreicht. Da müssen Sie konsequent bleiben: Weder die einen noch die anderen dürfen für die Sanierung maroder Bankensysteme zur Kasse gebeten werden.
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Herr Minister, mir fielen viele Vorschläge ein, was wir in Deutschland bei den wirklichen Problemen in der Bankenunion machen könnten. Der Abwicklungsmechanismus funktioniert noch nicht richtig; die Abwicklungsbehörde funktioniert noch nicht richtig. In einem Bericht, den wir bekommen haben, heißt es: Da funktioniert fast gar nichts. – Das Problem müssen wir angehen. Es gibt Schlupflöcher bei der Bankenabwicklung, die man stopfen müsste. Man müsste vorsehen, dass Staatsanleihen mit Eigenkapital unterlegt werden. Es gäbe wirklich haufenweise Vorschläge, die ich mir von einer Bundesregierung erwarten würde, um die Bankenunion besser zu machen. Aber die einheitliche Einlagensicherung ist das Letzte, was wir brauchen. Ich fordere Sie auf, in Brüssel dazu ganz klar Stellung zu beziehen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Scholz, heute Morgen haben wir den Medien entnommen, dass Sie 2021 Bundeskanzler werden wollen. Vorhin haben Sie sinngemäß gesagt: Ein deutscher Finanzminister kennt kein Parteibuch, und Sie wollen die Politik von Ex-Finanzminister Schäuble eins zu eins fortsetzen. – Da frage ich mich: Für welche Partei wollen Sie eigentlich Bundeskanzler werden? Die SPD kann ja nicht gemeint gewesen sein.
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In allen Debatten hat die schwarze Null eine große Rolle gespielt. Natürlich werde auch ich etwas dazu sagen. Was mich an dieser Diskussion besonders ärgert, ist, dass die ganze Debatte um die schwarze Null nur dazu dient, davon abzulenken, dass bei uns, in der Bundesrepublik Deutschland, die Steuern nicht gerecht erhoben werden. Und das ist der Kardinalfehler.
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Sie wollen keine gerechte Steuerreform, obwohl die SPD im Wahlkampf insbesondere darauf verwiesen hat, dass sie die Vermögensteuer durchsetzen will. Wir sollten uns einmal in der Welt umgucken: 27 der 33 wirtschaftlich entwickelten Staaten besteuern Vermögen höher als Deutschland. Wir sind also Schlusslicht bei der gerechten Verteilung von Reichtum, und das finde ich unangemessen für unser Land.
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Es ist wirklich Zeit, Reichtum umzuverteilen, um die weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.
Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat gestern in ihrer Regierungserklärung gesagt: Es ist eine Schande für Deutschland, dass es Kinderarmut gibt. – Ja, da hat sie recht. Aber sie ist seit 2005 Bundeskanzlerin, und sie ist persönlich mit ihrer Regierung für diesen Zustand verantwortlich. Dieser Verantwortung muss sie sich stellen.
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Mit diesem Koalitionsvertrag und den Vorhaben, die hier vorgetragen worden sind, stellt man sich dieser Verantwortung nicht. Ja, es ist richtig: Sie haben einige Maßnahmen ergriffen. Mein Kollege und Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch hat das gestern schon positiv benannt. Das muss ich jetzt also nicht wiederholen.
Aber was wir brauchen, um Kinderarmut zu bekämpfen, ist eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes, und zwar für alle. Auch die Menschen, die Hartz IV beziehen, müssen von der Kindergelderhöhung profitieren. Alles andere ist absurd. Es ist eine absurde Ungerechtigkeit, und das werden wir als Linke niemals akzeptieren, meine Damen und Herren.
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Frau Kollegin Lötzsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Wir brauchen eine eigenständige Kindergrundsicherung. Das ist ein Weg, den wir in dieser Gesellschaft gemeinsam einschlagen müssen. Und wir brauchen natürlich auch die Unterstützung von Familien, insbesondere von Alleinerziehenden. Sie werden viel zu oft alleingelassen, und das darf nicht sein, meine Damen und Herren.
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Wir haben gestern die Diskussionen verfolgt, wofür mehr Geld ausgegeben werden soll. Die Bundeskanzlerin hat etwas vornehm formuliert, dass man mehr Geld für Rüstung brauche. Wer nicht genau zugehört hat, konnte das vielleicht überhören. Aber ich finde es völlig unverantwortlich, dass weiterhin mehr Geld in die Rüstung gesteckt werden soll. Das macht nur die Rüstungsunternehmen reich. Die Menschen in unserem Land haben nichts davon. Ganz im Gegenteil: Unser Leben wird durch mehr Rüstung und Rüstungsexporte noch unsicherer. Das können wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
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Herr Scholz, Sie haben über Ost-West gesprochen und gesagt: Mit der deutschen Einheit sind wir so weit gekommen, dass im Prinzip vieles gut ist. – Aber ich frage Sie: Können Sie nicht sehen, dass wir noch immer keine gleichen Löhne haben? Wir haben noch immer keine gleichen Renten. Wir haben noch immer keine gleiche Verteilung von Zukunftschancen in unserem Land.
Wenn wir uns alle möglichen Parameter, zu Einkommen, Vermögen oder zur Verteilung von Unternehmen, in unserem Land anschauen, dann sehen wir eine krasse Ost-West-Spaltung, und die wird nicht kleiner, sondern größer. Das dürfen wir doch nicht hinnehmen. Das kann man doch nicht ignorieren. Die Linke steht für das gesamte Land, und sie steht dafür, dass auch der Osten gerecht behandelt wird.
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Sie haben – das haben etliche Kollegen schon erwähnt; aber ich will es trotzdem auch noch einmal ansprechen – als eine der ersten Amtshandlungen im Finanzministerium durchgesetzt, dass in den Ministerien 209 hochdotierte Stellen geschaffen werden. Herr Seehofer, der schon angesprochen wurde, bekommt einen zusätzlichen Heimatstaatssekretär und eine Abteilung „Heimat“ mit drei Unterabteilungen: „Raumordnung“, „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ und „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“. Ich frage mich wirklich: Hat sich denn vorher in den Ministerien niemand um diese Themen gekümmert? – Augenscheinlich nicht! Aber es ist ein absolutes Armutszeugnis, dass wir zu einer derartigen Situation gekommen sind. Man kann viel über die Bundesregierung sagen, auf jeden Fall ist sie nicht besonders klein. Die Selbstbedienungsmentalität, die bei den erwähnten hochdotierten Stellen zum Ausdruck kommt – mehr Häuptlinge, weniger Indianer –, ist eine Verhöhnung aller Menschen, die nicht wissen, wie sie mit ihrem Geld über den Monat kommen sollen.
Wir als Linke stehen als soziale Opposition für die Menschen, die geringe Renten haben, die nicht wissen, wovon sie ihre Mieten zahlen sollen. Wir setzen uns dafür ein, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Ein gerechtes Land ist – das ist meine tiefe Überzeugung – besser für alle, nicht nur für die Menschen, die wenig haben, sondern auch für die Mittelschicht und die Reicheren. Den Reicheren sollte es ein Herzensanliegen sein, zu einem gerechten Land beizutragen.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick.
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– Das müssen Sie vorher anmelden, Herr Kollege. Jetzt habe ich dem Kollegen Dr. Gerhard Schick schon das Wort erteilt. Das müssen Sie machen, bevor der nächste Redner kommt. Es tut mir leid.
Bitte, Herr Kollege Schick, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon sehr bemerkenswert, dass in dieser Debatte und vor allem in der Erklärung des neuen Bundesfinanzministers eine Reihe von Themen, die sehr viele Menschen in diesem Land beschäftigen, überhaupt nicht vorgekommen ist. Die Finanzkrise, die vor zehn Jahren ausgebrochen ist, ist inzwischen bei den Menschen in unserem Land angekommen. Die Banken wackeln nicht mehr. Aber die Menschen machen sich Sorgen, ob sie noch bezahlbaren Wohnraum finden, wenn Finanzinvestoren Wohnungen aufkaufen und wenn deswegen für Menschen mit normalem Geldbeutel gar kein Raum mehr auf dem Wohnungsmarkt ist. Kein Wort haben Sie dazu gesagt.
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Die Finanzkrise, die vor zehn Jahren ausgebrochen ist, kommt inzwischen bei der Altersvorsorge in Deutschland an. Die Lebensversicherungen mussten reihenweise die Überschussbeteiligungen kürzen, und schon 27 Pensionskassen in Deutschland mussten den Rentenfaktor anpassen. Das bedeutet weniger Rente für die Menschen in Deutschland. Sie haben kein Wort dazu gesagt,
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obwohl das viele Menschen verunsichert und gerade die Politik, die zu privater Vorsorge aufgefordert hat, hierauf eine Antwort geben muss. Im Moment erleben wir bei P&R möglicherweise die größte Pleite auf dem Kapitalmarkt. Über 50 000 Menschen machen sich Sorgen, ob ihr Geld weg ist. Kein Wort dazu vom neuen Bundesfinanzminister! Die SPD hat im Wahlkampf oft gesagt, dass man beim Thema „too big to fail“, also dass die Banken noch immer so groß sind, dass sie uns auf die Füße fallen könnten, etwas tun sollte. Von einem Trennbankensystem war die Rede. Nichts davon haben Sie erwähnt. Man könnte meinen, dass auf dem Finanzmarkt alles in Ordnung sei. Dabei machen sich viele Menschen zu Recht Sorgen. An den Sorgen der kleinen Menschen haben Sie völlig vorbeigesprochen.
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Man könnte sagen: In der ersten Rede kann der neue Bundesfinanzminister nicht alles bringen; dafür gibt es den Koalitionsvertrag. Wenn man aber in den Koalitionsvertrag schaut, stellt man fest, dass dort zu diesen Themen auch nichts steht. Kein Wort zu der historisch schwierigen Lage der deutschen Lebensversicherungen! 90 Millionen Verträge sind sozusagen im Feuer, und die Menschen fragen sich: Was passiert da eigentlich? – Auch kein Wort zu dem Thema, das nun bei der Deutschen Bank erneut deutlich geworden ist: Wie kann es eigentlich sein, dass ein Institut Verluste macht und dass trotzdem Milliardenboni ausgezahlt werden? Was ist das denn für eine Politik des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft, wenn solche Fragen von einem Bundesfinanzminister noch nicht einmal angesprochen werden?
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Da ist eine riesige Lücke. Das ist ein weites Feld für einen Finanzminister, weil im Koalitionsvertrag dazu nichts steht. Nun haben wir, nachdem Sie gesagt haben, wer die Arbeit beim Thema Finanzmarkt leisten soll, eine erste Ahnung, wie Sie diese Lücke füllen wollen. Die Bewertung in unserer Bevölkerung ist sehr nahe bei dem, was ich in den letzten Tagen geäußert habe. Wenn ein Topinvestmentbanker diese inhaltliche Lücke des Koalitionsvertrages füllen soll, dann stellt sich doch die Frage: Wird das eine Finanzpolitik für Menschen mit kleinen Einkommen, Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer und ehrliche Sparer, oder wird das wieder eine Finanzpolitik für die Zocker? Da mache ich mir bei Ihnen ehrliche Sorgen.
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Es gibt ja leider ein Vorbild: Ihr Vorvorgänger Steinbrück hat sich ebenfalls auf einen Finanzmarktexperten verlassen und hat sich kaum um diese Themen gekümmert. Am Ende war es so, dass er feststellen musste: Da ist nichts von einer schwarzen Null, sondern da sind Milliardenlasten für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland. – Deswegen fordere ich Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass diese Lücke im Koalitionsvertrag so gefüllt wird, dass die Lasten dieser Finanzkrise fair verteilt werden und dass die Sorgen der Menschen ernst genommen werden, dass die Finanzspekulanten aus unseren Wohnungsmärkten herausgehalten werden! Das ist Ihre Aufgabe. Bei der nächsten Regierungserklärung, die Sie abgeben, möchten wir dazu aber wirklich etwas hören.
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Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding, SPD.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einen Satz zu Europa und zu Deutschland sagen. Deutschland fühlt sich in Europa sehr groß an, stark und mächtig; das stimmt. Aber in der Welt ist Deutschland doch eher klein und schmächtig, oder? Stimmt das nicht? Das meiste, was wir in Deutschland verdienen, unsere gesamte Einnahme, kommt im Wesentlichen aus Europa. Deshalb gilt der alte Satz: Es ist klug, keine armen Nachbarn zu haben, wenn man ihnen etwas verkaufen will.
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Man kann auch nicht lange reich bleiben, wenn man nur arme Nachbarn hat. Wer jetzt glaubt, wir kämen ohne Europa zurecht, dem will ich eine Frage stellen: Haben wir mit deutschem Größenwahn nicht schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht? Das halte ich für eine Situation, über die wir genauer nachdenken müssen.
Ich will etwas machen, was ganz anders als das ist, was wir bisher gehört haben. Ich will erst einmal den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern danken, die überhaupt die gesamten Steuern zahlen.
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Das sind ungefähr 730 Milliarden Euro.
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Wenn wir diese 730 Milliarden Euro mit diesem Meter
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einmal messen würden – seit dem Brexit sagen wir „Meter“ und nicht mehr „Zollstock“ –, dann entsprächen die Umsatzsteuereinnahmen genau drei Gliedern dieses Meters. Die Umsatzsteuer zahlen bekanntlich alle. Übrigens, je ärmer man ist, umso größer ist der Umsatzsteueranteil am Lohn.
Wenn wir mit diesem Meter auch noch die Lohnsteuereinnahmen messen würden, dann entsprächen sie weiteren drei Gliedern. Wir sehen: Die Steuereinnahmen wären relativ dünn, wenn Umsatzsteuer- und Lohnsteuereinnahmen entfielen. Entfielen außerdem Gewerbesteuer- und Körperschaftsteuereinnahmen – das entspräche aber nur einem Glied des Meters –, würden die Steuereinnahmen dahinschmelzen – wenn wir die Lohnsteuerzahler und die Umsatzsteuerzahler nicht hätten. Und so sehen wir, auf wem die Hauptlast der Steuer, die wir einnehmen, lastet.
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Christian Dürr hat kritisiert, dass wir zu viel in den Rententopf geben, und er hat das mit dem Versprechen kombiniert, die FDP sei eine Serviceopposition. Jetzt habe ich eine ganz einfache Frage: Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht in den Rententopf fließen, gibt es für mich darauf zwei Antworten: Entweder steigen die Lohnnebenkosten exorbitant – 100 Milliarden Euro sind ja ein Drittel der gesamten Rentenkosten –, oder die Renten müssen drastisch gekürzt werden.
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Dummerweise hat die Serviceopposition versagt und hat uns gar keinen Service geliefert und uns gar nicht verraten, was wir jetzt machen sollen.
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Herr Kollege Binding, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Toncar?
Das möchte ich jetzt nicht machen.
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– Ja, ja. Ich denke, wir diskutieren das im Ausschuss.
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– Ich weiß, die Wahrheit ist immer schlecht auszuhalten.
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Ich will noch etwas anderes sagen. Deutschland hat günstige Steuersätze, und jetzt senken die USA plötzlich die Steuern, und bei uns kommt große Panik auf. Die Lobbyisten, die Verbände, die Unternehmen sagen: Auch ihr müsst die Steuern senken. – Müssen wir wirklich die Steuern senken? Ist das wirklich das Wesentliche, niedrigste Steuersätze? Wäre es nicht viel wichtiger, sich um das zu kümmern, was im Koalitionsvertrag steht, was Olaf Scholz vorgetragen hat?
Einmal angenommen, wir hätten niedrige Steuersätze, aber die innere Sicherheit wäre schlecht: Wo geht man eigentlich hin? Dorthin, wo niedrige Steuersätze sind, oder dorthin, wo die innere Sicherheit gut ist? Einmal angenommen, das Verkehrssystem wäre schlecht, aber es gäbe niedrige Steuersätze: Wo geht man eigentlich hin? Wenn zum Beispiel die Bildung und die Ausbildung schlecht sind: Wo geht man hin? Dorthin, wo niedrige Steuersätze sind, oder dorthin, wo Bildung und Ausbildung gut sind? Die Antwort ist ganz einfach: Wenn irgendwo die Lage gut ist und die Kultur stimmt, gehe ich genau dorthin, auch wenn ich einen Groschen mehr bezahle.
Interessanterweise haben die USA jetzt selber viele Instrumente eingeführt, die wir schon kennen: die Mindestbesteuerung zum Beispiel, die Zinsschranke, also diese Dinge des Teufels. Den unfairen Teil – Sperrzölle und solche Sachen – müssen wir separat in den Blick nehmen. Da gibt es sicherlich etwas zu tun.
Ich möchte noch eines zu Gerhard Schick sagen: Du hast wichtige Sachen vorgetragen, aber die gesamte Regulierung, die bisher, seit der Krise, passiert ist, hast du unterschlagen. Ich meine, wenn man an Peer Steinbrück denkt, muss man wenigstens fragen: Hat eigentlich ein Sparer sein Guthaben verloren? Ich weiß, infolge der Inflation ist der Realzins ungefähr gleich geblieben, der Nominalzins ist gesunken; das stimmt. Aber hat ein Sparer sein Geld verloren? Das war die damalige Krisensituation! Wer hat eigentlich die Krise bezahlt, und wie sind wir da herausgekommen?
Wir sehen: Die Regulatorik ist bei uns in einer Weise entwickelt, dass –, auch mit dem Bail-out-Verbot, mit der Haftungskaskade –
Herr Kollege Binding.
– ich komme zum Schluss –, –
Sehr schön.
– eine sehr gute und sichere Lage in Europa entstanden ist. Mit dieser Sicherheit und mit unserem Steuersystem in Europa haben wir eine gute Zukunft.
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Herr Kollege Binding, ich rate Ihnen, Ihren Meterstab oder Zollstock noch nicht wegzupacken; denn der Kollege Toncar hat die Bitte um eine Kurzintervention geäußert.
Vielen Dank. – Herr Kollege Binding, nachdem Sie erst eine Frage gestellt haben, den Service dann aber gar nicht annehmen wollten, greife ich jetzt zu einem in Ihren Reihen eigentlich sehr beliebten Instrument, nämlich dem der Zwangsbeglückung. Ich biete Ihnen den Service einfach ungefragt.
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Sie haben die Frage gestellt: Was ist der Kritikpunkt an dem Steuerzuschuss zur Rentenversicherung? Er wird im Jahr 2020, also in dieser Wahlperiode, den Betrag von 100 Milliarden Euro übersteigen, und zwar ergibt sich das auf der Basis des geltenden Rentenrechts. Die letzte Große Koalition hat nämlich neue versicherungsfremde Leistungen eingeführt: Mütterrente und Rente mit 63. Bereits das hat dazu geführt, dass ein Steuerzuschuss von über 100 Milliarden Euro gebraucht wird.
Jetzt haben Sie noch mehr beschlossen, nämlich noch mehr versicherungsfremde Leistungen: Grundrente nach 35 Beitragsjahren,
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Abkehr vom demografischen Faktor ab 2024 und noch einmal eine Verbesserung der Mütterrente.
Das Interessante ist, dass in Ihrer Koalitionsvereinbarung genau steht, und zwar bis auf die Stelle hinter dem Komma genau, was Sie für das BAföG oder für die Kinderbetreuung ausgeben wollen – das ist ja auch gut und richtig –; je größer aber die Ausgaben sind, die Sie produzieren – die sind bei der Rente riesengroß –, umso weniger konkret sind Sie, was die Finanzierung angeht. Das ist eine Leerstelle. Sie sind diejenigen, die nicht sagen können, wie Sie alle diese auf Jahrzehnte hinaus teuren Leistungen eigentlich finanzieren wollen.
Deswegen wäre die Frage eigentlich an Sie zurückzugeben: Wollen Sie Beiträge erhöhen, kommen zusätzliche Steuermittel ins System, oder wollen Sie Renten kürzen? Das würde ich sehr gern von Ihnen, Herr Kollege Binding, wissen.
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Herr Kollege Binding.
Kollege Toncar, das ist ein Missverständnis. Sie haben die 100 Milliarden Euro kritisiert und haben sich als Serviceorganisation angeboten. Ich habe eine Lösung erwartet. Jetzt haben Sie aber wieder keine Lösung angeboten.
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– Es geht darum, eine Lösung für die von Ihnen beschriebenen Probleme zu finden. Aber die haben Sie gar nicht geliefert. Insofern erübrigt sich eine Antwort von mir.
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Nachdem dieses Missverständnis so weit geklärt ist, hat auch der Kollege Dr. Schick noch die Bitte um eine Kurzintervention.
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Da ich persönlich angesprochen worden bin, möchte ich darauf kurz reagieren. – Die Bilanz unter Peer Steinbrück in der Finanzkrise war so: Zwar sind nicht unmittelbar die Einlagen verloren gegangen, aber weil Deutschland viel schlechter als andere Staaten auf diese Krise vorbereitet war – das ist viel zu lange ignoriert worden; man hat nicht vorgesorgt; man hat kein Gesetz gemacht wie in Großbritannien –, ist die HRE-Rettung, die Rettung der Hypo Real Estate, viel teurer geworden, als sie hätte sein können. Weil unter Peer Steinbrück die Konditionen bei der Commerzbank falsch gesetzt worden sind, haben die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Milliarden verloren, die nie wieder reinkommen werden. Weil man unter Peer Steinbrück bei der IKB nicht aufgepasst hat, hat sie uns Milliarden gekostet; über 9 Milliarden Euro für die Bankenrettung. Das darf nicht wieder vorkommen.
Jetzt wird gesagt: Wir evaluieren nur, was zur Finanzmarktregulierung gemacht worden ist. – Angesichts der Tatsache, dass die großen Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten nach wie vor weitergehen, kann das doch nicht alles sein, was jetzt auf der Agenda eines SPD-Finanzministers steht.
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Der Punkt ist: Wenn man sich anschaut, was der ehemalige Goldman-Sachs-Chef in Deutschland, Jörg Kukies, gemacht hat, bevor er Staatssekretär wurde, dann stellt man fest, dass er sich genau mit den strukturierten Finanzprodukten beschäftigt hat, die wir in der Finanzkrise als Problem identifiziert haben,
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zum Beispiel mit Retail-Derivaten, also intransparenten Finanzprodukten, die Kleinanlegern in Deutschland reihenweise ins Portfolio gedrückt werden. Genau das hat er gemacht. Deswegen ist meine Frage: Wird das eine Finanzpolitik für die kleinen Leute, für die Menschen, die ehrlich ihr Geld verdienen, oder wird das eine Finanzpolitik für Zocker? Ich habe da große Sorge.
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Herr Kollege Binding.
Im Zuge einer Krise springt man manchmal zu kurz, weil man nur ans Geld denkt. Der größte Krisenlösungsmechanismus, der das nachfolgende Wachstum gesichert hat, das bis heute anhält, war das Kurzarbeitergeld. Daran merkt man, dass Kosten nicht nur entstehen, wenn man an Banken denkt. Kosten entstehen auch, wenn man an Menschen denkt, zum Beispiel an ihre Beschäftigung. Das ist das Wesentliche.
({0})
Die HRE zu retten, fand ich richtig. Das haben wir hier alle gemeinsam vor dem Hintergrund des Pfandbriefs beschlossen. Das war der eigentliche Grund, warum es wichtig war, die HRE zu retten. Es ging dabei gar nicht um die Bank. Wenn von Bankenrettung geredet wird, werden meist die Sparer, die Einleger vergessen; aber um die geht es.
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Es geht darum, dass die Kreditnehmer nicht in Konkurs gehen, die Sparer nicht ihr Geld verlieren.
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– Ja, aber manchmal hilft es, teuer zu helfen, wenn man damit möglicherweise den Tod vermeidet. Insofern ist es sehr klug, das so zu machen.
Eine Sache stimmt; aber darum haben wir uns doch gemeinsam gekümmert: Die IKB hatte deshalb ein Problem, weil sie im Ausland Dinge getan hat, die in Deutschland gar nicht erlaubt gewesen wären. Die Geschäfte mit tranchierten Verbriefungen sind in Irland erfolgt; das wäre in der Form in Deutschland gar nicht möglich gewesen. Genau das war das Problem. Wir hatten die BaFin eingeladen; aber die hat uns erklärt: Wir können alles prüfen, aber nur bis zur Grenze der deutschen Jurisdiktion. Wir können nicht in Irland prüfen. – Das war der Hintergrund. Darum haben wir uns jetzt gekümmert. Insofern ist der Einwand einfach nur falsch.
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Danke sehr. – Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter von der AfD.
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Vielen Dank. – Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse die Debatte einmal so zusammen: Die Koalition wird vom Falschen mehr und vom Richtigen nichts tun. Was die Menschen in Deutschland bräuchten, wäre eine Entlastung. 54,5 Prozent der Einkünfte entfallen auf Steuern und Abgaben. Herr Binding, die werden schon noch in Deutschland erwirkt und eingenommen. Erklären Sie einmal einem Kind, das einen Apfel pflückt: Von dem Apfel darfst du nur die Hälfte essen; den Rest müssen wir umverteilen. – Das Kind weint dann und sagt: Mutti, das ist unfair. – Ich sage Ihnen: Ja, das ist unfair, und es ist vor allem auch ökonomisch nicht sinnvoll.
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Steuern bremsen die Wirtschaft und machen die Menschen insgesamt ärmer. Deswegen gilt bei Steuern generell: Weniger ist mehr. Wenn Sie schon das Geld der Bürger ausgeben, dann brauchen Sie dafür nicht irgendeinen Grund, sondern einen verdammt guten Grund. Diese verdammt guten Gründe liegen bei der Europäischen Union wirklich nicht vor.
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Die EU hat einen deutlichen Hang zur Umverteilung. Deswegen bedeutet EU schon lange nicht mehr Europäische Union bzw. europäischer Zusammenhalt. EU bedeutet vielmehr europaweite Umverteilung. Das kleidet sich dann in Namen wie Agrarsubventionen, Kohäsionsfonds, ESF, Wirtschafts- und Währungsunion oder Bankenunion. Es werden fragwürdige Projekte in allen Bereichen finanziert, die reichlich obskur sind und Ihnen in der Koalition sehr viel Geld wert sind.
Ich möchte als Vergleich Ihre Position zur Familienpolitik bzw. das, was Sie als Familienpolitik bezeichnen, heranziehen. Dafür möchten Sie im Schnitt 2,5 Milliarden Euro mehr pro Jahr ausgeben. Von 2017 bis 2018 kostet uns die Europäische Union allein 6 Milliarden Euro mehr im Bundeshaushalt. Ab 2021 wird auch noch Günther Oettinger mit seinem mehrjährigen Finanzrahmen kommen, der letztendlich aufgebläht wird. Die Briten sind dann weg, und das ist Grund genug für die Europäische Kommission, zu sagen: Jetzt vertiefen wir unsere Zusammenarbeit, machen weitere Subventionsprojekte und auch weitere Umverteilung. Wir blähen den EU-Haushalt noch einmal um 20 Prozent auf. Die Deutschen tragen davon sowieso ein Viertel bis zu einem Drittel. – Es werden Kosten in Milliardenhöhe auf uns zukommen, die deutlich die Mittel übersteigen, die Sie als Kernprogrammatik in Ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, nämlich zur Förderung von Familie und Bildung. Da ist in der EU deutlich mehr zu leisten.
Herr Minister Scholz, wenn Sie sich an dieses Rednerpult stellen und sagen: „Na ja, geben wir jetzt einmal etwas mehr; vielleicht wird es am Ende nicht so viel“, dann sage ich Ihnen ganz ehrlich: Deutschlands größtes Problem ist Ihre grenzenlose Naivität.
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Diese Naivität zeigt sich auch im Bereich des Euro, diesem ideologischen Projekt, für das es bereits deutliche Synonyme gibt: EFSF, ESM, EWF, TARGET2. Das alles sind Abkürzungen dafür, dass Deutschland faktisch zu zahlen hat oder für Schulden bürgt und Geld nicht wiederbekommt. Deutschland haftet für fast 400 Milliarden Euro in Form von Kreditabsicherungen für Pleitestaaten. Das ist mehr als ein Bundeshaushalt. Der deutsche TARGET2-Saldo liegt bei fast 914 Milliarden Euro. Das sind fast drei Bundeshaushalte. Ich frage Sie, Herr Scholz: Glauben Sie ehrlich, dass Sie dieses Geld wiedersehen? Die Bürgschaften werden doch fällig werden. Spätestens dann gehört zur Wahrheit, dass Sie Ihre vielen Versprechungen nicht halten können. Italiens Schuldenstand ist schon jetzt auf 2,3 Billionen Euro gestiegen; das sind 133 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das System wird Ihnen um die Ohren fliegen, und dann lässt sich nichts, absolut nichts von dem halten, was Sie versprochen haben.
Geben Sie doch endlich zu: Die Europäische Union untergräbt, so wie sie ausgestaltet ist, die europäische Idee der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts. Dieser Euro gefährdet Europa. Und eine deutsche Politik, die ihn stützt, gefährdet Deutschland. Hören Sie auf damit! Bitte!
Danke.
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Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen, Dr. Hans Michelbach! Er ist der nächste Redner in der Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen!
Ein neuer Aufbruch für Europa
Eine neue Dynamik für Deutschland
Ein neuer Zusammenhalt für unser Land
Diese Überschrift des Koalitionsvertrags von CDU, CSU und SPD ist eine große Verpflichtung. Auch und gerade die Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik müssen dazu einen aktiven Beitrag leisten. Deshalb steht diese Koalition zu einem Haushalt ohne neue Schulden und zu einer Politik der finanziellen Stabilität und Solidität. Daran festzuhalten, war uns ein wichtiges gemeinsames Anliegen.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass diese Stabilitätspolitik der einzig richtige Weg für unser Land ist.
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2014 hat die Bundesregierung unter Führung von CDU und CSU nach mehr als 50 Jahren erstmals wieder einen Etat ohne Nettoneuverschuldung erreicht. Seither steht die schwarze Null. Das hat zu mehr Wachstum und Beschäftigung beigetragen und Gestaltungsspielräume für morgen eröffnet. Wir haben jetzt eine neue Zukunftschance, neue Kraft für neue Investitionen und neue Erfolge für unser Land. Das ist die Ausgangslage.
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Wir wollen diese Gestaltungsspielräume in den nächsten vier Jahren erhalten, intelligent nutzen und in die Zukunft tragen. Deshalb gilt es, zügig an die Arbeit zu gehen. Dabei gilt für uns der Grundsatz: Leistung muss sich lohnen; Erwirtschaften kommt vor dem Ausgeben. – Das sind Prinzipien, die wir einhalten werden, meine Damen und Herren.
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An erster Stelle müssen aus meiner Sicht jene Maßnahmen stehen, die die Wirtschaftskraft stärken, vor allem unseren Mittelstand als Motor von Wachstum, beruflicher Ausbildung und Beschäftigung. Dazu gehört der flächendeckende Ausbau des Glasfasernetzes für schnelles Internet vor allem in den ländlichen Räumen. Dazu gehören die Förderung der energetischen Gebäudesanierung, die degressive AfA beim Wohnungsbau, die Förderung des Wohneigentums für junge Familien mit dem Baukindergeld und die steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen. Diese Investitionen brauchen wir möglichst schnell.
Wir brauchen aber auch eine aktive Steuerpolitik. Das Thema Steuervereinfachung muss auf der Agenda bleiben. Ein ganzheitliches Soli-Abschaffungsgesetz halte ich im Hinblick auf das Vertrauen der Bürger in die Politik nach wie vor für wichtig. Wir brauchen eine Initiative für eine wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung. Wir müssen die heimlichen Steuererhöhungen durch die kalte Progression mit einer regelmäßigen Anpassung des Einkommensteuertarifs stoppen. Wir müssen die Steuervermeidungsstrategien internationaler Konzerne und den Umsatzsteuerbetrug beim Internethandel bekämpfen, um Wettbewerbsverzerrungen insbesondere für unsere mittelständische Wirtschaft zu verhindern.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht nur im eigenen Land stehen wir vor großen Herausforderungen. Große Herausforderungen warten auch in der Europäischen Union, und das nicht nur wegen des Brexit oder der Strafzollpolitik der USA. Wir stehen vor der großen Frage, wie wir die Zukunft der Europäischen Union gestalten. Der französische Präsident Macron hat dazu einen Plan unterbreitet. Auch acht nördliche EU-Staaten haben sich unter Führung der Niederlande dazu deutlich positioniert. Wir müssen alle Vorschläge zur Zukunft der Gemeinschaft einer sehr genauen Prüfung unterziehen, und da tut sich ein großes Spannungsfeld auf. Dazu müssen wir unsere Gesellschaft, unsere Bürger mitnehmen. Europa darf nicht zu einer Umverteilungsmaschine werden.
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Wir müssen hier Antworten finden, mit denen wir unsere Interessen wahren. Ein Europäischer Währungsfonds ist schön und gut, aber wir sollten zunächst darüber nachdenken, die regulatorische Behandlung von Staatsanleihen durchzusetzen.
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Wie steht es um die gemeinsame Einlagensicherung? Verhandlungen darüber sollte es aus meiner Sicht erst geben, wenn eine erfolgreiche und nachhaltige Risikoreduzierung gesichert ist. In den Banken, vor allem in Südeuropa, schlummern faule Kredite mit einem Volumen in Höhe von mindestens 1 000 Milliarden Euro. Dafür dürfen unsere Steuerzahler und Sparer nicht in Haftung genommen werden, meine Damen und Herren.
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Natürlich wollen wir, dass die Europäische Union funktioniert, aber einen einseitigen Weg in die Schulden- und Haftungsunion können wir nicht akzeptieren.
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Wir werden sehr selbstbewusst darauf achten, dass dies nicht geschieht.
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Eigenverantwortung und Subsidiarität müssen in der Europäischen Union weiter gelten. Bestehende Verträge und Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Da kann und darf es keinen Sonderrabatt geben. Für die Zukunft der Europäischen Union ist es gut, wenn der deutsch-französische Motor läuft. Wir brauchen aber auch die nördlichen EU-Staaten als kräftigen Turbo.
Wie Sie sehen, haben wir in der neuen Legislaturperiode genügend schwierige Aufgaben im Bereich der Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik vor uns. Die Koalition aus CDU, CSU und SPD wird diese Aufgaben aktiv angehen. Gefragt sind selbstbewusste und unabhängige Bundestagsfraktionen. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen ein, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung genau zu prüfen, eigene Initiativen zu starten und eine aktive Debatte zum Wohle unserer Menschen voranzubringen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Michelbach. – Nächster Redner in der Debatte: Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
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Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Michelbach, wie schlimm es schon jetzt um die Koalition in Finanz- und Haushaltssachen steht, können Sie erkennen, wenn Sie sich einfach einmal anschauen, wie die Reaktion der SPD auf Ihre Rede waren: kein einziger Applaus, noch nicht einmal, als die Rede zu Ende war.
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Das zeigt, worauf wir uns in den nächsten Jahren bei dieser Koalition einstellen können.
Herr Minister, Sie werden von mir eher etwas zu Haushaltsaspekten hören. In der FDP werden Sie in den nächsten Jahren eine kritische, aber offene Begleitung finden, und bei jedem guten, konkreten Sparvorschlag, den Sie machen, werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
Aber wir lassen Sie nicht durchkommen mit Ihren Aussagen zur schwarzen Null. Eine schwarze Null ist ja per se gut; da sind wir uns wahrscheinlich alle einig. Das hört sich schon einmal ganz gut an. Aber das ist noch nicht einmal Pflicht. Ich habe nachgerechnet – der Kollege Rehberg tut das inzwischen auch und stellt langsam fest, dass es stimmt –:
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Die Ausgaben der letzten Koalition betrugen ausweislich der Zahlen ihres Hauses 1,25 Billionen Euro. Die bisher geplanten Ausgaben für die kommenden vier Jahre – Ihre Finanzjahre – belaufen sich auf 1,4 Billionen Euro, und Sie sagen, dass noch einmal 45 Milliarden Euro dazukommen. Das heißt: Sie werden in den nächsten vier Jahren etwa 200 Milliarden Euro mehr ausgeben. Wenn Sie mit 200 Milliarden Euro mehr in vier Jahren keine schwarze Null erreichen, ja wann denn dann? Das ist keine Leistung. Das ist nur eine Darstellung dessen, was das absolute Minimum in diesem Land ist.
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Wir sollten ehrlich sein. Sie haben beim Thema Europa sehr geschickt gesagt: Wir nennen keine konkreten Zahlen. – Aber Sie wissen, dass es etwas kostet. Sie haben gesagt: In der Finanzplanung ist das nicht drin. – Das kann man auch noch sagen. Wie viel es sein wird, was an zusätzlichen Belastungen kommen wird, wie viel dieses Land wo auch immer zusätzlich bezahlen wird, werden wir erst im Laufe der Verhandlungen hören, wahrscheinlich an irgendeinem Morgen nach einer Nachtsitzung.
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Wenn Sie sagen, Sie würden den Europäischen Währungsfonds, wie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht, weiterhin nach europäischem Recht haben wollen – übrigens nach meiner Meinung nur, um die Letztabsicherung der Banken einzubeziehen –, dann müssen Sie doch diesem Haus und der Bevölkerung ehrlich sagen: Steht zwar drin, geht aber gar nicht. – Denn für eine Vertragsänderung – nur so bekommen Sie sie hin – brauchen Sie ausweislich der Aussagen Ihres Hauses im Haushaltsausschuss alle Mitgliedsländer. Spätestens nach den Aussagen von Herrn Rutte, spätestens nach dem, was die acht Länder gesagt haben, wissen Sie doch, dass das nicht funktionieren wird.
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Das Parlament und die Öffentlichkeit hinter diese Fichte zu führen, ist zwar nett, gehört sich aber eigentlich nicht.
Was ich von Ihnen erwartet hätte, wäre, dass Sie nicht nur präzise sind bei der Frage, wo Sie beim Sozialstaat die Quote weiter erhöhen wollen, sondern dass Sie auch einmal sagen, wo Sie bei den Subventionen oder der Privatisierung herangehen. Können Sie mir erklären, warum die Bundesrepublik Deutschland ein Telekommunikationsunternehmen haben muss, warum sie ein Post- bzw. Transportunternehmen haben muss? Können Sie mir sagen, warum die Bundesrepublik Deutschland Eigentümer von Flughäfen sein muss, oder können Sie mir sagen, warum die Bundesrepublik Deutschland noch Eigentümer der Commerzbank sein muss? Dazu habe ich nichts gehört. Es wird im Zweifel auch nichts kommen, weil Sie an der Stelle lieber Staatsvermögen haben wollen.
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Herr Minister, das Problem, das wir in Bezug auf den Haushalt haben, ist, dass es ein atypischer Bereich der Politik ist. Ich bitte Sie: Schauen Sie einmal auf die Regierungsbank zu Ihren vermeintlichen Freunden; ich denke jetzt nicht ans Abendmahl. Das sind diejenigen, die in den nächsten Jahren regelmäßig an Ihren Beinkleidern zupfen werden und mehr Geld haben wollen. Es wird Ihre Aufgabe sein – atypisch für einen Politiker –, nicht immer zu sagen: „Ja, das bekommst du“, sondern zu sagen: Nein, das können wir uns nicht leisten. Nein, das wäre unverantwortlich gegenüber der Zukunft. Nein, das wäre unverantwortlich gegenüber den Enkeln von Herrn Rehberg. Nein, das machen wir nicht, weil wir Verantwortung für die Zukunft zeigen.
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Wenn Sie das tun, dann werden Sie ein erfolgreicher Minister, nicht aber mit dem, was Sie heute gesagt haben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Otto Fricke. – Nächster Redner in der Debatte: Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren, insbesondere auf der Zuschauertribüne! Ich will jetzt wegkommen von Europa, von den Ausgaben. Ich möchte mich einmal der Einnahmeseite zuwenden, nämlich der Steuerpolitik; denn ohne Steuereinnahmen kann all das, was hier besprochen wird, gar nicht gestaltet werden. Der Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 enthält auf seinen 177 Seiten dazu eine ganze Menge. Mancher würde sich ein wenig mehr wünschen. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir zu dem, was nicht geregelt ist – so habe ich die Bundeskanzlerin in der Regierungserklärung verstanden –, noch einmal in die Diskussion eintreten, gerade wenn von außen Zwänge kommen und wir reagieren müssen.
Der Bundesfinanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir hohe Steuereinnahmen haben. Sie wachsen nach dem Arbeitskreis Steuerschätzung weiterhin. Grundlage sind ein solides Wachstum – inzwischen über elf Jahre – und eine hohe Beschäftigung in Deutschland. Aber das Ganze ist natürlich kein Selbstzweck. Wir müssen schauen, dass das so bleibt.
Wir haben – das finde ich wichtig als Kernaussage – im Koalitionsvertrag geregelt, dass es keine weitere bzw. höhere Steuerbelastung für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande geben soll. Das haben wir bereits vor vier Jahren im Koalitionsvertrag festgelegt und – man höre und staune – auch eingehalten. Wir haben sogar entlastet. Über 25 Milliarden Euro haben wir insbesondere Familien über ein erhöhtes Kindergeld und einen höheren Kinderfreibetrag zur Verfügung gestellt; aber auch den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, den man nicht gering schätzen sollte, haben wir erhöht.
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Im Koalitionsvertrag sind prioritäre Maßnahmen enthalten; das ist heute mehrfach angesprochen worden. Wir haben uns eine Erhöhung des Kindergeldes um 300 Euro pro Jahr vorgenommen, was bis 2021 ungefähr 3,5 Milliarden Euro kosten wird. Wir haben die Einführung eines Baukindergeldes in Höhe von 1 200 Euro pro Kind und Jahr über zehn Jahre beschlossen für einen Neubau, aber auch einen Erwerb, weil wir wollen, dass die Wohneigentumsquote bei Familien weiter steigt. Daher ist es auch richtig, zu prüfen, ob wir den Ersterwerb grunderwerbsteuerfrei stellen können; die Grunderwerbsteuer ist mittlerweile zu einer hohen Belastung geworden, da die Steuersätze bis zu 6,5 Prozent betragen.
Wir haben auch die Abschaffung des Solidaritätszuschlages vereinbart. Darüber haben wir hier in der letzten Woche schon heftig diskutiert, auch heute ansatzweise. In der ersten Phase sollen 90 Prozent der Soli-Zahler entlastet werden. Das heißt logischerweise, dass 10 Prozent zunächst nicht entlastet werden. Darüber werden wir diskutieren müssen. Wir werden auch zügig darstellen müssen, wie die zweite Phase dieses Abbaupfades aussehen wird, insbesondere weil wir eine Lösung für unsere Kapitalgesellschaften brauchen; denn der Solidaritätszuschlag wird auch auf die Körperschaftsteuer erhoben, gilt also auch für kleine GmbHs. Wir brauchen hier ein Signal, wie wir sie entlasten.
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Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens wichtig ist und über den wir schon oft diskutiert haben – er war auch schon im letzten Koalitionsvertrag enthalten; aber wir hatten nicht die Kraft, ihn umzusetzen –, ist die steuerliche Forschungsförderung. Ich glaube, es ist richtig, dass wir vereinbart haben, dass wir eine volumenorientierte steuerliche Forschungsförderung wollen, ausgerichtet an den Personalkosten für FuE oder an den Auftragskosten, etwa in Höhe von 10 Prozent. Wir sollten noch einmal in diese Diskussion einsteigen. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Forschungsförderung insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen wollen. Ich glaube, es lohnt, zu schauen, ob wir uns das nicht für die ganze Wirtschaft leisten können und sollten, vielleicht auch mit einer Deckelung bei größeren Unternehmen mit Blick auf die Personalkosten. Ich glaube, für den Standort Deutschland wäre es insgesamt gut, eine steuerliche Forschungsförderung in voller Breite zu haben.
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Wir werden auch beim Bürokratieabbau noch einiges leisten. Wir haben zum Beispiel vorgesehen, dass Gründungsunternehmen von Bürokratie entlastet werden, indem sie in den ersten zwei Jahren keine Umsatzsteuervoranmeldung abgeben müssen. Für den Bürger wollen wir bis zum Jahr 2021 eine vorausgefüllte Steuererklärung schaffen. In der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens schon einiges erreicht. Die Steuerpflichtigen können jetzt ihre Steuererklärung ohne lästige Belege einreichen; nur auf Nachfrage muss der Beleg nachgereicht werden.
Wenn wir einen Blick auf die Steuerpolitik der letzten Legislaturperiode werfen, fällt auf, dass sie sehr geprägt war von Maßnahmen gegen Steuermissbrauch und aggressive Steuergestaltung, und das völlig zu Recht. Wir haben viel geleistet, insbesondere Minister Schäuble, der den OECD-Prozess hinsichtlich des BEPS-Verfahrens eingeleitet hat, welches wir in Deutschland, wenn ich an die Lizenzschranke denke, schon teilweise umgesetzt haben. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht der beste OECD-Partner sind, der den BEPS-Prozess mit den 15 Aktionsplänen umsetzt, und andere Länder sich langsam in die Post-BEPS-Zeit bewegen und nichts umsetzen. Von daher brauchen wir auch Fairness. Alle, die sich dort beteiligt haben, müssen sich auch im Ergebnis weiter beteiligen.
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Wir haben in diesem Zusammenhang die Anzeigepflichten für ausländische Investitionen verschärft. Wir haben das berühmte Kassengesetz eingeführt, weil wir erlebt haben, dass es erhebliche Manipulationen von Registrierkassen gegeben hat.
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Wir haben schon eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Auch im Koalitionsvertrag sind die Punkte wieder adressiert: Steuerhinterziehung, Steuerbetrug, Steuervermeidung. Mir ist wichtig, zu sagen: Steuergestaltung ist erlaubt. Ich bin von Hause aus Steuerberater. Von daher ist es in gewisser Weise, damit ich mich keinen Haftungsansprüchen ausgesetzt sehe, mein Auftrag, Steuergestaltung zu machen, aber selbstverständlich im Rahmen, den wir als Gesetzgeber vorgeben.
Was Europa anbelangt, werden wir die ATAD-Richtlinie in deutsches Recht umsetzen müssen. Da müssen wir übrigens gar nicht so viel tun, weil wir in den entsprechenden Bereichen schon viel gemacht haben. Wir müssen bei der Umsetzung der ATAD-Richtlinie aber auch schauen, inwiefern wir Dinge zurückschrauben können; denn wir zielen in Deutschland manchmal über das Ziel hinaus. Wir sollten bei der Umsetzung europäischer Richtlinien nicht immer nur an Verschärfungen denken, sondern auch an Erleichterungen, die wir für unsere Unternehmen durchsetzen können.
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Meine Damen und Herren, bei allem ist weiterhin Augenmaß angesagt, damit wir keine Kollateralschäden in der Wirtschaft erzeugen. Wir sollten, weil einer sich falsch verhalten hat, nicht auch alle anderen bestrafen, wie es früher in der Schule passiert ist, sondern schauen, wie wir die Dinge zielgenau und effizient umsetzen können.
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– Ja? Gut, dann haben Sie Glück gehabt. Bei mir war es anders. Ich war aber nicht der eine.
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Aber das ist ein anderes Thema.
Wir werden uns auch, lieber Kollege Binding – das ist ein Punkt, der nicht im Koalitionsvertrag angesprochen ist –, über den internationalen Steuerwettbewerb unterhalten und darüber diskutieren müssen. Herr Minister, ich nehme an, da habe ich Sie an meiner Seite; denn wir können nicht einfach ausblenden, was da passiert. Man mag den „Race to the bottom“ – wie es so schön heißt – kritisieren und sagen: Wir wollen keinen Wettbewerb. – Aber wenn der Wettbewerb da ist, müssen wir uns ihm stellen, damit wir keine Arbeitsplätze und Investitionen in Deutschland verlieren. Wenn ich mich umschaue und sehe, dass der Steuersatz in den USA bei 21 Prozent plus lokale Steuern – in Texas übrigens 0 Prozent – liegt, in Frankreich bei 25 Prozent, in Belgien bei 25 Prozent, im Vereinigten Königreich bei 17 Prozent, dann ist klar, dass wir in Zukunft den höchsten Steuersatz aller führenden Industrieländer haben werden. Das ist ein Nachteil für den Standort Deutschland. Von daher werden wir hier handeln müssen, wie wir es übrigens 2008 schon einmal in einer Großen Koalition gemacht haben. Herr Steinbrück hatte es damals zu verantworten – das meine ich im positiven Sinne –, dass wir die Unternehmenssteuern um fast 10 Prozent gesenkt haben. Von daher könnte die Unternehmenssteuerreform 2008 ein gutes Beispiel dafür sein, wie wir den Standort Deutschland weiterentwickeln können.
Steuerpolitik – das ist mein Schlusswort, meine Damen und Herren – muss auch wieder Standortpolitik werden. Wir haben einen guten Standort. Damit es ein guter Standort bleibt, brauchen wir gute Voraussetzungen, um im Steuerwettbewerb bestehen zu können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Der letzte Redner in dieser Runde ist Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland geht es gut, und zwar so gut wie schon lange nicht mehr, und das ist kein Zufall. Es ist zum einen der soliden Finanz- und Haushaltspolitik und zum anderen der florierenden Wirtschaft zu verdanken, die von den fleißigen Menschen in diesem Land getragen wird. Wenn wir darüber sprechen, darf man auch erwähnen, dass auch die unionsgeführte Finanzpolitik der letzten Jahre dafür verantwortlich ist; denn es sind gerade die finanzpolitischen Mechanismen, die greifen und zu einer gesamtwirtschaftlichen Aufwärtsbewegung in Deutschland geführt haben.
Das geht auch aus der neuesten Prognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hervor. So wird hier prognostiziert, dass die deutsche Wirtschaft 2018 um 2,4 Prozent und 2019 um 1,9 Prozent wachsen wird. Damit fallen die Berechnungen der Konjunkturforscher um 0,2 und 0,3 Prozentpunkte höher aus, als noch im Dezember 2017 erwartet. Grund dafür sind nach Auffassung des DIW die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen, die dafür sorgen, dass gerade private Haushalte entlastet werden. Und was sagt uns das, meine sehr verehrten Damen und Herren? Wir müssen beginnen, sie umzusetzen.
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Unsere Absicht muss sein, dass der Wohlstand bei allen Menschen ankommt. Gleichzeitig sind wir uns aber einig, dass wir auch in der neuen Legislaturperiode einen ausgeglichenen Haushalt haben und keine neuen Schulden aufnehmen wollen. Wir wollen vielmehr investieren und verantwortungsvoll die finanziellen Spielräume des Finanzplans nutzen, die aufgrund der wirtschaftlichen Lage bestehen. Über die Ausgaben im Finanzplan hinaus wollen wir mit weiteren 46 Milliarden Euro die finanziellen Spielräume in den nächsten vier Jahren für die prioritären Bereiche und Aufgaben nutzen.
Wenn wir uns im Groben die Einzelprojekte anschauen, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, stellen wir fest, dass im Grunde genommen von sechs prioritären Bereichen die Rede ist: Investitionen in die Zukunft, in Bildung und Forschung; Familien, Kinder und Soziales; Bauen und Wohnen; gleichwertige Lebensverhältnisse, Landwirtschaft, Verkehr und Kommunen; internationale Verantwortung und die Entlastung der Bürger durch den geplanten Abbau des Solidaritätszuschlags.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, wir haben uns viel vorgenommen. Es wird auch eine Zeit der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Gerade die sollen beteiligt werden, die es teilweise schwer haben. Beim Thema Kinderarmut, Altersarmut, aber auch bei der Bekämpfung der kalten Progression zeigt der Koalitionsvertrag, dass wir die Themen aufnehmen und die Probleme lösen wollen.
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Der Union ist es daher wichtig, Anreize zu schaffen, Anreize wie das Baukindergeld, steuerliche Anreize für die Mobilisierung von Wagniskapital, Sonderabschreibungen für den Wohnungsbau, steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung oder auch, wie schon angesprochen, die schrittweise Abschaffung des Solidaritätszuschlages; auch wenn ich – da bin ich ehrlich – das gerne etwas schneller und umfangreicher gehabt hätte. Der Finanzrahmen lässt derzeit aber nicht mehr zu. Aber es muss in der Debatte über den Soli erlaubt sein, an die weiteren Abbauschritte zu denken. Das gehört meines Erachtens mit dazu.
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In den nächsten Jahren kommen neue Herausforderungen auf uns zu. Mit dem Ausstieg Großbritanniens muss unter anderem der mittelfristige Finanzrahmen neu geregelt werden. Das Defizit soll nach Aussage von EU-Haushaltskommissar Oettinger zu je 50 Prozent durch die Mitgliedstaaten und durch Kürzungen im EU-Haushalt gedeckt werden. Hier sollte zunächst erlaubt sein, darüber zu sprechen, wie effektiv die Mittel tatsächlich eingesetzt werden und wie eine entsprechende Gegenleistung der Nettoempfängerländer aussehen könnte.
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Genauso sollte Klarheit darüber bestehen, wie die 50‑prozentige Einsparung im EU-Haushalt aussehen könnte. Hier erwarte ich Klarheit und Transparenz.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zum Verordnungsentwurf der EU über die Errichtung des Europäischen Währungsfonds sagen. Eine Krise, wie wir sie in Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern 2010 erleben mussten, darf sich so nicht wiederholen. Dass die gemeinsame Installation des ESM absolut richtig gewesen ist, zeigen insbesondere die guten wirtschaftlichen Entwicklungen der genannten Länder. Dennoch ist es uns wichtig, dass wir mit der Weiterentwicklung des ESM zum EWF die Budgethoheit in den nationalen Parlamenten belassen, nein, die Budgethoheit muss sogar gestärkt werden.
Auch wird es mit uns keine Lockerung der Verschuldungspolitik mit unkonditionierten Mitteln aus der Gemeinschaft geben.
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Vielmehr sollte der EWF wie der IWF ein Mandat zur stetigen Überwachung der Länderrisiken bekommen und schon frühzeitig unterstützend zur Seite stehen, wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen. Dazu gehört für mich auch eine Einführung einer Insolvenzordnung für Staaten; denn damit kann verhindert werden, dass Staaten, die über keine tragfähige Schuldenlast verfügen, künstlich mit Gemeinschaftsmitteln am Leben gehalten werden.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Unser Wille muss sein, die Belastungen für die künftigen Generationen in allen Haushalten auf Bundes- und Landesebene zu reduzieren. Deshalb ist es erfreulich, dass der Bund seit 2014 keine Nettoneuverschuldung mehr macht. Ich würde mir aber dennoch wünschen, dass wir in diesen guten Jahren auch darüber diskutieren, ob wir die Schuldenbelastung in unserem Land einmal abbauen können. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
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Das tun wir aber bitte jetzt nicht mehr. Kommen Sie bitte zum Ende Ihrer Rede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank für Ihren Hinweis.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Danke schön, Herr Rainer, auch für die prompte Reaktion. – Damit sind wir am Ende der Aussprache zum Bereich Finanzen und Haushalt. Es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In wenigen Stunden werden wir wissen, wie die endgültige Entscheidung der amerikanischen Regierung zu den angekündigten Zöllen auf Stahl und Aluminium ausgegangen ist, wer davon ausgenommen wird, wie die Einzelheiten der Umsetzung sind. Es ist nicht nur eine Einzelmaßnahme, die sich auf zwei Produkte unter vielen auf dem Weltmarkt bezieht; es ist vielmehr eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, ob wir alle dafür stehen, dass wir auch in Zukunft offene und faire Weltmärkte wollen, dass wir wollen, dass diejenigen zum Zug und zum Erfolg kommen, die ohne Subventionen, ohne Dumpingpreise ihre Waren produzieren und weltweit dafür Abnehmer finden.
Weil ich mich als Wirtschaftsminister den Arbeitsplätzen der Kumpel in der deutschen Stahl- und Aluminiumindustrie genauso verpflichtet fühle wie in allen anderen Bereichen, bin ich in dieser Woche nach Washington gereist. Ich habe dort Gesprächspartner gefunden, die für unsere Argumente offen waren. Ich habe gemeinsam mit der Kommissarin Cecilia Malmström dafür geworben, dass wir Europäer und die US-Amerikaner beieinanderbleiben. Egal wie diese Entscheidung ausgeht, ich werde auch künftig für diese Prinzipien werben. Ich bleibe ein überzeugter Anhänger der Ansicht, dass in einer globalisierten, in einer sich ständig ändernden Welt die USA und Europa viel mehr gemeinsam haben als das, was sie trennt. Deshalb sollten wir an dieser deutsch-amerikanischen, an dieser europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit arbeiten im Rahmen eines freien und offenen Welthandels, der allen zugutekommt.
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Sehr geehrter Herr Kollege Olaf Scholz, ich stimme Ihnen ausdrücklich in dem zu, was Sie dazu gesagt haben, wie unser Land dasteht. Das betrifft den langjährigen Aufschwung, die vielen neuen Arbeitsplätze. Als Wirtschaftsminister füge ich hinzu: Die Bundesregierung ist sich einig, dass wir auch in diesem Jahr kräftig steigende Löhne und Renten, sehr viele neue Arbeitsplätze, eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein eindrucksvolles Wirtschaftswachstum zu erwarten haben.
Aber, meine Damen und Herren, die Geschichte ist auch voll von Beispielen Länder und Unternehmen betreffend, die sich auf dem Gipfel ihres Erfolges ausgeruht haben und die die Gefahren, die um die nächste Ecke kamen, nicht gesehen oder geringgeschätzt haben. Es gibt die Anekdote über ein großes Musikunternehmen, das die höchste Zahl an verkauften Musik-CDs in seiner Geschichte bei einem Sektempfang mit Häppchen gefeiert hat, aber nicht bemerkt hat, dass bereits Patente angemeldet waren, die den Musikmarkt völlig verändern und völlig neu aufstellen sollten. Deshalb muss das Anliegen einer vernünftigen, einer guten Wirtschaftspolitik darin bestehen, dass wir erkennen: Wir können alles erreichen – wir haben auch vieles erreicht –, aber nichts ist automatisch und dauerhaft gesichert oder selbstverständlich. Alles muss errungen werden, jeden Monat, jede Woche und jeden Tag.
Wir verdanken unsere heutige gute Situation selbstverständlich dem Fleiß unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unseren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und dem sozialen Frieden, um den die Sozialpartner hart ringen. Aber wir verdanken den einzigartigen Erfolg von 70 Jahren deutscher Nachkriegspolitik im Hinblick auf Wohlstand und Wachstum vor allen Dingen auch der sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist ein deutsches Erfolgsmodell, das wir in der Mitte Europas gemeinsam mit anderen Ländern entwickelt haben. Diese soziale Marktwirtschaft besteht aus mehreren Elementen, die man gleichermaßen ernst nehmen muss.
Zunächst einmal geht es um den Markt. Ich sehe kein anderes Modell, das so sorgfältig und so zuverlässig funktioniert und sicherstellt, dass diejenigen zum Zuge kommen, die mit den geringsten Kosten die besten Produkte produzieren. Kein anderes Modell war so erfolgreich.
({1})
Seit dem Fall der Mauer, seit dem Ende des Kalten Krieges sehen wir einen unerhörten Siegeslauf der Marktwirtschaft rund um den Globus: in China,
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in Asien, ja, sogar, trotz aller Rückschläge, die wir in der Außen- und Verteidigungspolitik beklagen, in Russland, jetzt auch in Kuba, und es dämmert offenbar sogar einigen in Nordkorea.
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Der einzige Platz auf dieser Welt, wo der demokratische Sozialismus noch sicheres Asyl findet, ist derzeit das Grundsatzprogramm der Linkspartei.
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Deshalb sage ich: Meine sehr verehrten Damen und Herren, sollte der Finanzminister am Ende des Jahres einige Millionen übrig haben, würde ich Ihnen gerne ein Freilichtmuseum „100 Jahre gescheiterter realer Sozialismus“ spendieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Ideen in Zukunft eine Chance haben.
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Wichtig für die soziale Marktwirtschaft ist auch das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Rahmenbedingungen. Unsere Mittelständler, diejenigen, die Arbeitsplätze schaffen, wollen keine neuen Subventionen, sie wollen keine überbordenden Hilfen durch den Staat; aber sie wollen sich darauf verlassen können, dass die Investitionen, die sie heute tätigen, auch noch in 10 oder 15 Jahren ein gutes Umfeld finden, dass sie keine Projekte in den Sand setzen, weil sich die Rahmenbedingungen zwei oder drei Jahre später ändern.
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Deshalb sage ich: Meine Damen und Herren, manchmal muss man auch als Wirtschaftsminister den Mut haben, weniger zu tun oder vielleicht auch gar nichts zu tun, und darauf verzichten, jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf zu treiben. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Verlässlichkeit von Rahmenbedingungen seit den Zeiten von Ludwig Erhard eine Erfolgsgarantie für die Zukunft ist.
({7})
Deshalb mache ich Ihnen allen ein Angebot. Die soziale Marktwirtschaft war ursprünglich eine Erfindung von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, von CDU und CSU. Sie wurde aber auch getragen von den Kolleginnen und Kollegen der FDP. Die SPD hat sich mit dem Godesberger Programm Anfang der 60er-Jahre dieser kleinen Gruppe angeschlossen. Die Grünen, lieber Jürgen Trittin, haben sich in den 90er-Jahren angeschlossen, als wir in der schwarz-grünen Pizza-Connection waren und uns damals gefreut haben, dass es auch einigen von Ihnen dämmerte.
({8})
– Na ja, er war nie da, wenn die Kameras da waren;
({9})
aber damit sympathisiert hat er schon ab und zu. Das kann ich sagen. Also: Willkommen im Klub!
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Als wir die Möglichkeiten für eine Jamaika-Koalition sondiert und darüber verhandelt haben, als wir mit der FDP und den Grünen und später mit der SPD gesprochen haben, da war die schwarze Null, da war der Verzicht auf Steuererhöhungen, da war die Bereitschaft zu klaren Rahmenbedingungen überall verlässlich erkennbar. Warum sollten wir in den nächsten Monaten jenseits von Koalitionsabsprachen, die alle vier Jahre neu getroffen werden, nicht einen größeren Konsens im Sinne einer Charta der sozialen Marktwirtschaft hinbekommen, der über viele Legislaturperioden trägt und deutlich macht, dass Deutschland die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen wird?
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch die soziale Teilhabe möglichst aller. Das bedeutet, dass diejenigen, die die Wertschöpfung geschaffen haben, dass diejenigen, die aus eigener Kraft weniger leistungsfähig sind als andere, die Möglichkeit haben müssen, an den Früchten dieser Marktwirtschaft teilzuhaben. Wenn es darum geht, dass wir als Koalition, sehr geehrter Herr Kollege Scholz, mit dem Geld des Bundesfinanzministers, das aus Steuereinnahmen entsteht, das Kindergeld erhöhen, mehr Wohnungen schaffen und dafür sorgen, dass junge Menschen eine gute Bildung haben, dann ist das, meine Damen und Herren von der AfD, keine Umverteilung, sondern die gerechte Teilhabe aller an den Früchten der gemeinsamen Arbeit. Das ist soziale Marktwirtschaft. Sie haben Ludwig Erhard nicht wirklich verstanden.
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Meine Damen und Herren, zur Marktwirtschaft gehören auch Zuversicht und Stolz auf das, was man erreicht hat, sowie die Bereitschaft, sich vor diejenigen zu stellen, die dies erreicht haben und jeden Tag erarbeiten. Deshalb glaube ich, wir müssen den Menschen auch sagen: Wenn ihr euch betätigt, wenn ihr nicht auf einen sicheren lebenslangen Arbeitsplatz setzt, wenn ihr bereit seid, etwas zu riskieren, wenn ihr bereit seid, für andere zu arbeiten, dann seid ihr nicht irgendwelche bösen Kapitalisten oder Egoisten. Ein junger Mensch, der – neben seinem Beruf, neben seiner Familie – seinen Meisterbrief macht, der dann vielleicht sein Haus und das seiner Eltern aufs Spiel setzt, um ein Unternehmen aufbauen zu können, und der dann zwei oder drei Arbeitsplätze und zwei oder drei Ausbildungsplätze schafft: Das ist kein Kapitalist, sondern jemand, der einen Beitrag zum Allgemeinwohl unseres Landes leistet. Das müssen wir viel stärker anerkennen, als dies in der Vergangenheit manchmal der Fall war.
({13})
Meine Damen und Herren, Ludwig Erhard war unvergleichbar, und er ist uneinholbar. Ich würde niemandem von uns allen raten, sich mit ihm zu vergleichen. Aber das, was er geleistet und geschaffen hat, ist für uns ein Auftrag: dass wir die Marktwirtschaft in Deutschland stabilisieren, dass wir ihr eine Renaissance ermöglichen und dass wir sie zu einem weltweiten Erfolgsschlager machen, zu einem Exportartikel Made in Germany. Ich bin überzeugt, gemeinsam mit Gerd Müller, meinem Kollegen aus dem BMZ, dass eine stabile Weltordnung auf Dauer nur funktionieren kann, wenn sie nicht nur auf der Marktwirtschaft basiert, die den größten Mehrwert garantiert, sondern auch gerecht und sozial ist – auch in Bangladesch, in Pakistan und vielen anderen Schwellenländern auf dieser Welt.
({14})
Wenn wir die Zukunft gewinnen wollen, dann dürfen wir den Mittelstand nicht verlieren. Neben der Marktwirtschaft ist der Mittelstand der große Träger unseres Wohlstands und unseres Erfolgs. Deshalb – willkommen im Klub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP; Sie wollen ja eine „Serviceopposition“ sein –: Ich verstehe das BMWi künftig in allererster Linie als Mittelstandsministerium.
({15})
Wir wollen ein Serviceministerium für all die vielen Unternehmerinnen und Unternehmer sein, die manchmal eine Auskunft und Hilfe brauchen, wenn sie sich weltweit um Aufträge bemühen. Wir müssen jeden Einzelnen unterstützen und dürfen nicht nur schöne Reden halten.
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Zum Schluss, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Digitalisierung ist ein Beispiel für Innovation – nicht das einzige. Wir entscheiden nicht darüber, ob neue Möglichkeiten der Datenübertragung und Datenverarbeitung zum Einsatz kommen. Wir entscheiden nicht darüber, wann selbstfahrende Autos fertig sind, so wenig wie wir über Smartphones, Computer, Tablets und anderes entschieden haben. Wir haben aber ein Interesse daran, dass die Arbeitsplätze, die durch die Digitalisierung nicht mehr gebraucht werden, die in Deutschland, in Frankreich, in Europa wegfallen, ersetzt werden – nicht durch Arbeitsplätze in den USA, in China und in Indien, sondern durch Arbeitsplätze, die in Europa, in Deutschland, in Nordrhein-Westfalen, in den neuen Bundesländern, im Saarland neu entstehen. Das muss unser Ziel sein: dass wir in der Digitalisierung genauso erfolgreich werden, wie wir es im Maschinenbau und bei den pharmazeutischen und Gesundheitseinrichtungen, der optischen Industrie und in vielen anderen Fällen waren.
Wir haben in der Bundesregierung eine breite Zuständigkeit für die Digitalisierung – weiß Gott nicht nur beim Bundeswirtschaftsminister. Aber es ist doch keine schlechte Sache, wenn sich viele für einen Erfolg verantwortlich fühlen können. Lassen Sie uns bei der Digitalisierung nicht immer und in erster Linie nur die Risiken und die Probleme erörtern! Lassen Sie uns die Menschen unterstützen, die die Chancen sehen und die Chancen ergreifen wollen!
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben uns vorgenommen, bis 2025 Vollbeschäftigung zu erreichen und damit den Wohlstand noch mehr Menschen zugutekommen zu lassen als bisher. Wir wollen diejenigen unterstützen, die weltweit Beschäftigung und Wohlstand schaffen wollen. Aber das wird nur gehen, wenn unser Wachstum auch nachhaltig ist, wenn wir unser Klima schützen, wenn wir dafür sorgen, dass die Energiewende gelingt. Ich glaube, da sind wir uns in diesem Haus einig. Aber die Energiewende wird nur gelingen, wenn sie nicht nach dem Motto „Koste es, was es wolle“ angegangen wird, sondern wenn wir am Ende dazu beitragen, dass die Erzeugung und der Verkauf von erneuerbaren Energien zu einem Geschäftsmodell werden, dass die erneuerbaren Energien ohne Subventionen dauerhaft wettbewerbsfähig sind, dass sie ihren Siegeszug um diesen Globus antreten, wie es die Marktwirtschaft bereits getan hat.
Wir müssen uns – ich sehe hier Kollegen, zum Beispiel Herrn Dürr aus Niedersachsen, der vorhin gesprochen hat – überall dort, wo es heute keine Leitungen gibt – wo es bisher auf zwei oder drei Jahre nicht ankam –, endlich einmal auf den Hosenboden setzen. Ich verspreche Ihnen: Wenn ich ein halbes Jahr im Amt bin, werde ich jede problematische Leitung persönlich kennen und besucht haben.
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Die Energiewende wird dann gelingen, wenn der Leitungsausbau vorankommt, und deshalb möchte ich ihn beschleunigen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich biete Ihnen allen, die Sie bereit sind, auf dem Boden der Marktwirtschaft zu arbeiten, Zusammenarbeit an. Wir werden uns häufig treffen können. Das Bundeswirtschaftsministerium ist ein gastlicher Ort, und der Minister ist Einladungen und gemütlichem Beisammensein nicht abgeneigt.
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Es dient alles einem guten Zweck, nämlich der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes und damit auch der Stabilität. Ich lade Sie ein, mich dabei zu unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Altmaier, für die fulminante Rede, für die breite Einladung und für sachdienliche Hinweise zum Essverhalten von Jürgen Trittin. – Der nächste Redner in der Debatte: Dr. Heiko Heßenkemper für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vergleich zwischen der „Titanic“ und Deutschland ist nicht ganz zutreffend. Ja, es wird bei uns getanzt, während das Schiff schon sinkt, aber im Gegensatz zur „Titanic“ hat Deutschland nicht einen Eisberg gerammt. Vielmehr hat die eigene Besatzung die Sprengladung an die Schiffshülle gelegt.
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Zum Tanzen: Die Regierung feiert ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent, wobei der EU-Durchschnitt bei 2,4 Prozent liegt. Man klopft sich selbst dafür auf die Schultern, dass ein wesentlicher Teil dem Konsum geschuldet ist. Natürlich! Die Vollkosten beim Themenfeld „Asyl und Ausländerversorgung“ liegen inzwischen wahrscheinlich im Bereich von über 60 Milliarden Euro und sind gut versteckt in vielen Budgets,
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und es geht munter weiter mit dem Bevölkerungsaustausch: eine Einwanderung dominant in die Sozialsysteme,
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und nur ein einstelliger Prozentsatz ist beruflich integrierbar.
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So weit zum Fachkräftemangel, der sich mir bei 530 Millionen Europäern eh nie erschlossen hat. Deutschland ist ein Land geworden, von dem man gut und gerne leben kann, egal woher man kommt.
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Mit wenigen Milliarden hätte man nach UN-Angaben den wirklich gefährdeten Menschen in der Umgebung der Krisenregionen komfortabel helfen können, und unsere CO 2 -Ziele wären erreichbarer geworden. Ziehen wir nun diese boomende Sozialindustrie mit über 60 Milliarden Euro Umsatz ab, so verschwinden etwa 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und Deutschland würde auf dem letzten Wachstumsplatz in der europäischen Wirtschaft landen. Wie war das nochmals mit der „Titanic“ und dem Tanzen?
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Wie wird das alles finanziert? Mit den Niedrigzinsen spart sich der Staat in etwa diesen Kostenblock für nichtdeutsche Probleme, wobei mit der geplanten Sozialunion Zahlungen an die EU in Höhe eines zusätzlichen zweistelligen Milliardenbetrags anstehen. Nach einer DZ-Bank-Studie zu Verlierern und Gewinnern der Niedrigzinspolitik machte der deutsche Sparer bis 2016 unter dem Strich 200 Milliarden Euro Verlust. Das ist eine gigantische, perfide Umverteilung für eine unfassbare Politik, in deren Folge unser Land in allen Bereichen in Richtung Dritte Welt gestoßen wird.
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Zusammengefasst kann man dies nur Ausplünderung und Auslöschung nennen.
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18 Milliarden Euro für den deutschen Steuerzahler durch den sofortigen Fortfall des Soli, wenn man einem AfD-Antrag folgen würde: Das geht gar nicht. Die größten fünf amerikanischen Konzerne machen einen dreistelligen Milliarden-Euro-Umsatz bei Zahlung von zweistelligen Millionen Euro an Steuern. Das ist praktisch nichts. Eine Besteuerung internationaler Konzerne geht gar nicht!
Wie wäre es mal mit Solidarität mit dem deutschen Schichtarbeiter, der bis 67 Jahre arbeiten wird, von struktureller Altersarmut bedroht ist und deshalb zum Schultern dieser Lasten zukünftig wohl noch länger arbeiten muss? Was ist mit den fehlenden Kitaplätzen? Was ist mit den fehlenden städtischen Wohnungen, für die nun auf einmal Milliarden investiert werden sollen, weil Millionen Menschen mit befristetem Aufenthaltsrecht dauerhaft untergebracht werden sollen? Welch ein Irrsinn!
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Die Liste, was für Deutsche nicht ging und jetzt geht, ist beliebig lang.
Die vorhandenen Finanzspielräume hätten neben der Linderung unserer eigenen sozialen Probleme auch zur Schuldentilgung im Interesse zukünftiger Generationen oder für einen Staatsfonds nach norwegischem Vorbild genutzt werden können, um das langsam ermüdende Argument der Linken zum Thema Leistungsbilanzüberschüsse zu konterkarieren,
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oder für Investitionen, zum Beispiel für die Digitalisierung.
Überhaupt: die Bildung. Will ich eine Wirtschaft nachhaltig beschädigen, so ist die Zerstörung des Bildungssystems das probate Mittel. Hier waren die etablierten Parteien sehr erfolgreich:
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Angriff auf das duale System, der Bachelor- und Masterunfug, fast 200 Gender-Professoren,
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immer mehr Schüler werden zum Abitur geführt, mit sinkendem Niveau, Frühsexualisierung in der Schule usw.
Neben dieser Verflachung und dem strukturellen Angriff gibt nun die Einbindung von Kindern aus der Dritten Welt dem System den Rest.
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Wir sind im Bildungsbereich von einer Vorbildfunktion zu einer internationalen Lachnummer verkommen:
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Forschungs- und Entwicklungsausgaben des Bundes und die umstrittene CO 2 -Frage stehen im Vordergrund. Von welchen Innovationen soll unsere Volkswirtschaft zukünftig leben?
Meine Damen und Herren, dies ist eine Deindustrialisierungspolitik.
({14}): Oh!)
Genannt seien beispielhaft die Kerntechnologie, die Behinderung der Biotechnologie, die Stahlindustrie, die Kraftwerksindustrie, der Angriff auf den Diesel und damit auf unsere Autoindustrie, den Verkauf von Hightechfirmen wie Kuka ins Ausland etc. Soll hier der Morgenthau-Plan nachträglich realisiert werden?
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Fasse ich alle Aspekte zum Thema Wirtschaftspolitik zusammen, so habe ich als Deutscher auf diesem sinkenden Schiff schon nasse Füße. Ich frage mich: Woher kommt dieser Deutschenhass, diese auf die eigene Gruppe gerichtete Autoaggression?
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Wir können nur hoffen, dass der Wähler den etablierten Parteien eine stetig wachsende Rekonvaleszenzzeit verordnet, um unserem Land wieder eine Chance zu geben.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner in der Debatte: Bernd Westphal für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Heßenkemper, ich möchte Sie bitten: Verschonen Sie dieses Haus mit Ihrem nationalistischen Unsinn! Das ist unerträglich in einer Debatte,
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in der es in diesem Hause um wirtschaftliche Entwicklung und Energie geht.
Deutschland steht hervorragend da. Wir haben in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode eine Wirtschaftspolitik mit ihren Rahmenbedingungen gesehen, bei der sich jetzt ein Erfolg abzeichnet. Auch der Sachverständigenrat hat in seinem neuesten Gutachten die nächste Prognose zum Wirtschaftswachstum nach oben korrigiert. Die Konjunktur ist im Aufschwung. Die Arbeitslosenzahlen sind auf einem Rekordtief. Die öffentlichen Haushalte verzeichnen Überschüsse. Ich kann Ihnen sagen: Es ist jetzt der Zeitpunkt, denen Danke zu sagen, die das erwirtschaftet haben. Deshalb ist jetzt Zeit für einen kräftigen Schluck aus der Pulle für die zukünftigen Tarifrunden und für den Mindestlohn.
({1})
Das darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Aufgaben und Herausforderungen für die Zukunft gibt, zum Beispiel den Fachkräftemangel aufgrund der Demografie, Bedarfe im Bildungsbereich oder die Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit.
Natürlich wissen wir aus aktuellen Entwicklungen, wie wichtig der Handel ist, gerade für eine Exportnation wie Deutschland. Herzlichen Dank, Herr Bundeswirtschaftsminister Altmaier, dass Sie sich für freien Handel einsetzen. Aber ich möchte hinzufügen: Freier Handel reicht nicht. Wir brauchen auch fairen Handel.
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Deshalb sehen wir bei der Definition der sozialen Marktwirtschaft und bei den Beispielen, die Sie aufgezählt haben, durchaus noch Diskussionsbedarf. Ich glaube, China kann dafür nicht die Orientierung sein.
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Deutschland kann die Herausforderungen einer guten Entwicklung im nächsten Jahrzehnt nur meistern, wenn es weiterhin auf die Stärkung der Wirtschaft setzt, den Übergang ins digitale Zeitalter aktiv gestaltet und natürlich die Trends zur Spaltung der Gesellschaft in unten und oben beseitigt. Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD gibt mit einer umfassenden Modernisierungs- und Investitionsoffensive darauf Antworten und stellt die richtigen Weichen für den digitalen Wandel.
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Er liefert die Grundlagen für die weitere Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf inklusives Wachstum, das zunehmend zur Richtschnur in der Wirtschaftspolitik wird. Damit die positiven wirtschaftlichen Entwicklungen weiter an Fahrt aufnehmen können, muss die deutsche Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren neue Chancen für die Bevölkerung eröffnen und eine faire Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand ermöglichen.
