Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/19/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Nahe Osten erlebt in diesen Tagen die schlimmste Gewalt seit Jahren. Verantwortlich dafür ist aktuell der Raketenterror der Hamas. Mehr als 3 500 Geschosse sind in den letzten Tagen auf Israel abgefeuert worden, auf Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens, wo den Menschen oft nur wenige Sekunden bleiben, um Schutz zu suchen, aber auch auf Großstädte wie Jerusalem und Tel Aviv, wo Hunderttausende in die Bunker fliehen müssen. Wir verurteilen diese Angriffe auf das Allerschärfste. Sie sind durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht durch die Ereignisse auf dem Tempelberg am vorletzten Wochenende. ({0}) Deshalb hat Israel das Recht und die Pflicht, seine Bevölkerung dagegen zu schützen. Die Hamas hat diese Eskalation ganz bewusst herbeigeführt mit entsetzlichen Folgen, die Israelis und Palästinenser treffen, vor allem die Menschen im Gazastreifen. Zu viele haben bereits ihr Leben verloren, darunter Dutzende Kinder auf beiden Seiten. Das muss ein Ende haben, und zwar so schnell wie möglich, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Wir haben dazu schon vor einigen Tagen einen Dreistufenplan vorgeschlagen. Er sieht erstens einen sofortigen Stopp des Raketenterrors der Hamas vor, zweitens eine Vereinbarung eines Waffenstillstandes und drittens Schritte, um endlich die komplexen Ursachen dieser Auseinandersetzung anzugehen. Dabei führt kein Weg an direkten Gesprächen zwischen Israelis und Palästinensern vorbei. Meine Damen und Herren, wir sind nicht erst seit einigen Tagen, sondern wir sind schon länger Teil aller Bemühungen, die dorthin führen sollen: Dies geschieht jetzt durch die Entsendung des EU-Sonderbeauftragten Koopmans in die Region, die wir gestern beim EU-Sonderrat beschlossen haben, und vor allem durch die Vermittlungsbemühungen, die wir selbst in den letzten Tagen, aber auch schon darüber hinaus getätigt haben in intensiven Gesprächen mit Israelis und Palästinensern, aber auch mit den Vereinigten Staaten, unseren europäischen Partnern und mit Ägypten, Jordanien und auch mit Katar und anderen, die Einfluss auf beide Parteien haben. Meine Damen und Herren, dieser Konflikt bringt nicht nur wieder und wieder großes Leid über Israelis und Palästinenser. Er birgt auch jedes Mal aufs Neue das Risiko einer Ausweitung des Konfliktes auf die gesamte Region. Noch eine Entwicklung ist wirklich erschütternd: die anhaltende Gewalt auch innerhalb Israels und im Westjordanland, wie wir sie in den letzten Tagen gesehen haben. Am Herausforderndsten dabei ist sicherlich die Lage in Jerusalem. Dort haben die Unruhen seit Beginn des Ramadans bereits Hunderte Verletzte gefordert. Die Bilder von Gewalt auf dem Tempelberg, dem Haram al-Sharif, an der drittheiligsten Stätte des Islams, machen uns deshalb auch große Sorge. Alle Beteiligten haben letztlich die Pflicht, den historischen und rechtlichen Status quo der heiligen Stätten zu wahren oder wiederherzustellen. Dabei kommt unserem Partner Jordanien eine ganz zentrale Rolle zu, an der auch nicht gerüttelt werden darf. Wenn wir nun über Deeskalation sprechen, dann thematisieren wir natürlich auch den israelischen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten und die geplanten Räumungen palästinensischer Wohnungen, etwa im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah, an denen sich die Konfrontation in Jerusalem ja auch entzündet hat. Deshalb: Eine Lösung, die die Gewalt im Nahen Osten dauerhaft beenden kann, kann nur eine sein, die beiden Seiten erlaubt, selbstbestimmt in Frieden und in Sicherheit zu leben. Ich bin mir sicher, dass sich die Menschen sowohl in den palästinensischen Gebieten als auch in Israel nach nichts mehr sehnen als nach Frieden und nach Sicherheit. ({2}) Wir sind deshalb der festen Überzeugung, dass dies nur eine verhandelte Zweistaatenlösung erreichen kann. Daran – das gehört allerdings auch zur Wahrheit – ist in den letzten Jahren viel zu wenig gearbeitet worden. Je weniger realistisch diese Perspektive, dieses Ziel wird – das sollte allen bewusst sein, die jetzt der Auffassung sind, dass die Zweistaatenlösung längst tot ist –, desto größer ist die Gefahr, dass radikale Akteure wie die Hamas erstarken. Das ist das, was wir gerade erleben. Meine Damen und Herren, zuallererst aber – darum geht es jetzt – muss der Raketenterror der Hamas aufhören, damit das Blutvergießen endet und die Waffen endlich schweigen. Das bleibt unsere oberste Priorität, nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in der gesamten Europäischen Union. Nur so kann die humanitäre Hilfe die Zivilbevölkerung im Gazastreifen wirklich erreichen. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Wir müssen die humanitäre Situation der Menschen, die dort leben, verbessern, um der Hamas den Nährboden zu entziehen, auf dem sie diese Menschen mobilisiert. Es gibt noch etwas, was wir tun können, liebe Kolleginnen und Kollegen: Antisemitischen Hasspredigern, Hetzern und Gewalttätern hier in unseren eigenen Städten mit der ganzen Härte des deutschen Rechtsstaates entgegentreten, und zwar egal, ob sie schon immer hier leben oder erst in den letzten Jahren hierhergekommen sind. ({3}) Denn letztlich sollen alle wissen, die in Deutschland sind, dauerhaft oder auch nur vorübergehend: Auf unseren Straßen darf es keinen Zentimeter Platz für Antisemitismus geben, niemals und nie wieder! Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Armin-Paulus Hampel, AfD. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Raketenangriffe auf Israel erfordern zwei Dinge, nämlich Realismus und Fingerspitzengefühl. Das Gegenteil praktiziert gerade die Sozialdemokratie. Wenn ich Herrn Borjans höre, der das unbestrittene Existenzrecht Israels bestätigt, aber weitere Waffenlieferungen an Israel davon abhängig macht, dass wir ein Mitspracherecht bekommen und ein Stück gehört werden, wenn es darum geht, deeskalierend zu wirken, dann frage ich: In welcher Welt lebt Herr Borjans eigentlich? ({0}) Solche Äußerungen hätten auch von Ihnen kommen können, Herr Maas. Da stimme ich dem Kommentar der „Welt“ zu: Das sind Äußerungen von vorgestern, ausgesprochen dumm und vor allem deplatziert. Es nützt auch herzlich wenig, wenn Sie in der „Bild am Sonntag“ einen sogenannten Dreistufenplan – wie eben auch erwähnt – fordern. Das kennen wir seit Jahren, meine Damen und Herren. Sie leben in einem Wolkenkuckucksheim und ergehen sich in wohlfeilen Worten mit dem Wunsch nach Frieden auf Erden, wenigstens in Israel und Palästina. Aber klares Handeln, Herr Minister, lassen Sie vermissen. Dazu passt die beruhigende Ankündigung von Herrn Maas genauso, 40 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die Palästinenser bereitzustellen. Das Europäische Parlament hat am 29. April erst mal festgestellt, dass die Millionen, die wir an die UNRWA, die UN-Hilfsorganisation für Palästina, bezahlen, in Teilen – von 38 Millionen Euro war die Rede – an terroristische Organisationen der Hamas und anderer fließen. Ich habe Sie heute im Ausschuss aufgefordert: Stoppen Sie endlich den Geldfluss, mit dem der deutsche Steuerzahler die Terroristen in Palästina finanziert! ({1}) Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das darf – schon gar nicht aus Deutschland heraus – sein. Das Europäische Parlament hat klug entschieden; aber wir lassen da für meine Begriffe jegliches Handeln vermissen. 200 Tote auf beiden Seiten, über 3 000 Raketen auf Israel – diese Terrorakte müssten nicht nur schleunigst beendet werden, sondern wir müssen vor allen Dingen aufpassen, dass nicht die Nachbarländer mit reingezogen werden. Sie wissen, es gab erste Raketenangriffe aus dem Libanon, die zum Glück nicht in Israel gelandet sind, und auch in Syrien rumort es. Es muss gelingen, die Eskalation zu stoppen und eine weitgehende Internationalisierung des Konfliktes – das ist das Allerwichtigste – und damit die Ausbreitung des Brandes zu verhindern. Das liegt im Interesse der Weltpolitik. Das liegt auch im deutschen Interesse. Abseits von Sprechblasen und wiederholten Forderungen ist die Frage, was wir selber dafür tun können. Ich erwähnte es gerade: Da hilft es nichts, wenn Herr Borjans Mitsprache beansprucht. Ich glaube, dass wir die Instrumente nutzen müssen, die wir haben. Wir haben – wenn auch nicht so öffentlich, eher in den stillen Kanälen der Diplomatie – diese Möglichkeiten seit vielen Jahren. Und übrigens: Die Israelis schätzen sie. Wir haben einen Bundesnachrichtendienst, der mit allen Seiten sprechen kann. Sie erinnern sich vielleicht an den vor einigen Jahren vom Bundesnachrichtendienst vermittelten Gefangenenaustausch und daran, dass wir dort enge Beziehungen, gute und wichtige Gesprächspartner haben und da auch Erfolge erzielen können. Aber noch mal – abseits von großspurigen Sprechblasen –: Dass wir jetzt einen Dreistufenplan und Ähnliches entwickeln wollen – die Deutschen entwickeln einen Dreistufenplan; da wird man in Tel Aviv und Jerusalem genau zuhören, was Sie da vorzuschlagen haben, und in Washington sowieso –, das ist meines Erachtens der falsche Weg. Wir müssen vielmehr die Instrumente nutzen, die uns wirklich zur Verfügung stehen, und diese Instrumente haben wir, meine Damen und Herren. Was mich am meisten irritiert, ist das lange Schweigen aus Washington. Der von Ihnen so hoch geschätzte Präsident Biden hat Tage gebraucht, um überhaupt zu reagieren. Übrigens stelle ich fest: In Zeiten eines US-Präsidenten Donald Trump wurden Friedensgespräche geführt und Friedensabschlüsse getätigt. ({2}) In den ersten Tagen eines jüngst gewählten US-Präsidenten Biden wird sofort wieder geschossen. Am besten schlagen Sie den auch noch für den Friedensnobelpreis vor. ({3}) Handlungsspielräume – ich habe es gerade gesagt – sind das, was wir brauchen. Wir müssen die deutschen Instrumente einsetzen, die wir haben. Und noch mal: Sie funktionieren nur über die stillen Kanäle, und sie sind durch öffentliche Phrasen nicht zu begleiten. Das wäre deutsche Außenpolitik: Fingerspitzengefühl und Realitätssinn und im Übrigen das, was die AfD schon lange Zeit gefordert hat, nämlich dass Sie sich bemühen, im internationalen Konzert eines zustande zu bringen, was seit Jahren überfällig ist – einige Kollegen im Hause unterstützen diese Idee –: Schaffen Sie eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten oder Orient. Bringen Sie die Player zusammen und beginnen Sie unter Einbeziehung des Palästina-Problems mit Israel einen langen – jawohl –, einen langwierigen Prozess hin zu einer gesamten Friedenslösung für den Mittleren und Nahen Osten. Das wäre eine deutsche außenpolitische Perspektive, meine Damen und Herren. Danke schön. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es richtig, dass das Hohe Haus heute zu Beginn dieser Sitzung zusammenkommt und sich damit auch der gemeinsamen Verantwortung gegenüber den Juden und gegenüber Israel bewusst wird. Aber das möchte ich schon sagen: Herr Kollege, wenn Sie hier eine Rede halten wollten, mit der Sie dieser Verantwortung auch gerecht werden, dann kann ich Sie nur aufrufen, einfach in den eigenen Reihen zu beginnen. Jede Relativierung der schlimmsten Zeit unter deutscher Verantwortung, in der Juden Schlimmes angetan wurde, verbietet sich. Das war kein Fliegenschiss; das waren schlimme Verbrechen. Fangen Sie einfach in Ihren eigenen Reihen an. ({0}) Während wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier debattieren, heulen in Tel Aviv, in Aschdod, in Aschkelon und vielen anderen Orten Israels die Sirenen. Das Land leidet unter dem schlimmsten Raketenbeschuss seit 2014. Circa 3 500 Raketen sind in den vergangenen zehn Tagen in Richtung Israel abgeschossen worden. Man muss sich das einmal vergegenwärtigen: Während des Gaza-Krieges 2014 – der dauerte 51 Tage – wurden 4 400 Raketen abgeschickt, damals wie heute völlig wahllos unter Inkaufnahme ziviler Opfer – jüdischer, muslimischer und christlicher. Dieser Terror, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht hinnehmbar. Terror gegen die Zivilbevölkerung kann weder Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein, noch kann er Mittel zum Zweck interner politischer Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen bei den Palästinensern sein. Deswegen verurteilen wir diese anhaltenden Terrormaßnahmen aufs Schärfste und sagen ganz klar: Der Deutsche Bundestag steht an der Seite Israels. ({1}) Israel hat jedes Recht, sich gegen diesen Terror zu verteidigen. Mehr noch: Es hat die Pflicht, sich selbst und seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Darum sind gezielte israelische Luftangriffe legitim, die die Raketenschussanlagen, ihre Produktionsstätten und die terroristische Infrastruktur der Hamas zerstören. Denn die Hamas – sie ist wohl auch willfähriges Werkzeug anderer Mächte aus der Region – benutzt diese Angriffe auf zynische Weise in ihrem innerpalästinensischen Kampf und nimmt die Gefahr für Leib und Leben der Menschen und das Risiko sowohl für die eigene als auch für die israelische Bevölkerung in Kauf. Das ist unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen. Deswegen sind wir dankbar, dass Israel geschützt wird durch den Iron Dome. Wir sagen als Deutsche gerade den Vereinigten Staaten von Amerika Dank für diese praktische Unterstützung Israels und diese praktische Hilfeleistung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich brauche hier niemandem zu erzählen, was es bedeutet, historische Verantwortung für Jüdinnen und Juden zu tragen und dafür, dass diese in Deutschland und anderswo – insbesondere auch in Israel – sicher leben können. Für uns als CDU/CSU-Fraktion und, wie ich glaube, für den großen Teil des Deutschen Bundestages gilt das, was Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 vor der Knesset gesagt hat: Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsräson. – Frau Bundeskanzlerin, mit diesem Satz haben Sie einen Maßstab gesetzt, auf den wir stolz sind. ({2}) Das bedeutet, dass Israel sich auch unabhängig von demokratischen Wahlen in Deutschland darauf verlassen kann, dass Deutschland an der Seite Israels steht. Das bedeutet, dass wir uns an der Seite Israels positionieren, dass wir Israel unterstützen ({3}) und dass dazu auch Rüstungskooperation gehört. Deswegen muss man an der Stelle auch klar und konkret sein. Wer Israels Sicherheit gewährleisten will, muss auch zur Rüstungskooperation bereit sein. Deswegen ist es wünschenswert, dass diejenigen, die das höchste Staatsamt in Deutschland anstreben, an der Stelle auch klar sind und nicht relativieren. An der Stelle brauchen wir nicht innerparteiliche Konsensformulierungen, sondern klare außenpolitische Bekenntnisse. Wer für Deutschland Verantwortung übernehmen will, muss auch zu Rüstungskooperationen bereit sein, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({4}) In der Tat bedeutet das auch, dass man keine missverständlichen Äußerungen hinsichtlich einer Einflussnahme auf israelische Politik machen sollte. ({5}) Das sollten Deutsche nicht anstreben; das wäre wirklich verkehrt. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wadephul.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Präsident mahnt zu Recht; die Zeit dieser Rede ist um. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich es für ein sehr gutes Zeichen halte, dass Sie an dieser Aktuellen Stunde teilnehmen. Das ist ein gutes Zeichen an unsere Freunde in Israel. Danke, dass Sie da sind! ({0}) Ich habe in der letzten Woche die Synagoge in meinem Wahlkreis in Bonn besucht. Die Synagoge war Gegenstand eines Angriffs, sie ist mit Steinen beschmissen worden. Vor ihrer Tür sind israelische Fahnen verbrannt worden. Es sind antisemitische Beleidigungen geschrien worden. Und die Vorsteherin der jüdischen Gemeinde sagte uns – wir waren mit mehreren da, parteiübergreifend –, dass sie nicht mehr wisse, ob am Schabbat die Gläubigen noch kommen würden aus Angst vor solchen Übergriffen. Meine Damen und Herren, so was versetzt einem einen Stich ins Herz. Ich will das hier deutlich sagen: Wer Steine auf Synagogen wirft, wer auf offener Straße wüste antisemitische Beleidigungen schreit, wer israelische Fahnen verbrennt, der versucht, unter falschem Vorwand Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden zu verbreiten. Das ist ein Angriff auf unsere freiheitlichen Werte, dem wir geschlossen entgegentreten müssen. Und es gibt kein einziges Ereignis im Nahen Osten, das derlei rechtfertigen würde. ({1}) In den letzten Tagen – wir haben es gehört – wurden über 3 000 Raketen aus Gaza in Richtung Israel abgefeuert. Es kam zu Gegenangriffen. Wir haben inzwischen über 200 Tote. Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Am Himmel leuchtet die Hölle“. Und wer die Bilder des israelischen Nachthimmels gesehen hat, weiß auch, warum. Wir machen uns manchmal nicht klar, was das eigentlich für die Menschen ganz konkret bedeutet. Israel ist ein Land mit einer Fläche kleiner als Hessen. Machen wir uns einmal einen Moment klar, was es bedeuten würde, wenn 3 500 Raketen auf ein Gebiet zwischen Kassel und Darmstadt abgefeuert würden, von denen circa 500 bis 700 auch durchkommen und einschlagen. In Israel wohnen weniger Menschen als in Baden-Württemberg. Was würde es denn bedeuten, wenn zwischen Heidelberg und Konstanz derlei geschähe? In Wohngebäuden, auf Marktplätzen, neben Schulen schlagen Raketen ein. Das ist doch eine Situation, in der es nur eine ganz klare Aussage aus der Bundesrepublik Deutschland geben kann: Israel hat ein Recht, sich gegen diese Angriffe zu verteidigen. – Und da gibt es keine zwei Meinungen. ({2}) Es hat mich, ehrlich gesagt, traurig gemacht, dass es eine Weile gedauert hat, bis Sie, Herr Maas, bis auch Frau Baerbock sich genauso klar geäußert haben, wie es von Anfang an erforderlich gewesen wäre. Aber Sie haben das korrigiert; ich begrüße das. ({3}) Was ich aber überhaupt nicht verstehen kann, ist, wenn der Parteivorsitzende der SPD, Herr Norbert Walter-Borjans, ein Junktim zwischen unserer Unterstützung für Israel und der Mitsprache bei der Verteidigung des Landes Israel etablieren will. Das ist anmaßend, deplatziert und geschichtsvergessen, meine Damen und Herren. ({4}) Willy Brandt ist in Gedenken an den Horror des Warschauer Ghettos auf die Knie gefallen. Jetzt, wo Raketen auf Israel niedergehen, ist Norbert Walter-Borjans dem jüdischen Staat in den Rücken gefallen. „Quo vadis, SPD?“, kann ich nur sagen. Wo führt diese Politik hin? ({5}) Was können wir jetzt tun? Jetzt geht es erst mal um schnelle Deeskalation. Es müssen weitere Opfer verhindert werden. Ich begrüße, dass der EU-Sondergesandte Koopmans entsandt worden ist. Ich hoffe, er hat ein umfassendes Mandat, um gemeinsam mit den USA daran zu arbeiten, die Ausweitung der Gewalt zu verhindern. Wir haben vom Drohnenabschuss an der jordanischen Grenze gehört. Wir haben von sechs Raketen gehört, die aus dem Libanon Richtung Israel abgeschossen wurden. Eine Ausweitung der Gewalt hätte wirklich fatale Folgen. Wir müssen aber auch über die Ursachenbekämpfung reden. Die Zuspitzung hat dazu geführt, dass wir wieder hinschauen, die internationale Gemeinschaft wieder hinschaut, auch die US-Administration wieder hinschaut; denn das ist unabdingbar – ohne die USA wird es eine nachhaltige Lösung des Konflikts nicht geben können. Und die jüngste Annäherung Israels an mehrere Länder in der arabischen Welt sehe ich persönlich als Hoffnungsschimmer an. ({6}) Deswegen sage ich für die Freien Demokraten, dass es richtig wäre, Mitte dieses Jahres – im Juni, in wenigen Wochen, wenn Joe Biden nach Europa kommt – einen Gipfel zur Lage im Nahen Osten zu veranstalten, unter Einbezug des Quartetts, unter Einbezug der relevanten regionalen Akteure wie Jordanien, Ägypten, der Vereinigten Arabischen Emirate, auch Saudi-Arabien. Ich glaube, das ist notwendig, um neuen Schwung in die Gespräche zu bringen, vorausgesetzt, die Kampfhandlungen enden. Meine Damen und Herren, eines ist auch klar: Der massive Beschuss Israels, den wir in den letzten Tagen gesehen haben, wäre ohne die Unterstützung des radikal-islamischen Regimes in Teheran nicht möglich gewesen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Graf Lambsdorff, auch Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Deswegen müssen wir auch die israelischen Befürchtungen in Bezug auf die iranische Politik ernst nehmen. Wir haben eine besondere Verantwortung für die Sicherheit des Staates Israel. Das Signal dieser Aktuellen Stunde sollte sein, dass wir uns dieser Verantwortung voll bewusst sind. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Schwierigkeiten mit Menschen, die nur die Rechte Palästinas oder nur die Rechte Israels sehen. Frieden und Lösungen gibt es nur mit beiden Seiten. ({0}) Es stimmt nicht, dass die Hamas keinen Grund für die Raketenangriffe hatte; es gab aber keinen, der die Angriffe rechtfertigte. Israels Ministerpräsident Netanjahu hat drei Wahlen nicht gewonnen und nicht verloren und ein Strafverfahren am Hals – das verunsichert. So entschloss er sich zu Einschränkungen für Palästinenser an deren heiligem Tempelberg und zum Beginn der Zwangsräumung eines palästinensischen Viertels in Jerusalem. Dieses Viertel hat die UNO 1956 mit Absicherung Jordaniens den Palästinensern zur Verfügung gestellt. Die Grundbücher wurden allerdings nicht geändert, worauf sich Netanjahu beruft. Trotzdem war und bleibt das Vorgehen politisch und moralisch eine Provokation. Netanjahu muss das gewusst haben, was das auslösen kann, aber der Job war ihm wohl wichtiger. ({1}) Warum sind die Raketenangriffe der Hamas auf Israel trotzdem durch nichts zu rechtfertigen? Auch wenn man von einem Krieg ausgeht, dürfen nur militärische, niemals zivile Ziele angegriffen werden. Das ist der Hamas aber völlig egal. Sie schießt wild auch in Städte Israels und trifft Zivilisten. Israel hat selbstverständlich ein Selbstverteidigungsrecht; aber Bombardierungen von dichtbesiedelten Wohngebieten sind ebenso völkerrechtswidrig. Bei beiden Seiten muss das aufgeklärt werden. ({2}) 1947 fasste die UNO einen Beschluss und wollte die Staaten Israel und Palästina gründen. Die Verwaltung von Jerusalem und Bethlehem sollte international erfolgen. Die arabischen Staaten lehnten den Beschluss ab. Israel wurde gebildet, alles andere geschah nicht. Israel wehrte sich erfolgreich gegen den damaligen Krieg arabischer Staaten gegen Israel. Die Osloer Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinensern brachten aber eindeutig zum Ausdruck, dass der damalige palästinensische Präsident Arafat Israel endlich anerkannte und die Palästinenserinnen und Palästinenser einen eigenen Nationalstaat wollen. Gespräche zwischen Arafat und Rabin verliefen erfolgreich. Dann aber wurde Rabin durch einen Israeli erschossen – eine blanke Katastrophe für die weitere Entwicklung. Zurzeit ist die Lage für die Palästinenserinnen und Palästinenser völlig perspektivlos. Das eskaliert sie. Beide Seiten sind festgefahren. Sowohl Fatah als auch Hamas sind erfolglos; aber die Hamas wird bei den Palästinensern immer beliebter, weil sie als widerständiger gilt. Warum verschaffen die israelische Regierung, die westlichen Regierungen, auch unsere Regierung, der Fatah keine Erfolge, damit sie im Ansehen ihrer Bevölkerung wieder steigt? ({3}) Im Gegenteil: Die israelische Regierung plante sogar, 30 Prozent des Westjordanlandes juristisch zu annektieren. Statt Waffen an die Türkei, Saudi-Arabien, Israel und viele andere Staaten zu liefern, statt an Kriegen zu verdienen, sollte die Bundesregierung gerade wegen unserer historischen deutschen Verantwortung einen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts leisten, ({4}) und zwar für einen souveränen und sicheren Staat Israel und für einen souveränen und sicheren Staat Palästina im Rahmen der Grenzen von 1967. Auch für Jerusalem gibt es eine Lösung. Selbstverständlich müssen wir unser Demonstrationsrecht hüten. Aber ich sage es ganz klar: Antisemitische Parolen und das Verbrennen der israelischen Fahne sind Straftaten, die streng zu verfolgen sind. ({5}) Man darf die israelische Politik und Regierung kritisieren, aber Menschen niemals wegen ihrer Religion oder Nationalität verfolgen. Menschen sind nach ihrem Charakter, nach dem, was sie tun und unterlassen, zu beurteilen, nach nichts anderem. Es gibt zum Beispiel scharf zu verurteilende Islamisten, aber niemals dürfen sie mit allen muslimisch Gläubigen gleichgesetzt werden. ({6}) Ich bin es leid, dass Jüdinnen und Juden abgelehnt werden, nur weil sie Jüdinnen und Juden sind. Ich bin es leid, dass Musliminnen und Muslime abgelehnt werden, nur weil sie Musliminnen und Muslime sind. Ich bin es leid, dass Christinnen und Christen abgelehnt werden, nur weil sie Christinnen und Christen sind. Ich bin es leid, dass Angehörige anderer Religionsgemeinschaften abgelehnt werden, nur weil sie Angehörige dieser Religionsgemeinschaften sind. ({7}) Ich bin es leid, dass nicht religiöse Menschen abgelehnt werden, nur weil sie nicht religiös sind. Was wir im Nahen Osten brauchen, sind zwei sichere Staaten mit einer politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und moralischen Perspektive, einmal für die Israelis und einmal für die Palästinenserinnen und Palästinenser, damit es endlich im Interesse aller Menschen dort Frieden gibt. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung zu den Ausführungen der AfD: Seit Jahren ist kein Vertreter von demokratischen Institutionen des Staates Israel bereit, sich mit Ihnen auch nur zu treffen und mit Ihnen zu sprechen. ({0}) Ich glaube, das sagt alles über die Show, die Sie hier abziehen als diejenigen, die jetzt angeblich für die Sicherheit Israels stehen. Meine Damen und Herren, Angriffe auf Synagogen, das Verbrennen von israelischen Flaggen, unsägliche Beschimpfungen von Menschen jüdischen Glaubens bei Demonstrationen, Aufrufe zur Vernichtung Israels: Diese Geschehnisse der letzten Tage in unserem Land sind abscheulich. Wir als Demokratinnen und Demokraten sind verpflichtet, alles dafür zu tun, damit dieser Hass, diese Gewalt zurückgewiesen wird. ({1}) In unserem Land gibt es keinen Platz für Antisemitismus, egal von welcher Seite. Keinen Zentimeter! Das jüdische Leben in Deutschland ist leider keine Selbstverständlichkeit. Dass sich nach der Katastrophe der Schoah Jüdinnen und Juden wieder in Deutschland niedergelassen haben, erfüllt uns mit Dankbarkeit. Dass sie in ihrer Heimat keine Angst haben müssen, das ist unser aller Aufgabe. ({2}) Es gibt keine Rechtfertigung für Antisemitismus – nirgendwo. Genauso gibt es auch keinerlei Rechtfertigung für den Raketenterror der Hamas gegen Israel. Dieser ist absolut inakzeptabel und muss sofort beendet werden. ({3}) Natürlich hat Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen diese Angriffe verhältnismäßig zu verteidigen. Die Meldungen von toten Zivilisten auf beiden Seiten sind bestürzend. Mir geht das Bild eines israelischen Vaters, der in einem Straßengraben sein wenige Wochen altes Kind in den Armen hält, um es gegen die Raketenangriffe der Hamas zu schützen, nicht aus dem Kopf. Genauso wenig geht mir aus dem Kopf, wie palästinensische Familien auf engstem Raum in UN-Schulen in Gaza versuchen, Schutz zu finden, weil sie sich vor Raketenangriffen fürchten. Niemand sollte mit der Angst leben müssen, Ziel eines Raketenangriffs zu werden, besonders nicht die Jüngsten und Schwächsten der israelischen und palästinensischen Gesellschaft. Deshalb ist das dringlichste Ziel derzeit eine sofortige Waffenruhe. Um es mit den Worten des US-Präsidenten Joe Biden zu sagen: Palästinenser und Israelis verdienen gleichermaßen ein Leben in Sicherheit und Geborgenheit. ({4}) Diese Sicherheit ist mit dem Status quo und ohne eine belastbare Friedenslösung auf Dauer nicht erreichbar. Der Glaube aber an diese Friedenslösung ist in den letzten Jahren zu oft geschwächt worden. Annexionspläne der israelischen Regierung, völkerrechtswidriger Siedlungsbau oder illegale Enteignungen in Ostjerusalem und im Westjordanland sind Hindernisse auf dem Weg zum Frieden. Die von Extremisten geschürten zunehmenden Feindseligkeiten zwischen jüdischen und arabischen Israelis gefährden zudem den gesellschaftlichen Frieden. Die erneute Absage der ersten palästinensischen Wahl nach 15 Jahren durch Präsident Abbas ist extrem kontraproduktiv. Der Terror der Hamas und des Islamischen Dschihads sind klare Hassbotschaften sowie eine Absage an eine Friedenslösung. Vor diesem Hintergrund ist es leicht, zu sagen, es sei naiv, an einer Friedenslösung, an einer Zwei-Staaten-Regelung, festzuhalten. Dem will ich entgegenhalten: Naiv ist, zu glauben, dass der Status quo auf Dauer hält. ({5}) Die Sicherheit Israels und der Wunsch der Palästinenser nach einem Leben in Würde gibt es nur mit einer belastbaren Friedenslösung. Eine beherzte Initiative der EU in Abstimmung mit den amerikanischen Bemühungen ist das, was dringend gebraucht wird. Die Vermittlungsversuche des EU-Sonderbeauftragten Koopmans sind ein Schritt in die richtige Richtung, müssen aber dringend verstärkt werden. Die überfällige Forderung des Außenministers nach einer Beteiligung des sogenannten Nahostquartetts aus USA, Russland, UN und EU unterstützen wir. Meine Damen und Herren, Yitzhak Rabin – ruhe er in Frieden – hat einmal gesagt: Euch, den Palästinensern, sage ich: Ihr und wir sind beide dazu verurteilt, zusammenzuleben auf demselben Stück Erde. – An dieser Wahrheit hat sich bis heute nichts geändert, und es wird sich auch nichts daran ändern. Die Existenz und die Sicherheit Israels als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes mit gleichen Rechten für alle seine Bürger sind unverhandelbar. Dazu stehen alle Demokratinnen und Demokraten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder der jüngsten Eskalation in Israel schockieren. Der Raketenbeschuss der Hamas auf Israel dauert an. Israel hat – und das sage ich ganz deutlich – das Recht auf Selbstverteidigung. Auf beiden Seiten sind viele – zu viele – zivile Opfer zu beklagen. Die Lage ist so dramatisch wie schon seit Jahren nicht mehr. Die internationale Gemeinschaft ist gefordert, sich wieder stärker einzubringen und zu engagieren. Kolleginnen und Kollegen, wir stehen eng an der Seite Israels und der israelischen Bürgerinnen und Bürger – bedingungslos. Was wir in den vergangenen Tagen allerdings in Deutschland sehen mussten, war für mich mehr als besorgniserregend: Angriffe auf Synagogen, das Skandieren antisemitischer Parolen auf Demonstrationen, die Verbrennung israelischer Flaggen, die Bedrohung gegenüber Jüdinnen und Juden. All dies verurteilen wir als SPD-Bundestagsfraktion auf das Schärfste. ({0}) Ich sage es ganz deutlich: Wer unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung ganz offen und unverhohlen Hass und Hetze verbreitet, verlässt den Boden unseres Grundgesetzes und gehört bestraft. Dabei ist es mir vollkommen egal, ob jemand hier geboren wurde oder eingewandert ist. Die Widerwärtigkeit des Antisemitismus und Antijudaismus zeigt sich seit 2 000 Jahren, in immer neuen Formen, in immer neuen Abscheulichkeiten: bei neuen und alten Nazis, auf sogenannten Querdenkerdemos, aber auch bei Zuwanderern. Anita Lasker-Wallfisch hat es am 31. Januar 2018 hier an diesem Pult im Deutschen Bundestag in der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: Antisemitismus ist ein zweitausend Jahre alter Virus, anscheinend unheilbar. Immer gibt es andere Gründe: Religion, Rasse. Nur sagt man heute nicht unbedingt „Juden“, heute sind es die Israelis, ohne wirklich die Zusammenhänge zu verstehen oder gar zu wissen, was hinter den Kulissen vor sich geht. Was wir in den letzten Tagen sehen konnten, das war keine kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik eines Landes. Das, was wir beobachten konnten, war und ist offen zur Schau getragener Extremismus. ({1}) Es wird die Existenz eines ganzen Landes infrage gestellt. Hier entlädt sich Hass in widerwärtiger Art und Weise auf Menschen jüdischen Glaubens im Ganzen. Denen, die da auf unseren Straßen und Plätzen unterwegs waren, denen rufe ich ganz deutlich und unmissverständlich zu: Die Existenz des Staates Israel ist nicht verhandelbar; die Sicherheit des Staates Israel ist Teil deutscher Staatsräson. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich des Festakts „1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ vor Kurzem noch erinnert: Die Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen. Das zu gewährleisten, das ist Auftrag aus 1.700 Jahren Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland! Wenn sich jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger aber eben nicht sicher fühlen und Angst haben, eine Kippa oder eine Kette mit dem Davidstern zu tragen, dann, das muss ich sagen, sind wir leider eben nicht vollkommen bei uns. Ich frage mich: Wie können wir dieser, ja, unserer historischen Verantwortung über Solidaritätsbekundungen hinaus gerecht werden? Wir beginnen bei uns zu Hause und füllen das „Nie wieder!“ mit Leben: Wir müssen gemeinsam diesen allgegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland weiter vehement bekämpfen und ihm eine Politik des Zusammenhalts, nicht der Spaltung entgegensetzen. Das heißt konkret: Wer Jüdinnen und Juden antisemitisch beleidigt, soll zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Justizministerin Christine Lambrecht schlägt deshalb richtigerweise vor, die Rechtslücke zwischen Beleidigung und Volksverhetzung zügig zu schließen. Auch sind Vereinsverbote zu prüfen und zu vollziehen, wenn sie im Zusammenhang mit den Angriffen stehen. Wir müssen deutlich machen, dass sich die Wehrhaftigkeit der Demokratie in der Praxis ausdrückt und sich immer wieder aufs Neue in der Praxis beweist. Neben der aktiven Durchsetzung des Rechtsstaates mit all seinen Möglichkeiten setzen wir daher auch auf eine wichtige und entscheidende Präventionsarbeit. Wir müssen gemeinsam unsere Demokratie stärken. Wenn wir konsequent gegen Antisemitismus, Extremismus und Rassismus vorgehen wollen, braucht es eine Gesamtstrategie und einen langfristigen Ansatz. Mit dem Wehrhafte-Demokratie-Gesetz sollen gerade zivilgesellschaftliche Initiativen in ihrem täglichen Engagement endlich die Planungssicherheit bekommen, die sie brauchen. Das muss auf Dauer angelegt sein. Die Bekämpfung dieser spaltenden Tendenzen ist nämlich eine dauerhafte Aufgabe, die uns fordert. Lieber Ralph Brinkhaus, lieber Alexander Dobrindt, da wir hier gemeinsam sind, sage ich: Lassen Sie uns deshalb mit diesem Wehrhafte-Demokratie-Gesetz vor dem Ende der Legislaturperiode ein wichtiges Signal setzen, um den Kampf für die Demokratie und gegen jedwede Form von Extremismus aufzunehmen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wiese.

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Ende.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie sind am Ende Ihrer Redezeit. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Anton Friesen, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Die radikal-islamische Terrororganisation Hamas beschießt Israel mit Tausenden von Raketen. Arabische Mobs in Israel wie in Deutschland bestürmen Synagogen, schreien Losungen, wie wir sie nur aus den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte kennen, und machen Jagd auf Juden. Was war passiert? Die drohende Enteignung muslimischen Besitzes in Ostjerusalem – bis 1948 jüdisches Eigentum, von Palästinensern geraubt, wie Michael Wolffsohn schreibt – und die Ausschreitungen rund um die Al-Aksa-Moschee, welche von israelischen Kräften genauso wie andere heilige Stätten geschützt wird, um den Zugang der Gläubigen zu gewährleisten. Was sind die Reaktionen? Der sozialistische UN-Generalsekretär Guterres rief alleine Israel dazu auf, maximale Zurückhaltung zu üben, und erwähnte den Terror der Palästinenser mit keinem einzigen Wort. Die USA unter der vermeintlichen Lichtgestalt Joe Biden hüllen sich wie die Europäer in Schweigen, China stellt einen israelkritischen Vier-Punkte-Plan vor, und der Möchtegernsultan vom Bosporus stachelt Antisemiten in Deutschland auf und will Israel eine Lektion erteilen. ({0}) Das alles passt ins Bild einer israelfeindlichen Politik dieser Bundesregierung. Bei den Vereinten Nationen stimmte der Botschafter und Merkel-Vertraute Christoph Heusgen regelmäßig Resolutionen zu, die Israel einseitig verurteilen. Alleine 2020 hob er 13-mal die Hand, um gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten zu stimmen. In der Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes dürfen Mitarbeiter dieser ehrwürdigen Institution, die die Lobbygruppierung Diplomats of Colour gegründet haben, ein Straßenschild, das den Namen des jüdischen Naziwiderstandskämpfers Bernhard Weiß trägt, mit einem George-Floyd-Schriftzug überkleben. Man merke: „Black Lives Matter“-Anhänger sind Rassisten, immer und überall. ({1}) Herr Maas, wenn Sie nicht einmal in Ihrem eigenen Hause Antisemitismus verhindern können, dann sind Sie als Außenminister eine völlige Fehlbesetzung. ({2}) Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag macht Ernst mit der Bekämpfung von Antisemitismus und steht an der Seite Israels unter Berücksichtigung einer Friedenslösung für die Palästinenser. Unsere Anträge zum Verbot der BDS-Bewegung, die als Anmelderin der Demos für die antisemitischen Eskalationen verantwortlich ist, unsere Anträge zum Verbot der Hisbollah, der Muslimbruderschaft und ihrer Ableger in Deutschland und für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und Israel zeugen davon. Deutschland kann und sollte seine guten Beziehungen zu Israel und zur arabischen Welt nutzen, um als Vermittler für die Einberufung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten, für Frieden und Verständigung zu sorgen. Wir können Friedensprozesse anstoßen. Der Frieden selbst muss jedoch von den Israelis und von den Palästinensern unter Berücksichtigung der Regionalmächte und Nachbarn erreicht werden. Wofür diese Bundesregierung allerdings unmittelbar Verantwortung trägt, ist die Lage bei uns hier in Deutschland selbst. Wir müssen den Antisemitismusimport aus der islamischen Welt stoppen, ({3}) anstatt Millionen von muslimischen Migranten ins Land zu lassen, von denen viele ihren Hass auf Israel, auf die Juden mit der Muttermilch aufgesogen haben. Israel wird am Brandenburger Tor verteidigt. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Hardt, CDU/CSU. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Rede meines Vorredners möchte ich nur anmerken: Den Versuch zu unternehmen, das ernsthafte Problem von Antisemitismus in Deutschland immer noch zu reduzieren auf Einwanderer islamischen Glaubens, ist ein perfider Versuch, das Problem wegzuschieben. Wir müssen uns schon der Frage widmen, warum es uns heutzutage in Deutschland immer noch schwerfällt, den Jüdinnen und Juden ein Leben zu ermöglichen, wie wir uns das für uns alle wünschen. ({0}) Ich finde es beschämend, dass in Deutschland eine christliche Frau oder ein christlicher Mann selbstverständlich ein Kreuz um den Hals tragen kann, dass eine muslimische Frau mit einem Kopftuch rumlaufen kann, aber Juden in Deutschland es sich immer noch gut überlegen müssen, ob sie mit der Kippa über die Friedrichstraße laufen. Das ist, finde ich, in Deutschland ein echtes Problem. ({1}) Unser Mitgefühl, mein Mitgefühl gilt den vielen Menschen in Israel, die jetzt, seit vielen Nächten bereits, jede Nacht aus dem Schlaf gerissen werden, die in Schutzbunker gehen müssen, deren Hab und Gut teilweise beschädigt ist und deren Leib und Leben gefährdet ist. Ich denke als Wuppertaler besonders an die Menschen in Beer Sheva; das ist eine Stadt, die auch besonders exponiert ist. Ich bin in Gedanken bei den Freunden in Israel. Ich bin natürlich auch in Gedanken bei den unschuldigen Opfern auf der palästinensischen Seite. Aber für mich gibt es keinen Anlass, eine äquidistante Position zu diesem Konflikt einzunehmen. Denn die politische Bewertung ist für mich eindeutig: Wer mehrere Tausend Raketen auf zivile Menschen schießt, begeht klar einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Wer sich dagegen militärisch zur Wehr setzt, genießt den Schutz des Völkerrechts; denn das ist eine legitime Maßnahme. Deswegen steht in dieser Frage meine Fraktion ganz klar auf der Seite Israels. ({2}) Der Staat Israel braucht auch keine Belehrung von uns, wie man das mit der Sicherheit wohl anders oder besser machen könnte. Ich glaube, dass es in Israel ganz schlecht ankommt, wenn gerade Deutsche meinen, sie müssten Israel Ratschläge geben, wie mit diesem Konflikt umgegangen werden und wie man sich gegen solche Angriffe zur Wehr setzen müsse. Deswegen ist das, was der SPD-Vorsitzende dazu vorgestern abgelassen hat, meines Erachtens ein Tiefpunkt. Ich hoffe nur, dass man in Israel gar nicht so genau weiß, wer Walter-Borjans ist und dass es deswegen nicht zu einer echten Verstimmung der Beziehungen kommt. ({3}) Was jetzt erforderlich ist, ist natürlich ein Waffenstillstand; das ist das Allererste, was geschehen muss. Ich hoffe, dass sich die Erwartungen, dass es in den nächsten 48 Stunden möglicherweise in diese Richtung gehen könnte, bestätigen. Ich möchte auch die Frage aufwerfen, wie es eigentlich sein kann, dass die Hamas im Gazastreifen offensichtlich über Sprengstoff, über Raketenbauteile verfügt, um diese weit über 3 000 Raketen abzuschießen. Vermutlich haben sie ja noch viel mehr im Sortiment. Auch dieser Frage muss man nachgehen: Wo kommen diese Waffenteile eigentlich her, und wer ist dafür verantwortlich? Diese Aufgabe können wir nicht alleine den israelischen Sicherheitskräften überlassen. Das bedarf einer internationalen Anstrengung. Zum Thema Friedensvermittlung möchte ich nur anmerken: Ich finde es selbstverständlich richtig, dass man einen Weg sucht, eine diplomatische Lösung herbeizuführen. Wir haben nur so viele gutgemeinte Friedensinitiativen in den letzten Jahrzehnten erlebt, und wenn diese dann scheitern, sind die Enttäuschung und Frustration bei den jungen Menschen in Palästina und in Israel gleichermaßen groß. Deswegen muss man so etwas sehr sorgfältig vorbereiten und darf nicht den Enthusiasmus in den Vordergrund stellen. Man muss den kühlen Verstand einsetzen, damit diese Initiativen zum Erfolg führen. Jetzt möchte ich zum Schluss noch eine Sache ansprechen, die mich in den letzten Tagen sehr beschäftigt hat. Der türkische Staatspräsident – er hat selbst verkündigt, dass er das in einem Telefonat mit Putin so ausgeführt hat – hat die Auffassung vertreten, man müsse Israel eine Lektion erteilen. Er hat in einem anderen Zusammenhang – das hat der amerikanische Präsident Joe Biden als antisemitisch bezeichnet, und ich schließe mich dieser Position an – in einer Art und Weise über jüdische Mentalität gesprochen, die wir normalerweise nur aus Goebbels’ Reden kennen. Ich finde das unerträglich. Und ich erwarte von der Europäischen Union eine gemeinsame und klare Position gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten, damit dieser Antiisraelimus, dieser Antisemitismus zum Stillstand kommt. ({4}) Ich finde es beschämend, dass in Deutschland viele Türkinnen und Türken, die die türkische Sprache bestens beherrschen, vom türkischen Staatsfernsehen leider auch ein Stück weit in diese Richtung beeinflusst werden. Ich finde, wir müssen dem etwas entgegensetzen. ({5}) Wir müssen in Deutschland dafür sorgen, dass Türkinnen und Türken vielleicht in ihrer eigenen Sprache auch die Wahrheit über Israel und den Palästina-Konflikt erfahren und nicht nur das, was der türkische Präsident sagt. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kerstin Griese, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zehn Tagen ist Israel unter Beschuss. Die Raketen der Hamas aus dem Gazastreifen zielen auf Jüdinnen und Juden, und sie treffen die ganze israelische Bevölkerung. Die Bilder und Berichte von den Luftangriffen auf Israel und im Gazastreifen erschrecken uns, auch mich ganz persönlich; denn ich denke oft an Freundinnen und Freunde, an Bekannte, die dort leben, an ihre Ängste, an die Nächte, die sie mit ihren Kindern im Treppenhaus oder in Bunkern verbringen müssen. Deshalb sage ich auch hier noch mal ganz klar: Der Terror der Hamas ist aufs Schärfste zu verteilen! Er muss sofort beendet werden! ({0}) Der Terror der Hamas ist durch nichts – durch nichts! – zu rechtfertigen oder zu relativieren. Die Hamas nutzt Zivilisten, um Waffen zu schützen. Viele Militäreinrichtungen und Abschussrampen der Hamas sind mitten in dichtbesiedelten Wohngebieten, und die Menschen, die Zivilbevölkerung, werden als lebendige Schutzschilde missbraucht. Israel nutzt Waffen, um Zivilisten zu schützen. Mit dem Iron Dome kann Israel viele Raketen aus dem Gazastreifen abwehren – angesichts der Masse aber nicht alle. Israel schützt seine Zivilbevölkerung. Das ist das Recht des Staates Israel auf Selbstverteidigung. Für mich ist ganz klar: Deutschland unterstützt das Existenzrecht Israels ohne Bedingungen; das ist es, was Staatsraison meint. ({1}) Ich danke Vizekanzler Olaf Scholz und Außenminister Heiko Maas und allen, die das so klar gesagt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antisemitismus und Israelhass, der sich in Deutschland auf unseren Straßen zeigt, sind erschreckend. Hier muss mit allen rechtsstaatlichen Mitteln durchgegriffen werden. Es kann und darf nicht sein, dass Polizisten nicht eingreifen, wenn länger als eine Stunde offener Judenhass zur Schau getragen wird, so wie das vor einer Synagoge in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen passiert ist; das darf nicht sein. ({2}) Gleichzeitig müssen wir viel stärker vorbeugend gegen Antisemitismus vorgehen. Wir wissen, dass Antisemitismus in einem kleinen Teil der Bevölkerung tief verankert ist. Ein Beispiel sind die vielen rechtsextremen Verschwörungstheorien, die im Zuge der Coronapandemie in den sozialen Medien und auf Querdenkertreffen verbreitet werden. ({3}) Das ist mir wichtig, zu sagen, weil manche sich nur dann für Antisemitismus interessieren, wenn er einen Migrationshintergrund hat und man damit den eigenen Rassismus verschleiern kann. ({4}) Dieser jahrhundertealte Antisemitismus in seiner tödlichsten Form trifft jetzt auf tradierten Israelhass in Teilen unserer Zuwanderungsgesellschaft, ({5}) und beides – beides! – können wir nicht tolerieren. Wir dulden keine Angriffe auf jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten. Wir dulden keinen Antisemitismus, auch keinen, der unter dem Deckmantel der Israelkritik daherkommt, der Israel das Recht auf Selbstverteidigung abspricht und letztendlich das Existenzrecht des Staates Israel leugnet, dessen Entstehung – das sollten wir nicht vergessen – eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte ist. Wir sind stolz auf unser Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit, aber Hass und Hetze sind keine Meinung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als deutsch-israelische Parlamentariergruppe stehen wir an der Seite unserer Kolleginnen und Kollegen und aller Menschen in Israel. Mein Mitgefühl gilt den zivilen Opfern auf allen Seiten. Seit über 25 Jahren reise ich regelmäßig in die Region, oft mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag. Wir engagieren uns für Begegnungen, gerade von jungen Menschen aus Deutschland und Israel und Palästina. Gerade Jugendliche, die dort schon seit einer Generation immer weniger erleben, wie Begegnung und Verständigung möglich sind, brauchen eine Perspektive. Ich habe große Hochachtung vor den Initiativen, den großen und den kleinen, die jetzt weitermachen und ihre Bemühungen nicht abbrechen. Vielen Dank dafür. ({6}) Wir merken, wie dieser Konflikt und die Eskalation der Gewalt die Zivilgesellschaften zersetzen kann und gerade den jungen Menschen dort Hoffnung und Perspektiven nimmt. In Palästina wächst eine Generation heran, die noch nie demokratische Wahlen erlebt hat. In Israel, dem einzigen demokratischen Staat in der Region, greifen sich jetzt jüdische und arabische Israelis auf der Straße gegenseitig an; und das ist eine besonders bedrückende Entwicklung. Außenminister Maas hat mit seinem Dreistufenplan deutlich gemacht, wohin es jetzt gehen muss: erstens Schluss mit dem verbrecherischen Raketenterror der Hamas, zweitens einen Waffenstillstand und drittens den schwierigsten Schritt angehen, endlich eine Verhandlungslösung des Konflikts zwischen Israel und Palästina voranbringen; denn nur so kann langfristig für Stabilität und Sicherheit gesorgt werden. Die Menschen in dieser Region brauchen die Perspektive einer Zweistaatenlösung; denn nur dann kann Frieden entstehen. Nichts wünschen wir ihnen mehr als ein Ende der Gewalt, als Frieden und Sicherheit. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Was ist aus unserem Land geworden? Was ist aus „Nie wieder!“ geworden? Am selben Tag, an dem die Hamas das Feuer auf Israel eröffnete, twitterte unser Außenminister Maas noch, man wolle die vollständige Wiederherstellung des Atomdeals mit dem Iran, ebenjenem Regime, das die Hamas mit Waffen und Nachschub versorgt. Danach öffnete er die übliche Schublade seines Phrasenschrankes und rief beide Seiten zur Mäßigung auf. Er wird nicht müde, seine Verbundenheit mit Israel zu beteuern. Das Abstimmungsverhalten in der UN bezeichnete unlängst der Jüdische Weltkongress als „verstörend“; das sollte uns zu denken gebe. Es ist schon ein ziemlich trauriges Schauspiel, was hier abgeliefert wird; denn Worte und Taten liegen bei dieser Bundesregierung Lichtjahre auseinander. Indem Sie nicht einmal Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen, verweigern Sie dem Land die Anerkennung seiner Souveränität in dieser Frage. Ihre angeblichen Solidaritätsbekundungen sind in Wirklichkeit ein Zickzackkurs zwischen der einzigen Demokratie im Nahen Osten und islamistischen Fundamentalisten. Sie behandeln beide gleich, und nichts ist falscher. Entweder sind Sie mit Israel verbündet, oder Sie sind es nicht. Wir sprechen hier nicht nur über tagespolitische Entscheidungen, sondern über grundsätzliche Linien bundesrepublikanischer Politik seit Konrad Adenauer. Diese klare Positionierung schließt nicht aus, sich dennoch auch kritisch mit den Entwicklungen und Entscheidungen vor Ort auseinandersetzen zu können. Echte Partner machen so was. Stattdessen forderte, wie schon angesprochen, Norbert Walter-Borjans ein Mitspracherecht in Israel, und der Berliner SPD-Innensenator Geisel sprach gar davon, dass erlebnisorientierte Jugendliche hier auf der Straße randalierten und bei den widerlichen Demos skandierten, man müsse Israel von der Landkarte tilgen. – Was für eine Schande! All das reicht aber noch nicht; denn während es einfach nur unfassbar blöde ist, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Konflikt auch noch gendert, platzt einem wirklich die Hutschnur, wenn „Tagesschau“ und „heute“ berichten, Aktivisten würden mit den Raketen ein Unterlegenheitsgefühl bekämpfen. Unfassbar! Da kann ich nur jeden Bürger auffordern, die Zahlung der Rundfunkbeiträge für solch einen unerträglichen Mist sofort einzustellen. Was derweil in den sozialen Medien abgeht, ist noch viel schlimmer, unter fleißiger Beteiligung von Mitarbeitern unseres Gebührenrundfunks. Allein diese Beispiele bräuchten eine eigene Aktuelle Stunde. Für diese Entwicklung, die Sie hier heute auch alle beklagt haben, sind aber Sie als Regierungsparteien ganz alleine verantwortlich, sowohl im Bund als auch auf Landesebene, in den letzten 16 Jahren, insbesondere in den letzten sechs. Sie alleine hatten in diesen Jahren die Macht und die Befugnisse, all diese hässlichen Entwicklungen und die Szenen, die wir in den letzten Tagen gesehen haben, abzustellen. Passiert ist nichts. Und an die Freunde auf der rechten Seite: Ich habe vor anderthalb Jahren zum Thema Hisbollah schon mal einige traurige Beispiele aufgeführt – und ihr habt sie alle wieder aufgestellt. Ihr wollt sie alle wieder in den nächsten Bundestag schicken. Euch kann man nicht glauben. Danke.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSU. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es drängt mich, etwas zur Rede des Kollegen Friesen zu sagen, und zwar ganz bewusst als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dem Sie angehören. Ich bin eigentlich der Meinung, dass wir uns nicht so sehr mit Ihnen beschäftigen sollten, aber es drängt mich wirklich. Ich möchte Ihnen persönlich sagen, dass es unanständig ist, wenn Sie dem Bundesaußenminister oder auch unserem UN-Botschafter eine israelfeindliche Politik vorwerfen. Das Gegenteil ist die Wahrheit! ({0}) Ich will Ihnen sagen, was mich noch mehr dazu drängt, Ihnen persönlich und auch Ihrer Fraktion etwas zu sagen. Sie haben hier scheinbar Position bezogen gegen den Antisemitismus. Aber wer in einem Atemzug gegen Antisemitismus Position bezieht und zugleich Stimmung macht hier im Deutschen Bundestag – ich zitiere Sie sinngemäß – gegen die Einwanderung von Millionen von muslimischen Einwanderern und Flüchtlingen, der handelt unglaubwürdig, dem ist auch der Kampf gegen den Antisemitismus nicht abzunehmen. ({1}) Wer sich gegen Antisemitismus wendet und Stimmung macht gegen eine andere Gruppe, nur weil sie Muslime sind, betreibt die Sündenbockpolitik, die wir von denjenigen kennen, die Antisemiten sind. ({2}) Das musste ich hier sagen. ({3}) Ich kann mich dem anschließen, was der Bundesaußenminister und meine Fraktionskollegen Jürgen Hardt und Johann Wadephul gesagt haben; ich muss es nicht wiederholen. Ich schließe mich auch dem Appell an, dass es jetzt genug ist mit der Gewalt, dass sie enden muss; denn sie erzeugt Verletzte, Tote und nur noch politische Verlierer. Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren. Es wird ein Ende der Gewalt geben – morgen, in den nächsten Tagen. Wir hoffen es, und wir dürfen es hoffen. Aber was ist dann? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir? Was lernen wir? Was ändern wir? Wie ist es einen Monat später? Wie ist es ein Jahr später? Ich möchte Ihnen sagen: Wir müssen etwas verändern: hier in Europa, in Deutschland, aber auch in der Region. Wir dürfen den Grundkonflikt, der diesem Gewaltausbruch zugrunde liegt, nicht wieder ignorieren oder versuchen, ihn zu verdrängen. ({4}) Denn es wird weitergehen. Wenn dieser Konflikt nicht weggeht, wird diese Gewalt ausbrechen. Sie wird immer wieder kommen, und sie wird immer mehr werden. ({5}) Wir haben jetzt, so glaube ich, zum ersten Mal in einer Weise eine gewaltsame Konfrontation zwischen arabischen und jüdischen Israelis in Israel erlebt, die es so noch nicht gegeben hat. Die Hamas führt ja den Kampf gegen Israel vor allen Dingen als innerpalästinensischen Machtkampf, und sie hat dabei militärisch viel verloren, aber politisch gewonnen. Sie ist stärker geworden, innerpalästinensisch und innerarabisch. Es wird alles weitergehen. Wir müssen uns mit diesem Konflikt weiter beschäftigen. Damit bin ich bei uns, bei Deutschland und bei der Europäischen Union. Da muss ich den beiden Rednern von der FDP und der Grünenfraktion sagen: Ich teile nicht Ihre Zufriedenheit mit der Europäischen Union, wenn es die EU nach neun Tagen und stundenlangen Beratungen schafft, einen Beamten in die Region zu entsenden. Nein, die EU bietet ein Bild, das unserer Verantwortung nicht gerecht wird. Wir sind Teil der Europäischen Union. Auch wir tun nicht das, was notwendig ist. Wir müssen uns jetzt entscheiden, was es konkret heißt, an der Seite Israels zu stehen, was es konkret heißt, etwas für den Frieden zu tun, alles, was man kann. Heißt das Weiter-so? Oder müssen wir nicht die Aufgabe deutscher Außenpolitik neu definieren, nämlich diesen Konflikt zu einer europäischen Priorität zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ich glaube, das ist unsere Verantwortung, dass wir es tun. ({6}) Ich glaube nicht – wir müssen realistisch sein und dürfen es nicht zu schön beschreiben –, dass es eine europäische Politik von 27 Mitgliedstaaten geben wird. Die hat es schon jetzt nicht gegeben. Aber wir dürfen uns trotzdem nicht davon abbringen lassen. Es ist unsere Aufgabe als Deutschland, in der deutschen Außenpolitik, zusammen mit anderen europäischen Staaten europäische Nahost- und Mittelostpolitik zu machen. Wir können nicht weiter dabei zusehen – wie wir es seit zwei Jahren machen –, dass der Libanon, selbst für seine Verhältnisse, in einer desaströsen Lage ist. Wir müssen das zu unserer Priorität machen – in einem Monat, in einem Jahr –, und das wird viel Arbeit verlangen. Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, der auch eine neue Realität ist. Wir haben in diesen Tagen nicht muslimischen Antisemitismus erlebt, aber wir haben in Deutschland Antisemitismus von einzelnen Muslimen erlebt. ({7}) Auch da darf es keine Gruppenzuschreibung geben, sondern einzelne Verantwortliche müssen benannt werden. Das alles ist erschreckend. Für so etwas darf es keinen Raum geben; immerhin handelt es sich um Straftaten. Die meisten davon sind immer noch rechtsextremistisch. – Aber auch die hat es gegeben. ({8}) Wir haben eine neue gesellschaftliche Realität, nämlich die, dass über türkische und arabische Fernsehsender in Deutschland –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ich bringe noch den Satz zu Ende – in Millionen von Wohnungen und Häusern Israel-Feindlichkeit und Antisemitismus nicht nur gesendet, sondern empfangen wird. Auch mit dieser gesellschaftlichen Realität müssen wir uns –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke. Der Satz – –

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– beschäftigen, außen- und innenpolitisch. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dietmar Nietan, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die brutalen Raketenangriffe der vom Iran unterstützten Hamas sind ein permanenter Terrorangriff auf unschuldige Menschen in Israel, der auch ganz bewusst den Tod unschuldiger Palästinenserinnen und Palästinenser in Kauf nimmt. Und angesichts dieses Terrors darf es keinerlei Zweifel geben, dass Deutschland, so wie es Olaf Scholz gesagt hat, eng an der Seite Israels und der israelischen Bürgerinnen und Bürger steht. ({0}) Ich will an dieser Stelle aber auch sagen – ich habe Verständnis dafür; der Wahlkampf lässt grüßen –: Ich empfehle allen, sich einmal anzuschauen, was der SPD-Parteivorstand einstimmig am Montag als Resolution zu Israel beschlossen hat. Da können Sie alle nachlesen, dass es eine nichtkonditionierte Solidarität mit Israel und ein nichtkonditioniertes Bekenntnis gibt. Ich halte es so, wie es ist: ({1}) Für mich gilt die Beschlusslage der Partei und nicht die Äußerung Einzelner. ({2}) Zum Zweiten will ich sagen, weil wir ja hier in einem Wettbewerb sind, wer als Schnellster den Tweet zu den Ereignissen in Israel gemacht hat: Lieber Alexander Graf Lambsdorff, du weißt, dass ich dich sehr schätze. Aber wenn du dich so sehr darauf kaprizierst und auf andere Parteivorsitzende kaprizierst, musst du dich fragen lassen, warum euer Parteivorsitzender heute hier nicht sitzt, wie es die Bundeskanzlerin getan hat. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle auch noch mal an die eindringlichen Worte der Bundeskanzlerin erinnern; Johann Wadephul hat es schon getan. Sie sagte 2008 vor der Knesset: „… die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Das ist absolut richtig. Und seitdem sind zwölf Jahre vergangen, und heute stelle ich mir eindringlicher denn je die Frage: Durchdringt diese besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels und natürlich auch die Bekämpfung des Antisemitismus unsere tägliche Politik, oder bleibt sie eher eine Verbundenheit auf Abruf, wie es der Historiker Meron Mendel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 17. Mai so treffend auf den Punkt gebracht hat? In diesem Sinne möchte ich gerne an dieser Stelle ein paar vielleicht auch unangenehme Fragen stellen: Wollen wir es weiterhin mit Achselzucken hinnehmen, dass die Mehrheit unserer Bevölkerung, wenn man denn den Umfragen glauben darf, keine besondere Verantwortung Deutschlands für das jüdische Volk sieht? Müssen wir nicht über unsere Bildungspolitik und den Stand der Demokratieförderung in unserem Land nachdenken, wenn immer noch viel zu viele Menschen in Deutschland die israelische Politik in Palästina mehr oder weniger mit den Verbrechen der Nationalsozialisten gleichsetzen? ({4}) Könnte es nicht sein, dass bestimmte kleinkarierte Debatten über die Ausgestaltung einer Demokratieförderung und eines Demokratiegesetzes auch irgendwie etwas mit der Vernachlässigung des Kampfes gegen Antisemitismus zu tun haben? Warum schützen wir jüdische Einrichtungen und jüdische Menschen in unserem Land nicht besser gegen ihre Feinde? Wer die falsche Politik einer rechtsgerichteten israelischen Regierung kritisieren und dagegen protestieren will, muss das nicht vor jüdischen Einrichtungen tun. Wer es aber doch vor jüdischen Einrichtungen macht, entlarvt sich selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Genau diesen politischen Kräften, die ihren Antisemitismus und Judenhass unter dem Deckmantel der Kritik an der derzeitigen Politik Israels ausleben, müssen wir viel entschiedener entgegentreten. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die Initiative des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius, der mit einem Erlass die Grundlage dafür schaffen will, dass solche Demonstrationen in Zukunft nicht mehr vor Synagogen oder anderen jüdischen Einrichtungen stattfinden dürfen. ({6}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich schon, warum so etwas nicht in ganz Deutschland schon lange, für viele Jahre, eine Selbstverständlichkeit ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leid in Israel und Palästina ist groß, auf beiden Seiten, und deshalb sollte die Empathie mit den unschuldigen israelischen und palästinensischen Opfern der Hamas auch immer die Empathie mit den Palästinenserinnen und Palästinensern einschließen, die gerade in den letzten Jahren aufgrund einer diskriminierenden Siedlungs- und Besatzungspolitik eines israelischen Ministerpräsidenten große Ungerechtigkeiten erfahren haben. Sollen wir schweigen, wenn sich Herr Netanjahu um seiner persönlichen Machterhaltung willen lieber mit radikalen politischen Kräften in der Knesset und den radikalen Siedlern verbrüdert, anstatt hart an einer neuen Perspektive für einen Frieden zu arbeiten? ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Wir haben erlebt, dass ganz viele Juden und Araber in Israel spontan auf die Straße gegangen sind, dass sie demonstriert und gerufen haben: Wir weigern uns, Feinde zu sein! – Dazu schreibt Meron Mendel am Ende seines bemerkenswerten Artikels – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Nietan, –

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß; ich zitiere zu Ende.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

– Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich das gerne noch zu Ende führen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nein. Ich kann es nicht erlauben. Ich habe es den anderen Kollegen auch nicht erlaubt. – Vielen Dank. Kommen Sie zum Ende.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und empfehle Ihnen den Artikel. Ich kann es nicht mehr zitieren. Aber Sie sollten es nachlesen, wie er endet. Er erinnert uns nämlich daran, dass wir eine gemeinsame Pflicht haben, auf die vernünftigen Kräfte dort zu setzen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hätten Sie noch zitieren können. Vielen Dank. – Es ist ein bisschen missbräuchlich. Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Christian Schmidt. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts … Wenn jemand den Konflikt und die Situation im Nahen Osten betrachtet und das aus Deutschland heraus tut, dann muss er bei Paul Celan anfangen, dann muss er wissen, was unsere Verpflichtung und Aufgabe ist, dann muss er auch wissen, liebe Kollegen von der AfD, dass Sie nicht widersprechen, wenn Ihr Rechtsausleger Höcke – ich zitiere – sagt: Wir brauchen eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. – Das ist das politische Verbrechen, das besteht; und deswegen grenzen Sie sich aus. ({0}) Wir müssen auf die Situation in dieser Region, auf die Situation der Israelis, auch auf die Situation der Palästinenser, mit dem Streben und Arbeiten zu friedlichen Lösungen reagieren. Der Bundesaußenminister hat mit seinem Drei-Punkte-Stufenplan den Weg gezeichnet, ihn vorgegeben. Wir sollten ihn beschreiten und wissen, dass nach der dritten Stufe noch sehr viel mehr folgen muss. Wir müssen uns an die Situation erinnern, die leider nicht dorthin geführt hat, wohin sie führen sollte, nämlich an den Oslo-Dialog zu Beginn der 90er-Jahre; es wurde angesprochen. Durch die Ermordung Yitzhak Rabins ist einer der wesentlichen Protagonisten dieses Projekts der Zusammenarbeit mit Jassir Arafat und mit Schimon Peres leider nicht mehr wirkungsfähig gewesen, sondern wurde ein Opfer der Gewalt, auch im eigenen Land. Wir müssen, denke ich, versuchen, aufbauend auf diesen drei Stufen, in der Tat mehr als interessierte Beobachter in Europa, von Europa in den Nahen Osten zu sein. Wir müssen initiativ werden. Natürlich wissen wir, dass 27 schwierig zusammenzubringen sind. – Und, Herr Bundesminister, man kann nicht nachvollziehen, was die ungarischen Kollegen dazu gebracht hat, der Resolution, den Beratungen nicht volle und vorbehaltlose Zustimmung zu geben. Notwendig ist, dass mit der neuen Administration in Washington der Weg wieder gesucht wird, der über Kleeblatt oder wie auch immer hinführt zu der Frage und der Möglichkeit dessen, was wir in Oslo ja realisiert gesehen haben oder erhofft haben, hin zu etwas, was wir als Zweistaatenlösung bezeichnen, hin nicht zu einer Trennung, sondern zu einer quasi synergetischen Entwicklung im Nahen Osten, in Palästina. Dazu gehört auch, dass man mit den Palästinensern spricht. Das war übrigens der Fehlpunkt bei den Initiativen, die zu den Abraham Accords geführt haben. Ich habe ein ganz interessantes Gespräch mit Hanan Aschrawi – viele hier im Raum werden sie kennen – geführt, einer christlichen palästinensischen Politikerin, die lange Ministerin gewesen ist, die in ihrer Enttäuschung davon berichtet hat, dass sie, die Palästinenser – ich meine nicht die Hamas; ich meine die PLO und die PLA –, nicht angesprochen worden waren von den Ideen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Kooperation etc. Das muss nachgeliefert werden, nicht nur auf der Ebene der Wirtschaftsunternehmen, sondern übrigens auch der Technologie. Danke, Kollege Nietan, für den Hinweis auf die Beschlusslage des SPD-Vorstands, des SPD-Präsidiums. Ich bin sicher, du hast ihn komplett gelesen. Ob dein Vorsitzender ihn komplett gelesen hat, das weiß ich nicht ganz. Er wird sicherlich wissen, dass Histadrut und DGB eine wesentliche Grundlage für Zusammenarbeit gegeben haben. Und ich kann uns nur ermutigen, dass wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen, auch auf der gewerkschaftlichen Ebene – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke sehr für den Hinweis. ({0}) Ich finde, Herr Präsident, mein Vorgänger hat es noch intensiver versucht. ({1})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich sehr dafür bedanken, dass der Deutsche Bundestag jetzt wie natürlich auch die Bundesregierung die aktuelle Situation in Israel diskutiert hat. Ich will ausdrücklich unterstreichen: Ja, das sind schlimme Raketenangriffe auf Israel, Angriffe, gegen die Israel sich verteidigen kann und verteidigen muss. Es ist die klare Haltung der Bundesregierung, dass wir das Selbstverteidigungsrecht Israels stärken und dass wir als Bundesrepublik Deutschland dies als unsere Verpflichtung in dieser Sache verstehen. Es ist eine historische Pflicht, und es ist gut, dass das heute noch einmal betont worden ist. ({0}) Das gilt natürlich auch für das, was wir an antisemitischen Vorfällen hier in Deutschland feststellen konnten, an Beleidigungen und politischen Erklärungen, die nur so verstanden werden können, und natürlich auch im Hinblick auf die Angriffe auf Synagogen. Wir müssen klarmachen: Wir stehen hier zusammen. Wir stehen hinter den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, und wir weisen Antisemitismus und Anschläge auf Synagogen zurück. ({1}) Diskutiert haben wir natürlich auch die Situation der Coronapandemie, die uns alle noch lange umtreiben wird. Wir haben diskutiert über die Impffortschritte und die sinkenden Infektionszahlen – für die Bundesregierung eindeutig ein Zeichen, dass wir richtig entschieden haben, zusammen mit dem Deutschen Bundestag eine Bundesnotbremse auf den Weg zu bringen. Das hat mit dazu beigetragen, dass die Zahlen sich jetzt so entwickeln, wie sie das heute tun. Wir werden weiter alles dafür tun, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, aber auch die Perspektive offenzuhalten, die jetzt für uns alle sichtbar wird. Mit dem Testen und mit dem fortschreitenden Impfen können wir hoffen, dass der Sommer die Zeit wird, in der wir die Pandemie allmählich hinter uns lassen, und das ist etwas, wonach wir uns nicht nur alle sehnen, sondern das wir auch in Deutschland unbedingt miteinander erreichen sollten. ({2}) Aus meiner Sicht wird es deshalb auch wichtig sein, dass all das, was an Hilfen auf den Weg gebracht worden ist, damit wir ökonomisch durch diese Krise kommen, verlängert werden wird. Wir diskutieren das intensiv und werden die notwendigen Entscheidungen bald treffen. Es geht um die Kurzarbeit; es geht um die Wirtschaftshilfen. Alles das ist wichtig, damit Deutschland seine Arbeitsplätze erhält, damit wir die Unternehmen durch diese Zeit bringen und damit im Anschluss an die Pandemie auch ein ordentlicher wirtschaftlicher Aufschwung möglich ist. Meine Damen und Herren, wir haben in der letzten Zeit eine ganze Reihe von Gesetzen beraten – Gesetze, die für die Zukunft unseres Landes wichtig sind – und auch politische Vorhaben vorangebracht, die ganz, ganz wichtig sind für die Zukunft zum Beispiel der jungen Leute in diesem Land. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch mal verweisen auf das Coronaaufholpaket, eine der politischen Leistungen von Franziska Giffey, mit dem sie dafür gesorgt hat, dass die jungen Leute in diesem Land nicht vergessen werden, dass sie eine Perspektive bekommen, dass sie nicht nur Unterrichtsstoff nachholen können, sondern dass sie auch nachholen können, was an sozialen Kontakten in dieser Zeit verloren gegangen ist, damit sie eine gute Zukunft haben. Danke an Franziska Giffey! ({3}) Das möchte ich dann gerne zum Schluss auch noch sagen: Die Ministerin hat heute erklärt, dass sie ihr Amt nicht mehr fortführen möchte. Ich bedaure diese Entscheidung sehr. Aber sie zeigt auch: Franziska Giffey ist nicht nur eine sehr erfolgreiche Politikerin, die viel erreicht hat für die Kinder, für die Familien in diesem Land. ({4}) Sie ist auch eine durchsetzungsstarke Politikerin mit Herz und eine mit Rückgrat. Die Klarheit, die Franziska Giffey hier an den Tag gelegt hat, ist wirklich bemerkenswert. ({5}) Sie hat ein großes Herz, und das hat ihrer Politik immer genutzt. Sie hat großes Engagement an den Tag gelegt, und sie hat eine riesige Erfolgsbilanz als Familienministerin für dieses Land. Danke für diese Arbeit! ({6}) Und – das gestatten Sie mir als persönliche Bemerkung –: Sie wird dringend in Berlin gebraucht. ({7}) Schönen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die erste Frage stellt der Kollege Stefan Keuter, AfD.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Herr Bundesminister, nach § 34c Einkommensteuergesetz und § 26 Körperschaftsteuergesetz sind der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer entsprechende festgesetzte und bezahlte und um einen entstandenen Ermäßigungsanspruch gekürzte ausländische Steuern auf eine Einkommensteuer anzurechnen. Die hierdurch ermäßigte Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer bildet gemäß § 1 in Verbindung mit § 3 Absatz 1 Nummer 1 Absatz 2 Solidaritätszuschlaggesetz von 1995 zugleich die Grundlage für die Berechnung des Solidaritätszuschlages. Hierdurch entsteht eine Begünstigung der gewerblichen Einkünfte bei der Erhebung des Solidaritätszuschlages gegenüber nichtgewerblichen Einkünften. Dies ist vom Gesetzgeber nie beabsichtigt worden, da die Belastung aller Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit erfolgen soll. Herr Scholz, wann schaffen Sie diese ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen den im Ausland erzielten Einkünften und den im Inland erzielten endlich ab?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Wir haben den Solidaritätszuschlag in dieser Legislaturperiode umfassend reformiert. Wir haben dafür gesorgt, dass 90 Prozent der Steuerpflichtigen, die ihn bisher gezahlt haben, das nicht mehr tun müssen und dass etwa 6,5 Prozent entlastet werden. Weitere Reformen haben wir nicht vor. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Keuter?

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. – Ich frage noch mal nach: Sie haben zwar einen Teil der Bevölkerung entlastet. Allerdings ziehen Sie immer noch 50 Prozent der Summe des Solidaritätszuschlages ein. Der Bundesrechnungshof hat diesen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot bereits in seinem Vermerk „Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2008 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes“ – Bundestagsdrucksache 16/11000, Seite 139 f., vom 8. Dezember 2008 – bereits 2008 aufgedeckt. Auch Ihr Bundesministerium hat einräumen müssen, dass ausländische Einkünfte nur eingeschränkt in die Berechnung des Solidaritätszuschlages einbezogen werden. Wie rechtfertigen Sie Ihre Haltung jetzt vor diesem Hintergrund?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich will gerne noch mal wiederholen: Ich glaube, dass es eine richtige und notwendige Reform des Solidaritätszuschlages war, die wir auf den Weg gebracht haben, und auf diese wollen wir uns jetzt auch beschränken. Sie verweisen zu Recht darauf, dass die Hälfte des Aufkommens des Solidaritätszuschlages der letzten Zeit uns immer noch zur Verfügung steht, was wiederum auch belegt, dass es eine angemessene Reform war, weil diejenigen, die besonders leistungsstark sind, jetzt die Möglichkeit haben, die Solidarität zu zeigen, die wir in unserem Land immer noch brauchen. ({0}) Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nach den Regeln, die wir uns selber gegeben haben, von den Schulden, die jetzt aufgenommen worden sind, alleine von 2026 an knapp 18 Milliarden Euro zurückzahlen müssen. Da ist Solidarität von denjenigen, die finanziell leistungsfähig sind, dringend notwendig. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Sepp Müller, CDU/CSU.