Für die SPD-Fraktion bedeutet das, dass wir zum Beispiel auch Teilhabe der Beschäftigten an ihren Betrieben ermöglichen müssen. Wir brauchen aber natürlich auch Tarifbindung. Wenn der Wirtschaftsminister von Vollbeschäftigung redet, will ich ergänzen, dass es besser wäre, wenn wir tarifgebundene Vollbeschäftigung hätten,
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die dafür sorgt, dass zum Beispiel Mitbestimmung und gute Arbeit sich durchsetzen. Wo Betriebsräte und Gewerkschaften stark sind, ist auch eine wirtschaftlich starke Struktur zu sehen. Deshalb brauchen wir Bedingungen, unter denen Arbeit zufrieden und nicht krank macht.
Einen Schwerpunkt setzt der Koalitionsvertrag auch bei Zukunftsinvestitionen in die Ausweitung der öffentlichen und privaten Investitionen in zukunftsrelevante Infrastruktur. Dazu gehören Investitionen in Bildung und Qualifikation, aber wir brauchen auch, gerade was Bildung angeht, Fachkräfte für die Betriebe, die zurzeit viele Aufträge nicht erfüllen können, weil Facharbeiter fehlen.
Deshalb sind verstärkte Investitionen in Bildung der richtige Weg. Wir müssen uns aber auch auf den Weg machen, ein Einwanderungsgesetz zu strukturieren und zu verabschieden, das Kreativität, Vielfalt, Know-how und damit zukünftiges Wachstum generiert.
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Der Koalitionsvertrag stellt aber auch wichtige Fragen an die digitale Wirtschaft, deren Aufbau mit einer ganzen Reihe von Instrumenten gefördert wird, zum Beispiel auch mit Wagniskapital für Start-up-Unternehmen. Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode begonnen, und diese Aktivitäten müssen fortgesetzt werden.
Ich will auch für eine zukunftsorientierte Industrie- und Mittelstandspolitik werben. Wir haben im Koalitionsvertrag wichtige Sektoren genannt. Sicherlich kann man dort nicht alle aufzählen, aber ich will doch sagen: Gerade die Grundstoffindustrie, die Stahlindustrie, Aluminium- und die chemische Industrie, aber auch die Automobilindustrie sind die Strukturen, die für Wohlstand in Deutschland sorgen. Dazu gehören auch die Optionen, die wir durch Bio- und Gentechnologie haben. Die Industrie ist in vielen Bereichen nicht das Problem; sie liefert vielmehr Lösungen für globale Probleme, die wir zu bewältigen haben.
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Was die Energiewende angeht, haben wir – der Minister hat es angesprochen – sicherlich noch eine ganze Menge vor uns. Der Ausbau der erneuerbaren Energien auf einen Anteil von 65 Prozent muss mit dem Netzausbau einhergehen. Ich freue mich, dass Sie sich Gummistiefel anziehen. Vielleicht sollten wir auch einmal in Niedersachsen untersuchen, wo es Defizite gibt. Das können wir sicherlich gemeinsam erreichen. Daran hängt die Zukunft der erneuerbaren Energien: am Netzausbau, aber auch am Speicher. Wir brauchen aber für die Brücke dorthin auch konventionelle Energien in Form von Kraftwerken, die mit gesicherter Leistung zur Verfügung stehen. Deshalb freue ich mich auf einen engen Dialog mit Ihnen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank, Bernd Westphal. – Nächster Redner: Michael Theurer für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister Altmaier, wir haben eine ganz neue Seite bei Ihnen entdeckt. Sie beanspruchen hier und in Interviews das Erbe Ludwig Erhards. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“, sagte schon Goethe. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, was wir von Ihnen, Herr Altmaier, bisher gehört haben oder, besser gesagt, nicht gehört haben, dann deutet alles darauf hin: Sie wollen sich das Erbe Ludwig Erhards nicht erwerben, sondern, mit Verlaub, erschweigen – und ich hoffe, nicht erschleichen.
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Die Liste der ordnungspolitischen Sündenfälle, zu denen Sie geschwiegen haben, ist lang: die Ministererlaubnis für die Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch Edeka zulasten der Kunden, der Hilfskredit für Air Berlin zulasten der Steuerzahler und Kunden, der Staatseingriff in den Preismechanismus durch die Mietpreisbremse, der die Wohnungsnot verschlimmert statt verbessert und jetzt von dieser Großen Koalition noch verschärft werden soll, die Schwächung der Tarifautonomie durch den staatlichen Lohnfindungsmechanismus, die Mindestlohnbürokratie, das Lohnentgeltgleichheitsgesetz und das Tarifeinheitsgesetz.
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Jetzt, meine Damen und Herren, trägt ein Brief der Bundesregierung an die EU-Kommission Ihre Unterschrift. Darin fordern Sie sogar den kostenlosen ÖPNV. Ludwig Erhard hat die Preise freigegeben. Sie wollen die Preise ganz abschaffen. Bei Ihnen muss man die Spurenelemente der marktwirtschaftlichen Haltung schon mit dem Elektronenmikroskop suchen.
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Meine Damen und Herren, wir glauben, dass die deutsche Wirtschaft ein echtes Fitnessprogramm braucht. Unsere Idealmaße sind 40-20-40: 40 Prozent Staatsquote, 20 Prozent Steuerquote, 40 Prozent Sozialabgabenquote. Deshalb fordern wir mehr Mut zu echten Reformen. Wir sind gespannt auf Ihre Vorschläge zur Privatisierung von Staatsbeteiligungen und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, für eine echte Entlastung der arbeitenden Mitte und für eine grundlegende Reform der Sozialsysteme.
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Herr Minister, Sie haben gestern bei einem Start-up-Pitch gesprochen; auch ich war da. Das ist ein Anfang, reicht aber nicht. Wir wollen als Freie Demokraten ein Venture-Capital-Gesetz, ein Wagniskapitalgesetz, bessere Finanzierungsbedingungen für Start-ups etwa dadurch, dass Verlustvorträge beim Verkauf weiterhin genutzt werden können, außerdem ein bürokratiefreies Jahr für Start-ups und die steuerliche Forschungsförderung. Fairer Wettbewerb ist das Gebot der Stunde, insbesondere im Hinblick auf die Plattformökonomie, die offensichtlich zu Monopolen tendiert.
Apropos Wettbewerb: 3 Millionen Unternehmen in Deutschland sind kleine und mittlere Unternehmen, die Personengesellschaften sind. Sie zahlen Einkommensteuer und den Soli. Für diese wird der Soli aber nicht abgeschafft. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung. Schaffen Sie den Soli komplett ab!
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Herr Altmaier, Sie kündigen hier auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft Maßnahmen an. Wir sind gespannt, wie Sie die angekündigten Maßnahmen durch konkrete Gesetzesinitiativen umsetzen und so Ihre ordnungspolitische Wandlung vom Saulus zum Paulus unter Beweis stellen. Das Credo der sozialen Marktwirtschaft lautet: Im Zweifel für Freiheit, Markt und Wettbewerb! Daran werden wir Sie messen.
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Vielen Dank, Michael Theurer. – Nächster Redner: Klaus Ernst.
({0})
Das wird ambitioniert bei nur drei Minuten Redezeit.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Altmaier, ich hätte mir mehr gewünscht als eine solche ideologische Rede; ich sage das in aller Deutlichkeit. Sie waren in Amerika und haben dort offensichtlich versucht, die geplanten Handelsbarrieren zu verhindern. Was haben Sie eigentlich erreicht? Welches Ergebnis haben Sie erzielt?
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Statt hier über das Parteiprogramm der Linken zu lamentieren – das Sie offensichtlich nicht verstanden haben –, hätte ich mir mehr erwartet als eine solche Rede, Herr Altmaier.
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Wir haben im Verhältnis zu den USA einen Handelsüberschuss von 50 Milliarden Euro. Haben Sie gedacht, dass Trump das einfach wegsteckt? Was haben Sie ihm bzw. den Amerikanern eigentlich gesagt, was wir machen? Ich höre, dass wir nun in Europa Zölle auf Jeans, Harley-Davidson und Whiskey einführen wollen. Mein Gott! Glauben Sie, dass das den Trump beeindruckt? Da lachen doch die Hühner!
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Herr Altmaier, was haben Sie den Amerikanern bitte schön gesagt? Ich habe gehört, was Sie in der ARD gesagt haben. Sie haben gesagt, dass Sie nun Herrn Trump anbieten werden, unsere Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen, damit die Amerikaner freundlich gestimmt sind. Was ist das denn?
({3})
Herr Altmaier, es wäre sinnvoller gewesen, wenn Sie sich die Zahlen genauer angeschaut hätten, anstatt unser Parteiprogramm zu lesen, das Sie sowieso nicht verstehen. China und Russland haben 2016 zusammen 300 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Die NATO hat im selben Zeitraum 900 Milliarden Euro für Rüstung ausgegeben. Das ist also dreimal so viel. Und Sie wollen bei uns aufrüsten? Ist das Ihr Programm? „Mein Gott, armes Deutschland!“, kann ich nur sagen.
({4})
Herr Ernst, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sepp Müller von der CDU?
Ja, die erlaube ich.
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Sehr geehrter Herr Ernst, Sie sprechen von Ideologie sowie von Russland und China. Ihre Parteigenossin Frau Lötzsch hat in einer ihrer letzten Reden
({0})
zur Abschaffung des Soli und zur Unterstützung von Familienunternehmen gesagt:
An dieser Stelle muss man für die Öffentlichkeit eines sagen: „Familienunternehmen“ ist ein niedliches Wort. In anderen Ländern nennen wir sie „Oligarchen“, und das trifft es viel besser.
Ich frage Sie: Was verstehen Sie unter Oligarchen, wenn Sie sich auf Russland und China beziehen? Meinen Sie damit meinen Familienvater, der sich 1990 selbstständig gemacht hat? Ich bin 1989 in den neuen Ländern geboren. Meinen Sie damit meinen Urgroßvater, der als Fleischerhandwerker durch die SED enteignet wurde? Wen bezeichnet Ihre Partei als Oligarchen und wen als Familienunternehmer? Was ist Ihre Ideologie?
Herr Kollege, ich kenne Ihre Eltern nicht, und sie meine ich auch nicht; auch die Kollegin Lötzsch hat sie nicht gemeint.
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Aber dass es auch bei uns Familienunternehmen gibt, die aus dem kuscheligen Eck von zehn bis zwölf Beschäftigten offensichtlich schon lange hinausgewachsen sind, und dass sie sich nicht immer gerade sehr familiär gegenüber ihren Mitarbeitern verhalten, müsste doch auch Ihnen klar sein.
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Es geht hier um etwas ganz anderes. Es geht um die Frage – ich wiederhole sie –, dass die NATO dreimal so viel Geld wie Russland und China zusammen ausgibt und dass wir nun 2 Prozent unseres BIP für Rüstung ausgeben sollen, damit die Amerikaner zu uns freundlich sind. Ich möchte Ihnen sagen, was der frühere Fraktionsvorsitzende der SPD einmal dazu gesagt hat – das war sehr schön; ich hoffe, Sie bleiben dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD –:
Das wäre die größte Aufrüstung, die Europa seit Jahrzehnten erlebt hat. Das, Frau Merkel, macht unser Land nicht sicherer, sondern das wäre der unheilvolle Beginn eines neuen Wettrüstens.
Das ist offensichtlich Ihr Programm für dieses Land.
({2})
Dazu kann ich nur sagen: Das geht so nicht.
Wir brauchen Geld für Investitionen. Wir brauchen Geld für Infrastruktur, für Bildung, für schnelles Internet, für Wissenschaft und Forschung. Da hätte ich mir von Ihnen mehr erwartet, als Sie in Ihrer Rede geäußert haben. Außerdem brauchen wir eine Steigerung der Binnennachfrage. Das hat auch Herr Bofinger gestern im Ausschuss für Wirtschaft und Energie so gesagt.
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Wir brauchen mehr Importe, um zu ausgeglichenen Handelsbilanzen zu kommen, Herr Altmaier. Genau das hat mir bei Ihrer Rede völlig gefehlt. Mehr Investitionen, höhere Löhne, höhere Renten. Das können Sie genau so im aktuellen Länderbericht der EU-Kommission nachlesen. Dort heißt es, es „besteht nach wie vor ein hoher Investitionsrückstand, insbesondere in den Bereichen Infrastruktur und Bildung“. Ich befürchte, Herr Wirtschaftsminister, Ihre Wirtschaftspolitik geht zulasten Deutschlands und in die falsche Richtung.
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Vielen Dank, Klaus Ernst. – Nächste Rednerin: Kerstin Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Altmaier, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Job! Ich fand den philosophischen Überbau Ihrer Rede durchaus spannend und hatte auch den Eindruck, dass Sie, im Gegensatz zu dem Minister, der vor Ihnen geredet hat, richtig Lust auf diesen Job haben. Das finde ich erst einmal gut; das finden wir erst einmal gut.
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„Erfolgreiche Wirtschaft für den Wohlstand von morgen“, so heißt ein Kapitel im Koalitionsvertrag. Aber um morgen im Wohlstand zu leben, muss man heute an die Zukunft denken. Meine Güte! Sie haben dem Klimaschutz mit der Verabschiedung von dem Klimaziel 2020 einen Bärendienst erwiesen. Sie haben ein verheerendes Signal an die Wirtschaft gesendet.
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Was machen Sie jetzt? Jetzt nehmen Sie das Jahr 2030 ins Visier. Man braucht aber wenigstens konkrete Maßnahmen, damit dieses Ziel erreicht werden kann.
Wir haben gestern im Ausschuss den Monitoring-Bericht behandelt: Von elf Zielen, den Indikatoren, wird ein Ziel erreicht – zehn nicht. Wo sind denn Ihre konkreten Maßnahmen? Wenn die Energiewende Mobilität einschließen würde, Wärme einschließen würde, dann würden wir ja ein Stück weiterkommen. Aber wo ist denn die Verkehrswende? Wo ist denn der massive Einstieg in die Gebäudesanierung? Wo ist denn die Strategie für Energieeffizienz und Substitution? Wo ist der dringend notwendige Kohleausstieg?
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Sie trauen sich einfach nicht. Sie können Klimapolitik nicht nur aus der Wohlfühlzone heraus machen. Da muss man auch einmal mutige Entscheidungen treffen.
Dieses großartige Land hat doch immer wieder gezeigt, dass es mit seinen Tüftlern und seinen Denkern in der Lage ist, nach vorne zu gehen – durch Innovationen, durch Erfindungen, durch Forschergeist. Man kann doch einmal in die Geschichte schauen: Als der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde, hieß es: Das Licht geht aus. Bei der Einführung des Katalysators hieß es: Das ist das Ende der Automobilindustrie. Mit der Einführung von REACH wurde der Untergang der chemischen Industrie vorhergesagt. Nichts von alledem ist passiert. Wir haben heute einen Siegeszug der erneuerbaren Energien und eine dezentrale Energieversorgung. Ein Auto ohne Katalysator ist nicht einmal denkbar. Der VCI spricht vom besten Jahr, das er je hatte. Wir wollen von Ihnen keine Trägheit, sondern wir wollen Mut, Kraft und Engagement von Ihnen haben.
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Zu den Herausforderungen der Zukunft gehört auch die Gewinnung der nötigen Anzahl an Fachkräften. Was sagen uns denn die Mittelständler? Sie haben das große Problem, Fachkräfte zu finden, vor allem im IT-Bereich. Fehlende Fachkräfte kosten viel Geld. Insgesamt entgehen dem Mittelstand mehr als 53 Milliarden Euro pro Jahr. Jetzt machen Sie viel für Bildung, für Qualifizierung. Sie versuchen zumindest, mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu holen. Sie tun auch etwas für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das schauen wir uns alles ganz genau an. Aber solange Sie ein Einwanderungsgesetz wollen, das nicht ermöglicht, dass Menschen hierherkommen und hier vor Ort nach einem Job suchen, solange Sie davon ausgehen, dass die Unternehmen in der Lage sind, in Vietnam oder in Ghana Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finden,
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so lange haben Sie keine vernünftige Einwanderungsstrategie. Ändern Sie diesen Punkt in Ihrem Einwanderungsgesetz; dann sind wir an Ihrer Seite.
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Jetzt waren Sie in Amerika. Wir finden es gut, dass Sie in Amerika gesprochen haben. Wir finden es gut, dass es keine Eskalationsstrategie gibt. Aber die Ankündigung, dass die Europäische Union und einzelne Länder vielleicht ausgenommen werden, betrachten auch wir sehr genau. Wir warnen vor schlechten Deals. Wir werden sehr genau schauen, was die Gegenleistung für eine potenzielle Ausnahme ist; da gebe ich dem Kollegen Ernst absolut recht. Wir warnen Sie vor schlechten Deals.
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Eines ist auch klar: Wir werden im Welthandel nur eine Rolle spielen, wenn wir als Europa zusammenbleiben – mit den Werten der Aufklärung: der Freiheit, der Offenheit und des Respekts. Der Rückzug ins Nationale ist keine Antwort. Deswegen ist jede Schlagbaumfantasie auch einzelner Mitglieder dieser Bundesregierung, ist die Idee, Schengen aufzugeben, eine Leitkultur zu definieren oder eine Glaubensgemeinschaft als nicht zugehörig zu brandmarken, Gift – Gift für den Wirtschaftsstandort Deutschland, Gift für die dringend notwendige Zuwanderung und auch Gift für unser gemeinsames Zusammenleben.
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In einer Regierung – ich sage es Ihnen – ist es wie in Beziehungen: So wie es anfängt, so geht es weiter.
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Deswegen ist Ihre Aufgabe als Wirtschaftsminister, die Toleranz und die Offenheit, die Liberalität gegen den Innenminister Seehofer zu verteidigen. Das erwarten wir von Ihnen als Wirtschaftsminister dieser Bundesrepublik Deutschland.
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Was gehört noch zu den Herausforderungen der Zukunft? Eine Strategie für Digitalisierung, die weit über den Breitbandausbau hinausgeht, Bildung für die Arbeit von morgen, Unterstützung von KMU bei der Digitalisierung, Förderung von Gründern, Forschungsförderung, eine europäische industriepolitische Strategie im Hinblick auf Zukunftstechnologien und Forschung – das sind die Herausforderungen der Zukunft.
Sie werden die nächsten Jahre regieren. Sie haben uns hier eine Charta der sozialen Marktwirtschaft angeboten. Da machen wir mit. Beweisen Sie uns eines: Beweisen Sie uns, dass Zukunftsvergessenheit Sache der AfD bleibt! Kämpfen wir gemeinsam für Nachhaltigkeit, Innovation und ein Morgen, das wir unseren Kindern gern hinterlassen! In diesem Sinne bieten wir Ihnen unsere konstruktive Auseinandersetzung an und freuen uns auf die Einladungen ins Wirtschaftsministerium.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kerstin Andreae. – Nächster Redner: Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht darf ich eine Vorbemerkung loswerden. Lieber Peter Altmaier, lieber Bundeswirtschaftsminister, mir hat man ein, zwei Minuten Redezeit abgezogen, –
Eine.
– weil du zu lange gesprochen hast.
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Aber ich sage ganz klar: Ich hätte dich gern noch länger reden hören, weil wir endlich mal wieder einen Wirtschaftsminister haben, der das Wirtschaftsministerium als Mittelstandsministerium versteht, der Lust auf Zukunft macht.
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Deswegen, lieber Peter Altmaier, wünschen wir dir viel Erfolg, halten zu dir und unterstützen dich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich ist das heute eine Punktlandung. 70 Jahre ist die deutsche Währungsreform her. Sie galt als Geburtsstunde der sozialen Marktwirtschaft, die verbunden ist mit Ludwig Erhard. Das Interessante an Ludwig Erhard war, dass er die soziale Marktwirtschaft durchgesetzt hat – gegen alle Widerstände, übrigens nicht nur der Gewerkschaften und der Medien; es war sogar die Wirtschaft, die gegen die Gesetzgebung im Bereich Kartellrecht auf die Barrikaden ging. Aber er hielt daran fest. Diese soziale Marktwirtschaft ist es, die dieses Land wirtschaftlich erfolgreich gemacht hat – alle Debatten über unseren Handelsbilanzüberschuss hin oder her.
Zur Wahrheit gehört, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber in Deutschland in einer atemberaubenden Geschwindigkeit in die internationale Arbeitsteilung eingeklinkt haben und wir unseren Wohlstand diesen Leuten zu verdanken haben. Darauf kann man stolz sein, und darüber sollte man nicht schlecht reden.
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Wem haben wir den Erfolg zu verdanken? Was sind die Bereiche? Auf der einen Seite der Mittelstand – Peter Altmaier hat es angesprochen – und auf der anderen Seite – auch das ist wichtig – der Industriesektor. Was hat sich dieser Globus über uns kaputtgelacht, dass wir nicht diesen starken, scharfen Weg des Dienstleistungsdrangs vieler anderer Länder mitgegangen sind. Wir haben am Industriekern festgehalten. In keinem anderen Industrieland auf diesem Globus hat die Industrie noch einen so hohen Anteil an der Bruttowertschöpfung wie in Deutschland. Der Anteil beträgt fast ein Drittel, wenn ich die industrienahen Dienstleistungen hinzurechne. Deswegen müssen wir auf der einen Seite an diesem Industriestandort festhalten und auf der anderen Seite den Mittelstand stärken.
In diesen Tagen wird viel über verschiedene Definitionen diskutiert. Was heißt denn überhaupt Mittelstand? – Mittelstand bedeutet nichts anderes, als dass Haftung und Handlung in einer Hand liegen. Ludwig Erhard hat gesagt: Das Haftungsprinzip muss gelebt werden. – Das machen 95 Prozent der Unternehmen in Deutschland. Mehr als 80 Prozent der Unternehmen sind Personengesellschaften. Sie leben dieses Prinzip „Haftung und Handlung in eine Hand“ par excellence. Das sollten wir auch einmal aussprechen. Denen sollten wir nicht in den Rücken fallen, sondern den Rücken stärken.
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Wenn es uns vergleichsweise gut geht – übrigens: vergleichsweise; es gibt Branchen, die haben Probleme; ich denke an den Handel und an viele andere –, dann müssen wir uns heute die Frage stellen: Wie können wir auch in Zukunft den Wohlstand sichern? Das muss doch die zentrale Frage sein. Da stellt sich die Frage: Was machen wir als Koalition, was machen wir in diesem Parlament für diese beiden Säulen Industrie und Mittelstand? Im industriellen Bereich geht es in diesen Tagen sehr stark um den weltweiten Handel. Ich finde es übrigens gut, dass ein Wirtschaftsminister nicht als Erstes feiern geht, weil er Wirtschaftsminister geworden ist, sondern dass er ins Flugzeug steigt, nach Amerika fliegt und mit den Amerikanern redet, wie wir diese Handelsschranken abwenden können.
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– Nein, Herr Ernst, wenn Sie sich die Wirtschaftsstruktur Deutschlands ansehen, dann sehen Sie, es gibt nicht nur die Paradebranchen wie die Automobil- und Automobilzulieferindustrie, sondern es gibt auch den Maschinenbau und die Elektro- und Chemiebranche. Das sind Branchen, die weit mehr als 50 Prozent exportieren. Deswegen sind Handelsschranken Gift für unsere Wirtschaft. Aber – auch das kommt, wie ich finde, in diesen Tagen in der veröffentlichten und öffentlichen Meinung zu kurz – wir müssen auch wieder darüber reden, dass wir am Ziel festhalten, multilaterale Abkommen auf WTO-Ebene zu stärken.
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Wir brauchen multilaterale Abkommen. Die Tokio-Runde und die Uruguay-Runde waren erfolgreich, die Doha-Runde leider nicht. Dieses Ziel sollten wir auch im Parlament nicht aus den Augen verlieren. Multilaterale Abkommen sind eigentlich das Beste, um Handelsschranken abzubauen.
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Wie sieht es im Mittelstand und beim Handwerk aus? Ein Thema haben Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, auch angesprochen, nämlich das Thema Handwerk bzw. Fachkräfte. Wenn ich im Mittelstand unterwegs bin, werde ich eigentlich ausschließlich als Erstes auf das Thema Fachkräfte angesprochen. In diesem Land wurde in den letzten Jahren viel über das Thema Akademisierung gesprochen. Ich will das gar nicht schlechtmachen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir die Balance halten zwischen der Akademisierung auf der einen Seite und der dualen beruflichen Ausbildung auf der anderen Seite. Die berufliche Ausbildung ist in den letzten Jahren meines Erachtens zu kurz gekommen. Deswegen müssen wir hier wieder einen Schwerpunkt setzen.
({7})
Gestern habe ich einige Handwerker getroffen. Allgemein gesprochen hören sich diese Schaufensterreden immer toll an: die duale Ausbildung stärken. – Werden wir einmal konkret.
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Mich interessiert, wie sich dieses Haus dabei verhält.
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– Ganz konkret: Wir haben vor 14 Jahren den Meisterbrief in 53 Gewerken abgeschafft, weil es hieß, das sei ein Handelshemmnis. Heute sehen wir, genau in den Gewerken, wo wir den Meisterbrief als Voraussetzung für die Selbstständigkeit abgeschafft haben, findet duale Ausbildung kaum bis gar nicht mehr statt. Deswegen bin ich der Meinung – die entsprechende Formulierung im Koalitionsvertrag ist richtig –, dass wir prüfen müssen, ob wir nicht das eine oder andere Gewerk zurückholen. Ich sage das ganz klar in alle Richtungen Europas, nicht nur nach Brüssel: Der Meisterbrief ist kein Handelshemmnis, sondern der Meisterbrief ist ein Qualitätsstandard, ein Bildungsstandard wie das Abitur oder der Hauptschulabschluss. Und den müssen wir wieder stärken.
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Dann haben wir das Thema Beschleunigung der Digitalisierung. Diesen Part schenke ich mir, weil mir eine Minute weggenommen wurde.
Lassen Sie mich zum Schluss wirklich ganz ehrlich sagen:
({11})
Auch mir gefällt das eine oder andere nicht; auch ich hätte mir an der einen oder anderen Stelle in diesem Koalitionsvertrag mehr gewünscht.
({12})
Nur gehört es auch zur Wahrheit: Wir müssen aufpassen – das gilt im Parlament genauso wie ganz generell –, dass wir den Standort Deutschland nicht in Grund und Boden reden.
({13})
Wir haben gute Voraussetzungen mit dem Koalitionsvertrag geschaffen. Das sollten wir jetzt angehen, und wenn wir das mit einer Portion Ludwig Erhard im Denken, im Reden und vor allem im Handeln schaffen, dann bin ich guter Dinge.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Carsten Linnemann. – Nächster Redner: Tino Chrupalla von der AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Wie Professor Heßenkemper schon angedeutet hat, sind die wirtschaftlichen Begleiterscheinungen des großangelegten Sozialexperiments, auch Flüchtlingskrise genannt,
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eine finanzielle Belastung für unser Land und für unsere Wirtschaft, die von der Regierung schlichtweg geleugnet wird. Die unmittelbaren Kosten für dieses Experiment trägt größtenteils der deutsche Steuerzahler. Der Kollege Heßenkemper hat die Zahlen bereits genannt.
({1})
Kurioserweise werden neuerdings ausgerechnet wirtschaftliche Gründe ins Feld geführt, um die Massenmigration nach Europa zu rechtfertigen. Es ist aber wohl kaum die deutsche Volkswirtschaft, die davon profitiert.
Frau Merkel bestätigte gestern, dass unsere Regierung die Internationale Organisation für Migration, IOM, intensiv unterstützen möchte. Damit macht sie den deutschen Steuerzahler zum Handlanger des internationalen Menschenschleusertums, der auch noch seinen eigenen Untergang finanzieren darf.
({2})
Die IOM hat ihre Pläne bereits schriftlich im „Global Compact for Migration“ niedergelegt, der noch in diesem Jahr von den Regierungen unterzeichnet werden soll.
({3})
Die entsprechenden Dokumente präsentieren die Verschiebung ganzer Völkerschaften über den gesamten Erdball als neue Normalität, von der wir alle profitieren würden.
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Die „New Yorker Erklärung für Flüchtling und Migranten“ der UN aus dem Jahr 2016, selbstverständlich in der Sprache der Humanität verfasst, gibt uns einen Vorgeschmack darauf, was auf uns zukommt.
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Ich weiß gar nicht, wie man den Geisteszustand nennen soll, der sich in diesem Schrifttum manifestiert. Die Bekämpfung von Fluchtursachen steht definitiv nicht im Mittelpunkt dieser Dokumente. Frau Merkel, Sie verschleiern die Wahrheit, wenn Sie das so darstellen.
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Die Kollateralschäden dieses weltumspannenden Völkerwanderungsexperiments werden achselzuckend in Kauf genommen; man könnte fast meinen, sie seien gewollt.
Macht sich bei den Grünen eigentlich jemand Gedanken über die ökologischen Konsequenzen der Massenmigration in ein hoffnungslos überbesiedeltes Land, wie Deutschland es mittlerweile ist?
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Ich weiß: Gedanken und Grüne – das passt nicht zusammen. Das ist mir schon klar.
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Herr Minister, macht sich jemand Gedanken darüber, was es für traditionsreiche mittelständische Unternehmen und vor allen Dingen für die vielen Handwerks- und Innungsbetriebe bedeutet, wenn sie genötigt werden, minderqualifizierte Arbeitskräfte auszubilden, die aus Kulturen kommen, die größtenteils ein völlig anderes Verständnis von Präzision, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit mitbringen?
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Der von der UN und Regierungsorganen aufwendig beworbene Bevölkerungsaustausch fußt auf äußerst fragwürdigen wirtschaftlichen Berechnungen und Voraussagen internationaler Beratungsfirmen.
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Die Boston Consulting Group behauptet zum Beispiel, dass Deutschland im Jahr 2030 10 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben wird und deshalb dringend Humankapital aus dem Ausland benötigt. Ich persönlich bin sehr skeptisch, was solche Prophezeiungen angeht. Wurden bei der Hochrechnung unsere vielen Arbeitslosen berücksichtigt? Oder die steigende Geburtenrate, die aktuell bei den Deutschen zu verzeichnen ist? Oder die Digitalisierung, durch die viele Arbeitsplätze verloren gehen werden? Frau Merkel will ja alles digitalisieren, was zu digitalisieren ist. Das hat sie gestern hier erläutert.
Würden Sie bitte an Ihre Redezeit denken.
Ich komme zum Ende.
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Vielleicht könnte man sich auch einmal fragen, wie man die vielen hochqualifizierten Deutschen, von denen jedes Jahr 150 000 unser Land verlassen, dazu bringt, hierzubleiben. Das sind die wirklichen Fachkräfte. Mit hohen Steuersätzen, hohen Sozialbeiträgen und erstickender Bürokratie, Denkzwängen, zersiedelten Landschaften und einer zutiefst antideutschen Kulturpolitik geht das sicherlich nicht.
Würden Sie bitte an Ihre Redezeit denken.
Der letzte Satz. – Frau Merkel setzt das Geschäftsmodell mit den Flüchtlingen in Deutschland vorbildlich um und reißt ganz Europa mit in den Abgrund. Damit wissen wir auch, was Merkel 4.0 für uns bedeutet: Zum vierten Mal eine Null.
Das war es. Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin in der Debatte zu Wirtschaft und Energie hat Sabine Poschmann für die SPD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Herrn Chrupalla: Im ersten Satz schon mit so einer Hetze anzufangen, ist einfach widerlich.
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Wir kommen zum Thema zurück, nämlich zu Wirtschaft und Energie; darum geht es ja heute.
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Ich freue mich, Herr Minister, wenn Sie Ihr Haus zukünftig als Haus des Mittelstandes bezeichnen. Zu Herrn Linnemann muss ich aber sagen: Ich freue mich mehr über Taten als über Redezeit des Ministers.
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Aber es ist richtig, den Mittelstand in den Fokus zu nehmen; denn während Großunternehmen umstrukturieren und Stellen streichen – wir sehen es gerade bei Eon und RWE –, behaupten sich kleine und mittelständische Unternehmen am Markt und bauen sogar aus. Zum Teil sind sogar sie es, die die Strukturbrüche in den Regionen und den damit verbundenen Arbeitsplatzabbau auffangen. Das ist Grund genug für mich, genau diese Unternehmen stärker in den Fokus zu nehmen, und ich möchte drei Punkte ansprechen.
Erstens: Bürokratieabbau. Viele kleine und mittelständische Unternehmen sagen: Lasst uns doch einfach unsere Arbeit machen, dann wäre uns schon geholfen. – Da ist was dran. Gerade kleine und mittlere Unternehmen belastet Bürokratie ungemein. Von daher ist es richtig, dass wir uns in der letzten Legislaturperiode eine Selbstverpflichtung auferlegt haben, nicht mehr Bürokratie aufzubauen bzw., falls doch notwendig, sie an anderer Stelle abzubauen.
Aber brachte das für die Unternehmen vor Ort eine spürbare Entlastung? Eher nicht. Die Änderung der Abschreibungshöhe bei geringwertigen Wirtschaftsgütern und Änderungen bei den Aufbewahrungspflichten schon eher. Genau hier müssen wir beim geplanten dritten Bürokratieentlastungsgesetz dranbleiben. Ich rate Ihnen, Herr Wirtschaftsminister, sich die Ergebnisse des Mittelstandsbeirates zu Gemüte zu führen; denn hier sind Praktiker zusammengetreten und haben einmal geschaut, wo der Schuh wirklich drückt.
Zweitens: der Fachkräftemangel. Auch in diesem Bereich haben es kleinere Unternehmen besonders schwer. Wo ist er am meisten spürbar? Bei schlecht bezahlten Jobs. Da sagt jeder: Ist doch klar. – Deshalb unterstütze ich auch die Gewerkschaften ausdrücklich dabei, Flächentarifverträge abzuschließen. Unternehmer, die Dumpinglöhne zahlen und sich dann noch wundern, dass keine Arbeitnehmer zu ihnen kommen, brauchen jetzt nicht rumzujammern und nach dem Staat zu rufen.
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Aber der Fachkräftemangel geht weit über schlecht bezahlte Jobs hinaus. Spezialisten fehlen, Handwerker und Auszubildende werden gesucht. Deshalb ist es richtig, die berufliche Bildung weiter gegenüber der akademischen aufzuwerten. Wir werden Berufsbilder modernisieren, eine Mindestausbildungsvergütung im Gesetz verankern und den Meisterbonus einführen. Aber wir wissen: All das reicht nicht aus. Wir brauchen mithilfe eines Fachkräfteeinwanderungsgesetzes den Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften.
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Ich bin froh, dass wir es nun endlich geschafft haben, dies im Koalitionsvertrag zu vereinbaren; es hat lange genug gedauert.
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Wir werden natürlich auch nicht nachlassen, Frauen stärker in das Berufsleben einzubeziehen.
Als dritten Punkt möchte ich Innovationen ansprechen. Wir wollen, dass der Mittelstand auch künftig der Innovationsmotor der Wirtschaft bleibt. Deshalb wollen wir durch die steuerliche Forschungsförderung Innovationen stärker als bisher anreizen. Wichtig ist mir, dass wir mit dem Koalitionsvertrag auch soziale Innovationen stärken. Entscheidend hierbei ist, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und sich seine Lebensverhältnisse verbessern. Es wird höchste Zeit, solchen Unternehmen mehr Aufmerksamkeit zu schenken; denn der Mensch sollte den Markt bestimmen, nicht umgekehrt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sabine Poschmann. – Herr Manfred Todtenhausen, ich weiß nicht, wann Ihre Unterhaltung zu Ende ist. Das finde ich während der Reden nicht sehr freundlich. – Danke schön. Ich will Ihnen nur Ärger ersparen; denn jetzt kommt ein Redner aus Ihrer Fraktion.
Nächster Redner in dieser Debatte: Reinhard Houben für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie dafür sorgen, dass wir uns in der FDP nicht streiten müssen. – Herr Minister Altmaier! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Besonders ambitioniert wirkte auf uns der Koalitionsvertrag nun wirklich nicht.
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– Wir haben ihn gelesen. – An 118 Stellen wollen Sie fortführen, fortsetzen, fortschreiben oder fortentwickeln. Wenn Sie die gestrige Regierungserklärung der Kanzlerin einmal durchscannen, werden Sie leider die Schlüsselbegriffe „Mittelstand“, „Handwerk“, „Export“ nicht finden.
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Dies ist für uns kein gutes Zeichen.
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– Sie müssen den Text einmal lesen, Frau Andreae, dann werden Sie es feststellen.
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Aber dann der Auftritt des Wirtschaftsministers: Sie haben, Herr Minister Altmaier, hier einen sehr schwungvollen Beitrag eingebracht,
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fast tänzelnd. Sie haben zumindest Herrn Linnemann glücklich gemacht. Aber Sie müssen natürlich, wenn Sie solche Reden halten und solche Aussagen treffen, auch beachten, dass man nachfragt, was am Ende daraus wird. Mir ist eine Formulierung aufgefallen. Da haben Sie ausgeführt, dass der Mittelstand Wert darauf legt, dass er sich auf Rahmenbedingungen, die gesetzt werden, langfristig verlassen kann. Das kann ich nur unterschreiben. Ich setze auf Sie, Herr Minister, dass Sie in der Diskussion um den Diesel aufseiten der Handwerksunternehmen und mittelständischen Unternehmen stehen, die sich in den letzten Jahren auf die Aussagen von Politik und Industrie „Kauft Autos mit grüner Plakette, dann tut ihr etwas für den Umweltschutz, ihr reduziert den CO 2 -Beitrag“ verlassen haben, und sich nicht in die Furche legen.
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Eine zweite Bemerkung – in drei Minuten bleibt ja nicht viel –: Wir brauchen vielleicht schwungvolle Beiträge, aber ich glaube, wir brauchen nicht unbedingt besseres Politikmarketing. Ich sehe, Herr Minister, Ihre Aufgabe nicht darin, sich um jedem Standort, wo die Digitalisierung nicht funktioniert, das Glasfasernetz nicht funktioniert, zu kümmern. Ich glaube, das ist nicht Ihre Aufgabe. Sie können das vielleicht mit dem Flugtaxi von Frau Bär machen; ich halte das aber nicht für zielführend. Fahren Sie lieber! Da haben Sie – Sie haben das dankenswerterweise sehr weit ausgeführt – die volle Unterstützung der FDP. Wir setzen auf freien Welthandel. Wenn wir Sie an dieser Stelle unterstützen sollen, dann machen wir das gerne.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Reinhard Houben. – Nächster Redner in der Debatte: Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn wir über die deutsche Energie- und Wirtschaftspolitik reden, müssen wir auch den Mut haben, über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen. Im Koalitionsvertrag ist viel die Rede vom Wirtschaftsstandort Deutschland. Er wird hochgehalten wie eine heilige Kuh.
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Aber wir müssen doch sehen: Unser Wohlstand, den wir hier haben, geht zum großen Teil auf Kosten des globalen Südens. Das müssen wir ändern.
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Für mich selbst sind Internationalismus und Solidarität eine Herzensangelegenheit. Ich hatte die Gelegenheit, in der letzten Woche beim Weltsozialforum in Brasilien anwesend zu sein.
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Wir konnten gemeinsam mit Kleinbäuerinnen aus dem Amazonas reden. Sie waren verzweifelt und haben geweint. Ihre Existenzgrundlage ist von Großgrundbesitzern bedroht. Diese Großgrundbesitzer, meine Damen und Herren, profitieren von deutscher Wirtschaftsförderung. Statt die Mittel, die sie bekommen, zum Schutz des Regenwaldes zu nutzen, holzen sie diesen Regenwald ab, um billiges Soja für die deutsche Agrarindustrie zu produzieren. Diese Politik muss ein Ende haben.
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Herr Altmaier – sehr schön, dass Sie sogar da sind –,
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in Brasilien arbeiten deutsche Regierungsagenturen tatsächlich mit Bergbauriesen zusammen. Sie tragen damit Verantwortung auch für Umweltkatastrophen und für das Anheizen des Klimawandels. Das ist eine Politik, Herr Altmaier, die Sie vielleicht mit dem Namen „fairer Welthandel“ beschreiben würden. Aber wir sagen: Das ist das Gegenteil von fairem Welthandel. Das ist Ausbeutung, das ist energie-, sozial- und klimapolitisch eine Katastrophe.
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Aber warum tun sie es dennoch? Sie machen es für billiges Soja, billiges Fleisch und Holz, um den europäischen Hunger nach Rohstoffen und billigen Nahrungsmitteln zu befriedigen. Das nenne ich Ausbeutung. Wir Linke sagen: Wir wollen das beenden.
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Wenn Sie dann sagen – das kam in Ihrer Rede ja mehrmals vor –, Sie wollen die soziale Marktwirtschaft stärken, kann ich dem nur entgegnen: Frau Merkel war da ehrlicher. Sie hat von einer marktkonformen Demokratie geredet. Wir sagen ganz klar: Wer alles gnadenlos dem Markt unterordnet, zerstört Demokratie. Er fördert sie nicht.
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Wir müssen diese Wirtschaftspolitik gegenüber dem globalen Süden beenden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Länder des globalen Südens nicht in der Klimakatastrophe untergehen.
Wo bleibt denn der Kohleausstieg? Keine Rede davon, auch nicht in Ihrer Rede. Wir Linke werden hier nicht lockerlassen. Wir werden immer wieder daran erinnern, auch an den globalen Süden und an den Kohleausstieg.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Beutin. – Der letzte Redner in dieser Runde: Frank Junge von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Houben, wenn Sie beim Schauen auf unseren Koalitionsvertrag häufig die Wörter „fortschreiben“ und „fortsetzen“ feststellen, dann, glaube ich, liegt man gar nicht so schlecht, wenn man das auf die Digitaldaten unserer Wirtschaft bezieht, sich also die Zahlen vom Wirtschaftswachstum, von der BIP-Steigerung bzw. der Entwicklung der Arbeitslosigkeit anschaut. Ich glaube, das sind gute Signale dafür, um einzuordnen, dass alles schon in Ordnung war, was wir in den letzten vier Jahren gemacht haben.
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Meine Damen und Herren, zu guter Investitionspolitik im Blick auf Verkehrsinfrastruktur, digitale Infrastruktur und wirtschaftsnahe Infrastruktur zählt auch, wie gezielt und wie genau wir Wirtschaftsförderung insgesamt betreiben. Ich glaube, dass wir mit den GRW-Mitteln, die wir seit vielen Jahren einsetzen, ein sehr gutes Instrument an der Hand haben – wir können ja zusammen mit den Ländern die insgesamt 1,2 Milliarden Euro ausgeben –, damit wir vor Ort in die Bereiche der Wirtschaft investieren können, die es nötig haben.
Ich glaube aber auch – da spricht unser Koalitionsvertrag eine klare und gute Sprache –, dass es angezeigt ist, dieses gesamtdeutsche Fördersystem zu modernisieren. Wir haben vor und planen, nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahre 2019 ein gesamtdeutsches neues Fördersystem aufzubauen, um insgesamt alle strukturschwachen Bereiche in Deutschland zu unterstützen.
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Ich glaube, dass wir unter diesem Aspekt genau auf der richtigen Fährte sind, einmal vor dem Hintergrund, dass wir die GRW-Mittel weiter einsetzen wollen, aber auch vor dem Ziel, passgenau weitere Förderkulissen, wie zum Beispiel das Programm INNO-KOM oder Komponenten aus der Städtebauförderung, aufzubauen oder auch höhere Förderquoten bei ZIM, dem Zentralen Innovationsprogramm, beim BMWi zu bündeln, um insgesamt viel bessere Möglichkeiten zu haben, gezielte Wirtschaftsförderung zu betreiben, als es bisher der Fall gewesen ist. Ich denke, wir haben im Koalitionsvertrag ein Vorhaben definiert, das es uns möglich machen wird, noch viel besser als bisher Wirtschaft vor Ort zu unterstützen und zu fördern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, anfügen möchte ich auch noch, dass wir im Koalitionsvertrag zusätzlich einen Finanzrahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro durchgesetzt und festgeschrieben haben, mit dem wir den bevorstehenden Strukturwandel in Braunkohleregionen entlasten und strukturpolitisch abfedern wollen. Ich glaube, an diesem Paket wird deutlich, dass wir uns über die Zukunft auch solcher Branchen Gedanken machen und eine Überleitung in neue Qualitäten vor Ort unterstützen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es richtig ist, zukünftig auf ein gesamtdeutsches Fördergebiet zu setzen und in diesem unabhängig von Himmelsrichtungen nach Bedarfen zu schauen, muss klar sein, dass wir insbesondere Ostdeutschland im Fokus behalten müssen und dass wir vor allen Dingen die Strukturbrüche und den Strukturwandel, den die Menschen dort im Rahmen der Lebensbedingungen immer noch zu tragen haben, besser abfedern müssen als bisher. Vor diesem Hintergrund bin ich rückhaltlos bei Ihnen, Herr Hirte, als neuem Ostbeauftragten der Bundesregierung, wenn Sie sagen, dass die „Belange des Ostens … Aufgabe der gesamten Koalition“ sind. Ich glaube, dass wir unter diesem Aspekt nicht lockerlassen dürfen, sondern, im Gegenteil, verstärkt Prioritäten setzen müssen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss – ich sehe auf meine restliche Redezeit – ein Aspekt, der den Bereich Tourismus betrifft. Der Tourismus ist im Hinblick auf die Bruttowertschöpfung und die Zahl der Beschäftigten, die er an sich bindet, in etwa mit dem Maschinenbau gleichzusetzen und steht mit der Automobilindustrie in etwa auf gleicher Stufe.
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– Vielen Dank. – Insofern wird klar, dass wir nach wie vor größtes Augenmerk auf den Tourismus richten und unsere Möglichkeiten nutzen müssen, um unseren Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Standorten auszubauen.
Ich will an dieser Stelle zumindest kurz ein Projekt nennen, das wir schon in der letzten Legislatur auf dem Zettel hatten, aber bei dem uns leider angesichts der Zuarbeit des Verkehrsministers kein großer Wurf gelungen ist, nämlich ein integriertes Wassertourismuskonzept auf die Beine zu stellen.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich glaube, Herr Minister Altmaier, dass wir unter Ihrer Ministerschaft zusammen mit Herrn Scheuer jetzt endlich zu einem solchen Tourismuskonzept kommen; denn ich bin der Überzeugung, dass wir damit den Standort Deutschland stärken.
Redezeit!
Insgesamt können wir damit dem Tourismus bei uns einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Ich freue mich, Herr Altmaier, auf unsere Zusammenarbeit.
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Vielen Dank, Herr Junge. – Damit sind wir mit der Runde durch. Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen liegen nicht vor.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ohne Zweifel ein starkes Land, wirtschaftlich erfolgreich, international angesehen. Und doch dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass es Spaltungen, dass es neue Bruchlinien in unserer Gesellschaft gibt: Spaltungen zwischen Regionen – wirtschaftliche Disparitäten genannt –, Spaltungen zwischen Generationen, Spaltungen in der Einwanderungsgesellschaft, Spaltungen im Arbeitsleben und auch Spaltungen bei Einkommen und Vermögen. Das ist der Grund dafür, warum trotz guter wirtschaftlicher Lage, trotz einer alles in allem nach wie vor stabilen Gesellschaft und Demokratie viele Menschen Angst haben, Zukunftsängste haben, Zukunftssorgen haben.
Die zentrale Frage für diese Bundesregierung und für mich als Minister wird daher sein: Wie halten wir in Zeiten rasanten Wandels, rasanten gesellschaftlichen und technologischen Wandels unsere Gesellschaft zusammen?
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Meine Antwort ist klar: Es gibt zwei Dinge, die wir leisten müssen.
Zum einen geht es um einen starken, handlungsfähigen Sozialstaat, der Lebensrisiken verlässlich und armutsfest absichert, auf den sich die Menschen verlassen können. Ich bin aber auch der Meinung, dass der Sozialstaat mehr leisten muss: Er muss, wo immer es geht, Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnen.
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Deshalb bemisst sich für mich die Qualität des Sozialstaates nicht allein an der Frage der Höhe des sozialen Transfers – er ist notwendig, er muss armutsfest sein bei großen Lebensrisiken –,
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aber die eigentliche Frage ist, ob wir es schaffen, nicht Menschen in Armut zu verwalten, sondern ihnen die Chance auf ein freies und selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir einen verlässlichen und handlungsfähigen, aber eben auch einen stärker vorsorgenden Sozialstaat, der dafür sorgt, dass Menschen wirklich selbstbestimmt, möglichst in Arbeit mit gutem Einkommen, ihre Familien ernähren können, dass Kinder gleiche Chancen haben, unabhängig von ihrer Herkunft. Es geht darum, die sozialen Voraussetzungen für ein freies und selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Dafür werden wir arbeiten.
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Zum Zweiten ist wichtig, wenn wir unsere Gesellschaft zusammenhalten wollen: Es darf nicht nur um den Staat gehen, um einen starken und handlungsfähigen Staat, um einen sozialen Rechtsstaat, sondern es geht auch darum, dass die Menschen das Gefühl haben, dass es in diesem Land fair und gerecht zugeht. Nur wenn es uns gelingt, dass die Menschen in diesem Land zu Recht das Gefühl haben, dass sie Teil einer Gesellschaft sind, einer vielfältigen Gesellschaft, aber eben einer Gesellschaft, werden wir in Zeiten rasanter Umbrüche unser Land zusammenhalten können.
Deshalb, Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich diese Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. Das zentrale Ziel, das wir uns in dieser Legislaturperiode auf die Fahnen geschrieben haben, ist, dass wir nach der guten Entwicklung, die wir am Arbeitsmarkt miteinander erreicht haben, tatsächlich für Vollbeschäftigung in Deutschland sorgen. Wenn ich von Vollbeschäftigung rede, dann gehören dazu eine gute Lohnentwicklung ebenso wie eine stärkere Tarifbindung und – nicht zu vergessen – anständige Arbeitsbedingungen. Wir wollen nicht irgendeine Vollbeschäftigung. Wir wollen gute Arbeit, wir wollen die Menschen in gute Arbeit bringen.
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Deshalb wird es in einem der ersten Gesetze, das ich in den ersten 100 Tagen als Minister auf den Weg bringen werde, das längst überfällige Recht auf befristete Teilzeit geben.
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Worum geht es dabei? Es geht vor allen Dingen um die Lage von Frauen am Arbeitsmarkt, die manchmal freiwillig, aber ganz oft unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. Vor geraumer Zeit haben wir das Recht auf Teilzeit geschaffen. Das war gut und richtig so. Aber es kann und darf nicht sein, dass das ein Dauerschicksal wird, weil das mit Einkommen und letztlich auch mit Auskommen zu tun hat und weil es auch um die Sicherung des Lebensstandards im Alter geht. Wer sein Leben lang nur Teilzeit arbeitet, erwirbt keine Rentenanwartschaften, die wirklich reichen. Deshalb ist es eine Frage der Fairness und Gerechtigkeit, dass diese Koalition das endlich durchsetzt. Ich bin Andrea Nahles dankbar für die Vorarbeiten, aber vor allen Dingen dafür, dass sie das in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat. Das wird in den ersten 100 Tagen auf den Weg gebracht, meine Damen und Herren.
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Beim Thema „Alterssicherung und Rente“ geht es auch darum, recht kurzfristig dafür zu sorgen, dass das Rentenniveau in Deutschland stabil bleibt. Wir werden die Rentenanpassungsformel ändern und gleichzeitig dafür sorgen – Stichwort: doppelte Haltelinie –, dass wir stabile Beiträge in Deutschland haben. Beides ist notwendig, und beides werden wir in diesem Jahr gesetzgeberisch angehen.
Die Einführung der Grundrente ist ebenfalls eine Frage der Fairness und des Anstands. Wir wollen dafür sorgen, dass die Menschen – auch in diesem Fall sind es vor allen Dingen Frauen –, die ihr Lebtag gearbeitet haben, die hart gearbeitet haben, trotz niedriger Löhne im Laufe ihres Arbeitslebens am Ende mehr haben als diejenigen, die nie gearbeitet haben. Deshalb ist die soziale Grundsicherung das eine und die Grundrente das andere. Wir wollen das schaffen, und wir werden das schaffen.
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In der letzten Legislaturperiode hat meine Amtsvorgängerin Andrea Nahles in der damaligen Großen Koalition dafür gesorgt, dass wir Verbesserungen im Bereich der Erwerbsminderungsrente durchsetzen konnten. Wir haben dafür gesorgt, dass die Menschen, die aufgrund körperlicher und manchmal auch psychischer Probleme einfach nicht mehr arbeiten können, im Übergang zum Ruhestand bessere Leistungen bekommen. Ich freue mich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU und SPD, dass wir es geschafft haben, uns in diesem Koalitionsvertrag auf eine Verbesserung dieser Leistungen zu verständigen. Wir werden sie weiter verbessern, weil wir flexible Übergänge in den Ruhestand brauchen, weil die Lebenssituationen der Menschen sehr unterschiedlich sind. Wir werden uns bemühen, wo immer es geht, unseren Beitrag zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit zu leisten, und dafür sorgen, dass Arbeit nicht krank macht. Aber wir müssen der Realität ins Auge sehen: Es gibt Menschen, die können nicht mehr; die brauchen einen flexiblen Übergang in den Ruhestand.
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Herr Minister Heil, erlauben Sie bei Ihrem Blick auf die Realitäten eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Bitte schön.
Erst einmal lieben Dank, Herr Präsident. – Verehrter Herr Minister, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Herr Minister Heil, Sie haben eben davon gesprochen, dass die Sozialsysteme für armutsfeste Leistungen sorgen sollten. Sie haben das Thema Grundrente angesprochen. Ich gehe davon aus, dass auch durch Einführung der Grundrente die Rente nicht armutsfest werden wird.
Ich möchte Sie jetzt aber mit Bezug auf den Koalitionsvertrag nur fragen, ob Sie dem Hohen Hause zusichern können, dass an der Rentenkommission, die Sie noch im Laufe dieses Jahres einberufen wollen, dieses Mal auch die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker der Opposition von Beginn an beteiligt sein werden. Es ist gut und richtig, dass die Gewerkschaften, die Sozialverbände und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Expertise einbringen können. Aber ich frage Sie: Werden Sie auch die Meinung der Opposition dazu in dieser Kommission einholen?
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. Danke für Ihre Zwischenfrage. Das wäre mein nächster Stichpunkt gewesen. Mit Ihrer Frage verlängern Sie meine Redezeit. Dafür bin ich Ihnen außerordentlich dankbar.
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– Ist das nicht so? Dann muss ich das noch lernen. Ich will die Frage aber gerne beantworten.
Herr Minister, es ist so. Ihre Redezeit wird dadurch verlängert.
Sehen Sie, dann habe ich doch recht.
Wir werden bis zum Sommer die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ einsetzen. Bei all dem, was ich eben beschrieben habe, bei all dem, was wir fest vereinbart haben, nehmen wir die nächsten Jahre in den Blick, Herr Kollege. Wir müssen die Rente aber auch langfristig krisenfest, armutsfest und stabil halten. Das betrifft übrigens nicht nur die Rente, sondern die Alterssicherung insgesamt. Wie die Kommission genau zusammengesetzt wird, das werde ich im Sommer entscheiden. In jedem Fall werden Vertreter der Sozialpartner und der Wissenschaft dabei sein. Ich kann Ihnen eins versichern: Ob Sie in der Kommission sind oder nicht: Wenn Sie gute Vorschläge haben, dann schieben Sie diese rüber, und wir werden darüber diskutieren.
Denn Folgendes ist wichtig, wenn Sie sich konstruktiv einbringen wollen:
({0})
Egal ob es um das gesetzliche Rentenversicherungssystem geht oder um die betriebliche Rente – da ist schon Gutes passiert – oder um eine notwendige kritische Überprüfung der privaten Altersvorsorge hinsichtlich ihrer Verteilungswirkung und ihrer Finanzierungseffekte: Sie sollten, wenn Sie Beiträge leisten – und darum bitte ich Sie –, immer im Blick haben, dass die Zukunft der Rente in der Zeit, über die wir reden, in der die Babyboomer in Rente gehen, im Wesentlichen davon abhängt, wie es am Arbeitsmarkt aussieht: ob wir Vollbeschäftigung erreichen, ob wir für eine gute Lohnentwicklung sorgen.
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Wenn Sie in dieser Richtung gute Vorschläge haben und diese auch noch realistisch sind, dann sind Sie herzlich eingeladen, ob sie Mitglied der Kommission sind oder von außerhalb. Sie werden gehört; das sage ich Ihnen zu.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht um einen verlässlichen Generationenvertrag. Eins werden Sie mit mir nicht erleben: dass die oberflächliche Art und Weise, wie manchmal öffentlich über die Rente und die Alterssicherung diskutiert wird, so fortgesetzt wird, dass wir zulassen, dass in diesem Land Generationen gegeneinander ausgespielt werden. Das kann und darf nicht sein. Die Rentnerinnen und Rentner von heute und diejenigen, die rentennah sind, sind keine Empfänger von Mildtätigkeiten des Staates, sondern Männer und Frauen, die hart gearbeitet haben. Die Rente ist ein soziales Recht, das Menschen sich erworben haben, und dabei muss es auch bleiben.
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Um gleichzeitig dafür zu sorgen, dass wir die mittlere und die jüngere Generation bei den Beiträgen nicht überfordern, werden wir einen Interessenausgleich herstellen müssen. Wie gesagt, die Zukunft des Alterssicherungssystems am Ende der 20er-Jahre entscheidet sich vor allen Dingen am Arbeitsmarkt. Deshalb habe ich auf diesen Zusammenhang hingewiesen.
Ein Herzensanliegen ist für mich, dass wir im Ministerium für Arbeit und Soziales, aber auch in der Bundesregierung insgesamt unseren Beitrag dazu leisten, die Lebensperspektiven für Kinder und Jugendliche in diesem Land spürbar und dauerhaft zu verbessern. Ich habe vor, gemeinsam mit Ressortkollegen einen Masterplan gegen Kinderarmut auf den Weg zu bringen. Wir haben mit Franziska Giffey eine Familienministerin, die in ihrem Verantwortungsbereich dafür sorgen wird, dass der Kinderzuschlag verbessert wird. Das ist vor allen Dingen notwendig, damit Frauen, vor allem alleinerziehende Frauen, die zwar arbeiten, aber – nur aufgrund der Tatsache, dass sie Kinder haben – in der Grundsicherung sind, aus der Grundsicherung herauskommen. Der Kinderzuschlag ist von Renate Schmidt auf den Weg gebracht worden. Wir werden ihn so ausbauen, dass Menschen, die arbeiten, nicht in der Grundsicherung sein müssen. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Fortschritt.
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Wir werden das Schulbedarfspaket verstärken. Ich freue mich, dass die Kollegin im Bildungsministerium die Möglichkeit hat, mit den Mitteln, die wir zur Verfügung stellen werden, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen auszubauen und dafür zu sorgen, dass unsere Schulen die Kinder und Jugendlichen auf ein selbstbestimmtes Leben so vorbereiten, dass wir den Zusammenhang von Lebensweg und Herkunft endlich durchbrechen. Das Leben muss für die Menschen offen sein. Nicht Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht dürfen über das Schicksal von Menschen entscheiden, sondern jeder und jede muss die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Deshalb ist die Teilhabe an Bildung für Kinder im Kampf gegen Kinderarmut genauso wichtig wie vernünftige Arbeitsplätze und gute Löhne für die Eltern.
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Last, but not least: Ein zentraler Schwerpunkt meiner Arbeit wird die Zukunft der Arbeit im digitalen Wandel sein. Es geht eben nicht nur um Wirtschaft 4.0 und Industrie 4.0, sondern es geht in der Zukunft vor allen Dingen um Arbeit 4.0. Ich habe keine Angst vor dem technologischen Fortschritt. Wir alle sollten keine Angst vor dem technologischen Wandel haben. Aber wir wissen, dass wir eine ganze Menge tun müssen, damit aus technologischem Fortschritt auch sozialer Fortschritt werden kann. Das kommt nicht von alleine. Dabei werden die Sozialpartner gefragt sein, und dabei ist auch der Staat gefragt. Sicherheit im Wandel zu schaffen, dafür zu sorgen, dass wir den Strukturwandel, der rasant auf uns zukommt, erfolgreich gestalten, dass wir den politischen Rahmen für die Arbeit in der Plattformökonomie gestalten oder in modernen Fabriken, wo Menschen mit Maschinen und Maschinen mit Maschinen interagieren werden – das ist die Gestaltungsaufgabe der Zukunft.
Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage: Man kann den Strukturwandel erfolgreich gestalten. In meiner Heimatstadt waren früher 10 000 Leute im Stahlwerk beschäftigt, jetzt sind es 800. Wir hatten schwierige Zeiten mit Arbeitslosenquoten von 16, 17 Prozent; jetzt sind wir bei 5 Prozent. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Strukturwandel gelingen kann. Aber dafür waren staatliche Unterstützung und auch das Handeln der Tarifpartner und der Sozialpartner in diesem Bereich notwendig.
Meine Lebenserfahrung zeigt, dass wir den Strukturwandel, der vor uns liegt, beherzt angehen, aber auch sozial flankieren müssen. Denn was unser Land sich nicht leisten kann, sind Strukturbrüche, die Menschen verletzen. Dafür will ich arbeiten: dass wir den Wandel so gestalten, dass alle Menschen die Chance auf sozialen Fortschritt haben.
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Deshalb zum Schluss, meine sehr geehrten Damen und Herren: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist das Haus, das, zusammen mit anderen, eine besondere Verantwortung für die soziale Marktwirtschaft in unserem Land hat, weil es eben auch das Haus der Sozialpartnerschaft ist. Ich setze auf die enge Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, weil wir nur gemeinsam den Wandel gestalten können, wissend, dass es unterschiedliche Interessen gibt und dass wir auch Mechanismen für den Interessenausgleich finden müssen. Wenn es beispielsweise um die Fachkräftesicherung geht, dann kann das die Politik nicht alleine regeln, sondern es ist vor allen Dingen Aufgabe der Unternehmen, für ihre eigenen Fachkräfte zu sorgen. Die Politik hat aber eine Verantwortung – und die Gewerkschaften auch. Das können wir nur gemeinsam durch den Ausgleich der Interessen von Beschäftigten und Arbeitgebern hinbekommen.
Für mich ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im doppelten Sinne die Herzkammer der Bundesregierung. Wenn es bei uns zu Herzrhythmusstörungen kommt, dann führt das nicht nur zu sozialen, sondern auch zu ökonomischen Verwerfungen. Für uns sind wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze; sie sind wechselseitige Bedingungen. Wir können soziale Sicherheit auf hohem Niveau nicht sichern, wenn wir nicht wirtschaftlich erfolgreich sind; das ist gar keine Frage. Umgekehrt können wir uns aber die Ausgrenzung von Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und von Arbeit nicht leisten – auch ökonomisch und übrigens auch hinsichtlich der demokratischen Entwicklung unserer Gesellschaft nicht.
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Deshalb soll das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Herzkammer der Bundesregierung sein – als starkes Ministerium für einen handlungsfähigen sozialen Rechtsstaat. Wenn wir auf diesem Weg am Ende dieser Legislaturperiode unseren Beitrag dazu geleistet haben, die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden, sodass sich die Menschen wirklich wieder mit gutem Recht auf die Zukunft freuen können, dann haben wir das Richtige getan.
In diesem Sinne möchte ich mich mit Ihnen gemeinsam an die Arbeit machen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag und allen Fraktionen, die bereit sind, konstruktiv zu arbeiten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Herr Minister Heil. – Sie haben Ihre Redezeit bedauerlicherweise oder auch dankenswerterweise um 3 Minuten 30 Sekunden überzogen, sodass für die sozialdemokratische Fraktion bei großzügiger Behandlung jetzt noch 1 Minute Redezeit übrig bliebe. Ich werde das sehr großzügig handhaben, um das mal so zu sagen, weil wir ja noch in der Lernphase sind.
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Als Nächstes spricht der Kollege Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Minister Heil, ich kannte Johann Wolfgang von Goethe bislang nur als großen deutschen Dichter und wusste nicht, dass er auch Visionär war. Offenbar kannte er Ihre Rede, als er sagte: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“
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Es scheint mir der richtige Anlass, Sie an die Wahlwerbung zu erinnern, mit der Ihre Partei unter Ihrer Federführung als Generalsekretär das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte bei einer Bundestagswahl eingefahren hat.
({1})
Da hieß es:
Gerechtigkeit wird immer ein Thema sein. Denn nur eine gerechte Gesellschaft hat auch eine Zukunft.
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Es gab auch einmal Zeiten, in denen die Wählerinnen und Wähler Ihnen das tatsächlich mehrheitlich abgekauft hätten. Diese Zeiten sind allerdings nachweislich, wie Sie selbst erlebt haben, vorbei.
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Sie selber sind bereits seit Ihrem 26. Lebensjahr Mitglied des Deutschen Bundestages. Daher fiel es Ihnen wahrscheinlich leicht, ein eifriger Verfechter der Hartz-Gesetze und auch der Rente mit 67 zu sein. All diese Punkte machen Sie aus Sicht Ihrer Partei zu einem Idealkandidaten für den Arbeitsminister und zu einem Verfechter der sozialen Gerechtigkeit.
({4})
Sie müssen allerdings davon ausgehen, dass auch in diesem Fall die Wähler das etwas anders sehen, weil sie erkannt haben, dass nach Ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit inzwischen nicht mehr nur bedeutend Besserverdienende zur Kasse gebeten werden, sondern auch Millionen derjenigen, die mit falschen Versprechungen hierhergelockt wurden, die für 0 Prozent Arbeit zu 100 Prozent an dem teilhaben können, was die Bürger Deutschlands erarbeitet haben.
({5})
Das Ende der Fahnenstange ist für Sie ja scheinbar noch immer nicht erreicht. Das, Herr Minister Heil, ist doch nicht soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit erfordert eine angemessene Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand und nicht eine unangemessen hohe Beteiligung derjenigen, die als Gäste hier weilen und diesen Wohlstand nicht erarbeitet haben und mehrheitlich leider auch in Zukunft nicht erarbeiten können; denn dafür bräuchten Sie eine entsprechende Anzahl geeigneter Arbeitsplätze mit niedrigen Qualifikationsanforderungen. Diese sind aber in den vergangenen Jahrzehnten unter Ihrer Regie leider massiv abgebaut worden. Wenn Sie uns nun einreden wollen, durch Bildung und Qualifizierung könnten Sie das alles beheben,
({6})
dann wollen Sie uns wahrscheinlich demnächst auch erklären, dass Sie über das Wasser laufen können, Minister Heil.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Vollbeschäftigung, die Sie versprechen, ist unter diesen Bedingungen nicht realisierbar. Stattdessen wollen Sie einen zweiten, einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen, um mal wieder die Arbeitslosenstatistik zu schönen.
({8})
Nennen Sie doch die Dinge beim Namen, und verkaufen Sie die Wählerinnen und Wähler nicht für dumm. Sie sind für die Bürgerinnen und Bürger unseres Vaterlandes längst nicht mehr der Robin Hood, für den Sie sich halten. Sie sind es, der den Menschen, die schon länger in diesem Land leben, ungeachtet ihrer Einkommensverhältnisse fast alles wegnimmt, was man einem Menschen nur wegnehmen kann, und zwar ihr Geld, ihren Lebensstandard, sei er noch so bescheiden, und ihre kulturelle Identität.
({9})
Ihre Partei war es, die durch ihre fehlgeleitete Politik Hunderttausende von Arbeitsplätzen ersatzlos gestrichen hat. Diese Bundesregierung selbst, deren Neuauflage wir nun erleben müssen, hat die soziale Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards ad absurdum geführt; denn Erhards Anliegen war Wohlstand für alle, nicht gesponserte Armut für Millionen von Menschen. Ihnen geht es nicht um das Wohl des deutschen Volkes oder darum,
({10})
Schaden von ihm abzuwenden, wie Sie es geschworen haben. Sie träumen von sozialen Wohltaten für Europa und sind, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit, dafür das Wohl des deutschen Volkes zu opfern.
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Was ich bei Ihrer Planung, Herr Minister Heil, grundsätzlich vermisse, ist ein durchgängiges Konzept, das die Interessen der Arbeitslosen, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Rentner und Pensionäre gleichermaßen berücksichtigt und sie in diesem Land wirklich gut und gerne leben lässt. Was ich stattdessen sehe, ist ein Stückwerk sinnloser und teilweise an Realitätsverweigerung grenzender Einzelmaßnahmen, die das Übel nicht an der Wurzel packen, sondern stattdessen vielfach die Wurzel des Übels verstärken, nämlich soziale Ungerechtigkeit.
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Die Alternative für Deutschland wird Sie bei Ihrem Tun in den nächsten Jahren nicht nur sehr genau beobachten, sondern im Sinne der Interessen unserer Wähler klar Position beziehen.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Witt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Zwischenrufe „Zur Sache!“ nehme ich mit Interesse zur Kenntnis. Einige Beiträge mögen Ihnen nicht sachlich erscheinen, aber das, was ein Abgeordneter zur Sache sagt, entscheidet er immer noch selbst. Solange der Minister persönlich angesprochen wird, spricht ein Abgeordneter nicht nur den Minister als Person an, sondern er spricht auch zur Sache. Das wollte ich Ihnen nur zur Kenntnis geben.
({0})
Als Nächster spricht zu uns der sehr geschätzte Kollege Hermann Gröhe von der Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Herr Minister, lieber Hubertus Heil! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte über die vom Minister vorgestellten Pläne der Großen Koalition im Bereich Arbeit und Soziales gefreut. Dazu gleich mehr.
Aber zuerst eine kurze Entgegnung auf das, was wir eben vom Kollegen Witt gehört haben. Ihre Polemik zeigt vor allen Dingen eins: Sie haben vom Wesen des deutschen Sozialstaates nichts verstanden.
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Ein Sozialstaat unserer Prägung, der auf der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen, Artikel 1 des Grundgesetzes, beruht, meint im Kern ein „Wir füreinander“ und niemals ein „Wir gegen die anderen“, meine Damen, meine Herren.
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Wer einer Spaltung der Gesellschaft das Wort redet, ist kein tauglicher Ratgeber für den Zusammenhalt in diesem Land.
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Um genau diesen Zusammenhalt und um die Zukunft des Sozialstaats geht es. Ich unterstreiche das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung und auch heute der zuständige Minister gesagt haben: Das zentrale Ziel für uns ist die Vollbeschäftigung. – Die starke Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren und die in vielen Regionen, nicht zuletzt im Süden und Südwesten Deutschlands, erreichte Vollbeschäftigung zeigen, dass dies ein realistisches Ziel ist.
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Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht eigenverantwortliche, selbstbestimmte Lebensführung. Das vermittelt Sinn.
Herr Kollege Gröhe, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Jetzt nicht. – Eine gute Beschäftigungslage ist Grundlage stabiler sozialer Sicherungssysteme. Wir sehen dies an den starken Leistungen und zugleich an der Möglichkeit sinkender Beiträge in der Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Dass wir im Jahr 2018 mit deutlich spürbaren Rentensteigerungen rechnen können, ist ebenfalls der guten Lohnentwicklung auf einem brummenden Arbeitsmarkt zu verdanken.
({0})
Dies alles zeigt: Wirtschaftliche Vernunft und soziale Verantwortung gehören untrennbar zusammen. Das ist die Grundüberzeugung der CDU/CSU-Fraktion.
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Noch so gut gemeinte Ideen, die die weitere gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gefährden, führen nicht weiter. Unbezahlbare Forderungen nach immer mehr Leistungen mögen zwar zur Oppositionsrhetorik taugen, sind aber keine verantwortliche Politik.
Vollbeschäftigung erreichen wir dann, wenn wir uns verstärkt und möglichst zielgenau um die verschiedenen Gruppen im Bereich der Langzeitarbeitslosen kümmern. Hier sieht der Koalitionsvertrag wichtige Maßnahmen vor, verbunden mit einer deutlichen Anhebung des Eingliederungstitels und auch mit einem Blick auf die Gesamtsituation nicht zuletzt der Familien und der jungen Leute. Dazu gehören auch die Fortsetzung der Förderung schwer zu erreichender junger Menschen nach § 16h SGB II und die Verstetigung der Mittel in Höhe von 50 Millionen Euro jährlich, eigens im Eingliederungstitel ausgewiesen, für Maßnahmen wie assistierte Ausbildung, Begleitungshilfen und vieles andere mehr.
Dieser Zusammenhang von wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung zeigt sich auch dann, wenn wir bei neuen Verpflichtungen für Arbeitgeber, auch Einschränkungen beispielsweise im Bereich von Befristungen, die Lage von kleinen und mittelständischen Betrieben und ihre große Bedeutung für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt besonders in den Blick nehmen. Deswegen gilt: Ja, wir wollen das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelfall. Wir wollen den Missbrauch von Befristungen abschaffen. Deswegen werden Kettenbefristungen bald der Vergangenheit angehören.
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Zugleich wollen wir Flexibilität. Deswegen sehen wir bestimmte Vorschriften nur für Betriebe mit mehr als 75 Beschäftigten vor. Ein Rückkehranspruch in Vollzeit – das ist ein anderes Thema, das der Minister bereits angesprochen hat – soll nur für Betriebe mit mehr als 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelten.
Das sind gute Kompromisse zwischen unterschiedlichen Zielsetzungen. Wir haben über diese Kompromisse auch in den Koalitionsverhandlungen hart, aber immer fair gerungen. Ich sage den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion gerne zu: Wir werden ein verlässlicher Umsetzer und gegebenenfalls auch ein entschlossener Wächter dieser Kompromisse sein.
Lassen Sie mich auch einige Anmerkungen zum Thema Rente machen. Herr Minister Heil hat die verschiedenen Verbesserungen, die wir kurzfristig vorgesehen haben, genannt: Grundrente, Mütterrente, Erwerbsminderungsrente. Ich ergänze noch die Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen. Zugleich wissen wir, dass es ab 2025 bzw. 2030 große Herausforderungen gibt, die beiden Ziele – keine Überforderung der Beitragszahler und eine verlässliche Altersvorsorge – in Einklang zu bringen. Deswegen war es der Union auch schon vor der Wahl sehr wichtig, zu sagen: Wir wollen in einer Kommission gemeinsam mit den Sozialpartnern dieses Konzept für die Zeit nach 2025 auch im Sinne einer Vertiefung – mancher würde sagen: Neubegründung – eines stabilen Rentenkonsenses erarbeiten.
Ich freue mich, dass diese Kommission alsbald die Arbeit aufnehmen wird.
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Der Minister hat das Erforderliche gesagt. Im Übrigen ist eine öffentliche Debatte im Parlament ein normaler Austausch zwischen den Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen. Das gilt im Fachausschuss sicher in gleicher Weise.
Wir stehen ein für Generationengerechtigkeit. Verzicht auf neue Schulden und Rekordinvestitionen in Bildung: Das ist Ausweis einer Politik, die sich der Generationengerechtigkeit verpflichtet weiß.
Ich sage aber sehr deutlich: Ich habe kein Verständnis dafür, wenn gut bezahlte Leitartikler eine Grundrente oder die angemessene Unterstützung der Pflege gleichsam als ein unanständiges Wahlgeschenk diffamieren. Dafür habe ich keinerlei Verständnis.
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Ich glaube übrigens – wen immer das angehen mag –: Weder hier im Haus noch außerhalb wird es gelingen, Generationen gegeneinander aufzuhetzen. Nicht jeder Ältere hat Kinder und Enkel. Aber jeder Jüngere hatte oder hat Eltern und Großeltern.
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Ich setze auf diese Generation; denn sie weiß, dass eine auskömmliche Alterssicherung und eine gute Pflege ein Gebot des Anstands sind. Deswegen wird das Aufhetzen der Generationen gegeneinander keine Zukunft haben.
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Dem Herrn Minister wünsche ich viel Erfolg. Alles Gute bei der neuen Aufgabe! Sie können sich darauf verlassen: Wir werden nur kritisieren, wo es notwendig ist, und nur loben, sodass es die Arbeit nicht unnötig erschwert.
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Ich freue mich auf das Miteinander. Alles Gute!
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Gröhe. – Nun spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Johannes Vogel.
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„Wir müssen darauf achten, dass wir nicht verpassen, die Weichen so zu stellen, dass wir auch in zehn Jahren noch erfolgreich sind.“
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Das hat ein gewisser Hubertus Heil im Jahre 2013 gesagt. Das ist ein richtiger Anspruch. Ich muss aber leider mit Blick auf den Koalitionsvertrag feststellen: Von diesem Anspruch ist nicht mehr viel übrig geblieben.
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Natürlich wäre es jetzt an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie ein großer Wurf in der Sozialpolitik aussehen könnte, wie eine längere Perspektive sein muss. Aber gerade mit Blick auf die Rente zeigt sich Ihre verengte Perspektive im Koalitionsvertrag auf erschreckende Art und Weise.
Was machen Sie? Sie setzen die Ausgabenpolitik der letzten Legislaturperiode einfach fort und schnüren ein neues Rentenpaket, wodurch bis 2030 noch einmal 130 Milliarden bis 170 Milliarden Euro zusammenkommen. Und der überwiegende Teil davon dient eben nicht zielgenau – da hätten Sie uns an Ihrer Seite – der Verhinderung von Altersarmut. Vielmehr geben Sie das Geld mit der Gießkanne, nein, mit dem Gartenschlauch aus. Das ist der falsche Weg.
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Als ob das nicht schlimm genug wäre, wollen Sie auch noch – das muss man leider so hart sagen – die Rentenformel manipulieren.
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Sie wollen den Nachhaltigkeitsfaktor, den die SPD selbst eingeführt hat, aussetzen, bevor die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Was bedeutet das konkret? Nachdem der Nachhaltigkeitsfaktor in den letzten Jahren die Rente sogar erhöht hat – weil er Einzahler und Auszahler ins Verhältnis setzt –, soll er künftige Steigerungen nun nicht mildern dürfen. Das ist unfair, weil es genau Generationen gegeneinander ausspielt; denn Großeltern, Kinder und Enkel haben einen Anspruch, sich auf die Rentenformel verlassen zu können. Das ist zudem kurzsichtig, weil es das Fundament der Rentenfinanzen untergräbt.
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Wenn Sie mir das nicht glauben, dann glauben Sie es wenigstens einem klugen Sozialdemokraten. Franz Müntefering hat genau mit Blick auf diese Fragen treffend gesagt: „Das kann überhaupt nicht funktionieren. Dafür muss man nicht Mathematik studiert haben, da reicht Grundschule Sauerland.“ Der Mann hat leider recht.