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Bundesfinanzminister, ich habe mir mal die Eckwerte des Haushaltsentwurfs und des Finanzplans 2021 bis 2025 angeschaut. Wir haben hier ja den Nachtragshaushalt bestätigt. Mir fehlt etwas, bzw. ich finde es nicht; deswegen jetzt folgende Frage, die ich an Sie habe. Wir wissen, dass – das bezieht sich jetzt auf die Forstwirtschaft – der Wald 8 Tonnen CO2 pro Hektar spart, also einspeichert. Sie wissen ja auch, dass wir auf Initiative der Unionsfraktion gemeinsam mit der SPD einen Antrag eingebracht haben, der zum Ziel hat, dass diese Speicherfunktion auch entgeltlich bewertet wird, damit zum Beispiel Geld für Wiederaufforstung da ist. Wir hatten mit dem Coronakonjunkturprogramm 700 Millionen Euro für Wiederaufforstung auf den Weg gebracht und gesagt, dass wir zukünftig mehr Geld dafür zur Verfügung stellen wollen. Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister: Wo finde ich in Ihrem Eckplanentwurf das Geld, um Möglichkeiten zu schaffen, Wiederaufforstung in Deutschland herzustellen?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Zunächst mal weisen Sie darauf hin, dass der Bundeshaushalt immer noch ein sehr hohes Niveau hat. Der Deutsche Bundestag hat uns für dieses Jahr eine Kreditaufnahme von etwa 240 Milliarden Euro gestattet. Mit Blick auf die Diskussionen über den nächsten Haushalt und die Finanzplanung gehen wir für das nächste Jahr noch mal von einer erheblichen Kreditaufnahme aus. Wir haben fest vor, zusammen mit den Ressorts sicherzustellen, dass alle Beschlüsse, die die Regierung gefasst hat, umgesetzt werden können, zum Beispiel im Rahmen des Klimaschutzes oder zur Konjunkturstabilisierung. Wir werden das im Einzelnen konkretisieren, wenn der Haushalt vorliegt. Dass wir uns jetzt ganz konkret noch mehr vornehmen, haben Sie in den letzten Tagen auch den Medien entnehmen können. Wir haben ein Klimaschutzgesetz beschlossen, das strenge Anforderungen für die CO2-Reduzierung in den nächsten Jahren vorsieht. Dazu gehört, dass wir uns parallel noch einmal verstärkt vornehmen wollen, im nächsten Jahr zusätzliche Investitionen in vielen Feldern zu tätigen, die dazu beitragen, dass die CO2-Emissionsreduzierung gelingt. Da kommt auch der Wald vor. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe eine Nachfrage. – Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, Herr Bundesfinanzminister, wird es Aufgabe der Parlamentarier, den Fokus auf den Wald zu legen. Sie können mir ja nicht sagen, wo der Wald in Ihrem Eckplanentwurf vorkommt. ({0}) Zweite Frage. Forstwirtschaft und Landwirtschaft gehen nur gemeinsam. Das Insektenschutzpaket ist auf den Weg gebracht worden. Wir wollen uns hier Gedanken machen, wie wir die Landwirtschaft dafür entschädigen, dass Insektenschutzstreifen angelegt werden. Wo finde ich in Ihrem Entwurf für die nächsten Jahre die Entschädigungszahlungen an die Landwirte? ({1}) Wir können nur gemeinsam Klimaschutz machen – sowohl mit den Waldbauern als auch mit der Landwirtschaft.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst mal: Wenn Sie fragen, wo Sie den Wald finden, würde ich vorschlagen, Sie verlassen mal das Gebäude und gehen rum in Deutschland; da gibt es eine ganze Menge. ({0}) Zur zweiten Frage. Den Haushalt, den wir konkret für 2022 aufstellen, und die Finanzplanung gibt es im Juni.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Christian Dürr, FDP.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich merke, die Stimmung ist gut zwischen den Koalitionspartnern. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie wissen, dass sich meine Partei für die Entlastung von Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen einsetzt – Stichwort „Mittelstandsbauch“ – und dass wir dafür sind, gerade mittelständischen Familienbetrieben in dieser Krise Luft zu geben, um zu investieren. Nun haben Sie vor Kurzem erneut die Erhebung einer Vermögensteuer gefordert, Herr Minister Scholz, und einen Coronasoli gefordert. Sie haben gesagt, dass wir die Fortführung des Solis und die Umfirmierung brauchen, um die Coronaschulden zurückzuzahlen. Sie wissen natürlich, dass kleine Familienbetriebe, beispielsweise in Form einer GmbH, das weiter zahlen müssen. Auf der anderen Seite sprechen Sie und Herr Minister Altmaier von 85 Milliarden Euro Coronahilfen. In Wahrheit sind davon 50 Milliarden Euro Kredite, die zurückgezahlt werden müssen. Kurzum, Herr Minister Scholz: Sind Sie wirklich der Auffassung, dass es den deutschen mittelständischen Familienbetrieben so gut geht, dass die jetzt noch mehr Steuern zahlen müssen? Ist das tatsächlich die Auffassung Ihrer Bundesregierung, oder ist es Ihre Auffassung als Kanzlerkandidat? Kann das wirklich Ihr Ernst sein, Herr Minister Scholz? ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Ja, ich bin der Auffassung, dass die umfassenden Wirtschaftshilfen, die wir auf den Weg gebracht haben, in der Tat dazu beigetragen haben, dass sich die deutsche Wirtschaftsleistung stabilisiert. ({0}) Konkret haben wir die Einkommensverluste sowohl bei Unternehmen als auch bei Privathaushalten durch einen milliardenschweren Einsatz auf einen ganz geringen Prozentsatz reduzieren können. Mittlerweile sind ungefähr 100 Milliarden Euro an Hilfen direkt an die Wirtschaft geflossen. Ja, ein Teil davon ist finanziert durch Kredite, die wir in die Bücher des deutschen Steuerzahlers und der deutschen Steuerzahlerin genommen haben, mit dem Risiko, dass einige davon nicht zurückgezahlt werden. Die privaten Banken waren nicht bereit und in der Lage, das aus eigener Kraft zu tun. Vielmehr ist die Rückverbürgung durch uns die Grundlage dafür, dass wir mit diesen Kreditleistungen die Wirtschaft stabilisiert haben. Und in der Tat haben wir, wie Sie gesagt haben, die überwiegende Hälfte davon als direkte Zuschüsse gewährt. Wir haben im Übrigen auch Steuervergünstigungen und ‑stundungen in Höhe von etwa 130 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, und mit der Kurzarbeit haben wir etwas dafür getan, dass Arbeitsplätze erhalten werden. Auch das hat um die 30 Milliarden Euro gekostet. Ich könnte diese Aufzählung noch lange weiterführen. Deshalb sage ich: Ja, dass wir am Ende der Krise 400 Milliarden Euro an Krediten aufgenommen haben werden, ist unser Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaft. Ich bin dankbar, dass die meisten Angehörigen der Wirtschaft sich freuen, dabei mitzuhelfen, damit wir mit den Steuererträgen der Zukunft diese Last wieder stabilisieren können. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Dürr.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Scholz, ich bin gespannt auf die Zahl der Familienbetriebe, die unterschreiben würden, dass sie gerne mehr Steuern zahlen, nachdem sie unter der Krise und insbesondere der schleppenden Auszahlung der Coronahilfen so gelitten haben. Ich habe vorhin über die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen gesprochen. Das betrifft auch die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, von denen einige, wahrscheinlich sogar eine veritable Mehrheit, unter einer Doppelbesteuerung leiden. Sie wissen, dass heute am Bundesfinanzhof in München genau dieses Verfahren behandelt wird. Ich frage Sie vor dem Hintergrund, dass diese Menschen ein Leben lang hart gearbeitet und ihre Steuern regelmäßig gezahlt haben: Kann es wirklich Ihr Ernst sein, dass diese Menschen jetzt, während sie im Ruhestand sind, unter einer Doppelbesteuerung leiden, und Ihre Bundesregierung nichts dafür getan hat, das zu heilen, sondern, im Gegenteil, das unter den Teppich gekehrt hat? Ich frage Sie erstens: Warum wollen Sie das Verfahren weiterlaufen lassen und nicht zur Aufklärung hinsichtlich der Doppelbesteuerung beitragen? Und zweitens: Welche Risiken kommen auf den deutschen Steuerzahler zu – über den haben Sie ja gerade gesprochen, Herr Minister Scholz – vor dem Hintergrund, dass Sie nichts tun, um diesen Sachverhalt endlich aufzuklären? Ich halte es, um das in aller Deutlichkeit zu sagen, für total ungerecht, dass eine sozialdemokratische Partei dafür ist, dass Rentnerinnen und Rentner doppelt besteuert werden.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage, die eine Reihe von Tatsachenbehauptungen enthalten hat, denen ich nicht zustimme, wenn ich das höflich sagen darf. – Es ist so, dass die Mehrfachbesteuerung etwas ist, was wir zu vermeiden suchen. Dazu dienen auch die vor vielen Jahren beschlossenen Gesetze zur Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage. ({0}) Das wird übrigens dazu führen, dass Beiträge zur Rentenversicherung in wenigen Jahren komplett von dem steuerbaren Einkommen abgezogen werden. Wir haben dann über einen ganz langen Zeitraum eine vollständige Kehrtwende hingekriegt, sodass man während der produktiven Phase des Arbeitslebens von diesen Beiträgen steuerlich entlastet wird und dann im späteren Lebensverlauf, wenn die Auszahlungen erfolgen, die Steuern zahlt. Das ist so organisiert, dass die Phase, in der das dann für alle gilt, erst in ferner Zukunft liegt, nämlich 2040. Alles spricht dafür, dass sich der damalige Gesetzgeber und die Ministerinnen und Minister viel Mühe gegeben haben, richtig zu rechnen. ({1}) Wir gehen davon aus, dass es bei dem Grundsatz bleibt: Mehrfachbesteuerung, auch Zweifachbesteuerung, gibt es nicht und soll es auch nicht geben. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Dr. Schinnenburg, FDP, möchte eine Nachfrage stellen.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, es ist ja Ihre Aufgabe, auf die sparsame Verwendung der Gelder des Steuerzahlers zu achten. Ich möchte Sie jetzt mit vier Beispielen aus dem Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums konfrontieren, wo dies überhaupt nicht der Fall ist: Erster Fall. Zur Jahreswende wurden für über 2 Milliarden Euro Masken verschickt; völlig überteuert. Zweiter Fall. Im Frühjahr 2020 wurden über 6 Milliarden Schutzausrüstungen ebenfalls zu völlig überteuerten Preisen angekauft. Dritter Fall. Es wurden für mehrere Hundert Millionen Euro Medikamente – nicht Impfstoffe, Medikamente! – gegen Covid beschafft, die praktisch nicht genutzt wurden. Und vierter Fall. Für über 500 Millionen Euro wurden Prämien für Intensivbetten ausgelobt und auch bezahlt. Die Zahl der Intensivbetten ist nicht gestiegen. – Meine Frage deshalb: Was haben Sie getan, damit das nicht passiert?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich kann Ihnen versichern, dass der Bundesminister für Gesundheit sich alle Mühe gibt, sparsam mit dem Geld des Steuerzahlers umzugehen. ({0})

Dorothee Martin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004959, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich möchte das Thema Steuergerechtigkeit ansprechen. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren einiges dafür getan, um härter gegen Steuerumgehung, gegen Steuerbetrug auf europäischer und deutscher Ebene vorzugehen, zum Beispiel zuletzt mit dem Steueroasen-Abwehrgesetz oder der Anzeigepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltung. Gerade Sie und Ihr Haus treiben im Rahmen der OECD auch maßgeblich die Initiative für eine globale Mindestbesteuerung voran, auch – das ist uns wichtig – mit Blick auf eine gerechte Besteuerung der großen Digitalkonzerne. Meine Frage ist: Welche konkreten Maßnahmen sind dafür auf europäischer und auch auf globaler Ebene notwendig? Wo sehen Sie die nächsten Schritte, und wie wollen Sie diese erreichen?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für diese Frage. – Ich glaube, wir alle haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten gelernt, dass wir das Steueraufkommen in unseren Ländern nur im Rahmen einer weltweiten Zusammenarbeit sichern können. Deshalb hat es zu Recht eine ganze Reihe von Abkommen gegeben, die uns zusätzliche Informationen über Steuerzahlungen, über Steuerflüsse liefern, die auch dazu beitragen, dass wir eine bessere Übersicht bekommen. Aber diese Aufgabe ist noch lange nicht erledigt. Ich erinnere nur an das Vorhaben, dass wir auch ein bisschen mehr über die Steuerzahlungen von Unternehmen verstehen wollen, Stichwort „öffentliches Country-by-Country Reporting“. Dieser europäische Prozess kommt wahrscheinlich bald zu einem guten Ende. Das Gleiche gilt für die jetzt anstehende Vereinbarung. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Steuersenkungswettbewerb nach unten beenden müssen und dringend alles dafür tun müssen, eine globale Mindestbesteuerung von Unternehmen zu vereinbaren. Wir haben mächtige Verbündete, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch etwa 140 Staaten, mit denen wir im Rahmen der OECD zusammenarbeiten. Deshalb bin ich sicher: Wir werden im Sommer dieses Jahres eine Verständigung erzielen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin?

Dorothee Martin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004959, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch einmal zurück auf die nationale Ebene. Was können wir auf nationaler Ebene noch tun, damit eine bessere Kontrolle derjenigen möglich ist, die Steuerschlupflöcher immer wieder konstruieren oder zu nutzen versuchen?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Wir brauchen auf alle Fälle überall in Deutschland eine ordentliche Steuerverwaltung und eine gute Zusammenarbeit der Steuerbehörden. ({0}) Daran muss ständig gearbeitet werden. Aus meiner Sicht gibt es aber auch viele andere Vorhaben, die es lohnen, verfolgt zu werden. Eines will ich hier nennen: Nachdem wir nun gute Erfahrungen mit der grenzüberschreitenden Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle machen, sollten wir diese Praxis in Deutschland auch für nationale Steuergestaltungsmodelle entwickeln. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu diesem Thema hat die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine Information, Herr Minister, zur Einführung der nationalen Anzeigepflicht: In dieser Woche steht ein Änderungsantrag von uns zu Ihrem Gesetz zur Abstimmung, dass wir tatsächlich eine nationale Anzeigepflicht einführen. Ich begrüße, dass Sie dazu auffordern, dass diese Koalition unserem Änderungsantrag doch noch zustimmt. ({0}) Meine Frage bezieht sich auf das Steueroasen-Abwehrgesetz. In der Anhörung zu diesem Gesetz ist noch einmal deutlich geworden, dass dieses Gesetz viel zu kurz greift; das hat auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft kritisiert. Dieses Gesetz bezieht sich allein auf die EU-Schwarzliste; es sind nur 2 Prozent der bekannten Steueroasen erfasst. Auch das Tax Justice Network, also das Netzwerk für Steuergerechtigkeit, hat deutlich gemacht, dass die Staaten, die jetzt als Steueroasen gelten, auf der internationalen Liste erst bei Platz 25 und darunter anfangen; also die Top 25 sind durch Ihr Gesetz gar nicht erfasst. Können Sie erläutern, warum es ein gutes Gesetz ist, obwohl es gegen die Hauptsteueroasen überhaupt nicht wirkt?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage und auch für die Gelegenheit, hier über das Steueroasen-Abwehrgesetz zu sprechen; denn das ist in der Tat eine ganz wichtige gesetzgeberische Verbesserung, um die ich den Deutschen Bundestag zusammen mit der gesamten Regierung gebeten habe. Wir wollen sicherstellen, dass Steueroasen nicht mehr so funktionieren, wie das heute der Fall ist. ({0}) Dazu bewegen wir uns aber ganz bewusst und richtigerweise – das will ich sagen – in einem internationalen Kontext. Wir wollen nicht hierzulande definieren, wer als Steueroase einzugruppieren ist, ({1}) sondern uns an die internationalen Verabredungen halten, die dazu existieren, in der Europäischen Union und auch in den globalen Netzwerken. ({2}) Das ist aus meiner Sicht genau der richtige Weg; ein nationaler Alleingang kann nicht funktionieren. ({3}) Statt Steueroasen nur auf eine dieser grauen und schwarzen Listen setzen lassen zu können, müssen sie jetzt mit harten Konsequenzen rechnen. Das ist eine gesetzgeberische Verschärfung, die es bisher noch nicht gegeben hat, auf die ich sehr stolz bin und die auch im europäischen Kontext die weitgehendste ist. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt geht das Fragerecht an Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Scholz, jeder Ihrer Auftritte ist ja der Auftritt eines Kanzlerkandidaten. ({0}) Ich will Sie zum Thema Rüstungsausgaben etwas fragen. Sie versuchen ja, sich in der Öffentlichkeit als ein Friedenskanzlerkandidat darzustellen, der langfristig auch die Rüstungsausgaben absenken will. ({1}) Warum haben Sie dem Haushaltsausschuss eine Vorlage zugeleitet – Sie hätten sie stoppen können –, damit das Milliardenprojekt „Eurodrohne“ verabschiedet wird? Können Sie mir diesen Widerspruch erklären?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich sehe keine Widersprüche. Ich sehe nur eine sehr konsistente, zielgerichtete Politik für Frieden und Sicherheit in Deutschland und Europa. Wir sorgen dafür, dass die Bundeswehr ordentlich ausgestattet ist, dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen kann. Deshalb ist es richtig, dass wir auch im Rahmen dieser Politik den Haushalt der Bundeswehr in den letzten Jahren erheblich gestärkt haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben aber versucht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass Sie die Rüstungsausgaben absenken wollen. Vielleicht können Sie uns Ihre Vorstellung darlegen, wie Sie in Zukunft mit diesen Ausgaben umgehen wollen. Zur Eurodrohne haben Sie jetzt übrigens nichts gesagt; das will ich nur für die Zuhörerinnen und Zuhörer hervorheben. Sie haben sich also um die Antwort gedrückt. Aber vielleicht können Sie eine längerfristige Perspektive aufzeigen.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ihre Grundannahmen sind samt und sonders falsch. Zunächst einmal: Es geht um eine ordentliche Ausstattung der Bundeswehr. Dafür habe ich mich immer eingesetzt. Ich habe auch in der Zeit, in der ich Bundesminister der Finanzen bin, dafür gesorgt, dass die Mittel für die Bundeswehr jedes Jahr erheblich gesteigert wurden, was ich in der Tat für richtig und für notwendig halte. Ich will ergänzen: Dazu gehören auch europäische Rüstungskooperationen. Wir haben ganz bewusst entschieden, dass wir die Entwicklung der Eurodrohne vorantreiben wollen. Das ist eine langjährige Entscheidung der Koalition, die jetzt umgesetzt worden ist. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt stellt die nächste Frage die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, halten Sie es bei einer inzwischen weitgehend aus Steuergeld finanzierten Kurzarbeitsregelung für legitim, dass Großunternehmen, die viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kurzarbeit haben, ihren Anteilseignern Dividenden ausschütten, oder sollte dies nicht temporär unterbleiben wie bei anderen großen mit Steuergeld finanzierten Hilfen, zum Beispiel Beteiligungen, auch? Wenn Sie mit Ja antworten, wüsste ich gerne, warum. Wenn Sie mit Nein antworten, frage ich mich, warum Sie sich in den letzten Monaten nie dazu geäußert haben – die IG Metall, der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre haben sich geäußert, aber Sie nie – und warum Sie bisher nichts dagegen getan haben?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ihre Frage ist ja sehr präzise. Es gibt in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Aktivitäten, die wir unternommen haben, um die Wirtschaft in Deutschland zu stabilisieren. Dazu gehören in der Tat steuerfinanzierte Modelle mit Krediten und mit der Möglichkeit von Zuschüssen, die wir auf den Weg gebracht haben. Sie sind an entsprechende Verknüpfungen gekoppelt, zum Beispiel ist der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds an Boniverbote, Ausschüttungsverbote und all die Dinge, die dazu gehören, gebunden. In anderen Bereichen gibt es Regeln, die zu beachten sind und die auch beachtet werden. Wo das nicht der Fall ist, schaut die entsprechende Behörde nach und holt sich ihr Geld wieder. Der Kern Ihrer Frage ist, ob es gut gewesen wäre, wenn der eine oder andere Zurückhaltung an den Tag gelegt hätte, nachdem er in diesem Umfang Kurzarbeitermittel eingenommen hat. Darauf will ich Ihnen gerne mit Ja antworten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Paus?

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Nachfrage: Warum haben Sie sich dazu nicht auch öffentlich geäußert? Inzwischen sind aus dem Bundeshaushalt über 20 Milliarden Euro an die Arbeitsagentur überwiesen worden, weil die Kassen bei der Arbeitsagentur leer sind. Es ist ja gut und richtig, dass wir das Kurzarbeitergeld haben, auch für die nächsten Monate; aber wenn parallel Milliarden aus den Unternehmen durch Dividenden abfließen, dann ist das weder gerecht noch besonders sinnvoll für den Erhalt der Unternehmen. Von daher noch einmal meine Frage: Warum war bisher öffentlich von Ihnen nichts dazu zu hören? Und haben Sie überprüft, inwieweit der Zuschusscharakter auch beim Kurzarbeitergeld Ihnen nicht die Handhabe gibt, Bedingungen an diese Wirtschaftshilfe zu knüpfen?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich glaube, wenn Sie meine öffentlichen Äußerungen genau bewerten wollen, müssen Sie mich besser tracken. Das ist jedenfalls die Empfehlung, die ich Ihnen geben möchte. Diese Frage ist mir oft gestellt worden, und ich habe darauf immer die gleiche Antwort gegeben, nämlich diejenige, die Sie eben gehört haben. Das Zweite ist eine Frage, welche die veränderte Situation betrifft. Das ist keine veränderte Rechtslage; aber es unterstreicht, was ich auf Ihre erste Frage geantwortet habe.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die Kollegin Susanne Ferschl, Die Linke, hat eine Nachfrage zu diesem Thema.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich habe eine direkte Nachfrage dazu. Sie betonen ja im Wahlkampf zu Recht, dass sich der Respekt vor Arbeitenden auch in höheren Löhnen ausdrücken muss. Jetzt ist es ja so, dass Beschäftigte, die im letzten Jahr in Kurzarbeit waren und jetzt noch Lohneinbußen aufgrund des Progressionsvorbehalts haben, auch noch Steuern nachzahlen müssen und dass auf der anderen Seite die DAX-Konzerne Milliarden an Dividendenausschüttungen vornehmen, und zwar obwohl sie sich die Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnkosten über Kurzarbeit haben erstatten lassen, was ja auch durch Steuergelder bezuschusst worden ist. Insgesamt 13 Milliarden Euro an Dividendenausschüttungen sind von den DAX-Konzernen geplant, die letztes Jahr das Instrument der Kurzarbeit in Anspruch genommen haben. Können Sie mir erklären, was es mit Respekt vor den Beschäftigten zu tun hat, wenn diese auf der einen Seite Steuernachzahlungen leisten müssen und sich Aktionäre auf der anderen Seite mit Unterstützung von Steuergeldern eine goldene Nase verdienen? ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank dafür, dass auch Sie noch mal die Kurzarbeitergeldregelung ansprechen; denn ich glaube, dass es in der Tat eine der ganz großen sozialpolitischen Innovationen in unserem Land ist, dass wir eine solche Krise mit Kurzarbeitergeld bekämpfen. Das haben wir 2008/2009 gemacht, als ich Arbeitsminister in Deutschland war, und es ist hinterher von allen gesagt worden: Das war die wahrscheinlich effektivste Krisenbekämpfungsmaßnahme. – Sie ist anderen Ländern zur Nachahmung empfohlen worden. Und das geschieht mittlerweile. Ich erinnere nur an das europäische Programm SURE, mit dem wir Kurzarbeitergeldregelungen wie in Deutschland in ganz Europa eingeführt haben. Und wenn Sie sich in der Welt umschauen, werden Sie noch andere finden. Das ist zum Goldstandard in der Krisenbekämpfung geworden ({0}) und hat in Deutschland über 2 Millionen Arbeitsplätze gerettet, was ich wirklich eine wichtige Botschaft finde. Deshalb: Danke für Ihren Hinweis. ({1}) Zweitens muss ich darauf hinweisen, dass der Eindruck, dass der Progressionsvorbehalt dazu führt, dass Steuern nachgezahlt werden müssen, sich für die allermeisten als nicht richtig herausstellen wird. Das ist eine Debatte, die in den meisten Fällen von der Mathematik nicht bestätigt wird. Tatsächlich geht es nur darum, sicherzustellen, dass jemand, der zum Beispiel drei Monate erwerbstätig war und seiner Arbeit nachgehen konnte, aber die letzten Monate des Jahres wegen dieser Krise in Kurzarbeit war, für diese ersten drei Monate nicht gewissermaßen bessergestellt wird, als wenn es die Kurzarbeit nicht gegeben hätte, weil wir ja Kurzarbeitergeld netto auszahlen. Ich glaube, das ist etwas, wo man seriös bleiben könnte, aber nicht muss. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke. – Der Kollege Kindler hat noch eine Nachfrage zu diesem Thema.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Bundesminister Scholz, ich will nur darauf hinweisen, dass das Kurzarbeitergeld ein seit sehr langer Zeit praktiziertes Instrument der Bundesrepublik Deutschland ist, es also schon deutlich länger als seit 2008/2009 eingesetzt wird. Der Hinweis auf die Historie sei mir gestattet. Es ist ein wichtiges Instrument der Sozialpartnerschaft. Am Anfang der Krise wurde argumentiert, dass man keine Vorgaben zu einem Boni- und Dividendenverbot machen könne, weil das Kurzarbeitergeld eine Versicherungsleistung sei, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt worden ist. Meine Kollegin Paus hat gerade darauf hingewiesen, dass das inzwischen nicht mehr der Fall ist, weil jetzt ein großer Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit aus Steuergeldern, also von der Gesamtbevölkerung, gezahlt worden ist. Sie selber kritisieren, dass Unternehmen wie Daimler oder BMW hohe Dividenden ausgeschüttet haben, obwohl sie Kurzarbeitergeld in Milliardenhöhe bekommen haben. Die Frage ist, warum Sie das nur kritisieren. Sie sind ja nicht der oberste Kritisierer der Bundesrepublik Deutschland, sondern der Bundesfinanzminister und Mitglied des Kabinetts von Angela Merkel. Sie können ja dazu auch Gesetzesvorlagen einbringen. Haben Sie vor, diese Rechtslage zu ändern, sodass Dividenden und Boni von großen Konzernen nicht mehr ausgeschüttet werden können, wenn sie Milliarden an Steuerhilfen bekommen haben? ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Trotz der langen Frage bleibt es dabei, dass es sich um eine Versicherungsleistung handelt. Zum Zweiten ist es natürlich richtig, dass wir in einer speziellen Krisensituation die Sozialversicherungen mit zusätzlichen Steuerzuschüssen unterstützen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir antizyklische Politik machen, dass wir sicherstellen wollen, dass die automatischen Stabilisatoren in der Volkswirtschaft funktionieren, dass wir nicht Kürzungen durchsetzen wollen, für die viel Geld ausgegeben werden muss. Ich halte dies für eine gute und keynesianisch motivierte Fiskalpolitik in Deutschland, die sich darin niederschlägt. Sie ändert aber an der rechtlichen Struktur dieser Angelegenheit nichts. Und das will ich dann doch noch gern dazusagen: Ja, als jemand, der sich lange mit dem Arbeitsrecht beschäftigt hat, war mir die Möglichkeit, Kurzarbeit in vielen Einzelfällen einzusetzen, bekannt. Sie aber zu einem großen Maßstab der Krisenbekämpfung zu machen, ist in der Tat eine Innovation gewesen. Und darüber könnten Sie sich sogar freuen, wenn Sie wollen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Albrecht Glaser, AfD, stellt die nächste Frage.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, die EU-Staaten versinken in Schulden. Völlig unabhängig von der Coronakrise waren die europäischen Staaten in 2019 mit mehr als 100 Prozent ihres BIP verschuldet; Ihnen ist bekannt, dass im Maastricht-Vertrag und auch im Stabilitäts- und Wachstumspakt die zulässige Verschuldenshöhe bei 60 Prozent liegt. Es gibt theoretisch Mechanismen, diesen Zustand zu unterbinden, von denen aber noch nie Gebrauch gemacht worden ist. In mehr als 200 Fällen haben die Staaten die Kriterien gerissen, und trotzdem hat null Mechanismus stattgefunden, um dies zu verhindern. Wir haben hier am 25. März einen unseligen Beschluss gefasst, nämlich diesen berühmten Eigenmittelbeschluss, wonach die EU bis zu 820 Milliarden Euro an Krediten aufnehmen kann, die dann in Europa verteilt werden. Sie haben diesen Vorgang bejubelt mit dem Satz: Diese Erhöhung der Schulden dient dazu, die Resilienz der Staaten zu erhöhen. – Meine Frage lautet: Wie kann man mit einer weiteren Erhöhung von Schulden in den Staaten Europas deren Widerstandsfähigkeit erhöhen? Wenn Sie das vielleicht dem Publikum erklären würden.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank. – Das Zitat ist ein bisschen aus der Welt gegriffen. ({0}) Aber ich will Ihre Frage ganz konkret beantworten. Es ist richtig, dass wir diese Krise mit einer starken fiskalischen Antwort bekämpfen. Sonst würde es ganz schlecht laufen für Arbeitsplätze und Wohlstand auch hierzulande. Wir merken das ja in der jetzigen Situation. Obwohl Geschäfte, Restaurants und Hotels immer noch geschlossen sind und ganze Branchen wegen der coronabedingten Einschränkungen daniederliegen, ist es so, dass sich unsere wirtschaftliche Entwicklung auf einem ordentlichen Pfad befindet. Das hat etwas damit zu tun, dass wir eine leistungsfähige mittelständische und große Wirtschaft haben, die in der Lage ist, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu agieren. Deren Konkurrenzfähigkeit, deren ökonomischer Erfolg hängt auch am Erfolg des übrigen Europas. Darum also ist diese wirtschaftliche Stabilisierung die Grundlage der Resilienz und der künftigen Fähigkeit, diese Schulden auch zu bedienen; denn – das sollten Sie nicht unterschlagen – sie müssen ja zurückgezahlt werden. Das ist in den Verträgen genau geregelt und aufgeschrieben. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Glaser?

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, sehr gerne. – Herr Minister, Sie haben natürlich, wie bei den anderen Fragen auch, auf meine Frage gar nicht geantwortet. Sie sprachen von den Ladengeschäften in Deutschland usw. Ich sprach von der Verschuldung in Europa und von der Gefährdung der Staaten, die in ihren Schulden versinken werden. Wie Sie wissen, beziehen sich die Kriterien, nach denen diese Mittel jetzt verteilt werden, auf die Arbeitslosigkeit und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, aber in der Zeit vor Corona. Das heißt: Es gibt noch nicht einmal einen Zusammenhang zwischen Corona und dieser ganzen Aktion, sondern es geht in Wahrheit darum, Staaten zu stabilisieren, die ansonsten in die Staatsinsolvenz laufen würden. Würden Sie diese harte, aber wohl wahre Feststellung teilen, oder sehen Sie die Lage anders?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich sehe die Lage komplett anders. ({0}) Das ist auch keine Feststellung, sondern eine falsche Beschreibung der Wirklichkeit. Was wir hier real haben, ist ein Programm, das wir auf den Weg gebracht haben, das sich auf Zukunftsinvestitionen bezieht. Wir haben ausdrücklich geregelt, dass es nicht um Haushaltsfinanzierung geht, um genau solche Effekte zu vermeiden. Vielmehr wollen wir mit dem Aufbauprogramm sicherstellen, dass es um Digitalisierung, Investitionen in den Klimaschutz und viele strukturelle Reformen geht, die dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieser Länder groß genug ist. Genau das zu erreichen, ist die Grundlage für die Fähigkeit, staatliche Finanzierungen auch wieder zurückzuführen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dazu hat der Kollege Fricke, FDP, eine Nachfrage.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, wir reden ja jetzt über Europa, das wir alle so dringend brauchen und dessen Stabilität wir so dringend benötigen. Der für den Stabilitäts- und Wachstumspakt zuständige Kommissar Hahn hat zum Stabilitäts- und Wachstumspakt gesagt – weil Sie genau darauf achten, gebe ich das jetzt wörtlich wieder –: Es ist nicht mehr zielführend, allen Ländern … vorzuhalten, dass sie sich an eine Obergrenze bei der Gesamtverschuldung von 60 Prozent des BIP halten müssen. Das macht keinen Sinn. Halten Sie diese Aussage des Kommissars für falsch?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich war sehr froh darüber, dass Deutschland im Jahre 2019, genau zehn Jahre nach der letzten Wirtschaftskrise, alle Stabilitätskriterien Europas – weniger als 60 Prozent Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und all die anderen – erfüllt hat. Selbstverständlich muss es unser Ehrgeiz sein, dass uns das für die Zukunft wieder gelingt, allerdings durch Wachstum, was die Grundlage dafür ist, dass uns das auch tatsächlich gelingen kann. Das rechtfertigt auch die massiven finanziellen Mittel, die wir jetzt in Deutschland und Europa einsetzen, weil sie das Wachstum erzeugen, das für stabile Staatsfinanzen nötig ist, und wir damit dann in zehn Jahren sagen können, dass wir all diese Stabilitätskriterien erfüllt haben werden. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mir erst einen Überblick verschaffen. Guten Tag, Herr Minister! – Nächster Redner ist für die CDU/CSU Matthias Hauer. Herr Hauer, bitte.

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Finanzminister, Sie wurden in den letzten vier Wochen zweimal in den Untersuchungsausschüssen vernommen: einmal zum Aufsichtsversagen bei Wirecard und zum anderen wegen der illegalen Cum/Ex-Steuerdeals in Hamburg. In beiden Vernehmungen haben Sie sich nur an genau das noch erinnert, was ohnehin schon öffentlich bekannt war. Jetzt haben wir viel über Steuerbetrug gesprochen. Deswegen will ich Sie etwas zu den Cum/Ex-Deals fragen. Sie hätten ja aktiv etwas dagegen tun können. Stattdessen haben Sie sich in Ihrem damaligen Hamburger Bürgermeisterbüro mit den beschuldigten Bankern getroffen, obwohl Sie wussten, dass gegen diese wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt wird. Meine Fragen: Tragen Sie als Bundesfinanzminister nicht eine besondere Verantwortung dafür, wenn es um die Bekämpfung von Steuerkriminalität auch in Hamburg geht? Haben Sie auf dieses Cum/Ex-Steuerverfahren Einfluss genommen? Es ging ja alles sehr schnell, nachdem Sie sich getroffen haben. Wie bewerten Sie als Bundesfinanzminister Ihr damaliges Verhalten?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Hauer. – Herr Minister, bitte.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Alle Fragen sind von Ihnen schon im Ausschuss gestellt worden und von mir beantwortet worden. ({0}) Deshalb will ich ausdrücklich noch einmal sagen: Die Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuervermeidung ist eine ganz zentrale Aufgabe des Bundesministeriums der Finanzen. Ich habe mit einer ganzen Reihe von Gesetzen, die wir in den letzten Jahren beschlossen haben und die wir gerade jetzt beschließen oder vor wenigen Tagen beschlossen haben, einen Beitrag dazu geleistet, dass das besonders gut geht. ({1}) Ein aktueller Hinweis: Mit einem Gesetz, das jetzt schon das Haus passiert hat und noch den Bundesrat passieren wird, haben wir zum Beispiel möglich gemacht, dass Steuerbescheinigungen besser identifiziert und nummeriert werden können, sodass man überhaupt die Klarheit bekommt, die man dafür braucht. Das bleibt eine ständige Aufgabe, und man darf da niemals nachlassen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Minister.

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, dass ich noch eine Nachfrage stellen darf, wobei es eigentlich eine Wiederholung der Frage ist. Ich finde, dass es zum Respekt gegenüber dem Parlament gehört, dass man auf die hier gestellten Fragen auch mit inhaltlichem Bezug antwortet. ({0}) Ihre Antwort hat keinen Bezug zu Cum/Ex gehabt. ({1}) Ich habe ausschließlich nach Cum/Ex gefragt, zum Beispiel, ob Sie Einfluss auf das Steuerverfahren genommen haben. Es gibt da zwei Möglichkeiten, Herr Finanzminister: Entweder haben Sie Einfluss genommen, was Sie wohl abstreiten, oder Sie haben keinen Einfluss genommen. Da muss man sich die Glaubwürdigkeitsfrage stellen. Sie haben sich mehrmals getroffen. Danach ging es sehr schnell, dass man auf diese Steuerrückzahlungen verzichtet hat. Es war eine große Sache. Wenn man trotzdem unterstellt, dass Ihre Sichtweise richtig ist: ({2}) Wieso wollten Sie dann sehenden Auges diese Verjährung der Steuerforderung hinnehmen? 47 Millionen Euro – Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, wegen einer Hamburger Bank. Und Zweitens.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, nein, Zweitens ist nicht mehr. Die Zeit ist um. – Herr Minister.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ja, schönen Dank auch für diese Fragen, die mehr ein Vorhalt als eine Frage sind und im Übrigen die Wiederholung von Dingen, die wir in der Tat schon mehrfach auch zu zweit miteinander diskutiert haben, und zwar protokolliert und für alle Öffentlichkeit sichtbar. ({0}) Deshalb sage ich: Die Vorhaltungen und Insinuierungen sind nicht richtig und nicht berechtigt. Tatsächlich haben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen unternommen, um alles dazu beizutragen, dass zum Beispiel Verjährungen vermieden werden können, dass man sogar verjährte Steuerforderungen noch geltend machen kann. Auch in dem konkreten Fall, den Sie dort diskutieren, hat es eine solche Situation niemals rechtlich gegeben. Darüber besteht mittlerweile gar kein juristischer Zweifel mehr. Das Geld ist im Übrigen, wie man in Zeitungen nachlesen konnte, längst auf den Konten der Finanzämter.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Scholz. – Dann lasse ich zwei Rückfragen zu: Dr. Kraft und Herr Dürr. Dr. Kraft, bitte.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Minister, Sie haben gerade gesagt, dass Sie es als Ihre Aufgabe sehen, gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung vorzugehen. Während ich bei Steuerhinterziehung komplett bei Ihnen bin – schließlich handelt es sich hier um einen Straftatbestand –, ist Steuervermeidung ein Akt, der sich komplett innerhalb der geltenden Gesetze der Bundesrepublik Deutschland bewegt. Wie kann ich Sie dahin gehend verstehen, dass Sie es als Ihre Aufgabe verstehen, als Bundesfinanzminister gegen Leute vorzugehen, die sich exakt im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen? Bewegen Sie sich damit nicht außerhalb der geltenden Gesetze, wenn Sie gegen Leute vorgehen, die sich innerhalb der geltenden Gesetze bewegen? ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich finde, wir müssen natürlich gegen Steuerbetrug vorgehen, weil das eine Straftat ist. Zweitens müssen wir aber auch Steuervermeidungsstrategien bekämpfen. Deshalb sind zum Beispiel die jetzt schon geltenden grenzüberschreitenden Anzeigepflichten genau dazu gedacht, dass wir nämlich einen Hinweis darauf bekommen, dass ein neues Steuergestaltungsmodell erdacht wurde – von der großen Steuerberaterindustrie entwickelt –, und dass wir, bevor es uns Schaden macht, die Gesetze ändern können. Das würden wir dann dem Bundestag vorschlagen, damit diese Strategie nicht aufgeht. Das finde ich eine gute Sache.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Scholz. – Nächster Rückfragender: Herr Dürr von der FDP.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Scholz, Sie haben vorhin bei der Beantwortung einer anderen Frage auch davon gesprochen, dass Behörden vor dem Hintergrund des Steuerbetruges gut zusammenarbeiten müssen, um ihn zu bekämpfen, was ich im Grundsatz für richtig halte. Vor dem Hintergrund dessen, was in Hamburg passiert ist, was Herr Hauer auch gesagt hat, dass 15 Bundesländer anders entschieden haben und ein einziges Bundesland, nämlich das unter Ihrer Regierung stehende Hamburg, anders verfahren ist mit der Warburg Bank, frage ich Sie, ob Sie damit dieses mustergültige Verhalten von Zusammenarbeit zwischen Ihnen als Bürgermeister und der senatorischen Finanzverwaltung in Hamburg meinten, indem Sie offensichtlich dazu beigetragen haben, dass die Steuern von Warburg nicht eingezogen worden sind. Ist das das mustergültige Verhalten von Zusammenarbeit, was Sie vorhin bei der Beantwortung der Frage gemeint haben, Herr Minister?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich bestehe darauf, dass in ganz Deutschland die Entscheidungen in diesen Fragen immer von der Finanzverwaltung und von den Finanzämtern getroffen werden, so ist es auch richtig, und dass es keine politische Einflussnahme auf solche Entscheidungen gibt, nirgendwo in Deutschland. ({0}) Das sollte aus meiner Sicht eine ganz, ganz wichtige Praxis sein, auf die wir alle gemeinsam achten müssen. Im Übrigen ist es aus meiner Sicht unbedingt so, dass wir alles dafür tun müssen, dass es nicht gelingt, sich irgendwie um die Dinge herumzudrücken. Deshalb muss man immer wieder neu dafür sorgen, dass die Gesetze nachgeschärft werden und dass die Steuerverwaltung die Mittel und das Personal bekommt, um die eigenen Aufgaben wahrzunehmen. Ein Hinweis noch: Das erste höchstrichterlich erstrittene Urteil zur Bekämpfung von Cum/Ex hat die Hamburger Finanzverwaltung erkämpft. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Minister Scholz. – Dann bleibe ich jetzt bei der FDP. Nächster regulärer Fragesteller ist Kollege Till Mansmann.