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Das Problem ist: Die Zeche für diese Ausgabenparty werden die junge Generation zahlen und diejenigen, die ein kleines Einkommen in diesem Land haben; denn diese werden von steigenden Beitragssätzen besonders belastet. Die Beitragssätze werden steigen, weil Sie, lieber Herr Minister Heil, im Koalitionsvertrag kein Steuergeld hierfür vorgesehen haben. Sie als Bundesregierung haben uns vor wenigen Tagen zudem bestätigt, dass die Beitragssätze nicht nur stärker, sondern auch früher als geplant steigen werden. Wissen Sie, wann? Exakt im Jahre 2022, also ein Jahr nach dieser Legislaturperiode. Symbolträchtiger könnte man Ihre Rentenpolitik gar nicht auf den Punkt bringen. Das Motto lautet: Nach uns die Sintflut!
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Die Menschen verdienen allerdings eine Politik, die in Jahrzehnten denkt und nicht in Legislaturperioden. Was wäre stattdessen zu tun? Drei konkrete Beispiele für eine Modernisierung der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik:
Erstens. Lassen Sie doch das Klein-Klein der Flexirente hinter sich, und schaffen Sie einen wirklich flexiblen Renteneintritt. Die Norweger und die Schweden machen uns das erfolgreich vor. Dort können die Menschen selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen. Das wäre auch für Deutschland der richtige Weg.
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Zweitens. Diskutieren wir über einen Sozialstaat, der konkret mehr Aufstiegschancen schafft. Verändern Sie, lieber Hubertus Heil, zum Beispiel die Zuverdienstgrenzen, damit es sich für Menschen im Arbeitslosengeld-II-Bezug lohnt, Schritt für Schritt durch mehr Anstrengungen mehr zu verdienen. Bauen wir ihnen eine trittfeste Leiter aus der Bedürftigkeit heraus. Das wäre ein moderner Weg.
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Drittens und letztens. Nutzen wir die faszinierenden Chancen der Digitalisierung. Ändern wir zum Beispiel das Arbeitszeitgesetz, sodass die Menschen selbst entscheiden können, was, wann und wo sie arbeiten. Sorgen wir dafür, dass der Sozialstaat zu modernen Zickzacklebensläufen passt. Zu diesen Themen finden wir in Ihrem Koalitionsvertrag leider nichts oder nur vage Ankündigungen. Das wird nicht reichen.
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Wenn Sie hier umkehren und eine echte Modernisierung angehen wollen, dann haben Sie uns an Ihrer Seite, dann werden wir Sie unterstützen. Wenn Sie diesen Weg allerdings nicht einschlagen und gleichzeitig die Solidität unserer sozialen Sicherungssysteme untergraben, dann bekommen Sie unsere Opposition zu spüren. Auf diese Auseinandersetzung freue ich mich.
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Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. Auch wenn wir beide uns mögen, wäre es einfach eine Geste, wenn Sie am Beginn Ihrer Rede das Präsidium grüßen würden.
({0})
Dass ausgerechnet die Fraktion der Linken einen Freien Demokraten auf dieses Stilelement hinweisen muss, finde ich bemerkenswert.
({1})
Als Nächstes hat die Kollegin Katja Kipping das Wort für die Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich beginne mit einem Zitat:
Mein Name ist Sandra, ich … habe einen … Sohn. Leider bin auch ich Empfängerin von … Hartz IV. Dies öffentlich zuzugeben, fällt mir nicht leicht. Doch der Wille, die Aussagen von Jens Spahn nicht einfach vorüberziehen zu lassen, ist stärker als die Scham.
Mit diesen Worten beginnt eine Petition, die Jens Spahn auffordert, einen Monat von Hartz IV zu leben. Mehr als 160 000 haben diese Petition inzwischen unterzeichnet. Jede Unterschrift ist eine Rote Karte für den schwarzen Spahn, und die hat er sich verdient.
({0})
In gewisser Weise bin ich Jens Spahn dankbar, weil er mit seinen Aussagen offengelegt hat, was die Politik dieser Regierung ausmacht: soziale Ignoranz gegenüber Hartz-IV-Betroffenen. 175 Seiten umfasst der schwarz-rote Koalitionsvertrag. Auf diesen 175 Seiten findet sich nicht ein Satz zur Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze. Als Sie noch kein Minister waren, Herr Heil, haben Sie die Form der Berechnung mit den Worten kritisiert: „Das riecht nach Willkür.“ Heute, Herr Heil, verteidigen Sie ganz offensichtlich diese Willkür. Da kann ich nur sagen: Da ist der CDU-Arbeitnehmerflügel inzwischen sogar weiter. Er bringt wenigstens eine kleine Erhöhung ins Spiel.
({1})
Auf 175 Seiten findet sich nicht eine Aussage zu einer Abmilderung, geschweige denn zur Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, obwohl von jeder dritten Sanktion auch Haushalte mit Kindern betroffen sind. Im Klartext: Hartz IV gefährdet das Kindeswohl und gehört deswegen abgeschafft.
({2})
Herr Heil, ich habe heute sehr genau zugehört und fand spannend, was Sie zur Selbstbestimmung gesagt haben. Aber Sie müssen doch auch realisieren, dass Hartz IV das Gegenteil von Selbstbestimmung bedeutet.
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Insofern finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie bei diesem Thema nicht einen Millimeter über den Koalitionsvertrag hinausdenken. Wenn Sie so weitermachen, bleiben Sie nichts anderes als ein Hartz-IV-Vollzugsminister.
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Vor 15 Jahren wurde die Agenda 2010 verkündet. 15 Jahre später stellen wir fest: Die Saat ist aufgegangen. Die soziale Entsicherung hat ein Klima der Angst befördert, und diese Angst ist ein guter Nährboden für Rassismus und für Nationalismus, sodass wir jetzt auch hier im Parlament diese räudige Rechte sitzen haben. Ich finde, das ist eine verheerende Bilanz.
({5})
Das sozialpolitische Weiter-so dieser Regierung ist wie das Resteessen auf der „Titanic“: Sie holen sich Goldman-Sachs-Banker an Bord. Sie reparieren hier und da irgendetwas. Aber Sie verändern nicht den Kurs, und Sie gefährden damit weiter den sozialen Frieden in diesem Land. Dieses Land brauchte etwas anderes: einen Sozialpakt, der die Mitte schützt, soziale Garantien, die alle sicher vor Armut schützen.
Ich sage abschließend in Richtung der Regierungsbank: Hören Sie auf, Arme, Frauen, Flüchtlinge und Andersgläubige zu beschimpfen. Legen Sie sich doch endlich einmal mit der Chefetage der Deutschen Bank an, die sich Milliardenboni auszahlt.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der geschätzte Kollege Kurth.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Hubertus Heil, Sie haben von Zukunftssorgen gesprochen, die in diesem Land bestehen. In der Tat muss dann die Hauptfrage sein: Gibt diese erneute Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD belastbare Antworten auf Zukunftsfragen? Leider muss ich mehrheitlich feststellen, wenn ich mir das Kapitel des Koalitionsvertrages zu Arbeit und Soziales anschaue: Nein. Das gilt nicht nur für die Finanzierung der Rente. Es ist aber ganz offensichtlich, dass es beispielsweise für die neue Mütterrente keine zukunftsfähige Finanzierung gibt. Darum will ich mich drei Bereichen aus der Arbeitswelt zuwenden.
Was ist die Antwort der Großen Koalition auf den Wandel der Arbeitswelt und der Wirtschaft? Welche Perspektiven bietet die Große Koalition den Beschäftigten, die wissen, dass sie mit einer Qualifikation nicht ihr gesamtes Arbeitsleben bei einem Arbeitgeber bestreiten können? Um es konkret zu machen: Welche Angebote hat diese neue Regierungskoalition für die Personen, die jetzt überlegen, eine Pflegeausbildung zu machen, aber wissen, dass sie es in diesem Beruf wahrscheinlich nicht bis zur Rente schaffen werden? Welche Antworten? Wenige! Es gibt nur wolkige Worte wie „Nationale Weiterbildungsstrategie“ oder „neue Weiterbildungskultur“, also im Prinzip einen warmen Händedruck und ein Schulterklopfen nach dem Motto: Weiter so! – Das ist kläglich.
({0})
Nötig wäre es, den Strukturwandel nicht allgemein zu beschreiben, sondern tatsächlich konkrete Schritte einzuleiten, zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln, damit die Qualifikation von bereits Beschäftigten finanziert und organisiert wird, bevor Erwerbslosigkeit eintritt. Stattdessen bei der Großen Koalition: fehlende Nachhaltigkeit, keine echte Zukunftsfähigkeit.
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Was ist die Antwort für die Menschen, die lange in der Arbeitslosigkeit feststecken, die einen ganzen Umzugskarton mit erfolglosen Bewerbungen füllen können? Jetzt muss ich mal die Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten ansprechen und ein Beispiel dafür nennen, wo Sie dieser Tage wieder einmal – ja, so muss ich sagen – quasi täuschen.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, verkündete vor drei Tagen mit großer Geste, er sei jetzt für ein solidarisches Grundeinkommen. Ich dachte schon: Alter Finne! Die SPD will jetzt das Grundeinkommen. Da fällt dir doch der Kitt aus der Brille. – Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin kein Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens,
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aber ich dachte mir: Steile Vorlage.
Dann ließ Herr Müller die Katze aus dem Sack. Das angebliche Grundeinkommen ist in Wirklichkeit ein schmales Salär für Langzeitarbeitslose, die beispielsweise als Hausmeister in Schulen arbeiten sollen – als billiger Jakob, weil sich das Land Berlin Bezahlung nach Tarif dort nicht leisten möchte.
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Wir Grüne haben nichts dagegen, Langzeitarbeitslose mit einem dauerhaften Lohnkostenzuschuss zu unterstützen – nach Tarif bezahlt; versteht sich. Wir wollen keine Förderstrategie, die neue 1-Euro-Jobs schafft, sondern wir wollen Handwerksbetriebe befähigen und ermutigen, Langzeitarbeitslose einzustellen.
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Die nächste Zukunftsfrage ist das Thema Hartz IV, das die Kollegin Kipping schon angesprochen hat. Was ist eigentlich von dem Teil unseres Systems der sozialen Sicherung zu halten, das ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen soll, von den Betroffenen aber vielfach als mangelhaft und von den Beschäftigten als Bedrohung empfunden wird? Da müssen wir uns nichts vormachen. Ich will die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern nicht schlechtmachen, aber: Wer beschäftigt ist, arbeitslos zu werden droht und vielleicht vor Augen hat, in den Bezug von Arbeitslosengeld II zu kommen, hat im Moment nicht das Grundgefühl: „Super, ich komme jetzt in eine Struktur, die mich auffängt, unterstützt und motiviert“, sondern hat Angst. Auf diese wirklich krasse Kluft zwischen dem, was der Gesetzgeber mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende früher einmal angestrebt hat, und dem, was in weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen wird, gibt der Koalitionsvertrag keine Antwort – keine einzige!
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Dabei zeigt die jüngste Debatte um Hartz IV, wie dringend notwendig eine grundsätzliche Debatte über die Wirklichkeit der Arbeitsförderung und der Existenzsicherung wäre. Wir müssen uns fragen: Wie gestalten wir Absicherung so, dass sie Menschen ermutigt, motiviert, dass sie zusätzliche Anreize schafft? Wie erreichen wir das Ziel einer individuellen und sanktionsfreien Grundsicherung? Das ist die Debatte der Zeit, und die werden wir als Grüne führen.
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Am Ende möchte ich durchaus persönlich etwas sagen, weil mich das, was man in den vergangenen Tagen erleben musste, ein bisschen betroffen gemacht hat, aber vor allem auch sehr geärgert hat. Es bringt überhaupt nichts, arme Geringverdiener gegen arbeitslose Arme auszuspielen und gegeneinander in Stellung zu bringen.
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Und ich halte auch überhaupt nichts davon, Arme mit deutschem Pass gegen Arme mit nichtdeutscher Nationalität auszuspielen und gegeneinander in Stellung zu bringen. Das ist eine fruchtlose Debatte.
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Das bringt keinem der Betroffenen etwas. Was hat denn die alleinerziehende Mutter, die mit einem Teilzeitjob versucht, irgendwie über die Runden zu kommen, davon, wenn Jens Spahn so durch die öffentliche Debatte marodiert? Ich habe manchmal eher das Gefühl, dass sich einige von ihrem eigenen Nichtstun entlasten wollen und dann lieber solche Dinge anzetteln.
({9})
Wir sollten uns lieber darum bemühen, der Würde derjenigen, die meist ungewollt in solche Situationen von Abhängigkeit geraten sind, gerecht zu werden. Das wäre unser Job.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. – Als Nächstes für die SPD die Kollegin Katja Mast. Da ich es unfair fände, Sie nur eine Minute zu genießen, haben Sie jetzt zwei Minuten, Frau Mast.
({0})
Sehr geehrter Herr strenger Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie sind streng und gleichzeitig großzügig, wenn Sie das gerne hören möchten.
({0})
Ich will an dieser Stelle zuerst einmal Hubertus Heil dafür danken, dass er klargemacht hat, wie viel Energie und wie viel Veränderung für die Menschen in diesem Land in diesem Koalitionsvertrag stecken. Ich kann für die SPD-Bundestagsfraktion sagen: Wir stützen diese Politik und freuen uns darauf, in den nächsten Jahren mit ihm gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten.
({1})
Was macht eigentlich sozialdemokratische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aus?
Erstens. Für uns von der SPD ist Arbeit niemals nur Geld verdienen. Arbeit ist Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe und bietet soziale Sicherheit. Genau diese Gedanken finden Sie im Koalitionsvertrag. Wir stärken Tarifbindungen, damit Arbeit besser wird und die Würde der Menschen, die arbeiten, stärkt.
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Wir drängen Befristungen tatkräftig zurück. Wir sind nicht so weit gekommen, wie wir es gerne gewollt hätten. Wir waren bereit, die sachgrundlosen Befristungen abzuschaffen. Wir waren bereit, bei den Sachgründen noch mehr wegzunehmen. Dennoch: Wir schieben in diesem Koalitionsvertrag den Kettenbefristungen einen Riegel vor. Wir gehen mutig voran.
({3})
Wir steigern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr stark, unter anderem mit Rechtsansprüchen.
Was macht unsere Politik noch aus? Zweitens. Wer Hilfe braucht, soll sie bekommen. Wir kämpfen mutig gegen Kinderarmut. Natürlich ist es für Betroffene relevant, ob Kinder durch den Kinderzuschlag aus dem SGB-II-Bezug bzw. aus der Kinderarmut herauskommen oder nicht. Deshalb steckt da viel drin. Wenn Familien keinen Euro mehr für das Mittagessen ihrer Kinder zahlen müssen, dann ist das regelsatzrelevant. In diesem Koalitionsvertrag steckt einiges.
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Drittens. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Zukunft der Arbeit gestaltbar ist. Alle von den Oppositionsfraktionen picken sich hier irgendetwas heraus, bei dem sie finden, es stehe nichts zur Zukunft drin. Im Koalitionsvertrag steht richtig viel zur Zukunft.
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– Kollege Kurth, wir machen eine verbindliche Weiterbildungsberatung. – Kollege Vogel, wenn wir sagen, alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf eine Weiterbildungsberatung, dann gestalten wir ganz konkret die Digitalisierung in diesem Land und sorgen dafür, dass die Menschen mitkommen. Und wir werden die schäbigste Form des Arbeitsvertrags, nämlich Arbeit auf Abruf, regulieren. Auch das hilft uns an dieser Stelle.
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In diesem Sinne freue ich mich über die geringe und knappe Zeit, in der ich Sie dennoch an meinen und unseren Gedanken zu diesem Koalitionsvertrag teilhaben lassen konnte.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Mast. Das wird nicht die letzte Debatte zu diesem Thema sein. Sie werden noch Gelegenheit haben, dazu zu sprechen.
Als Nächstes für die AfD-Fraktion die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Bürger! In dieser Woche diskutieren wir über den Fahrplan der nächsten Bundesregierung und wie Deutschland in der nächsten Wahlperiode regiert werden soll. Der Koalitionsvertrag ist ernüchternd und enttäuschend zugleich. Nicht mehr als fünf Seiten ist Ihnen, meine Damen und Herren der Koalitionsparteien, unsere Sozialpolitik wert – 5 von 175 Seiten. Dabei nimmt der Einzelplan „Arbeit und Soziales“ rund 42 Prozent des geplanten Bundeshaushalts für 2018 ein und ist damit der größte Posten.
Mit dem Koalitionsvertrag wollen Sie mehr Gerechtigkeit schaffen und produzieren im Bereich der Mütterrente weitere Ungerechtigkeiten. Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, mehr Gerechtigkeit einzuführen, dann würden Sie die Mütterrente II nicht erst ab dem dritten Kind zahlen, sondern generell an alle Mütter.
({0})
Damit würden Sie diese Ungleichbehandlung von Müttern reell aus der Welt schaffen. Die Mütterrente darf außerdem nicht aus Mitteln der Rentenversicherung finanziert werden, da es sich hierbei um versicherungsfremde Leistungen handelt. Darauf werden wir achten.
({1})
Ihre Ankündigung, dass eine Rentenkommission bis 2020 ein Konzept zur Rente vorlegen soll, ist jetzt auch kein großer Wurf.
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Wie lange sind Sie in der Regierung? Wie lange sind die Schwierigkeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung schon bekannt? Warum haben Sie nicht schon längst ein eigenes Konzept vorgelegt?
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Ein Konzept erstellen, analysieren, evaluieren – mit dieser Strategie, meine Damen und Herren, schieben Sie die Verantwortung der nächsten Bundesregierung zu. Das kann es wirklich nicht sein.
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Der Koalitionsvertrag besteht aus vielen Seiten; es gibt darin aber leider keinen einzigen Abschnitt zu den Ostrenten. Lediglich die Bemerkung, dass für Härtefälle im Rentenüberleitungsprozess ein Ausgleich durch eine Fondslösung geschaffen werden muss, findet sich darin. Leider machen Sie keine Angaben zur Höhe des Fonds und zur Definition der Härtefälle. Wir fordern eine Aufarbeitung der Fälle, die bei der Rentenüberleitung nicht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Außerdem brauchen wir eine schnellere Angleichung der Ostrenten an die Westrenten.
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Was für die FDP die Hoteliers waren, sind für die kleine GroKo die Verleger. Zur Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen soll der Arbeitgeberanteil zur Rentenversicherung bei Zeitungszustellern für die Dauer von fünf Jahren von 15 auf 5 Prozent sinken. Damit soll wohl die positive mediale Präsenz der Koalitionsparteien auf Kosten der Zeitungszusteller erkauft werden.
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Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass der Arbeitnehmeranteil der Zeitungszusteller, die zumeist auf Mini-Job-Basis arbeiten, damit von 3,6 auf 13,6 Prozent ansteigt, viele Zeitungszusteller das folglich nicht tragen und sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen werden? Merken Sie eigentlich nicht, dass Sie mit Ihrer Politik die Altersarmut von morgen kreieren?
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Nein, liebe Genossen, so wird das nichts mit der sozialen Gerechtigkeit und schon gar nichts mit einer zukunftsorientierten Sozialpolitik.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sozialpolitik, die diesen Namen auch wirklich verdient, muss zuallererst denjenigen zielgerichtet helfen, die der Hilfe bedürfen.
({0})
Sie muss also das Gegenteil von Gießkannenpolitik sein. Sie darf Menschen nicht entmündigen, sondern sie muss echte Hilfe zur Selbsthilfe sein, und sie muss dazu beitragen, dass Menschen wieder auf den eigenen Beinen stehen können. Das ist die grundlegende Zielsetzung unserer Sozialpolitik.
({1})
Unter diesem Motto lassen sich im Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Punkten finden, die tatsächlich neue Chancen eröffnen. Bei manchem Redebeitrag der Oppositionspolitiker habe ich mich gefragt, ob sie nicht doch an einer leichten oder auch schweren Leseschwäche leiden;
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denn erstens haben wir eine hervorragende wirtschaftliche Entwicklung, die uns die Chance gegeben hat, die Arbeitslosigkeit in Deutschland massiv abzubauen, und die sich auch in diesem Jahr fortsetzt. Trotzdem haben wir tatsächlich eine Problemgruppe: Die Langzeitarbeitslosen, die fünf und mehr Jahre arbeitslos sind, haben es verdammt schwer, irgendeine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten.
„Zielgerichtet“ heißt deshalb, dieser Gruppe von Langzeitarbeitslosen die Chance zu geben, doch wieder in Arbeit zu kommen. Darauf zielt unser gemeinsames Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ ab, das wir in Gang setzen wollen. Dabei wollen wir die Leute nicht durch ein neues Hilfesystem drehen, sondern vorrangig Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt für diese Personen fördern.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, dass ich fragen darf, Herr Weiß. Sie wissen, dass wir, Bündnis 90/Die Grünen, das Konzept eines sozialen Arbeitsmarktes schon sehr lange Zeit fordern. So ein Projekt macht aber nur Sinn, wenn es nicht wieder ein klitzekleines Progrämmchen wird, das zeitlich befristet ist. Das heißt, man braucht entsprechende Mittel.
Ich frage Sie noch einmal: Wird der soziale Arbeitsmarkt tatsächlich mit einem Passiv-Aktiv-Transfer finanziert? Oder wird es nur so sein – wie es im Koalitionsvertrag momentan steht –, dass der Eingliederungstitel um 4 Milliarden Euro erhöht wird, was etwas ganz anderes wäre als das, was wir fordern? Wir wollen einen Passiv-Aktiv-Transfer, damit eine ausreichende Zahl von Menschen das Angebot und die Chance bekommt und damit es dauerhaft ermöglicht wird.
({0})
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, in der Tat: Um unser ehrgeiziges Vorhaben, Vollbeschäftigung in Deutschland zu erzielen, umzusetzen und zum Erfolg zu führen, bedarf es einer riesigen Kraftanstrengung, um gerade diejenigen, die arbeitsmarktfern sind und die mehrere sogenannte Vermittlungshemmnisse haben, für den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Sie zu aktivieren, vorzubereiten, zu unterstützen – vor allen Dingen durch Lohnkostenzuschüsse – und ihnen den Weg in Arbeit zu ebnen, kostet in der Tat Geld.
({0})
Im Koalitionsvertrag stehen dazu zwei Dinge.
Erstens. Wir erhöhen den sogenannten Eingliederungstitel – das ist der Haushaltstitel, aus dem Mittel für solche Programme entnommen werden – jedes Jahr um 1 Milliarde Euro, sprich innerhalb einer Legislaturperiode um 4 Milliarden Euro.
({1})
Zweitens. Wir wollen den Bundesländern ermöglichen, einen Passiv-Aktiv-Transfer einzuführen.
({2})
Was heißt das? Die Mittel, die ich für das Arbeitslosengeld II ausgebe, kann ich nehmen, um den Weg in Arbeit zu finanzieren. Ich finde, wir haben im Koalitionsvertrag miteinander eine tolle Vereinbarung getroffen, um unser Vorhaben anzugehen, denen, die es am Arbeitsmarkt am schwersten haben, den Weg in Arbeit zu ebnen.
({3})
Ich will noch ein kurzes Wort zu der sogenannten Hartz-IV-Debatte sagen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht in erster Linie darum gehen, ob der Regelsatz zu hoch oder zu niedrig ist. Das ist doch nicht die erste Frage, sondern die erste Frage lautet: Wie komme ich raus aus Hartz IV und Arbeitslosengeld II? Das wollen wir organisieren.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Tat ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, unsere Alterssicherung auf sichere Füße zu stellen. Verehrter Kollege Vogel, die typische FDP-Rede ist, es würde zulasten der jungen Generation gehen.
({5})
Der Kollege Gröhe hat schon gesagt: Generationengerechtigkeit heißt, ich muss auf beide – auf die Älteren wie auf die Jungen – schauen.
({6})
Uns war wichtig, etwas Ehrgeizigeres festzulegen als das, was heute im Gesetz steht, nämlich dass der Beitragssatz für die Jüngeren bis zum Jahr 2025 nicht über 20 Prozent steigen darf.
({7})
Andererseits helfen wir zielgerichtet denen, die es besonders schwer haben. Ein wichtiger Punkt ist zum Beispiel, dass wir die Erwerbsminderungsrente verbessern wollen. Wer aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls nicht mehr arbeiten kann, nicht mehr für das Alter vorsorgen kann – auch nicht privat –, der verdient die Hilfe des Sozialstaates. Es ist richtig, die Erwerbsminderungsrente für diese Menschen deutlich zu verbessern.
({8})
Angesichts der Zuwächse im Bereich der Grundsicherung sehen wir, dass viele Leute dabei sind, die überhaupt keinen Anspruch an die Rentenversicherung haben.
Es ist ebenso notwendig, eine verpflichtende Altersvorsorge für Selbstständige in Deutschland einzuführen. Jeder muss dann, wenn er Geld verdient, etwas auf die Seite legen können, um im Alter davon leben zu können. Es ist höchste Zeit für eine verpflichtende Altersvorsorge für Selbstständige. Wir haben sie in dieser Koalition miteinander vereinbart.
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Es ist doch so: Die 18,6 Prozent Rentenversicherungsbeitrag, die wir seit 1. Januar dieses Jahres haben, sind ein historisch niedriger Beitrag, der nur durch die gute wirtschaftliche Entwicklung möglich wurde. Alle früheren Prognosen haben etwas ganz anderes vorausgesagt. Das heißt, wir haben Handlungsmöglichkeiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, entgegen all dem Gejammer in vielen Bundestagsdebatten und öffentlichen Debatten gibt es in diesem Jahr die Sensation, dass am 1. Juli nicht nur die Rente um über 3 Prozent steigt, sondern auch das Rentenniveau ansteigt. Ich hätte mir gewünscht, dass gerade die Oppositionsredner, die sonst immer die Jammerorgie über das sinkende Rentenniveau anstimmen, heute Freudentänze aufführen, weil am 1. Juli 2018 das Rentenniveau steigt.
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In der Tat ist die Frage: Was ist eigentlich das große Zukunftsprojekt der Großen Koalition?
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Ich finde, im Bereich Arbeit und Soziales ist das klar benannt, obwohl der Herr Kollege Kurth meinte, das mit etwas kritischen Worten kommentieren zu müssen. Ich finde, das Vorhaben, eine nationale Weiterbildungsstrategie in Gang zu setzen, bei der der Staat und die Sozialpartner zusammenarbeiten, mit der wir jeder Arbeitnehmerin, jedem Arbeitnehmer in Deutschland die Möglichkeit geben, sich beruflich so fort- und weiterzubilden, dass er oder sie auf die Zukunft der digitalisierten Arbeitswelt vorbereitet ist, ist das größte Zukunftsprojekt, das wir sozialstaatlich in diesen kommenden Jahren auf die Beine stellen müssen und auf die Beine stellen werden. Nicht Abstiegsängste fördern, sondern den Menschen die Zukunft auftun, das ist das Ziel unserer Politik.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu denen, die unserer besonderen Unterstützung bedürfen, gehören auch die Menschen mit Behinderung. Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz in der letzten Legislaturperiode einen großen Schritt gemacht. Aber jetzt kommt es darauf an, dieses Gesetz auch in der Realität umzusetzen. Das heißt für mich vor allen Dingen, die Teilhabe an Ausbildung und Arbeit für Menschen mit Behinderungen voranzubringen – die Verlängerung der Assistierten Ausbildung ist zum Beispiel ein wichtiger Punkt – und außerdem die Teilhabe dadurch zu ermöglichen, dass wir durch Investitionen im öffentlichen Raum und allen Bereichen des Alltags Barrierefreiheit wirklich möglich machen. Das zentrale Ziel ist für mich: Wir wollen eine inklusive Gesellschaft schaffen und in den kommenden Jahren einen großen Schritt in Sachen Barrierefreiheit und bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vorankommen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Selbstverständlich. Die Kollegin Rüffer muss ja als Behindertenbeauftragte der Grünenfraktion etwas dazu sagen, wenn es schon die eigenen Redner vergessen haben.
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Das war aber eine harte Keule, Herr Weiß. Das kennen wir so gar nicht von Ihnen. – Herr Weiß, es hieß ja zum Bundesteilhabegesetz: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. Man muss einfach sagen, dass sich in Ihrem langen Koalitionsvertrag zu diesem Thema wirklich nur Trippelschritte finden lassen. Insofern kann man sagen, dass hier an den Stellen, wo es Schwierigkeiten gibt, nicht nachgebessert wird. Das könnte man in epischer Breite ausführen.
Aber ich möchte auf einen anderen Punkt eingehen, nämlich auf den Bereich der Barrierefreiheit. Wir hatten dazu eine intensive Auseinandersetzung im Rahmen der Reform des BGG, des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wir sind heute und wir waren damals der Meinung, dass die Privaten in die Verantwortung genommen werden müssen. Es ist ja richtig: Das Leben von Menschen mit Behinderungen findet nicht statt in der öffentlichen Verwaltung, sondern es findet statt in Kneipen, es findet statt in Kinos, es findet da statt, wo unser Leben auch stattfindet. Dort gibt es aber keine Verpflichtung zur Schaffung von Barrierefreiheit. Wenn wir die inklusive Gesellschaft gestalten wollen, dann müssen auch in diesem Bereich Private in die Verantwortung genommen werden. Damit hat man in den USA in den 70er-Jahren begonnen. Wir haben 40 Jahre Verspätung. Es ist jetzt wirklich an der Zeit.
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Frau Kollegin Rüffer, Ihre Zwischenfrage zielt auf einen Punkt ab, bei dem wir unterschiedliche Herangehensweisen haben. Meine Überzeugung ist: Ob ich mit rein gesetzlichen Verpflichtungen, die, wenn sie von jemandem, zum Beispiel einem Gastwirt, nicht erfüllt werden können, eher dazu führen, dass bei uns im ländlichen Raum noch eine Gastwirtschaft zugemacht wird,
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oder ob ich durch entsprechende Förderung etwas in Bewegung setze, sind sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Ich glaube, dass wir über das Fördern eher zum Ziel kommen.
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Ich will ein Beispiel nennen. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass das die Frau Kollegin Tack in den Koalitionsverhandlungen angesprochen hat. Gibt es auf den schönen Dorffesten, auf die auch wir Abgeordnete gerne gehen, eigentlich eine Behindertentoilette? Meistens nicht. Um nur einmal ein Thema zu nennen: Wäre es nicht ein schönes Förderprogramm, das wir miteinander initiieren könnten, für jeden Landkreis in Deutschland eine solche mobile Behindertentoilette anzuschaffen, die auf Dorffesten steht? Schon wäre wieder ein Stück Barrierefreiheit – nicht durch gesetzliche Anordnung, sondern durch Förderprogramme, durch uns – geschaffen. Auf diese Art und Weise werden wir – das sage ich Ihnen zu – durch entsprechende Investitionsanreize und Förderungen dafür sorgen, dass wir in den kommenden Jahren beim Thema Barrierefreiheit einen weiteren großen Schritt vorankommen.
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Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich will zum Schluss zusammenfassen: Unsere Politik, gerade die Sozialpolitik, ist eine Politik für neue Chancen, für mehr Zielgenauigkeit, für mehr Hilfe zur Selbsthilfe. Sie ist eine moderne und zukunftsgerichtete Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Lassen Sie uns in den kommenden Jahren gemeinsam diesen Weg gehen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Als Nächster: Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Regierungserklärung zum Ressort „Arbeit und Soziales“ hatten Sie damals, Frau Nahles, das Schicksal der Langzeitarbeitslosen am Ende Ihrer Rede in den Mund genommen. Hubertus Heil hat es nun an den Anfang seiner Rede gesetzt. Ich hoffe, dass das in den nächsten vier Jahren nicht der einzige Unterschied zwischen Ihrer Politik sein wird. Das, was Sie in den letzten vier Jahren für die Menschen, die langzeitarbeitslos sind, gemacht haben, war definitiv zu wenig.
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Nur Kleinprogramme: hier einmal für 10 000 Menschen, da einmal für 30 000 Menschen, obwohl Sie natürlich wussten, dass es um das Schicksal von Hunderttausenden geht. Da sind Sie zu klein gesprungen. Das lag nicht in Ihrem Fokus, nicht in Ihrem Interesse. Das muss sich jetzt ändern.
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Das, was Sie gemacht haben, war falsch. Sie haben es nicht gut gemacht. Es war überbürokratisiert und hatte dadurch viel zu wenig Wirkung. Die Evaluation des ESF-Bundesprogramms hat ganz klar gezeigt, dass der Verwaltungsaufwand Ihrer Maßnahmen zu groß war oder teilweise sogar als widersinnig beurteilt worden ist. Was noch viel schlimmer war: Viele Jobcenter haben sich gar nicht erst auf das Programm beworben, weil sie schon im Voraus gesehen haben, dass der Verwaltungsaufwand zu hoch und die Chancen zu gering sein werden. Das muss sich ändern. Es ist kein Wunder, dass Sie nicht einmal von den geplanten 30 000 Plätzen alle besetzen konnten. Das muss sich ändern. Lieber Hubertus Heil, machen Sie sich frei von diesen Fehlern der Sozialdemokratie in der Vergangenheit.
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Das Ziel muss sein: weniger Sozialstaatsbürokratie und mehr Chancen für die Menschen. Da zähle ich auf Sie.
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Wenn Sie sich das vornehmen, dann haben Sie die Unterstützung der Freien Demokraten.
Lieber Hubertus Heil, wenn ich mir Ihre Äußerungen der letzten Tage bezüglich der Hartz-IV-Debatte vor Augen führe, dann glaube ich leider, dass Sie sich schon wieder der alten SPD-Denke unterworfen haben. Am Montag haben Sie sich dazu bekannt, dass Sie einen Schwerpunkt in der Schaffung eines gemeinnützigen Arbeitsmarktes sehen. Das, lieber Hubertus Heil, ist der falsche Weg. Das sollten Sie nicht so verfolgen.
Wo ist der Hubertus Heil, der vor zwölf Jahren noch gefordert hat – Zitat –:
Wir
– gemeint waren Sie selbst und die SPD –
setzen darauf, ihnen immer wieder die Chance zu geben, durch ihre eigene Leistung und Arbeit voranzukommen.
Nun aber wollen Sie die Menschen in Sonderwelten abseits des Arbeitsmarktes abschieben. Das ist der falsche Weg.
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Das werden wir nicht unterstützen.
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Ein bisschen verräterisch ist natürlich auch der Begriff „Vollbeschäftigung“. Es geht doch nicht nur darum, dass die Menschen beschäftigt sind. Sie sollten sich vielmehr bemühen, dass Sie Wege in den ersten Arbeitsmarkt ebnen und im echten Arbeitsmarkt Leitern schaffen, auf denen jede und jeder schrittweise aus der Abhängigkeit des Sozialstaates aufsteigen kann. Das muss Ihr Schwerpunkt sein. Lieber Hubertus Heil, 2011, als Sie sich mit Ihrer Politik noch an den Freien Demokraten im Deutschen Bundestag messen lassen mussten,
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haben Sie wie wir von der präventiven Sozialpolitik gesprochen. Davon habe ich in Ihrem Koalitionsvertrag viel zu wenig gelesen. Ich glaube aber, dass es der richtige Weg wäre, wenn Sie sich an Ihre früheren Worte erinnerten, den Sozialstaat nicht als Reparaturbetrieb zu begreifen, und eine soziale Politik verfolgten, die Notlagen wirksam vorbeugt, damit sie gar nicht erst eintreten. Wenn Sie das machen, dann haben Sie uns an Ihrer Seite, sonst werden wir mit der entsprechenden Kritik nicht hinter dem Berg halten.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Kober, vielen Dank. – Als Nächste die Kollegin Susanne Ferschl von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernennung! Mit Ihnen, Herr Heil, zieht allerdings auch ein Verfechter und Architekt der Agenda‑2010-Politik in das Arbeitsministerium ein. Sie sagen, Sie wollen einen verlässlichen, starken und handlungsfähigen Sozialstaat. Aber der Koalitionsvertrag spricht eine andere Sprache.
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Denn Sie suchen weiter mit alten Rezepten nach Antworten auf die Herausforderungen des digitalen Wandels.
Sie sprachen von einer guten Entwicklung. Deutschland hat aber einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Wir haben eine weitere Zunahme von prekären Beschäftigungsformen, zum Beispiel Leiharbeit und Werkverträge. Es gibt einen massiven Druck auf Beschäftigte, jede Arbeit anzunehmen, egal wie schlecht sie bezahlt ist. Daran ändert sich nichts; an alldem halten Sie fest.
Wenn man sich den Koalitionsvertrag genauer anschaut, stellt sich die Frage: Was sind wirklich Verbesserungen für die Beschäftigten? Das Rückkehrrecht in Vollzeit, die Einschränkung von Befristungen? Beides gilt erst ab einer bestimmten Betriebsgröße. Damit wird die Mehrheit der Beschäftigten nicht davon profitieren.
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Sie wollen auch an das Arbeitszeitgesetz heran. Aber CDU/CSU und SPD müssen sich merken: Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz; man darf es nicht aufweichen.
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Sie sprechen immer von sogenannten Experimentierräumen. Aber, meine Damen und Herren, Beschäftigte sind doch keine Versuchskaninchen.
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Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit für Beschäftigte müssen wir ausbauen und nicht abbauen.
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Diese Beispiele beweisen: Der Koalitionsvertrag bringt für die Mehrheit der Beschäftigten nichts. Wir als Linke haben klare Vorstellungen davon, was jetzt nötig wäre und was die Beschäftigten brauchen. Wir brauchen beispielsweise einen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro ohne Ausnahmen.
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Wir müssen die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzen. Wir brauchen eine Stärkung von Tarifverträgen und mehr Mitbestimmung für Betriebsräte und Personalräte.
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Die kämpfen nämlich für eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Für diese Ziele wird Die Linke auch in den nächsten Jahren engagiert streiten.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Ferschl. – Als Letzter hat der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Koalition hat sich auf ein ambitioniertes Ziel in der Arbeitsmarktpolitik verständigt. Dieses Ziel heißt Vollbeschäftigung; denn Arbeit ist für den Menschen zentral, es geht um Würde, es geht um Ansehen, es geht um ein erfülltes Leben. Arbeit ist auch für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft zentral – beides gehört zusammen, wenn wir von einem kräftigen Sozialstaat reden. Deswegen bekennen wir uns nicht nur in der Tradition von Ludwig Erhard zur Vollbeschäftigung, sondern wir leben dieses Ziel auch, und zwar äußerst erfolgreich.
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Seit 2005 sind Tag für Tag über 500 Menschen weniger arbeitslos und seit 2005 Tag für Tag über 1 350 Menschen mehr sozialversicherungspflichtig tätig. Das ist ein großer Erfolg. Da wird deutlich: Die Union ist tatsächlich die Arbeitnehmerpartei,
({1})
und genauso soll es auch in Zukunft sein.
Unser Anspruch ist, alle Menschen mitzunehmen; keiner darf zurückbleiben. Deswegen widmen wir uns sehr intensiv der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir wollen Menschen, die schon sehr lange arbeitslos sind, Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Einige sprechen ja von einem Sockel an Arbeitslosigkeit, wenn es darum geht, 860 000 langzeitarbeitslose Menschen zu beschreiben. Sie meinen damit eigentlich, man sollte sich damit abfinden, dass diese Menschen weiterhin arbeitslos sind. Wie zynisch ist eine solche Haltung, und welches Bild vom Menschen, von seiner Würde, verbirgt sich dahinter? Nein, wir wollen den Menschen tatsächlich Perspektiven eröffnen, und unser Ziel ist und bleibt es, Perspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Deswegen war es uns auch in den Koalitionsverhandlungen so wichtig, den ganzheitlichen Ansatz zu betonen. Wir dürfen nicht nur die Betroffenen in den Blick nehmen, sondern wir müssen das gesamte Umfeld in den Blick nehmen. Nur dann sind wir erfolgreich bei der Bekämpfung von Kinderarmut und sorgen für mehr Chancengerechtigkeit.
({2})
Unser Ansatz kostet in der Tat Zeit und Kraft, aber die Mühe lohnt sich. Der Freistaat Bayern beispielsweise ist in diesem Bereich sehr engagiert und hat gute Erfahrungen gemacht. Nun geht es darum, dass die erfolgreichen Projekte verbreitert werden, dass Deutschland verstärkt wieder Bayerisch spricht.
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Ich setze darauf, dass der neue Bundesfinanzminister die notwendigen Mittel bereitstellen wird.
Herr Kollege, Sie haben großen Fragebedarf ausgelöst. Gestatten Sie Zwischenfragen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und von den Freien Demokraten und in der Reihenfolge?
Selbstverständlich. Das verlängert meine Redezeit. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Stracke, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. Ich bin dankbar, dass im Laufe der Debatte das Thema Kinderarmut zur Sprache kommt; Sie haben es eben in einem Nebensatz erwähnt.
Gerade hat der Kollege Weiß uns von der Opposition vorgeworfen, eine Leseschwäche zu haben. Ich habe den Koalitionsvertrag sehr wohl gelesen und dabei Maßnahmen vermisst, um zielsicher und effizient gegen Kinderarmut vorzugehen.
Sie stellen eine beträchtliche Erhöhung des Kindergeldes in Aussicht. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass diese Kindergelderhöhungen den Familien im Hartz‑IV-Bezug nichts nutzen, weil der entsprechende Betrag auf Hartz IV angerechnet wird. Ich möchte Sie fragen, welche konkreten Maßnahmen Sie ergreifen wollen, um den über 2,5 Millionen Kindern, die in Deutschland in Armut leben, materiell zu helfen; denn die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag niedergelegt sind, helfen leider nicht.
({0})
Vielen Dank für Ihre Frage. – Ihre Ausführungen zeigen doch gerade, dass wir darauf achten müssen, dass möglichst viele Menschen aus dem Hartz‑IV-Bezug herauskommen. Die Debatte in der Vergangenheit hatte eine Schieflage dahin gehend, dass wir uns über Regelsätze – so wichtig sie auch sind – unterhalten haben, während die entscheidende arbeitsmarktpolitische Bedeutung doch darin liegt, die Menschen möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zurückzubringen.
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Weil Kinder automatisch von der Situation ihrer Eltern abhängig sind, wird dann auch die Kinderarmut zum großen Teil bekämpft.
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Unsere Zielrichtung in dieser Debatte ist, dass wir darauf achten müssen, dass möglichst viele Menschen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Das ist Ausdruck christlich-sozialer Politik.
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Einen kleinen Moment. Es sind weitere Fragen ausgelöst worden. Ich lasse die Frage von Herrn Müller, wenn Sie sie zulassen, noch zu. Dann bitte ich darum, dass keine weiteren Fragen gestellt werden. – Jetzt kommt als Nächstes der Kollege Kober und, wenn Sie die Frage zulassen, Herr Müller.
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Nur zu, nur zu.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Kollege Stracke, Sie sprachen davon, dass Sie das Ziel haben, Langzeitarbeitslose in den ersten, allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. Nun sagt der Minister – und es gibt auch andere Stimmen aus der SPD –, dass es um einen Sonderarbeitsmarkt, um einen gemeinnützigen Arbeitsmarkt geht. Deshalb frage ich Sie: Ist eine gemeinsame Linie in der Großen Koalition erkennbar, wenn es darum geht, welchen Weg man für und mit den Langzeitarbeitslosen gehen will? Handelt es sich um einen zusätzlichen, wettbewerbsneutralen Arbeitsmarkt, der im öffentlichen Interesse ist, oder soll es tatsächlich um die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt gehen? Das würde ich gerne von Ihnen wissen.
({0})
Ein herzliches Dankeschön für die sehr gute Zwischenfrage. Auf diesen Punkt wäre ich im Laufe meiner Rede sowieso eingegangen.
Für Personen, die besonders arbeitsmarktfern sind, ziehen wir als Koalition einen sozialen Arbeitsmarkt in Betracht. Wir wollen diesen Menschen mit dem sozialen Arbeitsmarkt das notwendige Rüstzeug für den allgemeinen Arbeitsmarkt mit auf den Weg geben. Allerdings sollte aus meiner Sicht die Verweildauer auf einem solchen Arbeitsmarkt zeitlich befristet sein. Der soziale Arbeitsmarkt hat nur eine dienende Funktion. Er ist dem ersten Arbeitsmarkt nachgeordnet.
Unsere Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Wir müssen darauf achten, dass die Menschen nicht in einer sozialpolitische Sackgasse enden. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen. Deswegen werden wir darauf achten, dass der soziale Arbeitsmarkt durchlässig ist. Das entscheidende Kriterium ist, dass die Menschen vor allen Dingen auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. Dafür sollen sie das nötige Rüstzeug erhalten. Dazu kann ein sozialer Arbeitsmarkt dienen; mehr aber auch nicht.
({0})
Herr Kollege Stracke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?
Ja. Wir können gerne so weitermachen.
Das können wir nicht. Ich leite hier die Nachtsitzung. Ich bitte darum, auf meine persönliche Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen.
Herr Präsident, Sie können ganz unbesorgt sein, ich werde Herrn Stracke in dieser Debatte nur eine Frage stellen.
Herr Kollege Stracke, danke, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie haben mich nämlich mit Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Lehmann ein wenig gepiesackt. Sie haben ausgeführt – das ist sinngemäß Ihre Antwort gewesen –, wir bräuchten die Regelbedarfssätze für Kinder nicht zu erhöhen, weil Sie gar nicht möchten, dass überhaupt jemand Hartz IV beziehen muss; das heißt, wenn die Eltern Arbeit haben, dann gebe es das Problem nicht.
Es gibt 1,9 Millionen Kinder in Deutschland, die in Bedarfsgemeinschaften leben, also von Hartz IV. Ungefähr 50 Prozent dieser Bedarfsgemeinschaften, im Osten sogar 55 Prozent, sind Haushalte von Alleinerziehenden. Die Mehrzahl der alleinerziehenden Elternteile geht arbeiten; das heißt, sie müssen aufstocken. Ein großer Anteil von Kindern in Bedarfsgemeinschaften wohnt also in Elternhäusern, wo ein Elternteil oder beide Elternteile arbeiten gehen und es trotzdem nicht reicht.
Kann ich Ihren Ausführungen erstens entnehmen, dass Sie sicherstellen wollen, dass die Menschen in Zukunft so hohe Löhne haben, dass sie gar nicht mehr in Hartz IV fallen, das heißt, dass Sie einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde umsetzen werden?
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Werden Sie zweitens für diejenigen, die, obwohl sie arbeiten, in Armut fallen, die also nichts dafür können, dass sie aufstocken müssen, die Regelbedarfsätze so erhöhen, dass kein Kind mehr arm sein muss?
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Vielen Dank auch für diese Frage. – Wir haben – deshalb erscheint dies auch nicht im Koalitionsvertrag – ja schon einen geltenden Gesetzesmechanismus, der vorgibt, wie wir beispielsweise mit Inflationssteigerung oder anderen Dingen, die die Töpfe verändern, umgehen. Wir haben bereits einen durchaus praktizierten Mechanismus, wie wir mit Steigerungen der Regelsätze umgehen müssen.
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Deswegen haben wir hier keinen Änderungsbedarf. Das Gesetz sieht dies letztendlich schon vor. Ich meine, wir haben, in dem Umfang auch zu Recht, die Rechtsprechung in vielfältiger Art und Weise schon erlebt.
Es geht darum – Sie sprechen ein wesentliches Thema an –, vor allem die Zielgruppe der Alleinerziehenden in den Blick zu nehmen. Das tun wir. Zum einen wollen wir Kindergeld und Kinderfreibeträge kraftvoll erhöhen; das ist auch Handschrift der Christlich-Sozialen Union. Zum Zweiten wollen wir dafür sorgen, dass bei der Kinderbetreuung Verlässlichkeit besteht. Den Anspruch auf verlässliche Betreuung haben wir bei der Krippenbetreuung schon durchgesetzt, wollen ihn aber beispielsweise auch bei der Ganztagsbetreuung in Grundschulen. Die Eltern müssen wissen, dass das Kind gut aufgehoben ist, auch wenn einmal eine Unterrichtsstunde ausfällt, auch wenn sie mal länger arbeiten müssen. Damit eröffnen wir gerade Alleinerziehenden mehr Chancen, auf dem Arbeitsmarkt weiterhin aktiv sein zu können, und wir verbessern ihre Integration in den Arbeitsmarkt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben dem Thema „Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit“ setzen wir auf mehr Weiterbildung. Das ist der weitere Baustein, wenn es darum geht, Vollbeschäftigung zu erreichen. Gute Bildung, Ausbildung und eine konsequente betriebliche und überbetriebliche Weiterbildung sind der Schlüssel für die Zukunft, damit wir auch weiterhin wirtschaftlich erfolgreich sein können. Bildung ist so etwas wie ein Grundnahrungsmittel.
Vieles geschieht schon in diesem Bereich. Die Sozialpartner und die Betriebe unternehmen große Anstrengungen. Wir wollen hier aber noch besser werden. Deswegen haben wir in diesem Koalitionsvertrag ein ganzes Bündel an konkreten Maßnahmen zur Förderung der Bildung und Weiterbildung vorgesehen und werden diese umsetzen.
All diese Überlegungen haben letztendlich ein Ziel. Wir wollen einen Mentalitätswechsel in den Köpfen erreichen: Wir lernen nicht nur für den Moment, sondern für die lange Dauer, und Lernen kann auch richtig Spaß machen. Diesen Mentalitätswechsel wollen wir tatsächlich erreichen. Nicht erst dann, wenn es fast zu spät ist, wenn Arbeitslosigkeit droht, sollen die Menschen tätig werden, sondern sie sollen frühzeitig in diesem Bereich präventiv tätig werden. Wenn uns das gelingt, sind wir als Land mittel- und langfristig wettbewerbsfähig und sorgen dafür, dass unsere sozialen Sicherungssysteme finanzierbar bleiben. Gute Bildungspolitik ist letztendlich eine vorausschauende Sozialpolitik.
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Auch eine gute Familienpolitik ist eine vorausschauende Sozialpolitik. Wir wollen, dass Familie gelingt. Das Arbeitsrecht ist ja traditionell blind gegenüber den Bedürfnissen der Familien. Frauen entscheiden sich häufig zwischen Familie und Beruf. Wir wollen aber kein Entweder-oder, sondern Zwischenwege eröffnen. Familienfreundliche Arbeitszeiten sind ein wesentlicher Faktor für das Gelingen von Familie. Hier stehen die Tarifvertragspartner in der Verantwortung, aber auch die Politik. Wir sind bereits ein gutes Stück vorangekommen, mit der Elternzeit und der Pflegezeit. Hier haben wir Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit und das Recht zur Rückkehr in Vollzeit geschaffen. Genau diesen Weg werden wir konsequent weitergehen, und zwar mit einer befristeten Teilzeitmöglichkeit: für bis zu fünf Jahre. Damit verfolgen wir das Ziel einer stärkeren arbeitsmarktpolitischen Integration von Frauen.
Herr Kollege Stracke, kommen Sie zum Schluss.
Ich glaube, dieses Bündel an Maßnahmen im Bereich der Weiterbildung, im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit und im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeigt uns: Wir sind auf einem guten Weg – unionsgeführt.
Ein herzliches Dankeschön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Stracke. Dank der Absprachen mit den Fragestellern haben Sie es geschafft, am längsten zu reden. Dazu beglückwünsche ich Sie herzlich.
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Damit ist die Rednerliste im wahrsten Sinne des Wortes erschöpft. Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen mir nicht vor.
Hochgeschätzter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Luftqualität ist Lebensqualität; aber Lebensqualität ist auch Bewegungsfreiheit und Mobilität.
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Das ist der Kraftstoff einer pulsierenden Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren haben wir dank der Entscheidungen im Deutschen Bundestag eine gute Finanzausstattung für das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur bekommen. Danke dafür. Ich sage: Weiter so! Wir müssen dieses hohe Niveau verstetigen. Dort, wo wir zusätzliche Mittel brauchen, bitten wir um Ihre Unterstützung; denn es geht uns alle an. Auch Sie werden von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort angesprochen, warum diese Maßnahme langsamer durchgeführt wird oder jene Maßnahme gar nicht kommt. Deswegen müssen wir vorankommen, müssen wir effizienter werden. Das soll unser gemeinsames Ziel sein. Wir wollen unsere Wirtschaft und unsere Mobilität am Laufen halten.
Jetzt geht es darum, dass wir die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, schneller und effizienter abfließen lassen. Aktuell stehen wir in der Verkehrspolitik vor großen Herausforderungen. Das können wir fast täglich in den Medien verfolgen. Das sind Herausforderungen, für mich aber auch Ansporn und Motivation. Mit meinem Politikverständnis geht einher, dass der Begriff „Problem“ von „Pro“ kommt und nicht von „Kontra“. Das „Pro“ bedeutet für mich vorwärts, nach vorn, und zwar mit ganz konkreten Maßnahmen.
Wir sind mittendrin, statt nur dabei. Die Umsetzung läuft beim Thema Diesel, beim Thema „Luftqualität in den Städten“ auf Hochtouren. Wer etwas anderes behauptet, liegt völlig falsch.
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Ich darf Ihnen ein paar Rahmendaten nennen, wichtige Meilensteine, die vereinbart und erreicht sind: Der verpflichtende Rückruf von 2,46 Millionen VW-Fahrzeugen ist nahezu abgeschlossen. Genauer gesagt liegt die Quote nach jetzigem Stand bei über 92 Prozent. Das ist eine gute Botschaft. Zum Softwareupdate: Über die Hälfte der insgesamt 2,84 Millionen Fahrzeuge sind bereits nachgerüstet oder stehen kurz davor. Genau 1,62 Millionen Fahrzeuge sind in Bearbeitung. Damit werden wir bis Ende 2018 die NOx-Emissionen von 5,3 Millionen Fahrzeugen um bis zu 30 Prozent reduzieren.
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– Das wäre mein nächster Satz gewesen. – Das reicht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen habe ich gleich zu Beginn meiner Amtszeit vor einer Woche dieses Thema intensiv bearbeitet. Ich kann Ihnen heute mitteilen, dass wir die Förderrichtlinie für die Umrüstung von Dieselbussen im ÖPNV veröffentlichen werden. Wir reden in der Gesamtheit von 28 000 Stadtbussen in Deutschland. 107 Millionen Euro nehmen wir in die Hand, um den Ausstoß von Tausenden von Stadtbussen zu optimieren.
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Im nächsten Schritt wollen wir die Förderung auf die Fahrzeuge der öffentlichen Infrastruktur, beispielsweise Müllwagen, Paketdienste und Krankenwagen,
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ausweiten und diese auf moderne Technologie umrüsten, damit unsere Innenstädte sauberer werden.
Unser Ziel ist, die Lebensqualität in den betroffenen Städten zu verbessern. Dabei soll aber – deshalb müssen wir auch die öffentliche Infrastruktur verbessern – die Mobilität nicht eingeschränkt werden; denn sie ist unser Kraftstoff für eine pulsierende Wirtschaft und bedeutet Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger.
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Noch eine gute Nachricht: Die Automobilhersteller haben jetzt verlässlich zugesagt, den vollen Beitrag von 250 Millionen Euro für das Sofortprogramm „Saubere Luft“ zu übernehmen. Der Vertrag ist unterschriftsreif, und er wird unterzeichnet.
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Das zeigt: Wir setzen den Kurs der Vorgängerregierung energisch fort,
({7})
und wir wollen mit diesen konkreten Maßnahmen dafür sorgen, dass bis 2020 die Stickstoffgrenzwerte eingehalten werden. Meine Devise ist: keine Panik und keine Verbote, sondern Anreize und Maßnahmen, und zwar konkret und schnell.
({8})
Natürlich werden einige betroffene Städte übrig bleiben, derer wir uns mit intelligenten Maßnahmen verstärkt annehmen müssen. Aber es geht in diesem Ministerium vor allem auch um die spannende Frage, wie wir Mobil und Digital unter einem Dach vereinen; denn das ist unser Ziel. Da wird es neue Konzepte geben. Deutschland hat immer bewiesen: Wenn wir vor Herausforderungen gestellt werden, können wir diese gut lösen – und kommen fast besser raus, als wir reingegangen sind.
Ich sage Ihnen: Mein Ziel ist ein Exportschlager. Es gibt in der ganzen Welt Metropolen, die ähnlich von den Fragen der Luftqualität betroffen sind. Unser Ziel muss sein, saubere Luft mit intelligenten Lösungen, guten Leitsystemen und einer digitalen Vernetzung zu einem Exportschlager zu machen. Saubere Luft als Exportschlager für die Welt, das muss unser gemeinsames Ziel sein.
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– Ich habe gar nicht auf die vielen Zwischenrufe der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen reagiert; es hätte auch nicht viel Wert, wenn ich sie registrieren würde. Aber dass Sie jetzt auch noch gegen saubere Luft sind, ist für mich komplett neu.
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Ich kann Ihnen sagen: Wir müssen den 13 Millionen Dieselfahrern in diesem Land die rechtliche und finanzielle Sicherheit geben. Das machen wir besser als mit Plaketten und Verboten. Letztere wollen wir nicht. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, das mit anderen Maßnahmen zu erreichen.
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Es geht jetzt darum, mit Kompetenz und Tempo das Vertrauen der Bevölkerung mit konkreten Maßnahmen zurückzugewinnen. Wir sind das Ministerium, das vor allem für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land sorgt. Unserem Ministerium stehen 46,1 Prozent der Investitionen des Bundes zur Verfügung. Das BMVI ist das Investitionsministerium. Wir wollen die Dynamik, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, entfachen. Das Ministerium bildet die Lebensrealität aller Bürgerinnen und Bürger ab. Denn jeder fährt mal Fahrrad, bucht eine Flugreise, ist mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, ist vielleicht auch mal auf einem Schiff oder fährt regelmäßig mit unserem Unternehmen Deutsche Bahn und den vielen anderen Schienenunternehmen. Das ist Mobilität, und deswegen geht es jeden an.
Wir sind nah beim Menschen.
({12})
Unser Ziel ist es, das Grundbedürfnis nach Mobilität in unserem Ministerium abzubilden – mit besserer Mobilität, mit effizienterer Infrastruktur, mit saubererer Luft, barrierefrei, bezahlbar. Dafür starten wir eine Zukunftsoffensive mit den Punkten Investitionen, Innovationen und Modernisierung, und das auf Rekordniveau.
Ich danke meinem Vorgänger Alexander Dobrindt für diesen Investitionshochlauf. Er hat die Grundlagen dafür geschaffen.
({13})
– Dieser Tag soll auch ein Tag der Freude für Alexander Dobrindt sein.
({14})
Es ist aber auch ganz klar, dass wir die Verkehrsträger nicht ideologisch gegeneinander ausspielen wollen, sondern im Zentrum unserer Mobilitätspolitik muss die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger stehen. Dazu führen wir weitere große Projekte durch: den Ausbau der Gigabit-Netze flächendeckend in den Regionen, 5G in Echtzeit, „Digital made in Germany“ und die Verbindung zwischen Mobil und Digital.
Wir befinden uns vor der größten Mobilitätsrevolution seit Erfindung des Automobils. Deswegen müssen wir nach allen Seiten forschen – technologieoffen –, alle Antriebe abbilden und eine Mobilität der Zukunft – Mobilität 4.0 – in der Gesamtheit entwickeln.
({15})
Meine Damen und Herren, für mich steht fest: Innovationen gehören ins Zentrum dieser Betrachtung. Die Neugier auf die Zukunft und das Verliebtsein ins Gelingen gehören dazu.
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Dazu brauchen wir auch ein Planungsbeschleunigungsgesetz. Deswegen danke ich dem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, der gestern in der Aussprache das Planungsbeschleunigungsgesetz ins Zentrum seiner Ausführungen gestellt hat. Wir müssen effizienter werden und die Planungszeiten verkürzen, ohne den Dialog mit dem Bürger zu reduzieren.
Wir brauchen eine bessere Umsetzung der Projekte. Das wird entscheidend sein, um eine effektive Infrastruktur zu haben. Ebenso wichtig ist eine effiziente Verwaltung. Wir müssen noch viele große Schritte hin zu einer gemeinsamen Infrastrukturgesellschaft gehen. Wir wollen ein Innovationsprogramm, wir schnüren ein Schienenpaket und schreiben ein Schifffahrtsgesetzbuch. Kein Verkehrsträger wird zu kurz kommen, sondern die Betrachtung in der Breite macht es aus.
Ich komme zum Schluss. Mein Politikstil ist: klar in der Sache, verbindlich in der Ansage und kooperativ im Umgang. Deswegen biete ich Ihnen diese Zusammenarbeit im Dialog in den nächsten Jahren an. Ich glaube, einige der Kolleginnen und Kollegen müssen sich an diesen Stil vielleicht noch gewöhnen.
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Ich hoffe, dass Sie dazu bereit sind, in diesen Dialog einzusteigen; denn dann kommt etwas Gutes heraus, nämlich Mobilität für unsere Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und ein digitales Umfeld, das die Nutzung aller Chancen, die wir für die Zukunft brauchen, ermöglicht.
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Herr Minister Scheuer. – Wir stellen fest, dass das Ministerium zwar nicht mehr in der gleichen Hand ist, aber im gleichen Sprachraum verblieben ist.
Als Nächstes für die AfD-Fraktion: der Kollege Leif-Erik Holm.
({0})
Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Scheuer, saubere Luft als Exportschlager: Das ist mal eine Ansage.
({0})
Wir sind gespannt auf die Ergebnisse – und das bei den hohen Leistungsbilanzüberschüssen, die wir schon haben. Na, mal gucken!
Sie haben sehr viel über das Thema Diesel gesprochen. Das ist ein wichtiges Thema, zu dem sich mein Kollege Dirk Spaniel auch noch auslassen wird. Ich selber möchte über ein Thema sprechen, das Sie nur sehr kurz angerissen haben, nämlich über unsere Infrastruktur, die ja schon seit Jahren immer mehr brachliegt.
Sie lassen es beim Erhalt schleifen, Neubauten kommen nicht aus dem Knick, und Fehlplanungen reihen sich auf wie an einer Perlenschnur.
({1})
– Es ist so.
Ein Blick in meine Heimat Mecklenburg-Vorpommern reicht. Wegen der tollen Infrastruktur haben wir einen aufstrebenden Lufttourismus. Jetzt werden ganz besondere Hubschrauberrundflüge angeboten, und zwar nicht nur über die schönen Ostseeinseln, sondern auch zur A 20, die gerade im Moor versinkt. Zitat des Fluganbieters:
Fliegen Sie mit uns auf kürzestem Weg nach Tribsees, um das rasant wachsende Loch in der Küstenautobahn A 20 aus der Vogelperspektive zu beobachten.
({2})
Das ist Deutschland 2018. Dieses Land, dem in der Welt immer noch der Ruf der Organisiertheit und der perfekten Infrastruktur vorauseilt, ist längst dabei, die eigenen Wettbewerbsvorteile zu verspielen.
Fast die Hälfte aller Bundesstraßenbrücken befindet sich in gerade noch ausreichendem oder schon in sehr kritischem Zustand.
({3})
– Hören Sie doch zu, Herr Ex-Minister. – In einer Befragung von Unternehmen beklagen fast zwei Drittel, dass ihre Geschäftsabläufe durch die schlechte Straßeninfrastruktur beeinträchtigt sind. Laut McKinsey hat Deutschland im Infrastrukturbereich die niedrigste Investitionsquote aller G-20-Staaten.
({4})
Das alles kommt eben nicht über Nacht. Es ist kein Meteorit eingeschlagen, und uns hat auch kein Erdbeben durchgeschüttelt. Der Erhalt unserer Verkehrsinfrastruktur ist eigentlich planbar. Es ist Ihre falsche Politik, die zu diesem atemberaubenden Sanierungsstau geführt hat. Gehen Sie ihn endlich ernsthaft an.
({5}) – Gegenruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir warten auf Ihr Geschwätz!)
– Es kommt noch besser. – Vielleicht denke ich ja auch falsch. Vielleicht brauchen wir in Zukunft gar keine ordentlichen Straßen und Schienenwege mehr, weil wir ja nun bald Flugtaxis bekommen sollen. Ich frage mich nur, von welchem Flughafen sie abheben sollen. Vom BER wird das wohl nicht der Fall sein.
({6})
Das ist der nächste Aberwitz: Deutschland schafft es nicht, den neuen Hauptstadtairport betriebsfähig zu bekommen. Aktueller Stand: Wir hängen acht Jahre hinterm Plan. Ein Lufthansa-Vorstandsmitglied unkt, man müsse den Flughafen eigentlich abreißen.
({7})
In diese Kette reiht sich auch der Bahnhof Stuttgart 21 ein, eine ebenso unendliche Geschichte wie der BER.
({8})
Termine werden nicht gehalten, die Kosten für die Steuerzahler vervielfachen sich. Es ist wirklich ein Witz. Anderswo funktioniert es: Die Schweizer sind mit dem Gotthard-Basistunnel statt 2017 schon 2016 fertig geworden, und die Kosten sind im Rahmen geblieben. Vielleicht schickt ja mal die Bundesregierung den neuen Verkehrsminister zum Hospitieren zu den Eidgenossen.
({9})
– Oder so. – Wir müssen endlich dafür sorgen, dass krasse Fehlplanungen, exorbitante Preissteigerungen, Schlampereien und unverantwortliches Handeln minimiert werden. Dazu brauchen wir klare Vereinbarungen und Verantwortlichkeiten. Darum sind wir als AfD dafür, dass ein Straftatbestand der Steuergeldverschwendung eingeführt wird.
({10})
Ein Wort noch zu unserer digitalen Infrastruktur. Jetzt kommt der Merkel’sche Masterplan, also der nächste Masterplan, nachdem es 2018 mit dem Masterplan nicht geklappt hat. Neuer Plan, neues Glück! Wer soll Ihnen noch glauben, dass Sie jetzt wirklich Ernst machen? Ich kann Ihnen ein Beispiel nicht ersparen: Das kleine Estland, ehemals armes, kleines osteuropäisches Land, hat heute eine Breitbandabdeckung von 75 Prozent. In Deutschland surfen sage und schreibe 1,6 Prozent der Bürger mit einem Gigabit-Netz.
({11})
Das ist wirklich Entwicklungslandniveau, meine Damen und Herren. Land für Land zieht an uns vorbei. Da muss mehr Tempo rein. Die anvisierten 10 Milliarden Euro reichen da ganz sicher nicht aus.
({12})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren, 46 Milliarden Euro will die neue Regierung mehr verteilen, davon aber viel zu wenig im investiven Bereich. Da liegt unser Problem: Deutschland fällt zurück. Wir brauchen mehr Investitionen, eine schnellere Planung und weniger Verschwendung von wertvollen Ressourcen.
Handeln Sie endlich! Sonst ist der Wohlstandszug für unsere Kinder und Enkel irgendwann abgefahren, wenn er denn noch abfahren kann; denn meistens sind ja die Weichen eingefroren.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Holm. Ich war deshalb so langmütig, weil ich über Ihre Aussage nachgedacht habe, dass Flugtaxis Flughäfen brauchen. Das widerspricht eigentlich dem Konzept.
({0})
Sonst wäre die Verbindung schlecht.
Jetzt hat als Nächster der Kollege Sören Bartol von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen in der Mobilität vor einer Zeitenwende. Alle spüren das. Alle spüren, dass sich unsere Mobilität verändert, verändern muss. Die digitale Vernetzung unserer Gesellschaft schreitet voran. Viele kleinere Städte und Dörfer schrumpfen, die großen Städte wachsen. Wir müssen unseren Planeten vor dem Klimawandel schützen.
Viele haben noch keine Vorstellung davon, wie die Mobilität von morgen aussehen könnte. Das führt zu Unsicherheiten und Ängsten. Der Reflex ist da, an Altbewährtem festhalten zu wollen. Das nehmen wir ernst. Schritt für Schritt werden wir unsere Ideen und Vorschläge hier in den Bundestag einbringen und diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, sowohl für den Bundesverkehrsminister als auch für die Koalition gibt es keine 100-Tage-Schonfrist. Dazu drängen die Probleme zu sehr. Mit der neuen Koalition wird eine neue Dynamik in die Verkehrspolitik kommen.
({0})
Die Zeiten, in denen sich ein Koalitionspartner vorrangig mit der Einführung einer Pkw-Maut beschäftigt hat, sind vorbei. Jetzt geht es an die Arbeit.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns in der Koalition einig: Die Mobilität in Deutschland muss bezahlbar bleiben. Sie soll digitaler und vernetzter und dadurch auch effizienter und sauberer werden. Wir werden auf Rekordniveau weiterhin in unsere Straßen, Schienen und Wasserwege investieren, damit Bürgerinnen und Bürger weniger im Stau stehen und nicht in überfüllten Zügen zur Arbeit pendeln müssen.
Doch was nutzt das viele Geld, wenn die Planungen zu lange brauchen und die Bagger nicht loslegen können?
({2})
Mit früherer Bürgerbeteiligung, weniger Bürokratie und mehr Personal wollen wir erreichen, dass wir beim Bauen schneller vorankommen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schienenverkehr muss in Deutschland massiv wachsen. Andernfalls werden wir die Klimaschutzziele nicht erreichen.
Das Fitmachen der alten Behördenbahn hat zu mehr wirtschaftlicher Effizienz bei der Deutschen Bahn, aber auch zu stillgelegten Strecken und zu weniger Verbindungen im Fernverkehr und leerstehenden Bahnhofsgebäuden geführt. Für die Kunden in der Fläche hat das letztlich oft nicht mehr, sondern weniger Schienenverkehr gebracht.
Wir werden die Deutsche Bahn neu ausrichten, ohne dabei das Prinzip von Effizienz und Wirtschaftlichkeit aufzugeben. Die Bahnmanager sollen weniger an die Rendite des Unternehmens denken, sondern den Marktanteil des Schienenverkehrs erhöhen.
({4})
Mit dem „Schienenpakt 2030“ von Politik und Wirtschaft wollen wir die Attraktivität des Schienenverkehrs verbessern. Teil des Paktes ist es, alle größeren Städte bis 2030 an den Personenfernverkehr anzubinden, mit einem „Tausend-Bahnhöfe“-Programm überall in Deutschland Bahnhöfe attraktiver zu machen und mit einer Senkung der Schienenmaut mehr Güter vom Lkw auf die Schiene zu bekommen.
Herr Kollege Bartol, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jung von den Freien Demokraten?
Aber gerne.
Lieber Herr Kollege Bartol, Sie haben eben gesagt, Sie wollen als Koalition die Deutsche Bahn effizienter machen. Das finden wir prinzipiell sehr gut. Gestern bei uns im Ausschuss war die Frage, wie das mit der Abfindung von Herrn Grube war. Aber es wurde leider von der SPD und von der CDU/CSU abgelehnt, darüber zu diskutieren. Denken Sie, dass eine Maßnahme wie diese Abfindung dazu führt, dass die Deutsche Bahn insgesamt effizienter wird?
({0})
Lieber Kollege, Sie wissen, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands schon lange das Thema Vorstandsvergütung wie auch das Thema Boni diskutiert.
({0})
Ich glaube auch, dass wir in der heutigen Zeit über solche Themen miteinander reden müssen.
Schon die letzte Regierung hat über den Aufsichtsrat Veränderungen in der Vergütung von Vorstandsmitgliedern der Deutschen Bahn vorgenommen. Ich glaube, auch der neue Bundesverkehrsminister hat sich – wir haben unabgesprochen eine ähnliche Wortwahl verwendet – relativ klar dazu geäußert. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Natürlich müssen Verträge so abgefasst sein, dass es erstens eine anständige Vergütung für Leute gibt, die einen guten Job machen. Denn man muss auch gute Leute bekommen, die Manager bei der Bahn werden sollen. – Das ist das eine.
Das Zweite ist: Boni müssen sich natürlich nach dem Erfolg des Unternehmens richten. Ich glaube, dass wir als Koalition dazu eine ganz glasklare Stoßrichtung für alle Verträge, die kommen werden, haben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Millionen von Dieselfahrern wissen nicht, ob sie demnächst noch in die Innenstädte fahren können. Das führt zu Unsicherheit. Wir wollen saubere Mobilität in den Städten, und wir wollen Fahrverbote vermeiden. Dafür werden wir den öffentlichen Nahverkehr und den Radverkehr ausbauen und bei Bussen, Taxis und leichten Nutzfahrzeugen den Umstieg auf saubere Antriebe vorantreiben.
Wir werden den Kommunen ermöglichen, für diese Fahrzeuge Auflagen zu machen, wie sauber sie sein müssen, wenn sie weiter in die Städte kommen wollen.
Herr Kollege Bartol, ermöglichen Sie freundlicherweise auch eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne, Frau Leidig.
Kollege Bartol, ich würde gerne noch einmal zu der Frage der Vergütung von Herrn Grube nachhaken.
({0})
Das ging mir eben ein bisschen schnell. Sie sind ja mit der Erneuerung der Bahn und der Geschäftspolitik der Bahn vorgeprescht.
Tatsächlich ist es so, dass Rüdiger Grube für die zwei Monate, die er, nachdem er bekannt gegeben hat, dass er nicht mehr Vorstandsvorsitzender sein will, noch Arbeit bei der Deutschen Bahn AG geleistet hat, Bezüge in Höhe von 2,25 Millionen Euro bekommen hat, die im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung seiner Tätigkeit stehen. So steht es im Geschäftsbericht der Deutschen Bahn AG.
Es ist nachvollziehbar, dass alle Aufsichtsratsmitglieder darüber Bescheid wussten. Es ist nachvollziehbar, dass Herr Odenwald, der jetzt übrigens neuer Aufsichtsratsvorsitzender werden soll und als Vertreter von Herrn Dobrindt in diesem Zusammenhang tätig war, von dieser Vereinbarung gewusst und sie befürwortet hat. Es ist schon ausgesprochen bizarr, dass der Verkehrsminister, der für diese Verabredung zuständig war, dazu schweigt und dass der neue, der in seine Fußstapfen tritt, Aufregung markiert.
Mich interessiert, Herr Bartol, wie Sie in Zukunft mit der Transparenz in diesem Unternehmen umgehen wollen. Wir hatten dazu gestern im Verkehrsausschuss eine sehr unschöne Situation, nämlich dass die Große Koalition mit Mehrheit abgelehnt hat, Gutachten zu veröffentlichen, die vom Konzern in Auftrag gegeben wurden.
Sie wollen neu anfangen. Worin konkret besteht der Neuanfang, was die Geschäftspolitik der Deutschen Bahn angeht?
({1})
Frau Leidig, ich empfehle Ihnen zuallererst, in den Koalitionsvertrag der neuen Koalition hineinzuschauen. Dort können Sie sehen, was wir alles zum System Schiene und für die Deutsche Bahn vereinbart haben: dass wir mehr Fernverkehr wollen, dass wir große Städte anschließen wollen und dass wir klar definiert haben, dass die Herausforderungen im Bereich der Mobilität nur durch mehr Schiene zu meistern sind. Daher kann ich gar nicht verstehen, Frau Leidig, warum Sie mich nun fragen, welche Antworten ich bzw. die Koalition auf die Herausforderungen, die vor uns liegen, geben. Das alles ist im Koalitionsvertrag nachzulesen. – Sie müssen noch stehen bleiben. Ich antworte Ihnen noch, Frau Leidig. Das entscheiden nicht Sie, sondern das entscheide leider ich.
Frau Leidig, im letzten Bundesverkehrswegeplan haben wir klare Prioritäten im Bereich der Schiene, bei den Knotenpunkten und bei allem anderen, was dazugehört, gesetzt. Natürlich muss sich die im Koalitionsvertrag festgelegte veränderte Haltung in der Arbeit der Deutschen Bahn widerspiegeln; das hat der neue Bundesverkehrsminister gesagt. Das habe auch ich gesagt. Wir werden uns darum kümmern. Wie Sie wissen, wird auch der Aufsichtsrat der einen oder anderen Veränderung unterzogen. Deswegen glaube ich, Frau Leidig, dass diese Koalition auf die Herausforderungen, die vor uns liegen, hervorragend reagiert.
({0})
Herr Kollege Bartol, gestatten Sie kurz eine Zwischenbemerkung meinerseits? – Frau Kollegin Leidig, auch wenn Ihnen die Antwort nicht gefällt, ist es ein Akt der Höflichkeit, stehen zu bleiben, solange auf Ihre Frage geantwortet wird.
({0})
Noch eine Anregung zu den Fragen: Manche Fragen in diesem Hause ähneln eher Kurzinterventionen. Aber wir sparen definitiv keine Zeit, wenn wir auf Kurzinterventionen umsteigen. Deshalb bin ich in dieser Sache relativ großzügig.
Herr Kollege Bartol, Sie dürfen jetzt fortfahren.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir werden auch die Kaufprämien für Elektrotaxis und Elektrofahrzeuge erhöhen und damit den Unternehmen ermöglichen, schneller ihre Flotten umzustellen. Wir werden gleichzeitig aber auch die Bosse der Automobilindustrie nicht aus ihrer Verantwortung lassen. Ich finde es gut – damit mich da keiner falsch versteht –, wenn die Hersteller Rekordgewinne einfahren. Das ist Ausdruck der guten Arbeit der Beschäftigten und sichert Arbeitsplätze in Deutschland.
({0})
Dass die Manager dafür jedoch Boni in Millionenhöhe verdienen, ist für mich nicht akzeptabel. Was aus meiner Sicht aber gar nicht sein kann, ist, dass sie gleichzeitig Millionen Dieselfahrerinnen und Dieselfahrer im Regen stehen lassen.
({1})
Die Industrie muss sich entscheiden: Entweder fährt der Diesel bei Fahrverboten komplett gegen die Wand, oder er hat als hoch ausgereifte Technologie, als Brückentechnologie noch eine Chance. Für uns ist klar: Die Hersteller müssen ran. Allein Softwareupdates vorzunehmen, reicht nicht aus. Die technische Nachrüstung von Euro-5- und Euro-6-Dieselfahrzeugen muss kommen. Die Kosten dafür muss selbstverständlich die Automobilindustrie tragen, nicht die Autofahrerinnen und Autofahrer.
({2})
An dieser Stelle baue ich auf die Unterstützung aller im Deutschen Bundestag, sodass wir das gemeinsam schaffen.
Vielen Dank.
({3})
Herzlichen Dank. – Herr Kollege Schinnenburg, ich habe Ihre Zwischenfrage nicht mehr zugelassen, weil es dem Kollegen Bartol dank der Zwischenfragen ebenfalls gelungen war, mehr Redezeit in Anspruch zu nehmen als der Minister. Das sollte nicht zur Gewohnheit werden.
Als Nächster hat für die Freien Demokraten der Kollege Frank Sitta das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte mit etwas Positivem beginnen. Ich freue mich, dass wir einen neuen Verkehrsminister haben.
({0})
– Nein, bleiben Sie bitte da, Herr Dobrindt. Da müssen Sie durch. – Ich bin aber kurz zusammengezuckt, als ich ganz laut „Weiter so“ gehört habe. Dazu möchte ich sagen: Bitte, bitte, bitte nicht.