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Scholz, mit Ihrem Entwurf eines Tabaksteuermodernisierungsgesetzes streben Sie die Besteuerung nikotinhaltiger Substanzen zur Verwendung in E-Zigaretten an. Dabei verweist die Bundesregierung darauf, dass der Konsum sogenannter Liquids den Gebrauch klassischer Tabakprodukte ersetzen würde. Das ist auch richtig. Das Potenzial des Produkts E-Zigarette im Sinne der Harm Reduction wurde bereits in vielfältigen Studien nachgewiesen. Sogar die WHO stellte 2020 fest, dass es hierfür schlüssige Hinweise gibt. Für Tabakraucher bedeutet der vollständige Umstieg auf E-Zigaretten eine ganz erhebliche Schadensminderung. Sie schlagen nun vor, den Preis von Liquids bis 2024 durch steuerliche Maßnahmen schlimmstenfalls zu verdreifachen. Raucher würden somit vom gesundheitlich unzweifelhaft vorteilhaften Umstieg abgeschreckt. Warum überwiegt die fiskalische Motivation die legitimen gesundheitspolitischen Interessen in diesem Fall?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich teile Ihre Einschätzung nicht. Es gibt gesundheitspolitische Erwägungen, die dafür sprechen, dass wir jetzt nicht alles harmlos finden, was sich selber für harmlos deklariert. Das will ich ausdrücklich dazu sagen. ({0}) Aus meiner Sicht ist es im Übrigen so, dass wir eine gute Praxis haben, dass wir unser Steuerrecht immer modernisieren. Mit der Tabakindustrie ist es sogar so, dass man fast ein Einvernehmen darüber hat, dass die Steuern regelmäßig angepasst werden und man nicht jahrelang damit wartet, um es dann in einem Schub zu tun. Ich glaube, dass das eine richtige Entscheidung ist. Das Zweite ist, dass wir dann, wenn sich moderne Produkte auf dem Markt zeigen, natürlich sicherstellen, dass die Besteuerung aus gesundheitspolitischen und selbstverständlich auch aus fiskalischen Erwägungen fortgeführt werden kann.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Haben Sie eine Nachfrage?

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich habe eine Nachfrage. – Sie sagten jetzt gerade, dass Sie die Verbreitung des Produkts minimieren wollen, weil es schädlich ist, gehen aber von einer Vervielfachung des Produktes aus. Vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben, ist es offensichtlich so, dass Sie gar nicht glauben, dass Sie das Produkt zurückdrängen werden. Oder halten Sie Steuereinnahmen in diesem Segment in Höhe von 700 Millionen Euro in 2024, 800 Millionen Euro in 2025 und 900 Millionen Euro in 2026 für realistisch und seriös?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Alle Berechnungen, die das Bundesministerium der Finanzen vorlegt, sind seriös. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Scholz. – Eine Rückfrage von Stefan Schmidt von Bündnis 90/Die Grünen, dem ich recht herzlich zum Geburtstag gratuliere. ({0}) Es ist doch schön, hier Geburtstag zu feiern, oder? Und jetzt bekommen Sie auch noch eine Antwort von Herrn Scholz.

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Absolut! Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister, zu dem Themenkomplex Tabaksteuer gebe ich dem Kollegen Mansmann weitestgehend recht, und ich finde, die Expertenanhörung am Montag hat auch gezeigt, dass da noch sehr viel Änderungsbedarf besteht. Ich habe zwei konkrete Nachfragen dazu. Erstens. Teilen Sie meine Einschätzung und die Einschätzung meiner Fraktion, dass die Aussage „Je gesundheitsschädlicher ein Produkt ist, umso stärker sollte es besteuert werden“ ein Maßstab für die Besteuerung von Produkten sein sollte? Zweitens. Wie stehen Sie zur Besteuerung des Tabaks für Wasserpfeifen? Momentan und nach Ihren Plänen auch künftig wird er wie Pfeifentabak besteuert. Dem steht das deutliche Risiko gegenüber, das damit einhergeht, insbesondere auch vor dem Hintergrund des Jugendschutzes. Wasserpfeifen sind bei jungen Menschen als Zeitvertreib sehr beliebt und häufig eine Einstiegsdroge. Wäre es nicht angemessen, dort eine deutlich höhere Besteuerung vorzunehmen, um damit auch eine Lenkungswirkung zu entfalten? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Es ehrt mich, dass Sie an Ihrem Geburtstag mir eine Frage stellen – und dann auch noch eine zum Thema Gesundheit. Was soll man dazu sagen? ({0}) Die Antwort auf Ihre Frage ist: Ich glaube, dass wir uns die Abwägung zwischen den verschiedenen Produkten und den Besteuerungen, die damit verbunden sind, gut überlegt haben. Deshalb ist das, wie ich finde, ein ausgewogener Vorschlag, der aus gesundheitspolitischen und fiskalischen Erwägungen heraus gemacht worden ist. Ich habe keinen Änderungsbedarf. Das liegt jetzt aber natürlich im Bundestag. Mal gucken, was ihr macht. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Dann kommen wir jetzt zum Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Vizekanzler, als Angehöriger der Fraktion, die das deutsche Klimaschutzgesetz erfunden hat, habe ich eine Frage zum Klimaschutz. Unter deutscher Ratspräsidentschaft ist das Ziel, die Treibhausgasemissionen auf europäischer Ebene bis 2030 gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken, auf 55 Prozent angeschärft worden. Daraus abgeleitet haben wir jetzt in Deutschland das Ziel auf minus 65 Prozent angepasst, was nach dem auch von Ihnen begrüßten Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch notwendig war. Der Gesetzentwurf war jetzt im Bundeskabinett, und das Ganze geht nun in den Deutschen Bundestag. Sie haben im Kabinett daneben auch ein Sofortprogramm auf den Weg gebracht, also Maßnahmen, die jetzt dringend notwendig sind. Da würde ich Sie gerne fragen: Wer hat denn bei diesen Maßnahmen eigentlich den Hut auf? Wie wird das eigentlich koordiniert? Vielleicht können Sie einmal zentrale Punkte dieser Maßnahmen nennen.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für die Fragen. – In der Tat glaube ich, dass das Klimaschutzgesetz eine gute Weiterentwicklung ist, auf die die Fraktion, die das Klimaschutzgesetz erfunden hat – wenn ich das so aufgreifen darf –, stolz sein kann, und zwar deshalb, weil jetzt mit aller Konsequenz gesagt ist, was in den nächsten Jahren zu geschehen hat. Dass es das Klimaschutzgesetz überhaupt gibt, ist eine große Verbesserung, weil es bedeutet, dass wir regelmäßig Rechenschaft über die Weiterentwicklung und die Fortschritte ablegen und daraus Entscheidungen ableiten müssen. Dass die jetzt im weiteren Verlauf präzisiert sind, macht deutlich, was für eine große Aufgabe wir haben. Die kann man gar nicht überschätzen. Wir müssen einen erheblichen Ausbau der Erzeugungskapazitäten für erneuerbare Energien hinbekommen, wir müssen das Stromnetz ertüchtigen, und wir müssen das mit Entscheidungen im Baurecht und auch mit umweltschutzrechtlichen Regelungen so kombinieren, dass wir diesen Ausbau tatsächlich in dem jetzt notwendigen Tempo zustande bekommen. Meine Antwort ist: Das muss man, indem man sich heranmacht und ein bisschen auch durch den Schlamm geht, was notwendig ist, wenn man Leitungen und alles, was damit verbunden ist, bauen will. Man darf sich nicht scheuen, dabei gewissermaßen auch die Ärmel aufzukrempeln. Das Arbeiten ist jetzt eine Sache aller Ministerien, insbesondere derjenigen, die für die Infrastrukturen zuständig sind, und ich wünsche mir natürlich, dass die jetzt kluge Vorschläge haben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Herr Schwabe.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Durch den Schlamm gehen muss auch der Bundeswirtschaftsminister; alle müssen diese Arbeit also leisten. Er hat sich vor ein paar Tagen damit zitieren lassen, dass manches schneller hätte gehen können bzw. müssen. Ein zentraler Punkt bei dem, was wir vor uns haben und was zu tun ist, ist die Einschätzung dessen, welchen Bedarf wir in Zukunft im Bereich der erneuerbaren Energien eigentlich haben werden. Deswegen ist das, was wir glauben, im Jahr 2030 zu brauchen, so entscheidend. Über diese Frage gab es einen Streit oder eine Auseinandersetzung, und Herr Altmaier hat das, was wir 2030 brauchen, immer deutlich geringer eingeschätzt. Ist das richtig? Würden Sie bestätigen können, dass Herr Altmaier mit seiner Annahme dort falschlag? Warum hat er denn mit seiner Annahme falschliegen wollen, und was ist notwendig, um dieses Ziel für das Jahr 2030 so zu gestalten, dass wir Klimaschutz in Deutschland ernsthaft betreiben können?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Scholz, bitte.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für die Frage. – Das ist ja eine Regierungsbefragung, und für die Regierung kann ich da keine komplett einheitliche Antwort geben, außer dass man sich über die Ziele, was bei der CO2-Reduktion erreicht werden soll, nun schon einmal geeinigt hat. Für mich persönlich würde ich sagen, dass es in der Tat notwendig ist, dass wir einen erheblichen Zubau an Erzeugungskapazitäten bekommen. Wir werden bis 2030 vielleicht nicht ganz, aber bis zu 100 Terawattstunden zusätzlich brauchen. Dazu gibt es sehr gute Vorschläge Ihrer Fraktion, die mir bekannt sind, was die Ausbauziele offshore, onshore und Solarenergie betrifft. Ich will ausdrücklich dazusagen, dass das schnell gemacht werden muss – sonst wird das nichts bis 2030; das ist ja eine kurze Zeit – und dass auch gesetzgeberische Veränderungen notwendig sind. Die Vorschläge zur Veränderung des Baurechts, die aus Ihrer Fraktion heraus gemacht worden sind, sind sehr gut. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rückfragende: Dr. Ingrid Nestle.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. – Herr Minister Scholz, mit Ihrem Kollegen, Minister Altmaier, haben wir heute im Ausschuss für Wirtschaft und Energie auch über genau diese Themen gesprochen, und da kam ein Punkt auf, der sehr relevant für Ihr Haus und für die Finanzen der Bundesrepublik ist. Auf die Nachfrage, ob es durch die Verschärfung der Stromsektorziele letztlich eine Neuverhandlung des Kohleausstiegs geben müsse, war die Antwort nämlich ein klares Nein; denn auch so würde der CO2-Preis eine große Rolle spielen, und auch ohne da nachzuverhandeln, würden weitere Kohlekraftwerke früher abschalten. Sie planen Entschädigungen von 4,3 Milliarden Euro für die Braunkohlekonzerne. Ich teile es, dass man mit dem CO2-Preis den Kohleausstieg beschleunigen kann, und da sich das jetzt erfreulicherweise langsam auch in der Regierung herumspricht, frage ich Sie: Finden Sie es wirklich noch gerechtfertigt, eine solche Entschädigungssumme zu zahlen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Scholz.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich bin sehr glücklich darüber, dass die sogenannte Kohlekommission einen weitgreifenden gesellschaftlichen Konsens über den Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland – einschließlich der Tagebaue, die damit verbunden sind – erzielt hat. Das ist mit den Regionen, in denen heute für die Energieversorgung Deutschlands große Arbeit geleistet wird – mit den Tagebauen und auch mit den Verstromungsanlagen, den Kraftwerken –, mühselig errungen und dort akzeptiert worden. Ich finde, wenn man eine solche Verständigung über einen so gigantischen Umbau zum Ausstieg aus der Kohleverstromung hingekriegt hat, dann gehört dazu, dass man sich als jemand, der da etwas erreichen wollte, auch seinerseits an die dort getroffenen Vereinbarungen hält. Das ist aus meiner Sicht genau richtig. Das gilt für das gesamte Paket; das ist ausgewogen. Ich denke insbesondere an die 40 Milliarden Euro, die wir ausgeben, um Strukturentwicklung in den bisherigen Kohleregionen zustande zu bringen. Dort investieren wir also nicht nur in Straßen- und Schienenwege, sondern auch, um neue Möglichkeiten für gute Arbeitsplätze zu schaffen und zu fördern. Das ist, glaube ich, genau der richtige Weg. Die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die Unternehmen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Anspruch darauf, dass wir uns an das Zugesagte halten. ({0})

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Scholz, Ende April hat die Bundesregierung die Teilaussetzung der Insolvenzantragspflicht auslaufen lassen. Seit dem 1. Mai 2021 müssen Unternehmen nun wieder Insolvenz anmelden, wenn sie überschuldet sind, nur weil sie im Moment noch auf die Auszahlung von Coronahilfen warten. Dazu muss man wissen, dass – nach aktuellen Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums – gerade erst etwas mehr als die Hälfte der Überbrückungshilfe III ausgezahlt wurde. Fast die Hälfte wurde also noch nicht ausgezahlt. Dabei ist es so, dass sich bei Nachfragen dazu das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesjustizministerium gegenseitig mangelnde Initiative in diesem Bereich vorwerfen. Meine Frage an Sie für die Bundesregierung: Plant die Bundesregierung, in diesem Bereich noch zu handeln, also wieder zu einer Teilaussetzung zu kommen, oder beabsichtigen Sie, Unternehmen in Insolvenz gehen zu lassen, nur weil sie bisher noch kein Geld bewilligt bekommen haben und noch auf die Auszahlung von Coronahilfen warten?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Scholz.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre Frage. – Zunächst einmal: Ich glaube, dass es wichtig war, dass wir ganz unabhängig von der konkreten und allgemeinen aktuellen Situation in letzter Zeit eine ganze Reihe von Verbesserungen des Insolvenzrechts zustande bekommen haben. Da hat die Coronakrise sogar als Beschleuniger gewirkt, weil diese Verbesserungen nicht nur in der Krise jetzt, sondern generell auch für die Restrukturierung von Unternehmen und die Möglichkeit, einen Neustart zu wagen, zur Verfügung stehen. Das ist alles viel einfacher geworden; das ist aus meiner Sicht auch ganz, ganz wichtig. Im Übrigen ist es so, dass wir Insolvenzantragspflichten mit mehreren Maßnahmen ausgesetzt haben. Das ist stufenweise zurückgegangen, und die letzte Maßnahme bezog sich ausschließlich auf den Fall, dass jemand, der noch Hilfen zu bekommen hat, die aber noch nicht bei ihm eingegangen sind, nicht in die Situation geraten würde, einen Insolvenzantrag stellen zu müssen. Wenn die Hilfen sicher zugesagt sind, kann man sie auch bei den eigenen Entscheidungen und der Bilanzierung berücksichtigen. Es geht also wahrscheinlich ohnehin um eine überschaubare Menge von Fällen; das jedenfalls darf man hoffen. Es hat darüber eine Diskussion gegeben. Sie wissen, dass dort Vorschläge gemacht worden sind, auch zum Beispiel vom Justizministerium und auch hier im Deutschen Bundestag. Am Ende hat die Beratung auch hier in diesem Hause keine Gesetzgebungsinitiative für eine Verlängerung zustande gebracht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Meister, Rückfrage?

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verstehe ich das jetzt richtig so, dass die Bundesregierung nicht mehr plant, von sich aus in diesem Bereich initiativ zu werden? Wir sprechen, wie Sie jetzt auch noch einmal richtig referiert haben, wirklich nur über einen sehr begrenzten Bereich, nämlich die Teilaussetzung für diejenigen, die überschuldet sind, weil sie eben noch keine Bewilligung haben und das deswegen auch nicht bilanzieren können; das wäre sozusagen eine Luftbuchung. Die Bundesregierung plant hier also nichts? Wenn dem so ist, würde ich das von Ihnen jetzt gern noch einmal ausdrücklich hören. Wie passt es zusammen, dass beispielsweise der Branchenverband DEHOGA Anfang Mai in einer Blitzumfrage festgestellt hat, dass 80 Prozent der Unternehmen in dem Bereich noch auf Auszahlung oder auf Bewilligung in Teilen warten? Fast jedes 20. Unternehmen befürchtet dort, durch die Wiedereinführung der vollständigen Insolvenzanzeigepflicht jetzt im Mai Insolvenz anzeigen zu müssen. Was erzählen Sie diesen Unternehmen, da Sie sich doch im letzten Jahr gemeinsam mit Herrn Altmaier hingestellt und gesagt haben, kein Unternehmen solle in der Coronakrise unverschuldet Insolvenz anmelden müssen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Scholz.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Noch einmal: Ich finde es völlig richtig, dass wir mittlerweile 100 Milliarden Euro Wirtschaftshilfen bewilligt haben, und es fließt ja jede Woche, jeden Tag, jeden Monat mehr Geld an die Unternehmen. Ganz viele haben mir auch gesagt, dass es ihnen wirklich geholfen hat, weil es doch nicht nur in der Summe, sondern ganz konkret und immer individuell oft sehr erhebliche Beträge sind, die dazu beitragen, Unternehmen zu stabilisieren. Darum werden wir das auch fortsetzen. Ansonsten hat auch jeder die Meinungsbildung in der Regierungskoalition, in der Bundesregierung in den Medien verfolgen können, quasi als Liveberichterstattung. Schön, dass Sie darauf mit Ihrer Frage noch einmal hinweisen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt muss ich ganz viele Kollegen und Kolleginnen enttäuschen. Wir sind nämlich jetzt am Ende der Fragestunde angekommen. Herr Kraft, Sie haben noch eine halbe Minute.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Eine kurze Vorbemerkung: Ich würde mich nicht auf den Kollegen Meiser beziehen, sondern auf die Kollegin Nestle, wenn es zulässig wäre.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay. – Die Frage ist: Sie haben richtigerweise gesagt, dass Sie die Entschädigungen für die Braunkohle rechtsstaatlich hinnehmen und das tun, was nach Recht und Gesetz zulässig ist. Warum hat es bei der Entschädigung der Kernkraftwerksbetreiber dann zwei Urteile vom Bundesverfassungsgericht gebraucht, nämlich die 16. und die nun anstehende 18. Änderung des Atomgesetzes, damit man bei der Regierung zu der Einsicht kommt, dass Enteignungen entschädigt werden?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ich kann über die Meinungen der damals Verantwortlichen in der Regierung jetzt nur spekulieren. Um es ganz konkret zu sagen: Ich glaube, dass hier immer alle mit gutem rechtlichem Rat und Gewissen gehandelt haben, um gleichzeitig das Geld der Steuerzahler zu schonen und das Richtige zu tun.

Not found (Unbekannt)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Seit über einer Woche werden vom Gazastreifen aus Raketen auf israelische Wohngebiete gefeuert, viele Tausend an der Zahl. Israelinnen und Israelis flüchten in Luftschutzräume, um zu überleben, und auch die palästinensische Zivilbevölkerung zahlt einen hohen Preis für den Terror der Hamas. Die 90-jährige Ruth Feredi konnte mit ihrer Familie 1939 aus Deutschland vor der Vernichtung fliehen. Sie kam nach dem Zweiten Weltkrieg mit nur einem Koffer nach Israel. Jetzt wird sie vom Terror der Hamas bedroht. „Hier war der einzige geschützte Ort für uns“, sagt sie. Ihr Satz ist wie ein Stich – und er sticht auch in unser Herz. Angesichts der Shoah ist es ein Skandal, dass Jüdinnen und Juden sich auch heute noch nicht wieder sicher fühlen können, weder in Israel noch zunehmend hier in Deutschland. ({0}) Die Frau Bundeskanzlerin hat es in aller Deutlichkeit betont: Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes, ebenso wie die Sicherheit unserer jüdischen Bevölkerung. Doch was heute in Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten hierzulande vor sich geht, das wird dieser Staatsräson nicht gerecht! ({1}) Da gibt es etwa Diskussionen darüber, ob das Hissen einer israelischen Fahne vor einem deutschen Rathaus zur Eskalation der Situation beiträgt. Meine Damen und Herren, wir hier in Deutschland haben heute das große Glück, vor die Tür gehen zu können, ohne überlegen zu müssen, wo der nächste Luftschutzraum ist. Wir müssen uns keine Gedanken darüber machen, wann die Sirenen wohl das nächste Mal heulen. Kurz: Wir müssen im Land der Täter heute nicht um unser Überleben fürchten. Dennoch ist Solidarität mit Israel – und mit Jüdinnen und Juden in Deutschland – alles andere als selbstverständlich. Israel ist ein starker Rechtsstaat, eine liberale Demokratie, in der etwa Homosexuelle, Andersgläubige und politisch Andersdenkende gleichberechtigt und in innerer Sicherheit leben können – anders als in allen anderen Ländern der Region. ({2}) Auf der anderen Seite steht eine Terrororganisation, die ihre eigene Zivilgesellschaft brutal unterdrückt und Israel von der Landkarte tilgen möchte. Wo sind jetzt die Stimmen, die Weltoffenheit und freie Diskurse fordern? ({3}) Dieses kleine Land, 4 000 Kilometer entfernt, ist dort die einzige echte Demokratie weit und breit. Und schon allein deshalb hat es unsere Solidarität verdient. ({4}) Das gilt erst recht angesichts der Shoah und der historischen Verantwortung, die alle heute in Deutschland Lebenden dafür tragen, dass sich Ähnliches nicht wiederhole! Die Dämonisierung Israels, seine Beurteilung mit doppelten Standards und die Delegitimierung des jüdischen Staates sind antisemitisch. ({5}) Auch die Haftbarmachung in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden für Israels Politik ist nichts anderes als Antisemitismus! ({6}) Ihn gilt es zu bekämpfen, in all seinen Formen. Ja, ein wüster Judenhass hat sich in den letzten Tagen unverblümt auf deutschen Straßen gezeigt, auch von vielen, deren eigene familiäre Wurzeln im Nahen und Mittleren Osten liegen. ({7}) Aber wer jetzt einzig und allein auf Einwanderer zeigt und sagt, Antisemitismus sei immer das Problem „der anderen“, der macht es sich zu einfach. ({8}) Die böse Fratze des Antisemitismus zeigt sich überall in dieser Gesellschaft: auf Schulhöfen, im Internet, auf sogenannten Querdenkerdemos und in manchen universitären Seminaren. Antisemitismus steckt in Vorurteilen und Stereotypen, in tumben Parolen genauso wie in scheinbar intellektuellen, bösartigen Nebenbemerkungen über Israel. Meine Damen und Herren, Antisemitismus ist nicht das Problem „der anderen“ – Antisemitismus ist unser Problem! ({9}) Und deshalb: Wenn wir in diesem Hohen Hause von Staatsräson sprechen, dann muss dieser Staat auch entschieden handeln. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus hat 2017 umfangreiche Empfehlungen zur Antisemitismusbekämpfung gemacht. Im letzten Jahr hat die Bundesregierung einen Bericht zum Umsetzungsstand vorgelegt. In meiner bisherigen Amtszeit haben wir vier der fünf zentralen Forderungen umgesetzt und zahlreiche weitere auf den Weg gebracht, etwa die Strafbarkeit des Verbrennens von Flaggen, die Erweiterung der Strafzumessungsvorschrift um antisemitische Tatmotive sowie die „verhetzende Beleidigung“, die letzte Woche vom Kabinett beschlossen wurde. Zudem bin ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern in der Bund-Länder-Kommission im regelmäßigen Austausch über Präventions- und Bildungsmaßnahmen. Antisemitismusbekämpfung ist gleichbedeutend mit der Stabilisierung unserer Demokratie. Deshalb arbeiten wir seit einigen Monaten schon ressortübergreifend an der Entwicklung einer nationalen Strategie gegen Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens. Wir brauchen starke Allianzen gegen Hass und Gewalt, und zwar gemeinsam mit Menschen aller Herkunft in unserem Land. Um Jüdinnen und Juden zu schützen, müssen die demokratischen Kräfte aller Gruppen laut und sichtbar gegen Judenhass und Ausgrenzung jeder Art zusammenstehen. Dass in diesem Land ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende der Shoah wieder jüdisches Leben aufblüht, dass wir gemeinsam 1 700 Jahre jüdisches Leben feiern können in diesem Jahr, das ist ein Glück, das ist ein Geschenk für dieses Land – und diesem Geschenk, dieser Gnade müssen wir gerecht werden! ({10}) Unser Bundespräsident hat gesagt: Dieses Land ist nur dann vollkommen bei sich, wenn Juden hier vollkommen sicher sind. – Das muss unser Anspruch sein, und deshalb ist der Kampf gegen den Antisemitismus auch ein Kampf um unsere Republik, um unsere Demokratie! Ich bitte Sie alle – parteiübergreifend –, zusammenzustehen und zusammenzuarbeiten, damit wir in diesem Kampf gemeinsam erfolgreich sind. Ich danke Ihnen. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Felix Klein. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Beatrix von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle haben die Bilder aus Gelsenkirchen gesehen: Ein muslimischer Mob hinter den Fahnen des islamischen Halbmondes lässt seinem Judenhass freien Lauf. Die Polizei tut nichts. – Zeitgleich legen Sie jetzt einen 40-Seiten-Bericht über Antisemitismus vor, in dem Sie Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit gleichsetzen. Sie stellen die Juden auf dieselbe Stufe mit den muslimischen Judenhassern, die Opfer mit den Tätern. Das ist kein Kampf gegen Antisemitismus. Das ist Antisemitismus! Ihre Islamkonferenz ist in Wahrheit eine Islamistenkonferenz. Sie sind deren Handlanger und nützliche Idioten – Entschuldigung. Sogar Regierungssprecher Seibert kam angesichts des entfesselten muslimischen Judenhasses jetzt eine Erkenntnis – ich darf zitieren –: In diesen Tagen wird uns klar: Es gibt auch muslimischen Antisemitismus. – Herzlichen Glückwunsch. Willkommen zurück in der Realität! ({0}) Die Umfragen unter Juden zeigen: Die tätlichen Angriffe gegen Juden gehen an allererster Stelle weit überwiegend von Muslimen aus. ({1}) Juden können sich in Deutschland nicht mehr frei bewegen, sagt Regierungssprecher Seibert jetzt nach Gelsenkirchen. Und was funkt CSU-Mann Weber aus seinem Raumschiff in Brüssel? Er sieht die tobenden muslimischen Horden und sagt: Die AfD ist schuld. – Na klar. Das ist Kampf gegen rechts, der zur Wahnvorstellung geworden ist. Sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass jetzt die Lunte hochgeht, die Sie gelegt haben. Mit Ihrer Einwanderungspolitik haben Sie Judenhass aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert. ({2}) In der UN steht die Bundesregierung zuverlässig als treuer Partner immerzu an der Seite der islamischen Regime und stimmt gegen Israel. Die Bundesregierung ist einer der Hauptgeldgeber für das palästinensische Flüchtlingshilfswerk UNRWA: allein 2017 80 Millionen Euro für die Hamas-Infrastruktur ({3}) und islamistische Propaganda. Und Sie dulden die Muslimbrüder, Graue Wölfe, BDS-Bewegung. ({4}) Und erst heute kommt die Meldung, dass drei Hisbollah-Vereine verboten worden sind. ({5}) AfD wirkt. ({6}) Die BDS-Bewegung ist die Klammer zwischen linkem und muslimischem Antisemitismus. Diese gemeinsame Front richtet sich gegen Israel, Deutschland und den Westen. Sie reicht vom Iran bis zu den Grünen, von der Hisbollah bis zu Black Lives Matter und von der Hamas bis zu Fridays for Future. ({7}) Es waren neben denen der PFLP hauptsächlich Vertreter der BDS, die die gewalttätigen Judenhasser-Demos vom Wochenende deutschlandweit angemeldet haben. Das haben wir heute Morgen im Innenausschuss vom Innenministerium gehört. ({8}) Während die Hamas Israel mit Tausenden Raketen beschießt, ruft Fridays for Future ganz offen zum Boykott israelischer Produkte auf. An der Spitze der Israel-Boykott-Bewegung Ihrer aller Klimaikone Greta Thunberg! Gut, dass die Maske jetzt fällt. ({9}) Mit Ihren politisch korrekten Workshops und verlogenen Dialogveranstaltungen werden Sie die Welle des muslimischen Judenhasses nicht stoppen. Dabei ist klar, was jetzt geschehen muss: Verbot von BDS, Muslimbrüdern und Grauen Wölfen, Stopp der Auslandsfinanzierung von Moscheen, die Islamkonferenz auflösen, und die Zahlung an die UNRWA muss eingestellt werden. ({10}) Merkel sagt dazu, sie will die Angriffe „nicht dulden“. Seibert will sie „nicht akzeptieren“. Schäuble findet es „unerträglich“. Machen Sie bitte endlich das deutsche Phrasenlexikon zu, und tun Sie etwas! Wenn Sie wollten, könnten Sie. Das Problem ist, dass Sie nicht wollen. ({11}) Vielen Dank ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Roth. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will ganz offen sein: Als ich gestern von meiner Fraktion gebeten wurde, in der heutigen Debatte zu unserem Einsatz gegen den Antisemitismus zu reden, habe ich für einen kurzen Moment gezögert. Nicht etwa, weil mir das Thema nicht am Herzen liegen würde – ganz im Gegenteil! Nein, weil bei einem Thema wie diesem immer auch die Gefahr besteht, dass das Gesagte, so wichtig und richtig es auch im Einzelfall sein mag, allzu floskelhaft daherkommt. Dennoch stehe ich heute hier am Redepult. Denn jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um zu schweigen. ({0}) Wir dürfen nicht schweigen. Gerade nach den Ereignissen der vergangenen Tage sind klare Worte und entschlossenes Handeln notwendiger denn je. Was sich auf Straßen und Plätzen in Deutschland und im Netz an Hass und Hetze über Jüdinnen und Juden ergießt, ist eine Schande. ({1}) Gestern Abend sagte mir meine Freundin Avitall aus Berlin: Schrecklich, entsetzlich! Ich könnte weglaufen. – Ein junger Deutscher jüdischen Glaubens schrieb mir kürzlich: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Angst auf der Straße! Ich drehe mich immer wieder um … weil ich Angst habe, dass mir jemand folgt – zum Beispiel auf dem Weg in die Synagoge! Können wir uns überhaupt vorstellen, welche Spuren diese Hetze bei jungen Menschen hinterlässt? Bei Älteren, die das unvorstellbare Morden, den Holocaust selbst erlebt haben? Bei Kindern, Enkelinnen und Enkeln von Überlebenden, die mit den Geschichten von Verfolgung und Tod aufgewachsen sind? Was ich in den vergangenen Tagen in den sozialen Medien lesen musste – und ich habe schon viel gelesen –, schockiert mich zutiefst. Nachdem ich mich klar und unmissverständlich für das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels ausgesprochen habe, brach neben viel Sympathie ein Sturm der Entrüstung aus. Was für die große Mehrheit von uns ganz selbstverständlich klingt, ist für andere in unserem eigenen Land leider immer noch keine Selbstverständlichkeit. Die Vorbehalte, ja, die abgrundtiefe Verachtung, die Israel, die Menschen jüdischen Glaubens immer noch entgegenschlägt, ist einfach nur widerlich. ({2}) Offenkundig war mein Blick auf mein eigenes Land, mein Blick auf mein Europa zu optimistisch. Ich könnte es auch anders sagen: Ich war offenkundig zu naiv. Wir erleben diesen Hass ausgerechnet in Deutschland, dem Land, das in der dunkelsten Stunde seiner Geschichte gezeigt hat, in welche Abgründe der Hass auf Jüdinnen und Juden in seiner schrecklichsten Ausprägung führen kann, ausgerechnet in dem Land, in dem die Ermordung der europäischen Juden ideologisch vorgedacht, propagandistisch verbreitet, geplant und ausgeführt wurde. 6 Millionen ermordete jüdische Frauen, Kinder und Männer mahnen uns – gestern, heute und morgen. ({3}) Der Antisemitismus, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag jahrhundertealt sein, aber er ist ungemein wandlungsfähig. Die Polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet zwischen rechtem, linkem und muslimischem Antisemitismus. Alle müssen entschlossen bekämpft werden. ({4}) Jetzt zu Ihnen, Frau Abgeordnete: Die Nationalisten und Populisten in der AfD empören sich lautstark über den sogenannten importierten Antisemitismus, so, als ob wir keinen bis weit in die gesellschaftliche Mitte verankerten Antisemitismus in Deutschland hätten. ({5}) Sie von der AfD düngen den Boden, auf dem genau dieser Antisemitismus wachsen und reifen kann. Sie reden mit Blick auf den Nationalsozialismus vom „Vogelschiss der Geschichte“. Sie fordern eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Sie versagen kläglichst im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus und Judenhass. ({6}) Aber eines ist eben auch klar: Wir sind heute in Deutschland glücklicherweise eine bunte, vielfältige Gesellschaft. Wir leben in einem Land, in dem es keine Rolle spielen darf, woher man kommt, woran man glaubt und wen man liebt, in einem Land, in dem wir alle ohne Angst verschieden sein können. Bei aller Buntheit, bei aller Vielfalt darf es aber in einem Punkt niemals Kompromisse geben: Deutschland steht fest an der Seite Israels. Das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels ist für uns unverhandelbar. Denn aus unserer Geschichte und dem Holocaust folgt eine ganz besondere, einzigartige Verpflichtung für Deutschland. Und das muss wirklich für alle hier lebenden Menschen gelten: ({7}) für diejenigen, die hier geboren wurden, ebenso wie für die, die in Deutschland eine neue Heimat suchen oder längst gefunden haben. Hier darf es keine Kompromisse geben und auch keine Toleranz. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das klare Bekenntnis zu Israel seit Jahrzehnten zur deutschen Staatsräson zählt, so wie es Herr Klein eben gesagt hat, so höre ich doch auch immer wieder Kritik. Warum folgen diesen klaren Worten keine ebenso klaren Taten? ({9}) Dem will ich ausdrücklich widersprechen. Antisemitische Attacken müssen hart bestraft werden, und wir haben dafür auch die Handhabe. Deshalb war es richtig, dass die Koalition auf Initiative meiner Fraktion das Verbrennen von Flaggen unter Strafe gestellt hat. ({10}) Dieser Straftatbestand muss konsequent angewendet werden. Wer israelische Flaggen verbrennt, muss hart bestraft werden. ({11}) Im Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität werden antisemitische Tatmotive nun ausdrücklich als strafschärfende Beweggründe genannt. Denn wir wissen, dass insbesondere Menschen jüdischen Glaubens immer wieder unmittelbar von diesem Hass betroffen sind. Ich möchte an dieser Stelle an alle appellieren, insbesondere auch an unseren geschätzten Koalitionspartner, endlich einen Durchbruch zu wagen bei der Unterstützung von Demokratie- und Teilhabeprojekten. ({12}) Es muss selbstverständlicher Teil der Demokratiebildung und ‑erziehung sein, dass wir über Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit sprechen. Und ich kann nicht verstehen, dass wir da noch nicht vorangekommen sind. ({13}) Um es ganz klar zu sagen: Die massiven Konflikte im Nahen Osten lassen niemanden von uns kalt, sind aber keine Rechtfertigung für Antisemitismus. Allzu oft wird heute Antisemitismus hinter vermeintlich legitimer Kritik an der israelischen Regierung versteckt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für wie anmaßend halten wir uns eigentlich? Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten mit einer lebendigen, vielfältigen, kritischen Zivilgesellschaft. ({0}) Die brauchen unsere Belehrungen nicht. ({1}) Das Zündeln fängt an, wo antisemitische Stereotype bedient werden, um die Stimmung anzuheizen, und setzt sich fort, wenn der Holocaust verharmlost und verfälscht wird. Dass jüdisches Leben in Deutschland weiter blühen und gedeihen kann, schulden wir nicht nur den 6 Millionen ermordeten Juden und ihren Nachkommen, wir schulden es vor allem und zuerst unserer eigenen Selbstachtung – unserer Selbstachtung als freies, demokratisches Deutschland inmitten des vereinten Europas. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Roth. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Benjamin Strasser. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angst – das ist ein Gefühl, das Jüdinnen und Juden in Deutschland seit vielen Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, zu einem Alltagsbegleiter geworden ist. Nicht nur, aber besonders in Zeiten, in denen der Nahostkonflikt eskaliert, wie 2014 mit dem Gazakrieg oder heute, bricht sich antisemitischer Hass in einem Ausmaß eine Bahn, die wohl kaum einer hier in diesem Raum wirklich nachspüren und nachvollziehen kann. Fotos auf Facebook, auf Instagram, die mit harmlosen hebräischen Grußformeln wie „Shabbat Shalom!“ oder „Shavua Tov!“ beschrieben sind, werden zum Ziel von antisemitischen Hasstiraden. In Gelsenkirchen haben wir erlebt, dass vor Synagogen nicht nur „Scheiß Juden!“ geschrien wird, es fliegen Steine und teilweise auch Molotowcocktails. Während in manchen deutschen Feuilletons noch diskutiert wird, ob es so was wie israelbezogenen Antisemitismus überhaupt gibt, findet er auf deutschen Straßen und im Netz in aggressivster Form statt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist mir wichtig: Das, was in Deutschland passiert, das ist kein Angriff gegen uns alle, das ist ein Angriff gegen jüdische Menschen in Deutschland einzig und allein, weil sie jüdisch sind. Das müssen wir auch so sagen. ({1}) Spätestens seit dem Terroranschlag in Halle ist es eigentlich fast allen Fraktionen hier in diesem Hause bewusst, welche immense Gefahr Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus für jüdisches Leben in Deutschland bedeuten. Aber zu einer ehrlichen Debatte gehört auch, zu analysieren, dass wir bei der Benennung von Antisemitismus in Deutschland blinde Flecken haben. Zu oft war in der Vergangenheit die Debatte über den Antisemitismusvorwurf größer als über den Antisemitismus selbst. Lassen Sie mich deswegen von dieser Stelle aus ganz klar sagen: Wer systematisch das Existenzrecht Israels leugnet und bekämpft, der übt keine legitime Kritik an der israelischen Regierung, sondern der ist ein Antisemit. ({2}) Genauso wenig sind diejenigen, die aus ehrlichen Motiven ohne rassistische Konnotation anmahnen, dass es in muslimischen Communitys verfestigten Antisemitismus gibt, dass es radikale Moscheen gibt, islamophob, sondern sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Debatte. Wir brauchen einen 360-Grad-Blick bei der Benennung von Antisemitismus. ({3}) Lieber Herr Kollege Klein, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie diese Woche einen neuen Anlauf zu einer nationalen Strategie genommen haben; denn die Jüdinnen und Juden in diesem Land dürfen sich nicht nur unserer Solidarität versichert sein, sondern sie können und sollten sich darauf verlassen können, dass den Worten dieser Wochen auch Taten folgen werden. Wir als FDP-Fraktion haben uns erlaubt, einige Vorschläge zu machen. Wir glauben, die IHRA-Arbeitsdefinition muss konsequent Grundlage staatlichen Handelns werden, um Antisemitismus besser zu erkennen. ({4}) Wir brauchen eine Finanzierung der Meldestellen für antisemitische Vorfälle. Wir müssen muslimische Communitys mit in die Pflicht nehmen beim Kampf gegen Antisemitismus. Es darf nie wieder vorkommen, dass wir eine so lange Hängepartie bei Vereinsverboten haben wie bei der Hisbollah. Wir müssen die Themen Graue Wölfe, PFLP und andere Organisationen angehen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich wollten wir in diesem Jahr 1 700 Jahre dokumentiertes jüdisches Leben in Deutschland feiern. Umso beschämender ist es, dass diejenigen, die wir feiern wollten und mit denen wir feiern wollten, mehr denn je Angst haben, offen ihre jüdische Identität zu zeigen. Dieser Umstand sollte für uns ein Auftrag sein, den Worten weitere konkrete Taten folgen zu lassen. Am Israel Chai! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Antisemitismus, also Hass auf Jüdinnen und Juden, eben weil sie Jüdinnen und Juden sind, ist menschenverachtend und hierzulande obendrein verfassungsfeindlich. Die Linke lehnt Antisemitismus ab, egal in welchem Gewand und aus welcher Richtung er daherkommt. ({0}) Antisemitismus ist Tausende Jahre alt und scheint unausrottbar. Das ist kein Grund zur Resignation, sondern im Gegenteil ein Gebot, alle Kräfte und alle Mittel dagegen zu bündeln. Mit diesem Anspruch sage ich auch: Der Kampf gegen Antisemitismus taugt nicht zu parteipolitischen Profilierungen. Er ist eine gemeinsame Herausforderung aller demokratischen Parteien und Initiativen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zahl antisemitischer Straf- und Gewalttaten nimmt seit Jahren zu. Allein im ersten Quartal 2021 wurden im Schnitt fünf solcher Straftaten pro Tag erfasst. Wir wissen zudem: Die offiziellen Zahlen stapeln tief. – Das lässt erahnen, wie sich das bei Jüdinnen und Juden anfühlt. Ihre Würde und oft auch ihr Leben werden bedroht. Und das ist nicht hinnehmbar. ({1}) Das Gros der antisemitischen Straftaten ist rechtsextrem motiviert. Aber: 20 bis 25 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger hegen antisemitische Einstellungen. Antisemitismus ist also ein gesellschaftliches Problem. Es muss daher auch als solches begriffen werden und darf nicht allein den Sicherheitsbehörden überlassen werden. Das unterstrichen auch die Erzieherinnen und Erzieher und Eltern der Berliner Masorti-Kita, welche ich heute früh vor Sitzungsbeginn besucht habe. Sie wünschen sich Schutz – verlässlichen Schutz – und Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dazu gehört auch, jüdisches Leben und jüdische Kultur zu fördern – nicht als etwas Exotisches, sondern als Teil von unser aller Leben. Noch viel zu viele Schülerinnen und Schüler werden erstmals mit dem Thema „Jüdinnen und Juden“ konfrontiert, wenn vom Holocaust die Rede ist. Damit geraten Jüdinnen und Juden in eine Sonderrolle, obwohl sie seit Jahrhunderten und weiterhin Teil unserer Kultur sind; über 1 700 Jahre wurde eben schon geredet. So profan kann übrigens Ausgrenzung beginnen, und das darf nicht sein. Der aktuelle Antisemitismusbericht der Bundesregierung weist auf ein weiteres Manko hin: Viele antisemitische Ausfälle werden nicht als solche erkannt – nicht bei der Polizei oder der Justiz, häufig auch nicht durch Lehrerinnen und Lehrer –, oder aber sie werden ignoriert. Beides muss behoben werden. Seit 2018 ist Felix Klein Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und für den Kampf gegen Antisemitismus. Die Linke hatte damals dafür plädiert, ihn als Beauftragten des Bundestages zu berufen. Gleichwohl – das will ich hier heute auch sagen –: Felix Klein leistet eine wichtige Arbeit ({2}) und hat dabei inzwischen Partner in allen Bundesländern. Ihnen allen ist zu danken – ebenso RIAS, dem Verband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, im Bund und in Ländern. Auch ihre Arbeit ist unverzichtbar. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ändert allerdings nichts daran, dass nach wie vor viele gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und für Bürgerrechte und Demokratie nicht hinreichend und dauerhaft unterstützt werden. Auch das muss sich ändern. ({3})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Felix Klein! Unsere ganze Solidarität gilt unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die in den letzten Tagen miterleben mussten, wie im Internet, auf öffentlichen Plätzen und vor Synagogen schlimmste antisemitische Hasstiraden verbreitet und skandiert wurden. Und um es in aller Klarheit zu sagen: Dass in dem Land, das die Shoah als Menschheitsverbrechen und beispiellosen Zivilisationsbruch zu verantworten hat, Jüdinnen und Juden im Jahr 2021 Angst um sich, ihre Familien und Gotteshäuser haben müssen, ist schrecklich, beschämend und absolut inakzeptabel, meine Damen und Herren. ({0}) Der Antisemitismus war in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer da, bei praktisch allen Terrortaten in Deutschland: vom Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 über den Oktoberfestanschlag 1980 bis zu den Terrortaten der RAF. Die Mordserie des NSU, der Anschlag vom Breitscheidplatz, die Terrortaten von Halle, München, Hanau und auch der Mord an Walter Lübcke: Immer, immer spielte ein ausgeprägter Antisemitismus, ein Hass auf Jüdinnen und Juden eine entscheidende Rolle. Deswegen ist die Bekämpfung des Antisemitismus Kernaufgabe einer Politik, die Sicherheit gewährleistet und Terror bekämpft, meine Damen und Herren. ({1}) Vor diesem Hintergrund sind die neuen und alten judenfeindlichen Narrative, die heute in Gestalt von Verschwörungsideologien daherkommen, so rasend gefährlich. Daher brauchen wir eine Fortbildungsoffensive für alle Behörden der Sicherheit und Justiz, wie das auch heute Morgen in unserer Fraktionssitzung der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, gefordert hat. Denn viel zu oft wird der Antisemitismus heute subtil durch Chiffren verbreitet, vielfach nicht erkannt und deswegen auch nicht konsequent verfolgt und bestraft. Das muss sich endlich ändern, meine Damen und Herren! ({2}) 2018 haben wir hier gemeinsam einen guten, interfraktionellen Antrag zur Bekämpfung des Antisemitismus beschlossen. Leider wurden bis heute nicht alle Maßnahmen umgesetzt. Es bedarf weiterhin des konsequenten Schutzes aller Synagogen und jüdischen Einrichtungen, einer besseren und differenzierten Erfassung antisemitischer Straftaten in den Kriminalitätsstatistiken und Antisemitismusbeauftragter in allen Bundesländern. ({3}) Wir brauchen eine nachhaltige Förderung von Demokratiebildung! Und dass es bis heute kein Demokratiefördergesetz gibt, meine Damen und Herren, ist ein massives Versagen dieser Großen Koalition. ({4}) Ich sage es in aller Klarheit: Es gibt relevanten Antisemitismus, auch bei Zugezogenen in unserem Land. Den muss man klipp und klar benennen; das tun wir. Wir sagen in aller Deutlichkeit: Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit hört da auf, wo Antisemitismus anfängt. ({5}) Ich erwarte von allen, die in diesem Land leben, auch von denen, die keine familiären Bezüge in die Zeit der Nazidiktatur haben, diese Staatsräson, das Existenzrecht Israels und das „Nie wieder!“ in Bezug auf Antisemitismus und Judenhass in Deutschland nicht nur anzuerkennen, sondern zu verteidigen und aktiv zu leben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Antisemitische Stereotype reichen bis tief in die Mitte unserer Gesellschaft. Wir können doch nicht ernsthaft so tun, als hätten wir in Deutschland ausschließlich ein Problem mit Antisemitismus von Zugewanderten. ({7}) Wer das tut, Frau von Storch, der kennt Martin Luthers Texte nicht, relativiert unsere eigene, aus der Shoah erwachsene Verantwortung, und er verkennt die heutige Dimension des Antisemitismus, meine Damen und Herren. ({8}) Wir brauchen zwischen den demokratischen Parteien völlige Klarheit in diesen Fragen: Wer antisemitische Stereotype verwendet und von Globalisten faselt, der stellt sich ins Abseits. ({9}) Und wenn man das nicht klar problematisiert und sanktioniert, sondern es öffentlich kleinredet, dann ist das ein massives Problem. ({10}) Wer wie die AfD seit Monaten auf Querdenkerdemos solidarisch mitmarschiert, ohne die ekelhaften, relativierenden Verwendungen von Judensternen und abstrusesten Anne-Frank-Vergleiche zu problematisieren, wer die Shoah mit dem Fliegenschiss-Vergleich relativiert, Herr Gauland, wer wie Höcke vom „Mahnmal der Schande“ spricht, wer die Völkischen mit ihrer Rassenideologie in den eigenen Reihen hat, der hat sich von Anfang an in dieser Debatte disqualifiziert, meine Damen und Herren. ({11}) Wer so agiert wie Sie von der AfD, der ist selbst eine relevante Gefahr für jüdisches Leben in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Dieser Gefahr müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, uns gemeinsam stellen. Wir können das nicht delegieren, outsourcen, wir alle sind gemeinsam für das jüdische Leben in unserem Land verantwortlich. Es ist ein immanenter Teil von uns. Die hier trotz der Shoah lebenden Jüdinnen und Juden sind ein großes Glück – Felix Klein hat es gesagt –, und diesem Glück und dieser Verantwortung müssen wir gemeinsam endlich gerecht werden. Ganz herzlichen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege von Notz hat dankenswerterweise unseren gemeinsamen Antrag von 2018 hier im Plenum erwähnt. Er hat auch erwähnt, dass einige Punkte aus diesem Antrag noch nicht umgesetzt seien; aber sehr viele und auch gewichtige Punkte sind bereits umgesetzt. ({0}) Einer der Punkte – das sage ich in Anführungszeichen – ist Felix Klein. Wir freuen uns, dass es jetzt einen Antisemitismusbeauftragten gibt, und ich sage an dieser Stelle: Ich finde, er macht seine Arbeit ausgezeichnet. Dazu gratuliere ich ihm vom Herzen. ({1}) Wir haben auch eine Menge anderer Dinge umgesetzt; jetzt alles aufzuzählen, würde meine Redezeit sprengen: das Gesetz gegen Hasskriminalität, Verschärfungen etwa beim Waffenrecht, die Verschärfung des § 104 Strafgesetzbuch – darunter fällt auch das Verbrennen der israelischen Fahne, das Sie, Herr Roth, eben erwähnt haben –, dazu gehören auch die Vereinsverbote, die schon angesprochen worden sind. Gerade heute sind wir hier tätig geworden, indem wir Organisationen verbieten, die die Hisbollah fördern. Wir arbeiten an diesem Thema an ganz vielen Stellen. Richtig ist auch – ich glaube, Frau Pau hat darauf hingewiesen –, dass die Kriminalstatistik sehr deutlich sagt, dass der Großteil der antisemitischen Straftaten in diesem Land von rechts ausgeübt wird – das stelle ich hier ausdrücklich fest –, sie werden dem rechten Bereich zugeordnet; das sind weit über 90 Prozent. Gleichwohl stellen wir fest: RIAS, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Berlin, zeigt – das wurde erwähnt –, dass viele Betroffene auch anderes berichten und Eindrücke schildern, dass antisemitische Straftaten eben auch aus anderen Milieus zu verzeichnen sind. Das haben wir leider auch in der vergangenen Woche und am Wochenende beobachten können. Ich muss ganz ehrlich sagen – ich finde, da muss man auch einen Moment innehalten –: Straftaten dieser Qualität, aus diesem Milieu, mit diesem Hintergrund, solche Demonstrationen, solche Ausfälle und auch wirklich volksverhetzenden Straftaten, die damit in Verbindung stehen, hatten wir bisher in dieser Größenordnung noch nicht. Daran – das sage ich ganz offen –, dass Antisemitismus in Deutschland in diesem Ausmaß, in dieser Form, so offenkundig und wirklich unverfroren geäußert wurde, kann ich mich nicht erinnern. Ich finde, das muss man so klar benennen, und das muss einen auch zum Nachdenken bringen. Wenn davon gesprochen wird, das sei zugewanderter Antisemitismus, dann sage ich ganz ehrlich: Die Aussage halte ich für richtig. Das schmälert überhaupt nicht die Betrachtung des Antisemitismus aus anderen Quellen und aus anderen Richtungen. Ganz im Gegenteil: Dieser Antisemitismus, der hier immer schon verankert war, der teilweise aus der Mitte der Gesellschaft kommt, ist schärfstens zu verurteilen. Aber wir haben jetzt eben auch neue Erscheinungsformen, wir haben neue Äußerungsformen, und denen müssen wir uns stellen. Wenn wir sehen, wer dort auf der Straße gewesen ist – Jugendliche mit arabischem Migrationshintergrund, türkischstämmige Rechtsextremisten –, dann müssen wir uns sehr konkret fragen, wo wir beim Thema Integrationspolitik noch nachsteuern müssen, etwa beim Thema Integrationskurse. ({2}) Ich spreche das ganz offen an: Nicht jeder, der zu uns kommt, hat die gleiche Sozialisation, sondern es kommen Menschen unterschiedlicher – auch regional bedingt – Sozialisation. Kollege von Notz, wir haben uns heute Morgen, als wir im Innenausschuss darüber sprachen, ein bisschen darüber unterhalten: Ist das jetzt muslimisch geprägter Antisemitismus? Ist das ein arabisch geprägter Antisemitismus? Ist das ein irgendwie regional zu verortender Antisemitismus? Darüber kann man ja gerne diskutieren. Ich würde mich dem Punkt mit dem regional zu verortenden Antisemitismus sogar anschließen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch? ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse die Frage trotzdem zu, auch wenn alle „Nee!“ schreien. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das finde ich ganz fabelhaft von Ihnen; vielen herzlichen Dank!