({1})
Ein Thema, das ganz wenig zur Sprache kam, ist die digitale Infrastruktur; darum geht es ja auch. Die Digitalisierung kann für mehr Wohlstand und für mehr Wachstum in Deutschland sorgen. Voraussetzung ist aber eine zukunftsfähige digitale Infrastruktur in unserem Land. Ich darf zitieren:
Damit jeder in unserem Land die Vorteile des schnellen Internets nutzen kann, wollen wir es bis 2018 flächendeckend in allen Teilen unseres Landes verfügbar machen.
So liest man es im schwarz-roten Koalitionsvertrag – von 2013: „schnell“ und „flächendeckend“. Gemeint waren damals 50 Mbit; ambitioniert war das nie. Das Ziel werden wir trotzdem verfehlen. In Sachsen-Anhalt, woher ich komme, erreichen aktuell weniger als die Hälfte der Haushalte die anvisierten 50 Mbit pro Sekunde. Lieber Minister Scheuer, nutzen Sie bitte die Gelegenheit, und holen Sie jetzt nach, was die letzten vier Jahre verschlafen wurde: Sorgen Sie für mehr Tempo. Dann können Sie auch auf die Unterstützung der Freien Demokraten in diesem Hause zählen.
({2})
Was lesen wir jetzt? Die Ankündigungen von Union und SPD sind etwas größer geworden:
Wir gestalten den Weg in die Gigabit-Gesellschaft mit höchster Priorität.
Hört! Hört! 2025 soll es einen rechtlich abgesicherten Zugang zum schnellen Internet geben, quasi Glasfaser für alle. Zugegeben, das Ziel ist zumindest schon einmal visionärer geworden als im letzten Koalitionsvertrag.
Aber natürlich muss man auch an dieser Stelle – so fair will ich sein – an die Verantwortung der Länder erinnern; denn die Länder könnten bei der Breitbandförderung durchaus mehr tun. Förderprogramme mit originären Landesmitteln sind häufig entweder schlecht verzahnt, oder sie existieren praktisch nicht. Das gilt auch für die schwarz-rot-grüne Landesregierung in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt. Sie wirbt doch tatsächlich damit, dass sie einfach nur Europa- und Bundesmillionen durchreicht; von eigener Anstrengung keine Spur.
Die Freien Demokraten plädieren auch weiterhin dafür, die Anteile des Bundes an Post und Telekom zu verkaufen und diese Mittel dann in die Breitbandförderung zu stecken.
({3})
Union und SPD wollen es hingegen aus den Auktionserlösen der Versteigerungen der 5G-Frequenzen nehmen. Da liegt dann natürlich auch die Krux; denn ein Zuschlag wird mit schärferen Auflagen in Sachen Netzabdeckung und Geschwindigkeit verbunden sein. Das haben ja einige Abgeordnete der Koalition auch schon angekündigt, und das durchaus zu Recht.
Unserer Meinung nach ist die Sicherstellung eines leistungsfähigen und flächendeckenden Netzes und nicht die Maximierung der Erlöse das primäre Ziel der Frequenzvergabe.
({4})
Lassen Sie uns bitte nicht die Fehler bei der Versteigerung der UMTS-Lizenzen wiederholen.
Zu den Herausforderungen im Verkehr wird mein Kollege Luksic gleich noch etwas sagen.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Querschnittsthema der Planungsbeschleunigung sagen. Herr Minister, das Innovationsforum Planungsbeschleunigung hat Ihrem Vorgänger, dem Kollegen Dobrindt, im letzten Jahr Vorschläge gemacht; die sollten Sie jetzt möglichst schnell umsetzen. Denn aktuell ist es so, dass sich Infrastrukturmaßnahmen mit taktischen Klagen verzögern und verteuern lassen. Da sollten wir schauen, ob alles, was der Rechtsweg derzeit bietet, wirklich angemessen ist. Es kann nicht sein, dass die Exkremente eines Käfers gewissermaßen als Ersatzsprengsatz für bürokratisches Revoluzzertum dienen.
({5})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, Digitalisierung benötigt leistungsfähige Netze, sowohl beim Kabel als auch beim Mobilfunk, landesweit und gerade im ländlichen Raum. Wir als Freie Demokraten werben dabei immer für den Ansatz, der möglichst viel Wettbewerb ermöglicht. Das Netz muss dabei zu den Kunden kommen und nicht die Kunden zum Netz.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, lieber Frank Sitta. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke: die Kollegin Ingrid Remmers.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Herr Minister, Ihre vorgestellten Pläne überzeugen mich nicht. Sie überzeugen meine Fraktion nicht, und sie werden auch die meisten Menschen in diesem Land nicht überzeugen.
Was zum Thema Verkehr unter der Führung der CSU seit Jahren betrieben wird, ist eine Politik, die fast ausschließlich auf die Förderung des Autos und des Güterverkehrs mit Lkw ausgerichtet ist. Mehr Straßen, mehr Autos, mehr Verkehr – das ist bislang Ihr Mantra.
Was bisher vollkommen fehlt, sind die Zielkoordinaten für unsere Gesellschaft: Wie wollen wir eigentlich leben? Was für ein Verkehrssystem, welche Art von Mobilität wollen wir? Wie ermöglichen wir diese Mobilität auch für Menschen mit kleinem Einkommen? Wohin muss sich die Autoindustrie entwickeln, damit die Arbeitsplätze erhalten bleiben? Wie sollen unsere vollgestopften Städte zukünftig aussehen? Auf alle diese gesellschaftlich wichtigen Fragen haben Sie keine oder nur sehr einseitige Antworten.
({0})
Die Frage ist also, vor welcher Herausforderung wir stehen und in welche Richtung wir lenken müssen, um unsere Mobilität zukünftig sozial und ökologisch zu verbessern. Wir haben einiges von Ihrem Koalitionspartner gehört; aber, Kollege Bartol, Sie sind leider nicht der Minister.
({1})
Ich fange mal mit dem Thema an, das uns permanent beschäftigt, während die Bundesregierung versucht, es auszusitzen: dem Abgasbetrug der Autoindustrie bei den Stickoxiden. Michael Bauchmüller hat in der „Süddeutschen Zeitung“ für das Nichthandeln der Regierung sehr treffende Worte gefunden: Die Bundesregierung – ich zitiere – „reiht Luftnummer an Luftnummer, hat aber nur ein Ziel: Zeitgewinn.“ Die Bürgerinnen und Bürger aber erwarten vollkommen zu Recht von Ihnen, dass Sie die Lösung für saubere Luft und für die betrogenen Kundinnen und Kunden der Autokonzerne jetzt finden.
({2})
Ein Antrag von uns zur technischen Nachrüstung der Autos auf Kosten der Autoindustrie liegt jetzt auf dem Tisch. Wenn das umgesetzt wird, haben wir zügig weniger Schadstoffe in der Luft, erfüllen die Autos ihre Umweltversprechen auch im realen Leben und können wir auf Fahrverbote weitgehend verzichten.
({3})
Aus stehen aber auch noch Strafzahlungen für die Automobilkonzerne. Es widerspricht dem Rechtsempfinden der meisten Menschen grundlegend, dass das kriminelle Verhalten der Autokonzerne ungestraft bleiben soll, während beispielsweise Schwarzfahrer zur Strafe ins Gefängnis müssen. Was ist das für ein Missverhältnis?
({4})
Ihre Bilanz beim Thema Klimaerwärmung ist ebenfalls mehr als mangelhaft. Der Verkehr ist der einzige Sektor, in dem der CO 2 -Ausstoß wieder ansteigt. Woran liegt das? An Ihrer einseitigen Ausrichtung auf den motorbasierten Straßenverkehr. Immer mehr und immer schwerere PS-stärkere Autos mit entsprechend hohem Verbrauch und endlose Lkw-Karawanen verstopfen unsere Straßen und Autobahnen – ich komme aus dem Ruhrgebiet; Sie können sich vorstellen, wie es da aussieht –, verursachen kilometerlange Staus, viel Lärm und eine hohe Schadstoffbelastung – immer öfter auch in kleineren Orten an Bundes- und Landstraßen.
Völlig widersinnig sind auch Ihre Pläne für die Ausweitung des Dienstwagenprivilegs. Sie geben hohe Steuerrabatte für teure Autos mit hohem Spritverbrauch. Diese Subventionierung setzt vollkommen falsche Nachfragesignale. Klimapolitisch werden damit Dinosaurier gefördert.
({5})
Wichtige Fortschritte können wir durch die Verlagerung auf die Schiene erreichen. Aber auch hier sahen wir bislang nur schöne Versprechen der Bundesregierung. Im neuen Koalitionsvertrag sieht es jetzt ein bisschen besser aus. Wir hoffen das Beste!
Einen Fortschritt könnte zum Beispiel der Deutschland-Takt bringen. Wird dieser verlässlich umgesetzt, werden auch wirklich mehr Menschen die Bahn nutzen. Damit der Taktfahrplan funktioniert, müssen die Züge pünktlich sein. Nur dann können wir Pendler dazu bewegen, dass sie vom Auto auf die Bahn umsteigen.
({6})
Ein Vorschlag von uns, den Sie im Zusammenhang mit der Luftreinheit endlich aufgegriffen haben, ist der fahrscheinlose öffentliche Nahverkehr. Dort, wo der Nahverkehr zuverlässig, angenehm und bezahlbar ist, wird er auch genutzt. Für einen dauerhaften Erfolg müssen die Kapazitäten erheblich ausgeweitet und muss die Finanzierung langfristig gesichert werden.
({7})
Auch dazu haben wir einen konkreten Antrag formuliert, nämlich einen Antrag für einen schnellen Ausbau des ÖPNV in den 20 Städten mit den zurzeit höchsten Luftbelastungen.
Für die Mobilität in den Städten gilt für uns: Wir wollen wieder lebenswertere statt mit Autos vollgestopfte Städte haben, also Städte mit kurzen Wegen, in denen sich alle mit Bussen, Fahrrädern und zu Fuß frei bewegen können. Das ist Freiheit.
({8})
Diese Vision der Stadt hat eine Vielzahl von positiven Folgen. Unsere Städte werden wieder sauberer. Es gibt weniger Lärm, weniger Abgase, mehr Platz und einen bezahlbaren Nahverkehr. Damit könnten Städte wiederbelebt werden. Das ist unsere Vision von der Stadt und dem städtischen Verkehr der Zukunft.
({9})
Mit den aktuellen Entwicklungen in der Digitalisierung eröffnen sich gerade völlig neue Chancen; wir haben es eben schon gehört. Unterstützen Sie die Automobilindustrie bitte nicht weiter darin, die Digitalisierung nur für den Absatz neuer Autos zu nutzen! Fördern Sie stattdessen umweltfreundliche Verkehrsträger, die mittels Digitalisierung intelligent miteinander verknüpft werden und nach Bedarf genutzt werden können! Elektrifizieren Sie dazu noch Busse und Bahnen! Das ist die Zukunft der Mobilität.
({10})
In diesem Sinne kämpfen wir als Linke für eine echte Verkehrswende mit umweltfreundlicher und bezahlbarer Mobilität für alle.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Remmers. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich darauf hinweisen, dass es ungern gesehen wird, um nicht zu sagen, dass es untunlich ist, im Plenarsaal zu telefonieren. Das kann man außerhalb des Plenarsaals machen. Ich will jetzt keine Abgeordneten direkt ansprechen. Aber es wäre einfach gut, sich daran zu halten. Herzlichen Dank.
Als nächster Redner der Kollege Oliver Krischer vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheuer, ich glaube, es wird nicht reichen, die Plattitüden und Ankündigungsstanzen Ihres Vorgängers fortzusetzen und damit eine Verkehrspolitik zu simulieren, die nichts mit Zukunft und Modernität und schon gar nichts mit sauberer Luft zu tun hat. Das, was da gekommen ist, war eher heiße Luft.
({0})
Bei alledem, was man an Schönsprech hört und auch im Koalitionsvertrag liest, muss ich ganz ehrlich sagen: Wenn man sich anschaut, was in den letzten vier Jahren passiert ist – und es gibt überhaupt keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändern könnte –, sieht man, dass die Verkehrspolitik in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben ist. Das ist nicht die Herausforderung für die Zukunft, die wir angehen müssen.
({1})
Nirgendwo wird das deutlicher als im Bereich Klimaschutz. Sie haben das Wort Klimaschutz heute nicht ein einziges Mal erwähnt.
({2})
Auch in Ihrem Koalitionsvertrag steht nirgendwo, wie Sie Ihre eigenen Klimaschutzziele bis 2030 erreichen wollen. Das geht nicht; das ist unverantwortlich. Das ist eine Versündigung an der Zukunft nicht nur unseres Landes, sondern des ganzen Planeten.
({3})
Ich nenne ein ganz konkretes Beispiel: Ihr eigenes Klimaschutzziel besagt, dass wir bis zum Jahr 2030 nicht nur die Kohleverstromung, sondern auch den Erdöleinsatz um die Hälfte reduzieren müssen. Aber wenn man in den Koalitionsvertrag schaut oder sich Ihre Rede anhört, bekommt man überhaupt keine Idee davon, wie das konkret gehen soll. Das ist zukunftsvergessen; das ist unverantwortlich.
({4})
Genauso unverantwortlich ist Ihr Umgang mit dem Thema „Schiene und DB“. Ich bin gespannt, ob wir von Frau Lühmann etwas zu den interessanten Abfindungen hören werden, die es da gegeben hat. Sie verunstalten die DB; Sie lassen sie verkommen. Sie machen sie an dieser Stelle nicht zukunftsfähig für ihre Aufgabe der Daseinsvorsorge. Das schadet dem Land und der Mobilität in unserem Land.
({5})
Auch beim Thema „öffentlicher Personennahverkehr“ habe ich von Ihnen, Herr Scheuer, nicht gehört, was Sie konkret vorhaben. Ich finde es, ehrlich gesagt, skurril, was ich in der angefangenen und am Ende der letzten Wahlperiode erlebt habe. Da gab es einen Brief, adressiert an Brüssel, in dem der kostenlose ÖPNV angekündigt wurde. Drei Tage später war das alles nicht mehr wahr. Wir fragen uns: Was soll denn jetzt passieren? – Notwendig wäre eine Aufstockung der GVFG-Mittel. Das haben Sie auch im Koalitionsvertrag verankert. Das ist aber ein Stück weit absurd; denn vor zwei Jahren haben Sie grundgesetzlich geregelt, dass Sie sie nicht erhöhen wollen. In Ihrem Finanztableau ist plötzlich von 1 Milliarde Euro die Rede, aber nicht für jedes Jahr, sondern für die gesamte Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, die Kommunen brauchen Planungssicherheit, um in den ÖPNV investieren zu können. Sie machen das exakte Gegenteil.
({6})
Ebenso, Herr Bartol, verhält es sich beim Thema Elektromobilität. Hier hatten Sie das schöne Ziel „1 Million Elektroautos“. Das ist, ehrlich gesagt, eine Lachnummer; denn Sie haben dieses Ziel bis heute nicht einmal zu 5 Prozent erreicht. Wenn man sich Ihren Koalitionsvertrag anguckt, kann man nicht erkennen, wo da der Aufbruch in die elektromobile Zukunft ist. Es ist doch irre, dass hier ein Grüner steht und sich Sorgen um die Zukunft der deutschen Automobilindustrie macht,
({7})
wenn Start-ups wie Streetscooter und e.GO aus Aachen Erfolge feiern, Sie aber nicht in der Lage sind, die Elektromobilität voranzubringen. Ich will nicht, dass die Menschen in Wolfsburg und Stuttgart irgendwann in Detroit aufwachen.
({8})
Sie brauchen Rahmenbedingungen für eine elektromobile, emissionsfreie Zukunft; aber diese Rahmenbedingungen liefern Sie nicht, meine Damen und Herren.
({9})
Damit bin ich beim großen Thema Abgasskandal. Ich muss ehrlich sagen: Ich finde, Herr Scheuer hat da einen wirklich guten Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, es solle einen Entschuldigungsfonds geben, in den die Manager der Autokonzerne ihre Boni einzahlen. Herr Scheuer, da sind wir voll an Ihrer Seite; das ist richtig und notwendig. Ich hätte nur eine winzig kleine Ergänzung: All diejenigen, die in den letzten zehn Jahren in der Bundesregierung Verantwortung für das Thema Verkehr getragen haben – zuvorderst Herr Dobrindt –, sollen ihre Ministergehälter ebenfalls in den Fonds einzahlen.
({10})
Sie tragen nämlich die Verantwortung dafür, dass es diesen Abgasskandal gibt. Millionen betrogene Autofahrer sind Ihre betrogenen Autofahrer. Sie haben zu verantworten, dass sie unter dem Wertverlust ihrer Autos leiden; das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Nun drohen Fahrverbote, und deshalb sind Ihr Vorgänger und Sie die Fahrverbotsminister. Das muss allen Beteiligten klar sein.
({11})
Ehrlich gesagt, haben Sie genau wie Ihr Vorgänger mit der Wahrheit ein schwieriges Verhältnis.
({12})
Sie haben eben gesagt, von allen freiwilligen Nachrüstungen bzw. Software-Updates seien 50 Prozent umgesetzt. Wir haben Ihr Haus gefragt. Die Antwort zeigt: Das stimmt nicht. Von den nötigen Software-Updates – man kann zweifeln, was diese überhaupt bringen – sind in den letzten zwei Jahren gerade einmal 8 Prozent von der Automobilindustrie umgesetzt. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie sich noch auf der Nase herumtanzen lassen? Die halten nicht einmal ihre eigenen unzureichenden Ankündigungen ein.
({13})
Was wir brauchen, sind Hardwarenachrüstungen. Die betrogenen Dieselfahrer, die schmutzige Autos bekommen haben, obwohl sie meinten, saubere zu kaufen, müssen endlich auf Kosten der Industrie eine Hardwarenachrüstung bekommen. Nur so werden wir zu sauberer Luft kommen. Zu diesem Thema, Herr Scheuer, habe ich von Ihnen nichts gehört.
({14})
Deshalb, fürchte ich, wird sich wieder nichts ändern. Das wird zum Schaden des Landes mit weiterhin schlechter Luft
({15})
und zum Schaden der Automobilindustrie und der betrogenen Dieselfahrer sein, meine Damen und Herren.
Ich danke Ihnen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bemitleide den Kollegen Krischer, weil er während seiner Rede so schreien musste. Die Mikrofone funktionieren aber, stelle ich fest.
({0})
Herr Krischer, Sie sind ja sozusagen der inoffizielle dieselpolitische Sprecher der Grünenfraktion. Das, was ich nicht begreife, ist, warum Sie, wenn Sie den Vorwurf an den Bundesverkehrsminister richten, er sei schuld daran, dass durch Tricksereien bei der Software der Autos die Grenzwerte nicht eingehalten werden, sagen, dass ein Update dieser Software zur Einhaltung der Zulassungswerte nichts bringen soll.
({1})
Das ist der Kern dessen, was der staatliche Rahmen ist. Darüber hinaus erwecken Sie pausenlos den Eindruck, als ob Dieselfahren in Deutschland direkt nach Geschwistermord kommt.
({2})
Das wird vielen Menschen nicht gerecht, die Autos gekauft haben, die mit dafür sorgen, dass die Luftqualität in Deutschland besser geworden ist.
({3})
Man bekommt ja den Eindruck, sie wäre schlechter geworden.
Meine Damen und Herren, in meiner Heimatstadt Düsseldorf werden Kontrollen vorgenommen. Wenn man sich diese Kontrolldaten ansieht, stellt man fest, dass die Stickoxidwerte gesunken sind und dass angesichts dieser Entwicklung in vier Jahren alle Grenzwerte eingehalten werden. Wenn Sie heute die Jagd auf die Dieselfahrer eröffnen und, weil es irgendwo noch drei Jahre Umstellungszeitraum gibt, die Autos der Leute verschrotten wollen, dann werden jedenfalls wir als CDU/CSU-Fraktion dabei nicht mitmachen.
({4})
Ich möchte heute zur Digitalisierung sprechen. Die Digitalisierung im Verkehr ist übrigens auch etwas, was die Grünen überhaupt nicht auf dem Zettel haben. Dass die realen Emissionswerte so weit von denen auf dem Rollenprüfstand abweichen, liegt auch daran, dass in manchen Städten, wo die Grünen regieren, die Ampeln so programmiert sind, dass Sie garantiert jedes Mal eine rote Ampel sehen, wenn Sie an eine Kreuzung kommen.
({5})
Das Bremsen und Beschleunigen verursacht nicht weniger Ausstöße. Lieber Herr Krischer, ich würde gerne mit Ihnen zusammen eine Initiative starten und die Ampeln so vernetzen, dass die Autos bei optimalen Gegebenheiten durchfahren können. Das würde sowohl den Lärm als auch die Emissionen senken.
({6})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn er nicht so schreit, ja. –
({0})
Ach so, vom Kollegen Janecek. Ja, wunderbar.
Lieber Kollege Jarzombek, wir kennen uns ja aus dem Ausschuss Digitale Agenda. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass die Stadt Darmstadt, die von einem grünen Oberbürgermeister regiert wird, im Jahr 2017 als „Digitale Stadt“ ausgezeichnet worden ist, weil sie das Thema „Mobilität, Vernetzung, Digitalisierung“ in den Vordergrund stellt und auch umsetzt. Genau das ist es, was wir Grüne wollen, nämlich in der Fläche – übrigens auch für die ländlichen Räume – eine Mobilität des Teilens mittels digitaler Modelle zu ermöglichen. Die letzte Bundesregierung war da nicht besonders fortschrittlich. Nehmen Sie das zur Kenntnis, und stimmen Sie mir zu, dass wir da entschlossen vorangehen müssen?
Herr Kollege Janecek, ich stimme Ihnen auf jeden Fall zu, dass es auch bei den Grünen vernünftige Leute gibt.
({0})
Wenn die sich in Darmstadt finden, dann gratuliere ich der Stadt dazu.
({1})
Ich kann Ihnen aber aus meiner Erfahrung sagen: Wenn ich versuche, hier in Berlin zum Reichstag zu kommen, sind da nicht nur vernünftige Leute am Werke.
({2})
Sie haben natürlich in einem Punkt recht – da sind wir uns einig –: Wir müssen mehr für die Breitbandinfrastruktur in Deutschland tun. Deshalb hat die Bundesregierung bereits in der letzten Legislaturperiode 4,4 Milliarden Euro dafür zur Verfügung gestellt.
({3})
Die Krux ist, dass Deutschland wahrscheinlich das einzige Land auf der Welt ist, wo Breitbandkabel unterirdisch verlegt werden müssen. Das ist der Unterschied zu Rumänien und anderen Ländern. 80 Prozent der Kosten des Breitbandausbaus sind hier Tiefbaukosten. Darüber hinaus sind viele Kapazitäten erschöpft; wir haben komplizierte Ausschreibungsverfahren. Das ist der Grund, warum Mittel in Höhe von über 3 Milliarden Euro zugesagt, aber noch nicht abgerechnet wurden. Die Projekte sind in der Umsetzungsphase. Viele dieser Projekte werden in den nächsten Jahren dazu beitragen, die Breitbandversorgung im ländlichen Raum zu verbessern.
Damit werden wir uns aber nicht zufriedengeben; wir werden weitermachen. Im Koalitionsvertrag haben wir 10 Milliarden Euro dafür vereinbart, übrigens, Kollege Sitta, unabhängig von den Auktionserlösen der Mobilfunkfrequenzen; da stimme ich Ihrer Bewertung zu. Mit diesen 10 Milliarden Euro werden wir unsere Ziele neu justieren, und zwar von 50 MBit auf 1 000 MBit. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Europäischen Union; denn zu den Absurditäten des Breitbandausbaus gehört, dass wir Anschlüsse mit 30 MBit oder mehr gar nicht fördern dürfen.
Ich sehe den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Das ist für meine Redezeit ideal. – Bitte.
Die müssen wir dann zulassen. Sie haben selbstverständlich ein Recht auf eine Zwischenfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Jarzombek, ist Ihnen bekannt, dass die Definition „50 MBit“ in diesem Zusammenhang schon lange nicht mehr stimmt? Die Aufgreifschwelle liegt bei 30 MBit. Das heißt, die frühere und die jetzige Bundesregierung garantieren einen Breitbandzustand mit 30 MBit. Im Koalitionsvertrag ist auch nicht definiert, was Sie unter der Breitbandgarantie bis 2025 verstehen. Da ist nicht von 1 GBit die Rede.
Bei 30 MBit liegt die Aufgreifschwelle der Europäischen Union. Unsere Zielmarke sind 1 000 MBit. – Um das am konkreten Beispiel zu beschreiben: Von diesen 4,4 Milliarden Euro gehen 400 Millionen Euro in ein Programm für den Ausbau von Breitband in Gewerbegebieten. Wenn ein Gewerbegebiet 40 Gewerbeeinheiten hat, von denen 17 Gewerbeeinheiten über 32 MBit und die restlichen 23 Gewerbeeinheiten über 16 MBit verfügen, und wir eine Förderung auf den Weg bringen, um auf 1 000 MBit aufzurüsten, dann muss der Bagger um die 17 Einheiten herumfahren; denn die bleiben bei 32 MBit. Ich finde, das ist eine absurde Politik. Das müssen wir in Europa ändern; sonst werden wir in Deutschland keinen konformen Breitbandausbau machen können.
Ihre Frage zu dem garantierten Breitbandanschluss im Jahr 2025 – so weit war ich ja noch gar nicht – ist relativ einfach zu beantworten: Das geht einher mit der Universaldienstverpflichtung, die wir in dieser Legislaturperiode noch beraten werden. Dann werden wir auch sehen, wie das genau ausgestaltet wird. Das kann man jetzt nicht vorwegnehmen. Aber klar ist, dass es einen Anspruch auf die Bandbreite geben wird, die 80 Prozent der Bevölkerung haben. Das wird im Jahr 2025 1 GBit sein. Dafür nehmen wir diese Mittel in die Hand.
Im Übrigen ist es ein Missverständnis, dass wir mit Staatsmitteln jeden Anschluss in Deutschland auf 1 000 MBit aufrüsten. Ich glaube, gerade in den innerstädtischen Bereichen werden die Unternehmen das im Wettbewerb machen.
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Wir haben heute schon eine Reihe Anschlüsse mit 400 oder 500 MBit, die wir in den nächsten Jahren auf 1 000 MBit bringen wollen. Ich glaube aber, dass es nicht unsere Aufgabe ist, da staatliche Mittel zu investieren, wo es auch Private machen können.
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Was wir tun müssen, ist, uns auf den ländlichen Raum zu fokussieren. Wir haben hier eine Open-Access-Verpflichtung verabredet. Das ist, glaube ich, richtig, damit man nicht an einen Anbieter gebunden ist. Den Rechtsanspruch haben Sie benannt.
Das letzte Thema, das uns dieser Tage ja sehr beschäftigt, ist die Frequenzauktion der fünften Mobilfunkgeneration. Hier ist es aus meiner Sicht wichtig, dass wir schnell vorwärtskommen. Wir haben immer gesagt: Wir wollen das erste Land in Europa sein, in dem es 5G gibt. – Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir in fünf Regionen damit anfangen wollen. Wir diskutieren im Beirat der Bundesnetzagentur darüber, wie wir es schaffen können, dass diese Netze auch im ländlichen Raum funktionieren; denn da gibt es heute noch große Lücken: auf den Kreisstraßen, auf den Staatsstraßen, teilweise sogar auf den Bundesautobahnen. Hier sind wir dabei, ein besseres Regime vorzubereiten, damit wir durchsetzen können, dass die Versorgungsauflagen auch eingehalten werden.
Am Schluss ist mir wichtig, eines noch zu sagen: Wenn wir das Internet der fünften Generation einführen, dann muss das auch für die Hidden Champions im ländlichen Raum verfügbar sein. Der Unternehmer, der im Sauerland oder im Münsterland seine Industriehalle mit 5G ausrüsten will, muss das vom ersten Tag an können; er soll nicht darauf warten müssen, bis irgendein Anbieter das in seiner Region ausbaut. Deshalb werden wir einen Teil des Spektrums für Anwendungen vor Ort reservieren, die den Industrieunternehmen die Möglichkeit geben, von dieser Technik als Erste zu profitieren.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile als nächstem Redner dem Kollegen Dr. Dirk Spaniel von der AfD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Verkehrsminister! Die AfD will eine rationale, seriöse Verkehrspolitik gestalten. Das, was gerade in unserem Land passiert, ist genau das Gegenteil davon.
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Sie vermitteln den Bürgern das Gefühl, wir lebten in einer dreckigen Umgebung mit lebensgefährlichem Feinstaub und Stickoxiden. Fast neuwertige Dieselfahrzeuge haben drastische Wertverluste erlitten und sind von Fahrverboten bedroht. Wer ist dafür eigentlich verantwortlich?
Die Europäische Union hat vor circa 20 Jahren Grenzwerte für Schadstoffe definiert. Diese Grenzwerte wurden begründet mit Studien, die aus den 90er-Jahren stammen. Im Verhältnis zu den damals gemessenen Werten in Mailand oder Rom von weit über 130 Mikrogramm Stickoxid ist Stuttgart im Jahr 2017 ein Luftkurort.
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20 Jahre hatten Sie Zeit, die Studien und die Grenzwerte zu hinterfragen. Sie hätten auch die Abgasnormen der Fahrzeuge auf US-Niveau ändern können. Nichts haben Sie getan. Stattdessen setzen Sie Hunderte Millionen Euro Steuergeld für ein Sofortprogramm ein, das man als heiße Luft bezeichnen kann.
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Taxen, Pflegedienste, Paketdienste und Busse sollen elektrifiziert werden. Kennen Sie eigentlich die Studien des Landesumweltamts Baden-Württemberg, welche die Wirksamkeit dieser Maßnahmen bewerten? Diese Studien bescheinigen den Maßnahmen einen vernachlässigbaren Effekt auf Luftschadstoffe. Fahrverbote und Ihre Placebo-Maßnahmen werden die Luftqualität nur marginal verbessern, aber einen gigantischen Schaden für unsere Volkswirtschaft anrichten.
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Eine weitere aktuelle EU-Gesetzesvorlage, der alle Fraktionen in diesem Haus – außer unserer – zugestimmt haben, wird unser Leben in den nächsten Jahren einschneidend verändern. In dieser aktuellen Vorlage der EU wird ab 2021 die Einhaltung des durchschnittlichen Verbrauchs für Pkw von 4,1 Liter Benzin pro 100 Kilometer gefordert. Wenn Sie glauben, dass es möglich ist, mit einer Mittelklasselimousine in einem realitätsnahen Verbrauchstest 4,1 Liter pro 100 Kilometer zu erreichen, sollten Sie wieder einmal Ihr eigenes Auto nehmen und nicht den Fahrdienst.
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Für eine typische Mittelklasselimousine sind dann 4 000 Euro Strafzahlung fällig. Offensichtlich glauben einige hier, man müsse nur die Gesetze ändern, und schon sinke der Verbrauch. Die Gesetze der Thermodynamik kann man mit demokratischen Mehrheiten nicht ändern.
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Weil wir diese utopischen Ziele mit Verbrennungsmotoren nicht erreichen werden, werden jetzt Elektroautos gehypt. Glauben Sie ernsthaft, Elektroautos verursachen weniger CO 2 ? Woher kommt denn der Strom für die Elektroautos? Ich kenne keine Ausbaupläne der Stromerzeugung, die absehbar dazu führen, dass wir einen CO 2 -freien Strommix in Deutschland haben. Genau wie bei den utopisch niedrigen Stickoxidgrenzwerten haben Sie auch bei der CO 2 -Vorgabe die technische Machbarkeit nicht berücksichtigt. Statt vernünftige Rahmenbedingungen zu setzen, stolpern Sie von der Diskussion über Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in das CO 2 -Grenzwerte-Desaster.
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Zur Verkehrspolitik eines modernen Industriestaates gehört es, dass wirtschaftliche sowie freiheitlich-individuelle Interessen als auch Umweltschutzbelange austariert werden. Dafür steht die AfD.
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Offenbar sind wir hier die Einzigen in Deutschland.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr verehrte Zuhörende! „Deutsche Bahn: Die Zukunft der Mobilität“ – wir alle erinnern uns an diesen Slogan, der im Sommer letzten Jahres für die Bahn geworben hat. „Deutsche Bahn: Die Zukunft der Mobilität“, das ist richtig, wenn wir unsere internationalen Verpflichtungen zum Klimaschutz einhalten wollen; denn das werden wir nicht ohne die Bahn, ohne eine Bahnoffensive erreichen.
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Aber so richtig das ist, so falsch ist es auch. Die Bahn ist nämlich nur ein Teil, wenn auch ein wichtiger Teil, der Zukunft der Mobilität. Auch ohne Straße, ohne Wasserwege und ohne Luftverkehr geht es nicht, insbesondere im Gütertransport. Funktionierender Gütertransport, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist wichtig für unsere Lebensqualität und unsere Wirtschaftskraft.
({1})
Daher haben wir im Koalitionsvertrag den Fokus auf verkehrsträgerübergreifende Mobilität gesetzt, auf gemeinsames Denken; wir müssen gemeinsam den Verkehr in Deutschland für die Zukunft fit machen. Von diesen Bereichen werde ich zwei ansprechen: die Schiene und den motorisierten Individualverkehr.
Die SPD-Fraktion hat im Herbst 2016 einen großen Bahnkongress abgehalten und die Branche gefragt: Wie kann man mehr Verkehr auf die Schiene bringen? Das übereinstimmende Ergebnis war: durch einen gemeinsamen Schienenpakt zwischen Politik und Wirtschaft. So können wir erreichen, den Personenverkehr bis 2030 zu verdoppeln und deutlich mehr Güter auf die Schiene zu bringen. – Teile unseres damaligen Papiers haben wir im Bundesverkehrswegeplan verwirklicht, andere im aktuellen Koalitionsvertrag. Der wichtigste Satz zum Bahnverkehr lautet darin:
Für uns steht als Eigentümer der Deutschen Bahn AG nicht die Maximierung des Gewinns, sondern eine sinnvolle Maximierung des Verkehrs auf der Schiene im Vordergrund.
({2})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?
Ja, bitte.
Sehr geehrte Frau Kollegin Lühmann, Sie sind ja eine richtige Bahnexpertin – ich meine das ehrlich – und haben ja auch viele gute Vorschläge gemacht. Wir haben gestern im Verkehrsausschuss versucht, darüber zu sprechen, wie es mit der Abfindung für Herrn Grube aussieht. Sie sind ja im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn. Vielleicht könnten Sie heute vor dem Hohen Hause etwas dazu sagen; denn das ist uns einfach wichtig. Es geht dabei auch ein bisschen um Effektivität.
Minister Scheuer hat vorhin angesprochen, dass man da ein paar Änderungen erreichen möchte, auch in Bezug auf die VW-Boni. Nun kommen Sie aus Niedersachsen. Deswegen die Frage: Wollen Sie in Niedersachsen das umsetzen, was Herr Minister Scheuer vorhin vorgeschlagen hat?
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Da ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, bitte ich, die Frage zu den VW-Boni an die Kolleginnen und Kollegen des Niedersächsischen Landtages zu richten.
Zu Ihrer ersten Frage kann ich nur auf die Antwort des Kollegen Bartol verweisen. Er hat Ihnen vorhin erklärt – ich versuche es einmal mit meinen Worten, vielleicht erreicht es Sie dann besser –,
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dass es Verträge gibt, wie auch Sie sie mit Ihren Mitarbeitern schließen. In diesen Verträgen sind Bedingungen festgeschrieben. Es gab keine Geheimabsprache zwischen Herrn Grube und dem damaligen Minister über seine Abfindung, sondern das war lediglich das Einhalten von Verträgen. Ich glaube, wir beide sind uns einig, dass wir – in der Bundesregierung wie auch im Bundestag – für Verlässlichkeit stehen, also dafür, dass man Verträge einhält.
({1})
Der Kollege Bartol hat Ihnen auch erklärt, dass wir schon vorher die Verträge mit anderen, die neu hinzugekommen sind – Herr Grube war ja nicht der einzige Vorstand, der in der letzten Legislatur vorzeitig sein Amt verlassen hat –, entsprechend geändert haben. Das hat er Ihnen klargemacht. Insofern kann ich Ihnen sagen: Ja, wir haben schon in der letzten Legislatur Schlüsse aus diesem Vertrag und den Abfindungen gezogen. Ich bin sicher, dass wir das mit dem jetzigen Verkehrsminister fortführen werden.
({2})
Frau Kollegin, es gibt einen Zwischenfragewunsch des Kollegen Gastel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Gastel.
Liebe Frau Kollegin Lühmann, vielen Dank, dass Sie auch diese Zwischenfrage zulassen. – Sie sind ja Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn. Ich möchte an die Frage anschließen, die bezüglich der Abfindung für Bahnchef Grube aufgeworfen wurde, zumal heute in der Zeitung „Die Welt“ die Meldung kam, 725 000 Euro seien zusätzlich zu der Abfindung von 2,3 Millionen Euro als „Schweigegeld“ gezahlt worden. Dieses Geld ist ja erst im Jahr 2017, also in der letzten Legislatur vereinbart worden, von der Sie gerade gesagt hatten, dass da eine neue Regelung und ein neuer Umgang mit solchen Situationen beschlossen worden ist. Ich möchte gerne wissen: Wie haben Sie und die Mitglieder der Bundesregierung, die im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn sitzen, sich in dieser Sache verhalten? Wie haben sie abgestimmt? Wie kommt so etwas zustande?
({0})
Herr Gastel, ich habe eben gesagt, dass wir uns bei Arbeitsverträgen an Recht und Gesetz halten. Genauso – ich glaube, da sind wir beide uns einig – sollten wir es auch im Aktienrecht machen.
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Sie wissen genau, dass ich Ihnen über Abstimmungsverhalten im Aufsichtsrat – sowohl von mir als auch von anderen – keine Auskunft geben kann. Insofern finde ich diese Frage weder intelligent noch sinnvoll.
Ich kann Ihnen aber eines sagen – ich wiederhole, was ich eben gesagt habe; wenn Sie Genaueres wissen wollen, müssen Sie sich an das Ministerium wenden –: An Herrn Grube wurden keinerlei Zahlungen geleistet, die nicht vertragsgemäß hätten gezahlt werden müssen. Wenn, wie es in der Zeitung heißt, „Schweigegeld“ gezahlt worden sein sollte, dann müssten es Zahlungen sein, von denen weder Minister Dobrindt noch ich oder andere gewusst haben.
({1})
Das glaube ich aber nicht, weil die Bahn alle Zahlungen veröffentlicht hat.
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Wenn wir den eben von mir zitierten Satz ernst nehmen, dann brauchen wir dazu zwei Dinge:
Erstens müssen wir als Eigentümer der Bahn klar sagen, was wir von ihr erwarten. Herr Minister Scheuer, Sie sind der Vertreter des Eigentümers, der Deutschen Bahn AG. Das können nur Sie machen; das kann nicht Aufgabe des Aufsichtsrates sein. Wenn man sich ins Aktienrecht einliest, dann stellt man nämlich fest, dass der etwas ganz anderes zu tun hat. Ich hoffe, dass solche klaren Ansagen an die Bahn kommen werden.
Zweitens müssen wir der Bahn entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, damit sie unsere Prämissen einhalten kann. Erstes werden wir im kommenden Haushalt sehen. Ich erwähne nur ein paar Stichworte, die da eine Rolle spielen: Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen, Trassenpreisbremse im Nahverkehr – im Moment wird das noch von der Deutschen Bahn getragen, obwohl es Bundessache ist –, Programme zur Weiterentwicklung des europäischen Zugsicherheitssystems und der Elektrifizierung.
({3})
Sowohl die Eisenbahnverkehrsunternehmen in Deutschland als auch die Kunden und Kundinnen haben hohe Erwartungen an diese Koalition. Wir von der SPD werden alles dafür tun, dass diese Erwartungen erfüllt werden.
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Es stellt sich auch die Frage: Was machen wir mit individueller Mobilität? Wir haben in der letzten Legislatur viel für Städte getan. Ich komme aus dem ländlichen Raum, und dort werden wir um den Pkw nicht herumkommen. Auch wenn wir Brennstoffzellen und Brückentechnologien wie Gas oder moderne 6d-Diesel fördern, werden wir um die Frage „Was machen wir eigentlich mit den 15 Millionen Bestandsdieselfahrzeugen?“ nicht herumkommen. Ich bin der Kanzlerin sehr dankbar, dass sie gestern in ihrer Regierungserklärung klare Worte gefunden hat. Sie hat gesagt: Wir werden dafür sorgen, dass Käufer von Dieselautos nicht die Dummen sind.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns die Prämisse, der wir uns verpflichtet fühlen.
Wir können unsere Ziele nur gemeinsam erreichen: mit der Wirtschaft und der Politik unter der Beteiligung der Bundesländer und der Kommunen. Nur dann können wir das Ziel des Koalitionsvertrages erreichen: saubere, bezahlbare und sichere Mobilität.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Oliver Luksic.
({0})
Herr Präsident! Lieber Andi Scheuer, herzlichen Glückwunsch zur neuen Aufgabe! Ich freue mich, dass jemand, der aus der Verkehrspolitik kommt, Minister wird. Wir kennen uns aus der letzten Wahlperiode.
Wir werden dort, wo es sinnvoll ist, Veränderungen herbeizuführen, konstruktiv begleiten. In den letzten vier Jahren ist bei Großprojekten wie BER und Stuttgart 21 nichts vorangekommen, und außerhalb Bayerns gibt es einen Investitionsstau. Deswegen müssen unsere zwei Prioritäten lauten: günstiger und einfacher planen und bauen und innovative Mobilität voranbringen. Dabei werden wir Sie unterstützen – wenn von der Regierung gute Vorschläge kommen.
({0})
Wir brauchen mehr Innovation im Bereich Mobilität. Wir brauchen nicht nur vernetztes Fahren, sondern auch nachhaltige Mobilität und innovative Lösungen.
Jetzt drohen in der Tat Fahrverbote, weil die Bundesregierung vier Jahre lang nichts getan hat. Sie hat beim Abgasskandal zugeschaut. Sören Bartol hat das Thema Hardwarenachrüstung angesprochen. Sie kommt nicht. Deswegen haben jetzt Millionen Dieselfahrer ein Problem, weil ihr Fahrzeug an Wert verliert. Ich halte es für falsch, dass die Bundeskanzlerin gestern gesagt hat: Der Verbrennungsmotor ist eine Brückentechnologie.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, einmal abgesehen von Effizienzreserven und synthetischen Kraftstoffen: Das ist doch industriepolitisch der völlig falsche Weg, was Fertigungstiefe und Wertschöpfungsketten angeht. Wenn die Bundesregierung auf einen Zwang zur Elektrifizierung setzt, werden bis zu 50 Prozent der Arbeitsplätze im Bereich Automobil und Zulieferer verloren gehen. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen Technologieoffenheit und kein Enddatum für den Verbrennungsmotor.
({1})
Andi Scheuer ist ein Freund des Oldtimers, des automobilen Kulturguts. Das finde ich gut. Es wird jetzt zu Fahrverboten kommen. Schauen wir bei den Ausnahmen genau hin. Vielleicht wird es Ausnahmen für Flugtaxis geben, aber erst einmal sollte die Rechtsgrundlage dafür geschaffen werden. Es ginge derzeit nämlich gar nicht, in Deutschland ein solches Fahrzeug auf den Markt zu bringen. Auch viele andere innovative Mobilitätsformen müssen ermöglicht werden. Deswegen fordern wir als Freie Demokraten eine Reform des Personenbeförderungsgesetzes.
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Weil es bald zu einem Verkehrsinfarkt kommt, Deutschland aber mobil bleiben muss, müssen wir dafür sorgen, dass die vorhandenen Mittel in die Straße investiert werden. Deswegen brauchen wir nicht nur bei einigen wenigen Großprojekten Änderungen, sondern wir brauchen ein Planungsbeschleunigungsgesetz, mit dem wir dafür sorgen, dass überall schneller, einfacher und günstiger gebaut werden kann.
Wir brauchen eine Infrastrukturgesellschaft, die gut aufgestellt wird. Dazu hat das BMVI noch keine Strategie. Da muss man dringend ran. In den letzten vier Jahren wurde in Bayern viel gebaut – das ist auch gut –, aber es gibt Engpässe, zum Beispiel im Bereich Wasserstraßen und im Bereich Schiene; denken wir an Rastatt, wo Gleise weggebrochen sind.
Nach vier Jahren Mautminister brauchen wir dringend einen Verkehrsminister, der an ganz Deutschland denkt, der die Engpässe endlich beseitigt und dafür sorgt, dass Deutschland mobil bleibt. Nach vier Jahren Bau von Umgehungsstraßen in Bayern ist es an der Zeit, an ganz Deutschland zu denken. Da helfen wir gerne mit.
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Nächster Redner ist der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag, den die Unionsfraktion und die SPD aufgelegt haben, formuliert das Leitbild einer sauberen und bezahlbaren Mobilität. Ich bin sehr froh und dankbar, dass sich Bundesminister Scheuer dieses Leitbild zu eigen gemacht hat und hier aufgezeigt hat, wie er in den nächsten Jahren eine moderne, eine bezahlbare und vor allem eine saubere Mobilität in Deutschland stärken möchte.
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Wir brauchen diesen Ansatz, weil Mobilität Freiheit bedeutet, weil Mobilität Wachstum bedeutet, weil Mobilität Wohlstand bedeutet. Deshalb ist es richtig, dass wir den Investitionshochlauf, den wir in den letzten vier Jahren begonnen haben, fortsetzen, dass wir ihn verstetigen, dass wir in die Infrastruktur investieren.
Ich bin sehr dankbar, dass der Kollege Luksic, den ich noch aus der vorletzten Legislaturperiode kenne und schätze, gerne mitwirken möchte. Da Sie davon sprechen, warum in Bayern so viel investiert worden ist, muss man die Frage stellen, warum ein rheinland-pfälzischer liberaler Verkehrsminister, der verehrte Kollege Wissing, in den letzten zwei Jahren 74 Millionen Euro an den Bund zurücküberwiesen hat.
({1})
– „Seit einem halben Jahr im Amt“? Er ist seit Frühjahr 2016 im Amt. Das sind fast schon zwei Jahre. Aber bei Ihnen sind die Zeiträume ein bisschen anders, wenn es eng wird.
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Diese Frage muss man beantworten.
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Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten: Sie sind nicht in der Lage, Baurecht zu schaffen. Wenn eine Verwaltung wie die Bayerische Straßenbauverwaltung es schafft, die Schublade aufzumachen und die Mittel zu verbauen, Sie das als Liberale aber nicht hinbekommen, dann spricht das Bände, und zwar nicht über die Verkehrspolitik in Bayern, sondern über die Verkehrspolitik der Liberalen in Rheinland-Pfalz.
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Herr Kollege Luksic, da haben Sie Ihren Finger in die Wunde gelegt, und zwar nicht nur in der eigenen Partei, sondern im Gesamtgefüge. Wir haben in der Tat ein hohes Niveau an Investitionen. Wir sehen das Problem, dass immer mehr Bundesländer nicht in der Lage sind, das Geld für die Straße auch wirklich zu verbauen.
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– Natürlich hat das etwas mit Herrn Wissing zu tun.
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Wenn er vernünftig planen und bauen würde, hätte er das Geld auch einsetzen können.
Also, was bleibt zu tun? Wir müssen in der Tat dahin kommen, dass bei den Baurechten geliefert wird. Man darf Personal nicht abbauen, wie das dort passiert ist,
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sondern muss Planungskapazitäten schaffen. Wo wir das als Bund machen können, nehmen wir das demnächst selbst in die Hand. Dann werden auch solche politischen Friktionen, die wir immer wieder zu beobachten haben, dass nämlich politische Mehrheiten in den Ländern Projekte verzögern, die wir im Bund beschließen, der Vergangenheit angehören.
Die Infrastrukturgesellschaft wird kommen, und sie muss auch kommen. Sie muss dazu führen, dass zwischen dem Beschluss für ein Projekt und der Umsetzung weniger Zeit vergeht. Deshalb ist es richtig, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, in die Planungsbeschleunigung, in die Planungsvereinfachung einsteigen; sonst werden wir in Deutschland nicht zukunftsfähig sein. Das ist in meinen Augen die größte Baustelle, die wir im Bereich der Verkehrspolitik haben.
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Ich will aber auch noch etwas zum Kollegen Krischer sagen. Er hat hier viel über Emissionen und Luftreinhaltung gesprochen. Sehen Sie, wenn ich mir in meinem Wahlkreis das wichtigste Projekt der rheinland-pfälzischen Verkehrspolitik anschaue, nämlich den Lückenschluss der A 1, und die Haltung der Grünen dazu, die das seit Jahrzehnten verzögern und verhindern wollen, die schon vor 20 Jahren wussten, dass sie dagegen klagen werden, obwohl sie den Trassenverlauf noch gar nicht kannten, dann frage ich Sie: Was sagen Sie den Menschen in den Städten und Gemeinden, durch die Sie den gesamten Verkehr jagen, auch den Schwerverkehr? Sind die Emissionen dort andere als in der Stadt, wo Sie blaue Plaketten verteilen wollen, wo Sie Fahrverbote erteilen wollen?
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Wir erwarten von Ihnen keine doppelbödige Politik, sondern ehrliche Politik, eine Politik, die letztlich den Menschen dient.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, der Koalitionsvertrag ist eine hervorragende Grundlage, um die Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland im Bereich der Verkehrspolitik, aber auch im Bereich des Breitbandausbaus stehen, anzupacken. Wir werden Ihnen, Herr Minister Scheuer, zur Seite stehen. Wir werden Sie gerne unterstützen bei Ihrem Vorhaben, diese Politik modern zu gestalten und die Herausforderungen der Zukunft anzugehen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Gustav Herzog von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung unserer Gesellschaft ist das Megathema. Für manche Menschen ist Digitalisierung ein Segen. Sie erwarten, dass all ihre Probleme damit zu lösen sind. Vielen anderen flößt die Digitalisierung eher Angst ein. Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst um ihre Daten. Wenn man sich in der Szene bewegt, ob in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Politik, stellt man sehr viele Unwägbarkeiten fest. Was wird die Zukunft bringen? Die beste Form, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu gestalten. Diese Koalition hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Digitalisierung in unserem Land zu gestalten.
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Wir tun das in vielen Bereichen, insbesondere in den Bereichen Telekommunikation und Mobilität. Für den Bereich der Telekommunikation liefern wir mit dem Ausschuss und dem Ministerium die technische Grundlage. Wir haben eine klare Aussage zur Gigabitgesellschaft gemacht. Für meine Fraktion sage ich: Diese Gesellschaft muss vollständig, flächendeckend sein. Der ländliche Raum darf nicht abgehängt werden. Wir wollen diese Möglichkeit für alle Menschen, im Ballungsraum wie in den kleinen Dörfern in unserem Land.
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Wir verbinden den Rechtsanspruch ab dem Jahr 2025 mit klaren Schritten. Der Koalitionsvertrag enthält die Aussage – daran werden Sie uns messen können –, dass wir gegen Ende dieser Wahlperiode alle öffentlichen Einrichtungen in diesem Land angeschlossen haben. Das ist ein Meilenstein. Den werden wir gemeinsam erreichen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Stephan Kühn hat eine schöne Anfrage gestellt: Wie sieht es in Sachsen mit dem Abfluss der Mittel aus? Ja, Überschriften wie „Kriechspur statt Datenautobahn“ ärgern uns alle. Wenn Sie sich das genau anschauen, stellen Sie aber fest: Über 294 Maßnahmen wurden in diesem Bundesland beantragt. Ganz viele Untersuchungen laufen noch. Ich sage Ihnen: In ein, zwei Jahren werden Sie sich darüber beschweren, dass in Ihrem Bundesland alles aufgegraben wird, um die Glasfaserkabel zu verlegen und die Antennenmasten aufzustellen.
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Wir befinden uns in einem Prozess. Liebe Kolleginnen und Kollegen und Herr Bundesminister Scheuer, da haben wir eine gewaltige Aufgabe vor uns. Wir müssen uns das Förderregime genauer anschauen. Für die Kommunen ist es unheimlich schwierig – bei mir sammeln sich die Beschwerden aus den Städten und den Landkreisen –, mit diesem ganzen Instrumentarium umzugehen. Es dauert ein, zwei Jahre, bis sie überhaupt wissen, was sie machen dürfen. Da müssen wir noch eine Schippe drauflegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wie wir die Glasfaser verlegen, werden wir auch dafür sorgen, dass 5G – das ist die Hochzeit zwischen Glasfaser und Mobilfunk – flächendeckend ausgerollt wird. Das ist unser Anspruch, und das werden wir auch leisten.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Gäste! Es ist eine Ehre für mich, heute zum ersten Mal im Deutschen Bundestag sprechen zu dürfen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, mit meiner Parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks, mit meinem Parlamentarischen Staatssekretär Stefan Zierke und mit dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Als ich mich in der vergangenen Woche als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln verabschiedet habe, haben mir die Neuköllnerinnen und Neuköllner gesagt: Bitte vergessen Sie uns nicht. – Ich habe das versprochen, und ich will es auch beherzigen.
Seit einer Woche bin ich nun Bundesministerin und freue mich darauf, Dinge auf nationaler Ebene bewegen zu können. Besonders wichtig ist mir dabei die frühkindliche Bildung, für die in den nächsten Jahren 3,5 Milliarden Euro Bundesmittel zusätzlich zur Verfügung stehen.
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Ich habe großen Respekt vor dem, was in den Kitas und in der Kindertagespflege jeden Tag geleistet wird. Die Kinder kommen aus den unterschiedlichsten Familien mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Aber eines ist sicher: Eine gute Kinderbetreuung kann jedem Kind einen guten Start geben.
({1})
Gute frühkindliche Bildung schafft damit die Grundlagen für Chancengleichheit, und gute frühkindliche Bildung muss allen Kindern in Deutschland zugutekommen, egal ob sie in einem armen oder in einem reichen Elternhaus geboren sind.
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Gute frühkindliche Bildung erfordert aber auch Qualität. Deshalb werde ich schon bald in enger Abstimmung mit den Ländern ein Gesetz für mehr Qualität in Kitas und in der Kindertagespflege vorlegen und auf den Weg bringen.
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Der Bund wird sich zum ersten Mal dauerhaft und verlässlich an der Verbesserung der Kitaqualität vor Ort beteiligen. Jedes Bundesland hat unterschiedliche Bedarfslagen bei der Verbesserung der Kitaqualität. Darauf wollen wir eingehen und mit jedem Land gezielt vereinbaren, wie es seine Kitas und Einrichtungen der Kindertagespflege stärken kann, zum Beispiel mit mehr Fachkräften, mehr Zeit für Kitaleitungen oder einem besseren Betreuungsschlüssel.
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Wir werden Eltern auch bei den Kitagebühren entlasten. Wichtig ist, dass es nicht heißt: entweder weniger Gebühren oder bessere Qualität. Die Eltern wollen beides, und beides wollen wir unterstützen.
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Nach der Kita muss es weitergehen. In enger Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium werde ich mich starkmachen für den Ausbau des Ganztagsschulbetriebs in Deutschland.
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Dabei geht es nicht nur um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch ganz konkret darum, Kindern mehr Chancen auf dem Weg zum Schulabschluss zu ermöglichen.
Wir stärken die Kinder, und wir stärken die Familien. Wir werden das Kindergeld erhöhen. Das ist gut, aber es reicht nicht. Deshalb erhöhen wir auch den Kinderzuschlag. Es gibt mehr Geld für Eltern mit kleinen Einkommen und für Alleinerziehende.
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Mit dem erweiterten Kinderzuschlag kommen viele Familien, die wenig Geld haben, besser über die Runden. Wir werden damit mindestens 500 000 Kinder erreichen.
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Dazu kommt der Ausbau des Bildungs- und Teilhabepaketes, der Tausenden Kindern überall im Land ganz konkret zugutekommt.
Der beste Schutz vor Armut allerdings ist gute Arbeit, und der beste Schutz vor Kinderarmut ist, wenn Eltern arbeiten können. Aber wenn alles, was jemand mehr verdient, direkt vom Kinderzuschlag abgezogen wird, dann lohnt sich Arbeit nicht. Deshalb wollen wir den neuen Kinderzuschlag so gestalten, dass von jedem Euro Mehrverdienst spürbar etwas bei der Familie bleibt.
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Arbeit soll sich lohnen, und dafür müssen wir etwas tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wann brauchen Menschen eigentlich am ehesten Begleitung und Unterstützung? In der Kindheit und im Alter, an den beiden Enden des Lebens. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Familien stärken. Familien kümmern sich um ihre Kinder und ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Dies verdient Anerkennung und Wertschätzung.
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Wir brauchen aber auch mehr Menschen in den sorgenden Berufen. Allein in Berlin stehen etwa 10 000 Kitaplätze leer, weil nicht genügend Erzieherinnen und Erzieher da sind, und das, obwohl die Plätze dringend benötigt werden. Wenn wir mehr Erzieherinnen und Erzieher wollen, dann müssen wir den Beruf attraktiver machen:
({11})
mit besserer Aus- und Fortbildung, besseren Arbeitsbedingungen und – das habe ich vor Ort immer wieder erfahren – besserer Bezahlung.
({12})
Das gilt für alle sozialen Berufe, bis hin zur Altenpflege.
In Deutschland arbeiten 5,7 Millionen Menschen in den sozialen Berufen. Das ist fast ein Fünftel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. 80 Prozent davon sind Frauen. Die Aufwertung der sorgenden Berufe ist deshalb auch eine Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern.
({13})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, das Schulgeld für Sozial- und Gesundheitsberufe endlich abzuschaffen. Mit dem Pflegeberufegesetz haben wir in der Pflegeausbildung das Schulgeld abgeschafft und eine angemessene Ausbildungsvergütung festgeschrieben. Das Sofortprogramm „Pflege“ und die konzertierte Aktion bieten gute Möglichkeiten, den Pflegeberuf weiter aufzuwerten. Ich erwarte, dass wir dabei gut mit dem Gesundheitsministerium und auch mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales zusammenarbeiten – für die pflegebedürftigen Menschen und für die Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten.
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Als Frauenministerin werde ich mich in den nächsten Jahren auch dafür stark machen, Frauen vor Gewalt zu schützen und echte Gleichstellung immer wieder einzufordern.
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Wir werden einen Aktionsplan auflegen, und wir haben die Chance, die Frauenhäuser, die Zufluchtswohnungen und die ambulanten Angebote gemeinsam mit den Ländern und Kommunen dauerhaft zu sichern.
Wir werden Kinder besser vor Gewalt und Missbrauch schützen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss dafür weiterentwickelt werden.
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Wir werden die Kinderrechte als Kindergrundrecht im Grundgesetz festschreiben.
({17})
Das ist ein wichtiges Signal für viele Engagierte der Kinder- und Jugendarbeit vor Ort und sehr notwendig.
Wir wollen den Jugendmedienschutz auf die Höhe der Digitalisierung bringen, damit Kinder auch in der digitalen Welt geschützt sind.
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Mir ist wichtig, dass wir eine Gesellschaft gestalten, die einen starken, handlungsfähigen und sorgenden Staat beinhaltet, aber auch das Engagement und den Beitrag eines jeden Einzelnen anerkennt und fördert. All diejenigen, die sich ehrenamtlich für ein gutes Zusammenleben engagieren und sich für Demokratie und Vielfalt einsetzen, verdienen unsere Wertschätzung, unseren Dank und unsere Unterstützung.
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Das Bundesfamilienministerium hat in den letzten Jahren 47 000 ehrenamtliche Patenschaften zwischen Einheimischen und Geflüchteten angestoßen. Ich finde, Patenschaften sollen allen Menschen zugutekommen.
Integration geht am besten durch Normalität. Das habe ich als Bürgermeisterin einer Großstadt mit über 330 000 Menschen, 150 Nationen und 80 Religionsgemeinschaften vor Ort gelernt: Integration geht am besten durch Normalität.
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Deshalb werde ich das Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“ ausweiten und für alle öffnen, die Patenschaften und Unterstützung brauchen, egal ob sie gebürtige Deutsche, Geflüchtete oder Menschen mit Migrationsgeschichte sind.
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Als Ministerin werde ich mich für alle einsetzen: für Frauen und Männer, für die Ostdeutschen und die Westdeutschen, für diejenigen, die in ländlichen Regionen leben, und für diejenigen, die aus der Stadt kommen, für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, für die Älteren, die Pflege und Unterstützung brauchen, und für die Seniorinnen und Senioren, die aktiv sind und unverzichtbar: für ihre Enkelkinder oder ihren Verein, als Lesepaten und Helden des Alltags.
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Diesen Alltag ganz konkret vor Ort zu verbessern und dazu von der Bundesebene bis auf die lokale Ebene tatsächlich wirksam zu sein, ist mein Anspruch an die kommenden Jahre, die wir hier gemeinsam gestalten werden.
Ich will mit den Worten von Theodore Roosevelt schließen, der im Alter von 42 Jahren zum jüngsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt wurde und 1906 den Friedensnobelpreis erhielt. Er sagte das schöne Wort: „Tu, was du kannst, mit dem, was du hast, wo immer du bist.“
Ich glaube, wir können mit dem, was wir haben, eine Menge tun. Als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend will ich gerne meinen Beitrag dazu leisten.
Auf gute Zusammenarbeit.
({23})
Für die AfD-Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Mariana Iris Harder-Kühnel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Dr. Giffey! Wie leider nicht anders zu erwarten war, ignorieren Regierungserklärung und Koalitionsvertrag die elementaren Probleme unserer Gesellschaft; denn keine der angesprochenen Maßnahmen wird wesentlich dazu beitragen, dass die demografische Katastrophe, auf die wir zusteuern, noch gestoppt werden kann,
({0})
dass die niedrige Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung nennenswert steigen wird, dass junge Menschen finanziell in die Lage versetzt werden, sich für Kinder zu entscheiden, und Kinder nicht länger ein Armutsrisiko darstellen, dass die Zahl von 100 000 Abtreibungen bei nur 700 000 Geburten pro Jahr zurückgeht, dass Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, sexuelle Übergriffe und Zwangsverheiratungen nicht weiter zunehmen und ihre über Jahrhunderte erkämpften Freiheiten und Rechte bewahrt bleiben,
({1})
dass die Armut von Kindern und älteren Menschen nicht weiter zunimmt.
Denn Sie betreiben seit Jahrzehnten eine Familienpolitik der reinen Symptombehandlung, ohne die Ursachen der gigantischen demografischen Zukunftsprobleme in Deutschland offen, ehrlich und ideologiefrei anzugehen.
({2})
Liest man den Koalitionsvertrag, so stellt man fest, dass sich daran in dieser Legislaturperiode nichts, aber auch gar nichts ändert. Oder glauben Sie wirklich, dass Ihre zentrale familienpolitische Maßnahme, die Erhöhung des Kindergeldes um sagenhafte 25 Euro pro Monat, dazu führen wird, dass sich die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung nennenswert erhöht?
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Statt endlich grundlegende Zukunftsfragen anzugehen, fabulieren Sie lieber von Gleichstellung, während es doch tatsächlich um wirkliche Gleichberechtigung im Sinne von Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gehen sollte.
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Sie fordern die Einführung von Kinderrechten im Grundgesetz, obwohl Kinder von unserer Verfassung bereits vollumfänglich geschützt sind. Dabei verschleiern Sie, dass es Ihnen eigentlich nur darum geht, die Zugriffsrechte des Staates auf Kinder zu erweitern und in das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder einzugreifen.
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Wenn Ihnen wirklich an einer Verbesserung der Situation von Familien, Kindern, Frauen und übrigens auch Männern in Deutschland gelegen wäre, dann würden Sie mit der AfD Ihre Politik darauf ausrichten, die Ursachen für Kinderlosigkeit, für die zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen und für die steigende Kinder- und Altersarmut zu beseitigen. Dann würden Sie mit der AfD die finanziellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass mehr junge Menschen den Mut finden, eine Familie zu gründen, damit Deutschland sich nicht abschafft, meine Damen und Herren.
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Sie würden mit der AfD nach Frankreich blicken und endlich das dort so erfolgreiche Familiensplitting auch in Deutschland einführen, damit es zu einer echten finanziellen Entlastung von Familien kommt und Kinder nicht länger ein Armutsrisiko darstellen.
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Sie würden mit der AfD dafür sorgen, dass Erziehungsleistungen in der Rente endlich angemessen berücksichtigt werden.
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Sie würden mit der AfD die tatsächliche Wahlfreiheit der Eltern zwischen Fremdbetreuung und Eigenbetreuung der Kinder herstellen und dafür sorgen, dass Mütter und Väter nicht mehr zur doppelten Berufstätigkeit gezwungen sind, um sich Kinder überhaupt noch leisten zu können.
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Sie würden mit der AfD für den Schutz des ungeborenen Lebens und eine Willkommenskultur für Kinder einstehen und verfassungswidrige Vorhaben wie die Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche bereits im Keim ersticken,
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und das auch dann, wenn Sie dafür, wie letzte Woche geschehen, von der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Eva Högl, als – ich zitiere – „widerliche Lebensschützer“ bezeichnet würden.
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Sie würden mit der AfD Grenzkontrollen einführen und vollziehbar ausreisepflichtige Straftäter sofort abschieben, um die Sexualstraftaten gegen Frauen einzudämmen.
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Sie würden mit der AfD und sage und schreibe 78 Prozent der Bevölkerung durchsetzen wollen, dass eine obligatorische Altersfeststellung bei angeblich minderjährigen Migranten erfolgt.
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Sie würden nicht ständig Gender- und Geschlechtervielfalt zum Alleinseligmachenden erklären, sondern Ehe und Familie als staatstragende Institutionen schützen, Alleinerziehende stärken und die staatlich aufgezwungene unnatürliche Frühsexualisierung unserer Kleinsten in Kitas und Grundschulen verhindern.
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Wenn Sie in diesen Punkten mit der AfD gehen würden, meine Damen und Herren, dann könnten wir hier mit Ihnen über eine Familienpolitik debattieren, die diesen Namen auch verdient hat. Aber die Familienpolitik, die diese Regierung betreiben will, wird leider rein gar nichts daran ändern, dass die demografische Katastrophe, auf die wir zusteuern, weiter ihren verhängnisvollen Lauf nehmen wird. Denn Sie bekämpfen nur Symptome, aber keine Ursachen. Dafür, meine Damen und Herren der neuen Regierung, fehlt Ihnen offenbar der Mut der AfD.
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Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, auch von uns aus ein herzliches Willkommen im Kreis der Lobbyisten für die wichtigste gesellschaftliche Gruppe, die es in Deutschland gibt, nämlich die Familien. Sie merken: Wir sind nett – fast alle und auch fast immer. Und wenn es darum geht, die Familien zu stärken, dann vereint uns auch der Wille, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Ich glaube, das war immer der Geist unserer Familienpolitik.
Man kann verschiedene Positionen haben. Wir alle haben uns aber an den Bedarfen der Familien und der Kinder zu orientieren. Ich werde gleich darauf eingehen, dass wir nicht alles geschafft haben. Wir haben in den letzten Jahren gemeinsam in der Familienpolitik vieles zum Positiven verändert; aber es gibt noch offene Punkte. Die Themen Kinderarmut und Kinderschutz werden eine bedeutende Rolle spielen.
Ich will nur an eines erinnern: In dieser einen Stunde, in der wir hier über die Familienpolitik debattieren, sind es mehr als vier Familien, aus denen Kinder herausgeholt werden, weil sie Gewalt oder Missbrauch erfahren oder weil sie vernachlässigt werden. Solange diese Situation in Deutschland vorherrscht, haben wir als Lobbyisten in der Familienpolitik die besondere Aufgabe, uns um die Kinder zu kümmern.
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Frau Kollegin Harder-Kühnel, Sie werden noch konstatieren müssen, dass wir seit 2005 einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik erlebt haben. Wir streiten über die Themen, aber wir streiten dafür, dass wir die Freiheit der Familien bzw. ihre Wahlfreiheit stärken. Wir wollen die Familien stärken, statt unsere eigene Ideologie zu verkörpern.
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Das heißt, dass wir Wertschätzung an den Tag legen und Möglichkeiten schaffen, um Bindungen und Verantwortungsübernahme zu stärken; wir wollen kein ideologiebehaftetes Bild der Familienpolitik darstellen.
Wenn Sie einen Blick in den Koalitionsvertrag werfen und das mit dem in Verbindung bringen, was wir in den letzten Jahren in der Familienpolitik geschaffen haben, dann werden Sie sehen, dass die Ergebnisse durchaus positiv sind. Ja, die Geburtenrate ist in den letzten Jahren gestiegen, Frau Kollegin. Das ist auch eine Auswirkung der Maßnahmen, die wir bereits vor vielen Jahren auf den Weg gebracht haben.
Ich will drei Bereiche in der allgemeinen Familienpolitik ansprechen, die dieses Dreieck abbilden: Infrastruktur, mehr Zeit für die Familie – denn Zeit ist die Ressource der Zukunft – und natürlich auch finanzielle Sicherheit. Wir werden uns jetzt in der Großen Koalition vornehmen, die Infrastruktur weiter auszubauen.
Es ist bereits angesprochen worden: Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf schaffen Möglichkeiten für Eltern, dieses zu kombinieren. Dazu gehört der Ausbau im Krippenbereich. Auch dafür haben wir die 3,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Was die Frage angeht, was uns besonders wichtig ist, werden wir den Qualitätsausbau im Kitabereich ebenso wie den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in der Ganztagsbetreuung im Grundschulalter auf den Weg bringen. Denn das haben uns die Familien gespiegelt. Sie haben uns gesagt: Es ist zwar toll, dass ihr einen Rechtsanspruch für den Kitabereich auf den Weg gebracht habt; aber wenn das Kind in die Schule kommt, bricht diese Betreuung ab.
Deswegen muss es eine Linie geben, und deswegen haben wir uns an genau diesen Bedarfen zu orientieren. Das werden wir jetzt in der Großen Koalition umsetzen.
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Wir werden in der Großen Koalition insbesondere das Thema Digitalisierung – das Thema der FDP – aufgreifen, Stichwort „Vereinfachung für Familien“. Dabei geht es auch um die Umsetzung der Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet.
Im Zusammenhang mit dem Thema Zeit sehen wir Zuschüsse für die Inanspruchnahme haushaltsnaher Dienstleistungen und das Recht auf befristete Teilzeit vor. Das ermöglicht den Familien Flexibilität bei der Gestaltung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade das, was wir bei den haushaltsnahen Dienstleistungen vorsehen, wird zu Entlastungen führen.
Wir haben uns bei den finanziellen Leistungen einiges vorgenommen. Ich will nur das Baukindergeld oder die Erhöhung des Kindergeldes um 25 Euro erwähnen.
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Mir ist wichtig, in der heutigen Generalaussprache, in der man merkt, wo die Linien verlaufen und wo die grundsätzlichen Positionen übereinstimmen und wo nicht, noch zwei Punkte zu erwähnen. „Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht“, hat schon Helmut Kohl gesagt; auch Sie haben das Wohl der Kinder angesprochen.
Man darf Dinge nicht leugnen, die es gibt. Die Kinderarmut ist weiterhin bedrückend. Wir wissen, dass fast jedes fünfte Kind arm oder armutsgefährdet ist und dass für mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder Armut ein Dauerzustand ist. Deswegen haben wir in der 18. Legislaturperiode viel gemacht. Wir haben unter anderem den Kinderzuschlag, das Kindergeld und den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende erhöht sowie das Unterhaltsvorschussgesetz auf den Weg gebracht. Wir müssen aber auch feststellen: Das reicht noch nicht. Deswegen haben wir uns in der Koalition vorgenommen, nicht nur den Kinderzuschlag zu erhöhen, sondern auch endlich die sogenannte Abbruchkante zu beseitigen. Wir legen Wert darauf, dass wir mit Kindergeld und Kinderzuschlag unter dem Strich auf das sächliche Existenzminimum in Höhe von 399 Euro kommen.
Weitere Punkte sind der Freibetrag für Vermögen und Einkommen des Kindes aus Erwerbstätigkeit und die Entbürokratisierung der familienpolitischen Leistungen. Einfachheit nutzt gerade denen, die nicht in der Lage sind, das ganze System der familienpolitischen Leistungen zu durchschauen. Dazu gehört auch die Verbesserung der Teilhabe an Kultur und Bildung. Es geht hier um Ausbau und Entbürokratisierung des Teilhabepakets. Die Zahl der Einzelanträge soll reduziert werden. Die Mittel für das Schulstarterpaket sollen aufgestockt werden. Der Eigenanteil bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in Kitas und Schulen soll endlich entfallen. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung dient – darauf komme ich immer wieder zurück – insbesondere auch der Erreichung dieses Ziels.
Zur Bekämpfung der Kinderarmut wollen wir die staatlichen Leistungen effizienter, zielgenauer und bedarfsorientierter gestalten. Wir wollen Anreize und insbesondere Leistungsanreize schaffen. Ich nenne hier den schon oft erwähnten Ranzen als Beispiel. Es geht darum, dass Kinder mit einem vernünftigen Ranzen zur Schule gehen. Aber der Ranzen muss von ihren Eltern bezahlt werden können; denn es macht die Kinder stolz, wenn die Eltern in der Lage sind, den Ranzen zu bezahlen. Hier müssen wir Leistungsbereitschaft und Berufstätigkeit fördern.
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Ich will zum Schluss noch einen Punkt ansprechen, den ich bereits am Anfang erwähnt habe. Das ist das Thema Kinderschutz. Vier Kinder werden in der Stunde, in der wir hier diskutieren, aus einer Familie herausgeholt, weil sie gefährdet sind. Deswegen haben wir den Kinderschutz als Schwerpunkt im Koalitionsvertrag festgelegt. Wir werden die frühen Hilfen fortführen. Wir werden uns den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch, die Prävention, den Opferschutz und das Verfolgen von Straftaten im Netz – Stichwort „Cyber-Grooming“ – auf die Fahnen schreiben. Bei Hinweisen auf sexuelle Gewalt muss zur Einschätzung der Gefährdungslage eine Stellungnahme von Fachleuten für Gewaltschutz und, soweit relevant, der Rechtsmedizin eingeholt werden.
Die Kinder- und Jugendhilfe muss weiter reformiert werden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode beim Kinder- und Jugendschutzgesetz einen ersten Schritt gemacht. Das hängt leider noch im Bundesrat. Wir werden darauf aufbauen und uns in den nächsten Monaten und Jahren intensiv damit befassen, wie wir die Reform der Kinder- und Jugendhilfe vernünftig und in breiter Absprache mit Verbänden, Trägern und Betroffenen auf den Weg bringen können. Viele Eltern haben uns die Rückmeldung gegeben, dass sie nicht verstehen können, warum sie im Umgang mit ihrem Kind so benachteiligt werden. Es ist unsere Aufgabe, Familien in schwierigen Fragen Unterstützung zu gewähren. Ich hoffe, dass wir in zwei, drei Jahren eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe gemeinschaftlich auf den Weg gebracht haben, die diesen Namen auch verdient.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kollegin Katja Suding.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin, zunächst wünsche ich Ihnen ganz viel Erfolg im neuen Amt; das wird ja nicht ganz einfach. Denn wer in dieser Koalition die Ausrichtung der Gesellschaftspolitik bestimmt, das ist ja klar geworden: Die Union hält die SPD an der kurzen Leine. Das ist vermutlich noch die Quittung für die Ehe für alle. Die SPD darf zwar die Ministerin stellen, tanzt aber ansonsten nach der Pfeife der Union – ein Schritt vor und zwei zurück.
({0})
Dieses Parlament war kurz davor, und zwar trotz der Verweigerungshaltung von Union und AfD, Frauen, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken, den freien Zugang zu sachlichen Informationen, Frau Nahles, zu ermöglichen. Sie sollten endlich wie mündige Bürger behandelt werden.
({1})
Dann hat die SPD ihren Gesetzentwurf zu § 219a StGB zurückgezogen. Ausgerechnet die SPD, die sich, gar nicht so sehr zu Unrecht, dafür rühmt, viel für die Emanzipation der Frau getan zu haben, ist an dieser Stelle eingeknickt.
({2})
Frau Ministerin Giffey, wo war denn in Ihrer Rede die glasklare Absage an das überholte Frauenbild – die habe ich wirklich vermisst –, das der Gesundheitsminister am Wochenende gezeichnet hat? Mit der Geringschätzung, die da Frauen gegenüber zum Ausdruck gekommen ist, muss endlich Schluss sein.
({3})
Sie haben heute eine ganze Reihe von familienpolitischen Maßnahmen aufgelistet. Die Liste ist durchaus beachtlich; aber viel hilft eben nicht viel. Das hat sich bereits gezeigt, als wir vor wenigen Wochen das Elterngeld Plus an dieser Stelle debattiert haben. Es wurde eingeführt zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, setzt aber häufig die falschen Anreize. Es führt bei vielen eben zum Ausstieg aus dem Beruf. Genau dieses Phänomen erleben wir in der Familienpolitik viel zu oft. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer mehr familienpolitische Leistungen eingeführt. Inzwischen sind es über 150. Das kostet den Steuerzahler richtig viel Geld, fast 200 Milliarden Euro pro Jahr.
Trotzdem fällt das Ergebnis verheerend aus. Für Eltern ist es weiterhin schwer, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Fast jedes fünfte Kind lebt in Armut oder ist von Armut gefährdet. Die Bildungschancen dieser Kinder sind genauso eingeschränkt wie ihre gesundheitliche Entwicklung und ihre Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben. Familienpolitik in Deutschland ist sehr teuer, aber weder wirksam noch passgenau.
({4})
Frau Ministerin, bringen Sie den Mut auf, die unglaubliche Vielzahl an familienpolitischen Leistungen in Zielen und Auswirkungen zu evaluieren. Ziehen Sie daraus die richtigen Schlüsse, und setzen Sie diese dann durch, auch gegen Widerstände aus der Union. Tun Sie das im Interesse der Familien und im Interesse aller Steuerzahler.
({5})
Eines der zentralen Vorhaben der neuen Koalition ist der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler, ein durchaus erstrebenswertes Ziel, wie ich finde. Aber absolut unehrlich ist – deswegen muss ich es hier ansprechen –, dass Sie den Menschen versprochen haben, der Rechtsanspruch sei bis 2025 umsetzbar. Sie wissen so gut wie ich, dass an den Krippen und Kitas bereits heute 100 000 Erzieher fehlen; 100 000 Erzieher werden händeringend gesucht. Wo sollen also die Erzieher für die Grundschüler innerhalb weniger Jahre herkommen? Sie gibt es nicht auf dem Markt. Wollen Sie sie etwa aus den schon unterbesetzten Krippen und Kitas abziehen? Auch Marcus Weinberg hat darauf keine Antwort gegeben.
({6})
Die Bürger verdienen aber eine ehrliche Antwort auf diese Frage.
({7})
Klar ist: Der Rechtsanspruch bringt rein gar nichts, wenn die Erzieher fehlen. Ein Paragraf betreut keine Kinder. Die Einzigen, denen Ihr Vorhaben eine Ganztagsbeschäftigung sichert, werden die Anwälte sein; die Klagewelle ist schon jetzt absehbar.
Meine Damen und Herren, das Ziel von Familienpolitik muss sein, den Familien in ihrer ganzen Vielfalt Chancen zu eröffnen, damit sie ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Vorschläge dafür werden wir Ihnen gerne und zahlreich liefern.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Norbert Müller spricht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Gäste! Nachdem wir – irgendwann auch die Grünen – in den letzten vier Jahren Woche für Woche versucht haben, über Kinderarmut zu reden, und dabei auf ein, freundlich gesagt, bemitleidendes Desinteresse in den Reihen der Großen Koalition von SPD, CDU und CSU gestoßen sind, nehmen wir natürlich zur Kenntnis, dass auch Sie jetzt den Kampf gegen Kinderarmut voranstellen wollen. Ich hätte mich bei der Großen Koalition schon fast bedankt; doch dann las ich die Überschriften im Koalitionsvertrag und konnte im Detail nachlesen, was Sie hier eigentlich beabsichtigen. Selbst die Kanzlerin hat gesagt: Der Kampf gegen Kinderarmut ist wichtig. Sogar Marcus Weinberg von der CDU/CSU hat das gerade ganz nach vorne gestellt. Das heißt, Sie haben das Problem erkannt; aber eine Lösung haben Sie eben nicht mitgeliefert.
({0})
Wir reden über bis zu 3 Millionen arme Kinder – bis zu 3 Millionen arme Kinder! Das sind Kinder, die schlechter ernährt werden, schlechtere Bildungschancen haben, eine kürzere Lebenserwartung haben – das ist ziemlich brutal; das muss man sich schlichtweg vergegenwärtigen: sie werden einfach nicht so alt wie die gleichaltrigen Kinder, mit denen sie zusammen in die Schule gehen und die nicht aus armen Elternhäusern kommen –, eine schlechtere Gesundheitsversorgung haben und bei Teilhabe an Sportereignissen, Kulturgeschichten und Ähnlichem benachteiligt werden.
Wenn wir darüber reden, was Kinder einer Gesellschaft wert sind, dann müssen wir uns drei Dinge vergegenwärtigen: In Deutschland haben wir Kinder der Besserverdienenden. Die profitieren von den Kinderfreibeträgen – momentan bis zu 300 Euro monatlich. Das heißt, die Bundestagsabgeordneten, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kinder haben, profitieren jeden Monat für jedes Kind mit bis zu 300 Euro, die sie nämlich weniger Steuern zahlen. Durchschnitts- und Geringverdiener bekommen seit dem 1. Januar 2018 immerhin noch 194 Euro Kindergeld. Das heißt, ein Besserverdienender bekommt für ein Kind schon über 100 Euro mehr, als der Durchschnittsverdiener an Kindergeld bekommt. Aber die Kinder in wirklich armen Familien, die 1,9 Millionen Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, haben gar nichts davon, weil das Kindergeld vollständig auf Hartz IV angerechnet wird.
Jetzt sagen Sie: Kinderarmut wollen wir bekämpfen. Deswegen erhöhen wir das Kindergeld. Weil wir das für die Durchschnittsverdiener machen – die profitieren nämlich von dem Kindergeld –, müssen wir natürlich auch etwas für die Besserverdienenden machen. Deswegen erhöhen wir auch die Kinderfreibeträge. Ach ja, und für die Kinder, die in Hartz IV leben? Na ja, da wollen wir perspektivisch, dass die Eltern Arbeit finden. Wenn das Einkommen nicht zum Leben reicht, haben die eben Pech gehabt. Wir doktern ein bisschen am Kinderzuschlag herum. – Das wird im Kern nichts daran ändern, dass Sie für die 1,9 Millionen Kinder, die jetzt in Bedarfsgemeinschaften leben, die jetzt in armen Familien sind, gar nichts tun. Ihre Bekämpfung von Kinderarmut heißt, mehr Geld für die Kinder von Besserverdienenden zu geben und das Kindergeld moderat zu erhöhen, nachdem es in den letzten Jahren nur um 6 Euro erhöht wurde. Das geht nicht, und da sagen wir Linke: Wir brauchen völlig andere Schritte zur Bekämpfung von Kinderarmut.
({1})
Erstens. Die Regelbedarfssätze müssen erhöht werden.
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Es wäre ein erster Schritt, wenn sie wenigstens so hoch wären, wie die Bedarfe real sind, das heißt, wenn Sie aufhören würden, sie im Bundesarbeitsministerium künstlich herunterzurechnen, indem Sie den Weihnachtsbaum, die Ferienfreizeit und die Eiskugel im Sommer herausrechnen.
Zweitens. Das Kindergeld muss so hoch sein wie die maximale steuerliche Entlastung aus dem Kinderfreibetrag. Das sind 328 Euro. Nur dann sind alle Kinder gleich viel wert.
({3})
Drittens. Sorgen Sie dafür, dass das Mittagessen, Sport, Kultur und die Nutzung von Verkehrsmitteln für Kinder und Jugendliche kostenfrei sind! Stellen Sie alle frei; so bauen Sie Diskriminierung ab. Das wäre ein erster Schritt.
Marcus Weinberg hat gesagt, dass Sie die Zuzahlung von 1 Euro für das Mittagessen in der Schule für arme Kinder – Stichwort: Bildungsteilhabepaket – abschaffen wollen. Das ist eine prima Initiative. Dann können Sie morgen im Bundesrat direkt zustimmen. Das rot-rot regierte Brandenburg beantragt das nämlich.
({4})
Ich gehe davon aus, dass die Länder, die mit CDU und SPD regiert werden, im Bundesrat zustimmen, damit wir auf einem schnellen Weg dazu kommen, dass diese unsägliche Zuzahlung von 1 Euro für das Mittagessen in Schulen für arme Kinder entfällt.
Vielen Dank.
({5})
Ich rufe für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Annalena Baerbock auf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, herzlichen Glückwunsch zum Amt! Es freut uns, eine Frau vom Fach zu haben. Das hätte manchen Männern auch ganz gut angestanden.
({0})
Nichtsdestotrotz möchte ich darauf hinweisen, dass warme Worte allein die großen Probleme in diesem Bereich nicht lösen können. Anknüpfend an das, was Norbert Müller gerade vorgetragen hat, sage ich: Sie müssen sich den Koalitionsvertrag noch einmal genau vornehmen. Die Bundeskanzlerin hat hier gestern zu Recht gesagt: Wir alle sind Deutschland. – Dann kann es nicht sein, dass sie damit nur das Kind in Schwabing oder in Berlin-Mitte meint. Alle Kinder gehören zu Deutschland, ganz egal, wo sie leben.
({1})
Der Koalitionsvertrag grenzt 2,7 Millionen Kinder kategorisch aus, weil die Familienförderung da nicht ankommt. Das ist eine Schande, sehr verehrte Damen und Herren!
({2})
Die geplante Kindergelderhöhung – das wurde hier schon mehrfach angesprochen, aber ich möchte es noch einmal sagen; denn Sie können gegen Kinderarmut nichts tun, wenn Sie den Koalitionsvertrag an dieser Stelle nicht ändern – bringt ALG-II-Empfängern gar nichts. Es wird auch auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet.
Was bedeutet das? Jeder hier, der Kinder hat, weiß ganz genau: Wenn ein Kind zum Kindergeburtstag geht, dann nimmt es ein Geschenk mit. Wenn in einer Familie das Geld am Ende des Monats dafür nicht reicht, dann geht das Kind nicht zum Kindergeburtstag. Das bedeutet, dass manche Kinder auf dem Schulhof spielen, weil sie eben nicht am Mittagessen teilhaben können. Und es bedeutet auch, dass Kinder nicht zum Abiball gehen oder auf Schulfahrten mitfahren. Das kann nicht sein.
({3})
Die größte Schande in unserem Land ist die unsichtbare Armut. Da müssen Sie ran, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich komme zum Kinderzuschlag. Sie haben zu Recht gesagt, Sie haben da etwas getan. Das ist auch schön und gut. Aber bitte, Frau Ministerin, schauen Sie sich auch hier noch einmal den Koalitionsvertrag an; denn das Geld im Koalitionsvertrag spricht eine ganz andere Sprache. Sie manifestieren im Koalitionsvertrag die Ausgrenzung von Kindern. Sie stellen nämlich wieder nur 1 Milliarde Euro für den Kinderzuschlag bereit. Allerdings beträgt der Bedarf 3 Milliarden Euro. Was bedeutet das im Hinblick auf die 2 Milliarden Euro, die für die Kinder eigentlich nötig wären, die diesen Kinderzuschlag noch nicht erhalten? Es bedeutet: Sie wollen hier gar nichts ändern. Deswegen müssen Sie erneut an den Kinderzuschlag ran.
({4})
Zum Bildungs- und Teilhabepaket. Das Schulessen ist ein guter erster Punkt. Aber es geht eben nicht nur um das Schulessen. Jeder, der schon einmal ein entsprechendes Formular ausgefüllt hat, weiß – Sie haben die Patenschaften angesprochen; ich selbst habe eine syrische Patenfamilie –, wie kompliziert das ist. Ich habe es einmal versucht. Bei der Schulklassenfahrt ist es mir noch gelungen. Aber bei den Stiften und Büchern musste ich sagen: Sorry, ich kann leider nicht jeden Fisselkram beantragen. – Das geht nicht, sehr verehrte Damen und Herren.
({5})
Sie müssen das Bildungs- und Teilhabepaket so gestalten, wie das Bundesverfassungsgericht es Ihnen vorschreibt. Auch da müssen Sie ran, liebe Ministerin.
Wir unterstützen das Festschreiben von Kinderrechten im Grundgesetz; denn, liebe AfD, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen: Kinder sind Kinder und haben eigene Rechte in diesem Land.
({6})
Aber diese Kinderrechte bringen gar nichts, wenn sie nicht zur Wirkung kommen, wenn die Bürokratie dazu führt, dass sie von Kindern nicht gelebt werden können. Daher brauchen wir in diesem Bereich eine Änderung. Das müssen Investitionen in Institutionen sein, wo man nicht erst versetzungsgefährdet sein muss, um Nachhilfe beantragen zu können. Wie absurd ist das denn?
({7})
Im Bereich des Kitaausbaus und der Kitaqualität wünsche ich mir, dass Sie etwas Neues vorlegen; das haben Sie gesagt. Wir werden Sie mit allem unterstützen, was wir haben. Das muss dann aber auch eine Ansage an das Finanzministerium sein;
({8})
denn Sie können den Familien nicht einen Apfel für eine Birne verkaufen. Das geht einfach nicht.
({9})
Schauen Sie sich an, was da eingestellt ist. Auch die Länder hatten einen Beschluss zum Qualitätsentwicklungsgesetz für Kitas. Sie haben Ihnen vorgerechnet, wie viel das kostet. Sie haben gesagt: Zu Beginn des Jahres 2018 brauchen wir 1 Milliarde Euro. 2022 brauchen wir schon 5 Milliarden Euro zusätzlich, damit die Kinder in den Kitas so unterstützt werden können, dass sie nicht nur einfach aufbewahrt werden, sondern dass man auch mit ihnen spricht, dass man das Kind begrüßt, wenn es ankommt, und es auf den Arm nimmt, wenn es nach seiner Mutter weint, dass man ihm auch einmal etwas vorlesen kann. Dafür brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher. Es kann nicht sein, dass sich nur eine Erzieherin um sechs oder sieben zweijährige Kinder kümmert. Wer kleine Kinder hat, der weiß: Man ist manchmal schon mit zweien überfordert. Deswegen müssen Sie da genau hingucken. Und Sie müssen Geld nachlegen.
({10})
Die Länder haben gesagt: Für die Kitaqualität brauchen wir zusätzlich 9 Milliarden Euro. Was stellen Sie in Ihren Haushalt ein? 3,5 Milliarden Euro. Und Sie setzen dem Ganzen noch die Krone auf, indem Sie sagen: Zauber, Zauber, Fidibus, von diesen 3,5 Milliarden Euro wollen wir auch noch die Beitragsfinanzierung kostenfrei stellen. – Das geht nicht. Deswegen müssen Sie endlich an die Kitafinanzierung ran.
({11})
Zuletzt möchte ich einen Punkt erwähnen – die Kollegin Frau Suding hat ihn auch schon angesprochen –, um den ich mich auch ein bisschen sorge. Gestern im Ausschuss haben Sie ein einziges Wort zu Frauen gesagt. Und auch hier ist das Thema wieder ein bisschen hinten runtergefallen. Das geht nicht.
({12})
Sie sind Ministerin für Familie, Senioren, Kinder, aber auch für Frauen. Dass wir eine laute Familienministerin und eine laute Frauenministerin brauchen, haben wir im Hinblick auf den Kollegen Herrn Spahn gesehen. Es kann nicht sein, dass wir bei solchen Themen einfach nur so daherreden.
({13})
Wir machen alle Politik und kennen uns manchmal nicht aus. Natürlich kann ein Mann nicht wissen, wie es ist, wenn man schwanger ist. Er kann sich aber darüber informieren.
({14})
Wenn man in der Situation ist und nicht weiß, ob man eine Abtreibung vornehmen lassen soll oder nicht, dann braucht man keine klugen Ratschläge, dann braucht man Informationen und eine Frauenärztin, die einem hilft.
({15})
Und aus den Erfahrungen in einem Flächenlandes kann ich Ihnen sagen: Wenn die nächste Praxis einer Frauenärztin 50 Kilometer weit entfernt ist, dann brauche ich eine Liste, um zu wissen, welche Frauenärztin das macht. Deswegen bitte ich Sie: Gehen Sie das Thema § 219a an.
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Das erwarten die Frauen in diesem Land.
Herzlichen Dank. Auf eine gute Zusammenarbeit.
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Der nächste Redner ist der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familienpolitische, gesellschaftspolitische Debatten sind sehr emotional. Ich freue mich immer, wenn gerade bei diesem Thema mit sehr viel Energie und sehr viel Feuer gestritten und argumentiert wird. Das tut dem Thema gut, und das Thema ist es uns auch wert. Vorweg möchte ich zu der Frage, wie laut man sein muss, um eine gute Frauenministerin zu sein, sagen: Die Lautstärke allein ist noch keine Qualität, sondern daran, was man für die Gleichstellung politisch umsetzt, lassen wir uns messen.
({0})
Aber ich gebe zu, dass es natürlich immer hilfreich ist, mit sehr viel Engagement heranzugehen, und will dazu eine Politikerin aus Brandenburg zitieren, die leider nicht mehr unter uns ist. Regine Hildebrandt hat einmal gesagt:
Erzählt mir doch nich, dasset nich jeht!
Ich glaube, das ist ein guter Grundsatz, den wir beherzigen sollten, wenn wir uns um unsere Politikfelder kümmern.
({1})
– Das ist vielleicht manchmal auch ein passendes Zitat; aber darauf will ich nicht hinaus. – Wir zeigen mit unserem Koalitionsvertrag, dass es geht. Ich möchte die Ministerin Hildebrandt noch ein zweites Mal zitieren:
Ich gucke gerne aufs Detail. Detail ist für mich der Mensch. Die Einzelschicksale sind für mich kolossal interessant.
Wir Politikerinnen und Politiker müssen uns allesamt oft anhören, wir würden uns für diese Einzelschicksale nicht interessieren. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt der Koalitionsvertrag. Uns interessieren genau diese Einzelschicksale. Uns interessiert es, wie es dem Kind mit den Eltern, die losgehen müssen, um für den Unterhalt der Familie zu sorgen, geht. Wir wollen uns dieser Probleme annehmen. Wir wollen die Betreuungsprobleme auch nach der Kitazeit lösen, indem wir einen Anspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für Schulkinder einführen. Das ist schon ein enormer Schritt. Wo wären wir denn heute, Frau Suding, wenn wir das damals für die Kinder in Kindertagesstätten nicht eingeführt hätten? Wie wäre die Situation vor Ort?
({2})
Wir brauchen auch in diesem Fall genau so einen Rechtsanspruch, um den Bedürfnissen der Familien auch tatsächlich gerecht zu werden.
Wir schaffen mit dem Recht auf Rückkehr in Vollzeit für viele die Möglichkeit, aus der Teilzeitfalle herauszukommen, um anschließend für die Familie besser sorgen zu können und später nicht in Altersarmut zu leben.
({3})
Wir kümmern uns auch um die Armut von Familien. Natürlich kann man, lieber Norbert Müller, immer noch eine Schippe drauflegen. Natürlich kann man immer noch mehr Milliarden ausgeben. Aber dass wir für den Kinderzuschlag 2 Milliarden Euro ausgeben, ist enorm. Wir gehen das an. Und wenn wir im Laufe der Verhandlungen – das sage ich mit Verlaub in Richtung des Finanzministeriums und in Richtung des Koalitionspartners – dafür noch mehr Geld bekommen, dann sind wir froh, dass du und dass Sie hier an unserer Seite kämpfen; denn der Kinderzuschlag ist genau das richtige Instrument, um Armut in Familien tatsächlich zu bekämpfen.
({4})
Wir haben auch das Einzelschicksal der Frau, die vor Gewalt – Gewalt erleiden Frauen am häufigsten zu Hause – fliehen muss, vor Augen. Wir sagen: Wir wollen einen gesicherten Zugang zu Beratungen und zu Frauenhäusern. Wir nehmen uns dieser Frage auf Bundesebene an. Das ist ein weiterer, wie ich finde, sehr wesentlicher Schritt, um tatsächlich vor Ort eine Infrastruktur zum Schutz von Frauen und deren Kindern aufzubauen.
Wir sehen auch das Einzelschicksal der Altenpflegerin, die sich kräftezehrend aufreibt, sich liebevoll um die Seniorinnen und Senioren kümmert und sich kaum einen Urlaub leisten kann. Ich finde es gut, dass die Ministerin gerade die sozialen Berufe als Schwerpunkt genannt hat; denn es ist nicht nur eine gleichstellungspolitische Frage – es sind häufig Frauen, die unter diesen schlechten Bedingungen und mit geringer Bezahlung arbeiten müssen –, sondern es ist eben auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Hier zeigt sich nämlich, wie viel uns die Arbeit von Mensch zu Mensch wert ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Arbeit muss uns erheblich mehr wert sein.
({5})
Es sind also zahlreiche Einzelschicksale, um die wir uns mit ganz konkreten Vorschlägen und Maßnahmen, die in unserem Koalitionsvertrag stehen, kümmern werden. Deshalb sollten wir uns auch nicht damit auseinandersetzen, was alles nicht geht und warum es nicht geht, sondern wir sollten uns die nächsten Jahre daranmachen, den Koalitionsvertrag umzusetzen und dabei schauen, wie es geht und wie es noch besser geht.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die AfD-Fraktion rufe ich den Kollegen Martin Reichardt auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Dr. Giffey! Meine Kollegin Frau Harder-Kühnel hat in ihrer Rede auf die familienpolitischen Probleme in Deutschland hingewiesen und die Maßnahmen, die wir zur Überwindung der Krise fordern, dargestellt. Sie sprach auch vom fehlenden Mut der alten und der neuen Bundesregierung. Ihnen, Frau Giffey, wünsche ich Mut und Durchsetzungskraft für Familien und Kinder in Deutschland, die in Armut leben und von Armut bedroht sind. Ich befürchte, Sie sind dafür in der falschen Partei; aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
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Die Liste Ihrer Vorgänger, die, wie Sie es sagen, die Kinderarmut ins Visier genommen haben, ist lang. Schon Frau von der Leyen sagte 2007, Kinderarmut sei ein beschämendes Problem für Deutschland. Auch Frau Merkel hat sich gestern in ihrer emotionslosen Rede zu einigen Worten zur Kinderarmut herabgelassen. Wenn alle armen Kinder in Deutschland für jede verheuchelte Mitleidsbekundung von der Regierungsbank einen Zehner bekommen hätten, dann wären sie heute vielleicht nicht mehr arm.
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Ihre neue Fraktionsvorsitzende, Frau Andrea Nahles, wünscht sich allen Ernstes, dass die ritualisierte Skandalisierung der Kinderarmut aufhört. Ich gestehe, dass ich selten in dieser Angelegenheit eine unqualifiziertere und auch unverschämtere Äußerung lesen musste. Kinderarmut, meine Damen und Herren, wird nicht skandalisiert. Kinderarmut ist ein Skandal!
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Arme Kinder in Deutschland stehen am Rande der Gesellschaft. Sie haben schlechte Chancen für ihre Zukunft. Sie haben keine Träume mehr. Sie fragen sich, ob sie dereinst den sozialdemokratischen Hartz-IV-Segen erhalten und Aufstocker werden dürfen wie Mama und Papa. Weder die Regierung noch alte wie neue Opposition wollen ernsthaft den Kindern ihre Träume zurückgeben.
Seit 2015 befassen sich im Deutschen Bundestag 663 Drucksachen mit der Gleichstellung, 528 mit dem Klimawandel und ganze 55 mit Kinderarmut. Sie alle, meine Damen und Herren außerhalb der AfD, lassen die Kinder in Deutschland in Armut verkommen und beschäftigen sich lieber mit ideologischem Firlefanz.
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Die Zahl der Drucksachen ist genauso entlarvend wie die 5 250 Euro pro Monat, die ein sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling kostet. Im Vergleich dazu erhielten deutsche Familien Anfang des Jahres eine sagenumwobene Kindergelderhöhung von 2 Euro monatlich. Sie sollen jetzt gestreckt über die Legislaturperiode mit 25 Euro abgespeist werden. Meine Damen und Herren, auch das ist eine Schande.
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Wir als AfD sind die soziale und bürgerlich-patriotische Partei,
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die die Pflicht hat, Sie daran zu erinnern, dass Sie dem deutschen Volke verpflichtet sind – und zuvörderst unseren Kindern.
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Verschonen Sie uns daher bitte in Zukunft mit Ihrer Klimahetze, mit Ihrem Gleichstellungswahn und Ihren Weltenrettungsfantasien! Schützen Sie unsere Kinder und Familien vor Armut! Das ist Ihre vornehmste Pflicht.
Vielen Dank.
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Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sylvia Pantel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorweg möchte ich Frau Harder-Kühnel sagen, dass das Familiensplitting in Frankreich unterm Strich keineswegs mehr Geld für die Familien bringt als unsere familienpolitischen Leistungen. Bitte lassen Sie es nachrechnen; wir haben es getan.
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Der Koalitionsvertrag ist unterzeichnet. Mit ihm wurde ein starkes Paket für Familien auf den Weg gebracht. Ich freue mich, Frau Giffey, auf eine gute Zusammenarbeit. Sie haben bei Ihrer Vorstellung sehr wohl klargemacht, dass Sie wissen, wovon Sie reden. Ich freue mich, dass Sie das Amt übernommen haben.
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Durch unsere verantwortungsvolle Politik der letzten Jahre haben wir überhaupt erst Spielräume geschaffen, um für und in unsere Familien zu investieren. Es war uns ein großes Anliegen, mit den getroffenen Koalitionsvereinbarungen den hohen Stellenwert, den Familien in unserer Gesellschaft genießen, deutlich zu machen. Schließlich leisten Familien einen wesentlichen Beitrag für den Generationenvertrag. Für eine starke Gesellschaft brauchen wir starke Familien. Das Ziel unserer Familienpolitik ist es, Bedingungen zu schaffen, die eine Entscheidung für Kinder und damit auch für das Leben als Familie in unserem Land erleichtern.
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Bei den Verhandlungen über den Koalitionsvertrag war uns daher besonders wichtig, dass im Bereich der Familienpolitik investiert wird. Wir wollen und werden die Selbstbestimmungsrechte von Eltern stärken, und wir reden nicht nur von Wahlfreiheit bei der Erziehung, sondern wir setzen uns auch dafür ein. Deshalb unterstützen wir weiterhin den Ausbau und die Qualitätsentwicklung unserer Kitas und von Ganztagsangeboten in unseren Schulen. Wahlfreiheit in der Erziehung bedeutet aber auch, dass Eltern losgelöst von finanziellen Erwägungen die Entscheidung treffen können, ob und wie lange sie ihre kleinen Kinder selber zu Hause erziehen wollen oder ob sie ihre Kinder in die Betreuung einer Kita geben. Die Wertschätzung der Erziehungsarbeit, egal ob zu Hause, von einem Elternteil oder von einer Erzieherin oder einem Erzieher in der Kita, soll hier noch einmal ausdrücklich benannt werden.
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Erziehung, Versorgung und Betreuung von Familienangehörigen beinhaltet sehr viel Arbeit. Wir haben in der letzten Legislaturperiode bereits wichtige familienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht.
Mit dem Elterngeld, dem Elterngeld Plus und dem Partnerschaftsbonus unterstützen wir Familien dabei, ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen. Wir schaffen hierfür den finanziellen Spielraum. Seit der Einführung des Elterngeldes Plus hat sich die Inanspruchnahme dieser Leistung verdoppelt. Das ist ein gutes Zeichen; denn es zeigt, dass unsere Maßnahmen bei den Familien auch ankommen.
Wir haben vereinbart, das Kindergeld pro Kind in zwei Schritten um insgesamt 25 Euro monatlich zu erhöhen, und wir werden ein ganzes Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Kinderarmut auf den Weg bringen.
Mit der Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes haben wir in der vergangenen Legislaturperiode die Unterstützung von Alleinerziehenden – das sind in der Regel die Mütter – bereits maßgeblich verbessert. Für den Fall, dass ein Elternteil seiner finanziellen Verantwortung nicht nachkommt und keinen oder nur teilweise Unterhalt für die gemeinsamen Kinder zahlt, leistet der Staat nun bis zum 18. Lebensjahr den Unterhaltsvorschuss. Im Zuge der Reform wurde auch die Höchstbezugsdauer von 72 Monaten aufgehoben. Dies war ein wichtiger und richtiger Schritt zur Unterstützung der Alleinerziehenden, die einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind.
Kinder sind unser aller Zukunft, und wir wollen, dass sie ihr Potenzial und ihre Fähigkeiten in unserer Gesellschaft voll entfalten können. Deshalb hatten wir ein Bildungs- und Teilhabepaket beschlossen, das den Kindern unabhängig von der sozialen Stellung ihrer Eltern eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Aufgrund der guten Haushaltslage können wir unsere Familien finanziell weiter entlasten.
Wir erweitern mit der Eigentumsförderung die notwendigen Freiräume, damit sie ihren Alltag und ihr Zusammenleben nach ihren eigenen Wünschen gestalten können. Ich habe selbst fünf erwachsene Kinder und weiß daher, wie wertvoll und herausfordernd Familienzeit ist und wie schnell sie vorübergeht und wie wichtig geeigneter Wohnraum für Familien ist.
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Mit dem Baukindergeld, für das ich mich persönlich aus voller Überzeugung eingesetzt habe, erhalten Familien zukünftig eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 1 200 Euro pro Kind und Jahr. Ausgezahlt über den Zeitraum von zehn Jahren sind das 12 000 Euro für jedes Kind, ein finanzieller Beitrag, der Familien hilft, sich den Traum von den eigenen vier Wänden zu erfüllen. Die Förderung von Wohneigentum ist auch eine zusätzliche und sinnvolle Form der Altersvorsorge. Sie stärkt Familien in ihrer Unabhängigkeit und verhindert unvorhersehbare Mieterhöhungen.
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Wir verschaffen Familien Freiräume, damit sie unabhängig und selbstbestimmt ihren Alltag gestalten und sich für ein Leben mit Kindern entscheiden können. Sie sollen sich durch unsere Familienpolitik unterstützt und verstanden fühlen. Es muss unser Ziel sein, dass Kinder kein Armutsrisiko bedeuten.
Familien bewältigen vielfältige Aufgaben, und so beschäftigen wir uns als Familienpolitiker auch mit schwierigen Politikfeldern. So benötigt das Thema „häusliche Gewalt“ genauso wie Gewalt gegen Frauen und Kinder unsere Aufmerksamkeit. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir mit der Reform des Sexualstrafrechts eine gute Grundlage geschaffen. Es gilt nun der Grundsatz: Nein heißt Nein! Demnach macht sich ein Täter strafbar, sobald er sich über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt.
Auch das Prostituiertenschutzgesetz, das wir verabschiedet haben und an dem ich als Berichterstatterin mitgearbeitet habe, ist ein Schutzgesetz. Mit ihm haben wir die Selbstbestimmungsrechte der in diesem gefährlichen Milieu täglich arbeitenden Frauen gestärkt und ihnen eine gute rechtliche Grundlage an die Hand gegeben.
Von Gewalt betroffene Frauen und Kinder brauchen einen gesicherten und möglichst unbürokratischen Zugang zu Schutz und Beratung. Wir haben mit dem Hilfetelefon gegen Gewalt und dem neuen Internetangebot gegen Gewalt wichtige Hilfsangebote installiert. Darüber hinaus brauchen wir zuverlässige Angebote in den Frauenhäusern und Zufluchtsorten,
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und sie müssen finanziell abgesichert werden.
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– Wir sind erst seit einer Woche im Amt, lassen Sie uns erst einmal arbeiten.
Klar sind die Frauenhäuser eine Aufgabe der Länder, aber jede Frau, die sich ein Herz gefasst hat, Hilfe zu suchen und sich als Opfer zu offenbaren, und aus der Gewaltsituation flieht, muss mit ihren Kindern einen Platz in einem Frauenhaus finden. Damit werden wir uns in dieser Legislaturperiode beschäftigen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir als CDU/CSU-Fraktion sind uns gemeinsam mit der SPD der großen Bedeutung von Familien für unsere Gesellschaft bewusst und handeln. Durch unsere solide Haushaltsführung haben wir die nötigen finanziellen Spielräume geschaffen. Auch die noch vor uns liegenden Aufgaben werden wir meistern. Wir investieren in Infrastruktur, Bildung und Sicherheit, ohne mit diesem Haushalt neue Schulden aufzunehmen und damit unsere Kinder und Enkelkinder zu belasten.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Grigorios Aggelidis.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst wünsche ich Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin Giffey, viel Erfolg und setze da auf den Ihnen in vielen Artikeln nachgesagten Realitätssinn. Denn Sie müssen welchen haben, schließlich folgen Sie mit Ihrer im ZDF getätigten Aussage „Menschen müssen befähigt werden, statt nur versorgt werden“ dem Leitgedanken aus unserem Wahlprogramm, dass echte soziale Gerechtigkeit eben bedeutet, Menschen zu befähigen und nicht zu bevormunden.
({0})
Insofern drücke ich Ihnen bei der Umsetzung unserer Ideen die Daumen. Ob dies mit Ihrer SPD und der Union allerdings umsetzbar ist, bezweifle ich leider.
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Das wird schon bei Ihren ersten Ansätzen deutlich. Leider nur ein routiniertes Weiter-so. Klar ist die Erhöhung des Kindergeldes, auch klar: in zwei wahlkampftauglichen Schritten. Unklar bleibt, wie Sie, Frau Ministerin, die Schwierigkeiten der Inanspruchnahme des Kinderzuschlags endlich lösen wollen. Ihre Vorgängerinnen waren dazu bisher leider nicht in der Lage.
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Und trotzdem rühren Sie die von allen Seiten geforderte Beseitigung der Konstruktionsfehler unserer zahlreichen Familienleistungen nicht an. Frau Suding ist bereits darauf eingegangen.
Im Gegensatz dazu brauchen wir endlich ein ganzheitliches Konzept, das unbürokratisch ist und Leistungen wirkungsvoll bündelt.
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Damit stellen wir erstens endlich die Familien auf ein sicheres finanzielles Fundament, und zweitens müssen damit zielführende Angebote für eine Verbesserung der Perspektive und der Teilhabe von Familien und Kindern verbunden werden. Damit erleichtern wir das Mitmachen in der Gesellschaft, bei Sport, Musik, Kultur, in Vereinen oder im Ehrenamt. Diese aktive Teilhabe stärkt die Position und das Selbstvertrauen der Kinder und Familien. Es weckt die eigenen Potenziale und erhöht die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. So nehmen Kinder und Familien am gesellschaftlichen Leben teil und übernehmen selbst Verantwortung für sich und auch für unsere Gemeinschaft. Dies ist der Kern unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, meine Damen und Herren.
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Für uns Freie Demokraten ist die aktive Teilhabe ein zentrales Element einer zukunftsorientierten Gesellschaft. Deshalb ist die aktive Einbindung von Älteren für uns auch besonders wichtig – was zu meiner Überraschung heute in der Debatte bisher überhaupt nicht angesprochen wurde. Die Digitalisierung eröffnet auch hier viele Möglichkeiten, gerade auch für Senioren. Zahlreiche Alltagsprobleme können so gelöst werden: medizinische Versorgung, Dienstleistungen, Einkäufe, Pflege von sozialen Kontakten, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe – all diese Dinge und viel mehr. Die aktive Teilhabe wird dadurch auch bei älteren Menschen verbessert, die Lebensqualität erhöht, und zusätzlich ist ihre Einbindung für unsere Gemeinschaft sehr wertvoll.
Lassen Sie uns, Frau Ministerin, unsere Gesellschaft fit machen für die Zukunft. Dafür ist allerdings ein Wechsel hin zu einer modernen Gesellschaftspolitik bitter nötig.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Doris Achelwilm spricht für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Liebe Gäste oben auf der Tribüne! Beim Thema Gleichstellung haben sich ja schon in den ersten Tagen der neuen Regierung erhebliche Unterschiede und Unstimmigkeiten gezeigt. Kaum wird im gemeinsamen Koalitionsvertrag Frauenfeindlichkeit als Problem anerkannt, äußert sich der neue Gesundheitsminister im Zusammenhang mit § 219a mit Tierschutzvergleichen abfällig über Frauen, ihre Situationen, Entscheidungen und Selbstbestimmungsrechte. Diese Unverschämtheit wurde hier schon angemessen zurückgewiesen.
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Derartige Aussagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen im Übrigen befürchten, dass die Gleichstellungsrealität der nächsten Jahre noch hinter den bescheidenen Zielen des Koalitionsvertrags zurückbleibt. Ich hoffe, das wird nicht passieren; denn dafür gibt es tatsächlich überhaupt keinen Spielraum.
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Die SPD hat sich zu diesen Äußerungen kritisch positioniert, geht aber gegen die bekannten Gleichstellungsrückstände auch nicht mit der nötigen Dringlichkeit vor. Immerhin, der Bund will die Arbeit der Frauenhäuser besser absichern. Aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen bleibt von halbherzigen Teillösungen abhängig. Wir hatten es erst letzte Woche anlässlich des Equal Pay Day diskutiert: Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ wird nicht allein über lückenhafte Transparenzrechte zu erreichen sein.
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Auch beim Ehegattensplitting – anno 1958 – gibt es keine Fortschritte, obwohl die Abschaffung dieser Gleichstellungsbremse absolut überfällig ist.
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Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, fehlt es einfach reihenweise an glaubwürdigen Signalen, dass Sie insbesondere die Frauen im Blick haben, die existenziell kämpfen müssen und von Minijobs und Minirenten leben.
Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf über haushaltsnahe Dienstleistungen fördern zu wollen, geht aus unserer Sicht ebenfalls genau in die falsche Richtung. Zeitliche Souveränität nur für die, die es sich leisten können, ändert nichts am Status quo der sozialen Spaltung.
Wir müssen die Pflege von Menschen massiv aufwerten und ernsthafter über kurze Vollzeit für alle nachdenken, also über Arbeitszeitverkürzungen mit Lohn- und Personalausgleich.
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Als großer Wurf der Bundesregierung gilt, in den ersten 100 Tagen mit der Teilzeitfalle Schluss zu machen. Das ist ein überfälliges Vorhaben – keine Frage –; aber viele Beschäftigte bleiben außen vor, weil das Anrecht nur für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Unternehmen mit mehr als 45 Beschäftigten greift; und das ist viel zu wenig.
({5})
Abschließend möchte ich ein paar Anmerkungen zum Bereich der Queerpolitik machen, der bislang noch nicht so viel Erwähnung gefunden hat. Sie halten ja im Koalitionsvertrag fest, dass Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Identität frei und sicher leben können sollen, mit gleichen Rechten und Pflichten. Dieses Bekenntnis ist tatsächlich sehr wichtig. Es ist gut, dass das drinsteht.
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Das Gleiche gilt im Übrigen für Ihre Aussage – dafür dankt die Community sehr –, sich gegen geschlechtsangleichende Operationen an intergeschlechtlichen Kindern zu stellen.
({7})
Was fehlt – ich komme zum Schluss –, sind allerdings weitaus mehr konkrete Maßnahmen, wie etwa ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Homophobie und Transfeindlichkeit.
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Aus der letzten Legislaturperiode stammen die Errungenschaften bei Eheöffnung und bei Rehabilitation und Entschädigung der nach § 175 Strafgesetzbuch der BRD bzw. § 151 Strafgesetzbuch der DDR verfolgten Homosexuellen. Gerade hier braucht es schnelle Nachbesserungen, damit diese Rechtsentscheidung, für die sehr lange gekämpft wurde, auch den anspruchsberechtigten Menschen zugutekommt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner zu diesem Themenbereich der Kollege Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion.
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Ich muss erst das Niveau ein bisschen heben.
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– Nein! – Ich bitte um ein bisschen Geduld, während das Rednerpult hochgefahren wird.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Im Vergleich zu den Menschen in anderen Ländern geht es den Menschen in Deutschland sehr gut. Dennoch können wir überall hören und lesen, dass wir in einer Krise stecken, allerdings nicht mehr in einer wirtschaftlichen Krise – in diesem Bereich läuft es prima –, sondern in einer gesellschaftlichen. So weit würde ich nicht gehen, aber ich würde schon sagen: Das Band, das unsere Gesellschaft zusammenhält, ist an der einen oder anderen Stelle etwas ausgeleiert. Das zeigt auch das Wahlergebnis vom September.
Das Ressort „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ hat eine besondere Verantwortung; denn zentral für das Funktionieren unseres Gemeinwesens in Deutschland ist das Prinzip der Subsidiarität, das Prinzip also, nach dem Aufgaben möglichst vom Bürger selbst oder bürgernah geregelt werden. Herausforderungen sollen auf der niedrigsten politischen Ebene oder von kleineren Einheiten gelöst werden. Funktioniert das nicht, dann versucht man es auf der nächsthöheren Ebene. Subsidiarität kann aber nur funktionieren mit starken Familien, mit einer ausgeprägten Zivilgesellschaft und mit viel bürgerschaftlichem Engagement. Meine Damen, meine Herren, genau darum muss es im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und im zuständigen Ministerium in dieser Legislaturperiode gehen: Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft muss wieder wachsen. Dafür muss man die zentralen Akteure stärken. Im Koalitionsvertrag sind einige Maßnahmen festgehalten, mit denen wir das bewerkstelligen wollen.
Erstens: Stärkung der Familie. Meine Kolleginnen und Kollegen haben bereits viele Maßnahmen genannt, mit denen wir Familien das Leben erleichtern wollen: die Erhöhung des Kindergelds und des Kinderzuschlags, der Ausbau und die Verbesserung der Kinderbetreuung. Auch das Baukindergeld wird die Situation junger Familien merklich verbessern. Ein Eigenheim macht unabhängiger und ist der Grundstein für eine gute Zukunft.
({1})
Zweitens: Stärkung des ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements. Ehrenamtliches Engagement, die Bereitschaft, sich für andere und für die Gemeinschaft einzusetzen, ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Es ist vielleicht der wertvollste und wichtigste Teil unserer Leitkultur, das Markenzeichen unserer Gesellschaft. An dieser Stelle möchte ich den über 30 Millionen freiwillig Engagierten in Deutschland für ihre Arbeit und für ihr Engagement danken.
({2})
Das bürgerschaftliche Engagement verdient nicht nur Anerkennung und Wertschätzung, es muss auch gefördert und gestärkt werden. Ein wichtiger Beitrag der Politik wird sein, bestehende Regelungen zu entbürokratisieren. In fast jedem Gespräch, das ich mit Ehrenamtlichen führe, ist die zunehmende Bürokratie ein Hauptkritikpunkt. Ich selbst war jahrelang im Vorstand eines kleinen Sportvereins tätig, und ich weiß, wovon ich spreche. Viele Vereine, vor allem die ehrenamtlich Tätigen, sind teilweise an ihrer Belastungsgrenze. Hier müssen wir etwas tun.
({3})
Auch den rechtlichen Rahmen für ehrenamtliche Betätigung und das Gemeinnützigkeitsrecht müssen wir in diesem Zusammenhang verbessern.
Ein weiterer wesentlicher Punkt wird in den kommenden Jahren die Stärkung der Freiwilligendienste sein. Der Bundesfreiwilligendienst und die Jugendfreiwilligendienste sind ein Erfolgsmodell.
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Nach Wegfall des Wehr- und des Zivildienstes sind sie noch wichtiger geworden. Die Dienste leisten einen immensen Beitrag für das Zusammenleben, egal ob im sozialen, im ökologischen oder im kulturellen Bereich.
Zusammengefasst: Wir als Gesellschaft werden künftig weiter und auch stärker auf bürgerschaftliches Engagement setzen müssen. Wir als Politik müssen dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen setzen. Familien und Zivilgesellschaft sind bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen äußerst wichtig. Doch eines muss auch klar sein: Wir in der Politik dürfen die Verantwortung nicht einfach abschieben. Denn sehr oft, wenn „Zivilgesellschaft“ und „bürgerschaftliches Engagement“ gesagt wird, ist damit die Hoffnung verbunden, dass damit alle Probleme und Herausforderungen verschwinden, vor allem jene, mit denen sich der Staat vielleicht etwas schwerer tut.
Ich möchte ein Beispiel dafür anführen: den demografischen Wandel. Hier kann durch bürgerschaftliches Engagement, durch eigenständige Verantwortungsübernahme sehr, sehr viel erreicht werden. Aber genauso bleibt der Staat gefordert – das haben wir heute auch gehört –: bei der Pflege, bei der Rente, bei der Barrierefreiheit und beim generationengerechten Wirtschaften.
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Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, müssen also Hand in Hand mit den engagierten Bürgern gestaltet werden. Das Band, das unsere Gesellschaft zusammenhält, können wir nur so wieder straffer ziehen, und nur so können wir den Zusammenhalt in unserem Land wieder stärken.
({6})
Zu diesem Themenbereich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe deswegen den Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend ab.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Koalitionsvertrag haben wir uns das Ziel gesetzt, eine neue Dynamik für Deutschland und einen neuen Zusammenhalt für unser Land zu schaffen. Mit einer Offensive für Bildung, Forschung und Digitalisierung will ich meinen Beitrag dazu leisten – einer Offensive, die den Menschen in unserem Land Chancen eröffnet und Mut zur Zukunft macht. Wir schaffen Chancen durch moderne Bildung – ermöglicht dadurch, dass der Bund neue Gestaltungskraft erhält –, wir schaffen Chancen durch lebenslanges Lernen und berufliche Bildung, der wir neue Anerkennung geben wollen, und wir schaffen Chancen durch Wissenschaft und Forschung, die für jede und jeden spürbar sein sollen.
({0})
Im Mittelpunkt unseres Wirkens steht der Mensch. Moderne Bildung ermöglicht ihm, sich zu entwickeln, zu zeigen, was in ihm steckt, zur eigenen Persönlichkeit zu reifen. Forschung und Wissenschaft dagegen ermöglichen Innovationen, die unser aller Leben besser machen. Erst beide zusammen ermöglichen es uns, in einer Welt des Wandels mit Mut und Vertrauen in die Zukunft zu blicken.
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Drei Schwerpunkte werden wir setzen:
Erstens: moderne Bildung. Mit dem Koalitionsvertrag schlagen wir ein neues Kapitel im deutschen Bildungsföderalismus auf. Ja, wir wollen stärker in die Zukunft von jungen Menschen investieren, und ja, in allen Regionen Deutschlands. Dazu müssen wir das Grundgesetz ändern. Das hat jetzt Priorität.
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Aber dafür brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Es geht also nur gemeinsam. Lassen Sie uns das deshalb gemeinsam machen, zum Wohle unserer Kinder!
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Dann können wir unsere Bildungsoffensive starten, die ja auch finanziell eine neue Dimension erreichen wird. Insgesamt 5 Milliarden Euro investieren wir in den Digitalpakt, um unsere Schulen zu modernisieren, davon allein 3,5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode.
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Digitale Medien gehören an jede deutsche Schule, damit Lehrkräfte moderne Lehrmethoden auch nutzen können.
Moderne Lehrmethoden sind neue Chancen, unsere Kinder individuell zu fördern. Dabei ist eine zeitgemäße Infrastruktur das eine, Qualifizierung der Lehrkräfte, gute Bildungsangebote, verlässliche Wartung und Datensicherheit sind das andere. Aber dafür sind die Länder verantwortlich, und das müssen sie uns garantieren.
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Die Verhandlungen zum Digitalpakt sind unter meiner Vorgängerin gut vorangekommen.
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Ich bin zuversichtlich, dass wir, wenn wir die Grundgesetzänderung haben, bald zum Abschluss kommen können. Denn am Ende geht es immer auch um das Bild, das Kinder und Jugendliche von Schule haben: Ist Schule ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist, oder ein Ort, der Zukunft atmet, der Freude am Lernen und Lust auf Neues vermittelt?
2 Milliarden Euro wird die Bundesregierung in die Ganztagsbetreuung investieren. Ganztagsbetreuung als Angebot ist gerade für unsere Kinder in den Grundschulen wichtig. Ich habe selbst vor langer Zeit begonnen, mich politisch zu engagieren, weil es bei uns nicht genügend passende Angebote für die Kinderbetreuung gab und Familie und Beruf zu vereinbaren mir schon damals wichtig war.
Dabei geht es heute um viel mehr als um Betreuung. Deutschland braucht jedes Talent. Wir wollen alle Kinder dort abholen, wo sie stehen, und sie gezielt fördern, damit sie ihre Fähigkeiten entdecken und entwickeln können, und zwar von Anfang an.
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Diesen Anspruch müssen wir als Gesellschaft an uns haben. Das ist nicht nur gesellschaftlich notwendig, sondern auch eine Frage der Chancengerechtigkeit. Dabei ist mir besonders wichtig: Jede Lösung muss den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen vor Ort entsprechen; keine Einheitslösung, sondern vielfältige Möglichkeiten. Diese Überzeugung wird mich bei meinen Gesprächen mit den Ländern und Kommunen leiten.
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Zweiter Aspekt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele Wege, ins Berufsleben zu starten. Am Ende zählt nicht die Art des Abschlusses, sondern das, was jemand daraus macht, ob jemand bereit ist, sich anzustrengen und sich weiterzuentwickeln. Anders ausgedrückt: Berufliche und akademische Bildungswege sind gleichwertige Bildungswege. Dieses Bewusstsein fest zu verankern, ist eines meiner zentralen Ziele. Denn jeder junge Mensch hat verdient, den Weg zu gehen, der zu ihm passt.
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Deshalb wollen wir die Durchlässigkeit zwischen beiden Bildungswegen weiter steigern. Der digitale Wandel führt uns doch gerade vor Augen, wie schnell sich die Dinge verändern, besonders in der Berufswelt. Neue Fähigkeiten werden gebraucht, neue Berufe entstehen, andere verschwinden. Damit alle mit Mut in die Zukunft blicken können, werden wir nun auch die berufliche Bildung modernisieren und hochwertige Entwicklungsmöglichkeiten schaffen. Dabei sind Entwicklungsmöglichkeiten das eine. Auch finanziell soll sich die Gleichwertigkeit niederschlagen. Wenn wir das BAföG für die angehenden Akademiker weiter ausbauen, dann stärken wir selbstverständlich auch das Aufstiegs-BAföG.
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Wir wollen eine neue Weiterbildungskultur etablieren, eine Weiterbildungskultur, die Lust macht, lebenslang zu lernen – in der Schule, im Beruf, im Privaten, bis ins hohe Alter. Nur so werden wir jedem neue Chancen für ein selbstbestimmtes Leben eröffnen.
Ein dritter Punkt treibt uns um. Forschung und Entwicklung prägen unsere heutige Welt. Die Kernbedingungen guter Wissenschaftspolitik sind Freiheit und Verlässlichkeit. Die Freiheit der Wissenschaft ist heute leider an vielen Orten nicht mehr selbstverständlich. Das macht uns große Sorge. Denn Wissenschaft steht für Orientierung an Fakten und Zusammenhängen, nicht für Stimmungen und Vorurteile.
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Gerade die Wissenschaft ist grenzüberschreitend und besonders aus europäischer Sicht gemeinschaftsstiftend. Große globale Herausforderungen wie die Energie- oder die Mobilitätswende werden wir nur mithilfe der Wissenschaft meistern. Deshalb muss die Stimme der Wissenschaft überall Gehör finden. Das ist mir wichtig. Aber das heißt auch: Wir müssen darüber reden, wie Wissenschaft im Alltag verständlich wird. Die Menschen müssen spüren: Was Forscher entdecken und entwickeln, hilft ihnen persönlich im Alltag.
Besonders deutlich wird das in der Gesundheitsforschung. Krankheiten wie Krebs und Demenz belasten das Leben ganzer Familien über Jahre hinweg. Wir müssen deshalb in der Lage sein, Ursachen besser zu erforschen, Therapien zu entwickeln und diese dann schnell zu den Patienten zu bringen, damit sich die Lebensqualität für viele verbessert.
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Die Wissenschaft kann auf diese Bundesregierung zählen. Wir werden die Wissenschaftspakte neu aufsetzen, die in dieser Legislaturperiode auslaufen, und unsere Universitäten, Fachhochschulen und auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen stärken.
Doch die Herausforderung bleibt: Forschungsergebnisse müssen ihren Weg in innovative Produkte und Dienstleistungen finden. Deshalb brauchen wir mehr Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, gerade auch kleine und mittlere. Dazu werden wir Forschung und Entwicklung in Zukunft steuerlich fördern.
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Aber auch der Staat muss sich trauen, neue Wege zu gehen. Wir wollen Sprunginnovationen fördern, die das Potenzial haben, neue Märkte zu schaffen. Das geht nur mit Mut zum Risiko. Diesen Mut müssen wir dann auch hier im Parlament beweisen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine echte Offensive für Bildung und Forschung braucht alle politischen Kräfte in Bund und Ländern. Ich biete Ihnen eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit an; denn Bildung und Forschung haben für diese Koalition Priorität. Das zeigt allein schon der Etat, der mit 17,6 Milliarden Euro der viertgrößte der Bundesregierung ist. Lassen Sie uns damit ein Versprechen verwirklichen, das wir den Menschen gegeben haben: neue Chancen durch moderne Bildung, lebenslanges Lernen und exzellente, offene Forschung und Wissenschaft.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD erteile ich dem Kollegen Dr. Götz Frömming das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, vorweg ein Wort zu den Stimmungen, die Ihrer Meinung nach die Freiheit an den Universitäten und in der Wissenschaft gefährden: Ich hoffe, Sie denken auch daran, dass inzwischen an manchen Universitäten bestimmte Redner gar nicht mehr ohne Polizeischutz auftreten dürfen. Auch das gefährdet die Freiheit in der Wissenschaft und an unseren Universitäten.
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Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren: Wir wollen den Föderalismus neu ordnen, wir wollen den Arbeitsmarkt fit machen, wir wollen unsere Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze führen ...
Das sind hehre Worte aus der Regierungserklärung der Kanzlerin vom 30. November 2005.
Wurden diese Ziele nach nunmehr zwölf Jahren wenigstens annähernd erreicht?
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Ich sehe nicht, dass unsere Hochschulen wieder an der Spitze sind. Keine deutsche Universität kann mit Harvard, Oxford, dem MIT oder der ETH in Zürich wirklich mithalten,
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und an den Schulen sieht es auch nicht gut aus. Wieso sollen wir nun also glauben, dass das, was in all den Jahren nicht gelungen ist, nun gelingen soll?
Noch immer sitzen in Deutschlands staatlichen Schulen bis zu über 30 Kinder in einer Klasse. Anders sieht es an den Privatschulen aus. Dort weiß man, dass ein moderner Unterricht in einem kleinen Raum mit über 30 Schülern gar nicht möglich ist. Noch immer sind viele Gebäude marode, und das fällt in Ihre Verantwortung.
({3})
– Ihre Kollegen regieren in den Ländern und wechseln vom Land in den Bund und zurück. – Es fehlen Kapazitäten in den Turnhallen und in den Schwimmhallen. Noch immer gibt es zu wenige Lehrer. Tausende Unterrichtsstunden fallen aus oder werden nur notdürftig vertreten. Das ist Ihre Politik in Bund und Ländern.
({4})
Die Masseneinwanderung von Menschen aus vorwiegend bildungsfernen Schichten wird die bestehenden Probleme in den nächsten Jahren noch verschärfen. Kein Wort dazu, wie Sie dieses Problem angehen wollen, lesen wir im Koalitionsvertrag.
Stattdessen lesen wir von vollmundigen Ankündigungen, von „Investitions- und Ausstattungsoffensiven“ oder von „Qualitätspakten“. Meine Damen und Herren, als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Wollen Sie eigentlich in den Krieg ziehen? Wenn ja, gegen wen? Vielleicht gegen Ihre eigene Politik. Mal sehen.
({5})
Gerne hätten wir stattdessen erfahren, wie Sie all diese angekündigten Offensiven und Pakte konkret umsetzen und finanzieren wollen. Auch dazu ist nur ansatzweise etwas zu erfahren.
Quasi als Leuchtturm ragt aus den meist nur nebulös angedeuteten Vorhaben der Nationale Bildungsrat heraus. Eben in der Ansprache der Ministerin war davon merkwürdigerweise gar nicht die Rede.
({6})
Was soll dieser Nationale Bildungsrat bewirken? Er soll offenbar in der Bildungspolitik Bund und Ländern in Zukunft den Weg weisen.
Meine Damen und Herren, dieses Leuchtturmprojekt der Koalition ist ein alter Hut. Bereits 1965 wurde mit ähnlicher Zielsetzung ein Deutscher Bildungsrat gegründet, übrigens unter einer CDU-Regierung. 1975 ist er dann unter einer SPD-Regierung sang- und klanglos wieder beerdigt worden. Wir sind gespannt, wie das diesmal ausgeht. Entscheidend wird vielmehr sein, mit welchen Experten dieser Nationale Bildungsrat besetzt wird. Es ist zu befürchten, dass es dieselben sein werden, die Bund und Länder in Bildungsfragen schon jetzt beraten.
Was wir für die allgemeinbildenden Schulen jetzt brauchen, lässt sich auch ohne aufwendige empirische Studien und Nationalen Bildungsrat mit wenigen Worten sagen – ich komme auch gleich zum Ende –: Wir brauchen gut ausgebildete und gut entlohnte Lehrer in ausreichender Zahl. Wir brauchen ein klar gegliedertes Schulsystem, kleinere Klassen, sanierte Gebäude, dann noch Lehr- und Lernmittel, praktikable Curricula, gerne auch Smartboards und PCs, dann bitte aber auch das Personal zur Wartung; das wird meistens immer vergessen.
Das war es eigentlich auch schon. Die zahlreichen Reformen, Pakte und Offensiven und alles andere nutzen vielleicht denjenigen, die sie durchführen, aber oft weniger den Lehrern und Schülern vor Ort. Um die sollte es uns doch allen gemeinsam gehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Zusammenarbeit.
({7})
Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Oliver Kaczmarek.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind schon gestern in der Regierungserklärung und in der Generalaussprache sehr viele richtige Sachen über die Schwerpunktsetzung dieser Koalition auf Bildung und Forschung gesagt worden. Für mich mündet das alles in einem Satz, den meine Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles richtigerweise gesagt hat: Gute Bildung jetzt entscheidet darüber, ob es Deutschland auch in zehn Jahren noch gut geht. – Das ist genau das, was wir tun müssen: jetzt in Zukunft investieren.
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Schauen wir uns das an. Wir haben zwei Versuche hinter uns, eine Regierung zu bilden; einer ist geglückt. Dieser Koalitionsvertrag ist gut verhandelt. Wir haben den Willen – und können das auch –, Regierungsverantwortung zu übernehmen. 11 Milliarden Euro zusätzlich sind angesichts der ohnehin schon erhöhten Mittel im Bildungsbereich auf Bundesebene ein Wort. Daran werden wir uns messen lassen.
({1})
Wir haben uns viel Konkretes vorgenommen – die Ministerin hat es gerade schon angesprochen –: den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, Investitionen in Schule, insbesondere in Digitalisierung von Schulen und Hochschulen, mehr BAföG und Aufstiegs-BAföG, die Verstetigung des Hochschulpaktes. Wir wollen, dass Bildungspolitik eben nicht auf der Überschriftenebene hängen bleibt, sondern wir wollen vier Jahre lang eine Politik machen, in der Bildungspolitik ganz konkret im Alltag der Menschen ankommt und dort für Verbesserungen sorgt. Auch daran werden wir uns messen lassen.
({2})
Nun geht es an die Umsetzung. Die Frage ist: Was wollen wir zuerst anpacken? In welcher Reihenfolge gehen wir die Dinge an? Für die SPD-Fraktion will ich vier Punkte benennen, von denen wir glauben, dass sie jetzt eine besondere Priorität erfahren müssen.
Erster Punkt. Die Abschaffung des Kooperationsverbotes – das ist schon gesagt worden – ist ein Durchbruch, den wir im Koalitionsvertrag gemeinsam erreicht haben. Wir laden dazu ein, diese Vereinbarung im Deutschen Bundestag umzusetzen. Das ist eine neue Qualität. Bund und Länder übernehmen gemeinsam Verantwortung für große Herausforderungen.
Der Koalitionsvertrag ist durchzogen vom Geist der Kooperation. Früher haben wir aus dem BMBF oft einen Fingerzeig in Richtung der Länder erlebt, die darauf hingewiesen wurden, was dort alles nicht richtig läuft. Jetzt mit einer neuen Ministerin – das war auch gerade in der Rede zu hören, und das finde ich gut – besteht die Chance, einen neuen Geist zu wecken, nämlich gemeinsame Herausforderungen und gemeinsames Handeln zu betonen und den alten Geist im BMBF zu überwinden. Der neue Geist heißt Kooperation. Deswegen sollten wir auch zügig das Kooperationsverbot abschaffen, wie es vereinbart ist.
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Zweiter Punkt. Wir ändern das Grundgesetz nicht als Selbstzweck oder weil wir das verfassungsrechtlich gut finden, sondern weil wir diese Änderung brauchen, um große Herausforderungen im Schulbereich, insbesondere in der Digitalisierung, angehen zu können. Wir wollen den Digitalpakt, und wir wollen ihn schnell. Denn die Vorarbeiten sind bereits erledigt, und wir müssen uns jetzt daranmachen, das uneingelöste Versprechen Ihrer Vorgängerin, Frau Ministerin, endlich einzulösen.
Die Schulen und die Schulträger warten schon lange auf den Digitalpakt. Sie warten auf bessere Hardwareausstattung, auf bessere Lehrpläne für digitale Bildung und auf Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte. Deswegen müssen wir schnell eine Lösung für die Finanzierung hinbekommen. Sie muss in der mittelfristigen Finanzplanung abgebildet sein. Deswegen dürfen wir beim Digitalpakt nicht länger warten. Das muss jetzt schnell kommen.
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Dritter Punkt. Wir haben uns vorgenommen, dass bis 2021 wieder mehr Menschen zur Finanzierung ihrer Ausbildung BAföG erhalten, als es derzeit der Fall ist. Wir haben bei den prioritären Maßnahmen im Koalitionsvertrag bereits 1 Milliarde Euro für die BAföG-Novelle reserviert. Wir wollen damit drei Punkte erreichen: Erstens soll es wieder mehr BAföG-Geförderte geben statt immer weniger. Zweitens wollen wir das studentische Wohnen in den Blick nehmen, auch durch die Förderung von Wohnheimplätzen. Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Drittens wollen wir die Förderansprüche flexibilisieren, wenn Studierende ein Kind haben, jemanden pflegen oder ein Ehrenamt übernehmen. Diese drei Punkte sind jetzt auf dem Tisch. Wir müssen zügig in die Beratungen über die Gestalt der Novelle eintreten. Wir dürfen beim BAföG nicht bis 2021 warten, weil die Novelle dann ihre volle Wirkung entfalten muss. Das BAföG muss jetzt novelliert werden.
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Vierter Punkt. Ein Kennzeichen dieser Koalition wird die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung sein. Wenn ich von BAföG spreche, gehört natürlich auch das Meister-BAföG, das Aufstiegs-BAföG, dazu. Es ist ein Kennzeichen von Gleichwertigkeit, beides gleichermaßen zu betonen und auch anzugehen.
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Aber wir wollen auch die duale Ausbildung stärken. Das ist uns und, glaube ich, auch unserem Koalitionspartner ein Herzensanliegen. Deswegen werden wir in dieser Wahlperiode ganz konkret das Berufsbildungsgesetz anpacken. Wir werden unerledigte Aufgaben aus der letzten Wahlperiode anfassen müssen, wie die Novelle, die in der letzten Wahlperiode nicht auf den Weg gebracht wurde. Aber wir haben mit der Mindestausbildungsvergütung einen echten Meilenstein verankert, glaube ich, der sich auch im Berufsbildungsgesetz wiederfinden wird. Auch das gehört zur Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung.
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Wir haben also viel zu tun, und wir freuen uns auf die konstruktive Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht die Kollegin Katja Suding.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer neuen Aufgabe. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Sie haben vor Ihrem Amtsantritt gesagt, Sie wollten in den nächsten Monaten fragen, fragen, fragen. Das ist gut. Das lohnt sich. Das machen wir auch. Wir haben erst kürzlich die Bundesregierung gefragt, warum sie den Digitalpakt 2016 vollmundig angekündigt, aber noch immer nicht unterzeichnet hat. Die Antwort: Haushälterische, sachliche und rechtliche Fragen sollten erst von der neuen Bundesregierung entschieden werden.
({0})
Das heißt aber doch, es bestand nie die Absicht, in der letzten Wahlperiode zu unterzeichnen. Das waren bloße Sonntagsreden.
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In Anbetracht der großen vor uns liegenden Herausforderungen ist das grob fahrlässig, meine Damen und Herren.
Jetzt soll es aber mit dem Digitalpakt wirklich losgehen. Das haben Sie uns heute versprochen, Frau Ministerin. Doch die Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrer sollten sich nicht zu früh freuen. Obwohl Sie schon so viel Zeit vertrödelt haben, sollen von den versprochenen 5 Milliarden Euro gerade einmal 3,5 Milliarden Euro in dieser Wahlperiode fließen.
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Ob diese 3,5 Milliarden Euro überhaupt kommen, steht in den Sternen. In der Ausgabenplanung der neuen Regierung finden sich jede Menge Positionen; diese Position findet sich da aber nicht. Letztendlich ist die Summe Experten zufolge auch viel zu niedrig. Für die Ausstattung der Schulen bräuchten Sie das Dreifache.
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Wir haben die Bundesregierung auch gefragt, wie die Digitalisierung der Bildung mit so wenig Geld klappen soll. Die Antwort lautete – halten Sie sich fest –: Die Schüler sollen ihre eigenen Geräte mitbringen; dann reichen auch die Mittel vom Bund. – Die Bundesregierung will also tatsächlich den Zugang zu digitaler Bildung vom Geldbeutel der Eltern abhängig machen. Das ist einmal eine ehrliche Antwort, und sie macht mich fassungslos.
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Schon heute wird doch der Bildungserfolg unserer Kinder viel zu stark durch ihr Elternhaus bestimmt. Die Digitalisierung könnte allen Kindern Chancen eröffnen, unabhängig von ihrer Herkunft. Aber so bewirken Sie das genaue Gegenteil. Sie bewirken damit eine Spaltung der Gesellschaft. Die Bundeskanzlerin hat doch erst gestern in ihrer Regierungserklärung den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschworen. Das passt doch nicht zusammen.
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Frau Ministerin, ich bitte Sie ganz dringend: Geben Sie nicht diejenigen auf, die kein Tablet oder nur veraltete Geräte zu Hause haben! Sparen Sie nicht auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft! Jedes Kind hat die weltbeste Bildung und Chancen auf Aufstieg verdient.
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Auch andere stellen kluge Fragen. Der Branchenverband Bitkom hat die Deutschen nach ihrer Haltung zum Bildungsföderalismus befragt. Die Antworten lauteten: 79 Prozent halten es für nicht mehr zeitgemäß, dass sich jedes Bundesland ein eigenes Bildungssystem leistet. 90 Prozent finden, der Bund müsse Schulen finanziell unterstützen dürfen. Die Menschen in unserem Land wissen: Bund und Länder müssen sich beim Thema Kooperationsverbot endlich bewegen. Ich muss sagen: Respekt, liebe SPD! Da haben Sie in den Verhandlungen mit der Union etwas geschafft, was uns in den Jamaika-Sondierungen nicht gelungen ist. Das Kooperationsverbot wird aufgeweicht, ein wenig jedenfalls. Wir waren da noch am Veto der Herren Seehofer und Kretschmann gescheitert.
Wir brauchen aber noch mehr. Für Familien mit schulpflichtigen Kindern ist jeder Umzug in ein anderes Bundesland eine Zumutung. Familien sind heute mobiler denn je. In der Bildung aber erwartet sie Kleinstaaterei. Wir brauchen endlich für ganz Deutschland einheitliche und ambitionierte Bildungsstandards.
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Unsere Schüler stehen im globalen Wettbewerb. Es reicht längst nicht aus, dass der Bund in Beton und Kabel an den Schulen investieren darf. Er muss Köpfe und Konzepte und damit eine umfassende Modernisierung unseres Bildungssystems finanzieren dürfen. Bildung ist die soziale Frage in unserem Land. Packen wir sie an!
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Irgendwann ist mir beim Lesen der Koalitionsvereinbarung der folgende Satz von Albert Einstein eingefallen: „Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ Nicht zuletzt hat gestern auch die Kanzlerin von epochalen und systemischen Umwälzungen gesprochen. Allerdings so wenig wie ihre politische Ausrichtung insgesamt ein neues Lösungsverständnis und neue Strategien verspricht, so wenig wurde erkannt, dass sich auch ihre Wissenschafts- und Forschungspolitik ändern muss.
({0})
Vor fast einem Jahr fand in allen Teilen der Welt der March for Science statt. Es war eine internationale Demonstration für Forschung und Wissenschaft, gegen alternative Fakten und gegen die Etablierung einer postfaktischen Ära. Ja, die beschleunigte Weltveränderung und Machtverschiebung sehen viele nicht als Fortschritt an. Tatsächlich werden Globalisierung und neue Technologien von vielen als Bedrohung wahrgenommen. Es findet eine grandiose Umverteilung von Macht und Lebenschancen statt. Wer daran nicht teilhaben kann, wird sich bedroht fühlen. Auch das Vertrauen in die Wissenschaft geht dabei verloren; das muss uns beschäftigen.
({1})
Gewonnenes Wissen wird in Abrede gestellt. Eine Beschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre ist – ja, Frau Ministerin, darin stimme ich Ihnen zu – wieder denkbar geworden. Dagegen müssen wir etwas tun.
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Wir müssen uns kritisch fragen: Ist die Art, wie wir Wissenschaft, Forschung und Lehre organisieren, tatsächlich noch zeitgemäß? Ist das noch tauglich? Dass sich Forschende und Lehrende gegenseitig treiben und inspirieren, gehört zum Wesen von Wissenschaft. Dass wir aber einen Großteil des Systems ökonomisiert strukturiert haben, gehört nicht zum Wesen.
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Es nimmt Zeit, erstens für wissenschaftsgeleitete Entscheidungen und zweitens für ihre stärkere Öffnung in die Gesellschaft.
In der Koalitionsvereinbarung sehe ich dafür allerdings kaum Ansätze. Da werden thematisch gebundene Fördervorhaben aufgezählt. Das ist so wie Wissenschaftsproduktion mit Patchwork-Charakter vor allem zur ökonomischen Verwertung. Lernen, Lehren, Forschen muss aber ein offener Prozess sein; früher Austausch jenseits von disziplinären Schubladen mit anderen aus der Wissenschaftscommunity wie eben auch aus der Gesellschaft erfordert eine strukturelle Öffnung des Systems, erfordert auch Hierarchieabbau.
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Grundsätzlich muss das gesamte System endlich wieder ausfinanziert werden. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler bekommen Vollzeitverträge und werden nur auf Teilzeit bezahlt. Das ist sozial nicht akzeptabel.
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Unterschiede bei der Förderung zum Nachteil von Wissenschaftlerinnen führen zu Qualitätsverlusten, führen auch zu Forschungslücken, und das ist wissenschaftlich inakzeptabel.
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Schließlich sollte Open Science stärker gefördert werden, weil auch damit wissenschaftliche Ausbildung und wissenschaftliche Praxis qualifiziert werden.
Ich komme zum Schluss. Was ist das Wissen von morgen? Wir wissen es nicht genau. Es gibt keine Gewissheiten. Wir brauchen einen Diskussions-, Lern- und Aushandlungsprozess in der Gesellschaft, um neue Perspektiven und eben auch neue Verlässlichkeiten zu gewinnen. Das muss der Kern von Wissenschafts- und Forschungspolitik sein.
Danke schön.
({7})
Der nächste Redner ist der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Ihnen, Frau Ministerin, alles Gute für Ihr Zukunftsministerium.
Sehr geehrte Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, was Sie als GroKo gegen das Auseinanderdriften von Arm und Reich, von Bildungsgewinnern und Abgehängten, gegen Klimakrise und Artensterben tun, das kann ich meinen Patenkindern nicht erklären.
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Grüner Anspruch ist, die Zukunft unserer Wissensnation zu gestalten. Ihr Koalitionsvertrag ist zukunftsvergessen und nicht enkeltauglich.
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Bildung und Forschung sind Quelle künftigen Wohlstandes, können Chancengerechtigkeit ermöglichen und sind Voraussetzung für eine innovative, kreative und auch weltoffene Gesellschaft. Der Koalitionsvertrag entwickelt hierzu keinen Spirit, und Ihre Vereinbarungen bleiben Stückwerk.
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Was Deutschland stattdessen braucht, ist eine beherzte Strategie zur Bildungsrepublik und zum Innovationsspitzenreiterland.
Die Union regiert seit zwölf Jahren
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und hat seitdem den digitalen Wandel verpennt.
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Viele Schulen verharren im Kreidezeitalter. Es fehlt an schnellem Internet, an digitalen Lehrmaterialien, an geschulten Lehrkräften und an Medienkompetenzförderung für Kids. Schon vor zwei Jahren haben Sie den DigitalPakt Schule angekündigt; aber elementare Fragen bleiben weiter ungelöst: Wie passt ein Fünfjahrespakt zur Daueraufgabe Digitalisierung? Wie geht es mit Datenschutz und Datensicherheit voran? Wer übernimmt Wartung und Ersatz der Geräte?
Keinesfalls dürfen die Kommunen damit alleingelassen werden oder dürfen ihnen gar die Kosten aufgebürdet werden.
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Der digitale Wandel unserer Bildungseinrichtungen lässt sich jedenfalls mit befristeten Finanzmitteln oder Flugtaxen, wie Frau Bär sie plant, nicht nachhaltig gestalten.
Im Koalitionsvertrag fehlt uns ein Masterplan für Bildungsgerechtigkeit.
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Der enge Zusammenhang von Chancen und sozialer Herkunft ist die Achillesferse unseres deutschen Bildungssystems. Warum fehlt in Ihrem Koalitionsvertrag das Thema Schulsozialarbeit? Warum fehlt ein ambitionierter Plan zur Stärkung benachteiligter Schulen in armen Quartieren? Wo bleibt eine Offensive für Integration durch Bildung für Zugewanderte und Geflüchtete und für Inklusion als Menschenrecht?
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Auch Ihr angekündigter Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schafft mehr Fragen als Klarheit; denn Betreuung ist nicht gleich Bildung. Ganztägiges Lernen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf enden eben nicht nach der vierten Klasse.
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Wenn Sie den Rechtsanspruch einfach ins Sozialgesetzbuch VIII schreiben, dann dürfen Sie die Familien und auch die Kommunen mit den Kosten und der Umsetzung nicht alleinlassen; das wäre das Mindeste.
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Wir sagen: Es braucht bundesweit und dauerhaft gute Ganztagsschulen. Abgehängte dürfen wir uns nicht erlauben. Chancen für alle und jedes Talent optimal fördern müssten Ihr zentrales Ziel sein.
Chancen- und Talentförderung par excellence könnte eigentlich das BAföG leisten. Umso ärgerlicher ist, dass die GroKo das BAföG weiter in die Bedeutungslosigkeit herunterwirtschaften will.
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Sie wollen zuwarten und erst 2021 etwas tun. Wir sagen: Das BAföG muss sofort und zackig verbessert werden. Sie müssen hier klotzen statt kleckern und das BAföG regelmäßig erhöhen.
({11})
Genauso wichtig ist, endlich etwas gegen die Wohnungsnot in Hochschulstädten zu tun. Studieren und Ausbildung müssen besser finanziert werden, und bezahlbares Wohnen für Studis und Azubis ist unerlässlich.
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Angehen müssen wir die Ausbildungslosigkeit viel zu vieler Jugendlicher. Nur noch 20 Prozent der Betriebe bilden aus. Mehr als 1,2 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren sind ohne Berufsabschluss. Das sind Probleme, die Bund und Länder gemeinsam mit den Gewerkschaften und Arbeitgebern lösen müssen.
Ihre geplante Enquete-Kommission zur Stärkung der beruflichen Bildung und Sicherung des Fachkräftebedarfs mag eine Idee sein. Es darf aber keinesfalls das Risiko wachsen, dass weitere Jahre ins Land gehen, ohne dass die längst bekannten Strukturprobleme der beruflichen Bildung angegangen werden, weil wir noch auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission warten müssen.
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Nötig ist zackig eine Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft.
Nötig sind gute Ausbildungsvergütungen und im späteren Arbeitsleben gute Löhne und Weiterbildungsfinanzierung;
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denn über 5 Millionen Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung verdienen weniger als 10 Euro pro Stunde. Da ist es doch kein Wunder, dass akademische Abschlüsse attraktiver erscheinen als berufliche. Deshalb fordern wir eine Offensive gegen den Fachkräftemangel. Junge Menschen brauchen mehr Ausbildungs- und mehr Studienplätze, und Deutschland braucht mehr Meister und mehr Master.
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Im letzten Jahrzehnt hat der Bund mit den Ländern über die Wissenschaftspakte viele Milliarden an die Hochschulen und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen gegeben. Das größte Problem, die mangelnde Grundfinanzierung der Hochschulen, bleibt dennoch ungelöst. Wir begrüßen sehr, dass die Jahresetats der außeruniversitären Forschungseinrichtungen auch künftig um 3 Prozent steigen sollen. Die Hochschulen brauchen aber ebenso verlässliche Aufwüchse;
({16})
sonst geht die Spaltung weiter. Der Bund-Länder-Hochschulpakt muss nicht nur verstetigt, sondern sogar aufgestockt werden, damit alle Universitäten und Fachhochschulen beste Studien-, Lehr- und Arbeitsbedingungen bieten können.
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Unverantwortlich ist, dass Sie nichts für die bauliche Modernisierung der Infrastrukturen des Wissens tun wollen. Es ist überfällig, dass der Bund mehr Geld für die Schulen gibt. Aber es ist bitter, dass Sie die Hochschulen mit einem Sanierungsstau mit einem Volumen von 35 Milliarden Euro alleinlassen. Das können die Länder nicht allein schultern. Wir werden hier auf Lösungen pochen.
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Der Koalitionsvertrag wirft viele Fragen auf: Warum verstecken Sie die Potenziale von Bildung für nachhaltige Entwicklung? Was soll der Nationale Bildungsrat eigentlich bringen, auch als Mehrwert gegenüber KMK und Allianz für Aus- und Weiterbildung? Kommt die steuerliche Forschungsförderung tatsächlich? Sie war schon in drei Koalitionsverträgen angekündigt. Deshalb fehlt uns hier der Glaube.
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Wir hoffen aber, dass die KMU endlich etwas bekommen. Wie sehen die konkreten Schritte aus, um das 3,5-Prozent-Ziel bei Forschung und Entwicklung zu erreichen? Alles das bleibt offen.
Grüner Anspruch ist, dass Deutschland künftig weltweit zu den Spitzenländern für Bildungsinvestitionen und -gerechtigkeit zählt und Pionierland für technische, soziale und ökologische Innovationen wird; denn das höchste Gut in unserem Land sind alle Menschen, die hier leben, ihre Talente, ihre Chancen. Für sie wollen wir das Beste. Darum muss noch mehr in Bildung, Forschung und Wissenschaft investiert werden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Aus besonderem Anlass grüße ich auch meine Besuchergruppe im Paul-Löbe-Haus beim Public Viewing.
Kommen wir zur Sache. Die Verhandlungen zum Koalitionsvertrag haben viel Gutes hervorgebracht. Ein Gutes ist auf jeden Fall der große Schwerpunkt für Bildung und Forschung. Heute wurde in meinen Augen, ehrlich gesagt, zu viel über Bildung gesprochen und leider ein bisschen zu wenig über Forschung. Aber letzten Endes gehören diese beiden Dinge ganz unmittelbar zueinander. Am Anfang der Forschung steht immer die Neugier. Diese müssen wir durch gute Bildung beflügeln.
Eine gute Ausbildung ist der Grundstein für den Einstieg in ein gutes Arbeitsleben – ohne Frage. Wie nicht zuletzt in der Aussprache zum Berufsbildungsbericht im vergangenen Jahr festgestellt wurde, ist in Deutschland bereits viel Gutes in dieser Richtung passiert. Aber wir müssen uns weiter verbessern.
Ein Rückgang der Ausbildungsbetriebsquote, ein Rückgang der Beteiligung von Frauen an der dualen Ausbildung und ein Anstieg der Zahl von Menschen ohne Berufsausbildung im Alter von 20 bis 34 Jahren können und dürfen uns nicht zufriedenstellen.