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verschafft mir ja auch Redezeit.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Genau. – Ich frage Sie, ob Sie es für sinnvoll erachten, Teilnehmern, die an der Deutschen Islam Konferenz teilnehmen möchten, zur Bedingung zu machen, dass sie wenigstens das Existenzrecht Israels anerkennen müssen. Wir haben das häufig gefordert, und die Bundesregierung antwortet, dass es diese Bedingung nicht gibt. Ich sage jetzt einmal: Für einige Organisationen wäre das eine Schwelle, die sie nicht überschreiten wollen. Wäre es sinnvoll, das zur Bedingung zu machen: „Wer als muslimischer Verband Mitglied der Deutschen Islam Konferenz sein will, um die Integration von Muslimen in die Gesellschaft zu fördern, der muss als Eingangsvoraussetzung mindestens das Existenzrecht Israels förmlich anerkennen“?

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau von Storch, vielen Dank für die Frage. Ich sage Ihnen dazu ganz klar: Ich finde, es ist wichtig, dass wir erst mal ins Gespräch kommen, dass wir eine Einladung zum Gespräch aussprechen und dass wir das Gespräch dazu nutzen, um auf die Probleme und unterschiedlichen Sichtweisen hinzuweisen. Und da bin ich genau bei dem Thema, auf das ich ohnehin kommen wollte, nämlich beim Nahostkonflikt, der eine Rolle spielt bei dieser Form von Antisemitismus, die wir in Deutschland feststellen. Ein konkretes Beispiel: Ich finde es richtig, dass wir mit Schulklassen Gedenkorte des Holocaust besichtigen, KZ-Gedenkstätten, was auch immer. Was ich genauso richtig fände, wäre, wenn Schulklassen einfach einmal eine jüdische Synagoge besuchen würden – genauso wie sie eine Moschee besuchen sollten –, damit die Schüler einfach ganz normale Leute kennenlernen, die vielleicht dieser oder jener Religion anhängen, im Grunde aber ganz normale Leute wie du und ich sind, mit denen wir hier in diesem Land friedlich zusammenleben können, und damit die Schüler auch, ich sage einmal, existentes jüdisches Leben in Deutschland kennenlernen und nicht nur den Blick in die Vergangenheit, zum Holocaust, haben. ({0}) Wenn wir über die Gruppe der vielen Menschen, die aus dem arabischen Raum zu uns gekommen sind, sprechen, deren Kinder hier zur Schule gehen, dann kommen wir, glaube ich, nicht umhin, die Einrichtungen, die wir haben, zu nutzen. Dafür brauchen wir gar nicht unbedingt ein Demokratiefördergesetz und noch soundso viele Einrichtungen. An den Schulen gibt es doch Geschichts- und Politikunterricht. Da muss das Thema Nahostkonflikt demnächst eine zentralere, bedeutendere Rolle spielen. ({1}) Wenn wir Menschen aus diesen Ländern bei uns aufgenommen haben – sei es als Flüchtlinge oder aus welchem Grund auch immer; demnächst kommen Fachkräfte aus diesen Ländern –, dann müssen wir ihnen auch deutlich machen, welche Sicht wir auf den Nahostkonflikt haben. Wir müssen auch deren Sicht hören. Aber wir müssen ihnen ganz klar das als Grenze markieren, was Herr Klein ausgesprochen hat und was auch Herr Roth – der jetzt leider entschwunden ist – angesprochen hat: Bei uns kann über alle diese Fragen offen und klar im Für und Wider diskutiert werden kann, was aber nicht diskutabel ist, das ist das Existenzrecht des Staates Israel, und was auch nicht diskutabel ist für uns, ist irgendein pauschaler Hass, eine pauschale Ablehnung durch irgendwelche Gruppen, seien sie durch ihre Religion, durch ihre Ethnie oder durch sonst irgendetwas definiert; das können wir in unserem Land nicht akzeptieren. Wir stehen unverbrüchlich an der Seite der Juden, die in diesem Land jetzt leben. Und wir sind sehr froh darüber, dass wir wieder jüdisches Leben in diesem Land haben. Und wir stehen unverbrüchlich und klar an der Seite Israels.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das muss auch jeder lernen – das sage ich ganz deutlich –, der zu uns kommt, ob als Flüchtling, als Migrant oder wie auch immer. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Middelberg. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Die Tatsache, dass wir die Diskussion über Antisemitismus und das Austragen fremder Konflikte auf deutschem Boden überhaupt führen müssen, ist eine Schande für dieses Land und belegt das sicherheitspolitische Totalversagen der Altparteien. ({0}) Wenn der Berliner Innensenator Geisel davon spricht, dass es sich bei den Tätern um sogenannte eventorientierte Jugendliche gehandelt habe, dann erinnert das stark an die Begründung für die Gewaltexzesse von Stuttgart; dort hat man auch behauptet, es würde sich um die Event- und Partyszene handeln. Die Ermittlungsergebnisse waren freilich andere: 80 Prozent der Täter waren Migranten oder hatten Flüchtlingsbezug. ({1}) Damals wurde die Bevölkerung belogen, und genau das versuchen Sie heute schon wieder. Gleiches gilt im Übrigen für den schäbigen Versuch, die AfD jetzt für diese antisemitischen Ausfälle am Wochenende verantwortlich zu machen. Sie machen sich damit nur noch lächerlich. ({2}) Denn die Fakten sind für jeden offensichtlich: Die Vorfälle am Wochenende waren die größten antisemitischen Aufmärsche in Deutschland seit 1945, und es handelt sich dabei zweifelsfrei um importierten Antisemitismus – als unmittelbare Folge Ihrer völlig verfehlten Migrationspolitik, und zwar nicht erst seit 2015, sondern schon seit 30, 40 Jahren. Es ist erschreckend, wie Sie immer noch versuchen, diese Tatsache zu relativieren, zu leugnen oder schönzureden. Noch viel erschreckender ist es, dass dieser Staat nicht in der Lage ist, einem solchen menschenverachtenden Antisemitismus, wie er jetzt am Wochenende stattgefunden hat, etwas entgegenzusetzen. Der SPD-Innensenator von Berlin, der gegen regierungskritische, aber friedliche Demonstranten sogar mit Wasserwerfern vorgeht – nur weil sie die Auflagen der Behörden nicht erfüllen –, lässt aber im Gegenzug zu, dass über Stunden islamistische Antisemiten in Berlins Straßen wüten. Und der CDU-Innenminister von Nordrhein-Westfalen feiert es schon als Erfolg, wenn Polizeikräfte eine Synagoge schützen, auch wenn man es nicht schafft, die zeitgleich vor der Synagoge stattfindenden widerlichen antisemitischen Exzesse zu unterbinden. – Solche Innenminister sind offensichtlich unfähig, Gewalt und Hass auf unseren Straßen zu stoppen, und in ihren Ämtern nicht mehr tragbar. ({3}) Wir müssen jetzt endlich die Maßnahmen umsetzen, die die AfD schon seit Langem fordert: Erstens. Solange der Schutz der europäischen Außengrenzen nicht funktioniert, brauchen wir einen nationalen Grenzschutz, um den weiteren Zustrom islamistischer und arabischer Antisemiten in unser Land zu unterbinden. ({4}) Zweitens. Wir müssen alle ausländischen Islamisten, Hassprediger und Gewaltverbrecher konsequent abschieben. Wer auf deutschem Boden fremde Konflikte austragen will, der hat hier in Deutschland nichts zu suchen. ({5}) Wir brauchen endlich eine klare Nulltoleranzstrategie als Vorgabe für die Polizeikräfte. Die Polizei darf bei solchen unfassbaren Vorfällen von der Politik nicht zum Zuschauen verdammt werden, sondern muss mit aller Konsequenz und maximaler Robustheit gegen solche Täter vorgehen. Ohne diese Maßnahmen werden wir das importierte Antisemitismusproblem nicht lösen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hess. – Nun hören wir den Kollegen Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die wir uns zu stellen haben, ist: Wollen wir den Antisemitismus wirklich ernsthaft, mit Ergebnissen, bekämpfen, oder wollen wir uns in unseren Befindlichkeiten und üblichen ideologischen Auseinandersetzungen darin bestätigen, ({0}) wir hätten recht gehabt, wie Sie, Frau von Storch und Herr Hess, es eben auf schlimmste Weise beispielhaft vorgeführt haben? Wenn wir den Antisemitismus ernsthaft bekämpfen wollen, dann müssen wir zunächst feststellen, dass nach der Polizeilichen Kriminalstatistik der überragende Teil der erschreckend hohen Zahl im Hellfeld festgestellter antisemitischer Straftaten auf politisch motivierter Kriminalität von rechts beruht. Wir müssen aber auch feststellen, dass es ein Dunkelfeld gibt. Wir gingen es nicht ernsthaft an, wenn wir sagen würden: Antisemitismus ist ein Problem der Rechtspopulisten oder der Rechtsextremisten. Dann würden wir das nämlich als ein Problem der anderen beschreiben. Aber es ist nicht wie bei Sartre „L’enfer, c’est les autres“ – die Hölle sind die anderen –, sondern die Hölle sind wir. Es geht um uns selbst und um die Mitte der Gesellschaft. Wir würden es auch nicht ernsthaft tun – das sage ich als jemand, der aus dem politisch linken Spektrum kommt –, wenn wir so täten, als ob wir als Linke oder antifaschistisch Eingestellte dagegen immunisiert wären. Es gibt RAF, es gibt Entebbe und viele andere Beispiele. Auch dem müssen wir uns stellen. Zugleich gibt es auch keine Immunisierung, wenn man Opfer von Rassismus ist, sondern man kann trotzdem selbst Antisemitismus ausüben. Aber wenn wir es ernsthaft machen wollen, ist es auch nicht zielführend, wenn wir vom importierten oder eingewanderten Antisemitismus sprechen. Zum einen importiert man Waren und nicht Menschen. Das ist keine sinnvolle Formulierung. ({1}) Zum Zweiten sprechen wir von Menschen, die zum Teil gar nicht geflüchtet oder eingewandert, sondern hier geboren sind. Auch das ist Teil der Realität. ({2}) Zum Dritten sollten wir uns in dem Zusammenhang mit angebrachter Demut vergegenwärtigen, dass es niemand sonst als die Deutschen waren, die auf schrecklichste Weise Vernichtung und Mord exportiert haben, zum Beispiel auf polnischen Boden. Deshalb sollten wir uns die Folgen von Antisemitismus deutlich machen. Ich erinnere dabei einfach nur an Christopher Browning und sein Werk „Ganz normale Männer“, in dem er rekonstruiert hat, wie ganz normale Deutsche, nicht einmal alle tief antisemitisch sozialisiert, aber in einem antisemitischen staatlichen Umfeld aufgewachsen, keine Probleme hatten, massenhaft Jüdinnen und Juden mit der Waffe nicht einfach industriell, sondern Face to Face zu ermorden. Am Abend hörten sie Brahms, Wagner oder schrieben Briefe an ihre Familien. Dem allen müssen wir uns stellen, wenn wir uns mit Antisemitismus und dessen Folgen seriös, mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit auseinandersetzen wollen. ({3}) Daher danke ich ausdrücklich auch Felix Klein. Ich tue es, gerade weil ich manchmal schlucke, wenn er sich in Debatten so offensiv gibt. Aber genau das ist richtig, dass ich auch schlucke und mit meinen eigenen Zweifeln konfrontiert werde; denn das ist seine Aufgabe, und die macht er sehr gut. Er muss unbequem sind, er muss Stachel in unserem Fleische sein und uns fordern und herausfordern mit dieser Deutlichkeit, die er mit seinem Team in seinem Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland klar zeigt. Deshalb, glaube ich, ist es auch notwendig, dass wir uns ernsthaft um Antisemitismus in all seinen Facetten im Alltag kümmern. Deshalb bin ich wie arretiert über Debatten, wie wir sie erlebt haben, beispielsweise über die Akademieleiterin des Jüdischen Museums; denn das sind sehr merkwürdige und verschobene intellektuelle Feuilleton-Debatten. Ich denke dabei an die Verteidigung, die sie erfahren hat durch Micha Brumlik, und die Verteidigung, die sie durch Meron Mendel und durch Max Czollek erfahren hat. Und wenn ich das sage, ertappe ich mich dabei, dass ich mich vielleicht auf die drei berufe, weil sie Juden sind. Das heißt, wir sollten immer bei dieser Debatte auch nach dem möglichen Antisemitismus in uns selbst fahnden und danach gucken, wie weit wir selbst der Falle der Selbstrechtfertigung, der Instrumentalisierung anheimfallen. Also, ich fasse zusammen: Im Kampf gegen den Antisemitismus müssen wir erstens gleichermaßen mit einem Pathos der Nüchternheit alle Formen des Antisemitismus, egal welcher Herkunft, welches ideologischen Lagers, benennen. Zweitens macht es keinen Sinn, das als ein Problem außerhalb Deutschlands zu betrachten; denn wir als Gesellschaft, als diverse Gesellschaft, müssen es gemeinsam angehen. Drittens. Instrumentalisierungsdebatten bringen im realen Kampf gegen Antisemitismus gar nichts.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir können gerne auf dem Rücken von Antisemitismus Asyl- und Migrationsdebatten führen. Aber so werden wir mit Sicherheit diesen Kampf gegen Antisemitismus in dieser Gesellschaft, in der wir leben, nicht gewinnen. Und viertens – das ist, glaube ich, zu kurz gekommen – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, Kollege, jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

All diejenigen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, jetzt bitte noch einen Satz.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– die heute gegen Antisemitismus sprechen, stellen sich oft in die Rolle von Jüdinnen und Juden, ob sie sich nun einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften oder im Kontext – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lindh, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. ({0}) Sie haben 40 Sekunden überzogen. Trotz mehrmaliger Bitte sind Sie meiner Aufforderung nicht gefolgt. Die Geschäftsordnung verpflichtet mich dazu, Ihnen das Wort zu entziehen; § 35 Absatz 3 der Geschäftsordnung. Das ist hiermit geschehen. Ich bitte alle Beteiligten, auf die wirklich liebevollen Mahnungen von mir zu hören; denn wenn wir alle die Redezeiten in gleicher Weise überziehen, haben wir zwei Stunden obendrauf, und das ist den Mitarbeitern des Deutschen Bundestages nicht zuzumuten. Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion. ({1})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Felix Klein! Die Bilder, die wir vor einigen Tagen von den Demonstrationen in Deutschland gesehen haben, sind zutiefst schockierend. Wenn Menschen auf deutschen Straßen judenfeindliche Parolen schreien, Israel-Flaggen verbrennen und Synagogen und jüdische Einrichtungen attackieren, dann erinnert das nicht nur an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, nein, dann haben wir in diesem Land ein echtes, ein reales Problem. ({0}) In Deutschland wird häufig über Antisemitismus und seine verschiedenen Ausprägungen diskutiert. Doch gleichzeitig scheuen sich viele, die Dinge tatsächlich beim Namen zu nennen. Es macht mich als Bundestagsabgeordneter und als Bürger dieses Landes zutiefst betroffen, dass in unserem Land noch immer Antisemitismus existiert. Mir erzählen Freunde, dass sie oft Angst haben, als Juden erkannt zu werden, wenn sie von einem Parkplatz zum Gottesdienst in die Synagoge gehen. Es ist schockierend und beschämend, wenn sich Menschen jüdischen Glaubens in unserem Land nicht sicher fühlen, meine Damen und Herren. ({1}) Wir müssen als Politiker verstehen: Wenn Menschen jüdischen Glaubens auf der Straße beispielsweise aufgrund ihrer Kippa angegriffen werden, dann ist das nicht nur ein Angriff auf Juden, dann das ist ein Angriff auf uns alle, meine Damen und Herren. ({2}) Es ist ein Angriff auf unsere demokratische Grundordnung. Es ist ein Angriff auf unsere liberale Gesellschaft. Judenhass und antisemitische Gewalt müssen mit allen Mitteln bekämpft werden. Viel zu viele waren viel zu lange auf beiden Augen blind – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder Dänemark. Antisemitismus tritt manchmal laut und manchmal leise in vielfältiger Weise in Erscheinung. Er kommt politisch mal von links, mal von rechts, mal aus der Mitte der Gesellschaft und manchmal auch aus allen Richtungen gleichzeitig. Die jüngsten – teilweise gewaltsamen – Ausschreitungen in Deutschland sind allerdings besonders dem muslimisch geprägten Antisemitismus zuzuschreiben. Wir sind ein weltoffenes und tolerantes Land. Es gibt eine Willkommenskultur in Deutschland. Wir müssen aber auch von den Menschen, die hierhinkommen, erwarten, dass sie unsere Werte akzeptieren, unsere Geschichte respektieren und die Konflikte der alten Heimat hinter sich lassen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir sollten uns als Politik die Frage stellen, was die antisemitischen Demonstrationen der letzten Tage für unser Land bedeuten und wie wir damit umgehen. Integration muss künftig mehr sein als Sprache und Einbürgerung. Eine sinnvolle Integrationspolitik muss auch die nachhaltige Vermittlung von demokratischen Grundwerten beinhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat vor dem Hintergrund der Shoah und der Ermordung von über 6 Millionen europäischen Juden eine ganz besondere Verantwortung, wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus geht. Vor diesem Hintergrund – das muss man ganz ehrlich sagen – hat jeder Mensch jüdischen Glaubens mindestens 6 Millionen gute Gründe, unserem Land den Rücken zu kehren. Wenn man das berücksichtigt, dann ist das vitale jüdische Leben, das wir in Deutschland haben, die jüdische Kultur, wirklich ein Geschenk. Einer der Vorredner hat es so formuliert: Es ist ein großes Vertrauen in unsere Demokratie, in unseren Rechtsstaat und auch in ein glasklares „Nie wieder!“. Und es ist umgekehrt eine große Verantwortung für uns, damit umzugehen und daraus die richtigen Konsequenzen – kurzfristig und langfristig – zu ziehen. Kurzfristig geht es darum, Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen – insbesondere auch die Gotteshäuser – mit allen Möglichkeiten, die uns der Rechtsstaat dafür zur Verfügung stellt, zu schützen und dafür zu sorgen, dass diejenigen, die antisemitische Straftaten begehen, konsequent verfolgt werden, eine klare rechtsstaatliche Antwort bekommen und für das, was sie tun, bestraft werden. Daneben gibt es die lange Linie; das ist angesprochen worden. Der interfraktionelle Antrag zum Antisemitismus vom 17. Januar 2018 bezeichnet die rote Linie, an der entlang wir den Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus formulieren. Es ist in der Tat so, lieber Herr Klein: Die Arbeit, die Sie vor drei Jahren aufgenommen haben, ist eine segensreiche Arbeit, weil Sie an ganz vielen Stellen die Punkte, die wir damals schon aufgeführt haben, letztlich mit Leben gefüllt haben. – Ich möchte mich an dieser Stelle, wie viele andere Kollegen auch, ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken. ({0}) Es ist tatsächlich so: Die klare Verankerung des Antisemitismus als strafschärfend in unserem Strafgesetzbuch war auch eine Idee von Ihnen. Das Verbrennen, das Zerstören, das Beschädigen der israelischen Flagge als Straftatbestand, das Gesetz zur Bekämpfung der Hasskriminalität und des Rechtsextremismus und die Tatsache, dass wir unseren Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt personell gestärkt haben, sind angesprochen worden. Diese Arbeit ist auch noch nicht zu Ende. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode den Straftatbestand „Verhetzende Beleidung“ in unser Strafgesetzbuch aufnehmen, um hier eine Regelungslücke zu schließen, und wir werden uns abschließend auch noch mit dem Verfassungsschutz beschäftigen, um den Nachrichtendiensten im Wege der Aufklärung zusätzliche Möglichkeiten zu geben. Das werden wir noch in diesem und im nächsten Monat tun, und vor allen Dingen wird unsere Arbeit mit dem Ende der Legislaturperiode nicht zu Ende sein, sondern ganz konsequent weitergehen müssen. An dieser Stelle finde ich es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Antisemitismus viele Quellen und Wurzeln hat: Da ist in Deutschland zuallererst – da reicht ein Blick in die Kriminalstatistik – der rechtsextremistische Antisemitismus zu benennen. Man muss ganz klar sagen – das haben die Vorredner auch gemacht –: Der Geschichtsrevisionismus, der dort betrieben wird, ist inakzeptabel, und dem muss man in aller Klarheit entgegentreten. ({1}) Es gibt daneben auch den linksextremistischen, den israelbezogenen Antisemitismus – Herr Klein, Sie sprechen das immer wieder völlig zu Recht an –, der häufig auch im Gewand der sogenannten BDS-Bewegung daherkommt, mit dem Ziel, durch Sanktionen und Boykott den israelischen Staat in die Knie zu zwingen. Auch dem ist mit aller Klarheit und Konsequenz entgegenzutreten, und es ist gut, dass das der Deutsche Bundestag 2019 mit einem entsprechenden Antrag auch getan hat. ({2}) Schließlich muss auch der zugewanderte Antisemitismus – so ist er bezeichnet worden –, der religiöse, der islamistische Antisemitismus, klar benannt werden. Ich finde es gut, dass das in dieser Debatte über die Fraktionsgrenzen hinweg auch passiert ist. Es ist dringend notwendig, dass wir das tun und dass wir auch klare Aussagen zu unseren Anforderungen treffen: Integration setzt das Bekenntnis zum Staat Israel und gegen Antisemitismus voraus. Antisemitismus ist nicht integrierbar. Deswegen war es auch richtig, dass wir das Aufenthaltsgesetz geändert und gesagt haben: Wer gegen Teile der Bevölkerung aufhetzt, wer den öffentlichen Frieden stört, der verwirklicht auch ein besonderes Ausweisungsinteresse des deutschen Staates.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch das müssen wir beherzt in Angriff nehmen, wenn wir eine umfassende Antwort geben möchten. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Kind in einer Patchworkfamilie hatte ich unter anderem den großen Vorteil, mehr als nur zwei Großelternpaare zu haben. Das hat sich vor allem an Weihnachten und an Geburtstagen besonders ausgezahlt. Ich hatte aber vor allem das große Glück, mit weiteren ganz besonderen Menschen in der Familie eng aufwachsen zu dürfen. Besonders beeindruckt hat mich mein Stiefgroßvater – so würde ich ihn bezeichnen – Wolfgang Rebner. Der großartige Komponist und Pianist konnte als Jude noch rechtzeitig vor dem Naziterror nach London flüchten. Ein großer Teil seiner Familie wurde Opfer des deutschen Rassenwahns in Buchenwald und Auschwitz. Nach dem Krieg war er unter anderem zehn Jahre in Hollywood beschäftigt, bevor er in den 50er-Jahren wieder in seine Heimat Deutschland zurückkam, wo er dann als Dozent am Münchener Richard-Strauss-Konservatorium arbeitete. Ich habe mich oft gefragt, wie er trotz seiner eigenen Familiengeschichte wieder zurückkehren konnte. Ich glaube, er hat seine Heimat einfach geliebt und war sich sicher, dass ein freies und demokratisches Deutschland den Antisemitismus überwinden kann. Ich frage mich heute: Wie wohl bzw. wie unwohl würde er sich heute in Deutschland fühlen? Es tut mir daher in der Seele weh und beschämt mich, dass wir immer noch mit dem Phänomen des Antisemitismus in Deutschland kämpfen und solche Berichte, wie uns heute einer vorliegt, überhaupt noch debattieren müssen. Noch schlimmer ist jedoch, dass wir uns eingestehen müssen, dass sich die Situation nicht verbessert, sondern ganz im Gegenteil verschlimmert hat. Es ist unerträglich, dass die Zahl antisemitischer Straftaten dramatisch zugenommen hat – und das konkret im Verhältnis zu dem ebenfalls dramatisch zunehmenden Rechtsextremismus in unserem Land. Das sind übrigens oftmals dieselben Personen, die an Ihren Veranstaltungen, Frau von Storch, teilnehmen, dort mit dabeistehen und sich mit Ihnen zusammen im Social-Media-Bereich umhertun. Ich finde, dass die Langeweile, mit der Herr Gauland, der jetzt durch Abstinenz in der ersten Reihe glänzt, zumindest die Hälfte dieser Debatte begleitet hat, einmal mehr bezeichnend und demaskierend dafür ist, wo die AfD bei diesem Thema in Wahrheit steht. ({0}) Es ist unerträglich, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland aus Sorge um ihre Sicherheit tatsächlich überlegen, auszuwandern. Es ist unerträglich, dass es in manchen Stadtvierteln in Deutschland – gerade auch hier in Berlin, wo wir alle so weltoffen sind – für Juden nicht möglich ist, angstfrei mit einer Kippa auf dem Kopf auf der Straße zu laufen. Es ist unerträglich, dass wir aktuell zusehen müssen, wie anlässlich des wieder aufbrechenden Konflikts zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas auf Demonstrationen in der ganzen Welt, aber auch in Deutschland israelische Flaggen verbrannt und Rufe nach der Zerstörung des Judenstaates Israel laut werden. Diese Vorfälle zeigen eines ganz deutlich: Wir haben neben dem Erstarken des abscheulichen Rechtsextremismus, der mit aller Härte bekämpft werden muss, ein Problem mit zugewandertem Antisemitismus. Wir dürfen aus falsch verstandener Toleranz oder weil die Falschen dieses Thema auch ansprechen nichts beschönigen. Wir haben hier ein Problem, und das zeigt sich, wenn wir uns die Demonstranten genau anschauen, die auf den Demonstrationen unterwegs sind. ({1}) Es sind vor allem auch arabischstämmige Jugendliche und türkische Rechtsextremisten, die sich dort tummeln. Wir müssen mit allen Mitteln des Rechtsstaats – auch hier – dagegen vorgehen. Wir müssen den Worten nun endlich auch Taten folgen lassen: mit noch mehr Anstrengungen in den Schulen – das hat Mathias Middelberg sehr gut beschrieben –, noch mehr Anstrengungen bei der Integration von Einwanderern und klaren Konsequenzen – wie Abschiebungen – für Einwanderer, die sich nicht integrieren lassen und durch Antisemitismus auffällig werden. In diesem Sinne erwarte ich von der Bundesregierung, nicht nachzulassen und weiterhin entsprechende Vorschläge für wirkungsvolle Maßnahmen im Kampf gegen den Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus vorzulegen, die wir im Deutschen Bundestag so schnell als möglich dann auch unterstützen und umsetzen können. An dieser Stelle auch von meiner Seite herzlichen Dank für die großartige Arbeit, die Dr. Klein geleistet hat und noch leisten wird. Angesichts der aktuellen Situation im Nahen Osten möchte ich noch eines sagen: Für meine Partei, für die CSU, und für die Union insgesamt ist klar: Unser Platz ist klar an der Seite Israels. Deshalb haben sowohl CDU als auch CSU vor ihren Parteizentralen im wahrsten Sinne des Wortes Flagge gezeigt. Denn wir wissen: Israel ist ein Leuchtturm der Demokratie in einem Meer von Autokratien. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Israel und sein Wohlergehen sind deutsche Staatsräson und nicht verhandelbar. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Eva Högl (Unbekannt)

Politiker ID: 11003896

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! In sechs Tagen bin ich ein Jahr im Amt, und es ist für mich eine große Freude, Ihnen heute den Jahresbericht 2020 vorstellen zu dürfen. Ich beginne natürlich mit einem ganz, ganz herzlichen Dankeschön für die gute Zusammenarbeit – vielen Dank dafür –; aber ich drehe mich auch kurz um und spreche dem gesamten Amt der Wehrbeauftragten ein herzliches Dankeschön aus, den 60 Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Erfahrung, mit viel Sachkunde, mit viel Sorgfalt, mit viel Herzblut und mit viel Engagement jeden einzelnen Fall bearbeiten und sich um das Wohl unserer Soldatinnen und Soldaten kümmern. Ich finde, das ist ganz wunderbar. ({0}) Wir haben im Jahr 2020 3 907 Vorgänge bearbeitet. Davon sind allein 2 753 persönliche Eingaben von Soldatinnen und Soldaten. Wir bearbeiten viele meldepflichtige Ereignisse. Ein Quell meiner Aktivität und unserer Arbeit sind natürlich die zahlreichen Truppenbesuche. Das ist ganz entscheidend, und ich bin sehr froh, dass ich trotz Corona viele Truppenbesuche machen konnte, viele Standorte besucht habe, unterschiedliche Verbände getroffen und zahlreiche Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten geführt habe. Sie wissen das von mir: Ich bedauere es sehr, dass ich wegen Corona bisher noch nicht in die Einsatzgebiete reisen konnte. Sobald das möglich ist, werde ich das schnellstmöglich machen und werde Ihnen dann hoffentlich von vielen persönlichen Eindrücken, die nämlich durch Videokonferenzen und Telefonate nicht zu ersetzen sind, berichten können. Der Jahresbericht ist immer auch eine Ansammlung von Mängeln, Fehlern und Versäumnissen. Es ist die Aufgabe, dass sie dargestellt werden, und im besten Fall ist das dann eine Grundlage für Verbesserungen. Aber ich habe mir fest vorgenommen – auch das wissen Sie von mir –, dass ich mein Amt nutzen möchte, um auch die vielen positiven Dinge, die vielen guten Beispiele, die wir jeden Tag in und mit der Bundeswehr erleben, hervorzuheben: worauf wir stolz sein können, was erreicht wurde und was auf einem guten Weg ist. Auch das finden Sie im Jahresbericht. Ich beginne mit Corona; denn Corona hat das Jahr 2020 geprägt, und es prägt auch noch das Jahr 2021. Die wirkliche Leistung und der große Erfolg ist, dass es gelungen ist, die Einsatzbereitschaft zu gewährleisten. Das ist der Kernauftrag der Bundeswehr, und ich habe mir das an vielen Stellen angeschaut: Grundbetrieb, Ausbildung, Übung, Vorbereitung und Durchführung der Einsätze. Das ist wirklich eine enorme Leistung. Ich spüre natürlich auch, wie beschäftigt und belastet die Soldatinnen und Soldaten damit sind, diesen Kernauftrag unter Coronabedingungen auszuführen. Das zeigen auch die Eingaben: 487 Eingaben im Jahr 2020 allein zum Thema Corona. In der Amtshilfe, meine Damen und Herren, zeigt die Truppe, was sie kann. Lufttransport, Logistik, Testen, Impfen, Kontaktnachverfolgung und Musik: Wir kennen die zahlreichen Beispiele, und wir wissen auch, wie dankbar die Bürgerinnen und Bürger an allen Stellen dafür sind. ({1}) Ende 2020 waren 11 400 Soldatinnen und Soldaten in der Amtshilfe gebunden, 20 000 in Bereitschaft, und die Sanität hat natürlich tatkräftig unterstützt. Ich erlaube mir heute mal, eine Einheit herauszugreifen und ein Lob auszusprechen für das Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr hier in Berlin, in der Julius-Leber-Kaserne, das nämlich die Koordination der Amtshilfe ganz exzellent macht. ({2}) Jeder Einsatz ist vorbildlich, an jeder Stelle eine große Hilfe. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten unser Dank, Anerkennung und Respekt. Ich habe im Jahresbericht auch vorgeschlagen, die Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz waren, mit einer Einsatzmedaille auszuzeichnen. Das wäre eine verdiente Anerkennung. Ich habe den Bundespräsidenten dazu angeschrieben und auch Sie, Frau Ministerin, und ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn das umgesetzt werden könnte. ({3}) Ein Schwerpunkt meines Berichtes ist das Thema Personal; denn auch unabhängig von Corona, aber gerade in der Pandemie ist es ganz besonders wichtig, dass die Bundeswehr gute Frauen und Männer bekommt. Deswegen besorgt es uns alle, dass im Jahr 2020 19 Prozent weniger Neueinstellungen möglich waren, dass immer noch mehr als 20 000 Stellen oberhalb der Mannschaftsdienstgrade unbesetzt sind. Es mangelt an IT-Spezialistinnen und -Spezialisten. Ich betrachte es auch etwas mit Sorge, dass das Durchschnittsalter ständig steigt; wir sind jetzt bei 33,4 Jahren. Das zeigt: Wir brauchen wirklich gute Männer und Frauen bei der Bundeswehr. Das muss eine gemeinsame Kraftanstrengung sein. Die Soldatinnen und Soldaten schildern mir, dass es ihnen darauf ankommt, auch Planbarkeit und Vereinbarkeit berücksichtigt zu wissen. Wir wollen alle gemeinsam daran arbeiten, dass die Bundeswehr ein attraktiver und guter Arbeitgeber ist. Ein Dauerbrenner – wir sind schon seit vielen Jahren damit beschäftigt; es hat auch die Jahresberichte meiner Vorgänger geprägt, was es nicht besser macht, sondern schlimmer – ist das Stichwort Material. Soldatinnen und Soldaten klagen, und sie klagen berechtigterweise über fehlende Ausrüstung, Ausstattungsgegenstände, Kälteanzüge, Gehörschutz, Helme, Rucksäcke, aber auch über das große Gerät: Fahrzeuge, Boote, Schiffe, Hubschrauber und Werkzeug. Mit 74 Prozent Einsatzbereitschaft, Frau Ministerin, sind wir noch nicht am Ziel. Daran muss weiter gearbeitet werden. Ich beobachte auch sehr aufmerksam, dass das ein Quell für Frustration ist. Deswegen müssen wir das gute Geld, das wir im Verteidigungshaushalt haben, auch dafür investieren. ({4}) Ein weiterer Dauerbrenner ist die Infrastruktur. Ich führe das Thema gar nicht zu detailliert aus, aber es lohnt sich, da auch in der nächsten Legislaturperiode noch mal eine Kraftanstrengung zu machen. Die Planungen dauern zu lange. Es dauert zu lange, bis die Gebäude stehen. Ich habe im Jahresbericht ein paar negative Highlights aufgelistet. Ich habe einige Gebäude gesehen, die verschimmelt waren, die unzumutbar sind. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten, und da muss auch eine Lösung gefunden werden, wie wir das Nadelöhr der Landesbauverwaltung irgendwie umschiffen, durchdringen oder wie auch immer. ({5}) Das Thema Rechtsextremismus, meine Damen und Herren, beschäftigt uns – uns im Amt und natürlich auch mich – das ganze Jahr intensiv. Wir hatten im Jahr 2020 229 meldepflichte Ereignisse. BAMAD überliefert uns die Zahl von über 500 Verdachtsfällen im Bereich Rechtsextremismus und Reichsbürger. Es erfordert eine ganz gewaltige Anstrengung im Bereich von Aufklärung, Sanktionierung, Reformierung und vor allen Dingen – das sage ich am Ende, weil es besonders wichtig ist – auch Prävention. Das ist eine Daueraufgabe, meine Damen und Herren, und nicht nur eine Aufgabe nach dem Auftreten von einzelnen Vorfällen. Das hat uns das letzte Jahr auch gezeigt. Ich habe mich natürlich auch um das Thema KSK intensiv gekümmert. Am 18. Mai 2020 Jahr hat General Kreitmayr seinen offenen Brief veröffentlicht. Am 25. Mai 2020 habe ich mein Amt angetreten. Ich habe das KSK und die Entwicklung in dieser Zeit natürlich intensiv begleitet, viele Gespräche geführt, persönliche Eindrücke gesammelt. Ich fahre morgen wieder hin, um gerade auch in dieser Zeit vor dem Abschlussbericht noch mal in den Verband hineinzuhören und die Stimmung aufzunehmen. Wir brauchen diese Fähigkeit; ich hoffe, darüber herrscht hier auch weitgehend Einigkeit. Es ist richtig, dass wir das KSK haben. Sie brauchen unser Vertrauen, und ich hoffe persönlich sehr, dass sie unser Vertrauen auch verdienen und dass wir die unterstützen, die sich täglich dafür engagieren, dass aufgeklärt und reformiert wird. Das betrifft im KSK, aber natürlich auch in der gesamten Bundeswehr die ganz überwiegende Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten. ({6}) – Danke schön für diesen Applaus; es ist ganz wichtig, das zu betonen. – Ich hoffe nicht nur, dass das KSK eine gute Zukunft hat, sondern dass wir dieses Thema auch ausreichend intensiv bearbeiten können. ({7}) Meine Damen und Herren, ein Ärgernis im Bereich der Bekämpfung des Extremismus möchte ich noch hervorheben, weil mich das wirklich besorgt und weil wir auch da eine Kraftanstrengung brauchen: Die Verfahren dauern zu lange. ({8}) Die Aufklärung dauert definitiv zu lange. WDA, Gerichte, MAD brauchen alle mehr Personal, um wirklich zügig auf die Vorfälle reagieren zu können, die nötigen Sanktionen vornehmen zu können und Konsequenzen zu ziehen. Ich möchte zum Schluss noch auf zwei aktuelle Themen eingehen, die uns jetzt gerade beschäftigen: Zum Abzug aus Afghanistan. Es ist richtig, die Truppen nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abzuziehen. Der Einsatz in Afghanistan hat unsere Bundeswehr verändert; er hat sie geprägt. Wir danken natürlich allen 160 000 Soldatinnen und Soldaten, die dort in dieser langen Zeit im Einsatz waren, und wir denken auch an die 59 Menschen, die dort ihr Leben gelassen haben. Jetzt geht es darum, ausreichend gesichert abzuziehen. Der Schutz und die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten sind sehr wichtig. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe den Eindruck – wir bekommen das ja auch regelmäßig im Verteidigungsausschuss berichtet –, dass die Bundeswehr erstens gut vorbereitet ist und zweitens diese Sicherheit auch bestmöglich gewährleisten wird. Ich möchte an dieser Stelle bei Ihnen ganz kurz dafür werben, dass wir diesen Einsatz wirklich sorgfältig und auch selbstkritisch in allen seinen Teilen bilanzieren. Ich habe mir erlaubt, vorzuschlagen, dass vielleicht eine Enquete-Kommission ein gutes Format wäre. Ich finde, es wäre gut, wenn wir auch für künftige Einsätze aus diesem Einsatz etwas lernen. Die letzten Sekunden nutze ich mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, ganz schnell noch, um zwei Bemerkungen zu den Reformen zu machen: Frau Ministerin, es ist völlig richtig, auf die veränderte Weltlage und die Bedrohung mit Reformen zu reagieren. Das braucht die Bundeswehr. Ihr Eckpunktepapier enthält auch viele gute Vorschläge. Ich habe mir trotzdem erlaubt, ein paar kritische Anmerkungen zum gewählten Zeitpunkt zu machen; denn darüber kann man streiten und viel diskutieren. Die Truppe ist durch die Pandemie und den Abzug aus Afghanistan sehr belastet. Ich fand den Zeitpunkt nicht wirklich gut, weil es für Unruhe in der Truppe gesorgt hat. Mitten in der Pandemie ausgerechnet unseren hervorragenden Sanitätsdienst als eigenständigen Bereich auflösen zu wollen, fand ich auch keine gute Idee. Aber es kommt ja jetzt gar nicht so, wie es diskutiert worden ist. Ich wünsche mir natürlich, Frau Ministerin und auch meine Damen und Herren hier im Bundestag, dass wir insbesondere in den Bereichen Beschaffung, Personal und Infrastruktur nicht nur Prüfaufträge geliefert, sondern auch Vorschläge bekommen. Die Themen sind entscheidungsreif, und daher brauchen wir auch schnelle Entscheidungen. Ganz am Schluss sage ich noch einmal Danke, meine Damen und Herren, nicht nur für Ihre Aufmerksamkeit, sondern auch für die gute Zusammenarbeit. Ich danke vor allen Dingen unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich jeden Tag für Freiheit, für unsere Demokratie und für Frieden in der Welt einsetzen und die das ganz hervorragend machen. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Dr. Högl. Als nächste Rednerin hat die Frau Bundesministerin Annegret Kramp-Karrenbauer für die Bundesregierung das Wort. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal: Mit Blick auf die Debatte, die eben gelaufen ist, freue ich mich sehr, dass auch die Bundeswehr ein klares Zeichen gegen Antisemitismus setzt, indem wir die jüdische Militärseelsorge in unseren Reihen wieder möglich gemacht haben – der offizielle Festakt wird demnächst erfolgen – und indem im letzten Jahr zum ersten Mal über bundesdeutschem Luftraum israelische und deutsche Piloten Seite an Seite geübt haben. Auch das ist ein starkes Zeichen der Verbundenheit. Deswegen denken wir heute an die israelischen Bürgerinnen und Bürger und auch an die Armee. Das wollte ich im Namen der Bundeswehr an dieser Stelle einmal gesagt haben. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das macht aber auch deutlich, dass es für Rechtsextremismus keinen Platz in der Bundeswehr geben darf. Das gilt für das KSK, das gilt für jeden anderen Truppenteil auch. Deswegen, sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, bin ich Ihnen auch sehr dankbar, dass Sie von Anfang an den Reformprozess im KSK mit begleitet haben. Ihre Besuche vor Ort sind für uns ganz wichtige Parameter, um die richtigen Dinge anzugehen, um die richtigen Veränderungen voranzutreiben. Wir haben ein schwieriges Jahr, einen schwierigen Prozess hinter uns gebracht. Wir werden in wenigen Wochen den Abschlussbericht miteinander besprechen und Ziele für die Zukunft festlegen. Ich hoffe, dass Sie, Frau Wehrbeauftragte, auch in der Zukunft weiterhin für die Soldatinnen und Soldaten dort eine Ansprechpartnerin sind. Die Themen, die Sie angesprochen haben, sind ja nicht neu; das haben Sie zu Recht erwähnt. Die Erkenntnisse der Wehrbeauftragten – ob das Sie in Ihrer Person sind, ob es die Vorgänger im Amt waren – sind für uns immer ganz wichtige Quellen. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass sich in den Eckpunkten, die der Generalinspekteur und ich vorgelegt haben und die wir zurzeit diskutieren, viele Analysen und auch viele Anregungen der Wehrbeauftragten – sowohl von Ihnen, Frau Högl, als auch von Ihrem Vorgänger im Amt – wiederfinden. Und so soll es auch sein, weil die Wehrbeauftragten eben nicht nur die entsprechenden persönlichen Ansprechpartner für die Belange der Soldatinnen und Soldaten sind, sondern weil sie mit ihrem unverstellten Blick viele Hinweise auf Dinge geben, die in der Bundeswehr einfach noch besser werden müssen, worüber wir uns auch einig sind, und vor allen Dingen auch Vorschläge machen, wie das erreicht werden kann. Insofern freue ich mich sehr darauf, gemeinsam in diese Debatte und in die Untersuchungen zu gehen. Denn das Ziel ist es ja gerade, dass wir zum Beginn der nächsten Legislaturperiode alle Erkenntnisse so auf dem Tisch haben, dass entsprechende politische Entscheidungen getroffen werden können. Auch das ist eine Erkenntnis aus der Truppe: Es gibt Analysen genug, es gibt Vorschläge genug, und jetzt erwartet die Truppe zu Recht, dass auch etwas umgesetzt wird, und zwar so umgesetzt wird, dass es auch besser wird. Das ist das Ziel, das uns verbindet. Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, ich darf mich im Namen der Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie in diesem ersten Amtsjahr so präsent waren und trotz Corona immer auch vor Ort bei der Truppe waren. Dass es bisher mit den Einsatzreisen noch nicht geklappt hat, ist etwas, was wir alle miteinander bedauern. Wir möchten alle nicht nur per VTC, sondern wirklich auch vor Ort bei unseren Soldatinnen und Soldaten sein. Unsere Bundeswehr – das möchte ich an der Stelle sagen – tut alles im Bereich der Amtshilfe, insbesondere jetzt auch beim Impfen, dass wir schnell wieder in eine Zeit kommen, in der wir normaler miteinander umgehen können und in der es auch wieder möglich ist, dass Sie, Frau Wehrbeauftragte, aber auch wir alle wieder körperlich vor Ort bei der Truppe sein können. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung und Ihre Arbeit. Herzlichen Dank für den Bericht. Wir werden ihn aufnehmen. Wir werden, so wie in der Vergangenheit, ihn dort, wo er uns wirklich wichtige Impulse gibt, umsetzen. Denn das sind wir den Soldatinnen und Soldaten schuldig. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner ist der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion. ({0})

Berengar Elsner von Gronow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004708, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute darf ich zum vierten Mal in Folge zum Bericht des Wehrbeauftragten reden, und jährlich grüßt das Murmeltier. ({0}) – War das schon ein Grund zum Dazwischenblöken? Der Bericht befasst sich immer wieder mit denselben Themen und ähnlichen Inhalten, ohne dass man wirkliche, mehr als graduelle Veränderungen oder – und das müsste man erwarten können – Verbesserungen erkennen kann. In den Berichten des Wehrbeauftragten geht es beispielsweise schon seit Jahren um das Thema Beschaffung. Da ich morgen auch zum Umgang mit unseren Soldaten sprechen werde, konzentriere ich mich hier exemplarisch darauf. Die Wehrbeauftragte attestiert der Bundeswehr wie bereits ihre Vorgänger, dass diese mehr Flexibilität, mehr Verantwortungsbewusstsein und klarere Entscheidungsstrukturen benötige. Frau Ministerin, Ihre Vorgängerin hatte das Thema unter Hinzuziehung von Heerscharen von Beratern schon aufgenommen. Das mussten wir dann im Rahmen eines langwierigen Untersuchungsausschusses auf- und nachbereiten. Heute müssen wir konstatieren, dass sich auch unter Ihnen diese Thematik leider noch nicht wesentlich verbessert hat und bis zum Ende der Legislaturperiode auch nicht mehr wird. Was danach kommt, könnte noch schlimmer werden. Die Bundeswehr hat noch diverses Großgerät in der Nutzung, dessen Lebenszyklus eigentlich schon lange überschritten ist und welches dringend durch modernere Systeme ersetzt werden muss, die nicht oder viel zu spät kommen, wie beispielsweise die Seefernaufklärer oder die schweren Transporthubschrauber. Die Bundeswehr muss viel zu häufig notgedrungen Mangelverwaltung betreiben, wie etwa beim Puma oder den geschützten Varianten des A400M. Die Wehrbeauftrage stellt in ihrem Bericht auch fest, dass der Bedarf an bewaffneten Drohnen innerhalb der Bundeswehr groß sei, und bedauert, dass die Politik auch nach zehn Jahren noch über das Thema diskutiere, obwohl eine sachgerechte und transparente Debatte schon längst stattgefunden habe. Dem kann ich mich nur anschließen. Wobei es doch gerade Ihre SPD ist, die unseren Soldaten den dringend notwendigen Schutz verwehrt. ({1}) Über fehlenden Schutz sprechen wir auch in Bezug auf unsere Bündnisverpflichtungen, insbesondere im Hinblick auf VJTF. Nachdem im Jahre 2012 ohne wirkliche Not die bis dahin gut aufgestellte Heeresflugabwehr aufgelöst und deren Reste wenig sinnvoll vom Heer an die Luftwaffe übergeben wurden, klafft dort eine erhebliche Fähigkeitslücke für den Schutz gepanzerter und ungepanzerter Kräfte. Wie soll denn etwa in einem Szenario der Bündnisverteidigung des Baltikums deutschen Kräften Schutz gewährt werden, die auf dem Landmarsch dorthin gegebenenfalls aus der Luft angegriffen werden? Anstatt pragmatische Lösungsansätze wie die Rückübertragung der Fähigkeiten von der Luftwaffe an das Heer in Verbindung mit dem Wiederaufbau der Truppengattung aus den noch vorhandenen personellen und materiellen Beständen plus Ergänzung mit modernen Nachfolgesystemen zu suchen, ergehen sich Luftwaffe und Heer in Kompetenzgerangel und Definitionsgeschwurbel. Die Beschaffung wird auf die lange Bank geschoben. Darüber hinaus werden die letzten vorhandenen Flugabwehrpanzer nebst Zubehör und Munition an einen Drittstaat außerhalb der NATO verkauft. Das sollen die Lehren aus dem Jahr 2014 sein? Dass auch in einem solchen Szenario bewaffnete Drohnen durchaus hilfreich wären, ist für jeden nachvollziehbar und verständlich. Zuletzt hat der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien gezeigt, wie schlecht Heeresverbände schon jetzt ohne Flugabwehr, hier insbesondere gegen Drohnen, und ohne eigene bewaffnete Drohnen dastehen. Endlose, akademisch geführte Diskussionen zur Ethik einer Bewaffnung von Drohnen sind realitätsfern und gehen zulasten unserer Soldaten. Abschließend zu diesem Bericht: Es fehlen mir hier die warnenden Worte, was die Zukunft unserer Streitkräfte angeht. Im Rahmen der absehbaren wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns und der damit einhergehenden Kürzungen der Haushaltsmittel hätte ich mir ein klares Statement gewünscht, dass die so dringend notwendigen Beschaffungsmaßnahmen trotzdem durchgeführt werden müssen. Und da, wo das nicht geht, müssen wir uns ehrlich machen und das zugeben. Lieber ein Ende ohne Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! ({2}) Frau Ministerin, werden Sie bitte endlich der Ihnen übertragenen Verantwortung gerecht, setzen Sie sich im Kabinett durch, und stellen Sie unsere Streitkräfte für die Landes- und Bündnisverteidigung funktionsfähig und schlagkräftig auf. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Elsner von Gronow. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! Sehr geehrte Frau Dr. Högl! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist keine Armee des Bundespräsidenten, sie ist auch keine Armee der Bundesregierung, auch wenn das im BMVg einige Herren gern so sehen würden. Sie ist eine Parlamentsarmee. ({0}) Wir alle tragen Verantwortung für unsere Streitkräfte und insbesondere für deren verfassungsmäßige Verortung. Egal ob Polizei oder Bundeswehr – niemandem in unserem Land darf die Möglichkeit gegeben werden, sich mit Waffengewalt den Weg in eine Diktatur freizuschießen. Ein solches Szenarium ist so abwegig nicht, wie es die Waffenfunde bei einigen KSK-Soldaten gezeigt haben. ({1}) In der jüngeren Geschichte haben immer wieder extremistische Strömungen die Streitkräfte ihres jeweiligen Landes infiltriert, um damit ihre antidemokratischen Vorstellungen gewaltsam umzusetzen. So begünstigte der vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert sicherlich in bester Absicht geschlossene Pakt mit dem rechtsnationalen General Wilhelm Groener die politische Entfremdung zwischen den Streitkräften und den Verfassungsorganen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne. Bitte.