({0})
Wir investieren in Bildung und Forschung so viel wie nie zuvor. Das zeigt der Anstieg des Haushalts des Ministeriums für Bildung und Forschung in den letzten zehn Jahren um insgesamt 10 Milliarden auf mittlerweile 17 Milliarden Euro. Auch die gestiegenen Investitionen in den Haushalten der anderen Ressorts zeigen deutlich, dass wir in Deutschland den Fokus auf Bildung legen. So stiegen zum Beispiel im Haushalt des Ministeriums für Arbeit und Soziales die Investitionen in die betriebliche Weiterbildung um 15 Prozent oder im Haushalt des Familienministeriums die Ausgaben für Kindertageseinrichtungen um 37,7 Prozent. Hier wollen wir ansetzen und dieses weiter ausbauen.
({1})
Denn – ich zitiere Philip Rosenthal –:
Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.
Daher wollen wir in den nächsten Jahren eine Stärkung und Modernisierung der beruflichen Bildung und der Weiterbildung erreichen.
Uns ist eine berufliche Bildung genauso wichtig wie eine akademische Ausbildung.
({2})
Viele von uns machen Veranstaltungen zu diesem Thema. Ich habe mir als Experimentalphysiker den Spaß gemacht, in nahezu jeder Veranstaltung einmal nachzufragen: Finger hoch, wer von den anwesenden für die berufliche Bildung Streitenden hat ein Kind in dualer Ausbildung?
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– Hervorragend, Manfred! Super! – Aber meistens ist es so, dass nur wenige Finger hochgehen. Das darf und kann nicht sein. Das muss sich in Zukunft deutlich verbessern.
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Neben dem Berufsbildungspakt zur Stärkung der beruflichen Bildung und der Berufsschulen sehen wir unter anderem auch einen Schwerpunkt bei der dualen Berufsausbildung und der damit verbundenen Verbesserung beim Aufstiegs-BAföG. Wir Bildungspolitiker der CDU/CSU-Fraktion wollen diesen hochwertigen beruflichen Bildungsweg ausbauen, weiterentwickeln und ihm vor allen Dingen in der Öffentlichkeit zu einer besseren Wirkungskraft verhelfen, als er momentan leider hat.
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Unabdingbar hierfür ist auch die schnelle und konsequente Investitionsoffensive im Schulbereich zur Verbesserung der Bildung. Dazu gehört der DigitalPakt Schule; er wurde schon angesprochen. Hier möchten wir ein gemeinsames Arbeiten – das ist wichtig, lieber Kai Gehring – von Bund und Ländern voranbringen. Wenn der Bund mehr tut, dann dürfen die Länder dem an dieser Stelle nicht nachstehen. Das ist wichtig.
({6})
Wir möchten Kinder, Schüler und Auszubildende besser auf die digitale Welt vorbereiten und das Lernen modernisieren. Es hilft nicht, wenn die iPads einfach nur der Transformation von analogem Lesen zu digitalem Lesen dienen. Es muss eine neue Form des Lernens etabliert werden. Wir haben ein Volumen von 5 Milliarden Euro – in dieser Legislaturperiode sind es 3,5 Milliarden Euro; das ist nicht wenig – ausgewiesen und wollen damit den entsprechenden Grundstein legen.
In Bezug auf die akademische Ausbildung wollen wir nicht zuletzt auch einen besonderen Fokus auf die Fachhochschulen legen, etwa durch den Ausbau von Projektförderungen des Bundes
({7})
– ja, genau –, durch die Stärkung des Transfers – das ist sehr wichtig; Fachhochschulen sind ganz wichtige regionale Innovationsförderer – und durch die Verbesserung von Karrierewegen bis hin zur Fachhochschulprofessur. All dies muss stärker etabliert werden.
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Wo wollen wir in der Forschung in den nächsten vier Jahren hin? Uns als Forschungspolitiker ist der Anstieg der Forschungs- und Innovationsinvestitionen auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Deutschland wichtig. Das ist unser Ziel in den nächsten Jahren, und wir haben uns hier viel vorgenommen: Den Schwerpunkt der steuerlichen Forschungsförderung in den Fokus zu nehmen, ist Absicht der Koalitionäre. Wir wollen mit der Weiterentwicklung der Hightech-Strategie die Digitalisierung und die Förderung von Sprunginnovationen vorantreiben. Nicht zuletzt wollen wir auch im Bereich der Gesundheitsforschung viele wichtige Dinge in den Fokus rücken. Zu dem Thema Sprunginnovationen und dem Verliebtsein in große Sprünge möchte ich ganz klar sagen: Viele Schritte ergeben auch einen Sprung; also bitte die Schritte nicht immer kleinreden.
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Sowohl die Versorgungsforschung, Medizininformatik und E-Health-Lösungen als auch unser Engagement in der Forschung für eine globale Gesundheit gilt es weiter zur stärken. Dabei stehen bei allen Erkenntnissen der Forschung die Translation und der Transfer als elementare Punkte im Vordergrund.
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Wir leben in Deutschland in einem Chancen- und Innovationsland. Wir müssen uns jedoch immer wieder den Herausforderungen einer sich stets verändernden Welt stellen. Mit den Bildungs- und Forschungszielen des Koalitionsvertrages sind wir gut aufgestellt, um die Zukunft zu gestalten. Wenn wir weiterhin weltweit zu den Innovationsführern und außerdem zu einem Vorbild in der beruflichen Bildung zählen wollen, dann müssen wir weiter dranbleiben – an Bildung und Forschung gleichermaßen.
Ich schließe mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe:
Es ist nicht genug, zu wissen, man muß es auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muß es auch tun.
In diesem Sinne: Voran!
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Damit erteile ich das Wort der Kollegin Nicole Höchst, AfD.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Frau Ministerin! Herzlichen Dank für Ihre blumenreichen Absichtserklärungen, gute Bildung sowie Forschung und Lehre zu stärken. Letztere füllen im Koalitionsvertrag immerhin beinahe drei Seiten. Als beruflich ausgewiesene Expertin kann ich Ihnen versichern: Sie haben alle derzeit modernen inhaltsleeren Phrasen genannt.
({0})
Selbst der geneigteste Bürger kommt so langsam an den Punkt, an dem er mehr sehen möchte als Absichtserklärungen, Pakte und Initiativen; denn gleichzeitig sinkt wahrnehmbar für alle das Bildungsniveau.
({1})
Man ist quasi versucht, zu rufen: Herrgott noch mal! Sie sind seit Jahren an der Regierung. Machen Sie doch mal!
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Frau Merkel, Bologna ist in Ihrer Regierungszeit bereits zweimal mit lautem Pressegetöse gescheitert. Was unternehmen Sie? – Mehr Niveaulimbo, mehr Kontrolle, mehr Gleichschaltung, Vereinheitlichung und weniger Freiheit, mehr Ideologie. Ich nenne Ihnen dazu einmal eine Hausnummer: Wir geben laut dem „Bericht der Bundesregierung zur internationalen Kooperation in Bildung, Wissenschaft und Forschung 2014–2016“ etwa 92 Millionen Euro für den Bereich Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit aus.
({3})
Auf dem letzten Förderplatz finden sich Innovationen in der Bildung mit etwa 519 000 Euro. Das, meine Damen und Herren, ist wahrlich eine Schande.
({4})
Platz neun in der BMBF-Haushaltsplansystematik nehmen mit immerhin etwa 23 Millionen Euro die Geisteswissenschaften, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein. In Ihrem Koalitionsvertrag spezifizieren Sie dankenswerterweise, was wir darunter verstehen dürfen, nämlich unter anderem Gender- und Gedönswissenschaften.
({5})
Wir dürfen also gespannt sein, was das wieder ist. Hat uns die pseudowissenschaftliche Genderforschung doch schon das sogenannte dritte Geschlecht beschert, welches so natürlich und wissenschaftlich belegbar ist, wie „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen ein Tatsachenbericht ist.
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Bedenken Sie: Die politische Festlegung von alternativloser Wahrheit beraubt Wissenschaft und Forschung ihrer Freiheit.
({7})
Wissenschaft und Forschung werden unter der Knute des diktatorischen gesamtgesellschaftlichen Konsenses zum Handlanger von Politik und übernehmen nunmehr dienende Funktion. Wir warnen ausdrücklich vor der zunehmenden Ökonomisierung von Forschung und Wissenschaft, da diese Forschung für den Steuerzahler partiell günstiger werden lässt, aber damit unweigerlich ein Rückbau von Freiheiten einhergeht.
({8})
Wir von der AfD fühlen uns dem Humboldt’schen Freiheits- und Bildungsideal verpflichtet.
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Die Freiheit von Forschung und Lehre ist unabdingbare Grundvoraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt, meine Damen und Herren.
({10})
Deshalb müssen die Hochschulen über Art und Umfang ihres Studienangebots frei entscheiden können. Das Ethos der Wissenschaft, zu dem die Kritikfähigkeit, die Unvoreingenommenheit und der Respekt vor anderen Wissenschaftlern und ihren Leistungen gehört, ist zu stärken.
Meine Damen und Herren, Sie betonen pausenlos, dass es uns so gut geht. Sie investieren endlich wahrnehmbar – aber nicht genug – in unsere Universitäten und Hochschulen. Bitte geben Sie diesen gleichzeitig Freiheit, Qualität, Exzellenz, Wettbewerbsfähigkeit und ein Stück nationales Selbstbewusstsein zurück!
({11})
Ersparen Sie uns bitte Bachelor in totaler Toleranz, Master im Kampf gegen rechts und Doktoren in Migrationsapologetik!
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Sie haben in dieser Legislaturperiode die Chance, die Ära des Post-Nationalmasochismus einzuleiten.
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Bitte befreien Sie das Land der Dichter und Denker, der Ingenieure und Nobelpreisträger vom Mehltau des politisch korrekten, alles beherrschenden Zeitgeists, und lösen Sie endlich wieder die Fesseln von Bildung, Forschung, Wissenschaft und Innovation!
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Marja-Liisa Völlers, SPD, zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne, seien auch Sie ganz herzlich begrüßt! Ich freue mich, dass ich jetzt zur Sache zurückkommen kann.
({0})
Ich stehe heute zum ersten Mal hier an diesem Rednerpult. Natürlich beginne ich als ehemalige Geschichtslehrerin mit einem Zitat:
Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.
– So Willy Brandt 1992.
({1})
Unsere Zeit ist die der Digitalisierung. Wir müssen auf der Höhe der Zeit sein, und wir müssen Antworten finden – dringend. Lasst uns auf unsere Kraft besinnen, um Gutes bewirken zu können für die Menschen in diesem Land. Wir wollen das tun.
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Was soll das genau sein? Wir, der Bund, werden gut 5 Milliarden Euro in den DigitalPakt Schule von Bund und Ländern investieren. Wir wollen die Schülerinnen und Schüler in Deutschland besser auf das Leben in der digitalen Welt vorbereiten. Wir sind dafür verantwortlich, dass alle Kinder und Jugendlichen das nötige Rüstzeug mit auf den Weg bekommen.
Es ist ja nicht so, dass in jeder deutschen Schule ausschließlich mit der Kreide über die Tafel gekratzt wird. Aber es ist eben auch noch nicht so, dass in jedem Klassenzimmer ein Smartboard hängt, das noch dazu von einer Fachkraft bedient wird, die fit im Umgang damit ist. Es gibt Schulen, die schon ganz viel entwickeln und umsetzen und in denen hochmotivierte und gut qualifizierte Lehrkräfte das vorhandene Equipment nutzen.
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Ich hatte das große Glück, dass die Träger beider Schulen, an denen ich vor meinem Wechsel hier in den Deutschen Bundestag tätig war, frühzeitig in gute digitale Ausstattung investiert haben. Meine Integrierte Gesamtschule Schaumburg ist zum Beispiel ausgewählt worden, um an einem Modellprojekt für Tablet-Klassen teilzunehmen. Auch WLAN gibt es in weiten Teilen der Schule. Das ist aber leider nicht der Regelfall.
Meine Damen und Herren, der DigitalPakt wurde im Oktober 2016 groß angekündigt. Seitdem warten alle auf verbindliche Zusagen: Bundestag, Länder und Kommunen – und natürlich auch Eltern, Schüler und Lehrer. Die Erwartungen sind überall unfassbar hoch. Enttäuschen Sie diese bitte nicht noch einmal.
({4})
Frau Ministerin, Ihre Vorgängerin ist uns in Sachen DigitalPakt viele Antworten schuldig geblieben. Viel Zeit ist unnötig verstrichen, da Ihre Vorgängerin am Schluss untätig war. Ich erwarte von Ihnen, dass sich das jetzt ändert. Lassen Sie die unerfreuliche Historie des DigitalPakts hinter sich, lassen Sie den Worten von Frau Wanka endlich Taten folgen, und setzen Sie gemeinsam mit uns den Koalitionsvertrag zügig um.
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Ich bin ein eher ungeduldiger Mensch, das scheint mir an dieser Stelle aber genau richtig zu sein. Wir von der SPD-Fraktion werden nicht lockerlassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch ein anderes Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt: die Ganztagsschulen. Ich weiß aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, wie wichtig das Thema Ganztagsbetreuung ist, vor allem im Bereich der Grundschulen. Das ist übrigens nicht nur meine Wahrnehmung. Laut der aktuellen JAKO-O-Bildungsstudie wünschen sich fast drei Viertel der befragten Eltern für ihr Kind einen Platz an einer Ganztagsschule. Tatsächlich haben von ihnen dann aber nur 47 Prozent einen solchen Platz. Das ist eine viel zu große Diskrepanz zwischen dem, was sich Eltern wünschen, und dem, was Wirklichkeit ist.
({7})
Die im Koalitionsvertrag vorgesehenen 2 Milliarden Euro sind gut investiertes Geld, und der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Grundschulkinder bis 2025 ist ein wichtiger und auch ein richtiger Schritt. Neben den besseren Bildungschancen für Kinder ist das übrigens gerade für uns Frauen ein sehr wichtiges Thema. Wir müssen die Möglichkeit haben, arbeiten gehen zu können. Dafür brauchen wir eine verlässliche Kinderbetreuung, und zwar ganztägig. Denn es ist nicht die Aufgabe der Frau, hinter dem Herd zu stehen und sich um die Kinder zu kümmern, auch wenn das einige Abgeordnete in diesem Hohen Hause derzeit leider so sehen. Es wurde heute wieder deutlich.
({8})
Meine Damen und Herren, die SPD ist die Bildungspartei in Deutschland. Für uns heißt moderne Bildung, dass sie ganzheitlich, gut finanziert, inklusiv und ganztägig ist, und natürlich muss sie das Digitale mit einschließen.
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Unser Ziel ist es, dass der Bildungserfolg endlich vom sozialen Status der Eltern entkoppelt wird. Dafür werden wir weiter kämpfen, auch in dieser Regierungskoalition.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger, FDP, der ebenfalls seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Karliczek, Sie wurden ja kritisiert, Sie hätten von Bildung und Forschung keine Ahnung. Keine Sorge: Auch ich bin Quereinsteiger. Nur: Quereinsteiger müssen dann auch die richtigen Fragen stellen, und das müssen Sie jetzt, Frau Karliczek.
({0})
Das Forschungsbudget Ihres Hauses liegt bei 10 Milliarden Euro. Das Resultat ist jedoch ungenügend. Nicht überall, wo man Geld reinsteckt, kommt auch etwas raus.
({1})
Ein weltweit renommiertes Ranking, das des IMD in Lausanne, legt schonungslos offen: Was Innovation angeht, fällt unser Land immer weiter zurück. Herr Seehofer würde jetzt sagen: Die Heimat bröckelt.
({2})
2014 lag diese Heimat bei der Innovationskraft noch auf Platz 6, heute auf Platz 13. Bei der Digitalisierung liegen wir gar auf Platz 17. Systematischer Sinkflug! Drei Schieflagen machen mir große Sorgen: erstens Spitzentechnologie, zweitens Mittelstand und drittens Sprunginnovation.
Spitzentechnologie. Wir laufen Gefahr – die Experten sagen es –, dass wir bei Technologien wie Cloud-Computing und Künstlicher Intelligenz massiv zurückfallen. Was unser Juwel Industrie 4.0 betrifft: Bei den überlebenswichtigen transnationalen Patenten für smarte Produktion haben uns die USA und Japan abgehängt. Herr Altmaier hat heute Morgen über das Thema Patent bei anderen geklagt. Er soll einmal ins eigene Land schauen.
({3})
Meine Damen und Herren, eine Frau Bundeskanzlerin, Physikerin, zwölf Jahre im Amt: Da hätte man anderes erwartet. Dieses Land droht nämlich heute von einer einstigen Gründerschmiede in einen Oldtimerpark zu mutieren. Ich sage „Park“, Herr Seehofer, um einmal vom Heimatmuseum wegzukommen.
({4})
Wir ruhen uns auf Industrien aus, deren Ursprung in der Kaiserzeit liegt. Wissen Sie eigentlich, was das für die beruflichen Perspektiven der jungen Menschen heißt, wenn man technologisch so zurückfällt?
Meine zweite große Sorge: unser Mittelstand. Die Innovatorenquote im Mittelstand hat sich seit zehn Jahren halbiert; bei neuartigen Produkten oder gar bei innovativen Geschäftsmodellen leider ein Tal der Tränen. Natürlich nicht bei den 1 600 Hidden Champions in diesem Lande, die als Leuchttürme gelten; aber Hunderttausende von Mittelständlern, oft Zulieferer im ländlichen Raum, leiden unter Fachkräftemangel, Digitalisierungsdefiziten und Investitionsschwäche. Frau Ministerin, da tut einem das Herz weh.
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Die exzellent besetzte Expertenkommission „Forschung und Innovation“ adressiert im Parlament Jahr für Jahr dieselben Mängel. Zum zehnten Mal in Folge fordert die EFI steuerliche Forschungsförderung für den Mittelstand. Ein trauriges Jubiläum! Wir Freien Demokraten werden helfen, ein richtig gutes Gesetz mit auf den Weg zu bringen, von dem die Republik sprechen wird.
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Drittens. Im Koalitionsvertrag bekennen Sie sich zur Förderung von Sprunginnovationen: Tesla, iPhone oder Genomeditierung. Ja, das ist natürlich überfällig. Aber warum wird nicht wie in der Schweiz, wie in den USA in eine Agentur für radikale Innovation investiert? Das ist in diesem Lande schon längst überfällig.
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Herr Kollege Sattelberger, achten Sie auf die Redezeit, die ist schon ziemlich überschritten.
Ja, ich bin als Erstling gerade gut in Fahrt.
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Ja, das nützt nichts. Sie haben Ihre Redezeit schon um mehr als ein Drittel überzogen. Kommen Sie also bitte zum Schluss.
Frau Karliczek, machen Sie aus Ihrem Hause, aus diesem riesigen Geldverteilungstanker eine Kreativschmiede. Wir helfen mit.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sören Pellmann, Fraktion Die Linke, ebenfalls zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lernenden wird häufig erzählt: Wiederholt es noch einmal, dann prägt es sich besser ein. – Gleiches hat sich wohl die Große Koalition mit ihrer Skizze vom Chancenland Deutschland gedacht.
Aber eines vorab: Je öfter die Große Koalition das deutsche Bildungssystem als Faktor zur Überwindung von sozialer Ungerechtigkeit betrachtet, umso öfter verkennt sie auch, wie es Ungerechtigkeit produziert.
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Nach den Ausführungen von Frau Karliczek zu den Vorhaben der Bundesregierung im Bereich Bildung muss ich doch einige kritische Anmerkungen machen.
Erstens: das Kooperationsverbot. Wir Linke haben einen Antrag in das Verfahren eingebracht, der bisher durch die Große Koalition immer wieder verschoben und vertagt wurde. Offensichtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie Angst, dass dieser Antrag hier eine Mehrheit findet.
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Die Linke will eine Aufhebung des Kooperationsverbotes ohne Einschränkungen. Bildung muss endlich als eine wirkliche Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern verstanden werden.
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Das nennt man dann kooperativen Bildungsföderalismus.
Zweitens: die Ganztagsschulen. Es stellt sich die Frage, ob sich der Bund beim Ausbau von Ganztagsschulen im Sekundarbereich aus der Verantwortung stehlen oder nur Kosten sparen will, indem er sich auf den Primarbereich beschränkt. Das ehemalige Ganztagsschulprogramm, das bis 2009 galt, umfasste damals 4 Milliarden Euro. Im jetzigen Koalitionsvertrag will man mit der Hälfte auskommen und das bei einem deutlich gestiegenen Bedarf. Das wird nicht funktionieren.
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Die Linke fordert einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, nicht nur in der Grundschule.
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Den großen Fachkräftebedarf bei den Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen will ich zumindest benennen. Diese schmerzliche Lücke wird in den nächsten sieben Jahren auf über 100 000 Kolleginnen und Kollegen anwachsen. Mit dieser Herausforderung dürfen wir die Länder nicht alleinelassen.
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Wir brauchen dringend mehr Personal in der Bildung: Schulsozialarbeiter, Lehrkräfte, Schulpsychologen. Denn nur in einem guten Team kann gute Pädagogik funktionieren.
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Drittens: die berufliche Bildung. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu außer Lippenbekenntnissen leider nicht viel. Grundlegende Probleme werden nicht angegangen. Außerdem drückt sich die Koalition um die Frage, wie die mittlerweile knapp 2 Millionen jungen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung eine voll qualifizierende Ausbildung erhalten können. Auch hier gibt es keine verbindlichen Festlegungen. Die Linke will eine solidarische Umlagefinanzierung, die alle Betriebe für die Ausbildung junger Menschen in die Pflicht nimmt und eine Mindestausbildungsvergütung erreicht.
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Es gäbe noch andere Themen: fehlender Wille der Bundesregierung zur wirklichen Inklusion, die teils schlechten Arbeitsbedingungen und Löhne von Pädagoginnen und Pädagogen.
Abschließend, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich: Es muss in der Bundesrepublik Deutschland endlich Schluss damit sein, dass Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert mit einem Unterricht aus dem 20. Jahrhundert und einem Bildungssystem aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert werden.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich der Kollegin Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU-Fraktion, ebenfalls zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag das Wort.
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Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die im Saal sind, Platz zu nehmen. Jeder Redner hat Anspruch darauf, dass er geordnet vortragen kann.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe ein: Es ist etwas ganz Besonderes für mich, hier und heute zu sprechen. Wenn ich vorher von Kolleginnen und Kollegen sprach, so waren es Oberbürgermeister, Stadtverordnete oder gegebenenfalls auf Landesebene die entsprechenden Minister oder Vertreter im Parlament. Aber ich muss Ihnen sagen: Die Erfahrung, wie hier heute bestimmte Themen von Ihnen bearbeitet werden, ist nicht ganz neu – in einer Form, bei der man sich manchmal denkt, nicht ganz so laut wäre angenehmer, etwas substantiierter würde weiterhelfen. Und manchmal wäre es auch richtig, zu schauen, wie weit wir schon gekommen sind.
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Seien Sie alle sich einfach darüber im Klaren: Wenn wir über Bildung sprechen, dann sprechen wir darüber, dass jeder für sich ein Stück Verantwortung hat; denn das, was wir sind und was wir werden wollen, haben wir ein Stück weit selbst zu verantworten. Aber wir sind hier, um über Bildung zu sprechen. Frau Ministerin, ich freue mich, dass wir gemeinsam dieses Thema angehen können; denn die Erfahrungen, die ich als Oberbürgermeisterin mitbringe, sind andere als die – das kann ich Ihnen sagen –, die hier heute in den Ausführungen zum Tragen gekommen sind. Es sind aber auch Erfahrungen, die dazu führen, dass ich an manchen Stellen sage: Ja, Sie haben recht, nur die Richtung ist nicht richtig.
Wir, die wir als CDU/CSU Verantwortung tragen – im engen Zusammenwirken mit der SPD –, sind uns darüber im Klaren: Wir sind ein rohstoffarmes Land, unser Rohstoff ist das Wissen. Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, bezeichne ich unsere Bundesrepublik als eine Bildungsrepublik. Bildungsrepublik Deutschland – das muss unser Ziel sein, dafür sind wir angetreten, dafür haben wir einen Koalitionsvertrag, in dem die Bildung so viel Raum einnimmt. Diesen Raum müssen wir wirklich gemeinsam nutzen und unsere Vorhaben umsetzen.
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Die CDU/CSU hat mit dem, was sie mit ihrem Partner im Koalitionsvertrag verabredet hat, aus meiner Sicht einen Paradigmenwechsel auf den Weg gebracht. Bildung und Forschung sind für den Bund zentrale Themenfelder, und das macht der Koalitionsvertrag sehr deutlich. Es wurde darin eine unmissverständliche Sprache gewählt. Man liest dort zum ersten Mal, dass sich der Bund nicht nur für das verantwortlich fühlt, wofür er wirklich verantwortlich ist, sondern auch Verantwortung für die Baustellen übernimmt, die im Bereich der Bildungs- und Forschungspolitik vorhanden sind, und bereit ist, sie gemeinsam mit den Ländern konsequent anzugehen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind an vielen Stellen weit vorangekommen. Wir haben Ergebnisse erzielt, die sich wirklich sehen lassen können. Wir dürfen uns aber nicht davor verstecken, wie groß die Herausforderungen im Bereich der Bildung sind. Wir kennen den richtigen Weg, und wir haben deutlich gemacht, dass die Verbesserungen im Bereich der beruflichen Bildung – Erhalt des Meisterbriefes, Verbesserungen beim BAföG – ganz entscheidend sind. Mit der Übernahme von finanziellen Anteilen von den Ländern wird eine neue, kluge Balance bei der Lastenverteilung erzielt. Der Bund beteiligt sich freiwillig mit 9,9 Milliarden Euro an der dritten Phase des Hochschulpaktes. Auch das sollte an der Stelle einmal hervorgehoben werden.
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Wir stellen somit erhebliche Mittel zur Verfügung und nehmen zugleich die Länder bei der Umsetzung in die Verantwortung. Eckhardt Rehberg hat heute so schön gesagt: Zweckgebundenheit der Mittel. – Dafür müssen wir einstehen, das müssen wir kontrollieren.
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Mit unseren Anstrengungen sind wir noch nicht am Ziel, meine sehr geehrten Damen und Herren. Unser Anspruch muss sein, für Dynamik im Bereich Bildung und Forschung in Deutschland zu sorgen. Ganz in diesem Geiste orientieren wir uns anhand der bestehenden Übereinkünfte vorwärts. Gesellschaftliche und politische Anerkennung der beruflichen Bildung – Sie haben es von der Ministerin gehört – stehen ganz oben auf unserer Liste. Wir haben uns den Anforderungen der veränderten Praxis in den Unternehmen anzupassen.
Ganz wichtig ist das Herzstück unserer Agenda, nämlich die Schaffung von Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter. So soll eine gute Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass die Kinder bessere, umsetzbare und anerkannte Bildung erhalten. 2 Milliarden Euro stehen dafür zur Verfügung. Entscheidend ist – das will ich an dieser Stelle besonders hervorheben –, dass das für alle Kinder gilt, egal aus welchem Bereich sie kommen, aber natürlich besonders aus den Bereichen, wo besonderer Bedarf besteht.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, mit der Grundgesetzänderung eine direkte Beziehung zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu schaffen. Das soll nicht davon ablenken, dass die Länder in der Verantwortung stehen und ihrer Verantwortung nachkommen müssen, und zwar zugunsten der Kommunen und nicht zugunsten der eigenen Haushalte.
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Ich komme zu meinem letzten Punkt; Herr Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit zu Ende geht. Mit dem Masterplan Medizinstudium 2020 muss eine neue Qualität im Medizinstudium erreicht werden. Wir sind auf dem Weg, genau das zu fördern, was wir brauchen: Ärzte für Stadt und Land, in einer Praxis, die sie damit lernen. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Der Hochschulpakt, den es zurückliegend bereits in Form des Wissenschaftsrats gab, sollte jetzt mit einem Nationalen Bildungsrat dahin gehend gekrönt werden, dass Vertreter von Ländern und Bund mit Praktikern zusammenkommen, um genau das umzusetzen, was wir brauchen: eine neue Qualität in der Bildung, die für alle von besonderer Bedeutung ist.
Herzlichen Dank.
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Bevor ich dem letzten Redner in dieser Runde das Wort erteile, will ich die Bitte äußern: Geben Sie auch dem letzten Redner in dieser Runde die Chance, gehört zu werden.
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– Sie haben noch gar nicht das Wort, Herr Kollege.
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– Wir sind hier aber kein Selbstbedienungsladen.
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Ich möchte versuchen, dafür zu sorgen, dass die Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen. Herr Vizepräsident Kubicki, würden Sie bitte so liebenswürdig sein und sich setzen? – Ich spreche ihn nur an, weil er Vizepräsident ist.
So, Herr Kollege Röspel, Sie haben jetzt das Wort als letzter Redner in dieser Runde.
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Herr Präsident, ich wollte nur Zeit sparen und schon mal das Glas nehmen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Antrieb von Forscherinnen und Forschern ist es, Antworten auf Fragen zu finden und Lösungen für Probleme zu entwickeln. Dazu brauchen sie die Freiheit, kritisch zu denken, und finanzielle Mittel. Wer sich mit der Situation in diesem Land einigermaßen auskennt und in den letzten Jahren nicht nur mit Scheuklappen herumgelaufen ist, der weiß, dass Deutschland seit fast 20 Jahren viel gemacht hat und wirklich gut dasteht, übrigens auch dank sozialdemokratischer Initiativen wie der Exzellenzinitiative oder des Paktes für Forschung und Innovation.
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Damit haben wir Forschern das Signal gegeben: Wir geben euch das Geld, forscht frei und zuverlässig. Macht damit, was ihr möchtet. – Allerdings ist ein Pakt auch ein Vertrag; das ist ja kein kompliziertes Wort. Wenn wir Forschern Geld geben, wollen wir auch, dass sie Antworten entwickeln.
Weil es gerade um Wissenschaftsfreiheit geht, kann ich mir die Bemerkung nicht verkneifen: Die Einzigen, die heute die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit von Denken mit Füßen getreten haben, das waren Sie von der AfD.
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Es sind solche Reden wie die von Frau Höchst, die den Menschen im Ausland Sorge bereiten.
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Wenn wir im Ausland sind oder uns mit ausländischen Delegationen unterhalten, dann erleben wir die Bewunderung: Mensch, in Deutschland habt ihr in den letzten Jahren richtig was geschafft. – Wir erleben, anders als vor 20 Jahren, dass Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland wieder nach Deutschland kommen wollen, um zu forschen. Angesichts solcher Reden und solcher Äußerungen, wie sie von der AfD und von Pegida im Osten kommen, erleben wir allerdings auch, dass viele Menschen, die gerne in Deutschland arbeiten würden, es sich schwer überlegen, ob sie in ein Land, in dem es Parteien gibt, die solche Äußerungen tätigen, überhaupt kommen wollen.
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– Nein, ich werde mich nicht daran gewöhnen müssen; denn Freiheit ist ein Bestandteil von Wissenschaft – und Internationalität auch.
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Da kommt es nicht auf Haarfarbe und Augenfarbe an, sondern auf die Freiheit des Geistes, und dafür werden wir weiterhin kämpfen.
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Dann dürfen wir übrigens auch von Wissenschaftlern und Forschern Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit erwarten. Eine zentrale Frage ist aus meiner Sicht – und das betrifft die junge Generation, die da oben im Publikum sitzt –: Welche Welt hinterlassen wir den nächsten Generationen, unseren Kindern und Enkeln?
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Dazu brauchte man gar nicht viel mehr Klimaforschung – denn da ist das meiste an Erkenntnissen schon vorhanden –, sondern mehr Energieforschung, mehr Ressourcenforschung, mehr Materialforschung. Da sind wir auf einem guten Weg, und der Anspruch an uns alle muss sein, das auch tatsächlich umzusetzen. Da können wir alle besser und schneller werden.
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– „Meinungsdiktatur“ ist der „qualifizierte“ Zwischenruf der AfD. Ich rede von Freiheit.
Eine der entscheidenden Fragen für die junge Generation ist: Wie wollen wir morgen arbeiten? Wie sieht die Arbeit der Zukunft aus? Die Stärke Deutschlands ist nicht, dass wir hervorragend ausgebildete Akademiker haben; die haben andere Länder auch. Wir haben die Stärke, eine gut ausgebildete und motivierte Facharbeiterschaft zu haben.
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Herr Kollege Röspel, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD-Fraktion?
Ja, bitte. – Wenn die Zeit gestoppt wird.
Das wird sie natürlich.
Ist es Ihr Begriff von wissenschaftlicher Freiheit, wie Ihr Ex-Kanzler Schröder Herrn Kirchhof behandelt und bezeichnet hat: „Ach, der Professor aus Heidelberg!“?
Sie wagen es also, das Wort von wissenschaftlicher Freiheit in den Mund zu nehmen?
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Sie waren die Ersten, die entsprechend ausgegrenzt haben. Das zeigt auch sehr stark die Tatsache, wie Sie mit der Expertise, die gerade zum Euro von sogenannten Fachleuten – Professoren und Andersdenkenden – vorgetragen wird, umgehen. Den Begriff „wissenschaftliche Freiheit“ sollten Sie überhaupt nicht in den Mund nehmen.
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Wenn hier jemand Wissenschaft diskriminiert hat, dann waren Sie das gerade oder Ihre Kollegin.
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Und das ist ein wirklich so schwaches Beispiel, da brauche ich gar nicht viel zu antworten. Herr Kirchhof war überhaupt nicht beeinträchtigt, in Heidelberg weiterzuforschen. Und: Ein Kommentar muss in einer pluralistischen Demokratie auch möglich sein. Das ist also gar kein Beweis für Wissenschaftseinschränkungen.
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Die zweite Frage: Wie werden wir morgen arbeiten? Was tun wir heute, damit künftige Generationen von Facharbeitern gut ausgebildet sind, mit dem digitalen Wandel umgehen können? Es ist ganz wichtig, Arbeitsforschung, aber auch Dienstleistungsforschung zu betreiben, weil wir im Bereich der Dienstleistungen viel zu schlecht aufgestellt sind.
Frau Ministerin, ich habe mich gefreut, als ich las, dass Sie eine duale Berufsausbildung gemacht haben. Das schätze ich sehr. Noch anerkennenswerter ist, dass Sie – neben Familie und Beruf – ein Studium draufgesattelt haben. Genau das ist der Weg, sich während der Berufstätigkeit durch ein Studium weiterzubilden.
Sie haben natürlich eine sozialdemokratische Bildungsoption wahrgenommen; denn Sie haben an der Fernuniversität in Hagen studiert. Die hat Sozialdemokrat Johannes Rau gegründet,
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damit Menschen, die Familienarbeit leisten und im Beruf stehen, sich weiterqualifizieren und studieren können. Das ist ein Modell für die Zukunft.
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Und am Ende gilt es auch – die dritte wichtige Frage –, zu klären: Wie werden wir Produkte für morgen herstellen? Denn Deutschland steht auch gut da, weil wir einen stabilen Mittelstand haben, der innovativ ist und sehr viele Entwicklungen hervorbringt. Aber wir müssen eben auch die staatliche Verantwortung wahrnehmen und weiterdenken: Wie werden die Produkte von morgen aussehen? Wie werden sie so hergestellt werden können, dass sie nachhaltig sind? Dazu gibt es auch die öffentliche Aufgabe, weiter Produktforschung zu betreiben.
Frau Ministerin, wir sind als SPD immer Motor von Bildung und Forschung und damit Fortschritt gewesen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.
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Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Immer wenn ich abends zurück ins Camp komme, habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles gemacht zu haben. – Das sagte ein Soldat ganz offen bei einer Begegnung, die sich im Rahmen einer Reise von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses unter der Leitung des damaligen Staatssekretärs Grübel ergab.
Die Soldatinnen und Soldaten, die wir dort trafen, empfinden ihre Tätigkeit unisono als sinnvoll und sehr erfüllend. Es wurde betont, wie wertschätzend die Kurden dem deutschen Engagement gegenüberstehen. – Zitat: Der beste Einsatz, in dem ich je war. – Auch seitens der zentralirakischen Streitkräfte wurde die Wertschätzung für das deutsche Engagement hervorgehoben, ebenso wie der Bedarf einer entsprechenden Weiterführung des Einsatzes mit einer Fokussierung auf den Zentralirak.
Mir ist sehr wohl bewusst, wie umstritten dieser Einsatz ist – auch hier in diesem Hohen Hause. Deshalb ist es mir ein Anliegen, Sie zu überzeugen – gerade vor dem Hintergrund der Eindrücke, die ich vor Ort gewinnen konnte.
Ich bin davon überzeugt: Der Irak kann trotz seiner unruhigen Geschichte ein Hoffnungsträger für die Region sein. Vor Ort wurde deutlich: Die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Veränderung ist zurzeit im Irak gegeben. Der Wunsch nach nationaler Einheit und wirtschaftlichem Aufschwung überwiegt die innerirakischen Spannungen.
Wir können den Irak dabei begleiten über das Zurückschlagen eines gemeinsamen Feindes und das Erkennen, dass wirtschaftlicher Aufschwung und gesellschaftliches Zusammenwachsen besser als kriegerische Auseinandersetzungen sind und der Pfad zur nationalen Einheit beschritten werden kann. Ich kann das nicht versprechen. Aber die Möglichkeit, ein Land bei der Stabilisierung in dieser Region, die so sehr in Flammen steht, zu begleiten, sollten wir nicht ungenutzt lassen.
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Der militärische Sieg über den IS gilt als möglicher Wendepunkt für die Herstellung einer verlorengegangenen, vielleicht nie existenten Einheit des Landes. Aber: Noch ist der IS nicht vollständig besiegt, lediglich zurückgedrängt.
Auf der Reise wurde uns gezeigt, wie es dem IS gelungen ist, aus einem einfachen Lkw einen Panzer zu bauen, indem sie Stahlplatten darauf verschweißten und an das Fahrzeug anbrachten. Dieses Kriegsgerät kann nur noch wie ein Panzer bekämpft werden. Es wurde auch wie einer eingesetzt, manchmal sogar über eine handelsübliche Drohne gesteuert, die man bei Toys “R“ Us für 30 Euro erstehen kann.
Dass der IS mit solch simplen Mitteln effektive Kriegsgeräte herstellen und nutzen kann, konnte ich mir vorher nicht vorstellen. Jetzt habe ich die Absolutheit des Zerstörungswillens des „Islamischen Staates“ gesehen. Das hat mich wirklich nachhaltig beeindruckt. Umso wichtiger war und ist eine effektive militärische Ausbildung kurdischer und irakischer Streitkräfte und eine Unterstützung derselben im Kampf gegen den IS, damit sich der Irak in Zukunft selber gegen solche Bedrohungen schützen kann.
Die Bundeswehr hat diese Aufgaben erfolgreich gemeistert. Und ich bin mir sicher, dass sie auch die Aufgaben des veränderten Mandates erfolgreich ausführen wird. Es geht um Aufklärung, See- und Luftraumüberwachung sowie den Austausch und Abgleich von Lageinformationen. Doch die wichtigste Aufgabe wird die Durchführung von spezialisierten militärischen Ausbildungslehrgängen sein. Die Bundeswehr wird konkret die Ausbilder auf irakischer Seite ausbilden. Außerdem sollen die Fähigkeiten der regulären irakischen Streit- und Sicherheitskräfte, besonders der zentralirakischen Streitkräfte, ausgebaut werden: im Bereich von ABC-Schutz, Sanität, Logistik und Minenräumung.
Wie erfolgreich die Bundeswehr dies bereits in Irakisch-Kurdistan getan hat, davon konnten wir uns auf der Reise überzeugen. Diese Arbeit nun in den Zentralirak auszudehnen, ist folgerichtig. Wir haben gezeigt, dass wir die Aufgabe meistern können. Der Irak wünscht sich ein solches Engagement. Wir können den Irak auf seinem Weg beraten und begleiten.
Die Stabilität des Iraks hat nicht nur für die Iraker selbst, sondern auch für Deutschland eine hohe Bedeutung; denn es geht um die Stabilisierung der Region und damit um die Bekämpfung des internationalen Terrors. Auch das Engagement in Erbil muss beibehalten werden. Die deutsche Präsenz auf beiden Seiten, auf kurdischer wie zentralirakischer Seite, wirkt als stützender Faktor und hat erheblich dazu beigetragen, dass die Spannungen, die nach dem Referendum der Kurden entstanden, nicht noch weiter eskalierten.
Ich fasse zusammen: Das deutsche Engagement kann im Irak dazu beitragen, den IS gänzlich zu besiegen. Es kann dazu beitragen, die irakischen Streitkräfte wieder auf eigene Beine zu stellen, und es kann dazu beitragen, das Land zu stabilisieren – ein unschätzbarer Wert in einer Region, die so sehr in Unruhe geraten ist.
Der Einsatz ist bis Ende Oktober 2018 begrenzt. Das ist absolut sinnvoll. Dann können wir prüfen, ob mit dem Mandat die Aufgaben erfüllt werden, und es gegebenenfalls anpassen, sofern das Hohe Haus das möchte. Wir können auch überprüfen, ob dieses Engagement vonseiten des Iraks im Nachgang der Wahlen im Mai 2018 noch gewünscht ist.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich bin beim letzten und besten Satz.
Beim letzten Satz? Mal gucken, was der letzte Satz ist.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns etwas Sinnvolles tun und dem Mandat zustimmen.
Vielen Dank.
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Der war gut. – Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Rüdiger Lucassen, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Der Antrag der Bundesregierung zum Einsatz deutscher Streitkräfte im Irak hat einen unvollständigen Titel. Tatsächlich ist es nämlich ein Antrag zum Einsatz deutscher Streitkräfte im Irak und in Syrien. Denn die Bundesregierung will hier ja zwei Mandate zusammenlegen, nämlich das Mandat Peschmerga-Ausbildung und das Mandat Counter Daesh.
Warum die Bundesregierung Syrien im Titel unter den Tisch fallen lässt, wird klar, wenn man den Antragstext liest. Aber dazu gleich.
Zunächst einmal zu dem, was die Bundesregierung im Irak vorhat. Sie will sich daran beteiligen, dieses zersplitterte Staatsgebilde zu stabilisieren und die territoriale Einheit zu erhalten. Ja, meine Damen und Herren, der Orient führt einem vor Augen, wie schwierig es wird, wenn man keine Nationalstaaten hat.
Wie will die Regierung also den irakischen Staat stabilisieren? Durch Ausbildung und Beratung irakischer Soldaten, heißt es im Antrag. Doch reichen die Mittel dafür aus? Um das zu beurteilen, wäre es dringend erforderlich gewesen, dem Parlament mehr Informationen zu geben, am besten einen vollständigen Operationsplan.
Wie viele der 800 deutschen Soldaten werden tatsächlich in der Ausbildung eingesetzt? Keine Information. Wie viele irakische Soldaten sollen bis wann fertig ausgebildet sein? Keine Information. Welche weiteren Fähigkeiten werden durch Partnerländer ausgebildet? Wie greifen die Bemühungen ineinander? Keine Information.
Das Mandat, über das der Bundestag heute abstimmen soll, geht nur bis zum 31. Oktober. In sieben Monaten also treffen wir uns hier wieder zur Verlängerung, es sei denn, es tritt eine wesentliche Lageänderung ein, wie zum Beispiel ein Regierungswechsel – im Irak.
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Der könnte das Land nämlich auf die Seite der iranischen Mullahs treiben. Und dann?
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Der Generalinspekteur sagte auf die Frage, warum das Mandat nur auf sieben Monate angelegt ist, dass er dann die Lage neu beurteilen müsse. Nun, das muss er immer. Jeden Morgen nach dem Aufstehen muss er die Lage neu beurteilen.
Nein, meine Damen und Herren, es würde der Regierung auch in diesem Punkt gut zu Gesicht stehen, das Parlament über die politischen Risiken des 16. deutschen Auslandseinsatzes aufzuklären.
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Kommen wir jetzt zum zweiten Einsatzgebiet dieses neuen Mandats: zu Syrien. Mit Schaum vor dem Mund haben Sie sich auf meine Kollegen gestürzt, die sich in der vergangenen Woche ein Bild vor Ort machten und sich in Syrien auch mit Vertretern der Regierung trafen.
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Im vorliegenden Antrag heißt es unter dem Punkt „Weiteres Engagement der Bundesregierung“:
Sie bereitet zudem Stabilisierungsmaßnahmen in befreiten Gebieten in Syrien vor.
Da möchte ich Sie gern einmal fragen: Mit wem sprechen Sie denn in Syrien, um solche Stabilisierungsmaßnahmen vorzubereiten und durchzuführen?
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Dass wir hier über ein Regime sprechen, das unsere Erwartungen an Demokratie und Menschenrechte nicht erfüllt, ist ja völlig richtig. Aber es gibt kein anderes. Wenn die Bundesregierung nur noch mit den Anständigen sprechen will, kann Herr Maas
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zwei Drittel seiner Diplomaten entlassen.
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Die Bundesregierung hat sich frühzeitig festgelegt: Assad muss weg. Nun, danach sieht es derzeit nicht mehr aus. Eine Stabilisierung der Region Irak/Syrien, so wie Sie sie in Ihrem Antrag anstreben, wird die Regierung in Damaskus also einbeziehen müssen. Das wollen Sie natürlich nicht sagen, und deshalb wird es im Antrag auch nicht erwähnt. Machen Sie endlich Realpolitik, und zwar für die Menschen, die Sie hier zu vertreten haben! Sie sind Volksvertreter.
Die Fraktion der AfD lehnt den Antrag der Regierung auf Einsatz der Bundeswehr im Irak ab.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich im Wesentlichen dem Mandat widmen. Ich möchte aber das, was Sie gesagt haben, Herr Lucassen, nicht so stehen lassen. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man sich mit vielen Regimen dieser Welt unterhält, die in der Tat nicht unsere Maßstäbe von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten erfüllen, wie Sie es gerade formuliert haben, oder ob man sich mit dem Schlächter Assad trifft.
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– Ihre Reaktion, Herr Dr. Gauland, ist bezeichnend; es ist bemerkenswert, dass Sie fragen, wo da der Unterschied ist.
Der Unterschied liegt darin, dass wir es hier mit einem Machthaber zu tun haben, der sein eigenes Volk unter anderem mit Giftgas, Fassbomben und Gewehren bekämpft, und dass wir hier ein Barbarentum erleben, das es in der Neuzeit noch nicht gegeben hat.
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Das sollte man als deutscher Volksvertreter nicht durch persönliche Anwesenheit legitimieren. Das verschiebt die Grenzen.
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Die zentrale Botschaft dieses Einsatzes lautet – die Kollegin Möller hat darauf bereits verwiesen –: Der Irak ist in dieser Region, in der wir so wahnsinnig wenig machen können, ein Schlüsselstaat. Es fällt uns nicht ganz leicht, dem Mandat zuzustimmen. Ich weiß das aus der sozialdemokratischen Fraktion. Auch meine Fraktion betrachtet dieses Mandat mit Aufmerksamkeit. Wir werden natürlich den weiteren Ablauf, insbesondere den der Wahlen, dort beobachten.
Wenn wir nach Syrien schauen und unsere Handlungsunfähigkeit angesichts des Gemetzels erkennen, müssen wir uns fragen: Was kann man im Irak voraussichtlich erreichen? Wo kann man Unterstützung leisten? Wir haben nun staatliche Organisationen, die sich zumindest formal dazu verpflichtet haben, erstens innerhalb des Landes den Ausgleich zwischen Kurden und Zentralstaat zu suchen und zweitens den innerstaatlichen Ausgleich zwischen der schiitischen Mehrheitsbevölkerung, die über Jahrzehnte unter Saddam Hussein malträtiert und unterdrückt wurde, und der sunnitischen Minderheit zu suchen, die damals sozusagen regiert hat; hieran ist unsere Unterstützung geknüpft. Wir haben auch im Blick, dass dieser Staat enge Beziehungen zum Iran hat. Im Parlament wurde aber einstimmig beschlossen, alle ausländischen Streitkräfte aufzufordern, das Staatsgebiet des Iraks zu verlassen. Wir stellen zudem fest, dass der Irak auch von Saudi-Arabien als Gesprächspartner, sogar als Verhandlungspartner akzeptiert wird. Das ist angesichts der Gemengelage am Persischen Golf und der bekannten Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran keine Kleinigkeit, sondern wahrscheinlich sehr wertvoll.
Niemand ist so vermessen, zu sagen, dass wir mit unserem Einsatz – zumal in diesem überschaubaren Zeitraum – die Welt dort verändern würden. Aber es besteht die realistische Chance, dass wir die konstruktiven Kräfte unterstützen können, diejenigen, die auf Ausgleich setzen und die staatliche Strukturen im Irak unterstützen wollen. Nur für staatliche Strukturen im Irak leisten wir Unterstützung, nicht für Milizen, die vielleicht formal einmal der Armee angeschlossen wurden, aber keine staatlichen Streitkräfte sind.
Wir wollen versuchen, die Einheit dieses Landes zu unterstützen. Wir wollen versuchen, seine ausgleichende Funktion nach innen und nach außen zu unterstützen. Dem dient dieser Einsatz, dessen Erfolg nicht garantiert ist, der schwierig ist, der unseren Soldatinnen und Soldaten wieder viel abverlangt. Aber wir knüpfen an eine kleine Erfolgsgeschichte im Norden des Irak, in Kurdistan, an – darauf hat die Verteidigungsministerin in der ersten Lesung hingewiesen –: Mit unserer Unterstützung konnte das Barbarentum des IS zurückgedrängt werden, und mit unserer Unterstützung kann auch die Staatlichkeit des Irak eine neue Chance bekommen, sodass sie noch eine Erfolgsgeschichte werden kann.
Sich dafür in dieser geschundenen Region einzusetzen, ist jeden Einsatz wert. Deswegen sind wir zum jetzigen Zeitpunkt dafür, dieses Mandat zu erteilen. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, dem Antrag zuzustimmen, und sichere ihnen zu: Wir werden den Ablauf des Mandates überwachen. Wir werden alles parlamentarisch beobachten. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es richtig, sich für einen Irak einzusetzen, der nach innen und nach außen ausgleichend wirkt.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat uns hier nicht ein Mandat vorgelegt, sondern zwei. Sie sind zwar in einem Text verbunden, aber es sind dem Auftrag nach zwei völlig unterschiedliche Dinge. Auf der einen Seite haben wir den Kampf gegen den „Islamischen Staat“, das alte Counter-Daesh-Mandat. Meine Fraktion unterstützt dieses Mandat vorbehaltlos, was die Soldaten in den AWACS-Maschinen angeht, was die Tornados angeht, was die Luftbetankung angeht.
Auf der anderen Seite geht es – das ist der zweite Teil des Mandats – um die Stabilisierung des Irak. Das ist etwas völlig anderes. Wir haben hier bei der Einbringung des Antrags einige Unklarheiten herausgearbeitet, die bis heute nicht beseitigt sind. Wie verhält sich der nationale Beitrag Deutschlands zu der gleichzeitig entwickelten, inhaltlich nahezu identischen Mission, die die NATO gerade entwickelt und die im Juli 2018 auf dem Gipfel verabschiedet werden soll? Keine Antworten. Wie sieht unser nationaler Beitrag eigentlich im Detail aus? Ich bin dagegen, dass wir als Deutscher Bundestag Mikromanagement machen, wenn unser Militär im Einsatz ist. Aber ein bisschen mehr als das, was wir an Ungefährem in diesem Text haben, kann es schon sein. Alles ist vage; alles ist unscharf gehalten. Das reicht einfach nicht aus.
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Die nächste Frage: Wie verhält sich dieses Mandat zu dem sehr engagierten deutschen Einsatz in der Region Kurdistan/Irak? Wie gehen wir mit den Spannungen zwischen der Zentralregierung und Erbil um? Keine Aussagen. Und dann: Wie entwickelt sich die innere Lage des Irak? Die innere Entwicklung dort ist alles andere als klar. Keine Auskunft.
Meine Damen und Herren, es gibt so viele Unklarheiten. Wir haben die Bundesregierung um Aufklärung gebeten: Wo soll wer wie ausgebildet werden? Wo kommen die Männer und Frauen aus der deutschen Bundeswehr her, die diese Ausbildung leisten sollen? Das sind ja ganz andere als vorher, als es um die Ausbildung an Kleinwaffen- und an Panzerabwehrwaffen ging. Hier geht es um Stabsoffiziere. Die hat die Bundeswehr schlicht nicht. Wie verschafft man sich ein verlässliches Bild der Sicherheitslage im Zentralirak? Welche Entwicklung erwartet die Bundesregierung im Inneren? Wie verhalten wir uns zu den Peschmerga?
Dann gibt es eine besonders schwierige Frage, die es meiner Fraktion nahezu unmöglich macht, diesem Teil des Mandats zuzustimmen. Sie beruht – da muss ich Herrn Wadephul leider direkt widersprechen – darauf, dass mit dem Dekret vom 8. März 2018 die Popular Mobilization Forces formell Teil der regulären Streitkräfte des Irak geworden sind. Das Mandat spricht von der Ausbildung der regulären Streitkräfte. Wollen wir wirklich eine vom Iran unterstützte schiitische Miliz im Irak ausbilden? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
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Wer glaubt, das sei gar nicht so, der muss nur einmal schauen, wie diese Popular Mobilization Forces finanziert werden: Aus dem irakischen Staatshaushalt! Es spricht also einiges dafür, dass es sich hierbei nicht um eine Miliz handelt; es spricht aber sehr viel dafür, dass es sich um genau die regulären Streitkräfte handelt, die wir ausbilden wollen.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der Freien Demokraten wird sich im Ergebnis enthalten. Wir signalisieren eindeutig unsere Zustimmung zur Fortsetzung des Antiterrorkampfes, aber genauso eindeutig unsere Ablehnung eines unausgegorenen, unpräzisen, unklaren Mandats mit unabsehbarem Ende und ungewissem Ausgang. Wir tun das im Interesse unserer Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Die Bundesregierung legt ein Mandat mit zwei Aufträgen vor – das wurde schon mehrfach so benannt –: erstens die Ausbildung und Ertüchtigung der irakischen Armee und zweitens die Fortsetzung des Anti-IS-Kampfes, interessanterweise ohne den IS.
Zunächst zur Ausbildung im Irak. Es war so, dass 2014 die Kurden im Nordirak ausgebildet und bewaffnet wurden, um sich gegen den IS wehren zu können. Nachdem sie das geschafft hatten, verselbstständigten sie sich etwas zu sehr; Stichwort: Referendum im September. Es kam zu einem Konflikt mit der Zentralregierung, bei dem auch deutsche Waffen auf kurdischer Seite eine Rolle spielten.
Die Reaktion der Bundesregierung darauf war erstaunlich einfältig. Sie sieht nämlich so aus: Dann bildet die Bundeswehr eben künftig neben den Kurden auch die irakische Armee aus. – Sehr geehrte Damen und Herren, wenn es an einem in der Region nicht fehlt, dann sind es Waffen und Bewaffnete.
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Das Ausbildungsmandat selber ist sehr vage gehalten. Es ist nicht klar, wo ausgebildet werden soll, wer ausgebildet werden soll und ob nach den Parlamentswahlen am 12. Mai überhaupt weiter ausgebildet werden kann. Die Bundesregierung will die paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten nicht ausbilden. Die irakische Regierung hat aber seinerzeit angekündigt, dass sie diese Volksmilizen in die irakische Armee integrieren will. Niemand weiß genau, wie das vonstattengehen soll, welchen Integrationsgrad sie bekommen sollen. Da war auch unser Besuch in Bagdad vor zwei Wochen nicht unbedingt erhellend.
Das heißt, die Bundesregierung kann gar nicht darlegen, wie sie verhindern will, dass eine direkte oder indirekte Ausbildung genau dieser Milizen stattfindet. Das Programm „Train the Trainers“ dürfte diese Sache noch erschweren.
Kurzum: Die Bundesregierung legt dem Bundestag einen Blankoscheck für ein Mandat vor, den wir so nicht unterschreiben können. Es ist eine Zumutung für den Deutschen Bundestag.
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Nun zum zweiten Teil des Mandats: der Anti-IS-Einsatz ohne IS. Wenn der IS dort territorial nicht mehr existiert, weil er besiegt wurde, sehr geehrte Damen und Herren, dann frage ich mich, was durch Aufklärungstornados aufgeklärt werden soll. Etwa die Truppenbewegungen der syrischen Armee oder der kurdischen Kräfte?
Eines ist deutlich geworden, seitdem der IS besiegt wurde: Es gibt einige NATO-Staaten, die derzeit mit Waffengewalt die Souveränität und Staatlichkeit Syriens, eines Mitgliedslandes der UNO, zerschlagen. Syrien hat derzeit den Charakter einer Torte – einer Torte, an der sich alle, sofern sie NATO-Staaten sind, straffrei territorial bedienen können. Die USA haben mittlerweile im Osten des Landes über zehn Militärstandorte geschaffen – gegen den Willen der syrischen Regierung. Die Türkei ist gegen den Willen der syrischen Regierung in Nordsyrien eingefallen. Wir sehen gerade die Bilder aus Afrin.
Nach anfänglichen Spannungen zwischen den USA und der Türkei bezüglich der Kurden zeichnet sich jetzt eine Einigung zwischen den beiden, zwischen den USA und der Türkei, ab. So berichtet die türkische Nachrichtenagentur Anadolu heute Mittag – ich zitiere –:
Die Türkei hat eine härtere Gangart gegenüber der kurdischen YPG-Miliz angekündigt, sollte es keine dauerhafte Verständigung mit den USA über die Kurdenhochburg Manbidsch in Syrien geben.
So der türkische Außenminister heute Mittag.
In beiden Fällen, sehr geehrte Damen und Herren, handelt es sich um einen Völkerrechtsbruch durch NATO-Staaten, hier: durch die USA und die Türkei.
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Was sagt die Bundesregierung? Altbekanntes Schweigen im Fall der USA und eine bescheidene Kritik im Fall der Türkei. Die nur vage Distanzierung von Frau Merkel gestern wird keine Folgen für das deutsch-türkische Verhältnis nach sich ziehen. Die Rüstungskooperation und der ‑export gehen weiter wie gewohnt.
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Ich möchte nur daran erinnern, sehr geehrte Damen und Herren, dass vor einer Woche alle Fraktionen, inklusive der die Regierung tragenden Fraktionen, hier den Angriffskrieg der Türkei auf Syrien als Völkerrechtsbruch klassifiziert haben.
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Die Regierung weigert sich aber, genau diese Feststellung zu treffen. Es wäre an Ihnen, Frau Nahles und Herr Kauder, Ihre Abgeordnetenkollegen in der Regierung zu disziplinieren.
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Aus Sicht der Linken gibt es kein vernünftiges Argument für das Anti-IS-Mandat und für das Ausbildungsmandat, aber jede Menge vernünftige und rechtliche Gründe dagegen.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, auch meine Fraktion ist der Auffassung, dass die Gefahr durch den sogenannten „Islamischen Staat“ alles andere als gebannt ist. Und ja, es ist richtig: Der Irak braucht Unterstützung. Auch wir Grünen sind der Meinung, dass man dem Irak beispielsweise dabei helfen kann, Voraussetzungen für eine Versöhnung zu schaffen und eine inklusive Gesellschaft zu gestalten. Natürlich kann dabei Capacity Building, also der Aufbau von Fähigkeiten, auch die Unterstützung beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen, ein sinnvoller Beitrag sein. Nur: Gute Absichten und hehre Ziele allein – ich unterstelle Ihnen, Frau von der Leyen, gar nicht, dass Sie keine guten Absichten oder hehren Ziele bei diesem Mandat haben – machen ein zustimmungsfähiges und gutes Mandat bei weitem nicht aus.
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Wenn man sich den vorliegenden Mandatstext anschaut und die Beratungen in den Ausschüssen Revue passieren lässt, dann fällt als Erstes auf: Die Strategie und die Ziele hinter diesem Mandat sind reichlich unklar; Kollege Graf Lambsdorff hat bereits dazu ausgeführt. Capacity Building kann nämlich nur ein Baustein von mehreren sein. Wir brauchen einen umfassenden Ansatz, der zivile und militärische Maßnahmen sinnvoll aufeinander abstimmt. Und wir brauchen bei diesem Mandat eben auch eine Beschreibung. Das sage ich als Teil einer Minderheit meiner Fraktion, der nachher dem Afghanistan-Einsatz zustimmen wird.
Wenn man so ein Mandat vorlegt, brauchen wir Beschreibungen: Was ist das Ziel, das wir erreichen wollen? Was sind die Zwischenschritte? Wonach evaluieren wir einen solchen Einsatz? Und: Was sind die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Bundesregierung zum Deutschen Bundestag sagen kann: „Okay, das Mandat ist erfüllt, wir können die Mission beenden“? Wenn wir das nicht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann kann die Gefahr bestehen, dass wir heute den Grundstein für etwas legen, das 5, 10 oder 15 Jahre andauert und bei dem wir nicht genau wissen, welche Entwicklung das Ganze nehmen wird.
Für den Einsatz in Syrien – auch das ist angeklungen – gibt es nach wie vor keine tragfähige völkerrechtliche Grundlage.
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Trotz mehrfacher Nachfragen: Sie können nicht vollends ausschließen, dass die Aufnahmen, die von den Tornados gemacht werden und die eigentlich dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ dienen sollen, von der Türkei, gerade in der aktuellen Situation, bei ihrer völkerrechtswidrigen Offensive missbraucht werden können.
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Noch gravierender ist: Sie agieren wieder in einer Koalition der Willigen. Sie agieren nicht in einem System kollektiver Sicherheit. Das ist keine Anforderung, die allein Bündnis 90/Die Grünen an Bundeswehreinsätze stellt. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anforderung, in einem System kollektiver Sicherheit zu agieren, ist schlichtweg eine Voraussetzung, die uns unser Grundgesetz im Hinblick auf Bundeswehrmandate aufgibt.
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Wer ein solches Mandat vorlegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, der mag vielleicht gute Absichten haben, er mag vielleicht hehre Ziele haben, aber er vermischt damit eine Mission in Irak mit einer hochproblematischen anderen Mission in Syrien. Er vermischt Mandate, die viele rote Linien und Fallstricke enthalten, sodass das kein guter Mandatstext ist. Das heißt für uns Grüne auch: Wir sehen vielleicht, dass man den Irak unterstützen muss, und ich mag Ihnen vielleicht glauben, dass Sie gute Absichten haben, aber das macht ein zustimmungsfähiges Mandat bei weitem nicht aus. Deshalb wird meine Fraktion heute diesem Mandat nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Hitschler, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Wochen berichtete die Jesidin Farida Abbas vor dem UN-Menschenrechtsrat von ihren Erlebnissen als Gefangene des „Islamischen Staates“ – ich zitiere –:
Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden entführt oder getötet. Während der IS Kinder zwangskonvertierte und sie zu Selbstmordattentätern auszubilden versuchte, wurden die Frauen als Sexsklavinnen gehalten und weiterverkauft. Sie brannten unsere Häuser, Schulen und Gemeinschaftsräume nieder, damit wir niemals wieder in unser Land zurückkehren.
Diese furchtbaren Verbrechen sind keine vier Jahre her. Hätte die internationale Gemeinschaft nicht eingegriffen, wäre es zu einem Völkermord gekommen. Heute ist der IS militärisch weitgehend besiegt. Der Einsatz der internationalen Koalition war ein Erfolg. Dazu haben auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie haben dazu beigetragen, die Schreckensherrschaft des IS zu beenden und einen Genozid zu verhindern. Vielen Dank für Ihren Einsatz!
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Allerdings warne ich davor, jetzt wieder die Banner mit der Aufschrift „Mission Accomplished“ auszurollen. Das war bereits vor 15 Jahren eine von vielen fatalen Fehleinschätzungen, ohne die es dem Irak heute besser ginge. Auch deshalb war das Nein zum Irakkrieg 2003 die richtige Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Erfolg über den IS gleicht dem Rizinusstrauch, in dessen Schatten sich der Prophet Jona vor den Toren Ninives ausruhte. Dieser Strauch verdorrte innerhalb einer Nacht, weil ein Wurm an seinen Wurzeln nagte. Wenn wir uns jetzt im Schatten dieses Erfolgs über den IS ausruhen, wird auch dieser Strauch verdorren; denn die Herausforderungen sind groß: Die innerirakischen Konfliktlinien zwischen Zentralregierung und Kurden, zwischen Schiiten und Sunniten können jederzeit aufbrechen. Iran und Saudi-Arabien kämpfen um die Vorherrschaft im Mittleren Osten. Die Türkei kämpft völkerrechtswidrig gegen die Kurden in Syrien und plant angeblich Ähnliches im Irak. Syrien befindet sich noch immer in einem Bürgerkrieg, der die Region destabilisiert, und auch der IS selbst nagt an den Wurzeln.
Der Irak braucht Stabilität und Wiederaufbau. Das benötigt einen umfassenden Ansatz aus Diplomatie und Entwicklungshilfe, aus zivilen und militärischen Komponenten. Die Bundeswehr leistet dazu weiterhin einen wichtigen Beitrag. Aber dieser Einsatz ist mit einem hohen Risiko verbunden, gerade weil wir ihn an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen und sich der Schwerpunkt vom Norden in den Zentralirak verschiebt, in eine der gefährlichsten Regionen der Welt. Genau dieses Risiko erfordert eine besondere Sorgfalt bei allen Belangen unserer Soldatinnen und Soldaten. Gegen improvisierte Sprengfallen braucht unsere Truppe die passende Schutzausrüstung, eine sichere Unterkunft und gepanzerte Fahrzeuge. Diese müssen bereits zur Ausbildung bereitstehen und nicht erst im Einsatzgebiet.
Herr Kollege, guten Abend! Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hampel?
Ich glaube, wir haben von der AfD zu dem Punkt schon genug gehört.
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Die Spezialisten unserer Bundeswehr werden auch in diesem Einsatz wieder einmal im Besonderen gefordert, unsere Sprengstoffexperten für den Bereich Counter-IED, unsere Ausbilderinnen und Ausbilder der Sanität, unsere Fachleute für Logistik. Personal in diesen Spezialbereichen ist aber leider eine Mangelressource, lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Einsatzsystematik 4/20, also der Wechsel von vier Monaten Stehzeit und 20 Monaten Regeneration, muss gerade in solch einem gefährlichen Gebiet gewährleistet sein. In der Einsatzrealität, Frau Ministerin, ist das leider nicht immer der Fall. Ausreichende Regeneration und ausreichend Personal sind die Grundlagen für die personelle Durchhaltefähigkeit bei solchen Einsätzen. Die Bundesregierung muss für beides sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bin froh, dass der Parlamentarische Staatssekretär Tauber mir genau das im Verteidigungsausschuss zugesichert hat.
Damit unsere Truppe im Gastland Rechtssicherheit hat, braucht es ein Status of Forces Agreement mit der irakischen Regierung. Darauf muss die Bundesregierung achten, und wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden sie dabei kontrollieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates sagte Farida Abbas, die Jesiden wollten wieder in den Nordirak zurück, aber sie hätten keinen Ort, an den sie zurückkehren könnten; ohne Unterstützung und Schutz werde es deshalb im Irak bald keine Jesiden mehr geben.
Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen dazu bei, den Menschen im Irak diese Unterstützung und diesen Schutz zu bieten. Wir stehen dabei an ihrer Seite.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hitschler. – Das Wort zu einer Kurzintervention – ich betone: kurz; das gilt aber für alle – hat Herr Hampel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Hitschler, Sie haben gerade erwähnt, dass Ihr früherer Bundeskanzler Gerhard Schröder die deutsche Beteiligung im Irakkonflikt abgelehnt hat, was die AfD heute noch, im Nachhinein sehr begrüßt; denn er hat richtig gehandelt. Nun sind aber die Amerikaner in die Schlacht gezogen, mit all den Folgen, die wir in den Jahren erlebt haben.
Können Sie mir erklären, warum wir diese Aufgabe nicht zuallererst den Amerikanern überlassen, anstatt deutsche Bundeswehrsoldaten – Sie schnüren ja schon das Marschgepäck und sprechen von Stehzeiten – in diesen Einsatz zu schicken?
Lieber Herr Kollege, ich habe in meiner Rede erwähnt, wie wichtig es ist, den Irak genau in dieser Frage nicht alleinzulassen
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und so zu handeln, wie Sie es sagen, also so zu tun, als wären die Probleme, wenn man sie auf andere abschiebt, gelöst.
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Ich war schon im Jahr 2015 im Bundestag, übrigens auch vorher. Wir haben damals bereits darüber gesprochen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Einige der größten Fluchtursachen des Mittleren und Nahen Ostens sind Kriege, Bürgerkriege und Instabilität. Ich bin froh, dass diese Bundesregierung hier unterstützend tätig ist und dafür sorgt, dass die instabilen Staaten des Mittleren und Nahen Ostens wieder ein Stück weit stabiler werden.
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Wenn Sie wie Maulhelden herumtönen, Deutschland müsse Verantwortung übernehmen, rufe ich Sie auf: Tragen Sie dazu bei, Verantwortung zu übernehmen, für den Irak und für die deutschen Soldatinnen und Soldaten!
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Vielen Dank. – Der nächste Redner ist Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kampf gegen den IS war ein einigender Faktor über ethnische, über religiöse Grenzen der irakischen Bevölkerung hinweg. Die Zerschlagung des IS-Kalifats ist daher Erfolg gemeinsamer Anstrengungen und zugleich eine Chance für die nationale Aussöhnung und Einigkeit im Irak.
Ein gutes Auskommen zwischen Bagdad und Erbil ist eine von vielen Grundvoraussetzungen für die langfristige Stabilität des Landes. Deshalb müssen Bagdad und Erbil gleichermaßen für uns Partner sein, und deshalb wollen wir beide Seiten unterstützen. Weitere Reibungen zwischen den Gruppen wären für den Aufbau des Landes verheerend. Es ist daher das richtige Zeichen, dass wir unser Engagement im Irak in einem Mandat zusammengefasst haben.
Der IS ist zwar zurückgedrängt, aber wird weiterhin ein großer Unsicherheitsfaktor bleiben. Der Irak muss sich nun den Herausforderungen der Post-IS-Zeit stellen und braucht dafür internationale Unterstützung. Diese Unterstützung kann und wird Deutschland dem Irak nicht vorenthalten; denn Deutschland hat ein Interesse an einem stabilen und geeinten Irak. Ein weiteres Land im Nahen Osten, das vollständig im Chaos versinkt, kann sich die Weltgemeinschaft und können wir uns in Europa nicht leisten.
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Den Grünen möchte ich an dieser Stelle sagen: Sie können nicht von Nachhaltigkeit und einem vernetzten Ansatz sprechen und ihn richtigerweise predigen, aber gleichzeitig überstürzt und unüberlegt das Land verlassen. Herr Lindner, Sie sagten, man könne die Soldaten nicht in den Irak schicken, weil wir nicht wüssten, wie der Einsatz ausgehe. Wenn wir wüssten, wie ein Einsatz ausgeht, dann gäbe es vermutlich gar keine Notwendigkeit, mit Militär in einen solchen Einsatz zu gehen. Dann wäre die Lage in dem Land nämlich stabil und sicher.
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Deswegen lässt sich genau diese Voraussicht leider nicht treffen.
In der letzten Woche haben wir an dieser Stelle schon einmal über den Bundeswehreinsatz im Irak diskutiert. Ich muss sagen: Es hat mich einigermaßen überrascht, welche Argumente zum Teil in der Debatte gebracht wurden. Herr Lucassen beispielsweise hat von den viel zu großen Risiken des Bundeswehreinsatzes in einem instabilen Irak gesprochen. Ich finde es schon interessant, dass gleichzeitig kleine AfD-Reisegruppen – in diesem Fall um den Kollegen Oehme herum – im Nordirak waren
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und im Nachhinein positiv über das Engagement der Bundesregierung in der Öffentlichkeit berichtet wurde.
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Herr Hampel, Sie haben letzte Woche davon gesprochen, die Bundeswehr sei ein verwahrloster Trümmerhaufen.
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Ich sage Ihnen mal eines, Herr Kollege: Ich möchte zwar nichts schönreden – wir wissen, dass wir in die Bundeswehr mehr investieren müssen –,
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aber dass sich die bekannten Probleme nicht auf die Ausstattung im Einsatz, sondern auf die Strukturen zu Hause beziehen, ist allgemein bekannt. Für den Einsatz im Irak ist unsere Truppe sehr gut ausgestattet.
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Nichts anderes würde unsere Bundesregierung zulassen. Bei meinen Besuchen in den verschiedenen Einsatzgebieten – ich glaube, das werden alle Kollegen bestätigen, die mit dabei waren – ist vonseiten der Soldaten immer bestätigt worden, dass sie beste Ausstattung haben.
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Mit Ihren gegenteiligen Behauptungen schädigen Sie nicht nur den Ruf der Bundeswehr, sondern tragen auch zu einer erheblichen Verunsicherung bei den Familien der Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz sind, bei.
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Das, muss ich Ihnen sagen, ist wirklich unanständig.
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Meine Damen und Herren, unsere Irakpolitik ist langfristig ausgerichtet, und wir verfolgen einen umfassenden Ansatz, militärisch, politisch und in der Entwicklungszusammenarbeit. Die Bundesregierung hat den Irak seit 2014 mit mehr als 1 Milliarde Euro im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und der Stabilisierung unterstützt. Aber im Irak gilt wie anderswo: Entwicklung und Stabilität brauchen einen langen Atem, und sie können nicht gedeihen ohne Sicherheit. Wir sollten die bisherigen Erfolge nicht leichtfertig aufs Spiel setzen und uns weiter engagieren: für die Menschen vor Ort, für einen geeinten Irak und letztlich auch für die Sicherheit Deutschlands.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Florian Hahn. – Das Wort hat Mario Mieruch als fraktionsloser Kollege.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verantwortung in der Welt zu übernehmen, um dort zu helfen, wo Hilfe notwendig und erwünscht ist, ist zweifellos gut und richtig. Das setzt aber ein Verantwortungsbewusstsein auch jenen gegenüber voraus, die man mit den entsprechenden Aufgaben betraut. Ich möchte keine erneute Aufzählung über den eklatant schlechten Ausrüstungszustand unserer Bundeswehr vortragen; denn der ist wahrlich nur mit großer Ignoranz schönzureden. Herr Hahn hat ja gerade dargestellt, dass unsere Bundeswehr für die Auslandseinsätze bestens gewappnet ist. Das können die Kollegen in Afrika sicherlich bestätigen, die um ihre Kameraden trauern, die mit dem Hubschrauber abgestürzt sind, oder die ein paar Tage länger blieben, weil die Flugzeuge nicht flogen.
Um Aufbauarbeit zu leisten und nachhaltige Sicherheit herzustellen, will die Bundesregierung die irakische Zentralarmee ausbilden. Aber wer tritt dort morgens in Uniform an? Wir sind ja schon im eigenen Lande nicht in der Lage, die Identitäten zu prüfen. Warum klappt das ausgerechnet dort? Gleichwohl wird diese Armee – das ist ja auch bekannt – aus dem Iran und aus Syrien unterstützt, und es gibt darüber hinaus noch jede Menge zweifelhafte Verbindungen zum Libanon und vieles mehr.
Im Wissen um die komplexen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten müssen wir uns fragen: Tragen wir unter Umständen durch dieses Engagement an anderen Stellen zur Verschärfung bei? Bilden wir vielleicht sogar die Feinde Israels von morgen aus? Schulen wir sie statt in der Beseitigung von Kampfmitteln vielleicht auch im Legen oder in der Manipulation? Warum lassen wir die Kurden mit dem Auslaufen des KTCC, des Kurdistan Training Coordination Center, jetzt im Stich? Wo ist in diesem Zusammenhang unsere kritische Debatte über das Verhalten von Erdogan? Wer kontrolliert wie, dass unsere Bemühungen tatsächlich den regulären Streit- und Sicherheitskräften zugutekommen?
In der Antragsbegründung wird weiterhin auf ein bereits gewährtes ungebundenes Darlehen in Höhe von 500 Millionen Euro verwiesen. Was ist mit diesem Geld passiert? Wer kontrolliert die Verwendung?
Nicht nur wegen der aufgeführten Aspekte muss klar festgestellt werden: Die Voraussetzungen zur Wahrung der erforderlichen Verantwortung sind in keinem Fall gegeben, und unsere Soldaten haben es verdient, sich darauf verlassen zu können. Deswegen ist der Antrag abzulehnen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Mieruch. – Bevor der letzte Redner das Wort erhält, bitte ich die Kollegen, Platz zu nehmen und Ruhe zu bewahren. Herr Frei hat das Recht, dass man ihm zuhört. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur heute, sondern auch in der letzten Woche und in den Ausschusssitzungen dieser Woche haben wir uns sehr kritisch mit diesem Einsatzmandat in Syrien befasst, und zwar völlig zu Recht. Es waren nicht nur Abgeordnete der Oppositionsfraktionen, sondern auch Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die diesem Mandat nachgegangen sind. Das haben unsere Soldatinnen und Soldaten auch verdient. Trotzdem stehe ich heute hier, weil ich davon überzeugt bin, dass es richtig ist, was wir tun, und werbe um die Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung.
Ja, es stimmt, der 10. Juli des letzten Jahres war ein Wendepunkt im Kampf gegen den IS. Es ist gelungen, den IS aus Mosul zu vertreiben und in der Folge bis Oktober, November auch aus anderen großen Städten der Region. Aber es ist mitnichten so, dass der IS damit besiegt wäre, und das gilt nicht nur für die Ideologie. Am Beispiel Kirkuk kann man sehr gut sehen, was die Transformation von einem territorial verankerten Terrorregime hin zu einer terroristischen Untergrundorganisation bedeutet. Nach dem Abzug der Peschmerga ist dort ein Sicherheitsvakuum entstanden, das die zentralstaatlichen irakischen Sicherheitskräfte nicht haben schließen können. Man kann dort sehr genau sehen, was passiert, wenn der IS wieder an Stärke gewinnt. In Kirkuk ist der IS eben nicht besiegt, sondern weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko. Vor diesem Hintergrund ist mir schleierhaft, dass man sich hier hinstellt und sagt, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Natürlich hat die Bekämpfung des IS etwas mit der Stabilisierung des Irak zu tun. Das ist doch ganz offenkundig. Deshalb ist es richtig, dass wir uns hier engagieren und einsetzen.