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Wir sitzen ja eigentlich immer beide zusammen im Ausschuss. Deswegen wundere ich mich ein bisschen. Wir haben jetzt hier die Gelegenheit, über den Bericht der Wehrbeauftragten zu reden. Was Ihnen als Erstes einfällt, sind KSK-Soldaten, die irgendwie eine Diktatur errichten wollen oder so. ({0}) Sie reden hier von Waffenfunden bei mehreren KSK-Soldaten, die das nahelegen würden. Der eine Fall ist uns allen bekannt, er ging auch durch die Medien. Was sind das sonst noch für KSK-Soldaten, bei denen es Waffenfunde gab und bei denen Sie Gründe haben für den Verdacht, dass sie sich den Weg in eine Diktatur freischießen wollen? Ich halte das für völligen Irrsinn. Ich halte das für eine Verunglimpfung des gesamten Verbandes. Aber Sie können sich ja mal dazu erklären. ({1})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, es liegt mir fern, einen Generalverdacht gegenüber dem KSK zu äußern. Frau Dr. Högl hat schon darauf aufmerksam gemacht, dass es im KSK tatsächlich eine breite Unterstützung für die demokratische Verfasstheit in diesem Lande gibt. Nichtsdestotrotz: Wozu muss ein Soldat zu Hause Waffen lagern? Sie müssen diese Frage mal beantworten, weil es doch viele Vorfälle dieser Art gegeben hat. Umso wichtiger ist, dass man an dieser Stelle wachsam ist. ({0}) Zurück zum Thema der Weimarer Republik: General Feldmarschall von Hindenburg konnte öffentlich für die Reichswehr beanspruchen, gleichberechtigt mit dem Parlament zu sein. Die Reichswehr verstand sich also nicht als Parlamentsarmee, sondern sie verstand sich als unabhängiges Verfassungsorgan. In der Konsequenz dieser illoyalen Grundhaltung gegenüber der jungen Republik stand die Reichswehr beim Kapp-Putsch 1920 auf der falschen, nämlich auf der nichtdemokratischen Seite. Nun noch mal zu Ihnen, Herr Kollege: Eine breite extremistische Unterwanderung der Bundeswehr gibt es nicht. Trotzdem müssen wir allen Einzelfällen nachgehen. Ich danke der Verteidigungsministerin, dass sie dem Extremismus, welcher Form auch immer, den Kampf angesagt hat, auch wenn es bei der Informationspolitik sicherlich noch Luft nach oben gibt. Sehr geehrte Damen und Herren, neben disziplinarischer Verfolgung solcher Vergehen geht es auch um Innere Führung. Und ganz oben auf der Agenda der Inneren Führung sollte politische Bildung stehen – allerdings nicht, wie ich sie in der NVA schmerzhaft erlebt habe, als Politunterricht –, hierbei geht es nicht um Indoktrination, sondern um Wissensvermittlung und erlebte Pluralität in dem weitgespannten Rahmen des im Grundgesetz formulierten Wertekanons. ({1}) Hierzu sollte die Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung intensiviert werden. Dabei stellt sich die Frage, ob politische Bildung bei bereits weitgehend sozialisierten jungen Menschen – die kommen ja schon irgendwo her – tatsächlich noch Wirkung zeigen kann. Das sollte im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr intensiv untersucht werden. Meine Damen und Herren, auch im jüngsten Bericht der Wehrbeauftragten wurde die geplante neue zentrale Dienstvorschrift für ethische Bildung in der Bundeswehr kritisch bewertet. Dieser Bildungsauftrag – das ist jedenfalls meine Meinung – sollte nicht den Disziplinarvorgesetzten übertragen werden. Warum greift das Verteidigungsministerium nicht auf die vorhandenen Seelsorgerinnen und Seelsorger zurück? Sie sind militärisch und ethisch geschult. Sie könnten auch als Ansprechpartner für konfessionslose Soldatinnen und Soldaten dienen. Ich denke, dieses Maß eines von der Bundeswehrhierarchie unabhängigen Gedankenaustausches über Fragen von Ethik und Moral sollten plural aufgestellte Streitkräfte wohl doch ertragen können, Frau Ministerin. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Ende darf ich allen Soldatinnen und Soldaten danken, die in der Landesverteidigung und in internationalen Einsätzen tätig sind, insbesondere bei der Pandemiebekämpfung. Das war eine großartige Unterstützung der Zivilbevölkerung. Ich darf auch sehr herzlich Frau Dr. Högl und ihrem Team für ihre sehr gute Arbeit danken. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brecht. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Frau Wehrbeauftragte, in Ihrem ersten Bericht haben Sie den Schwerpunkt auf den Einsatz der Bundeswehr in der Coronapandemie gelegt. Die Soldatinnen und Soldaten haben die Kommunen wirklich enorm unterstützt, und dafür danken wir ihnen auch von Herzen. Aber klar ist – und das sage ich Ihnen auch als Ratsfrau der Landeshauptstadt Düsseldorf –, dass die Aufgabe der Soldatinnen und Soldaten nicht ist, unbesetzte Stellen in Rathäusern und Gesundheitsämtern zu kompensieren. ({0}) Der primäre Auftrag, meine Damen und Herren, besteht in der Landes- und Bündnisverteidigung. Um das zu gewährleisten, muss der Grundbetrieb in den Kasernen sichergestellt sein. ({1}) All denjenigen hier im Haus, die dem Einsatz der Bundeswehr im Innern das Wort reden, sage ich: Das Grundgesetz ist da eineindeutig. ({2}) Die Pandemie offenbart aber auch, wie starr die Strukturen im Innern der Bundeswehr sind: Beförderungen vertagt, Weiterbeschäftigung aufgeschoben, die Truppe nachvollziehbar sauer; digitale Alternativen wären auch in der Bundeswehr dringend erforderlich. Das wird ja auch von der Wehrbeauftragten zu Recht kritisiert. Umso erstaunter, liebe Frau Högl, war ich, dass Sie im Zusammenhang mit dem Papier „Gedanken zur Bundeswehr der Zukunft“, bevor Sie Details kannten, die ersten Reformvorschläge der Ministerin reflexartig abgelehnt haben. Damit haben Sie leider viele Soldatinnen und Soldaten unnötig verunsichert. Ja, die Kommunikation über diese Reform war und ist unterirdisch, der Zeitpunkt ausgesprochen rätselhaft. Damit verbunden ist natürlich auch die Frage an die Ministerin: Warum erst jetzt? Die Präambel, Frau Ministerin, dieses Papiers entspricht wortgenau Ihrer Rede, die Sie bei Ihrer Amtseinführung vor zwei Jahren gehalten haben. Sie hätten also vor zwei Jahren schon mal loslegen können. Der Umbau der Streitkräfte, um ihre Effizienz zu erhöhen, ohne ihre Fähigkeiten zu schmälern, darf nicht zu einer Bewerbungsrede für eine weitere Amtszeit verkommen. Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten haben weitreichende Vorschläge für eine Umstrukturierung der Bundeswehr in dieser Legislatur vorgelegt. Einige davon – die hohe Reaktionsfähigkeit sowie die Verschlankung des Apparates – haben Sie aufgegriffen, Frau Ministerin. Jetzt fehlt noch das Fleisch am Knochen. Es reicht nicht, kurz vor der Wahl nur den Mund zu spitzen, sondern jetzt muss auch gepfiffen werden. ({3}) Über Details – das sage ich an dieser Stelle auch – werden wir konstruktiv diskutieren. Die Bundeswehr muss so aufgestellt und finanziert werden, dass sie ihren Auftrag erfüllen kann. Frau Wehrbeauftragte, Sie sollten diesen Prozess mit Leidenschaft und Optimismus begleiten; denn straffe Strukturen dienen genauso der Einsatzbereitschaft wie eine moderne Ausstattung. Und Sie haben es gerade gesagt: Unbesetzte Stellen haben auch etwas damit zu tun. Eines ist klar: Einsatzbereitschaft heißt Attraktivität. Wenn wir junge Menschen für die Bundeswehr gewinnen wollen, dann muss sie deutlich attraktiver werden. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Strack-Zimmermann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Eva Högl! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wehrbeauftragten! Mein Damen und Herren! Wir beraten heute über den Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr 2020. Zu dem Problem des Rechtsextremismus in der Bundeswehr: Frau Högl, Sie beschreiben ein Rekordmeldeaufkommen. Sie benennen das Problem rechtsextremer Strukturen in der Bundeswehr und im KSK im Speziellen, und Sie legen den Finger in die Wunde. Das ist gut so. ({0}) Allerdings verkennen Sie in Ihrer abschließenden Einschätzung, dass ein Neustart des KSK im Sommer 2021 – Zitat – „realistisch“ sei, die Probleme bei der Aufarbeitung. Nach drei Sondersitzungen im Verteidigungsausschuss und vielen offenen Fragen sage ich klipp und klar: Es kann nicht sein, dass wir der Bundesregierung jede neue Info aus der Nase ziehen müssen. Um die Beantwortung einer entscheidenden Frage drückt man sich in der Bundesregierung nämlich herum: Wie sind die extremen Rechten in der Bundeswehr mit denen außerhalb der Bundeswehr vernetzt? Diese Frage zu beantworten, wäre entscheidend. ({1}) Ein selbstherrlicher Umgang mit Munition, eine Munitionsamnestie durch den Kommandeur, freihändige Vergaben in Millionenhöhe: Das – Zitat – „falsche Selbstverständnis“ des KSK, von dem auch die Ministerin spricht, kommt nicht von ungefähr. Das KSK ist eine geheime Elitetruppe. Ein elitäres Verständnis und Geheimhaltung gehören zum Auftrag. Deswegen kann es unserer Meinung nach nur eine Lösung geben: Das KSK muss aufgelöst werden. ({2}) Der Bericht zeigt auch: Die Coronapandemie hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Soldatinnen und Soldaten, und es ist nicht alles rund gelaufen. Bei einer Unterrichtung erzählten uns vor wenigen Wochen Soldaten, die in Mali eingesetzt sind, dass Impfungen im deutschen Einsatzkontingent nur sehr schleppend vorangegangen sind. Das ist fahrlässig und im Zweifel lebensgefährlich. ({3}) Frau Högl, Sie sagen im Bericht, Sie hoffen, dass die Unterstützung durch die Truppe in der Coronapandemie – Zitat – „nicht nur ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft erhöht hat, sondern auch die Wertschätzung und die Anerkennung für ihren wertvollen Dienst“. Um es klarzustellen: Wir danken allen, die unermüdlichen Einsatz im Kampf gegen das Coronavirus geleistet haben und leisten. Aber das Problem ist ein anderes: Die Coronapandemie offenbart, wie kaputtgespart die zivilen Strukturen der Nothilfe und des Gesundheitssystems sind. ({4}) Die Bundeswehr springt in diese Lücke und präsentiert sich als Helfer in der Not. Als Linke sagen wir ganz eindeutig: Wir lehnen es ab, wenn solche Einsätze zur Sichtbarmachung der Bundeswehr in der Gesellschaft und zur Imagepflege genutzt werden sollen. ({5}) Frau Högl, Sie bemängeln in Ihrem Bericht, dass die Drohnendebatte nicht mit einem Ja zur Kampfdrohnenbeschaffung beendet wurde. Ich bitte Sie: Hören Sie auf, für diese Offensivwaffe zu werben! ({6}) Kampfdrohnen eskalieren Kriege und sind ein Schritt in Richtung der Automatisierung der Kriegsführung. Diese Entwicklung muss gestoppt werden! ({7}) Nur eine konsequente Abrüstung und ein Ende der Auslandseinsätze bedeutet Schutz für Soldatinnen und Soldaten. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Auch das ist eine Lehre aus dem Desaster von Afghanistan. Dafür werden wir als Linke weiterhin kämpfen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, wir danken für Ihren Jahresbericht. Sie haben das Thema „Bekämpfung der Coronapandemie“ als einen der Schwerpunkte vorgestellt. Auch ich will für meine Fraktion sagen: Ja, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten bei der Bekämpfung der Pandemie nicht nur in Deutschland – wenn wir beispielsweise dieser Tage nach Indien blicken – Außerordentliches. ({0}) Diese Leistung macht zweierlei deutlich: All diejenigen, die immer wieder davon gesprochen haben, man müsste sich bei dem Thema „Bundeswehr im Inland“ lockermachen und unideologisch und pragmatisch werden, sind in den letzten Monaten Lügen gestraft worden. Die Vorkehrungen, die durch unser Grundgesetz in Artikel 35 Absatz 1 für die Amtshilfe vorgesehen sind, sind ausreichend und funktionieren. Auch das ist in den letzten Monaten unter Beweis gestellt worden. ({1}) Es ist aber auch noch eine zweite Sache, glaube ich, sehr deutlich geworden: Was die Bundeswehr hier leistet, das kann immer nur der Ausnahmefall sein; das kann nicht der Regelfall sein. Wir können unser öffentliches Gesundheitswesen nicht darauf abstützen, dass wir im Zweifel darauf vertrauen, dass die Bundeswehr hilft. Wir müssen nach dieser Pandemie Lehren daraus ziehen. Diese Lehren müssen lauten: Wir müssen die öffentliche Krisenvorsorge im Inland stärken. Die Bundeswehr kann nicht der Dauernotnagel an dieser Stelle sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Frau Högl, Sie sind neu in Ihrem Amt – Sie sind seit einem Jahr Wehrbeauftragte –, und das ist ein neuer Bericht. Aber wenn man ihn genau liest, dann sieht man natürlich: Die alten Probleme finden sich wieder – Sie haben es angesprochen –: Personal, Infrastruktur, Material. – Frau Ministerin, Sie haben in Ihrem Beitrag zugegeben: Ja, das sind altbekannte Probleme. Deswegen verwundert es, warum Sie erst jetzt, fünf Monate vor einer Bundestagswahl, nach fast zwei Jahren im Amt, mit diesen Eckpunkten um die Ecke kommen. Die Tatsache, dass unser Beschaffungswesen nicht funktioniert, die Tatsache, dass die Zentralisierung der Nutzungsverantwortung im BAAINBw nicht dazu geführt hat, dass mehr Panzer funktionieren, dass mehr Schiffe fahren oder dass mehr Hubschrauber fliegen, die Tatsache, dass dieses Parlament Jahr für Jahr immense Summen für die Modernisierung der Gebäudeinfrastruktur zur Verfügung stellt, aber die Mittel dann entweder nicht abfließen oder es immer noch hapert – diese Tatsachen sind doch keine neuen Tatsachen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich will klar und deutlich sagen: Es ist okay, dass Sie prüfen. Ich erwarte eigentlich von einem Ministerium, dass es Überprüfungen, ob Strukturen passend und noch zeitgemäß sind, als Daueraufgabe ansieht. Aber klar ist auch: Eine künftige Bundesregierung und ein Deutscher Bundestag in der nächsten Legislaturperiode werden an diese Probleme endlich herangehen müssen. Da reicht es einfach nicht, wie es jetzt in acht Jahren Großer Koalition geschehen ist, mehr Geld und immer mehr Geld obendrauf zu werfen. Geld allein macht weder glücklich, noch löst es die Probleme, die wir in der Truppe haben. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindner. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Der vorliegende Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr 2020 zeichnet das Bild einer Bundeswehr, die unter großem Druck steht. In der Coronapandemie haben die Frauen und Männer der Bundeswehr ihre große Bedeutung für unser Land und seine Bürger abermals unter Beweis gestellt. Der erfolgreiche Einsatz in den Gesundheitsämtern, wie bei mir in der Südwestpfalz, aber auch die Unterstützung Schwererkrankter aus anderen Staaten sind Beispiele dafür. Dafür möchte ich der Bundeswehr im Namen von uns allen meinen großen Dank ausdrücken. ({0}) Aber auch in ihren regulären Verpflichtungen wie den Auslandseinsätzen ist und bleibt die Bundeswehr gefordert. Der größte und wichtigste davon, Resolute Support in Afghanistan, wird noch im Jahr 2021 beendet. Die Bundeswehr hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Land zu stabilisieren. So konnten beispielsweise in den Bereichen Gesundheitsvorsorge, Infrastruktur und Frauenrechte echte Fortschritte gemacht werden. Ich appelliere an die internationale Staatengemeinschaft, Afghanistan nicht aus dem Blick zu verlieren, damit das, was wir gemeinsam mit Afghanen in den vergangenen Jahren unter großen Opfern aufbauen konnten, nicht in kürzester Zeit wieder eingerissen wird. Sehr geehrte Damen und Herren, der Druck auf die Bundeswehr zeigt sich aber auch darin, dass im Jahr 2020 noch immer Mängel beim Material die Truppe belasten. Das ist auch für uns trotz großer Fortschritte beim Verteidigungsetat unbefriedigend. Die Wehrbeauftragte hat also recht, wenn sie fordert: Wir müssen die Bundeswehr gut ausstatten und gut ausrüsten. – CDU und CSU haben sich in den vergangenen Jahren erfolgreich dafür eingesetzt, den Verteidigungshaushalt robust zu steigern, um so Defizite bei Material und Ausstattung abzubauen. Die NATO-Quote könnte allerdings trotzdem bis 2024 auf 1,24 Prozent absinken und somit jeden Kampf um Glaubwürdigkeit im Bündnis torpedieren. Besonders die deutsche Beteiligung unter der VJTF 2023 sehe ich hier als kritische Wegmarke, zu der das benötigte Gerät wie der Puma auf technisch modernem Stand verfügbar sein muss. Die Bundeswehr muss nicht nur bei Personal und Material, sondern auch von innen und außen gestärkt werden. Daher möchte ich deutlich betonen, dass wir die Vorfälle im Kommando Spezialkräfte sehr ernst nehmen. Wir sind fest entschlossen, die verschiedenen Ereignisse im KSK, wie etwa die verschwundene Munition, aufzuklären und die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Die Mitglieder des KSK verfügen über herausragende Fähigkeiten, die sie im Dienst für unser Land einsetzen. Darum muss das KSK umstrukturiert werden, aber erhalten bleiben. Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, ich hatte es eingangs bereits angesprochen: Ihr erstes Berichtsjahr ist ein besonderes. Für die Frauen und Männer der Bundeswehr war es ebenso wie für die Gesellschaft insgesamt mit großen Herausforderungen verbunden. Ich möchte daher sowohl Ihren Mitarbeitern im Amt der Wehrbeauftragten als auch Ihnen für die Arbeit danken. Einen besonderen Dank möchte ich aber den Soldaten und ihren Familien aussprechen, die unter Pandemiebedingungen neue Lasten tragen. Trotz dieser Lasten finden sie jeden Tag aufs Neue die Kraft, sich für unser Land und uns alle einzusetzen, für Frieden, Freiheit und Sicherheit. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schäfer. – Wenn Sie daran denken würden, die Maske nicht in der Hand, sondern im Gesicht zu tragen, wäre ich Ihnen äußerst verbunden. – Ich habe Sie nur freundlich erinnert; mehr ist bisher nicht geschehen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Siemtje Möller, SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Wehrbeauftragte! Die Aussprache zum Bericht der Wehrbeauftragten ist ja immer auch eine Gelegenheit zur allgemeinen Debatte. Zwei Punkte möchte ich deshalb hier unterstreichen: Erstens. Wir als SPD-Fraktion haben keinen Zweifel daran, dass die Angehörigen der Bundeswehr in der Regel und in der übergroßen Mehrheit fest – ich betone: fest – auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und ihren auf die Bundesrepublik geschworenen Eid treu und jeden Tag erfüllen. ({0}) Wir haben auch keinen Zweifel daran, dass dieser Grundsatz für alle Teile der Bundeswehr gilt, also genauso auch für das Kommando Spezialkräfte. Allerdings muss man hier auch genauso klar sagen, dass sich in Teilen des Kommandos Spezialkräfte ein ungesundes Selbstverständnis und ein falscher Korpsgeist entwickeln konnten, dem mit aller Schärfe und mit allem Nachdruck begegnet werden muss. Zugleich mussten wir im Parlament zur Kenntnis nehmen, dass die Mängel in der Materialbewirtschaftung und die daraus resultierenden möglichen strafrechtlichen Verstöße auf KSK-eigene Art und Weise geregelt werden sollten. Eine vom Kommandeur angeordnete anonyme Sammelaktion sollte das Ausmaß der unrechtmäßig verwahrten Munition ans Tageslicht bringen. Aber alles menschliche Verständnis für diesen Ansatz darf uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass eine Strafverfolgung damit unmöglich wurde. Führung heißt immer auch, Verantwortung tragen für Entscheidungen. Das gilt für den Kommandeur, und das gilt genauso für die Leitungsebene des Ministeriums. Die Fragen lauten: Wie kann so etwas eigentlich nicht auffallen? Wer wusste wann was und hat diese Informationen aus welchen Gründen nicht weitergegeben? Wer sollte hier eigentlich geschützt werden und vor allen Dingen warum? – Diese Fragen haben wir in stundenlangen Sondersitzungen auch der Ministerin gestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Kramp-Karrenbauer lässt sich nur zitieren mit: Man könnte nicht nachweisen, dass sie gelogen habe. Wenn das nun der neue Maßstab von Führung und Verantwortung ist, dann sehe ich schwarz. ({1}) Zweitens. Dass wir als Bundestag ein besonderes Fürsorgeverhältnis zur Bundeswehr haben, ist dem Grundverständnis von Parlamentsarmee innewohnend. Auf dieses besondere Verhältnis zwischen Bundestag und Bundeswehr ist zurückzuführen, dass wir eine Wehrbeauftragte des Bundestages haben. Es ist der Bundestag, der die Bundeswehr aufstellt und ausrüstet. Es ist der Bundestag, der die Bundeswehr in internationale Einsätze entsendet. Und es ist der Bundestag, der sich mit Hingabe in vielen Sitzungsstunden in Verwaltungsvorgänge und Beschaffungsvorhaben einarbeitet. Es ist am Ende der Bundestag, der laut Artikel 87a des Grundgesetzes Streitkräfte zur Verteidigung aufstellt und die Grundzüge der Organisation über den Haushaltsplan festlegt. Das heißt Parlamentsarmee. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir momentan zur Kenntnis nehmen müssen, wenn es um die Reformpläne zur Umstrukturierung der Bundeswehr geht. Diese ungenügende Kommunikation seitens der Leitungsebene streut unnötig und viel Sand ins Getriebe. Sie erweckt zudem den Anschein, dass es hier weniger um Wohl und Wehe der Bundeswehr geht als um persönliche Interessen im Wahlkampf. Ich finde, das ist unserer Parlamentsarmee nicht angemessen. Die Bundeswehr, sie ist es wert, dass sie nicht zum Gegenstand des Wahlkampfes wird, dass sie nicht instrumentalisiert wird. ({2}) Sie ist es wert, dass sie unser aller Einrichtung, eine Parlamentsarmee bleibt. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Möller. – Letzter Redner in dieser Debatte ist erneut der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erneut ein herzliches Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt seit zwölf Jahren hier im Bundestag und darf im Verteidigungsausschuss sein, im Übrigen zusammen mit meinem guten Kollegen Ingo Gädechens. Ich habe vier verschiedene Wehrbeauftragte kennengelernt und erleben dürfen. Heute debattieren wir den ersten Bericht der, ja, eigentlich nicht mehr neuen Wehrbeauftragten. Liebe Frau Högl, ich finde, man kann schon sagen, die Feuerpause – „Feuerpause“ habe ich gesagt, „Feuerprobe“ wollte ich sagen –, die haben Sie ganz gut bestanden. ({0}) Viele Themen, die auch in diesem Bericht abgebildet sind, begleiten mich seit zwölf Jahren, allen voran natürlich Afghanistan. Bis heute haben sich über 158 000 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan für den dortigen Frieden und für unsere Sicherheit in Europa eingesetzt, und zwar, wie ich glaube, mit wesentlich mehr Erfolg, als wir das gemeinhin wahrnehmen. Diesen Männern und Frauen in Uniform kann man gar nicht genug danken. Das Ende des Einsatzes bedeutet jedoch auch, dass Bilanz gezogen werden muss und wir aus den vielfältigen, oft bitteren und tragischen Erfahrungen für die Zukunft der Bundeswehr, aber auch für unser zukünftiges Handeln lernen müssen. Jetzt gilt es aber, den Abzug erst einmal sicher für unsere Soldatinnen und Soldaten zu Ende zu bringen. Ein weiteres Thema, das in diesen Berichten immer wieder debattiert und akzentuiert wird, ist natürlich das Thema Material, gerade im Hinblick auf eine Armee, die im Einsatz ist. Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Unsere Einsätze haben sich in den vergangenen 20 Jahren mehrfach verändert, auch die Ausrüstung hat sich angepasst. Wir haben als Bundestag immer versucht, trotz knapper Mittel und knappen Materials für die Truppe insgesamt unsere Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen besonders gut auszurüsten, außerdem auch die Versorgung vor Ort immer wieder zu verbessern. Sie sagen es ganz richtig, Frau Wehrbeauftragte: Es ist unsere Pflicht als Parlament, unsere Soldatinnen und Soldaten bestens auszustatten für die Einsätze, in die wir sie selbst schicken. Deswegen ist es eine unrühmliche Ausnahme, dass uns das an einer Stelle nicht gelungen ist; das muss man hier schon erwähnen. Bis heute wartet die Truppe auf bewaffnete Drohnen. Es ist sehr gut, dass Sie, Frau Wehrbeauftragte, sich klar für bewaffnete Drohnen in diesem Bericht aussprechen. Aber leider scheitert dieses wichtige Beschaffungsprojekt an den ideologischen Scheuklappen Ihrer Partei, der SPD. Das geht zulasten der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten. ({1}) Das müssen Sie von der SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, verantworten. Da hilft es nichts, zu versuchen, das durch die völlig überzogene Diskussion über das KSK in mehreren Sitzungen des Verteidigungsausschusses zu verschleiern. Wir müssen unsere Soldatinnen und Soldaten auch in Zukunft richtig ausstatten. Das ist mein Wunsch, auch für die nächste Legislatur. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({2})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsch-russischen Beziehungen sind an einem Tiefpunkt angelangt. Das ist fatal, und damit dürfen wir uns einfach nicht abfinden. ({0}) Dieser Tiefpunkt der deutsch-russischen Beziehungen ist insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und zweier Weltkriege im letzten Jahrhundert, die beide von Deutschland ausgingen, besonders beschämend. In wenigen Wochen jährt sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Erinnern wir uns: In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 startete Nazideutschland mit dem Unternehmen „Barbarossa“ den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Sowjetunion. In einem Blitzkrieg sollte die deutsche Wehrmacht das sowjetische Territorium bis zum Ural erobern und auf Dauer besetzen. Der Feldzug wurde vom ersten Tag an auch mit Mitteln barbarischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung geführt. Eines der größten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Krieges war die Blockade der Metropole Leningrad vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. In den Jahren der Hungerblockade starben dort Schätzungen zufolge über 1 Million Menschen. Die deutsche Kriegsplanung sah auch aus „rassenideologischen“ Gründen für die Sowjetunion ausdrücklich vor, dass die Bevölkerung um 30 bis 50 Millionen Menschen – Zitat – „reduziert“ werden sollte. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion gingen die Nazis zur systematischen Ermordung der Jüdinnen und Juden in Europa über. Insgesamt wurden infolge von Krieg und deutscher Besatzung 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger aller Nationalitäten der Sowjetunion getötet. 30 Prozent des von deutschen Soldaten okkupierten Territoriums waren nach der Befreiung durch die Einheiten der Roten Armee zunächst unbewohnbar. Zerstört wurden 1 710 Städte, 70 000 Dörfer, 32 000 Fabriken, 2 766 Kirchen und Klöster, 4 000 Bibliotheken und 427 Museen. Wir jedenfalls verneigen uns in Demut vor den Opfern und ihren Angehörigen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sollten diesen Jahrestag zum Anlass nehmen, um wie mit Frankreich eine Aussöhnung auch mit Russland auf den Weg zu bringen und einen Freundschaftsvertrag mit Russland zu vereinbaren. Die Bundesregierung und auch der Bundestag haben hierfür eine historische Verantwortung. Es wäre vermessen und unangebracht, dieser Verantwortung mit dem Argument tagespolitischer Differenzen auszuweichen. So hat die Bundesregierung 1963 nicht gegenüber General Charles de Gaulle im Falle Frankreichs argumentiert, und so sollte die Bundesregierung heute auch nicht im Falle Russland argumentieren. ({2}) In Deutschland gibt es in Teilen Anfeindungen und Hass gegenüber Russland und gegenüber seiner Bevölkerung. Dies muss schon im Interesse der Sicherung des Friedens überwunden werden. Am 9. November 1990 wurde der Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR unterzeichnet, den der Deutsche Bundestag am 25. April 1991 ratifiziert hat. Rechtsnachfolger der Sowjetunion ist die Russische Föderation. Dieser Vertrag sollte und müsste jetzt wiederbelebt werden. Das Ziel muss Freundschaft sein, Freundschaft mit Russland, meine Damen und Herren. ({3}) Die Linke will, dass dieser 80. Jahrestag nun zum Anlass genommen wird, Verhandlungen über einen deutsch-russischen Vertrag mit dem Ziel aufzunehmen, Versöhnung und Freundschaft zwischen Deutschland und Russland zu erreichen und zu verstetigen. Ich hoffe, dass die anderen Fraktionen und die Bundesregierung sich diesem Ansinnen nicht komplett verweigern. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren zu erinnern, ist erst mal richtig; da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Dağdelen. Wir werden darüber auch noch am 22. Juni reden; das ist der eigentliche Gedenktag. Sie haben das alles richtig beschrieben. Angriffskriege sind damals wie heute unverantwortlich und grausam. Niemals darf auf dem Rücken von Soldaten und der Zivilgesellschaft ein Angriffskrieg zur Durchsetzung von politischen Zielen geführt werden. ({0}) – Ja. Krieg darf niemals ein Mittel der Politik sein. So weit bin ich dabei. ({1}) Die Linken verbinden in ihrem Antrag die Erinnerung an den Überfall vor 80 Jahren allerdings mit unsäglichen Forderungen nach einer neuen Russlandpolitik, die angeblich im Zeichen von Entspannung und Abrüstung stehen soll. Die Linken behaupten – Sie haben es eben wiederholt – in ihrem Antrag – Zitat –: „In Deutschland gab und gibt es Ablehnungen bis hin zum Hass gegenüber Russland und seiner Bevölkerung.“ Das ist komplett falsch! ({2}) Wir lehnen die Politik Putins, seine Expansionspolitik, ab. Aber es gibt keinen Hass auf Russland und seine Bevölkerung. Weiterhin fordern Sie eine – Zitat – „Abkehr von militärischer Konfrontation, Eskalation und Aufrüstung“. Nehmen wir mal die drei Begriffe: Militärische Konfrontation geht von Putin aus – nicht von uns. ({3}) Eskalation geht von Putin aus – nicht von uns. Zum Thema Aufrüstung: Russlands akute Aufrüstung in der Arktis besorgt nicht nur Dänemark. Wirksame Waffenruhe in der Ostukraine gibt es bis heute nicht. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim: Ein offensichtlicher Rechtsbruch! Ich hoffe, wir sind uns auch darin einig. Regelmäßige Militärmanöver im ukrainischen Grenzgebiet versetzen die Ukraine in Angst und Schrecken, übrigens auch die baltischen Staaten und andere.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Motschmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel, AfD-Fraktion?