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Wir tun dies mit einem Bundeswehrmandat, über das wir gleich zu entscheiden haben. Wir tun dies vor allen Dingen eingebettet in einen gesamthaften Ansatz, der die zivilen Möglichkeiten genauso wie die Möglichkeiten des Capacity Building in den Blick nimmt. Wir beteiligen uns beispielsweise auch an einer EU-Trainingsmission für den Irak, und zwar unter Führung eines deutschen Bundespolizisten. Wir haben einen Kredit über 500 Millionen Euro gegeben, um den Wiederaufbau in den Gebieten zu stärken, aus denen sich der IS zurückgezogen hat. Es geht um den Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur, von Straßen und Brücken, von Energie und Wasser. Wir sind die zweitgrößten Geber nach den USA. Der Irak ist ein Schwerpunktland für die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit.
Das alles ist notwendig, um das Land zu stabilisieren; denn es ist hinreichend beschrieben worden, in welchem Zustand es ist. Es ist ein fragmentiertes Land mit Schiiten, mit Sunniten, mit Kurden. Es ist offenkundig, dass der Irak eine zentrale Rolle für Stabilität in der Region spielt. Deswegen ist es in unserem Interesse, alles nur Erdenkliche zu tun, dass der Irak als Staat erhalten bleibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Man kann nicht so tun, als könne man bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Ja, es stimmt, wir verabschieden heute Abend auch Einsatzmandate der Bundeswehr, bei denen viele Dinge klarer sind. Aber wir haben die Probleme im Irak doch jetzt und nicht in Zukunft. Am 12. Mai werden dort Wahlen sein. Es wird darum gehen, ob der Spalter al-Maliki oder der Integrator al-Abadi gewinnen wird. Davon wird vieles abhängen. Wir haben die Situation, dass der Iran nicht nur nach Auffassung des US-Verteidigungsministers Mattis die Wahlen beeinflussen möchte. Wir haben die Situation, dass der Iran versucht, über staatliche Organe im Irak seine eigene Agenda durchzudrücken.
Und wir haben das Problem, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.
Da haben Sie vollkommen recht. Deswegen komme ich zum Ende. – Die Gesamtgemengelage ist so, dass wir uns nicht hinstellen und warten können. Es gilt, jetzt zu handeln. Wir werden das Mandat aufmerksam begleiten. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Frei. – Damit schließe ich die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Erge bnisse der Wahlen bekannt geben.
Protokoll über die Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses gemäß § 6 Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht: abgegebene Stimmen 660, davon gültig 657, ungültige Stimmen 3. Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU 229 Stimmen, der Fraktion der SPD 144 Stimmen, der Fraktion der AfD 85 Stimmen, der Fraktion der FDP 77 Stimmen, der Fraktion Die Linke 57 Stimmen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 65 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren von d’Hondt entfallen auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 5 Mitglieder, der Fraktion der SPD 3 Mitglieder, der Fraktion der AfD 1 Mitglied, der Fraktion der FDP 1 Mitglied, der Fraktion Die Linke 1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied. Nach § 6 Absatz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht sind die Mitglieder in der Reihenfolge gewählt, in der ihre Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Die Namen der gewählten Mitglieder entnehmen Sie bitte den Drucksachen 19/1306 bis 19/1311.
Protokoll über die Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes: abgegebene Stimmen 656, davon gültig 653, ungültige Stimmen 3. Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU 228 Stimmen, der Fraktion der SPD 143 Stimmen, der Fraktion der AfD 86 Stimmen, der Fraktion der FDP 75 Stimmen, der Fraktion Die Linke 56 Stimmen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 65 Stimmen.
Nach dem Verfahren von d’Hondt entfallen auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 6 Mitglieder, der Fraktion der SPD 4 Mitglieder, der Fraktion der AfD 2 Mitglieder, der Fraktion der FDP 2 Mitglieder, der Fraktion Die Linke 1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied. Die Mitglieder sind in der Reihenfolge gewählt, in der ihre Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Die Namen können Sie den Drucksachen 19/1312 bis 19/1317 entnehmen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung zu dem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung Iraks. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1300, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1093 anzunehmen.
Ich gebe bekannt, dass dazu mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vorliegen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Sind die Plätze an den Urnen mit Schriftführerinnen und Schriftführern besetzt? – Alle sind besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Gibt es Kollegen und Kolleginnen, die ihre Stimmkarte noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen, sobald es vorliegt, bekannt gegeben.
Wir sind immer noch im Abstimmungsvorgang. Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen oder die Gespräche nach draußen zu verlagern.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, und zwar zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1343. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Die Linke. Dagegen waren SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP und AfD.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/1344. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben Die Linke, die SPD, die CDU/CSU, die FDP und die AfD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Die Historie Afghanistans ist zuweilen ein düsteres Kapitel unserer Zeitgeschichte. Ich war 17 Jahre alt, als die Truppen der Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierten, und seitdem verfolge ich die leidvolle Entwicklung dieses Landes.
Mit Blick auf die aktuelle Lage möchte ich Ihnen gerne zwei Szenarien offerieren.
Zum ersten Szenario gehört eine sehr traurige, sehr tränenreiche Sichtweise; denn wer wie ich die Geschichte von Shirin-Gol gelesen hat, der weiß: Nach Afghanistan kommt Gott nur noch, um zu weinen.
Vom Einmarsch der Sowjetunion über den Aufstieg der Taliban bis hin zur Intervention der NATO ist Afghanistan ein geschundenes Land mit zahlreichen Blessuren. Und wir wissen: Es bleiben riesige Herausforderungen. Das können wir auch an der anhaltenden Terrorserie erkennen, von der wir selber betroffen sind. Ich meine den Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017 und den Anschlag auf das deutsche Konsulat in Masar-i-Scharif im November 2006. Den Betroffenen und ihren Angehörigen dieser verheerenden Terroranschläge mit vielen Toten gehört unser Beileid.
Ja, es stimmt, immer noch ist die Menschenrechtslage in Afghanistan prekär. Dies gilt insbesondere für die Rechte der Frauen, das Leid der Kinder und den Einfluss der ultrakonservativen Kräfte.
Ich will Ihnen aber ein zweites, deutlich positiveres Szenario aufzeigen; denn es gilt auch zu berücksichtigen, dass es inzwischen einen Silberstreif am Horizont gibt, der deutlich erkennbar ist. Ich will das an wenigen Befunden und Indikatoren deutlich machen: Nimmt man die Referenzjahre 2005 bis 2007, so kann man heute sagen, dass die Alphabetisierungsrate bei den Frauen von 5 Prozent auf 18 Prozent gestiegen ist, und das ist vergleichsweise sehr viel. Im gleichen Zeitraum ist die Kindersterblichkeit von 10 Prozent auf 7 Prozent gesunken, während die Lebenserwartung von 57 auf 61 Lebensjahre gestiegen ist. Auch lässt hoffen, dass das legale Bruttoinlandsprodukt – also jenseits des Drogenanbaus – von 9 Milliarden Dollar auf 21 Milliarden Dollar gestiegen ist.
Ja, ich weiß: Ein Silberstreif am Horizont ist noch keine Morgenröte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber wir dürfen uns die Erfolge unserer Mission nicht kaputtreden lassen, und wir dürfen keineswegs diejenigen im Stich lassen, die für diese konstruktive Entwicklung verantwortlich zeichnen. Deshalb ist die Unterstützung des afghanischen Sicherheitsapparates durch die Mission Resolute Support so wichtig. Unsere Soldatinnen und Soldaten bilden nämlich afghanische Sicherheitskräfte aus, und nur im äußersten Notfall, also in extremis, können und sollen sie selbst militärisch eingreifen.
Der Auftrag der Mission liegt ebenfalls in der Beratung für den zivilen Wiederaufbau, und letztendlich dient er auch dem Schutz unserer Botschaft und unserer Konsulate. 1 300 Soldatinnen und Soldaten leisten einen riesigen, ja substanziellen Beitrag für mehr Sicherheit und für mehr Schutz der zivilen Aufbauhilfe und damit eben auch der Zivilbevölkerung.
Lassen Sie mich deshalb die Gelegenheit nutzen, den Soldatinnen und Soldaten sowie den zivilen Aufbauhelferinnen und ‑helfern und insbesondere auch den Übersetzerinnen, die oft, wenn sie für uns tätig sind, ihr Leben riskieren, ausdrücklich danken.
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Letztendlich gilt es hier, auch das Mandat der Vereinten Nationen zu erfüllen. Bitte folgen Sie mir deshalb in der Fortschreibung dieses positiven Szenarios. Ich bitte Sie daher ganz, ganz dringend um Unterstützung dieses Mandates.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Daniela De Ridder. – Nächster Redner: Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Geehrte Soldaten und Offiziere!
Wir waren dreizehntausend Mann, Von Kabul unser Zug begann, Soldaten ... Weib und Kind Erstarrt, erschlagen, verraten sind.
Was wie eine realistische Beschreibung von Resolute Support klingt, ist ein Gedicht Theodor Fontanes aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals war gerade die damalige Weltmacht Nummer eins, Großbritannien, am Hindukusch gescheitert. Fontane titelte treffend: „Das Trauerspiel von Afghanistan“.
Afghanistan, ein Trauerspiel auch heute? Afghanistan ist der größte und längste NATO-Einsatz in der Geschichte. Zeitweise wurden über 100 000 Soldaten zwischen Masar-i-Scharif und Kandahar stationiert. Afghanistan ist auch derzeit der größte Einsatz der Bundeswehr.
Afghanistan ist für Deutschland so etwas wie der Lackmustest für Bundeswehreinsätze überhaupt. Deutschland ist zweitgrößter Geber und derzeit viertgrößter Truppensteller. Die Bundesregierung hat im Rahmen des zivilen Engagements bis 2020 einen Betrag von bis zu 1,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Von den seit 1992 in den Auslandseinsätzen gefallenen Soldaten starben über die Hälfte, 57 von 109, in Afghanistan. Zahlreiche kehren traumatisiert zurück. Ihnen allen gilt unser Respekt, unser Dank und unsere Unterstützung.
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Jeder von uns, die wir hier und heute über den weiteren Einsatz der Soldaten unserer Parlamentsarmee abstimmen, muss sich eine im Grunde genommen einfache, aber schwer zu beantwortende Frage stellen: Was würden Sie einer Mutter sagen, die um ihren gefallenen Sohn trauert? Was würden sie ihr sagen? Wofür ist er gestorben? Beantworten Sie diese Frage einmal, jeder für sich.
Wir haben sie für uns ganz klar beantwortet und sagen: Diese Bundesregierung hat keine Strategie. Sie weiß nicht, was die deutschen Interessen in Afghanistan sind. Sie weiß nicht, wann wir abziehen können. Sie weiß nicht, wofür unsere Soldaten am Hindukusch sterben.
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Eine deutsche Afghanistan-Strategie war und ist nicht erkennbar. Vielmehr schließen wir uns einfach den Amerikanern anschließen. Wenn sie sagen, dass wir mehr Truppen brauchen, dann sind wir zur Stelle, und wenn sie ihre Truppen reduzieren, dann verringern wir die unsrigen. Kopf- und konzeptlos lassen wir uns in Afghanistan von anderen treiben.
Resolute Support kann nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass eine Friedenslösung unter Einschluss aller Konfliktakteure gefunden wird. Diese soll dann aber so aussehen, dass die Taliban der Geltung der Menschenrechte in Afghanistan zustimmen. Glauben Sie das im Ernst? Wie naiv kann man eigentlich sein?
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Heiko Maas sprach von der Stabilisierung Afghanistans als einer Generationenaufgabe. Recht hat er. Die Bundeswehr wird wohl noch anno 2050 am Hindukusch stehen. Fragt sich nur, wie viele Soldaten bis dahin noch mit ihrem Leben für Ihre kopflose Politik bezahlen müssen.
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Vielen Dank, Herr Friesen. – Nächster Redner: Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ist in der Tat der schwierigste und längste Einsatz. Diejenigen, die schon länger im Deutschen Bundestag sind, wissen, dass er ein ständiger Begleiter unserer Arbeit ist, nicht nur, wenn wir über das Mandat reden, sondern auch, wenn wir uns mit der Situation in diesem Land und der Situation unserer Soldaten in diesem Land befassen.
Es ist jetzt ziemlich genau acht Jahre her, dass ich zum ersten Mal als frisch gewählter Abgeordneter in Afghanistan war. Wir haben unser Hochgebirgslager in Faizabad besucht. Dort stand die Charlie-Kompanie des Bataillons. Sie haben gesagt: Wir sind hier in Reserve, weil unsere Kameraden von der Alpha-Kompanie gemeinsam mit dem afghanischen Kandak südlich Kunduz gegen die Aufständischen kämpfen. Dann sind wir mit dem Hubschrauber gestartet. Als wir in Termes gelandet sind, haben wir erfahren, dass vier von den Soldaten gerade in der Zeit, in der wir im Hubschrauber waren, gefallen sind. Bijan Djir-Sarai und andere waren damals dabei.
Das hat meine Auffassung, meine Sicht der Dinge geprägt. Deswegen war ich heilfroh, dass der ISAF-Einsatz, der auch deutsche Soldaten, aber natürlich nicht nur deutsche Soldaten das Leben gekostet hat, viele auch die Gesundheit, Anfang 2015 in die Phase RSM, Resolute Support Mission, übergegangen ist und die Bundeswehr nicht mehr an der Seite afghanischer Kräfte kämpft, sondern die Ausbildung von Ausbildern betreibt.
Unglücklicherweise haben wir möglicherweise die Herausforderung unterschätzt. Möglicherweise sind wir mit einem zu geringen Ansatz hineingegangen.
Deswegen finde ich es gut, dass die Bundesregierung die Konsequenzen zieht und sagt: Wir können mehr tun für die Ausbildung afghanischer Streitkräfte, und deshalb erhöhen wir die Zahl der eingesetzten Soldaten, in erster Linie zum Schutz unserer Ausbilder vor Ort, dass diese häufiger und leichter von dem Camp, in dem sie leben, in die Ausbildungszentren der afghanischen Streitkräfte kommen können. Vor allem zu diesem Zweck soll die Zahl der Soldaten in dem Mandat erhöht werden. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, sind der Meinung, dass das richtig ist.
Wir haben natürlich Fragen an die afghanische Regierung, wie es weitergeht. Wir sehen: Das Glas ist eindeutig halb voll. Wir sehen auch, dass das Land vorankommt. Aber wir glauben, dass bestimmte Probleme noch nicht gelöst sind; Probleme im Übrigen, die nicht militärisch zu lösen sind, sondern für die es politische Lösungen braucht.
Die afghanische Regierung hat es mit, grob gesagt, zwei verschiedenen Arten von Aufständischen zu tun. Die einen sind die Taliban, die inländischen Kämpfer. Hier wird es sicherlich keine andere Lösung geben, als die Gutwilligen und Bereitwilligen unter diesen Kämpfern, die Mitläufer, in den Staat zu integrieren, ihnen Arbeit und eine Zukunft im Lande zu geben und sie so von den Taliban, den terroristischen Kräften, zu lösen.
Die anderen sind die ausländischen Kämpfer. Es gibt in diesem Land eine große Zahl von ausländischen Terroristen, Foreign Fighters, die in diesem Land für Unfrieden sorgen. Diese muss man militärisch bekämpfen, aber man muss sie auch austrocknen. Diese Foreign Fighters leben zum Beispiel vom Drogenhandel und von Schutzgelderpressung, und sie werden dabei getragen von Korruption im Staatsapparat und in der Polizei. Als Herr Athmar, der Sicherheitsberater der afghanischen Regierung, diese Woche in unserer Arbeitsgruppe war, hat er ganz klar gesagt: Im Bereich der Korruptionsbekämpfung muss noch mehr geschehen, weil korrupte Verwaltungsbeamte letztlich den Boden bereiten für die Geschäfte, die ausländische Terroristen in diesem Land machen.
Die Frage ist auch, wie das Land konsequent dagegen vorgehen kann, dass nach wie vor ein großer Teil der Drogenproduktion aus diesem Land kommt. Die Bauern haben nur einen ganz kleinen Anteil an den Erlösen des Drogenhandels. Deswegen glaube ich, es wird nötig sein, mit internationaler Hilfe ein klares Konzept dafür zu entwickeln, dass die Bauern, die heute noch Opiumfelder, also Mohnanbau, betreiben, zukünftig etwas anderes anbauen können, was unschädlich, aber wertvoll und nützlich ist, zum Beispiel Safran, der dann auch als Exportprodukt verwendet werden kann. Hier werden wir, Deutschland und die Völkergemeinschaft, in den nächsten Monaten weitere Anstrengungen unternehmen müssen, um diesen Prozess des Wandels zu begleiten.
Aber an der Ausbildung von Sicherheitskräften des afghanischen Staates führt kein Weg vorbei. Herr Athmar hat auch eine ungefähre Zahl genannt. Er hat gesagt: Wir brauchen pro 1 000 Einwohner etwa 20 Polizisten und Soldaten. Das ergibt eine Zahl von insgesamt 600 000, die deutlich über dem liegt, was 2010 in London als ausreichend erachtet wurde.
Deswegen ist dieses Mandat sinnvoll, notwendig und sollte fortgesetzt werden. Ich bitte Sie um Zustimmung.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Afghanistan ist ein von Krieg und Konflikten geprägtes Land. Seit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 kehrt dort keine Ruhe mehr ein. Brutale Kämpfe um die Macht haben den afghanischen Staat in den folgenden Jahrzehnten vernichtet. Spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 wissen wir, wie gefährlich gefallene Staaten sein können.
Afghanistan war lange Zeit unter der Kontrolle eines Terrorregimes. Ganze Generationen wissen heute nicht, was es bedeutet, in einer stabilen Gesellschaft zu leben. Dass sich die Dinge in so einem Land nicht von heute auf morgen ändern, dass ein solcher Einsatz unsere Geduld und Kraft fordert, halte ich für absolut nachvollziehbar. So wünschenswert ein schnelles Ende unserer Beteiligung auch sein mag, ein Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten zum jetzigen Zeitpunkt wäre kopflos und gefährlich für die Menschen in Afghanistan, aber auch für uns in Deutschland und in Europa.
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Ich werde nicht müde, zu betonen, dass die Flüchtlingskrise aus dem Jahr 2015 für uns alle eine Warnung sein muss. Die großen Krisen dieser Welt sind unmittelbar vor der Haustür Europas. Wenn wir wollen, dass diese Probleme nicht zu uns kommen, sondern vor Ort gelöst werden, dann darf man in Deutschland nicht nur über Frieden und Stabilität philosophieren, sondern dann muss man als Teil einer internationalen Verantwortungsgemeinschaft auch konkret handeln.
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Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass wir uns nicht mehr hinter unserem engsten Partner, den USA, verstecken können. Die globalen Konflikte sind komplexer geworden, und Deutschland muss lernen, nicht nur in Europa, sondern auch international mehr Verantwortung zu übernehmen.
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Wir, die Freien Demokraten, haben in den Debatten um dieses Mandat verschiedene Kritikpunkte geäußert. Wir sind Teil der Opposition und könnten es uns heute sehr leicht machen und mit Nein stimmen. Wir sind aber eine verantwortungsvolle Opposition und stehen für Sicherheit und zur außenpolitischen Verantwortung unseres Landes.
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Mit großem Wohlwollen haben wir die endlich vorliegende und dringend notwendige Gesamtbewertung des Einsatzes in Afghanistan begrüßt. Nun ist es wichtig, dass die Bundesregierung diese Bewertung regelmäßig fortsetzt und umfassend verbessert. Wir werden nicht müde, die Frage nach der Ausrüstung und der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten zu stellen, und wir werden auch ein kritisches Auge darauf haben, wie die vorgesehene Personalaufstockung erfolgen wird.
Meine Damen und Herren, nach 17 Jahren Afghanistaneinsatz ist eine strategische Veränderung des gesamten Einsatzes tatsächlich wichtiger denn je. Dabei muss nicht nur die Sicherheit im Vordergrund stehen, sondern auch die Vertiefung des Friedensprozesses und die Schaffung dauerhafter staatlicher Strukturen für einen afghanischen Staat. Die Probleme in Afghanistan wird man nicht mit militärischen Mitteln lösen, sondern noch wichtiger werden die zivilen Komponenten sein.
Im Gegensatz zu den Inhalten des neuen Irakmandates sehen wir in der Verlängerung der Beteiligung an Resolute Support die logische Konsequenz des bisherigen Einsatzes; denn wenn sich Deutschland hier aus der Verantwortung stiehlt, versinkt Afghanistan weiter in Chaos, Korruption und Konflikten. Noch mehr Menschen, noch mehr Flüchtlinge, würden versuchen, das Land zu verlassen.
Meine Damen und Herren, Deutschland kann die afghanische Regierung und die afghanischen Sicherheitskräfte mit diesem Mandat unterstützen. Letztendlich liegt es aber an der Regierung und an den Menschen vor Ort, den Fortschritt voranzutreiben und Reformen durchzusetzen. Jeder Ausblick auf Dialog und Stabilität ist dabei ein Lichtblick in dieser fragilen Region.
Die Freien Demokraten sind gegen einen kopflosen Rückzug und werden daher diesem Mandat zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Tobias Pflüger.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in Afghanistan sieht schlimmer aus, als das hier bisher beschrieben wurde. Laut den Vereinten Nationen sind 360 000 Menschen innerhalb von Afghanistan auf der Flucht – und in den Nachbarländern Iran und Pakistan weitere Millionen Flüchtlinge. 3,3 Millionen Menschen sind in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen. 2017 kamen 3 500 Zivilisten ums Leben. Bisher hat dieser Krieg dort 150 000 Tote gefordert.
Wir haben von der Bundesregierung einen „Perspektivbericht Afghanistan“ vorgelegt bekommen. Das ist interessant. Früher hieß dieser Bericht „Fortschrittsbericht Afghanistan“. Das ist ein kleiner realistischer Schritt hin zu der Erkenntnis, dass es offensichtlich keinen Fortschritt gibt.
Dieser Perspektivbericht enthält eine ganze Reihe von sehr bemerkenswerten Informationen. Es ist dort zum Beispiel zu lesen, dass die Lage in Afghanistan geprägt sei durch:
unzureichende Effektivität der staatlichen Verwaltung und Sicherheitskräfte, verstärkte Angriffe der Taliban sowie von IS-Gruppen, Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit, Flucht und Migration …
Kampfhandlungen, Anschläge und Entführungsgefahr erlauben Investitionen und Beratungsleistungen nur noch unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ...
Das waren beides Zitate aus dem Perspektivbericht der Bundesregierung. Um es klar zu übersetzen: Entwicklungshilfe in Afghanistan ist nahezu unmöglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diese Situation hinein will die Bundesregierung mehr Soldaten nach Afghanistan schicken als bisher. Auch da ist interessant, was dazu im Perspektivbericht steht: Die Bundeswehr könne nur die Hälfte der vereinbarten Ausbildungsverpflichtungen durchführen, und der Schutz der Ausbilder sei nicht gewährleistet. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich feststelle, dass ein Einsatz nicht funktioniert, dann verstärke ich ihn doch nicht dadurch, indem ich noch mehr Soldatinnen und Soldaten hinschicke, sondern ziehe daraus die Konsequenzen und sage: Die Bundeswehr muss aus Afghanistan abzogen werden.
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Offensichtlich ist es so, dass die Bundeswehrsoldaten hier nicht hilfreich sind.
Die Sicherheitslage in Kabul ist so, dass die deutsche Botschaft nicht arbeitsfähig ist. Die GIZ hat ihre Büros geschlossen. Es ist insgesamt so, dass Afghaninnen und Afghanen die Situation vor Ort sehr deutlich beschreiben. Ich will ganz kurz Malalai Joya zitieren: Afghanistan ist durch und durch korrupt.
Milliarden US-Dollar kamen von der sogenannten internationalen Gemeinschaft – für Bildung, den Wiederaufbau, Waisenbetreuung. Das meiste Geld ist aber in die Taschen von Warlords geflossen. Und Afghanistan ist heute der schlimmste Ort auf Erden für Frauen.
Ich finde das alles schon sehr heftig. Angesichts dieser Situationsbeschreibung kann ich nur sagen: Es ist und bleibt falsch, dass Bundeswehrsoldaten wegen der sogenannten Sicherheitslage nach Afghanistan geschickt werden, aber zugleich Menschen von hier aus nach Afghanistan abgeschoben werden.
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Wir als Linke sagen sowohl Nein zu der Stationierung von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan als auch Nein zur Abschiebung von Menschen von hier aus nach Afghanistan.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tobias Pflüger. – Der nächste Redner: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In jeder Kultur ist Neujahr mit neuen Hoffnungen verknüpft. Die Afghaninnen und Afghanen feiern in diesen Tagen Neujahr. Um es mit der üblichen Grußformel in der Landessprache zu sagen: Mardome-e-mohtarame Afghanestan Norouzetan Pirouz!
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Viele Menschen feiern. Vorgestern sind bei einer Feier inmitten von Kabul 30 Menschen einem Anschlag zum Opfer gefallen, weil auch Neujahrsfeierlichkeiten mittlerweile Ziele von Anschlägen sind. Die Zahl der Anschläge steigt massiv. In 70 Prozent des Territoriums sind mittlerweile wieder Taliban aktiv, ISIS ist im Land präsent. Die ethischen Spannungen nehmen zu. Die Antwort der Bundesregierung ist: Am kommenden Montag gibt es wieder eine Massenabschiebeflieger nach Kabul. Das ist einfach nur zynisch.
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Stattdessen sollte man Perspektiven schaffen. Aber auch da schafft es die Bundesregierung, alte Tabus zu brechen, indem sie unser ziviles Engagement in Afghanistan konditioniert und massiv mit der Frage der Rückführungen verknüpft. Auch das hat es bisher nicht gegeben. Auch das ist aus unserer Sicht einfach nur falsch.
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Bei der Abstimmung über dieses Mandat wird es so sein, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen und auch ich dem Mandat zustimmen, weil wir glauben, dass die afghanischen Sicherheitskräfte weiter ausgebildet werden müssen, weil uns die Afghaninnen und Afghanen brauchen und weil die momentane Sicherheitslage einen höheren Schutz durch eigene Kräfte erfordert. Aber ich kann sehr gut die Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion verstehen, die diesem Einsatz nicht zustimmen werden. Wir teilen ihre sehr berechtigten Fragen und das große Misstrauen, das sie gegenüber der Bundesregierung und ihrem bisherigen Vorgehen haben, weil es auch unsere Fragen und auch unser Misstrauen sind.
Das Misstrauen und die Fragen beziehen sich auf viele Bereiche. Ich will mich auf drei beschränken. Ist diese Ausbildung nachhaltig? Die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte kostet jährlich 4,3 Milliarden Dollar. Ich rede nur über die Gehälter. Gibt es ein Commitment? Gibt es ein Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft, dies weiterhin fortzusetzen? Wenn ja, wie soll das gehen? Wenn nein, wofür bilden wir langfristig aus?
Es geht auch um die Frage der Polizei. Die Polizeiausbildung ist unglaublich wichtig. Dieser Punkt kommt in den Debatten immer zu kurz. Er ist strategisch von großer Bedeutung. Während Deutsche Polizeikräfte ausbilden, bilden die Amerikaner die „Afghanische Lokalpolizei“ aus, die auf riesiges Misstrauen in der eigenen Bevölkerung stößt.
Es gibt – weil ich gerade bei den Amerikanern bin – noch eine weitere Frage. Es gibt bisher keine Erklärung der Bundesregierung, wie sie mit dem Elefanten im Raum umgehen will. Donald Trump hat in seiner Rede wortwörtlich gesagt: „Wir sind nicht in Afghanistan, um Staatsaufbau zu betreiben, sondern um Terroristen zu töten.“ Damit verkennt er massiv, dass einer der wichtigsten Motoren der Radikalisierung im Land genau der fehlende Staatsaufbau ist. Wie geht die Bundesregierung damit um? Wie soll das zusammenpassen? Darauf haben wir bisher keine Antwort bekommen.
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Ganz wichtig ist auch: Die Bundesregierung verweigert seit sehr langer Zeit eine unabhängige Evaluation des Einsatzes in Afghanistan.
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Das ist aber umso bemerkenswerter, weil wir jetzt gerade auch in Mali und im Irak Ausbildung betreiben. Da sollte man schon untersuchen, was man an anderer Stelle falsch gemacht hat, damit man daraus lernt.
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Die Kritik sollte die positiven Tendenzen nicht verschleiern. Ja, es gibt im zivilen Bereich auch Entwicklungen, wenn auch weit langsamer, als man sich gewünscht hat. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben einen unglaublichen Blutzoll geleistet; dennoch stehen sie weiterhin. Dieser Tage gab es eine Friedenskonferenz mit einem sehr konkreten Friedensangebot des afghanischen Präsidenten an die Taliban, auf das die Antwort noch weitgehend aussteht. Ich glaube, dass dieses Friedensangebot unser aller Aufmerksamkeit und Unterstützung dringend braucht.
Ich möchte mit Dankesworten an die Soldatinnen und Soldaten schließen, die unter widrigsten Umständen ihren Dienst leisten, an die Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer, die schon mehrfach nicht nur Anschlägen zum Opfer gefallen sind, sondern auch entführt worden sind, an die Diplomatinnen und Diplomaten, deren beide Hauptgebäude in Masar-i-Scharif und Kabul nicht mehr stehen, und, was man, wie gesagt, nicht vergessen darf, an die Polizistinnen und Polizisten, die vor Ort eine unglaubliche Arbeit geleistet haben und weiterhin leisten. Unbenommen davon, wie meine Fraktion abstimmen wird: Sie haben unsere Unterstützung und vor allem unseren Dank.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Machen wir uns doch nichts vor: Der Alltag in Afghanistan ist Alltag in Gewalt und Terror. Bei uns ist die Wahrnehmung: Über Anschläge wird berichtet, wenn auch nicht über jeden alltäglichen, sondern meistens nur über spektakuläre Anschläge. Junge Menschen, alte Menschen, Frauen, Männer und Kinder verlieren ihr Leben und werden bei uns oft zu Zahlen. Wir lesen, wo der Sprengsatz gezündet wird, vielleicht noch einen Absatz mit Hintergrundinfos. Dann wird das abgehakt, nächste Meldung. Sie ist vielleicht interessanter.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verstehen Sie mich nicht falsch: Ich nehme es niemandem im Land übel, wenn das Interesse an schlechten Nachrichten sinkt und sinkt, und ich verstehe die Menschen draußen in unserem Land, von denen nicht wenige fragen: Was sollen wir dort? Weshalb setzen wir unsere Soldatinnen und Soldaten dieser Gefahr aus?
Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, diese Fragestellungen und die Antworten darauf dürfen für uns in diesem Hohen Haus nicht gelten. Denn wir dürfen nicht wegschauen. Wir dürfen uns nicht unsere eigene Welt malen.
Warum, meine sehr verehrten Damen und Herren? Zum einen, weil wir gewählt wurden, um Politik zu machen, Verantwortung zu übernehmen und, was immer wichtiger wird, auch Lösungen zu finden, und zum anderen, weil wir nicht in diesem Hause sind, um wegzuschauen und zu verdrängen. Denn wer ohne Scheuklappen und mit klarem Blick hinschaut, der sieht auch die kleinen Erfolge und Veränderungen, die das Leben der Menschen verbessern. Diese Erfolge gäbe es ohne unser Engagement nicht.
Es gibt zum Beispiel den Frauenrat im Westen von Herat. Dort setzt sich eine Kooperative von Frauen mit dem Anbau und Vertrieb von Safran gegen eine Männerwelt durch, bietet Literatur-, Englisch- und Fotokurse, Schönheitssalons, führt Computerausbildung durch. Das wäre ohne unseren Einsatz undenkbar. Ein weiteres Beispiel ist das Frauenmagazin „Gellarah“, das über die gesellschaftlichen Veränderungen im Lande schreibt und genau dort hingeht, wo es kein Radio, TV oder Internet gibt.
Auch das ist Afghanistan. Das ist das Afghanistan, für das wir jedoch Geduld brauchen – strategische Geduld – und gleichzeitig Haltung. Diese zwei Beispiele allein rechtfertigen es schon, unser Engagement in Afghanistan fortzusetzen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Was alles in Afghanistan schiefläuft, haben wir bereits zur Genüge gehört. Wir müssen schonungslos zugeben, dass sich die Sicherheitslage erheblich verschlechtert hat und dass der Konflikt weitere Opfer fordert. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass der zuvor angekündigte Quasirückzug aus Afghanistan im Jahr 2014 nach dem Motto „Was sollen wir dort?“ einfach nur albern war und dass ein festgelegtes Datum, wie es der eine oder andere will, uns keinen Schritt voranbringt, sondern eher ein Machtvakuum erzeugt, das Terrorgruppen Raum gibt.
Der Grund, weshalb es notwendig ist, die Mandatsobergrenze zu erhöhen, ist, den Menschen in Afghanistan Perspektiven zu verschaffen, und zwar gegen Drogenanbau, Korruption und Klientelismus. Bei allen Problemen, Hindernissen und begangenen Fehlern in den vergangenen Jahren ist es einfach, zu sagen: Raus aus Afghanistan! Das bringt nichts. Sollen die doch ihr Zeug selber machen! – Ich höre von vielen die Frage, was uns das angeht. Wenn wir aber eines gelernt haben, dann, dass es auch uns in Deutschland etwas angeht und dass es überhaupt nichts nutzt, sich zu verschanzen und wegzuschauen. Das schafft keine Perspektiven, verhindert keinen Terror, finanziert kein UN-Hilfsprogramm, schafft keine Sicherheit, schützt keine zivilen Helferinnen und Helfer und schafft keinen gesellschaftlichen Aufbau. Wir müssen dranbleiben im Interesse der afghanischen Bevölkerung. Wir müssen der Bundeswehr den Rücken stärken und unsere Soldatinnen und Soldaten gut ausrüsten. Was wir jetzt brauchen, sind Haltung und strategische Geduld. Wir wünschen den Soldaten, gut nach Hause zu kommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Der nächste Redner ist Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute die Verlängerung des Mandats für die Fortsetzung der Beteiligung an dem Einsatz Resolute Support in Afghanistan. Für die Auslandseinsätze der Bundeswehr gibt es einen klaren Grund: Das ist die Sicherheit unseres Landes. Mit diesem Mandat verstärken wir die Sicherheit unseres Landes; denn von Afghanistan aus darf nicht wieder Terror kommen, der Anschläge in der freien Welt verübt. Afghanistan darf nicht wieder Brutstätte werden. Das ist ein langer Weg. Er erfordert noch viel Engagement. Aber es ist verantwortungsvolle Politik – auch für unser Land –, dieses Mandat zu verlängern. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen dafür genauso wie unser Koalitionspartner; Herr Dr. Brunner hat bereits darauf hingewiesen. Ich danke auch der FDP, dass sie klar zu dieser Verantwortung steht.
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16 Jahre sind vergangen, seitdem Rot-Grün diesen Einsatz erstmalig beschlossen hat. Dieser Einsatz war und bleibt gefährlich. Wir denken heute auch an die Soldaten, die verwundet worden sind, und die Angehörigen von Soldaten, die gefallen sind. Dieser Einsatz ist ein Sinnbild dafür geworden, dass wir für die Sicherheit unseres Landes auch außerhalb unseres Bündnisgebietes etwas machen müssen; denn die Sicherheit wird auch außerhalb des Bündnisses verteidigt. Der damalige Verteidigungsminister Struck hat das mit seiner sinnbildlichen Aussage „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ deutlich zum Ausdruck gebracht.
Aber politische Strömungen hier im Hause wollen daraus Kapital schlagen. Die Linke und die AfD sind wieder einmal Hand in Hand dabei, diesen Einsatz abzulehnen.
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Sie verweigern Menschen Hilfe.
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Sie sind damit auch ein Wegbereiter dafür, dass Menschen das Land verlassen und fliehen müssen.
Ich sage an die Adresse der AfD: Man wird wieder deutlich sehen, dass Sie nur nationale Politik machen. Sie wollen immer, dass Fluchtursachen bekämpft werden, sind aber nicht bereit, Verantwortung zu tragen. Ich frage den Vorredner von der AfD: Wer ist denn hier politisch kopflos? Ich glaube, dass das eher Sie sind.
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Es geht darum, Afghanistan so zu stabilisieren, dass jemand, der hier kein Aufenthaltsrecht hat, zurückgeführt werden kann. Natürlich muss der Einzelfall betrachtet werden. Aber es gibt Regionen in Afghanistan, die stabil sind. Unser Mandat soll gerade dazu beitragen, dass einzelne Zonen noch stabiler sind. Deswegen müssen wir uns für dieses Mandat entscheiden.
Bei den Grünen sollte nicht einer dafür und einer dagegen sein, während der Dritte nicht weiß, was er tun soll. Ich ermuntere die Grünen, vielmehr zu sagen: „Ja, wir übernehmen Verantwortung“, weil man das Land stabilisieren will.
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Wir erhöhen jetzt die Anzahl der Soldaten, die dieses Mandat erfüllen: von 980 Soldaten auf 1 300 Soldaten. Dadurch können wir noch mehr ausbilden, und dadurch können unsere Soldaten auch besser geschützt werden.
Mir ist eben bei der Rede von Herrn Dr. Pflüger etwas aufgefallen. Er sagte: Es gibt dort bei der Ausbildung Verbesserungsbedarf, und weil es Verbesserungsbedarf gibt, müssen wir die Anstrengungen beenden. – Das ist quasi so, als wenn man sagt: Weil ein Kind schlecht in der Schule ist, muss es von der Schule genommen werden. – Ja, was ist denn das für ein politisches Verständnis?
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Wir sagen: Wir treten für die Sicherheit unseres Landes ein, für die Stabilisierung. Wir übernehmen Verantwortung, und wir sagen den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Helfern, den Polizisten und der internationalen Verantwortungsgemeinschaft Dank, dass sie dort diesen Einsatz leisten.
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Wir als CDU/CSU- und SPD-Fraktion sagen: Wir stehen zu diesem Mandat, und wir tragen Verantwortung. Deswegen bitten wir um Zustimmung.
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Vielen Dank, Henning Otte. – Ich darf wie vorher darum bitten, dass die Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen. Das ist eine sehr wichtige Debatte, nach der wir eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen haben. Ich bitte alle, Platz zu nehmen – das gilt auch für den Gesundheitsminister – und dem letzten Redner in dieser Debatte Gehör zu schenken. Das ist Dr. Wolfgang Stefinger für die CSU/CDU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Seit 17 Jahren ist die internationale Staatengemeinschaft in Afghanistan präsent und unterstützt das von Krieg und Terror gebeutelte Land am Hindukusch bei der Wiederherstellung von Sicherheit, beim Wiederaufbau und bei der Entwicklung.
Zugegeben, das internationale Engagement in Afghanistan ist mühsam. Das Land ist seit Jahrzehnten durch kriegerische Konflikte und ethnische Spannungen geprägt; aber das Engagement ist notwendig und richtig. Unser Ziel ist, die afghanische Regierung und Gesellschaft weiterhin beim Wiederaufbau zu unterstützen, auch wenn die Sicherheitslage in einigen Landesteilen nach wie vor als schwierig gilt und wir im Stabilisierungsprozess einige herbe Rückschläge hinnehmen mussten.
Wir wollen aber alles daransetzen, damit das Land eine Zukunft hat; denn wir dürfen nicht zulassen, dass die Taliban erneut die Herrschaft ergreifen.
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Deshalb ist es unabdingbar, dass Deutschland seine Beteiligung an der NATO-geführten Mission zur Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte fortführt und in Teilen ausweitet. Es wäre doch fatal, würden wir das bisher Erreichte, den mühevollen Einsatz Tausender von Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfern aufs Spiel setzen und die Menschen den radikalen Kräften und damit sich selbst überlassen.
Damit ein Wiederaufbau und die Entwicklung Afghanistans möglich sind, braucht es funktionierende und schlagkräftige Sicherheitskräfte. Die deutschen Soldaten leisten dazu einen wesentlichen Beitrag.
Deutschlands Engagement beschränkt sich aber keineswegs auf militärische Mittel; denn es gibt in diesem Konflikt keine rein militärische Lösung. Gerade beim zivilen Wiederaufbau leisten wir eine ganze Menge. Wir tragen wesentlich dazu bei, dass die Menschen Zukunftsperspektiven bekommen, etwa durch Investitionen in Bildung und Gesundheit. Deutschland investiert jährlich rund 250 Millionen Euro für Entwicklungsmaßnahmen und 180 Millionen Euro für die Stabilisierung des Landes; denn Entwicklung braucht Sicherheit.
Dank des Einsatzes des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung können Lehrer für den Grund- und Sekundarbereich ausgebildet werden. Durch unser Engagement erhalten 100 000 junge Menschen Zugang zu Bildung und damit die Möglichkeit einer beruflichen Zukunft.
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Während das Bildungssystem unter den Taliban vollständig zum Erliegen kam und Mädchen der Schulbesuch untersagt war, besuchen heute 74 Prozent der Mädchen und 98 Prozent der Buben im Grundschulalter die Schule. Das ist ein beachtlicher Schritt nach vorn, wie ich finde.
Seit 2002 wurden dank unserer Unterstützung in Afghanistan über 600 Bildungseinrichtungen gebaut und ausgestattet. Wir haben Hunderte Lehrkräfte ausgebildet und unterstützen die Erarbeitung von Lehrplänen.
Auch beim Aufbau eines landesweiten Berufsbildungssystems engagieren wir uns tatkräftig. Wir haben Berufsschulen errichtet und 50 Berufsschulen mit einer Grundausstattung versorgt. Aktuell durchlaufen 14 000 Jugendliche eine Ausbildung, darunter fast ein Viertel Frauen.
Ich möchte damit zeigen, wie wichtig das Engagement Deutschlands vor Ort ist und wie wichtig es vor allem ist, sich in einem einigermaßen sicheren Umfeld bewegen zu können. Entwicklung kann nur in einem stabilisierten Umfeld erfolgen, und dazu muss sich Deutschland weiter einbringen. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
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Vielen Dank, Dr. Stefinger. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1301, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1094 anzunehmen. Wie manche von Ihnen zu wissen scheinen, stimmen wir namentlich ab.
Ich möchte Ihnen noch bekannt geben, dass zu diesem Tagesordnungspunkt mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vorliegen.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben die Plätze wohl schon eingenommen. Sind alle Urnen besetzt? – Ich höre und sehe nichts Gegenteiliges. Das ist also der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ich darf Sie auf der rechten Seite auf Folgendes hinweisen: Wenn Sie zur Abstimmung nach vorn kommen, sind wir schneller durch. Wir sind entsetzlich in Zeitverzug.
Letzter Aufruf: Sind Kolleginnen und Kollegen im Saal, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? – Nein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung wird Ihnen bekannt gegeben, sobald es uns vorliegt.
Wir sind mitten in einer Debatte. Ich bitte, Platz zu nehmen, die Gespräche einzustellen, sonst machen wir hier oben einfach nicht weiter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, es ist sehr spät, aber ich bitte Sie, jetzt weiter aufmerksam zu sein, Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen, wenn Sie der Debatte nicht beiwohnen wollen. Danke schön.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben“,
sagte einst Alexander von Humboldt. Die Region um das Mittelmeer ist von starker Instabilität geprägt. Diese Bedingungen nutzen Kriminelle immer wieder. Deswegen wollen wir heute das Mandat Sea Guardian verlängern; denn in einer globaleren Welt ist es wichtig, dass wir den Überblick behalten. Das ist die primäre Aufgabe des Mandates: ein Lagebild von der Situation im Mittelmeer zu erstellen.
Im Gegensatz zu der Vorgängermission Operation Active Endeavour, die sich zentral auf die Beistandsklausel, also den sogenannten NATO-Bündnisfall, aus Artikel 5 des NATO-Vertrags berufen hat, gründet sich dieses Mandat auf NATO-Beschlüsse, Resolutionen des UN-Sicherheitsrats sowie auf Regeln des Völkerrechtes.
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– Bei meiner anderen Rede war es auch schon so. An die Herren von der AfD: Jede Klasse in meinem vorherigen Berufsleben war disziplinierter als Sie im Plenum.
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Bitte weitermachen in der Debatte.
Vielen Dank. – Unsere Marine leistet sehr gute Arbeit und beliefert unsere Bündnispartner mit kritischen Informationen, die dafür sorgen, dass die Seewege sicher sind und Wirtschaftsgüter unbeschadet bei uns in Deutschland ankommen. Der vernetzte Ansatz zwischen der EU und der NATO wird bei diesem Mandat gelebt. Sea Guardian und die European Union Naval Force Mediterranean Sea der Operation Sophia haben unterschiedliche Zielrichtungen, kooperieren aber miteinander.
Weil es in der vorherigen Debatte nicht ganz klar war, möchte ich es einander gegenüberstellen: Sophia fährt unter der Flagge der Europäischen Union; Sea Guardian ist ein Mandat der NATO. Sophia bekämpft den Menschenhandel der Schleuser und Schlepper; Sea Guardian kümmert sich um die Seeraumüberwachung und Ausbildungsunterstützung. Sophia umfasst 25 europäische Nationen mit durchschnittlich 1 200 Soldatinnen und Soldaten und Zivilpersonal. Sea Guardian ist eine gemeinsame Kooperationsplattform mit Akteuren im Mittelmeerraum, Staaten wie Organisationen. Schiffe klinken sich dabei bei der Durchfahrt zu anderen Zielen temporär ein und können so einen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben leisten. Sie sehen: Es sind verschiedene Mandate.
Es gibt drei Punkte, die mich bei dem Mandat Sea Guardian überzeugen: der klare Auftrag, die Praktikabilität und die rechtliche Einordnung. Erstens. Der Auftrag und die Aufgaben von Sea Guardian orientieren sich an den Vorgaben der maritimen Strategie der NATO. Zweitens. Die flexible Teilnahme am Mandat durch das Einklinken bei der Durchfahrt zu anderen Zielen ist ein moderner Ansatz, den es auch bei zukünftigen Einsätzen geben wird. Das ist der pragmatische Weg für die Marine, diesen Einsatz gewährleisten zu können. Drittens. Das Mandat steht rechtlich auf sicheren Beinen, und die Soldaten erledigen die Aufgaben, für die sie ausgebildet wurden.
Ich möchte noch einen Punkt betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen, der häufig missverstanden wird: Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung muss nicht Teil dieses Mandats sein; sie ist bereits durch ein internationales Abkommen geregelt.
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Dieses Übereinkommen von 1979 sollte ein internationales System der Koordinierung von Seenotrettungseinsätzen schaffen, und alle Länder, die dem Übereinkommen beigetreten sind, müssen Seenotrettungsleitstellen einrichten und ausgebildetes Personal bereitstellen – so natürlich auch die Länder der Europäischen Union.
Ebenso greift das Refoulement-Verbot, der Grundsatz der Nichtzurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Es besagt, dass kein Mensch, der aufgrund seiner Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung bedroht wird, aus- oder zurückgewiesen werden darf – so selbstverständlich auch auf dem Mittelmeer.
Das ist einmal der Hintergrund für uns mit der klaren Betonung, dass die Schiffe, die am Mandat Sea Guardian teilnehmen, diese Aufgaben wahrnehmen, wenn sie Menschen tatsächlich entdecken, die in Seenot geraten sind. Und ja, das ist richtig, und dafür gebührt ihnen unser Dank.
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Was mich jedoch in der letzten Woche und auch in dieser Woche im Ausschuss gestört hat, war der Entschließungsantrag der AfD-Fraktion. Überall wurde er eingebracht: im Plenum, im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss. Ich frage mich: mit welchem Ziel eigentlich?
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– Ich beweise Ihnen ja gerade, dass es nicht so ist.
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– Beweisen Sie mir mal das Gegenteil! – Damit wir eben nicht über das Mandat sprechen, sondern über Geflüchtete. Damit wir eben nicht über das Mandat sprechen, sondern über sogenannte irreguläre Migration. Damit wir alle unterschiedlichen Mandate, die im Mittelmeer agieren, in einen Topf werfen. Damit Sie Angst schüren können, statt sachlich zu diskutieren.
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Sie bezwecken, dass wir uns in Ihrer verqueren Logik verheddern. Ich möchte mich darauf nicht einlassen.
Ich komme zu Ihrem Antrag. Sie verdrehen die Tatsachen. In Ihrem Antrag begrüßen Sie Frontex und die Operation Themis. Das ist schon einmal bemerkenswert genug; denn es ist eine europäische Operation. Sie sagen: Frontex und die Operation Themis würden die sogenannten „Transfergeldempfänger“ in den „nächsten, sicheren Hafen“ bringen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht falsch. Ein Blick in das Mandat würde helfen. Sie unterschlagen das kleine wichtige Wort europäisch. Themis sieht vor, dass aufgenommene Menschen nicht mehr zentral nach Italien gebracht werden, sondern auch in andere europäische Häfen gebracht werden können. Themis ist eine solidarische europäische Operation und keine Operation, die fremde Hoheitsgebiete verletzt.
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Sie wollen der Bundeswehr, die Ihrer Ansicht nach bereits überfordert ist, auch noch Aufgaben übertragen, die nicht nur nicht zu meistern sind, sondern auch gar nicht zum Aufgabengebiet der Bundeswehr gehören. Das ist das Gegenteil von Praktikabilität.
Sie fordern das Eindringen in fremde Seegebiete, sogar in fremde Territorien, und die Zurückführung von Geflüchteten. Das ist das Gegenteil der Einpassung des Mandates in internationale Gesetzgebung. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF. Sie haben hierfür weder ein Mandat noch haben sie eine entsprechende Ausbildung. Das, was Sie von der Bundeswehr verlangen, ist international organisatorisch, personell und rechtlich nicht möglich.
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Sea Guardian hat einen klaren Auftrag, nämlich die Erstellung von Lagebildern, die Aufklärung im Kampf gegen Waffenschmuggel und Schleppernetze und nicht die Bekämpfung Schiffbrüchiger.
Eines möchte ich noch sagen: Die von Ihnen verwendete Sprache ist durchaus geschickt gewählt. Sie benutzen Begriffe wie einen Code, wie einen Subtext, der aber tatsächlich Ihre wahren Ansichten enttarnt.
Was ist denn bitte „irreguläre Migration“? Was wäre denn dann „reguläre“? Die regelmäßige Migration von der Schweiz in den Bundestag?
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Sie erwähnen „Afrika“, als sei es ein ferner, unbekannter Kontinent, der zu einem einzigen gesichtslosen Land verschmilzt – in Ihrer Weltanschauung eine Bedrohung. Aber die Länder Nordafrikas liegen in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft. Es sollte auch in unserem Interesse sein, zu einer guten Zusammenarbeit zu kommen. Aber genug zu Ihrem Entschließungsantrag; ich glaube, ich habe genug Redezeit darauf verwandt.
Ich komme zurück zu dem Mandat, das wir eigentlich beschließen wollen. Stimmen wir dem Mandat zu! Stimmen wir für mehr Sicherheit und Stabilität im Mittelmeerraum! Stimmen wir für sichere Handelsrouten, damit wir nicht in alte Zeiten zurückfallen, in denen Chaos und Piraten über das Mittelmeer herrschten!
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Möller, jetzt hören Sie mal zu, da können Sie noch was lernen!
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Mit Kosten von etwa 6 Millionen Euro gehört der Sea-Guardian-Einsatz zu den günstigeren Bundeswehrmandaten. Trotzdem muss auch dieses Mandat vernünftig begründet werden können. Wir haben nicht nur gegenüber dem Steuerzahler, sondern auch gegenüber der Marine eine Verantwortung, die aufgrund personeller und materieller Engpässe an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit stößt.
Die Aufgaben von Sea Guardian, also Schutz von Bündnispartnern sowie Kampf gegen Terror und Waffenschmuggel im Mittelmeer, klingen auf dem Papier erst einmal sinnvoll. Tatsächlich erfordert die Sicherheitslage im Mittelmeer diesen Einsatz aber nicht. Im Mittelmeer ist ein ständiger maritimer Einsatzverband der NATO mit mehreren Fregatten präsent. Dieser Einsatzverband schützt das NATO-Bündnis und sorgt für ein Lagebild im Mittelmeer. Ein Sea-Guardian-Mandat wird dafür nicht benötigt.
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In den Reden zu Sea Guardian wird immer wieder gerne betont, wie wichtig freie Handelswege zur See seien. Das ist richtig, aber es geht am Kern vorbei; denn nicht die allgemeine Wichtigkeit des Seehandels, sondern die Bedrohungslage im Mittelmeer muss hier bewertet werden. Wie viele Terroristen wurden denn im Rahmen von Sea Guardian bisher bekämpft und wie viele Waffenschmuggler aufgebracht? Den Feind, dem hier zu Leibe gerückt werden soll, gibt es nicht. Ich bin froh, nicht Mitglied von CDU oder SPD zu sein
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und mir irgendeinen Unsinn ausdenken zu müssen, um darüber hinwegzutäuschen.
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Für Außenstehende kann das bisweilen ganz lustig sein. Vonseiten der CDU hört man, dass gerade deshalb weder Waffenschmuggler noch Terroristen im Mittelmeer seien, weil sie Angst vor Sea Guardian hätten. Dass noch kein einziger Terrorist bekämpft und kaum Waffenschmuggler aufgegriffen wurden, sehen Sie als großen Erfolg.
Zu diesem rhetorischen Geniestreich beglückwünsche ich die CDU ausdrücklich; denn damit sind zukünftigen Mandaten keinerlei Grenzen mehr gesetzt. Auf einer solchen Grundlage könnten Sie auch ein Mandat zur Abwehr von Dinosauriern beschließen. Wenn keine Dinosaurier auftauchen, sagen Sie: Sehen Sie, so gut wirkt unser Mandat.
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Teil des Auftrages von Sea Guardian – jetzt wird es für Sie interessant, Frau Möller – ist auch die informationelle und logistische Unterstützung der Operation Sophia. Wir beschließen also heute ein Mandat, dessen Aufgabe es ist, die Operation Sophia bei ihrer Auftragserfüllung zu unterstützen. Sea Guardian und Sophia arbeiten eng zusammen. Dass es auch in Zukunft so bleiben soll, geht aus dem Antrag der Bundesregierung klar hervor. Und da soll es egal sein, worin der Auftrag besteht, den wir unterstützen? – Wer kritisiert, dass in unsere Bewertung des Sea-Guardian-Einsatzes auch eine Bewertung der Operation Sophia einfließt, der hat bewiesen, dass er keine Lust hatte, den Antragstext zu lesen, oder dass ihm eine vollständige Betrachtung des Themas zu anstrengend war.
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Die Operation Sophia richtet sich gegen irreguläre Migration und hat selbst bisher 36 000 Migranten nach Europa gebracht. Was Thomas de Maizière über Mare Nostrum sagte, stimmt auch hier: Das Mandat ist eine Brücke nach Europa.
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Daran hat Sea Guardian als eines der Augen der Operation Sophia seinen Anteil. Ich freue mich über jeden Geretteten. Aber wir müssen anerkennen, dass die Verbringung durch deutsche Streitkräfte längst Teil der Schlepperstrategie geworden ist.
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Eine direkte Rückführung nach Afrika trocknet den Schleppermarkt aus und verhindert für die Zukunft lebensgefährliche Überfahrten.
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Unser Entschließungsantrag ist die effektivste Lösung.
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Die übrigen Fraktionen wollen aber auch in Zukunft Migranten nach Europa fahren. Das müssen Sie dann Ihren Wählern erklären.
Wir werden dem Antrag und dem Mandat heute nicht zustimmen.
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Danke schön. – Nächster Redner: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich jedes Problem wie Ton oder Matsch zurechtformt und mit dem Hammer darauf einschlägt, muss sich nicht wundern, wenn er sich mit Unkenntnis befleckt; denn die Herausforderungen, die wir im Mittelmeerraum haben, gleichen einem facettenreichen Brillanten, den man sehr ziseliert bearbeiten muss.
Die Operation Sea Guardian ist wirklich ein gelungenes Beispiel beharrlicher deutscher Diplomatie und auch intensiver Mitwirkung dieses Hohen Hauses. Es war nämlich die Bundesrepublik, die vor einigen Jahren erreicht hat, dass aus dieser Artikel-5-Mission eine Unterstützungsmission für die Nachbarn im südlichen und östlichen Mittelmeerraum geworden ist. Der Mittelmeerraum berührt unsere Interessen unmittelbar.
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Betrachten Sie den Mittelmeerraum: Das Mittelmeer ist nicht nur eine Grenze, sondern es ist auch eine Brücke nach Afrika, und es geht darum, diese Brücke zu schützen und zu helfen, dass über diese Brücke Wissen, Können und vor allen Dingen auch menschliches Know-how gelangen kann.
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In diesem Zusammenhang ist diese Mission mit ihren drei Aufgaben besonders hervorzuheben. Es geht nicht nur um Terrorbekämpfung zur See, es geht nicht nur um die Erstellung von Lagebildern, sondern es geht auch um den Aufbau von Fähigkeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Sie über Interventionismus sprechen, und der Rechten, die Sie über Abschottung sprechen: Es geht hier um die ganz klare Frage, wie wir diese Mission attraktiv halten.
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Da überzeugt uns die Wirklichkeit; denn neben Israel und Jordanien haben Algerien, Tunesien, Marokko und – siehe da – auch Ägypten ein Interesse an einer Mitarbeit angemeldet. Das machen diese Staaten nicht, weil sie in Sorge sind, dass dort interveniert wird oder dass wir uns abschotten, sondern weil sie etwas lernen wollen in der Frage, wie man Nachrichten aufgreift, wie man ein Lagebild erfasst, aber auch, wie man sich gegenseitig ausbildet. Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen gemeinsamen Verantwortungsraum im Mittelmeer zu gestalten, und das ist die Chance dieser Operation.
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Unser Parlament hat im Übrigen in dieser Woche wieder die Delegation für die Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum ins Leben gerufen. Die Delegation dieses Hauses wird Ende April an der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum in Ägypten, in Kairo, teilnehmen. Die Frage, die wir dort behandeln, ist eben auch: Wie können wir beidseits des Mittelmeeres besser miteinander zusammenarbeiten? Ich glaube, es hilft dann schon, auf diese Bereiche zu schauen und den Fähigkeitsaufbau zu unterstützen.
Abschließend noch ein Gedanke, weil wir auch weiter schauen müssen. Wir beraten heute fünf verschiedene Missionen und stimmen darüber namentlich ab. Mir und auch der CDU/CSU-Fraktion geht es darum, dass wir diese Operationen miteinander verknüpfen. Europa steht vor den größten Herausforderungen der Neuzeit. Es geht darum, ob die regelbasierte internationale Ordnung Bestand hat. Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir gemeinsam mit unseren engsten Partnern in Frankreich und Italien an einer gemeinsamen strategischen Kultur der Verantwortung arbeiten, statt das immer nur zu postulieren wie bei der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der Juncker von der Weltpolitikfähigkeit der europäischen Staaten gesprochen hat.
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Es geht also darum, dass wir praktische Maßnahmen ergreifen. Eine dieser praktischen Maßnahmen ist diese Mission, verbunden mit Entwicklungszusammenarbeit, in Kooperation mit der Mission Sophia und verbunden mit vielen anderen Bereichen. Ich unterstütze ausdrücklich das Vorgehen unserer Entwicklungszusammenarbeit mit dem Compact with Africa.
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All dies zusammengenommen bildet die strategische Komponente, die wir brauchen. Und das ist kein Placebo,
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sondern es ist ein wirksames Mittel; ich nenne es nicht Heilmittel. Es liegt jedoch in unser aller Interesse, dass es im Alltag zu unserer Arbeit gehört, den Mittelmeerraum als Teil unserer wertegeleiteten, aber auch interessenorientierten Außenpolitik zu sehen. Dafür werbe ich. Deswegen stimmen wir von der CDU/CSU auch für diesen Antrag.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Nächster Redner in der Debatte für die FDP-Fraktion: Christian Sauter.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sea Guardian ist ein Dach für Vorhaben der NATO. Ein Hauptbestandteil Sea Guardians ist die Unterstützung der weiteren Missionen im Mittelmeer wie Sophia und die tatsächliche Kontrolle des Seeverkehrs. Die Mission beinhaltet auch die Möglichkeit, Streitkräfte verschiedener Mittelmeeranrainer und anderer Staaten auszubilden. All das verbirgt sich hinter diesem doch eher weitreichend gefassten Entwurf der Bundesregierung. Dieses Mandat ist in seiner Formulierung recht unbestimmt.
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Daher ist die Forderung an die Bundesregierung zu richten, in Zukunft bestimmtere Mandate zu formulieren.
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Den Hauptzweck der Operation Sea Guardian, die Erstellung eines umfassenden Lagebildes, sehe ich jedoch als entscheidenden Punkt des Mandates an. Für die NATO ist es von hoher Bedeutung, zu wissen, welcher Seeverkehr auf dem Mittelmeer stattfindet und welche Sicherheitslage sich daraus ergibt, nicht zuletzt deshalb, weil ein Drittel des gesamten Seeverkehrs über das Mittelmeer abgewickelt wird. Die Sicherheit Europas profitiert davon, und die politische Lage des Nahen Ostens und Afrikas machen eine umfassende Seeraumüberwachung zu einem Gebot.
Die Herstellung von Sicherheit ist ein wichtiges Gemeinschaftsgut, das ein Staat seinen Bürgern bereitstellen muss. Im Angesicht globaler Bedrohungen sind daher Missionen im Rahmen der NATO und auch auf europäischer Ebene unerlässlich. Die Vernetzung dieser verschiedenen Arten von Einsätzen – Sea Guardian als NATO-Einsatz, Sophia als Einsatz der Europäischen Union und UNIFIL als Einsatz unter dem Dach der Vereinten Nationen – ist nach meiner Auffassung eine große Stärke. Gemeinsames und vernetztes Agieren der verschiedenen Akteure sorgt für Synergien und lässt unseren Partnerländern die Möglichkeit, selbst anhand ihrer Fähigkeiten und Stärken am gemeinsamen Schaffen der Sicherheit mitzuwirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion über die Auslandseinsätze der Bundeswehr steht weiterhin unter dem Schatten der mangelnden materiellen Einsatzfähigkeit der Hauptwaffensysteme. Die Soldaten leiden unter den Folgen, im Alltag wie auch im Einsatz. Ich hoffe, dass die neuen Staatssekretäre auch neue Konzepte mitbringen, um diese Probleme zu überwinden.
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Unsere Partnerländer erwarten von uns, dass wir in Zukunft in Missionen wie Sea Guardian mehr Verantwortung übernehmen können. Wie wir in Zukunft dazu in der Lage sind, muss die Bundesregierung zeigen. Bisher habe ich einige Ankündigungen gehört, wie gestern bei der Regierungserklärung der Kanzlerin. Taten müssen aber folgen, sodass den Ansprüchen Genüge getan wird, auch den Ansprüchen, die im Mandatstext formuliert wurden.
Mein Dank gilt an dieser Stelle den Soldaten, die Sea Guardian zu einem Erfolg machen.
Wir als Fraktion der Freien Demokraten stimmen dem Einsatz Sea Guardian zu. Wir sagen Ja zu einer aktiven Rolle Deutschlands in einer komplexen Welt. Wir sagen auch Ja, wenn es sich um Einsätze handelt, die erkennbaren Nutzen bieten. Der Einsatz der Mittel muss gerechtfertigt sein.
Unser Ja zu Sea Guardian ist aber auch eine Forderung an die Ministerin. Wir erwarten von ihr, dass sie die Probleme bei der Bundeswehr hinsichtlich ihrer Einsatzfähigkeit lösen wird.
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Die Fraktion der Freien Demokraten lehnt den Entschließungsantrag der AfD ab. Wie bereits festgestellt, geht er an den Zielen des Mandats vorbei.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christian Sauter. – Der nächste Redner, der seine erste Rede im Deutschen Bundestag hält, ist für Die Linke Michel Brandt.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Militäreinsätze wie Sea Guardian tragen dazu bei, dass das Leben von Geflüchteten und zivilen Helferinnen und Helfern auf dem Mittelmeer gefährdet ist. Das ist für Die Linke nicht hinnehmbar.
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Der Bundestag soll heute darüber entscheiden, den Bundeswehreinsatz Sea Guardian im Mittelmeer zu verlängern. Dabei geht es um Seeraumüberwachung und Lagebildaustausch. Angeblich sollen Terroristinnen und Terroristen sowie Waffenschmuggel bekämpft werden. Vielleicht habe ich den Angriff des IS auf dem Mittelmeer in der Zeitung einfach überlesen; aber ich befürchte, die Wahrheit sieht einfach etwas anders aus. Das Ziel der NATO-Mission im Mittelmeer ist neben Geopolitik, räumlicher Kontrolle und der Absicherung unserer Wirtschaftsinteressen die Abschottung Europas und die Abwehr von Geflüchteten mithilfe von Kriegsschiffen.
({1})
Sea Guardian unterstützt dabei die EU-Militäroperation EUNAVFOR MED. Ich muss nicht erwähnen, dass diese EU-Operation aktiv an der Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache beteiligt ist. Laut Dr. Hans-Peter Bartels, dem Wehrbeauftragten des Bundestages, war die Unterstützung von EUNAVFOR MED im Jahr 2017 sogar die einzige Aufgabe von Sea Guardian. Man muss sich das klarmachen: Die Informationen, die die Marine mit Sea Guardian sammelt, werden der sogenannten libyschen Küstenwache zur Verfügung gestellt, und diese setzt die Daten dann gezielt gegen Geflüchtete ein – und das alles mit Wissen der Bundesregierung. Es ist vielsagend, dass sich der zuständige NATO-Kommandant vor kurzem in seiner Rede bei der sogenannten libyschen Küstenwache bedankte. Er gratulierte den Partnern in Libyen für die außergewöhnlichen Erfolge im Umgang mit Geflüchteten.
Das alles bestätigt: Die Bundesregierung riegelt die Festung Europa weiter um jeden Preis ab. Vor dem Sterben auf dem Mittelmeer verschließt sie die Augen – nein, sie macht die Situation mit ihren Militäreinsätzen sogar noch schlimmer.
({2})
Klar ist: Die deutsche Flüchtlingspolitik trägt zur humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer bei, statt Menschen in Not zu helfen. Dieser Bundesregierung geht es um Abschottung und nicht um Menschenrechte. Beenden Sie diese Heuchelei! Beenden Sie die militärische Aufrüstung der Festung Europa!
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Seit Anfang dieses Jahres sind bereits über 400 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Dank freiwilliger ziviler Seenotretterinnen und -retter konnten viele Menschen gerettet werden.
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Untragbar aber ist: Die zivilen Seenotretterinnen und -retter berichten, dass sich Kriegsschiffe weigern würden, sich an der Rettung zu beteiligen. Sea Guardian und andere Marineeinheiten beobachten das Leid und Sterben aus der Ferne und erstellen dabei ihr Lagebild.
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Uns wird berichtet, dass Marineeinheiten Flüchtlingsboote blockieren und der libyschen Küstenwache ausliefern, dass die libysche Küstenwache Pushbacks vollzieht, also Geflüchtete zurück ans Festland zwingt, dass die libysche Küstenwache letzten Donnerstag zivile Seenotretterinnen und -retter unter Waffengewalt zur Übergabe der bereits geretteten Menschen zwingen wollte, dass Flüchtlingsboote durch gefährliche Manöver zum Kentern gebracht werden – im letzten November sind dabei fünf Menschen ertrunken, darunter ein Kind –, dass Geflüchtete von der libyschen Küstenwache geschlagen und von Bord geworfen werden, wie ein Video von Amnesty International beweist. Das, meine Damen und Herren, ist dieselbe libysche Küstenwache, die Sie ausbilden und der Sie Informationen zur Verfügung stellen.
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Es liegt in unserer Hand, das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden. Militäreinsätze wie Sea Guardian tragen dazu nicht bei. Wir fordern die Einsetzung einer staatlich organisierten zivilen Seenotrettung. Wir fordern die Auflösung von Frontex, und wir fordern die Schaffung legaler Fluchtwege.
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Die Linke dankt den zivilen Seenotretterinnen und -rettern für ihren unermüdlichen und gefährlichen Einsatz. Sie schützen Geflüchtete und retten Menschen. Zum Dank werden sie von Militärkräften bedroht, im Stich gelassen oder wie Kriminelle behandelt. Das muss aufhören;
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denn auch im Mittelmeer gelten Menschenrechte.
Wir als Linke sagen selbstverständlich Nein zu Sea Guardian.
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Vielen Dank, Michel Brandt. – Der nächste Redner in der Debatte: Dr. Tobias Lindner für Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meinen Vorrednern möchte ich zurückkehren zu dem, was die NATO-Mission Sea Guardian im Wesentlichen ist. Es geht um die Lagebilderstellung im Mittelmeerraum.
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Ich will hinzufügen: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass die NATO als Bündnis ein Lagebild vom Mittelmeer erstellt. Aber man muss sich natürlich die Frage stellen, ob es dazu am Ende des Tages dieses Mandates bedarf.
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Lagebilderstellung ist eine der Standardaufgaben der NATO. Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen von Mandaten hier in diesem Hohen Hause ist mit Sicherheit eine der schwierigsten Gewissensfragen überhaupt. Ich finde, wir als Abgeordnete können da zu Recht erwarten, dass wir das Aufgabenspektrum möglichst präzise kennen; denn wir müssen abschätzen können, in welche Gefahren wir die Soldatinnen und Soldaten schicken. Aber wenn man den Mandatstext liest, den Sie uns heute zur dritten Verlängerung des Mandats vorlegen, stellt man fest: Es geht zum wiederholten Mal eher um eine Art Blankoscheck.
Das Aufgabenspektrum des Mandats ist unüberschaubar, es ist unvorhersehbar und damit für das Parlament in letzter Konsequenz unkontrollierbar. Sie reden nämlich nicht nur von Seeraumüberwachung, sondern auch von der Bekämpfung von Terrorismus bis hin zur Durchsetzung eines Waffenembargos gegen Libyen. Das ist ein ganzer Strauß an Aufgaben. Mit dem vorliegenden Mandat kann die Bundeswehr im Mittelmeer quasi überall agieren und Aufgaben übernehmen, für die wir hier im Hohen Hause andere Mandate wie EUNAVFOR MED beschlossen haben; in diesem Zusammenhang kann man zu Recht die Ausbildung der libyschen Küstenwache kritisieren.
Wir müssen uns also die Frage stellen: Warum beschließen wir ein Mandat, das große Überlappungen mit anderen Mandaten aufweist? Wie sollen wir in diesem Hohen Haus und in den Ausschüssen in der Lage sein, genau zu prüfen, was die Bundeswehr macht und was sie nicht macht? Nein, meine Damen und Herren, mit Mandatsklarheit hat das nichts zu tun.
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Getoppt wird das – ich habe es eben erwähnt – durch die Vollmacht zur Ausbildung von Küstenwachen in Anrainerstaaten. Dabei ist im Text völlig unklar, wer wann mit welchem Ziel ausgebildet wird. Das unterhöhlt die parlamentarische Kontrolle.
Frau Kollegin Möller, Sie haben es vorhin erwähnt: Wenn es nur darum ginge, dass Schiffe, die im Rahmen anderer Missionen durch das Mittelmeer fahren, sich bei diesem NATO-Verband anmelden und an der Lagebilderstellung beteiligen, dann wäre meine erste Frage: Braucht es überhaupt einen Mandatstext zu dieser Aufgabe? Wenn man dann nach einer harten Diskussion – ich bin für Argumente immer offen – zu dem Ergebnis käme, dass es sein könnte, dass Soldaten beschossen werden und sie deshalb irgendeine Handhabe brauchen, wie sie sich in einem solchen Fall wehren dürfen – darüber muss man, wie gesagt, diskutieren –, dann muss man sich dennoch die Frage stellen, ob es diesen Mandatstext dazu braucht. Die Antwort meiner Fraktion ist da ganz klar: Nein, diesen Mandatstext braucht es nicht. Deswegen werden wir diesem Mandatstext so nicht zustimmen.
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Zum Schluss zur AfD und zu ihrem Entschließungsantrag:
Erstens. Herr Kollege Nolte, ich hätte mich nach der Diskussion der vergangenen Woche hier im Hohen Hause gefreut, wenn diese Diskussion Niederschlag im Entschließungsantrag gefunden hätte. Ich bin da leider enttäuscht worden.
Der zweite Punkt. Als Fraktion, die heute mit Nein stimmen wird, möchte ich mit Blick auf unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Mittelmeer ihren Dienst leisten, sagen – –
Herr Lindner, Sekunde! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, der Redner versucht gerade, sich mit Ihrem Text auseinanderzusetzen. Ich würde Sie wirklich bitten, entweder zuzuhören oder – und das gilt wirklich für alle – den Raum zu verlassen. – Bitte, Herr Lindner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zum Schluss möchte ich, Kollege Nolte, jedem, der hier auch nur ansatzweise die Soldatinnen und Soldaten unserer Marine in die Nähe von Schleppern rückt,
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der das also insinuiert oder so tut, als würden sie an dieser Stelle irgendein Beiwerk leisten, ganz deutlich sagen: Das ist Verhöhnung all derjenigen Angehörigen unserer Bundeswehr, die ihren Dienst im Mittelmeer treu und pflichtbewusst erfüllen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Tobias Lindner. – Nächster Redner: Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich danke zunächst einmal, dass in dieser außenpolitischen Debatte auch die Bundesministerin der Verteidigung, Frau von der Leyen, anwesend ist und uns ihre Aufmerksamkeit schenkt.
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Lieber Tobias Lindner, ich darf direkt auf dich reagieren. Ich glaube, diese Mission, dieser Einsatz macht Sinn. Wenn man sich die Entstehung der Mission Sea Guardian ansieht, dann kann man sagen: Das ist eine intelligente Mission. Sie ist aus der Operation Active Endeavour weiterentwickelt worden und hat jetzt eine deutlich breitere, weiter gefasste und flexiblere Struktur. Es handelt sich um ein Netzwerk von Schiffen, wobei ein Schiff, wenn es sich in das Operationsgebiet hineinbewegt, dem Einsatz während seiner Passage beitreten kann. Wenn es aus dem Einsatzgebiet herausfährt, verlässt es nicht nur den Einsatzraum Mittelmeer, sondern eben auch die Mission. Das ist ein flexibler Ansatz, und das ist gut so.
Meine Damen und Herren, ich erwähnte schon: Die Mission ist weiter und breiter gefasst. Und im Gegensatz zu Active Endeavour ist Sea Guardian eine Mission, die sich nicht nur auf die Terrorbekämpfung, sondern darüber hinaus auch auf die Bekämpfung von Waffen- und Menschenschmuggel konzentriert. Das ist eine wichtige Aufgabe, wenn man sich einmal vor Augen hält, dass das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen durchgesetzt werden muss, weil sich Waffen noch aus Gaddafi-Beständen und anderen Teilen Afrikas zunächst den Weg über Land, aber dann eben auch über das Mittelmeer suchen. Diesen Kanal, der auch als Nachschubweg für IS und al-Qaida zur Ausstattung mit Waffen dient, gilt es trockenzulegen.
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Meine Damen und Herren, der Mittelmeerraum einschließlich der Straße von Gibraltar ist unser Interessenraum, und deswegen umfasst das Einsatzgebiet ja ebendiesen Raum. Wenn man sich vor Augen hält, dass sich pro Jahr 220 000 Seeschiffe den Weg durch das Mittelmeer suchen, wird klar, dass es für Deutschland als Exportnation von ureigenem und überragendem Interesse ist, dass wir diese Seewege sichern bzw. uns an der Sicherung beteiligen.
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Da setzt auch die Mission Sea Guardian an. Es wurde mehrfach erwähnt, dass ein umfassendes Lagebild erstellt wird. Das geschieht eben durch die Vernetzung der von Schiffen und Flugzeugen gesammelten Informationen sowie unter Inanspruchnahme anderer Erkenntnisse wie Datenbanken der Anrainerstaaten. Diese Erkenntnisse werden unter denjenigen, die sich dort beteiligen, ausgetauscht. Das Ganze wirkt dann als Frühwarnsystem, um krisenhafte Entwicklungen im maritimen Umfeld der Anrainerstaaten frühzeitig erkennen sowie ihnen effizient und gezielt entgegenwirken zu können. Zugleich – das ist auch nicht zu unterschätzen – wirkt die Präsenz der Einsatzkräfte dort als präventiver Ordnungsfaktor.
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Die so gewonnenen Informationen kommen – das wurde in der Debatte schon mehrfach erwähnt – auch anderen Einsätzen zugute. Das ist eben eine der Besonderheiten der Mission Sea Guardian, dass sie mit anderen Missionen kooperiert. Das ist ein Beispiel dafür, wie gut NATO und EU zusammenarbeiten. Die Kooperation mit der EU-Operation EUNAVFOR MED Sophia wurde ja bereits mehrfach in die Debatte eingeführt. Das zeigt die Sinnhaftigkeit der Mission, und diese Sinnhaftigkeit spricht sich herum. Kollege Kiesewetter hat das erwähnt. Er hat auch die Staaten aufgeführt, die nicht NATO-Mitgliedstaaten sind, aber bereits mit Sea Guardian kooperieren. Und es sind bereits eine Reihe anderer Nicht-NATO-Mitgliedstaaten in der Pipeline, die hier ebenfalls kooperieren wollen und werden.
Perspektivisch müssen wir schauen, wie wir den Aufbau von Kapazitäten in den Anrainerstaaten aktiv gestalten können und worauf in Zukunft der Fokus liegen soll. Auch hierzu verweise ich auf den Punkt, den Kollege Kiesewetter bereits in die Debatte eingeführt hat.
Insgesamt ist Sea Guardian eine sinnvolle Angelegenheit. Ich bitte um Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Peter Beyer. – Bevor ich einer Kollegin aus der CDU/CSU das Wort zur letzten Rede in dieser Debatte gebe, bitte ich darum, dass auch ihre eigenen Fraktionskollegen Platz nehmen und der Kollegin ihr Gehör schenken.
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– Nicht „Mein Gott!“; ich finde, es ist anständig, dass man zuhört.
Das Wort hat Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir wichtig, zu Beginn meiner Rede Folgendes zu sagen: Wir haben im Mittelmeer mehrere Missionen, geleitet von den Vereinten Nationen, von der NATO und von der EU. Vielen Partnern ist es also wichtig, dort vor Ort zu sein. Das Thema ist auch zu ernst und zu wichtig, als dass man es für irgendwelche Propagandaspielchen missbrauchen sollte. Wenn man bewusst oder unbewusst Mandate miteinander vermischt oder suggeriert, dass sich unsere Soldatinnen und Soldaten als Schleuser und Schlepper betätigen würden, wie es die AfD-Fraktion in der Vergangenheit gemacht hat, dann ist das einfach nicht redlich. Damit unterstützt man unsere Soldatinnen und Soldaten keineswegs.
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Kommen wir zum Mandat. Ja, es ist zwingend notwendig, das Mandat zu verlängern. Das wird sehr deutlich, wenn man sich die Schwerpunkte anschaut. Es geht um die Art der Unterstützung und schließlich darum, wie der Einsatz unserer Bundeswehr konkret aussieht.
Frau Zeulner, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Herrn Keuter von der AfD-Fraktion?
Mir hat einmal ein alter General gesagt, man solle den Gegner rechts liegen lassen und zum Ziel vorstoßen. Daran halte ich mich auf jeden Fall.
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Zunächst zu den drei Schwerpunkten der Mission:
Erstens: die Lagebilderstellung. Wir müssen wissen, was vor unserer europäischen Haustür passiert; denn über das Mittelmeer führt der Weg für viele Güter, legale wie illegale. Den Transport legaler Güter gilt es natürlich zu ermöglichen und den Transport illegaler Güter zu unterbinden. Hier leistet Sea Guardian Aufklärung.
Die Bundeswehr hat im Rahmen dieser Mission zwei Möglichkeiten, zu unterstützen: den Direct Support und den Associated Support. Direct Support bedeutet, dass beispielsweise eine Fregatte den gezielten und ausschließlichen Auftrag erhält, Aufgaben im Rahmen von Sea Guardian zu erfüllen. Das hat unsere Bundeswehr in dieser Mission jedoch noch nicht gemacht. Unsere Soldatinnen und Soldaten beteiligen sich im Rahmen von Associated Support. So wählt sich beispielsweise eine Fregatte der Bundeswehr auf dem Heimweg von einem Einsatz während des Passierens des Mittelmeeres bei Sea Guardian ein und liefert Informationen an die NATO. Diese führt die Daten zusammen und erstellt ein Lagebild, durch das Unregelmäßigkeiten aufgedeckt und gegebenenfalls angegangen werden können.
Der zweite Schwerpunkt ist die verstärkte Zusammenarbeit mit den an das Mittelmeer angrenzenden Staaten. Hier liegt eine große Stärke von Sea Guardian; denn die Mission bildet die Grundlage und den Rahmen dafür, dass auch Länder, die sehr schwierige Beziehungen zueinander haben, Daten austauschen und endlich miteinander sprechen. Gerne zitiere ich unseren Entwicklungsminister Gerd Müller, der immer sagt: Wir leben in einem globalen Dorf. Alles hängt mit allem zusammen, und deswegen müssen wir Verantwortung in der Welt übernehmen. – Die Ungleichzeitigkeit der Welt zwingt uns dazu, die Geschehnisse vor unserer europäischen Haustür nicht zu ignorieren, sondern gemeinsam im Austausch Lösungen zu finden. Hierfür ist Sea Guardian ein wichtiger Baustein.
Damit kommen wir zum dritten Schwerpunkt, der Terrorismusbekämpfung. Dazu muss der Waffenschmuggel unterbunden werden. Konkret bedeutet dieser Schwerpunkt zum Beispiel, dass, wenn ein Schiff verdächtigt wird, es auch mit der Unterstützung unserer Bundeswehr vor Ort untersucht werden kann. Im Rahmen dieser Einsätze, bei denen die verdächtigen Boote auch betreten werden müssen, kann es natürlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.
Um den Soldaten in diesen Situationen rechtliche Handlungssicherheit zu geben, stimmen wir heute über dieses Mandat ab. Sea Guardian ist ein sehr intelligentes Mandat, das uns ermöglicht, unsere begrenzten und angespannten Ressourcen effizient und effektiv einzusetzen. Wir stehen dabei an der Seite unserer Freunde und Bündnispartner. Deswegen ist es meiner Ansicht nach unsere höchste Pflicht, gerade dieses Mandat zu verlängern und somit ein klares Signal der Unterstützung an unsere Soldatinnen und Soldaten zu senden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Emmi Zeulner.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Maritimen Sicherheitsoperation SEA GUARDIAN im Mittelmeer“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1302, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1097 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich weise darauf hin, dass im Anschluss an diese namentliche Abstimmung noch eine einfache Abstimmung folgt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Urnen besetzt? – Das ist der Fal l. Dann eröffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses im Raum, das noch nicht abgestimmt hat? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der AfD zu der Beratung des Antrages der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Maritimen Sicherheitsoperation SEA GUARDIAN im Mittelmeer“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1305, den Entschließungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/1196 abzulehnen. Wer dieser Beschlussempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer ist gegen diese Empfehlung? – Enthaltungen? – Damit stelle ich fest, dass die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen des Hauses angenommen ist.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Dank an die Soldatinnen und Soldaten beginnen, die im Südsudan im Einsatz und dort mit einer Situation konfrontiert sind, die man nur schwer aushalten kann. Wir sprechen heute über ein vergleichsweise kleines Mandat – es sind dort nur wenige Soldatinnen und Soldaten im Einsatz –; aber hinter diesem Mandat steht eine der größten humanitären Katastrophen, die wir gegenwärtig weltweit erleben. Das müssen wir uns einmal vor Augen führen, wenn wir über Sinn und Zweck dieses Mandats reden.
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Mittlerweile ist ein Drittel der Bevölkerung des Südsudans – 4 Millionen Menschen – auf der Flucht. 2 Millionen befinden sich außerhalb der Grenzen des Südsudans, und 2 Millionen sind Binnenvertriebene. Hilfsorganisationen sagen uns, dass in den kommenden Monaten möglicherweise zwei Drittel der Bevölkerung – 8 Millionen Menschen – auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Für Hunderttausende Menschen ist die Mission UNMISS, über die wir heute reden, der einzige Schutz, der sie vor Schlimmerem bewahren kann.
Die Bundesrepublik ist aber nicht nur in dieser Mission engagiert – das will ich an dieser Stelle auch sagen –, sondern in den letzten zwei Jahren wurde durch die Bundesrepublik Deutschland auch humanitäre Hilfe im Südsudan im Umfang von rund 170 Millionen Euro geleistet. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe; aber auch für diese Aufgabe ist der Schutz durch diese UN-Mission unbedingt notwendig.
Ich will an dieser Stelle ganz klar und deutlich sagen: Nach meiner Überzeugung reicht es nicht aus, wenn wir uns in diesem Mandat engagieren. Wir brauchen dringend auch einen neuen Ansatz für politische Lösungen. Bisher sind sowohl das Friedensabkommen als auch alle Bemühungen um einen Waffenstillstand gescheitert.
Mittlerweile sind mehr als 40 unterschiedliche bewaffnete Gruppen in diesen Konflikt involviert. Wir brauchen neue politische Ansätze, die versuchen, dieser Situation Rechnung zu tragen, neue politische Ansätze, die insbesondere auch die Nachbarstaaten mit in den Blick nehmen, aus denen zum Teil noch immer Waffenlieferungen in den Südsudan kommen und die hier ihre eigenen Interessen im Spiel haben.
Ich finde auch, es ist aller diplomatischen Mühe wert, noch einmal zu versuchen, im UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo durchzusetzen. Das würde zwar noch nicht alle Probleme lösen, wäre aber ein wichtiger Schritt, um diesen Konflikt einzudämmen.
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Ich denke, auch die Afrikanische Union ist in diesem Konflikt stärker gefordert. Vielleicht macht es Sinn, einen neuen einheitlichen Friedensprozess für Südsudan statt unterschiedlicher Verhandlungsprozesse, die zum Teil nebeneinander herlaufen, aufzusetzen.
Es braucht – das ist meine Überzeugung – jetzt ein starkes und geschlossenes Auftreten der internationalen Gemeinschaft, wenn wir noch Schlimmeres im Südsudan verhindern wollen. Es braucht also einen neuen Anlauf für ein Waffenembargo, gezielte, personenbezogene, harte Sanktionen und intensive Gespräche mit der Afrikanischen Union und den Nachbarländern.
Meine dringende Bitte an die Bundesregierung ist, alle diplomatischen Möglichkeiten zu nutzen, solche Gespräche voranzubringen. Bis eine politische Lösung gelingt, ist aber eines unabdingbar: der Schutz der humanitären Hilfe durch UNMISS.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Als Nächstes erteile ich das Wort dem Kollegen Gerold Otten für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kaum zu glauben, meine Damen und Herren: Die Bundeswehr verfügt über Hubschrauber, wenn sie denn fliegen, Panzer, wenn sie denn fahren, U-Boote, wenn sie denn tauchen. – Das ist nicht etwa eine weitere billige Polemik und Kritik am allgemein bekannten desolaten Ausrüstungszustand der Bundeswehr. Nein, das ist der Originalton einer Rede der Verteidigungsministerin, die sie vor kurzem hier in Berlin anlässlich des Jahresempfangs des Bundesverbandes mittelständischer Wirtschaft gehalten hat.
Diese Rede war wohl der eher missglückte Versuch, mit Selbstironie die Flucht nach vorne anzutreten und die Probleme wegzulächeln, die sie heute zu verantworten hat und – noch gravierender – die unsere Soldaten gefährden können. Deshalb hielt sich der Applaus für die Ministerin an dieser Stelle deutlich in Grenzen. Bei einem so heiklen Thema sollte man besser nicht scherzen.
Wir von der AfD dagegen kümmern uns um die Belange und die Probleme der Soldaten der Bundeswehr. Wir sind in jeder Hinsicht um eine vorurteilsfreie Einschätzung der Einsatzlage im Land bemüht, und wir sprechen mit den Soldaten, um ein realistisches Bild zu erhalten. Deshalb ist es umso erschreckender, hier im Parlament erleben zu müssen, wie die Realität der Lage im Südsudan ignoriert und verharmlost wird.
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So meinte doch zum Beispiel in der vergangenen Woche an dieser Stelle ein Kollege aus der FDP-Fraktion, übrigens Mitglied im Verteidigungsausschuss, die Kosten von 1,1 Millionen Euro für die Teilnahme an UNMISS dienten dem Zweck, den Südsudan davon abzuhalten, endgültig ein Failed State zu werden. Meine Damen und Herren, da habe ich Neuigkeiten für Sie: Der Südsudan ist ein Failed State.
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Dieses Land führt seit Jahren den jährlich erscheinenden Weltindex der Failed States an. Da hilft auch kein Schönreden. Zu glauben, ein hochrangiges Revitalisierungsforum sei ein Hoffnungsschimmer, ist genauso naiv wie anzunehmen, aus Wölfen durch Mediation Schafe machen zu können.
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Das ist doch wieder nur der Glaube daran, mit runden Tischen die Probleme der Welt lösen zu können. Die hungernden und notleidenden Menschen vor Ort brauchen aber dringend Hilfe und keine weiteren Gesprächsrunden. Hier muss endlich effektiv gehandelt werden. Wir haben der Bundesregierung dazu bereits konkrete Maßnahmen empfohlen. Wir haben angemahnt, die Konfliktparteien zu entwaffnen. Wir haben Sie dazu aufgefordert, Deutschlands Gewicht als einer der größten Geldgeber der UN zu nutzen, um die Strategie von UNMISS an die Realität vor Ort anzupassen. Wir haben gefordert, die Waffenlieferungen in diese Region aktiv und entschieden zu unterbinden.
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Ich frage die Bundesregierung: Was haben Sie bis jetzt in dieser Hinsicht unternommen? Auch der Kollege Matschie hat das gerade kritisiert. Alle reden vom Frieden in der Region. Doch niemand traut sich, die Konfliktparteien zu entwaffnen.
Weil Straflosigkeit die Gewaltakteure ermuntert, so die Aussage von Staatsminister Annen in der vergangenen Woche, dokumentieren wir, welche Verbrechen begangen werden. Meine Damen und Herren, wir dokumentieren! Hier werden brutalste Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern begangen, und wir dokumentieren. Es ist notwendig, endlich Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Wenn die Truppen von UNMISS einschreiten würden, dann gäbe es keine Verbrechen, die dokumentiert werden müssten.
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Wenn den bisherigen Lippenbekenntnissen zu humanitären Zielen nicht bald ein konsequentes Handeln der Bundesregierung folgt, ist der Sinn dieses Bundeswehreinsatzes im Südsudan zu Recht zu hinterfragen. Wir hoffen, dass es dazu nicht kommt. Deshalb sprechen wir uns hier aus rein humanitären Gründen zugunsten der Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr in der Friedensmission UNMISS aus, erwarten allerdings Antworten auf die heute angesprochenen Fragen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vergleich zu den anderen heute diskutierten Mandaten erscheint die Beteiligung an der UN-Mission in der Republik Südsudan – UNMISS – zunächst vielleicht klein und politisch auch vielleicht weniger kontrovers. Aber deshalb ist sie keineswegs weniger wichtig.
Mit aktuell 16 deutschen Einsatzkräften – vor allem Stabsoffiziere und Militärbeobachter – leisten wir unseren Beitrag zu den insgesamt 17 000 Soldaten, Polizisten und zivilen Experten der Mission UNMISS. Unseren Soldaten dort danken wir ganz herzlich für ihren wahrlich nicht immer einfachen Einsatz.
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Denn im Südsudan – Niels Annen hat letzte Woche für die Bundesregierung an dieser Stelle eindringlich darauf hingewiesen – spielt sich derzeit die drittgrößte Flüchtlingskatastrophe weltweit und vermutlich auch die schlimmste humanitäre Katastrophe in Afrika seit dem Völkermord in Ruanda ab.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes – zwischen 6 Millionen und 7 Millionen Menschen – ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mehr als 2 Millionen Menschen sind aus dem Südsudan in die Nachbarländer geflohen, und es gibt fast ebenso viele Binnenvertriebene. Unser Engagement im Südsudan ist deshalb wichtiger denn je.
Ein aktueller Bericht der UN-Menschenrechtskommission beschreibt die katastrophale humanitäre Lage im Südsudan. Kriegsparteien gehen gezielt gegen die Zivilbevölkerung vor. Systematische sexuelle Gewalt und Verstümmelungen, Racheakte und Morde sind an der Tagesordnung. Der Konflikt wird zu einer brutalen ethnischen Auseinandersetzung um Land, Ressourcen und Kontrolle. Weitestgehend herrscht Straflosigkeit.
Die UN-Mission im jüngsten Staat der Welt, der leider rasch zum Failed State geworden ist, ist deshalb vor allem beim Schutz von Zivilpersonen und humanitären Helfern sowie zur Wahrung der Menschenrechte gefordert. So haben rund 210 000 Zivilisten in sechs Schutzzonen Zuflucht gefunden, die innerhalb der Stützpunkte der Mission eingerichtet wurden. Rund die Hälfte der UNMISS-Truppen ist für die Sicherheit in diesen Schutzzonen im Einsatz. Auch Patrouillen zur Informationsgewinnung und Frühwarnung tragen zum Schutz der Zivilbevölkerung bei.
UNMISS schafft außerdem mehr Sicherheit für humanitäre Helfer. Denn auch sie sind Übergriffen ausgesetzt und arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen. Im vergangenen Jahr kamen 28 humanitäre Helfer durch Angriffe ums Leben.
Eine regionale Schutztruppe sorgt rund um die Hauptstadt Juba dafür, dass Angriffe auf Zivilbevölkerung, UN-Personal und humanitäre Helfer verhindert werden. Kräfte der UNMISS dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und Fälle von Hassrede zur Abschreckung und im Hinblick auf eine spätere Strafverfolgung.
Leider besteht aufseiten der Regierung des Südsudan teils mangelnde Bereitschaft zur Kooperation bei der Umsetzung des UNMISS-Mandats. In Teilen behindern die Konfliktparteien den Schutz der Zivilbevölkerung, indem sie die Bewegungsmöglichkeiten der Hilfskräfte einschränken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Beteiligung an der Mission unterstreicht unser Engagement für die Vereinten Nationen. Sie ist nicht nur Teil der langjährigen Bemühungen für Friedensförderung und Stabilisierung in der gesamten Region, sondern sie folgt auch konsequent dem vernetzten Ansatz unserer Außenpolitik. Denn seit 2016 haben wir rund 170 Millionen Euro für humanitäre Hilfsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Das BMZ engagiert sich mit Maßnahmen in Höhe von 110 Millionen Euro im Südsudan. Deutschland kofinanziert beispielsweise Projekte des UN-Entwicklungsprogramms. Auch KfW und GIZ engagieren sich vor Ort.
Aber es ist richtig: Ohne eine politische Lösung des Konflikts wird eine nachhaltige Verbesserung der Lage im Südsudan nicht möglich sein. Die Notwendigkeit einer politischen Lösung hat der UN-Sicherheitsrat erst letzte Woche wieder betont. Das dort von den westlichen Staaten diskutierte Waffenembargo und die Umsetzung des überprüften UNMISS-Mandats können aber nur erste Schritte sein.
Mit der Einberufung des Hochrangigen Revitalisierungsforums entstand im vergangenen Jahr eine neue Dynamik für den Frieden im Südsudan. Ziel war, die Umsetzung des 2015 geschlossenen Friedensabkommens zwischen den Hauptkontrahenten wiederzubeleben. Zwar konnte im Dezember letzten Jahres eine vorläufige Waffenruhe verhandelt werden. Diese bleibt jedoch brüchig.
Für eine nachhaltige Verbesserung der Situation sind daher weiterhin alle Konfliktparteien gefordert. UNMISS unterstützt diesen Prozess. Nicht zuletzt deshalb ist das Engagement der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der UN-Mission so wichtig. Daher unterstützt meine Fraktion die Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an UNMISS.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Nick. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. Marcus Faber für die Freien Demokraten.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche habe ich meine Rede hier zu diesem Thema mit den Worten geschlossen, dass wir den Menschen im Südsudan eine Chance geben müssen, eine Chance auf humanitäre Hilfe, eine Chance auf Frieden. Ich bin überzeugt davon, dass es diese Chance nur mit den UN geben kann.
Frau Nastic von der Linken hat in der ersten Debatte über diesen Antrag gesagt, dass sie es für politische Schizophrenie hält, dass wir dort den militärischen Einsatz unterstützen, und dass wir das Geld lieber in Hilfsgüter stecken sollten. Ich würde Frau Nastic jetzt gerne fragen, wie denn die Hilfsgüter bei den Menschen ankommen sollen, wenn UNMISS die Zustellung nicht sicherstellt. Da sie nicht anwesend ist, kann ich sie heute leider nicht fragen.
UNMISS kostet Deutschland in den nächsten zwölf Monaten 1,1 Millionen Euro. Gleichzeitig hat die Bundesregierung seit 2016 fast 170 Millionen Euro für humanitäre Hilfe im Südsudan zur Verfügung gestellt. Wenn Sie das ins Verhältnis setzen, dann stellen Sie fest, dass bislang circa 99 Prozent der Gesamtausgaben für humanitäre Hilfe aufgewendet werden. Ohne UN-Soldaten kommt die humanitäre Hilfe aber nicht bei den Menschen vor Ort an. Deshalb ist UNMISS Teil der Lösung und nicht Teil des Problems.
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Liebe Frau Vogler, ich würde mich freuen, wenn Sie die Positionierung Ihrer Fraktion an diesem Punkt gleich korrigieren könnten.
UNMISS hat drei Kernaufgaben: erstens den Schutz der Zivilbevölkerung, zweitens die Beobachtung der Menschenrechtssituation und drittens die Sicherung des Zugangs zu humanitärer Hilfe. Bis zu 17 000 UN-Soldaten erfüllen im Moment diese Aufgaben im Südsudan. Deutschland stellt ganze 16 von diesen 17 000 Soldaten. Für diese haben wir eine besondere Verantwortung. Gerade wegen der schwierigen Einsatzbedingungen im Südsudan verdienen sie unseren besonderen Respekt und die bestmögliche Ausstattung.
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Wir Freien Demokraten kämpfen seit jeher für Rechtsstaatlichkeit. Genau die gibt es im Südsudan an vielen Stellen nicht; darauf wurde schon hingewiesen. Schwerste Straftaten werden nicht ausreichend geahndet. Wenn aber Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden, dann bringt das andere dazu, es ihnen gleichzutun. Das führt zu einer eskalierenden Spirale. Frieden im Land kann nur funktionieren, wenn Kriegsverbrechen sanktioniert werden. Dazu müssen wir die Bemühungen um den Staatsaufbau insbesondere bei den Sicherheitsstrukturen und der Gerichtsbarkeit vorantreiben. Besser wäre hier die Devise – nicht davonlaufen!
Ein sogenanntes Revitalisierungsforum versucht aktuell, das Land zu stabilisieren. Hier sitzen die Konfliktparteien endlich an einem Tisch. Sie suchen gemeinsam nach einem Weg zum Frieden. Wir müssen im ersten Schritt hoffen, dass die Friedensverhandlungen gut vorankommen. Wir müssen im zweiten Schritt die Bedingungen dafür bieten, dass ein Friedensabkommen auch umgesetzt wird. Dafür braucht es die UNO. Deshalb ist es gut, dass der UN-Sicherheitsrat am 15. März einstimmig die Fortsetzung der Mission im Südsudan verabschiedet hat. Ein bescheidener deutscher Beitrag steht uns als größte Nation in Europa gut zu Gesicht. Es würde uns auch gut zu Gesicht stehen, wenn die Fraktionen in diesem Haus die Verlängerung des Mandats ebenfalls einstimmig beschließen würden.
Wir als Freie Demokraten stimmen der Verlängerung des UNMISS-Mandats zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Dr. Faber. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die bereits angesprochene Kollegin Kathrin Vogler.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen hier heute über die deutsche Beteiligung an der UN-Mission UNMISS im Südsudan ab. Dabei ist interessant, dass die Bundesregierung uns den Antrag schon am 7. März 2018 vorgelegt hat, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das überarbeitete Mandat für UNMISS allerdings erst am 15. März 2018 beschlossen hat. Die Bundesregierung meint aber wohl, dass die Überprüfung der Mission keine Auswirkungen auf den Einsatz der Bundeswehr haben wird. Mit anderen Worten: Sie machen einfach weiter so. Wir meinen, die Lage im Südsudan rechtfertigt dieses Weiter-so nicht.
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Die Lage ist durchaus ernst. Der politische Prozess stockt. Die Konfliktparteien kommen in den Verhandlungen kaum voran, und in der Zwischenzeit geht das Morden weiter. Ich zitiere einmal aus der Mandatsbegründung der Bundesregierung:
Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte wurden und werden massiv verletzt: Von ursprünglich gut 12 Mio. Einwohnern sind aktuell 7 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter knapp 2,5 Mio. Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und 1,9 Mio. Binnenvertriebene.
Auch die Menschenrechtslage bleibt desaströs:
UNMISS und Nichtregierungsorganisationen berichteten wiederholt von weitverbreiteter und systematischer sexueller Gewalt, Verstümmelungen und Morden als Kriegstaktiken, brutalen Mitteln ethnischer Auseinandersetzungen und Racheakten.
So schreibt die Bundesregierung.
Ich sage Ihnen: Diese Mandatsbegründung ist doch ein Dokument des Scheiterns. Das müssen Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
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Während die Bevölkerung leidet, schwelgen die korrupten Eliten dieses Landes in unglaublichem Reichtum. Der Report von The Sentry mit dem Titel „Kriegsverbrechen sollten sich nicht lohnen“ zeigt auf, wie Südsudans Präsident Salva Kiir von diesem Krieg profitiert. Seine Frau und seine Söhne halten Anteile an Öl-, Bau- und Logistikfirmen. Die Familie wohnt nicht etwa im Südsudan, sondern in einer Villa im Nobelviertel Lavington der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Und die Familie von Riek Machar, seinem Rivalen und Bürgerkriegsgegner, wohnt nur ein paar hundert Meter weiter in einer ähnlichen Luxusvilla.
Da frage ich doch die Bundesregierung, warum sie die in der Studie vorgeschlagenen Maßnahmen nicht verfolgt. Warum setzen Sie denn verdammt noch mal die Instrumente, die es gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung schon gibt, nicht gegen die Hauptverantwortlichen dieses Bürgerkriegs und deren Geschäftspartner ein?
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Diese Leute – da rede ich über Straflosigkeit, Herr Faber – dürfen doch nicht mehr sicher sein, dass sie für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und dass sie ein Leben in Saus und Braus führen, während ihr Volk verblutet und verhungert.
Es gibt noch mehr, was wir tun könnten. In den Leitlinien für Krisenprävention und Friedensförderung greift die Bundesregierung das unbewaffnete zivile Peacekeeping als Instrument zum Schutz der Zivilgesellschaft auf. Gerade der Südsudan eignet sich hervorragend als Pilotprojekt für eine großflächigere Anwendung dieses Konzepts, weil es da ja schon beeindruckende Erfahrungen damit gibt. Die ersten Anfänge konnte ich selber 2011 bei einem Besuch im Südsudan erleben.
Wie sieht das aus? Da werden zum Beispiel Frauen von ausgebildeten Friedensfachkräften zum Feuerholzsammeln begleitet, damit sie nicht vergewaltigt werden. Lokale Gemeinschaften erhalten Training und Beratung zum Umgang mit Nachbarschaftskonflikten, sodass der Kreislauf der Gewalt durchbrochen wird. Die zivilen Friedensschützer leben mit den Menschen und kennen daher die Sicherheitsbedürfnisse und die Probleme genau – viel besser als die UN-Soldaten in ihren gesicherten Camps und gepanzerten Fahrzeugen. Da frage ich mich: Warum probieren wir nicht einmal aus, was dieses Instrument leisten könnte, wenn es nicht nur mit Kleckersümmchen von Spendern finanziert würde, sondern ein richtiges Budget von der UNO oder der Bundesregierung bekäme?
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Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Vogler.
Ich komme zum Schluss.
Der Einsatz von Militär in Gewaltkonflikten wie im Südsudan ist weder besonders wirksam noch alternativlos. Deswegen lehnt Die Linke dieses Mandat ab.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Margarete Bause mit ihrer ersten Bundestagsrede.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Heute Nachmittag, vor wenigen Stunden, erreichte uns alle eine aktuelle Agenturmeldung des epd:
Im Südsudan droht eine dramatische Ausweitung der Hungerkrise: Die Zahl der vom Hungertod bedrohten Menschen steige ohne Eingreifen in den kommenden drei Monaten wahrscheinlich um eine weitere Million auf 7,3 Millionen, warnte der Norwegische Flüchtlingsrat am Donnerstag. Von den derzeit mehr als sechs Millionen Hungernden, der Hälfte der Bevölkerung, werde schon jetzt nur jeder Zweite erreicht.
Das Ausmaß des Hungers ist schockierend. Der Norwegische Flüchtlingsrat betont, dass eine Katastrophe nur mit deutlich aufgestockter Hilfe abgewendet werden könne.
Meine Damen und Herren, im ölreichen Südsudan wird gemordet, gefoltert, vergewaltigt. Tausende Kinder werden als Soldaten zwangsrekrutiert. Knapp 4 Millionen Menschen sind auf der Flucht; wir alle haben die Zahlen gehört.
Trotz dieser dramatischen Lage ist das Elend der Zivilbevölkerung, das Elend von Millionen von Kindern, Frauen und Männern im Südsudan, kaum mehr im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit – vielleicht deshalb, weil der Südsudan in der öffentlichen Aufmerksamkeit von scheinbar noch schrecklicheren Schauplätzen auf dieser Welt verdrängt wird.
Meine Damen und Herren, es ist nur ein sehr schwacher Trost, aber wie stünde es um dieses geschundene Land, wenn die internationale Gemeinschaft auch noch diejenigen abziehen würde, die dort zumindest versuchen, das Schlimmste zu verhindern?
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Ja, UNMISS hat sich selber Verfehlungen geleistet, und ihre Truppen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sicherlich sind 16 deutsche Soldaten viel zu wenig. Aber auch wenn es viel mehr sein müssten: Den Angehörigen der Bundeswehr gebührt unser Dank und unsere Unterstützung.
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Sie leisten mit UNMISS immerhin einen kleinen Beitrag dazu, dass es vielleicht zu weniger Gräueltaten kommt, als wenn man dieses Land vollends sich selbst überließe.
Meine Damen und Herren, die grüne Bundestagsfraktion hat diesem Mandat in der Vergangenheit immer zugestimmt, und wir werden das auch heute tun. Wir fordern aber die Bundesregierung auf, mehr zu tun. Die humanitäre Hilfe muss dringend aufgestockt und ausgeweitet werden.
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Übernehmen Sie auch ein Mehr an internationaler Verantwortung! Der Kollege Matschie hat das Waffenembargo schon angesprochen.
Das aktuelle UNMISS-Mandat umfasst explizit auch das Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Eine UN-Kommission hat kürzlich empfohlen, Anklage gegen mehr als 40 hochrangige Militäroffiziere und Politiker des Südsudans zu erheben. Ihnen wird eine direkte Beteiligung an Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Unterstützen Sie von der Bundesregierung die UNO bei ihrer Forderung nach Einsetzung eines Sondertribunals für den Südsudan!
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Das wäre ein sehr wichtiger Schritt, damit schwerste Menschenrechtsverbrechen nicht ungesühnt bleiben, und das gilt nicht nur für den Südsudan.
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Noch eine Bitte. Was es nicht mehr braucht, ist ein Bundesaußenminister, der in den Südsudan reist, einen Despoten wie Präsident Salva Kiir trifft, aber keine Zeit für Gespräche mit Menschenrechtsgruppen hat, wie dies Herr Gabriel im Sommer letzten Jahres leider praktiziert hat.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute über das UNMISS-Mandat abstimmen, bedeutet das gleichzeitig, dass wir die Verpflichtung haben, mehr zu tun.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bause. – Als Nächstes für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Kollegin Gabriela Heinrich.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich spreche seit 2013 regelmäßig im Deutschen Bundestag zur Situation der Menschen im Südsudan. Die Lage hat sich in dieser Zeit unvorstellbar verschlechtert; viele Kollegen und Kolleginnen sind bereits darauf eingegangen.
Anfang 2014 gab es 900 000 Binnenvertriebene. Es sind jetzt zweieinhalbmal so viele. Anfang 2014 waren 250 000 Menschen in Nachbarländer geflohen. Mittlerweile sind es zehnmal so viele. 2014 waren südsudanesische Gewerkschafter hier. Sie erzählten von der kommenden Regenzeit, davon, dass wegen des Bürgerkriegs die Felder nicht bearbeitet werden können. Sie baten um unser Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit, weil sie regionale Hungersnöte befürchteten.
Heute brauchen im Südsudan – das wurde bereits erwähnt – 7 Millionen Menschen humanitäre Hilfe, und die Entwicklungszusammenarbeit kann nur noch im absoluten Krisenmodus fahren: Essen, Wasser und Schutz von Menschen – Schutz derer, die verwundbar sind, und das sind im Südsudan letztlich alle, die nicht schwer bewaffnet sind.
Was passiert mittlerweile in diesem Land? Systematische Vergewaltigungen Tag für Tag, betroffen sind Frauen und Männer und Kinder. Kindersoldaten werden zum Kämpfen gezwungen. Der Staat hat gänzlich versagt. Niemand wird für seine Taten und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen. Die Nahrungsmittelsituation hat sich derart verschlechtert, dass der Südsudan – auch das wurde bereits erwähnt – vor einer neuen Hungersnot steht.
Deutschland war 2017 der drittgrößte Geber und leistete knapp 100 Millionen Euro für humanitäre Hilfe. UNMISS sichert die humanitäre Hilfe mit ab, schützt die Zivilbevölkerung, soweit es geht, beobachtet und untersucht Menschenrechtsverletzungen. Aber natürlich kann die Mission die Probleme nicht lösen. Sie ist nur ein Element in der Hoffnung, den Konflikt im Südsudan irgendwann zu beenden – irgendwann; denn aktuell wird der Waffenstillstand nicht eingehalten, und die bisherigen Friedensinitiativen haben, wenn man ehrlich ist, nichts gebracht.
Die südsudanesische Regierung sitzt überall mit am Tisch: bei bilateralen Gesprächen mit Uganda, bei der IGAD, bei der Afrikanischen Union usw. Ob dahinter ein Wille zum Frieden steht, muss und kann man bezweifeln. Das Expertengremium der UNO hat dargelegt, dass die Regierung durch ihre Beteiligung an den Friedensinitiativen eher Zeit gewinnt, Offensiven durchzuführen. Und viele Nachbarländer des Südsudan verfolgen ganz eigene Interessen. Zwar hat Uganda die meisten Flüchtlinge aus dem Südsudan aufgenommen; Uganda stellt aber auch den Waffennachschub sicher. So kann es einfach nicht mehr weitergehen.
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Der internationale Druck muss erhöht werden. Dazu gehört natürlich auch – der Kollege hat es gesagt – ein Waffenembargo, das bislang unter anderem von China und Russland blockiert wird. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ein Waffenembargo und Sanktionen angekündigt, wenn die Friedensverhandlungen jetzt scheitern. Das Waffenembargo der EU seit 2005 reicht nicht aus. Die internationale Gemeinschaft muss hier endlich mit einer Stimme sprechen.
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Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen gemäß der UNO-Resolution 1325.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles wird dauern. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als 2018 die humanitäre Hilfe, wie schon gefordert, noch einmal aufzustocken.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Wir müssen UNMISS fortsetzen, damit die Hilfe auch die Menschen erreicht. Wir dürfen die Menschen dieses jungen Staates nicht im Regen stehen lassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Heinrich. – Als Nächstes: der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Lage im Südsudan ist katastrophal. Die Meldungen, die uns tagtäglich von dort erreichen, müssen einen erschüttern. Wir haben es nicht nur mit einer drohenden Hungersnot für Millionen von Menschen zu tun und damit, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen ist – 5 Millionen Menschen befinden sich in einer humanitären Notlage –, sondern seit dem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges auch mit dem Umstand, dass dies in einer Umgebung passiert, in der grausame Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und systematische sexuelle Gewalt als kriegerische Waffe, um nur einige Beispiele zu nennen, an der Tagesordnung sind. Deshalb kann eines klarer nicht sein: Wenn wir hier helfen wollen, können wir dies nicht ohne militärisches Rückgrat und ohne die Autorisierung des Einsatzes militärischer Mittel. Es geht in einem solchen Umfeld nicht anders.
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Deutschland leistet diesen Beitrag bereits seit vielen Jahren, und wir wollen es weiterhin tun – mit der Rückendeckung – das zeigt die Beschlussempfehlung des Ausschusses – aller Fraktionen des Hauses mit Ausnahme der Linken. Dazu will ich Ihnen ganz klar sagen: Ja, die Entscheidung über den Einsatz militärischer Mittel hat immer sehr weitreichende Konsequenzen. Sie kann Leben schützen; sie kann aber auch Leben kosten. Deshalb bin ich weit weg davon, jemanden dafür zu verurteilen, wenn er sich im konkreten Fall gegen einen Militäreinsatz entscheidet. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen dann so konsequent sein und jene Seiten aus Ihrem Wahlprogramm entfernen, die mit den Worten „Fluchtursachen bekämpfen“ überschrieben sind. Sie können hier nicht helfen und schon gar nichts bekämpfen, wenn Sie keine robusten Mittel haben, mit denen Sie zunächst ein Mindestmaß an Schutz gewährleisten können.
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Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, entwickelt sich Ihre Haltung an dieser Stelle schlicht zur politischen Lebenslüge.
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Mit dem Frieden ist es wie mit anderen Errungenschaften und den dafür notwendigen Anstrengungen auch: Er wird einem nicht geschenkt.
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Es gehört zu den nüchternsten Erkenntnissen unserer Welt: Frieden gibt es leider nicht umsonst. Er muss oft mühsam erarbeitet werden.
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Wo Kriminelle am Werk sind, denen nichts heilig ist, denen ein Menschenleben und erst recht Menschenrechte nichts bedeuten, erreicht man allein durch ein friedvolles Vorbild nichts. Sie können die Menschen dann nur im Stich lassen oder die NGOs gefährden. Das läuft letztlich auf dasselbe hinaus.
Es entspricht nicht unserem Weltbild, aber es gehört zur Realität: Es gibt Situationen und Orte auf dieser Welt, in und an denen können Sie nicht helfen, wenn Sie zurückweichen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesrepublik, dass die Bundeswehr ihren Beitrag hier weiter leistet. Es ist gut, dass das mit einem breiten Ansatz geschieht, nämlich unter anderem mit der Stärkung der Sonderinitiativen „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „EINEWELT ohne Hunger“. Deshalb danke ich bereits an dieser Stelle zum einen unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den Entwicklungshelfern und stellvertretend für sie unserem Minister Gerd Müller.
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Mit diesen Maßnahmen gewährleisten wir nämlich schnell wirksame Hilfe für die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen und helfen damit vor allem Frauen und Kindern. Für mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann es deshalb keine andere Haltung geben, als die Menschen im Südsudan zu unterstützen und dem vorliegenden Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kuffer. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Präsidentin Roth hat mich beim Wechsel darüber unterrichtet, dass sie wegen des massiven Zeitverzugs, in dem wir uns befinden, entschieden hat, keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen zuzulassen. Ich schließe mich dieser Entscheidung ausdrücklich an
({0})
und bitte auch, von Unmutsäußerungen Abstand zu nehmen.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Nikolas Löbel von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon viele Reden zur Mandatsverlängerung von UNMISS im Südsudan gehört. Dennoch machen uns die bloßen Zahlen erneut sprachlos. Der Südsudan hat 12 Millionen Einwohner. Davon sind 8 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. 4,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, und 2 Millionen Kinder können aufgrund des Konflikts nicht mehr zur Schule gehen. Es handelt sich, wie schon gesagt, um eine der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit.
Sicherlich verändern wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem kleinen Beitrag heute nicht das große Ganze. Und doch: Jedes gerettete Menschenleben und jedes verhinderte Leid ist es wert, heute für diesen Einsatz zu stimmen.
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Über 200 000 Menschen profitieren unmittelbar vom Schutz der UNMISS-Mission, weil sie in den Schutzzonen der internationalen Gemeinschaft Sicherheit und Schutz finden. Ohne diese Schutzzonen wären auch diese Menschen dem sicheren Tod geweiht. Die humanitäre Hilfe umfasst 1,72 Milliarden Dollar. Deutschland hat allein seit dem Jahr 2016 mehr als 170 Millionen Euro beigetragen. 17 000 Soldatinnen und Soldaten, über 1 500 Polizistinnen und Polizisten aus 63 Nationen leisten ihren Dienst vor Ort. Alle wollen helfen, das Land zu befrieden.
Das Wort „Frieden“, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesen furchteinflößenden Zahlen überhaupt in den Mund zu nehmen, ist gewagt. Doch wir würden keinen militärischen Einsatz unterstützen, wenn er nicht der Sicherung der humanitären Versorgung, der Absicherung von Hilfsorganisationen und der Unterstützung der wieder zögerlich verlaufenden Friedensgespräche dienen würde.
Die Vereinten Nationen sind davon überzeugt, dass die Beilegung des Konflikts, dass die Minderung der Folgen für die Zivilbevölkerung und der Wiederaufbau ohne die intensive und ohne die militärische Unterstützung seitens der internationalen Gemeinschaft nicht vorstellbar sind.
Herr Kollege, erlauben Sie mir ganz kurz eine Intervention. – Ich verstehe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass man sich nach 35 Minuten des Nichtwiedersehens freut, sich wiederzusehen, und deshalb Gespräche beginnt.
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Aber ich finde, dass jeder Redner dieses Hauses Aufmerksamkeit verdient hat, und bitte darum, die Gespräche zu unterlassen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns eint der Wille – wir wollen den Menschen im Südsudan helfen –, doch uns trennt der Blick auf die Realität, den hier einige leider verweigern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie sehen in Soldaten stets die Besatzer einer fremden Macht. Soldaten können aber auch, wie die Geschichte gezeigt hat, als Befreier wahrgenommen werden – als Befreier und Beschützer von Frauen und Kindern vor Unterdrückung, Gewalt, Missbrauch und Tod.
({0})
Liebe Frau Kollegin Vogler, wenn Sie hier sagen, ein Militäreinsatz sei weder besonders wirksam noch alternativlos, er sei ein bloßes Weiter-so oder ein Dokument des Scheiterns, dann kann ich Ihnen nur antworten: Helfen kann man in dieser Situation nicht, indem man sich in diesem Haus als friedvollen Pazifisten ausgibt, sondern indem man vor Gott zu seiner Verantwortung zur Menschlichkeit steht. Die Menschen im Südsudan brauchen unsere Hilfe, und sie werden diese Hilfe auch weiterhin bekommen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit leisten 16 tapfere Angehörige der Bundeswehr ihren Dienst im Südsudan.
({2})
Diese Soldaten sind Helden – Helden, die für 82 Millionen Deutsche stehen, die nicht wegschauen wollen, sondern die auch im Südsudan ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden wollen.
Lieber Herr Kollege Otten von der FDP – –
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– AfD, ich entschuldige mich vielmals, Herr Kollege von Lambsdorff. – Es war der Kollege Otten von der AfD, der vorhin sagte, der Südsudan sei quasi ein Failed State. Ich habe viele Debatten hier gehört. Die AfD stellt sich hierhin und sagt mehrfach, dass wir als Vereinte Nationen nicht alles getan hätten, um der Warlords und der Kriegstreiber, der rivalisierenden Truppen vor Ort und der damit verbundenen Waffenlieferungen Herr zu werden. Spätestens nach Ihrem privaten Abstecher nach Syrien müssten Sie doch Gewissheit haben, wie schwer es ist, solche Krisenherde zu beherrschen oder sie gar zu beseitigen.
Ich sage Ihnen eines – damit komme ich zum Schluss –: Herr Kollege Lucassen, Sie haben vorhin gesagt: Wir alle sind Volksvertreter. Ich sage Ihnen: Auch Sie sind jetzt Volksvertreter. Der Kollege Hampel sagt: Die Bundeswehr sei ein verwahrloster Trümmerhaufen.
Sie haben jetzt noch einen Satz.
Ein Satz. – Meine Antwort darauf ist: Die Bundeswehr ist der Stolz dieses Landes.
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Dieser Stolz gehört wieder aufpoliert. In diesen Stolz gehört wieder mehr investiert. Aber hören Sie auf, diesen Stolz ständig zu demolieren!
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Wir stehen zu unseren Soldaten. Bitte votieren Sie heute für die Mandatsverlängerung und für diesen Antrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Löbel. Sie haben ein Riesenglück, dass Sie der letzte Redner waren, sonst hätte ich der CDU/CSU-Fraktion noch zwei Minuten Redezeit abziehen müssen. – Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Mission der Vereinten Nationen in der Republik Südsudan, (UNMISS). Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/1303, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/1095 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmun g über die Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Bundestages im Saal, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit der letzten Mandatierung des deutschen Beitrags zu UNAMID im Dezember 2017 sind gerade einmal drei Monate vergangen. Mit der erneuten Verlängerung des Einsatzes am 30. Juni 2017 beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht nur eine deutliche Verkleinerung der Operation, sondern brachte gleichzeitig auch eine strategische Neuaufstellung dieser Blauhelmmission auf den Weg. Bei diesem Rückbau wurde in der ersten Phase die Einsatzstärke im militärischen Bereich bis Ende 2017 auf etwa 11 400 Soldaten, die polizeiliche Komponente auf knapp 2 900 Polizisten abgeschmolzen. Erste Auswertungen durch die VN und die Afrikanische Union bescheinigen dieser Neuausrichtung einen erfolgreichen Verlauf. Die zweite Phase der Rekonfiguration soll nun bis zur erneuten Mandatierung Ende Juni 2018 abgeschlossen sein.
Hierbei soll ein weiterer Abbau auf circa 8 700 Soldaten und 2 500 Polizisten erfolgen. Im Vergleich zur Personalstärke von vor gut einem Jahr käme dies fast einer Halbierung gleich.
Die humanitäre Lage bleibt angespannt. In Darfur leben 2,7 Millionen Binnenvertriebene. 2,3 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Folgen des Bürgerkriegs im Südsudan wirken sich ebenfalls destabilisierend auf den Sudan aus. Laut Aussagen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, sollen mittlerweile über 200 000 Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg im Südsudan in der Region Darfur Zuflucht gesucht haben. Dies ist ein Faktor, der die ohnehin schwierige Situation weiter verschärft.
Obgleich sich die Menschenrechtslage im Sudan 2017 etwas verbessert hat, kommt es in Darfur weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen seitens der Regierung und Milizen, darunter Gewaltanwendungen, Entführungen von Zivilpersonen, Rechtsverletzungen, Missbrauchs- und Gewalthandlungen an Frauen und Kindern sowie willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen. UNAMID bleibt also notwendig, notwendig als stabilisierendes Element zur Verbesserung der Sicherheitslage, zur Sicherung des humanitären Zugangs, zur Überwachung und Verbesserung der Menschenrechtslage sowie zur Begleitung der politischen Friedensbemühungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der deutsche Beitrag zu UNAMID gehört zu den kleineren Einsätzen der Bundeswehr. Mit Stand Februar 2018 sind drei Offiziere der Bundeswehr vor Ort, und sieben Polizistinnen und Polizisten leisten dort ihren Dienst. Aber auch diese kleineren Beiträge machen im vernetzten Ansatz einer Operation Sinn, zumal wir die einzigen Europäer sind, die sich an dieser Mission beteiligen. Wir werden der Verlängerung des Mandats zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Vöpel. – Als Nächstem erteile ich dem Abgeordneten Gerold Otten von der AfD-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Welcher Herausforderung die UN-Friedensmission UNAMID gegenübersteht, unterstreicht alleine schon die Tatsache, dass bereits seit 2009 gegen das Staatsoberhaupt des Sudan ein Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht. Präsident al-Baschir ist also ein Teil des Problems, anstatt dabei mitzuhelfen, die Probleme seines Landes zu lösen, eines Landes, in dessen Provinz Darfur seit Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobt.
Als in der vorigen Woche und auch in der vorherigen Rede an dieser Stelle die Beteiligung der Bundeswehr an UNAMID zur Sprache kam, wurde mit nicht wenig Stolz erwähnt, dass Deutschland das einzige europäische Land ist, das sich an dieser Friedensmission beteiligt. Die politische und humanitäre Krise in Darfur zu bekämpfen, ist sicher ein ehrenhaftes Ziel. Es wirft allerdings auch die Frage auf, warum sich nicht noch weitere europäische Nationen an UNAMID beteiligen. Warum verlassen sich alle anderen europäischen Nationen bei dieser UN-Mission allein auf Deutschland? Sollte es zum Beispiel nicht auch dem französischen Präsidenten Macron, dem angeblich so mustergültigen Europäer, genauso am Herzen liegen, die notleidenden Menschen in Darfur zu schützen, vor allem auch angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr in Mali eindeutig französische Interessen vertritt?
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Ob sich französische Humanität am deutschen Maß messen lässt, wird der frisch ernannte Außenminister herausfinden können, falls er beim nächsten Besuch bei unseren Nachbarn die Frage nach einer französischen Beteiligung an UNAMID ansprechen sollte.
Ein breiteres europäisches Engagement wäre vor allem vor dem Hintergrund erforderlich, dass Darfur als Haupttransitland für Migranten aus Eritrea in Richtung Mittelmeer gilt. Hier geht es also auch um die Bekämpfung von sogenannten Fluchtursachen, die sich die Bundesregierung ja auf die Fahnen geschrieben hat. Diese Aufgabe ist spätestens seit der unkontrollierten Grenzöffnung von 2015 kein rein deutsches Problem mehr.
Doch zurück zur Situation vor Ort: Polizei und Bundeswehr arbeiten vor Ort unter schwersten Bedingungen. Kriminalität, Terrorismus und Menschenrechtsverletzungen sind weiterhin an der Tagesordnung. Die Situation in Darfur unterscheidet sich in vielem nicht wesentlich von der im Südsudan, weshalb es auch nicht verwundert, dass der Sudan auf Platz 5 des Fragile States Index zu finden ist. Nur zum Vergleich: Die Einwohner Afghanistans leben in Verhältnissen, die sicherer sind als die im Sudan.
In diesem Umfeld leisten unsere Bundeswehrsoldaten und Polizeibeamten Bemerkenswertes, und dafür gebührt ihnen unser Dank.
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Doch damit allein kann es nicht getan sein. Verhandlungen oder Mediation werden erst dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Parteien unbewaffnet am Verhandlungstisch Platz nehmen. Deshalb sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, die Entwaffnungskampagne schneller und konsequenter umzusetzen.
Darüber hinaus sollte der Mission eine realistische Perspektive verliehen werden, die sich zum Beispiel in einem Zeitplan mit konkreten Meilensteinen manifestiert und zu der auch eine Exit-Strategie gehört. Das sind konkret greifbare Aspekte und realistische Ziele, die über die bislang praktizierte Symbolpolitik hinausgehen würden.
Doch auf Symbolpolitik wurde bei der Begründung der Verlängerung des Einsatzes durch die Bundesregierung besonders Wert gelegt: Solidarität symbolisieren und Verantwortung übernehmen, heißt es, oder, wie sich Staatsminister Annen in der vergangenen Woche ausdrückte, um den UN zu beweisen, dass wir verlässliche und kompetente Partner sind. Meine Damen und Herren, da ist er wieder, der deutsche Musterschülerkomplex.
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Was ist das für eine Motivation? Wenn wirklich humanitäre Gründe für die Regierung an erster Stelle stehen und das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, dann haben wir den UN gar nichts zu beweisen, dann geht es tatsächlich in erster Linie um die Schutzbedürftigen.
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Und das würde bedeuten, dem Kontingent von UNAMID mehr Befugnisse zu geben, schnellstmöglich die konsequente Entwaffnung aller Konfliktparteien einzuleiten und die Provinz Darfur zur entmilitarisierten Zone zu erklären. Mit diesem Schritt könnten den Menschen in Darfur wieder Hoffnung und die Perspektive auf ein Leben in Sicherheit gegeben werden.
Um den leidgeprüften Menschen in Darfur dies zu ermöglichen, setzt die AfD-Fraktion auf ein Auftreten der Bundesregierung, das künftig konsequenter auf das Wohl der Schutzbedürftigen ausgerichtet ist.
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Wir unterstützen deshalb aus rein humanitären Gründen die Verlängerung des Bundeswehrmandats zur Teilnahme an der Friedensmission UNAMID.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit zu der späten Stunde.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Darfur ist für die Zivilbevölkerung nach wie vor dramatisch. Die Versorgung mit den lebenswichtigsten Gütern ist unverändert – unverändert schlecht. Auch die Fluchtbewegungen innerhalb des Landes sind nach wie vor dramatisch – wir haben die Zahlen schon gehört –: 2,7 Millionen Flüchtlinge sind im Sudan auf der Flucht, und 2,3 Millionen Menschen sind zwingend auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Wir entscheiden heute – wie zuletzt im Dezember letzten Jahres – über die Fortsetzung unserer Anstrengungen, um die Lage dort zu verbessern.
Selbstverständlich müssen und wollen wir unseren Beitrag zur Stabilisierung Darfurs und zur Hilfe der dort lebenden Menschen leisten. Das ist angesichts der nach wie vor besorgniserregenden Lage vor Ort eine Selbstverständlichkeit. Zwar stellen wir eines der kleinsten Kontingente; aber als die einzigen an der Mission beteiligten Europäer tragen wir auch symbolisch die Verantwortung Europas in diesem Einsatz. Uns ist Afrika wichtig.
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Nur ein starkes Afrika kann die vielzähligen Probleme auf dem Kontinent lösen.
Einige Bürgerinnen und Bürger haben mich in der Vergangenheit gefragt, wo der vielbeschworene Kampf gegen die Fluchtursachen eigentlich stattfindet. Ich kann sagen: Er findet hier statt. In dieser gemeinsamen Mission der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, an der sich Deutschland beteiligt, wird tagtäglich gegen Fluchtursachen gekämpft; denn größte Fluchtursachen sind bewaffnete Konflikte, Hunger und Perspektivlosigkeit.
Mit der Beteiligung an UNAMID tragen wir aktiv zum Kampf gegen Fluchtursachen bei. Als Transitland für Flüchtlinge aus Ostafrika ist der Sudan Dreh- und Angelpunkt für die Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika, der Verfolgung von Schleppern und Geschäftemachern. UNAMID eröffnet die Chance auf eine Zukunft, die es vor lauter Waffen und Hunger ansonsten in dieser Region nicht geben würde. Ein Scheitern Darfurs und des Sudans mit seinen schon heute 2,7 Millionen Binnenflüchtlingen wäre zudem ein Rückschlag im europäischen Engagement gegen Flucht und Vertreibung.
Wir müssen uns daher auch weiterhin für den Erhalt staatlicher Strukturen und die Ermöglichung von Zukunft vor Ort einsetzen und dürfen nicht das Scheitern eines Staates im Nachhinein betrauern. UNAMID ist ein wichtiger Baustein für den Kampf gegen das Scheitern des Sudans, gegen den Hunger, gegen bewaffnete Konflikte, gegen Flucht.
Und ja, es ist richtig: Die erzielten Fortschritte sind bisher geringer als erhofft. Denn zwar wurde der einseitige Friedensvertrag vonseiten der Regierung verlängert – auch konnte Darfur auf einem Mindestmaß stabilisiert werden –; aber die ungelösten regionalen Konflikte, die stattfindenden Verteilungskämpfe und der große Umlauf von Waffen sorgen nach wie vor für eine ungewisse Entwicklung. Eine nachhaltige Stabilisierung der Region durch Kräfte von außen und die damit erst mögliche Gewährung humanitärer Hilfe vor Ort ist daher weiterhin unbedingt notwendig.
In der nun erneut anstehenden Verlängerung geht es vor allem darum, den Prozess der Rekonfiguration nach der Phase der Reduzierung der Truppenstärken und der Neuausrichtung der Mission aktiv zu begleiten und zu beobachten. Es handelt sich um eine kritische Phase dieser Hybridmission. Wir wollen uns für ein erfolgreiches UNAMID einsetzen. Wir wollen Frieden und Wohlstand für die Region. Das geht nicht ohne UNAMID.
Als Parlament hat der Deutsche Bundestag die Entscheidungsgewalt über die Entsendung der Bundeswehr, einer Parlamentsarmee. Damit entscheiden wir nicht nur über die Teilnahme an internationalen Bündnissen, sondern auch über die konkrete Lebenssituation vieler Familien in Deutschland, deren Mitglieder sich in den Dienst für Deutschland gestellt haben und zur Friedenssicherung und Friedensherstellung in ferne Länder entsandt werden. Ich danke daher allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch den Polizistinnen und Polizisten, die für uns an der Mission UNAMID teilnehmen.
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Sie, aber auch deren Familien, für die UNAMID einen Verzicht auf den Ehemann, den Sohn, die Enkelin oder die Schwägerin bedeutet, leisten einen wichtigen Einsatz für unser Land. Haben Sie vielen Dank für diesen Einsatz!
Nun werden wir gleich wieder von den Linken hören, warum dieser Einsatz so verantwortungslos ist und warum sie ihn nicht mittragen können. Ich möchte an dieser Stelle empfehlen, sich die Erfahrungsberichte der Polizistinnen und Polizisten anzuhören, die dort stationiert sind. Da sind zum Beispiel zwei Polizisten, die über das Mandat ihres eigentlichen Auftrages hinaus in einer privaten Aktion Spenden sammeln, um eine Schule wiederaufzubauen, die im Krieg zerstört wurde. Da schreibt uns eine Polizistin ins Stammbuch: Wir dürfen nicht nur darüber reden, dass wir etwas verändern müssen, sondern wir müssen es auch mit Taten belegen. – Ich glaube, wenn diejenigen, die wir in diesen schwierigen Einsatz schicken, uns sagen, dass dieser Einsatz wichtig ist, dass er notwendig ist und dass er vor Ort wirkt, gibt es keinen Grund, diesem Einsatz nicht zuzustimmen.
Deshalb werden wir als CDU/CSU-Fraktion diesem Einsatz zustimmen. Wir wünschen unseren Soldatinnen und Soldaten und den Polizistinnen und Polizisten viel Erfolg für diese schwierige Mission.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Koob. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Alexander Kulitz für die Freien Demokraten.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Es gibt in der Tat keinen Grund, nicht zuzustimmen. Da haben Sie absolut recht, Herr Koob. Aus diesem Grund werden sich auch die Freien Demokraten dem Antrag anschließen. Wir haben diesbezüglich unsere Meinung seit letztem Donnerstag auch nicht geändert.
Im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit und die Effizienz des Parlaments möchte ich jetzt auch die vielen richtigen Argumente nicht wiederholen,
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die sowohl Herr Koob als auch Herr Vöpel gebracht haben.
Aber Herr Otten, eines möchte ich nach Ihren Ausführungen genauer wissen: Wo ist denn das Problem, wenn wir gegenüber unseren Partnern Verlässlichkeit beweisen? Ich finde es eine richtige Sache. UNAMID ist eine Friedensaktion, die seitens der Weltgemeinschaft durchgeführt wird. Da finde ich es absolut richtig – und ich bin auch stolz darauf –, dass Deutschland mit seiner Armee daran teilhat. Und da gibt es gar keinen Grund, zu behaupten, dass wir irgendjemandem etwas beweisen müssten, sondern wir tragen unsere Verantwortung, und das finde ich absolut gut.
Eine andere Sache möchte ich trotz der sehr späten Stunde anmerken – vielleicht, Frau Buchholz, können Sie mir gleich eine Antwort darauf geben –: Ich habe bis heute noch keine plausible Antwort der Linken gehört, wie wir unsere gemeinsamen Anstrengungen der humanitären Hilfe und der Entwicklungsarbeit in einem Land fortführen wollen, gerade in Darfur, wenn wir unsere Armeen dort abziehen, wenn wir diese Friedensmission beenden. Wir brauchen diese Friedensmission. Wir alle haben 2006, 2007, bevor es UNAMID gab, gesehen, wie dieses Land im Chaos versank.
Wir sind auf dem besten Weg. Seit Oktober 2017 hat sich die Situation relativ stabilisiert.
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Ja, es könnte besser sein, gar keine Frage – die Argumente wurden vorgetragen –; aber ich denke, es wäre gar nicht machbar, diese Friedensmission durchzuführen oder ernsthaft Entwicklungshilfe zu betreiben, ernsthaft humanitäre Hilfe anzubieten, wenn wir keine Möglichkeiten hätten, die NGOs und die vielen zivilen Helfer überhaupt noch in dieses Land gehen zu lassen.
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Eine plausible Antwort auf die Frage, wie das funktionieren soll, habe ich bis heute noch nicht von der Linken gehört.
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Sehr verehrte Damen und Herren, die Freien Demokraten stehen absolut hinter diesem Antrag. Wir halten es für wichtig und richtig, dass wir als Deutsche unsere Verantwortung wahrnehmen, dass wir hier gemeinsam mit den UN und der Afrikanischen Union helfen. Hier über den Tellerrand, über unsere nationalen Grenzen hinauszugucken, diese Peacekeeping-Mission auch wahrzunehmen und hier gemeinsam für Frieden einzustehen, ist absolut richtig, und deswegen werden die Freien Demokraten diesem Antrag zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
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Ich bedanke mich herzlich, Herr Kollege Kulitz, auch für das Zeitmanagement. – Als Nächste spricht zu uns die Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen 15 Jahren sind in der sudanesischen Provinz Darfur rund 300 000 Menschen ermordet worden. Hauptverantwortlich dafür ist der sudanesische Diktator Umar al-Baschir. Das war vor über zehn Jahren auch die Begründung dafür, dass die Bundeswehr zum ersten Mal nach Darfur geschickt wurde.
Doch heute redet die Bundesregierung nicht mehr laut über Baschirs Verbrechen. Der Grund ist einfach: Der sudanesische Präsident Baschir ist mittlerweile zu einem Verbündeten von Bundesregierung und EU geworden. Seine Regierung erhält seit 2014 jedes Jahr viele Millionen Euro von der EU. Ziel ist es, afrikanische Migranten an der Grenze aufzuhalten. Wir finden: Diese Zusammenarbeit mit dem Baschir-Regime ist ein Skandal.
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Die Bundesregierung redet die Lage in Darfur schön. Sie behauptet in dem vorliegenden Antrag, die Sicherheitslage sei dort heute durchaus positiv.
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Das hat mit der Realität nichts zu tun. Sudanesische Nichtregierungsorganisationen haben jüngst darauf hingewiesen, dass das Regime weiterhin Zivilisten in den Provinzen Südkordofan, Blue Nile und Darfur aus der Luft bombardiert.
Tatsache ist auch: Der UNAMID-Einsatz ist weitgehend wirkungslos.
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Im letzten Jahr wurden elf UN-Militärstützpunkte in Darfur geschlossen, ohne dass sich irgendetwas an der Sicherheitslage geändert hätte.
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Das gibt die Bundesregierung in ihrem Antrag selbst zu. Die Linke hat das schon immer kritisiert: Der UNAMID-Einsatz kostet Milliarden, bringt aber keinen Frieden.
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Nun hat das sudanesische Regime angefangen, Waffen in Darfur einzusammeln. Doch wen hat es mit der Entwaffnungsaktion beauftragt? Die sogenannten schnellen Unterstützungskräfte – eine direkt Präsident Baschir unterstellte Truppe, die 2013 aus der Miliz der Dschandschawid hervorgegangen ist. Im Rahmen der sogenannten Entwaffnungsaktion wurden Dutzende Stammesvertreter verhaftet, die nicht kooperieren wollten. Schlimmer noch: Die sogenannten schnellen Unterstützungskräfte gehen an der Grenze des Landes mit Kriegswaffen gegen Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Äthiopien vor. Im letzten September haben sie laut eigenen Angaben 28 vermeintliche Schleuser an der Grenze zu Libyen erschossen. Es ist davon auszugehen, dass viele Flüchtlinge Opfer dieser Miliz geworden sind. Wie kann die Bundesregierung angesichts dessen von einer positiven Entwicklung sprechen? Das ist doch blanker Zynismus.
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Die Menschen im Sudan wissen, was sie von der EU und der Bundesregierung zu erwarten haben. – Nichts. Sie wehren sich selbst. Vor drei Monaten hat die sudanesische Regierung die Subventionen für Grundnahrungsmittel gestrichen. Sie kam damit übrigens einer Forderung des IWF nach. Daraufhin verdoppelten sich die Brotpreise. Im Januar gingen in allen Provinzen des Landes Zehntausende zu friedlichen Protesten auf die Straße. Das Baschir-Regime reagierte wie üblich: mit brutaler Gewalt. Drei Demonstranten wurden getötet, Dutzende verletzt, Hunderte verhaftet. Und was macht die Bundesregierung? Sie entsendet nicht nur Soldaten, sondern auch Polizeikräfte, um dem Regime Baschir beim Aufbau seiner sogenannten Sicherheitskräfte zu helfen. Das finden wir unglaublich.
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Die deutsche Sudan-Politik stärkt das Regime. Damit fällt sie denjenigen in den Rücken, die im Sudan gegen Repression, Gewalt und Armut aufstehen. Die Linke wird auch gegen diesen Einsatz stimmen.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Buchholz. – Als nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Ottmar von Holtz mit seiner ersten Parlamentsrede.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die UNAMID-Mission wird von der Afrikanischen Union getragen, in Kooperation mit den Vereinten Nationen. Das ist ganz im Sinne von mehr regionaler Zusammenarbeit und mehr regionaler Verantwortung. Auch wenn sich der Einsatz schon sehr lange hinzieht, bleibt es dabei: Auch für die Menschen in Darfur tragen wir eine Verantwortung. Die UN-Mission ist wichtig. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen wird deswegen der Verlängerung des Mandats zustimmen.
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Wenn wir über den Sudan sprechen, muss ich dennoch einige wichtige Kritikpunkte anbringen:
Erstens ist die Kooperation mit dem sudanesischen Diktator al-Baschir grundlegend falsch.
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Der international gesuchte Kriegsverbrecher ist Teil des Problems in der Region, nicht Teil der Lösung.
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In manchen Staaten kann der Diktator noch immer ungehindert ein- und ausspazieren, als gebe es keinen internationalen Haftbefehl. Internationale Solidarität ist nötig, und die Bundesregierung muss sie endlich einfordern. Baschir muss endlich vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden.
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Doch stattdessen wird er ganz offen auch von der EU mit Millionen von Euro beschenkt, damit er dafür sorgen möge, dass weniger Menschen durch das Transitland Sudan nach Europa gelangen. Das ist wirklich ein Skandal, meine Damen und Herren.
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Schlimm ist auch, dass viele Menschen aus dem Sudan und dem Südsudan in Deutschland nach wie vor von Abschiebung bedroht sind. Ich kenne in meiner Heimatregion eine ganze Menge Menschen aus dem Sudan. Ich habe es nie verstanden und kann es auch heute nicht verstehen, warum Geflüchtete aus dem Sudan nur unter subsidiären Schutz gestellt werden.
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Es ist nicht nachvollziehbar, dass politisch Verfolgte aus dem Sudan keine Bleibeperspektive in Deutschland erhalten. Das, meine Damen und Herren, hat mit einer Außen- und Flüchtlingspolitik, in der Menschenrechte etwas zählen sollen, nichts zu tun.
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Zweitens müssen wir endlich eine politische Lösung des Konflikts in Darfur vorantreiben. Wir müssen diplomatische Initiativen stärken. Dabei darf keine Konfliktpartei ausgeschlossen werden, wie bisher. Es gibt in Deutschland hervorragende Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung und international erfahrene Mediatoren. Dabei muss die Bevölkerung eng in den Prozess eingebunden werden. Die Menschen müssen als mündige Akteurinnen und Akteure die Zukunft ihres Landes gestalten können. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Zivilgesellschaft sind hier erforderlich.
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All das muss Teil eines umfassenden Friedensdialogs sein. Ich frage die Bundesregierung: Wo bleibt dieser Friedensprozess?
Drittens brauchen wir ein stabiles Umfeld für eine nachhaltige Entwicklungspolitik, um die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen dauerhaft zu lösen. Das bedeutet: humanitäre Hilfe ausbauen, besonders in der Fläche abseits der Lager der Binnenvertriebenen.
Doch Deutschland muss sich auch an die eigene Nase fassen und endlich eine kohärente Außenhandels-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik an den Tag legen: eine faire Handelspolitik und einen Stopp von Waffenexporten in die Region.
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Herr Maas, Sie sind die neue Hausleitung des Außenministeriums. Stärken Sie die zivile Komponente der deutschen und europäischen Außenpolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter all den Schreckensmeldungen aus dem Sudan stecken immer Einzelschicksale. Jedes Leben, das wir durch den UNAMID-Einsatz retten können, ist kostbar. Den an der Mission beteiligten Deutschen danke ich für ihren Einsatz und wünsche viel Erfolg und Durchhaltevermögen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege von Holtz. – Nun Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! In der Tat – das ist vielfach dargelegt worden –: Wir reden über eine der größten humanitären Krisen unserer Zeit weltweit. Auch wenn sich die Lage 2017 ein bisschen verbessert hat – und sie hat sich verbessert –, was die humanitäre Situation und den humanitären Zugang angeht, ist sie weiterhin verheerend.
Im Übrigen, Frau Buchholz, gibt es gar nicht zwei Meinungen, was die Menschenrechtssituation dort angeht. Es ist doch völlig klar, dass wir uns einig sind, dass sie verheerend ist. Im Januar gab es Demonstrationen und Verhaftungen von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern. Es ist völlig klar – das ist, glaube ich, die Position der EU-Botschafter gewesen, und das muss auch unsere Position sein –: Diese Menschen sind umgehend freizulassen. Ich denke, das ist auch die klare Haltung dieses Hauses.
Es ist im Übrigen auch klar – das sage ich, weil Sie die Bundesregierung angegriffen haben –: Sollte Herr al-Baschir, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, deutschen Boden betreten, wird er hier festgesetzt und an den Internationalen Strafgerichtshof überstellt. Ich glaube, auch dazu gibt es keine zwei Meinungen in Deutschland.
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Es ist richtig, dass wir humanitäre Hilfe leisten; das ist umfassend beschrieben worden. Es ist aber auch richtig, dass wir es ermöglichen, dass humanitäre Hilfe überhaupt geleistet werden kann. Frau Buchholz, Sie haben viel über Fluchtbewegungen geredet. Da gibt es manches, was ich so sehen würde wie Sie, und die Kritik, die von den Grünen geübt wurde, würde auch ich zum Teil üben. Aber das ist trotzdem keine Antwort auf die Fragen bezüglich UNAMID. Wenn wir humanitäre Hilfe leisten wollen, Menschen vor Ort helfen wollen, dann müssen wir sicherstellen, dass die Hilfe auch geleistet werden kann.
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Darauf müssen Sie eine Antwort geben. Ohne UNAMID wäre das nicht möglich.
Deswegen ist es richtig, dass Deutschland sich – das ist betont worden – als einziger EU-Staat dort entsprechend beteiligt. Wir stärken, ganz im Sinne von Staatsminister Annen, die Vereinten Nationen, aber eben nicht nur. Wir stärken auch die Afrikanische Union, die dadurch die Möglichkeit hat, in der Region selbst für Ordnung zu sorgen.
Es ist ein überschaubares Mandat – das ist angesprochen worden –, sowohl personell als auch finanziell. Aber es sind hochmotivierte Soldatinnen und Soldaten und hochmotivierte Polizistinnen und Polizisten, die dort im Einsatz sind.
Bis vor kurzem war das auch jemand namens Nina Stier, Kriminaloberkommissarin der Kreispolizeibehörde Recklinghausen; da komme ich zufällig her. Sie beschreibt, dass es zu ihren Aufgaben gehörte, in der Bevölkerung um Vertrauen für staatliches Handeln zu werben, mit einheimischen Kolleginnen und Kollegen Polizeistrukturen aufzubauen und mit den Frauen die sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten. Nina Stier sagt wörtlich: „Wenn man Menschenrechte ernst nimmt, muss man selbst mit anpacken.“
In der Tat: Es sind weiß Gott nicht nur Soldatinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten, sondern auch viele zivile Helferinnen und Helfer, die dort im Einsatz sind. Aber ohne den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten wäre dieser Einsatz der zivilen Helferinnen und Helfer so eben nicht möglich.
Deutschland spielt eine wichtige Rolle im Sudan – wichtig in Sachen UNAMID, wichtig aber auch bei den Friedensbemühungen. Herr von Holtz, vielleicht laden Sie sich einmal das Auswärtige Amt ein und lassen sich in Ihrer Fraktion schildern, welche Friedensmediationen es zusammen mit der Berghof Stiftung und der Stiftung Wissenschaft und Politik gibt. Deutschland ist führend bei diesen Versuchen, für Frieden zu sorgen, und auch nicht ganz unerfolgreich.
Wir leisten auch humanitäre Hilfe. Im Jahr 2017 betrug der Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit 804 Millionen Euro. Davon sind nicht einmal 50 Prozent geleistet worden. Ich glaube, das ist der eigentliche Skandal; darin müssen wir uns in diesem Hause, glaube ich, einig sein. Diesem Skandal müssen wir natürlich abhelfen.
Deutschland ist der viertgrößte Geber. Da hier jetzt alle versammelt sind – auch die Haushälterinnen und Haushälter –: Wir müssen dafür sorgen, dass die humanitäre Hilfe so hoch bleibt, wie sie ist, nämlich etwa 1,7 Milliarden Euro. Dafür tragen wir alle hier Verantwortung – auch in den Haushaltsberatungen.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Schwabe. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschließen gleich durch namentliche Abstimmung eine weitere Verlängerung des Einsatzes UNAMID in Darfur. Auch wenn die Mandatsobergrenze nur 50 Soldaten beträgt und es tatsächlich nur drei Soldatinnen und Soldaten und sieben Polizeibeamte sind, so ist es dennoch richtig, dass wir das Signal des Deutschen Bundestages aussenden, dass uns jede Mission diese namentliche Abstimmung wert ist, weil wir Sorge für unsere Soldaten tragen
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und weil die Sorgsamkeit für diese Einsätze zur DNA des Deutschen Bundestages gehört. Das ist ein ganz wichtiges Signal und unterstreicht, dass wir eine Parlamentsarmee haben und dass die Bundeswehr mit all ihren Einsätzen auch eine Parlamentsarmee bleibt.
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Diese parlamentarische Rückendeckung auch für einen nominell kleinen Einsatz ist ein wichtiges Signal an die gesamte Mission UNAMID, weil hier mehrere Dutzend Staaten – auch aus der Afrikanischen Union – gemeinsam vertreten sind, um eine humanitäre und menschliche Katastrophe zu lindern. Stellvertretend für unsere europäischen Partner senden wir als Bundesrepublik Deutschland das Signal, dass uns dieser Konflikt nicht egal sein kann, sondern dass humanitäre Hilfe ein Kernanliegen unserer Außenpolitik ist.
Es geht nicht darum, irgendeinen Kriegsverbrecher oder Diktator wie al-Baschir zu unterstützen. Es geht darum, dass die Menschen vor Ort humanitäre Hilfe bekommen, vor sexualisierter Gewalt, Überfällen und Bandenkriminalität sicher sind und das Nötigste zum Leben und leider auch zum Überleben haben.
Die Polizeibeamtin aus dem Kreis Recklinghausen, die der Kollege Schwabe gerade zitiert hat, hat ihren Einsatz ganz eindringlich dargestellt. Sie hat darüber gesprochen, dass insgesamt 600 000 Menschen rund um 45 Dörfer nur etwa 16 bis 20 Wasserstellen haben und dass hier ein Verteilungskonflikt vorliegt. Sie hat gesagt: Jemand muss diesen Job machen, und, ja, wenn man Menschenrechte ernst nimmt, dann muss man selbst mit anpacken. – Ich sage Ihnen ehrlich: Die Haltung dieser Polizistin hat unseren allergrößten Respekt verdient. Ich bin stolz, dass wir solche Botschafter unseres Landes haben.
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Ja, es geht um humanitäre Hilfe. In der Not lässt man Menschen nicht alleine. Es wird eine der großen Herausforderungen auch für die internationale Politik sein, humanitäre Hilfe zukünftig ausreichend zu finanzieren und dafür Sorge zu tragen, dass sie bei den Menschen ankommt. Es ist gut, dass wir das World Food Programme um weitere Millionen aufstocken. Hier möchte ich auch unserem Entwicklungshilfeminister Gerd Müller sehr herzlich danken.
Meine Damen und Herren, dieser Einsatz ist auch ein Signal dafür, dass wir die humanitäre Hilfe zu einem der Kernthemen unserer Außenpolitik machen.
Letzten Endes geht es um die Frage, wie sehr wir der Menschlichkeit in der Welt Geltung verschaffen. Wir tun das durch diesen Einsatz, durch das Signal, das wir geben, und durch die Hilfe der Menschen vor Ort. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Einsatz.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt begrüße ich herzlich die Kollegin Michaela Noll mit der Bitte an das Auditorium, auch ihrer Rede aufmerksam zu folgen.
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Einen wunderschönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mittlerweile 22.30 Uhr. Für die Soldaten gibt es eine Arbeitszeitrichtlinie, in der eine kürzere Arbeitszeit festgelegt ist. Aber wir zeigen mit dieser Debatte auch, dass wir uns, unabhängig von der Uhrzeit, mit den Mandaten lange beschäftigen.
Oftmals haben die Soldaten den Eindruck, dass wir uns mit Sinn und Zweck der Mandate nicht richtig auseinandersetzen. Aber ich sage: Wir haben allein heute sechs Stunden über die Mandate gesprochen. Das ist für mich ein Zeichen, dass wir aufmerksam darüber sprechen, was wir tun, warum wir es tun, und dass wir versuchen, all das den Bürgern zu erklären. Das ist notwendig.
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Wir haben gerade schon gehört, dass es eine kleine Einheit mit drei Soldaten und sieben Polizeibeamten ist. Wir haben auch im Ausschuss sehr lange darüber diskutiert. Wir haben in der letzten Sitzungswoche über Mandatseinsätze diskutiert. Aber eins war in den ganzen Diskussionen der letzten zwei Sitzungswochen deutlich: die Anerkennung der Leistung der Soldaten und der Polizisten vor Ort, egal ob es eine kleine oder eine große Einheit ist. Deswegen kann ich sagen: Darüber gibt es einen breiten Konsens.
Es gibt zwar links ein paar Kollegen, die mal abdriften. Aber irgendwann werden auch sie begreifen, dass ohne Stabilität und ohne Sicherheit keine humanitäre Hilfe möglich ist. Deswegen brauchen wir den Einsatz der Soldaten.
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Ich habe bis heute von Ihnen noch nicht ein Argument oder einen Lösungsansatz gehört, sondern immer nur destruktive Kritik. So geht das nicht.
Zurück zu den Kollegen. Der Kollege Vöpel von der SPD, mein Kollege Koob, der Kollege Ullrich und ich haben von der humanitären Hilfe gesprochen. Wir haben auch die symbolische Verantwortung genannt. Auch Herr Kollege Kulitz von der FDP hat von unserer Verantwortung in der Welt gesprochen. Es gibt ja auf der rechten Seite Kollegen, die sich fragen, warum wir alleine da mitmischen müssen. Antwort: weil wir auch eine Vorbildfunktion haben,
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weil Bundespräsident Gauck auf der Sicherheitskonferenz 2014 gesagt hat: Deutschland muss mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. – Wir nehmen diese Verantwortung wahr, und wir machen eine gute Arbeit.
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Was mich natürlich freut, ist die Bilanz von UNAMID: Wir haben eine bessere humanitäre Lage. Die Sicherheitslage ist etwas stabiler geworden. Deswegen wird die Einheit verkleinert, und die Mission wird verändert.
Eben hat Herr von Holtz – Sie sind ja neu im Deutschen Bundestag; ich habe mich über Ihre erste Rede sehr gefreut – von einer regionalen Verantwortung gesprochen und davon, dass wir Verantwortung tragen. Aber etwas können Sie nicht wissen: Unser Bundesentwicklungsminister Gerd Müller hat das Thema Afrika wirklich auf die Agenda geholt.
Viele Menschen verbinden Afrika mit Krisen, Kriegen, Katastrophen, Hunger und Dürre. Aber Afrika ist für mich ein Kontinent der Zukunft. Afrika ist zukunftsorientiert, ganz einfach deshalb, weil es ein junger Kontinent ist.
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Das ist der Kontinent, der 2050 2 Milliarden Menschen haben wird. Ihre Anzahl wird sich also verdoppeln.
Diese Menschen brauchen eine Perspektive. Dann haben Sie von der AfD auch kein Argument mehr, um zu sagen, dass sie alle nach Europa kommen. Diese Menschen brauchen eine Perspektive in ihrer Heimat. Dafür brauchen sie Stabilität. Dafür brauchen sie Sicherheit. Dafür brauchen sie unsere Hilfe.
Vielen Dank.
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