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, im Augenblick nicht. – Angesichts dieser Realitäten behaupten die Linken, dass eine Abkehr vom 2-Prozent-Ziel der Nato zur Entspannung beitragen würde. – Das Gegenteil wäre der Fall. Von Entspannungspolitik kann doch keine Rede sein. Durch eine einseitige Abrüstung wird man das nicht erreichen. ({0}) Nur mit einem starken NATO-Bündnis lässt sich überhaupt mit Putin auf Augenhöhe verhandeln, nicht aus der Schwäche heraus. Deshalb plädiert meine Fraktion ausdrücklich für das Erreichen des 2-Prozent-Ziels. Als Berichterstatterin für die baltischen Länder kann ich Ihnen versichern: Lettland, Litauen, Estland bauen auf den militärischen Schutz und Beistand der NATO im Ernstfall, was die Ukraine nicht kann. Der Antrag der Linken ist eine einzige Verharmlosung von russischen Aggressionen. Wir sind hier, um der Opfer des Überfalls zu gedenken, aber nicht, um Putins Politik zu legitimieren oder zu romantisieren. Ja, wir sind uns unserer historischen Schuld bewusst, und wir dürfen das nicht in Vergessenheit geraten lassen. Wir müssen aber dafür sorgen – damit komme ich wieder zu Ihnen zurück –, dass alle Gesprächskanäle offen bleiben. Wir müssen den Dialog pflegen, aber mehr im Sinne von Winston Churchill, der das sehr drastisch und treffend formuliert hat: „Besser einander beschimpfen als einander beschießen.“ ({1}) Wir lehnen Ihren Antrag ab. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. – Die AfD-Fraktion hat für den Kollegen Hampel um eine Kurzintervention gebeten, die ich zulasse. Herr Hampel, Sie haben das Wort.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Motschmann, Sie haben das gerade sehr ausführlich ausgeführt: Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges darf auch heute kein Ziel der Politik sein. Wie interpretieren Sie dann das Eingreifen in Jugoslawien, das ja die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln ist, um mit Clausewitz zu sprechen? – Nummer eins. Nummer zwei. Ich kann Ihnen sagen, ich war damals als Journalist bei vielen Gesprächen und Treffen dabei, unter anderem mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau und im Kaukasus, in Stawropol und Mineralnyje Wody. Ich kann Ihnen versichern, dass genau das damals ein Thema war, nämlich dass die Ausbreitung der NATO nach Osten überhaupt kein Thema war. Das stand noch nicht einmal auf der Tagesordnung, und wir haben uns damals darüber unterhalten, ob denn die Territorien der ehemaligen DDR von NATO-Truppen besetzt sein dürfen oder nicht. Sie dürfen es übrigens bis heute nicht. Last, but not least nehmen Sie bitte zur Kenntnis – das lief gestern im ZDF: ein Bericht über die russischen Aktivitäten, auch militärischen, in der Arktis –, dass die Amerikaner schon längst ein neues – und damit, glaube ich, siebtes – Command in der Welt, das sogenannte Arctic Command, eingerichtet haben. Sie sind also auch in der Arktis militärisch sehr viel früher und sehr viel stärker aktiv als die Russen. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Motschmann, Sie haben die Gelegenheit zur Antwort. Sie müssen das nicht, aber Sie können das, wenn Sie wollen. – Sie dürfen jedenfalls; ob Sie es können, weiß ich auch nicht.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich reden darf. – Ich rede ja gerne, aber ich rede ungerne mit der AfD. Das, was hier vorgetragen worden ist, wird nicht besser dadurch, dass Sie immer wieder von Neuem das Gleiche vortragen. Ich höre auch immer gerne, Herr Hampel, wo Sie überall vor Ort waren. Da war ich nicht überall vor Ort. ({0}) Aber ich kann Ihnen sagen: Getretener Quark wird selten stark. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit ist die Kurzintervention erledigt. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Alexander Gauland, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss nicht mit jeder Formulierung des Antrags der Linken übereinstimmen, um ihre Intention für richtig zu halten. Deutschland und den Deutschen ging es seit den Tagen Friedrichs des Großen immer dann gut, wenn sie ein gutes Verhältnis zu Russland hatten. Das gilt für die Zeit der Befreiungskriege wie für die Bismarckʼsche Reichseinigung, für den Rapallo-Vertrag wie für die Wiedervereinigung. Hitlers Irrsinn und seine Verbrechen waren auch in diesem Fall ein Abirren von der preußisch-deutschen Tradition. Und da wir mit Russland seit den Tagen Gorbatschows keine geostrategischen Konflikte mehr haben, hätte sich Bismarcks Mahnung, niemals den Draht nach Sankt Petersburg abreißen zu lassen, eigentlich von selbst erfüllen müssen. ({0}) Dass dem nicht so ist, liegt nun keineswegs nur an der russischen Seite. In der alten Bundesrepublik war die Ansicht weit verbreitet, die Zeiten der Geopolitik seien vorbei. Jürgen Habermas hat Geopolitik als „Tamtam“ bezeichnet. Nach den Verheerungen des Dritten Reiches wollten viele Deutsche am liebsten völlig auf Außenpolitik verzichten. Politiker wie Hans-Dietrich Genscher sprachen von „Weltinnenpolitik“. Heute wissen wir, dass das Wunschträume waren. Die Geopolitik ist nie verschwunden; sie war auch nie verschwunden. Wir erleben zurzeit den Aufstieg einer unheimlichen Weltmacht, während der bisherige Hegemon außenpolitischen Einfluss verliert und innenpolitisch von bürgerkriegsähnlichen Konflikten bedroht ist. Zwischen diesen beiden steht die Großmacht Russland, deren Verhalten uns oft ratlos macht. Ja, man kann – oder muss – die Eingliederung der Krim völkerrechtlich einen Rechtsbruch nennen, auch wenn geschichtlich viel für die russische Position spricht. ({1}) Aber wir müssen uns auch fragen, ob die Ausdehnung der NATO – der Kollege Hampel hat es gerade gesagt – bis an die Grenzen Russlands nicht – wie Horst Teltschik, der Verhandlungsführer, überzeugt ist – den ausgesprochenen Intentionen im Rahmen der Wiedervereinigungsverhandlungen widersprach. ({2}) Problematischer noch ist das neue Lagerdenken: hier westlich-demokratisch, dort autoritär. Wir müssen nun einmal damit zurechtkommen, dass sich zwei Weltmächte, China und Russland, dem westlichen Modell verweigern. Doch indem wir die Legitimität dieses Modells für die ganze Welt postulieren, treiben wir Russland trotz seiner europäischen Tradition China in die Arme. Statt Russlands Außenpolitik zu verändern, indem wir seine innere Ordnung nicht zur Diskussion stellen, versuchen wir, diese in unserem Sinne zu korrigieren, was zu weiterer außenpolitischer Verhärtung führt. Dabei macht gerade der Aufstieg Chinas deutlich, dass die westliche Annahme einer notwendigen Liberalisierung bei fortschreitendem wirtschaftlichen Erfolg, wie sie einst der amerikanische Ökonom Galbraith erwartete, eine Fehlspekulation war, die offenbar bei anderen als den westlichen Gesellschaftsmodellen nicht funktioniert. Deshalb, meine Damen und Herren, wäre es sinnvoll und richtig, diese Politik aufzugeben und wieder zur traditionellen Politik der Staatsräson zurückzukehren und Russland nur dort zu attackieren, wo es unsere geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen verletzt. Über die innere Ordnung eines Landes sollen allein die Bürger dieses Landes bestimmen, und das selbst dann, wenn es, wie im Fall Nawalny, unser Rechtsgefühl verletzt. ({3}) Die Staaten und Gesellschaften dieser Welt sind zu unterschiedlich, als dass sie sich über den Kamm des Westminster-Modells scheren ließen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gauland. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland ernsthaft beschäftigt, kommt an den dunklen Seiten unserer Geschichte nicht vorbei. Ich möchte zu Beginn meiner Rede Michail Schwydkoj zitieren, der letzte Woche geschrieben hat: Heutzutage wird leider Gottes immer seltener daran erinnert, dass zwei Völker, die in zwei blutigsten Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gegeneinander gekämpft hatten, die innere Kraft fanden, sich nicht nur politisch, sondern auch menschlich zu versöhnen. Dieser Satz stimmt für so viele Beziehungen Deutschlands mit den Ländern, die unter der deutschen Besatzung in zwei Weltkriegen gelitten haben. Das nationalsozialistische Deutsche Reich hat Europa mit Krieg und Gewalt, mit Not und Elend überzogen. Und zur historischen Wahrheit gehört: Orte nationalsozialistischer Verbrechen wie Chatyn in Belarus, Babyn Jar in der Ukraine, die entsetzliche Hungerblockade von Leningrad haben im deutschen Geschichtsbewusstsein erst spät einen Platz gefunden und sind womöglich noch heute nicht jedem Deutschen ein Begriff. Es ist wichtig, dass wir das Bewusstsein erhalten für das, was der deutsche Staat vor 80 Jahren verbrochen hat. Nie wieder – das muss auch für die kommenden Generationen gelten. ({0}) Deutschland hat mit dem Bekenntnis zur europäischen Einigung eine wichtige Konsequenz aus der eigenen Geschichte gezogen. Die politische Antwort auf den Zweiten Weltkrieg ist gegenüber Russland und der Ukraine die Gleiche wie gegenüber Polen und Frankreich: Wir wollen uns nicht als Feinde sehen. Wir wollen Frieden und Versöhnung in Europa. Der vorliegende Antrag enthält viele wichtige und richtige Aspekte, die kaum jemand von uns infrage stellen wird. Es gibt über Hundert Städtepartnerschaften zwischen deutschen und russischen Städten, Tausende enge Kontakte; ja, auch Tausende Freundschaften sind daraus entstanden. Dies gilt es zu fördern, genauso wie den Schüler- und Jugendaustausch. Dabei ist mir persönlich wichtig, dass wir nicht nur über den Austausch von Studentinnen und Studenten reden. Wir brauchen auch – vielleicht sogar vor allem – den Austausch von jungen Menschen, die vielleicht keine akademische Karriere anstreben, aber mit ihrem Beruf und ihrer Familie in der Mitte ihrer Gesellschaft stehen. ({1}) Internationale Freundschaft und Versöhnung dürfen eben nicht eine Frage des Schulabschlusses sein. ({2}) Wir müssen mehr Begegnungen ermöglichen, gerne durch den Abbau der Visapflicht. Das alles sind wichtige Mittel, um die Versöhnung zwischen den Menschen fortzusetzen. So entstehen Verbindungen und Freundschaften. ({3}) Und erst recht wollen wir gemeinsam mit Russland die Pariser Klimaziele erreichen, angesichts der Jahrzehnte währenden Energiepartnerschaft mit Russland und des Potenzials für erneuerbare Energien, das in diesem riesigen Land vorhanden ist. Vor 30 Jahren trat der Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit in Kraft. Dieser gilt auch heute noch im Verhältnis zu Russland. Darin ist vieles festgehalten, was auch heute noch aktuell ist: dass wir den gesellschaftlichen Austausch fördern, dass wir uns für ein friedliches Europa und die Geltung des Völkerrechts einsetzen sowie die geltenden Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich anerkennen. Im Antrag wird ein neuer Vertrag für die Beziehungen mit Russland vorgeschlagen. Ich meine: Bevor wir die Beziehungen mit Russland in einem neuen Vertrag regeln wollen und dabei feststellen, dass wir uns schon über die Grenzen nicht einig sein werden, sollten wir den bestehenden Vertrag mit Leben füllen. Dieser hat nichts an Aktualität verloren und ist in dem vollen Bewusstsein für die damalige gemeinsame Geschichte verfasst worden. ({4}) Im Februar habe ich einen Kranz am Denkmal für die Opfer der Leningrader Blockade niedergelegt und die beeindruckende Gedenkstätte besucht. Es war bewegend, das Leid der Menschen in der fast drei Jahre dauernden unmenschlichen Blockade in Leningrad zu erahnen. Daniil Granin hat eine unvergessliche Rede dazu am 27. Januar 2014 genau an dieser Stelle gehalten. Es werden viele Reden an diesem Pult gehalten, aber wohl nur ganz wenige davon gehen so ans Herz wie die von Herrn Granin. ({5}) Es gibt noch viele weitere, unzählige unbekannte Orte, die für das Leid von Russinnen und Russen stehen, bis hin zu den vielen Gräbern von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Deutschland. In vielen russischen Familien sind die Geschichten ihrer Vorfahren noch präsent. Dasselbe gilt auch für die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Der grausame Feldzug traf noch vor dem heutigen Russland die Gebiete des heutigen Belarus und der Ukraine und deren Bevölkerung besonders hart. Heute ist es leider nicht möglich, zu einem gemeinsamen Gedenken mit allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu kommen. Deutschland trägt aber eine Verantwortung gegenüber den Menschen in all diesen Staaten. Das Bewusstsein für die Schrecken des Krieges, für das Leiden der Menschen, für die grausamen Schicksale und für die Sinnlosigkeit aller Kriege darf nicht verlorengehen. Man muss erinnern, um nicht zu vergessen. ({6}) Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es nicht nur den Staat. Es braucht vor allen Dingen auch eine aktive Zivilgesellschaft in unseren Ländern, eine Zivilgesellschaft, die auch mal den Finger in die Wunde legt, die aber für eine demokratische Entwicklung eines Landes unverzichtbar ist. ({7}) Und die russische Zivilgesellschaft, die sich kritisch mit der Geschichte befasst, die den Austausch mit der Zivilgesellschaft im Ausland sucht, ob in Deutschland, in Polen oder in der Ukraine, gerät in Russland durch neue Gesetzgebung leider gerade in Gefahr, ein sogenannter ausländischer Agent zu werden. Dabei ist es doch gerade dieser Austausch, der die Lehren der Geschichte für nachfolgende Generationen bewahren muss. ({8}) Unsere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss auf den Frieden in Europa ausgerichtet sein. Dafür ist der Dialog mit Russland unerlässlich und in der heutigen Zeit sogar wichtiger denn je. Bundesaußenminister Heiko Maas hat es gestern in seinem Grußwort zu den Potsdamer Begegnungen gesagt: Keines der Probleme wird durch Schweigen gelöst. Lösungen entstehen nur, indem wir miteinander reden. – Oder auf Platt: Mitnanner prooten is dusend mal mehr wert, as overnanner raargen. Die wichtigste Botschaft am 22. Juni muss sich an die Menschen richten, in Deutschland, Russland, Belarus, der Ukraine und der ganzen früheren Sowjetunion: Wir sind keine Feinde und wollen es nie wieder werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Deutschland und Russland sind heute, 80 Jahre nach dem abscheulichen deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wirtschaftlich und kulturell eng verbunden. Die deutsch-russischen Beziehungen blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, und Stabilität und Sicherheit in Europa sind ohne Russland nicht denkbar. Letzteres haben schon Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle immer gesagt, und daran hat sich bis heute nichts verändert. ({0}) Was sich aber in der Tat verändert hat, ist die Politik Moskaus gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, und es ist darüber hinaus die Rolle Russlands in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft. Bedauerlicherweise setzt der Kreml immer mehr auf Provokation statt Versöhnung, auf Aggression statt konstruktiven Dialog. Man könnte fast meinen, Moskau hat das Interesse an der gemeinsamen Sache verloren. Mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ostukraine hat Präsident Putin erst kürzlich erneut gezeigt, wie wenig er von vertrauensbildenden Maßnahmen hält und wie viel ihm an militärischer Machtdemonstration gelegen ist. ({1}) Gegen westliche Demokratien führt Moskau seit Jahren erbitterte Propaganda- und Desinformationskampagnen. ({2}) Wir haben auch den Einsatz russischer Agenten auf europäischem Boden erlebt. Unsere höchsten Institutionen sind Opfer massiver russischer Cyberangriffe geworden. Wir mussten zusehen, wie unsere höchsten europäischen Vertreter von Putin höchstpersönlich bloßgestellt wurden. ({3}) All das ist fester Bestandteil der heutigen russischen Außenpolitik, meine Damen und Herren. ({4}) Auch unsere direkte Nachbarschaft ist stark von der destruktiven russischen Außenpolitik geprägt. Ob auf der Krim, in Syrien oder Libyen – Russland spielt direkt oder indirekt eine maßgebliche Rolle in den großen Konflikten unserer Zeit. Gleichzeitig hält sich das System Putin auch innenpolitisch mit aller Macht und Gewalt im Sattel. Vier Monate vor den nächsten Dumawahlen beobachten wir, wie mit aller Härte gegen kritische Stimmen vorgegangen wird. So wird der bekannte Oppositionelle Alexej Nawalny seit seiner Rückkehr nach Russland medienwirksam im Straflager festgehalten. Doch er ist bei Weitem nicht der Einzige, der unter massiven Repressalien und Angriffen auf sein Leben leidet. Sein Schicksal teilen all diejenigen, die sich für Veränderung im Land einsetzen, für politische Teilhabe, Freiheit und Menschenrechte ihre Stimmen erheben. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Politik des Kreml macht einen konstruktiven Dialog und eine Zusammenarbeit unglaublich schwer. Das sehen wir auch bei der Debatte um die Gaspipeline Nord Stream 2. Mit Nord Stream 2 hat sich die Bundesregierung außenpolitisch isoliert, die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und der EU ignoriert und den transatlantischen Partner vor den Kopf gestoßen. ({5}) Diesen Fehler, meine Damen und Herren, sollten wir schnellstmöglich in Form eines Moratoriums korrigieren. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Manuel Sarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Linksfraktion diese Debatte angemeldet hat. Und ich möchte ganz am Anfang sagen: Der Herr Gauland hat gesagt, man könne nicht jeden Satz unterschreiben. – Ich kann einen Satz aus eurem Antrag unterschreiben und möchte ihn zitieren: Der Deutsche Bundestag verneigt sich in Demut vor den Opfern und ihren Angehörigen. ({0}) Das möchte ich hier bekräftigen. Ich möchte dann aber auch sagen: Natürlich bin ich versucht, darauf einzusteigen, jetzt hier mit euch über Putin zu streiten oder auch nicht oder über Nawalny oder etwas anderes. Ich würde gerne auch so was sagen wie: „Nie wieder Krieg“ gilt auch für Putin. ({1}) Aber ein echtes Problem ist, dass, wie ich finde, wir wirklich zu wenig Gedenken in Bezug auf die Verbrechen Deutschlands in der Sowjetunion haben. ({2}) Wir haben wirklich weiße Flecken. Wir haben zu wenig Zusammenarbeit bei diesem Thema, sowohl mit dem staatlich-russischen Gedenken als auch mit dem alternativen oppositionellen Gedenken. Leider steht in eurem Antrag kein einziger Satz dazu, dass wir mehr dazu machen müssen. Es steht nicht: Weiße Flecken müssen aufgearbeitet werden. ({3}) Es steht nicht: Wir müssen mehr gedenken. – Mir fehlt das. ({4}) Ihr macht einen Antrag, wo wir uns über Tagespolitik streiten sollen? Ich möchte mit euch gemeinsam darüber sprechen, wie wir mehr über die Geschichte reden können, um sie, anstatt sie zum uns Trennenden zu machen, zum Gemeinsamen zu machen. Das ist mein Problem. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, natürlich.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Bitte, Frau Dağdelen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich stimme ja zu. Wir haben die Bundesregierung gefragt; wir haben eine Kleine Anfrage wegen der Gedenkaktivitäten der Bundesregierung in den ehemaligen Sowjetrepubliken und auch in Deutschland gestellt. Du hast ja gerade von der Sowjetunion gesprochen. Es geht um die ehemaligen Sowjetrepubliken. In der Antwort wird eigentlich nur darauf hingewiesen, dass im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst eine Veranstaltung stattfindet. Also verlagert man das Gedenken der Bundesregierung in ein Museum. Aber ich habe mal eine Frage. Ihr meint, man müsste mehr gedenken. Die Linksfraktion im Deutschen Bundestag hat im Präsidium des Bundestages einen Antrag auf eine offizielle Gedenkveranstaltung hier im Deutschen Bundestag gestellt. Warum haben die Grünen die Linksfraktion und ihren Antrag auf dieses offizielle Gedenken nicht unterstützt? ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das stimmt nicht. Wir unterstützen das natürlich. – Mein Problem ist Folgendes: Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier gemeinsam über vielleicht unterschiedliche Auffassungen zum Gedenken streiten und über Gedenkpolitik, über Erinnerungspolitik reden. Aber was ihr mit dem Antrag macht und was auch andere machen – das macht nicht nur die Linksfraktion –, ist, dass man sagt: Geschichte war soundso, deswegen gibt es eine absolute Wahrheit aus der Geschichte, und deswegen muss man sich heute mit Putin soundso auseinandersetzen. ({0}) Das, finde ich, ist der Fehler. ({1}) Ich möchte heute nicht mit euch darüber streiten, ob die Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs richtig oder falsch sind. ({2}) Ich möchte gern mit euch konstruktiv daran arbeiten, wie wir mehr dafür tun können, dass in Deutschland ein Bewusstsein darüber herrscht, was für Verbrechen geschehen sind. Das ist mein Problem mit eurem Antrag. ({3}) – Es steht nicht im Antrag. Ich spreche euch auch nicht ab, dass ihr das wollt. Es fehlt mir nur in diesem Antrag. Deswegen versuche ich mit dieser Rede, die Hand auszustrecken, damit wir im demokratischen Spektrum bei diesem Thema Geschichtspolitik versuchen, gemeinsam zu arbeiten. Ich möchte noch eine Sache sagen, weil sie dazugehört. Zur Wahrheit gehört: Der Krieg begann in den Republiken der Sowjetunion, die zuerst angegriffen wurden, nicht erst am 22. Juni 1941. Der heutige offizielle Umgang des Kremls mit der Geschichte zwischen dem 17. September 1939 und dem 22. Juni 1941 ist ein, wenn nicht das wesentliche Problem, warum man nicht mehr gemeinsam gedenken kann. Dabei war selbst Herr Putin schon weiter, als er vor elf Jahren gemeinsam mit Donald Tusk in Anbetracht der Opfer von Katyn auf die Knie gegangen ist. ({4}) Solange diese russische Geschichtspolitik so stattfindet, so lange werden wir leider in der Situation sein, dass wir bei diesen Fragen der Geschichte Probleme in der Zusammenarbeit haben werden. Abschließend möchte ich sagen: Ich komme aus Hamburg. Hamburg hat eine Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg. Ich bin persönlich zutiefst bewegt von den Geschichten, die ich in den vielen Jahren dort gehört habe. Mich als Fußballfan hat tatsächlich die Erzählung am meisten bewegt, wie Zenit während der Belagerung weitergespielt hat. Ja, das geschah natürlich auch aus propagandistischen Gründen; aber ich sehe diesen Lebenswillen im belagerten Leningrad, den das ausstrahlt. Ich finde, dass wir viel mehr Respekt gegenüber den Opfern in der ehemaligen Sowjetunion und all ihren ehemaligen Republiken haben sollten, und wünsche mir deswegen, dass wir in Zukunft besser und mehr gedenken. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort hat Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor knapp 80 Jahren überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Es war ein Feldzug mit über 30 Millionen Toten und schier unbeschreiblicher Zerstörung. Das damalige Deutschland hinterließ im Osten Europas und der Sowjetunion blutgetränkte Erde. Erinnerungen an diese Verbrechen müssen wachgehalten werden; da sind wir uns einig. Das ist auch unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, auch die Aufgabe dieses Parlaments. Ich möchte an den Beschluss im letzten Jahr zur Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft erinnern. Ich glaube, das war ein wichtiger Schritt. Wir haben weitere Maßnahmen der Erinnerungskultur in den letzten Jahren auf den Weg gebracht. Meine Damen und Herren, Erinnern, Gedenken und Aufklären, das ist unser Auftrag, das ist unsere dauerhafte Verantwortung. Aber, Frau Kollegin Dağdelen, wenn Sie schon umschreiben, dass diese Aufgaben nicht mit Tagespolitik verknüpft werden sollen, dann muss ich Ihnen die Frage stellen: Warum machen Sie das dann in Ihrem Antrag? Ich finde es, ehrlich gesagt, schon etwas schwierig, wenn man den 80. Jahrestag dieses historischen Verbrechens für einen verklärten Blick auf das heutige Russland missbraucht und Tatsachen im Jetzt und Heute völlig verdreht. ({0}) Mit Blick auf das schlechte Verhältnis ist für die Linkspartei die NATO wieder einmal der Aggressor und Deutschland auf dem Weg zur Militärmacht. ({1}) Die Linke fordert in ihrem Antrag für Deutschland – ich zitiere – eine „Abkehr von militärischer Konfrontation, Eskalation und Aufrüstung“. Dabei müssen wir doch klar und deutlich benennen, dass genau Russland diese Eskalation und Konfrontation betreibt. Wir haben es doch erst vor wenigen Wochen an der ukrainischen Grenze gesehen, und wir haben es im Berliner Tiergarten nur wenige Kilometer von hier gesehen. Ich glaube, es ist wichtig, dass Sie endlich die Augen für die Realität öffnen. ({2}) Meine Damen und Herren, wir wollen gute Beziehungen mit Russland; das ist doch keine Frage. Das ist für uns die zentrale Lehre aus der Geschichte. Wir wollen aber auch ein friedliches Zusammenleben in ganz Europa. Gute Beziehungen mit Moskau gibt es aber eben nicht durch Realitätsverweigerung, sondern nur mit einem klaren Blick auf die aktuelle russische Politik und durch ein Agieren aus einer Position der Stärke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt sehr viele Bemühungen, eng mit der russischen Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten. Die Differenz zwischen den Regierungen ist das eine; mit der russischen Bevölkerung wollen wir natürlich eng zusammenarbeiten. Wir haben da auch viel gemacht: das Wissenschaftsjahr, jetzt aktuell das Deutschlandjahr. Wir machen viel, aber leider wird auch diese Arbeit durch die NGO-Gesetze massiv behindert. Das sollten Sie bei Ihrem Freund Putin auch mal ansprechen. Meine Damen und Herren, allen, die sich wirklich für eine gute deutsch-russische Beziehung einsetzen, hilft dieser Antrag leider nicht. Deswegen lehnen wir ihn ab. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Kristina Nordt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor wenigen Tagen, am 8. Mai, hatte ich die Gelegenheit, am sowjetischen Ehrenmal in Suhl eine Ansprache zum Tag der Befreiung zu halten. Es ist wichtig, dass wir, die junge Generation und die nachfolgenden Generationen, das Gedenken an die Männer und Frauen aus der Roten Armee wachhalten, die ihr Leben zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs ließen. Kein Land der Welt hat einen so hohen Preis bezahlt wie die Sowjetunion. Offizielle Angaben gehen von bis zu 27 Millionen sowjetischen Opfern aus. Es waren Männer und Frauen aus der gesamten Sowjetunion. Deshalb müssen wir uns daran erinnern, dass russische, ukrainische, weißrussische, usbekische, baltische, kasachische, georgische, armenische, aserbaidschanische, kirgisische und turkmenische Soldaten der Roten Armee gemeinsam mit den Westalliierten Deutschland von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit haben. Allerdings lesen wir davon im Antrag der Linken wenig. Der Antrag nimmt den Jahrestag als bloßes Vehikel, um daraus einen Strauß altbekannter Forderungen abzuleiten: Abschaffung des 2-Prozent-Ziels der NATO, atomwaffenfreies Deutschland, Abschaffung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland etc. Außerdem findet sich in jeder Forderung nur die Erwähnung Russlands, was angesichts des Leids, das Ukrainer, Balten, Zentralasiaten, Weißrussen und die Völker des Kaukasus erfahren haben, deutlich zu kurz greift. Das muss man dem Antrag der Linken vorwerfen. In dem Antrag dann auch noch von Hass gegenüber Russland und seiner Bevölkerung zu schreiben, ist schließlich blanker Unsinn. Es gibt berechtigte Gründe, die russische Führung zu kritisieren. Ich selbst kenne aber niemanden, der das russische Volk hasst, wie es im Antrag behauptet wird. ({0}) Am 8. Mai in Suhl und Erfurt habe ich viel, sehr viel Verbundenheit gespürt. Wenn es eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gibt, dann folgende: Kein Land in Europa sollte mehr befürchten müssen, dass seine Grenzen durch militärische Aktionen verschoben werden können. Die territoriale Integrität von Staaten ist eine der Hauptstützen des Völkerrechts, ({1}) die gerade in Europa zu einer langen Friedensepoche nach 1945 geführt hat. ({2}) Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine führt uns vor Augen: Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung sind keine Selbstverständlichkeiten. Die Welt, wie wir sie uns wünschen, ist nicht so stabil wie erhofft. Wir erleben Rückschritte in den Beziehungen, die über Jahre aufgebautes Vertrauen innerhalb kürzester Zeit zerstört haben. Kein Wort ist davon im Antrag der Linken zu lesen. Deshalb werden wir den Antrag aus guten Gründen ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen der UN-Mission MINUSMA in einer Region, die geprägt ist von Konfliktlagen, die sich überlappen und die sich keineswegs beispielsweise auf religiöse Faktoren reduzieren lassen. Es geht um ökonomische Benachteiligung, um Verteilungskonflikte in der Gesellschaft zwischen sesshaften Bauern und Nomaden. Es geht darum, dass politische Beteiligung zu wenig möglich ist. Es geht um die Folgen des Klimawandels. Es geht um wenig funktionstüchtige staatliche Strukturen; die Präsenz des Staates ist in Mali in der Fläche in weiten Teilen nicht sichtbar. Es fehlt an Infrastruktur für grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsstationen, Bildungseinrichtungen, aber auch einfach so etwas wie Polizei, die die Bürgerinnen und Bürger vor Alltagskriminalität schützt. In einem solchen Konfliktgebiet gilt es mehr denn je, den vernetzten Ansatz umzusetzen. Das ist auch genau der Anspruch, den die Bundesregierung mit dem Antrag auf Fortsetzung der Beteiligung an der Mission MINUSMA formuliert. Dieser vernetzte Ansatz war von Anfang an Grundlage dieses Einsatzes. Auch in der Beschlussfassung im Rahmen des Gipfels in N’Djamena, der vor einigen Wochen stattgefunden hat, ist die zivile Komponente des Einsatzes noch einmal betont worden, ebenso wie in dem Sahel-Strategiepapier der EU, wo auf deutschen Druck hin durchaus in einer Auseinandersetzung mit unseren französischen Freunden herausgearbeitet worden ist, dass Sicherheit und Entwicklung zwei Seiten derselben Medaille sind und dass wir deshalb gerade in der Sahelregion dem vernetzten Ansatz zum Durchbruch verhelfen müssen. ({0}) Ich bin froh, dass mit dem sogenannten Civilian Surge, also der Verstärkung der zivilen Komponente, noch einmal deutlich geworden ist, dass wir in Mali Gebiete schaffen müssen, wo die verschiedenen Dimensionen von Sicherheit und Entwicklung auch im Alltagsleben der Bürgerinnen und Bürger erfahrbar werden, und dass wir dies weiterhin schützen, einerseits durch MINUSMA und andererseits durch die auf der Tagesordnung stehende und nachher zu beratende EUTM-Mission der Europäischen Union. Das gehört zusammen. Aber wir wissen, dass militärische Sicherheit allein den Konflikt nicht lösen wird. Das wird nur mit langem Atem und mit Unterstützung von außen gelingen und wenn die Akteure in der Gesellschaft in Mali selbst staatliche Präsenz nicht nur wieder in die Fläche bringen, sondern auch dafür sorgen, dass diese von allen Bevölkerungsgruppen akzeptiert wird. Deshalb ist die Umsetzung des Friedensabkommens von Algier, das ja die Grundlage der MINUSMA-Mission ist, so wichtig; das war ja der erste Baustein hin zu einer Versöhnung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Mali. Und deshalb ist es für uns als SPD-Fraktion auch sehr wichtig, dass die Bemühungen der politischen Kräfte in Mali, auch militante, bewaffnete Gruppen zu Friedensgesprächen zu bringen, unterstützt werden. Das Beispiel des Friedensabkommens von Algier zeigt ja gerade, wie wichtig es ist, mit bewaffneten Milizen das Gespräch zu suchen und diese Gespräche nach Möglichkeit, zum Beispiel mit Unterstützung der Berghof-Stiftung, zum Erfolg zu bringen. Denn eine nachhaltige Stabilisierung in der Region wird nur möglich sein, wenn wir innergesellschaftliche Konflikte lösen. In diesem Sinne leistet die Bundeswehr im Rahmen der MINUSMA-Mission einen wichtigen Beitrag dazu. Ich bitte um Unterstützung für diese Operation. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Rüdiger Lucassen von der AfD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung macht in Mali die gleichen Fehler wie in Afghanistan: keine klaren Zielvorgaben und deswegen auch keine Strategie mit kontrollierbaren Wegmarken. Das Ergebnis in Mali wird das gleiche sein wie in Afghanistan: ein unausweichliches und totales Scheitern. Meine Damen und Herren, was die Bundesregierung tut, ist aber nicht nur politisch falsch. Sie verletzt auch die Fürsorgepflicht gegenüber unseren Soldaten. Denn zum ersten Mal bricht das Verteidigungsministerium mit einer eisernen Regel, dass nämlich jeder verwundete deutsche Soldat innerhalb einer Stunde Zugang zu ärztlicher Versorgung auf dem Niveau eines deutschen Kreiskrankenhauses erhält, auch wenn seine Einheit unter Feuer liegt. In Mali ist das nun nicht mehr möglich; ({0}) denn seit einiger Zeit werden die Rettungshubschrauber für das deutsche Einsatzkontingent nur noch von einer zivilen Firma gestellt. Das heißt im Klartext: zivile Hubschrauber mit zivilen Piloten, ohne Bewaffnung und ohne Schutz. Die Bundesregierung sagt selbst, dass deshalb die Evakuierung von Verwundeten nur noch aus gesicherten Landezonen möglich ist. Und was ist, wenn ein deutscher Soldat um sein Leben kämpft und es keine gesicherten Landezonen gibt? Liebe Soldaten, wie die Bundesregierung mit Ihnen umgeht, ist ein Skandal. ({1}) Dieser Skandal, eine GmbH mit der Rettung verwundeter deutscher Soldaten zu beauftragen, legt aber auch den erbärmlichen Zustand der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr offen. In der gesamten Bundeswehr scheint es keine vier Hubschrauber mehr zu geben, die zum Schutz unserer Soldaten nach Mali geschickt werden können. Dafür trägt die Bundesregierung die volle Verantwortung. ({2}) Meine Damen und Herren, wer die Einsatzbereitschaft seiner Streitkräfte so zugrunde gerichtet hat, sollte erst recht die Finger von sinnlosen Auslandsabenteuern lassen. ({3}) Die AfD hält Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich für das falsche Mittel, um Außenpolitik zu machen. Für uns gilt das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder Staaten. ({4}) Die Völkerrechtlerin Annalena Baerbock weiß, welch hohen Stellenwert dieses Prinzip hat. ({5}) Verteidigungsbereite Streitkräfte zum Schutze Deutschlands und seiner Verbündeten, dafür steht die AfD. Wie wichtig Verteidigungsbereitschaft im Falle eines Angriffs ist, sehen wir dieser Tage in Israel. Das bringt mich zu folgendem Punkt: Ich wünsche den Israel Defense Forces viel Soldatenglück und speziell der israelischen Luftwaffe bei der Suche nach den Terrorführern der Hamas eine gute Jagd und fette Beute. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Jürgen Hardt von der CDU/CSU-Fraktion, und ja, ich werde im Protokoll nachlesen, ob es eine Rüge wert ist, was der Kollege Lucassen von der AfD geäußert hat. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der Verlängerung des Mandats MINUSMA, der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der UN-Stabilisierungsmission für Mali, guten Gewissens zustimmen. Wir haben uns sowohl hier in Berlin als auch per Video mit den Soldatinnen und Soldaten vor Ort über die Notwendigkeiten des Einsatzes unterhalten. Wir kommen zum Ergebnis, dass man diesen Einsatz verantworten kann und dass unsere Soldatinnen und Soldaten dort einen guten und wichtigen Job machen. Dafür verdienen sie die Rückendeckung des gesamten Hauses. Wenn wir den Abzug aus Afghanistan vollendet haben, ist der Einsatz in Mali vermutlich der größte Bundeswehreinsatz. Warum ist dieser Einsatz in Mali für uns so wichtig? Weil wir in Afrika eine besorgniserregende Entwicklung sehen. Wir sehen, dass sich lokale Aufständische und lokale Terrorgruppen mit internationalen Terrornetzwerken und Terrororganisationen verbünden, mit dem Ziel, einzelne Staaten so zu destabilisieren, dass diese Staaten für sie ein Ausgangspunkt für die Ausübung internationalen Terrorismus sein können. Das haben wir 2001 in Afghanistan gesehen, das haben wir mit dem IS im Irak und in Teilen Syriens gesehen, und das müssen wir leider auch in der Region Sahel beobachten. Es gibt Anzeichen, dass auch andere Staaten Afrikas in Schwierigkeiten sind. In Mosambik verbreiten sich gegenwärtig eine Art IS und eine lokale Terrororganisation, die sich mit Regierungstruppen einen blutigen Kampf liefern. Also, das ist ein Thema, das uns sehr intensiv beschäftigt. Zweitens glaube ich, dass diese Operation dazu beiträgt, den Menschen vor Ort Hoffnung auf eine Zukunft im eigenen Land zu geben. Das ist das Beste und Wichtigste, was wir diesen Menschen mitgeben können: die Hoffnung, dass es in Zukunft einmal besser sein wird als heute. Das verbindet sie mit ihrem Land, und das lässt sie letztlich auch an eine Zukunft im eigenen Land glauben. Ich glaube auch, dass die Zusammenarbeit in der Sahelzone ein gutes Beispiel für wachsende Kooperation innerhalb Afrikas ist. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen, dass sich die Afrikanische Union, ECOWAS, aber auch G 5 Sahel stärker zusammenschließen und Afrika entschlossen ist, die Probleme ein Stück weit selber in die Hand zu nehmen. Dieser Einsatz hilft bei der Bildung von Koalitionen, von Allianzen in Afrika. Außerdem sehe ich, dass diese Operation ein gutes Beispiel dafür sein könnte, dass wir als Europäische Union etwas Positives in der Region ausrichten. Wir können in Zukunft nicht erwarten, dass andere für die Stabilisierung Afrikas sorgen. Vielmehr schaut die Welt ein Stück weit auf uns, wenn es darum geht, das zu tun. Wiederum andere sehen nur ihren wirtschaftlichen Vorteil; das wollen wir mit Blick zum Beispiel auf die Chinesen natürlich verhindern. Deswegen ist es gut, wenn wir diese Operation fortsetzen. Ich bitte um Zustimmung. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Hinzu kommen schwache politische Institutionen, die es nicht vermögen, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand zu generieren. Erst vergangenes Wochenende wurde die unlängst von der Militärjunta eingesetzte Übergangsregierung wieder abgesetzt. Gründe für die Auflösung wurden keine genannt; leider können wir sie erahnen. Oberstes Ziel von MINUSMA ist die Sicherung des Friedens oder vielmehr die Wiederherstellung dessen. Aber die alleinige Fokussierung auf sicherheitspolitische Aspekte wäre für diesen komplexen Konflikt zu kurz gedacht. Ohne ausreichende humanitäre Hilfe und entwicklungspolitische Ansätze werden wir das Land nie stabilisieren können; denn im Fokus der UN-Friedensmission steht nicht die Regierung, sondern das Wohl der Bevölkerung. Um dieses zu erreichen, brauchen wir einen Dreiklang aus Sicherheitspolitik, humanitärer Hilfe und Entwicklungspolitik für Mali und die gesamte Sahelregion. ({0}) Vernetzter Ansatz heißt weiterhin das Gebot der Stunde. Denn bei Deutschlands Engagement in Mali geht es nicht nur um die Sicherheit des Landes an sich, sondern um die Sicherheit einer ganzen Region. Wie ein jüngster Bericht des UN-Sicherheitsrats vom 10. Mai aufzeigt, verschlechtert sich die Sicherheit in der Sahelzone weiter. Das Dreiländereck Burkina Faso, Mali und Niger bleibt laut dem Bericht ein Hotspot für terroristische Anschläge. Die Zahl ist stark steigend. Die humanitären Folgen sind mehr als verheerend. In Burkina Faso und dem Niger sind Angriffe auf Zivilisten mittlerweile zur traurigen Normalität geworden, und immer mehr Menschen flüchten aus den Grenzregionen dieser Länder. In Burkina Faso gibt es zum Beispiel bereits 1,14 Millionen Binnenvertriebene. Seit Januar 2019 hat sich diese Zahl versechzehnfacht. Wir haben in der Sahelregion also nicht nur eine instabile Sicherheitslage, sondern auch eine deftige humanitäre Krise. Unsere Bundesregierung predigt gebetsmühlenartig die Bedeutung des Einsatzes für die Sicherheit in Mali; jedoch schafft sie es nicht, die Wichtigkeit der Region auch mit ausreichend humanitärem Engagement zu untermauern. 50 Millionen Euro humanitäre Hilfe – ein hoher Betrag, klingt nach viel – für eine Region, die sich über 2,8 Millionen Quadratkilomater erstreckt, sind einfach zu wenig, vor allem im Hinblick auf die hohen Bevölkerungszahlen. Hier erwarten und benötigen wir zukünftig mehr Engagement als bisher. ({1}) Zur Wiederherstellung des Friedens sind nur ganzheitliche Ansätze erfolgversprechend, welche sicherheitspolitische, humanitäre und entwicklungspolitische Ansätze miteinander vereinigen. Der vorliegende Antrag kann nur ein Baustein dieses Ansatzes sein. Diesem Baustein stimmen wir erneut gerne zu; aber wir fordern gleichzeitig mehr Engagement der Bundesregierung in dieser Region. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Lechte. – Das Wort geht an Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während die Bundeswehr nach 20 Jahren Krieg mit unzähligen Opfern fluchtartig Afghanistan verlässt, legt uns die Bundesregierung heute erneut zwei Mandate für Bundeswehreinsätze – in Mali und in den Nachbarländern – vor, die dokumentieren, dass Sie aus dieser Niederlage in Afghanistan nichts, aber auch gar nichts gelernt haben. ({0}) Sie argumentieren, dass die UN-Mission MINUSMA in Mali dafür sorgt, Zivilpersonen zu schützen, Menschenrechte zu verteidigen und die humanitäre Hilfe abzusichern. Aber in Wirklichkeit geht es doch um geostrategische Interessen und Flüchtlingsabwehr, ({1}) und dabei arbeitet MINUSMA von Anfang an eng mit der französischen Militäroperation Barkhane zusammen und unterstützt seit 2017 auch die G-5-Saheltruppe, ein Militärbündnis aus Mali, Burkina Faso, Tschad, Mauretanien und Niger. Diese Truppe wurde auf Initiative der EU geschaffen und soll entlang der Grenzen gegen Terroristen vorgehen und Flüchtende aufhalten. Sogar die UNO stellt fest, dass bei MINUSMA der Unterschied zwischen Friedenstruppe und Antiterrorkampf selbst für politische Entscheider schwer erkennbar sei. EUTM Mali bildet die G-5-Sahel-Militärverbände aus, MINUSMA versorgt sie mit Lagebildern, mit Treibstoff und Proviant und fliegt Verwundete aus. Um die Mobilität der Saheltruppen zu erhöhen, wurde 2018 ein Fonds gegründet, in den unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei und Saudi-Arabien einzahlen – echte Freunde der Menschenrechte, oder? Auf die Menschenrechte beruft sich die Bundesregierung auch in ihrer Mandatsbegründung. Aber genau die Streitkräfte, die von EUTM Mali ausgebildet und von MINUSMA versorgt werden, verüben immer wieder außergerichtliche Tötungen und schwere Menschenrechtsverletzungen an Zivilistinnen und Zivilisten. MINUSMA selbst berichtet, dass die Regierungstruppen in Mali mehr zivile Opfer auf dem Gewissen haben als die Dschihadisten. Das Jahr 2020 war das blutigste Jahr für die Zivilbevölkerung: Mehr als 2 400 Zivilistinnen und Zivilisten verloren ihr Leben in Burkina Faso, Mali und Niger. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung hat schon Ende 2019 ergeben, dass fast 80 Prozent der Malierinnen und Malier mit der Arbeit der Mission unzufrieden sind. In meiner Fraktion verwundert das niemanden. ({2}) Wir wissen, dass Militär nicht Teil der Lösung ist für die vielen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Konflikte, sondern Teil des Problems. Ihr vernetzter Ansatz, meine Damen und Herren, ist am Hindukusch krachend gescheitert, und er wird auch in Afrika scheitern. ({3}) Soldaten bringen eben keine Lebensperspektive, keine Arbeit, kein Essen und damit auch keinen Frieden. Eine Friedensperspektive für die Sahelzone kann nur zivil gestaltet werden. ({4}) Die Linke ist die einzige Partei in diesem Haus, die sich der Afghanisierung der Außenpolitik entgegenstemmt. Deswegen sagen wir auch zu diesem Bundeswehreinsatz Nein. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Agnieszka Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in Mali ist politisch höchst fragil und die Sicherheitslage schlecht. Deshalb engagieren sich die Vereinten Nationen mit über 60 Staaten in der Friedensmission MINUSMA; sie unterstützt die Umsetzung des Friedensabkommens und trägt zum Schutz der Zivilbevölkerung bei. Viele wichtige Prozesse der letzten Jahre wären ohne MINUSMA wahrscheinlich gescheitert. Die Mission zu beenden, das würde nicht nur bedeuten, die Menschen in Mali alleinzulassen, sondern eine noch größere Eskalation der Probleme und der Gewalt zu riskieren. Deshalb wird meine Fraktion dem Mandat für MINUSMA heute zustimmen. ({0}) Wir tun das allerdings, ohne die Lage schönzureden. So stand die frühere Regierung von Präsident Keïta viele Jahre wegen Korruption, Reformstau und der zögerlichen Umsetzung des Friedensabkommens in der Kritik. Die Bundesregierung hätte hier viel stärker und früher auf die Zivilgesellschaft hören müssen und die Regierung auch viel stärker in die Pflicht nehmen müssen. ({1}) Von den Massenprotesten und dem darauffolgenden Militärputsch im Sommer 2020 wurde die Bundesregierung regelrecht kalt erwischt. Trotz dieses Verfassungsbruches haben viele Menschen auf Veränderungen gehofft. Inzwischen überwiegen wieder die Sorge und die Kritik. Die politische Macht des Militärs bleibt immens. Die Auflösung der Übergangsregierung zeigt, wie politisch instabil die Lage ist. Die Berichte über Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte in der Sahelzone zeigen auf brutale Art und Weise, dass eben nicht alles einfach von selbst wieder gut wird. Eine Erkenntnis ist doch nicht nur in Mali sehr offensichtlich: Friedensprozesse und damit verbundenes internationales Engagement, ob Entwicklungszusammenarbeit oder die Reform der Sicherheitskräfte, das alles kann nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen. Deshalb darf die Bundesregierung die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Das heißt: Ein klarer Kurs für Menschenrechte. Und: den internationalen Druck auf die Militärs, aber auch auf die Regierung hochhalten, damit es endlich echte politische Reformen gibt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bringen hier bei den Mandaten immer wieder unsere große gemeinsame Wertschätzung für die Menschen zum Ausdruck, die sich in gefährlichen Krisenregionen wie Mali für eine bessere Zukunft einsetzen, ob als Soldatin, als Polizist oder als zivile Expertin. Da haben wir im Parlament einen ganz großen Konsens: Die Bundesregierung hat die Pflicht und die Verantwortung, bei Auslandseinsätzen immer und zu jeder Zeit die Rettungskette sicherzustellen. Deshalb ist es absolut untragbar, dass die kritische Fähigkeit zum Hubschraubertransport bei MINUSMA im Moment weder von Deutschland noch von einer anderen Nation gestellt wird, sondern zivil am Markt eingekauft werden muss. Gerade einmal zwei Wochen ist es her, dass ein verletzter Soldat erst nach Stunden umständlich über Land gerettet werden konnte, weil der zivile Rettungshubschrauber plötzlich defekt war und es keine Alternative für den Lufttransport gab. So etwas darf sich nicht wiederholen! ({3}) Deshalb sage ich hier in aller Klarheit und Schärfe: Unsere Zustimmung zu diesem Mandat erteilen wir nur mit der klaren Ansage an die Bundesregierung, dass dieser untragbare Missstand umgehend beseitigt werden muss. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an den Kollegen Henning Otte von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die UN-Mission MINUSMA läuft für die Bundeswehr mittlerweile seit acht Jahren, es ist der größte Einsatz und ein gefährlicher. Mali liegt circa 4 000 Kilometer südlich von Deutschland, südlich der Sahara, 43 Grad, die Sonne im Zenit. Warum entsenden wir bis zu 1 100 Soldatinnen und Soldaten nach Mali? Weil die geopolitische Situation dies erfordert; weil die sicherheitspolitische Situation dies erfordert; und weil Hitze und Trockenheit und Dürre und Hunger die Menschen in ihrer Existenz bedrohen. Im Norden Malis leben islamische Nachkommen von Viehhirten, im Süden dagegen viele Christen. Aber ein Reichtum an Bodenschätzen bringt nicht gerade Reichtum, sondern bringt eher Armut und Korruption. 500 Ethnien, verschiedenste Sprachen, dysfunktionale Verwaltungsstrukturen, schwierige hygienische und medizinische Bedingungen, zusammengefasst: Diese Diversität in Westafrika ist ein Sinnbild – auch ein Grund – für Destabilität und Elend und ein perfekter Nährboden für Terror. Überall dort, wo ein Machtvakuum ist, versucht der islamische Terror, Fuß zu fassen. Wir als Europäer müssen erkennen – das ist die Herausforderung –, dass ein Zusammenbruch der Lebensbedingungen dort auch katastrophale Folgen für uns hätte; denn machtfreie Räume dürfen nicht entstehen. Entweder wir unterschätzen die Situation, oder wir handeln. Und wir müssen handeln, meine Damen und Herren; denn es sind dort Menschen, die nichts zu verlieren haben, die sich entweder auf den Weg machen oder sich dem IS-Terror anschließen, im schlimmsten Fall beides. Man muss das hier noch einmal deutlich erklären, weil zum Beispiel die AfD so tut, als sei der Einsatz unserer Bundeswehr dort sinnlos – damit wird der tägliche Einsatz, der schwierige Einsatz, der gefährliche Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten diskreditiert. Das dürfen wir nicht zulassen! Wir als CDU/CSU danken den Soldatinnen und Soldaten für den Einsatz in Mali. ({0}) Auf der anderen Seite ist es eine von zwei Fraktionen, die das offensichtlich nicht versteht. Frau Vogler, Sie haben hier bei einer Mission der Vereinten Nationen über „Afghanisierung“ gesprochen. Wollen Sie denn tatsächlich einen islamischen Gottesstaat, der die Christen im Süden bedroht und bekämpft, der die gesamte Situation dort destabilisiert und eine Flüchtlingssituation entsteht? ({1}) Es ist unverantwortlich, welche Position Sie hier einnehmen. ({2}) Wir haben dagegen den Anspruch, Bedingungen zu schaffen, die es den Menschen erlauben, dort eine Existenz zu bekommen, sich nicht auf den Weg zu machen, Staatlichkeit zu erzeugen, Sicherheit zu erzeugen, Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und auch für Bildung zu erzeugen, für einen Verbleib in der Heimat. Es ist wichtig, dass wir dort unsere Hilfe zur Verfügung stellen. Wir exportieren Sicherheit in dieses Land, auch um unserer selbst willen. Der Aufklärungsverband in Gao wird unterstützt durch die Soldatinnen und Soldaten in Bamako und Niamey. Sie leisten einen Beitrag mit Feldlagerschutzsystem, mit Aufklärungsdrohne, mit Lufttransportstützpunkt. Wir als Union hätten gerne bewaffnete Drohnen. Dann würde ich ruhiger schlafen, und die Soldatinnen und Soldaten würden ruhiger schlafen. ({3}) Wir sagen zusammengefasst, meine Damen und Herren: Die Sicherheit Deutschlands endet nicht am Mittelmeer. Wir leisten einen Beitrag dafür, dass Stabilität erzeugt wird. Wir danken allen Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz. Wir stimmen diesem Mandat selbstverständlich zu. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Dr. Eberhard Brecht. ({0})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister! Wir haben eine ganze Reihe von Reden gehört und man sieht: Es sind sehr unterschiedliche Antworten, die in diesem Hohen Hause auf die fragile Lage in Mali gegeben werden. Die AfD sieht offensichtlich nationale Interessen durch das Morden in Mali nicht berührt. Die Linke beharrt auf ihrer Position, dass die Kapitel VI und VII der UN-Charta für Deutschland nicht gelten. Natürlich gibt es keine militärische Lösung für die vielfältigen Konflikte im Sahel. ({0}) Beim Gipfeltreffen der G-5-Sahel-Staaten in N’Djamena sowie beim Außenministertreffen der Sahel-Koalition vor zwei Monaten wurde erneut ein Sursaut civil, also ein ziviler Schub, gefordert, der die Ursachen der diversen Konflikte in den Fokus rückt. Deshalb engagiert sich Deutschland mit humanitärer Hilfe bei der Entwicklungszusammenarbeit, so beim Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens, bei Projekten für die Begrenzung des Bevölkerungswachstums, im Umgang mit den Folgen des Klimawandels, für die Beratung beim Aufbau demokratischer Regierungsstrukturen und vieles andere mehr. Nun, ich habe den Zwischenruf von der Linken schon gehört: Weshalb belassen wir es nicht bei einer reinen zivilen Hilfe? Nichtregierungsorganisationen in Mali haben uns berichtet, dass sie ohne logistische Unterstützung, medizinische Versorgung und auch ohne militärischen Schutz durch MINUSMA gar nicht arbeiten können. Darüber hinaus sorgen die Militärkräfte der VN-Mission für Bewegungsfreiheit wichtiger Verkehrsachsen. Sie vermitteln der internationalen Gemeinschaft ein Gesamtlagebild, was wir ansonsten nicht hätten, und allein die Anwesenheit einer internationalen Militärmacht trägt ein wenig zur Stabilisierung des Landes bei. Was kann MINUSMA nicht leisten? Trotz gegenteiliger Erwartungen der Zivilbevölkerung umfasst das Mandat keine Terrorismusbekämpfung. Zudem ist die Mission auf das weitere Umfeld des Camp Castor in Gao und der Hauptstadt Bamako begrenzt. Durch diese beiden Einschränkungen stößt MINUSMA in der malischen Bevölkerung auf geringe Akzeptanz. Kollegin Vogler hat das gerade erwähnt. Dies ließe sich ändern, würden die Malier den Nutzen der Mission noch unmittelbarer erfahren, zum Beispiel durch Mehreinsätze zum Schutz ziviler Autoritäten wie Richter, Verwaltungsbeamte, Lehrer oder Ärzte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, MINUSMA ist offensichtlich noch notwendig, wenngleich nicht hinreichend. Verfolgen wir daher weiter ein ganzheitliches Vorgehen im Rahmen multilateraler Zusammenarbeit. Ich wünsche den deutschen Soldatinnen und Soldaten, dass sie alle gesund wieder nach Hause kommen, und hoffe auf eine breite Unterstützung in diesem Hohen Hause. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte geht das Wort an die CDU/CSU-Fraktion mit Dr. Reinhard Brandl. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Land Mali ist krank. Es leidet chronisch an internationalem islamistischen Terrorismus, organisierter Kriminalität, Korruption und fragilem Staatswesen. Dazu hat es sich jetzt noch eine veritable Coronainfektion eingefangen. Wie in allen anderen Ländern sinkt auch in Mali die Wirtschaftsleistung: minus 2,5 Prozent. Aber in so einem armen Land wie Mali bedeutet ein Rückgang der Wirtschaftsleistung sofort, dass plötzlich Hunderttausende – man spricht von 800 000 – unter die Armutsgrenze rutschen, was die sozialen und ethnischen Konflikte in dem Land weiter verschärft. Meine Damen und Herren, damit wird die Krankheit langsam zu einem Überlebenskampf für Mali. Die internationalen Helfer haben keine Wundermedizin dabei. Die gibt es nämlich nicht. Sie leisten eher Hilfe zur Selbsthilfe, und sie versuchen, dem Land zu helfen, Selbstheilungskräfte zu aktivieren, und dafür zu sorgen, dass sie die Nachbarländer nicht anstecken. Dazu gehört vor allem der Ausbau der Sicherheitskräfte, damit das Land stabile selbsttragende Sicherheitsstrukturen entwickeln kann. Aber auch die internationale Hilfe gerät in Schwierigkeiten angesichts der Coronapandemie. Die Hilfen sind aufgrund der Kontaktbeschränkungen weniger effizient. Die Helfer der Mission können nicht heraus. Wir werden erleben, dass es angesichts der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise für die Geberländer immer schwieriger sein wird, so große Missionen wie MINUSMA mit über 15 000 Kräften weiter zu finanzieren. Dabei ist die internationale Hilfe und dabei ist gerade MINUSMA wichtiger denn je zuvor. MINUSMA ist die Mission, die die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens überwacht. MINUSMA ist die Mission, die dazu führt, dass Konfliktparteien wieder miteinander reden, dass vertrauensbildende Maßnahmen aufgebaut werden. MINUSMA hilft dem Staat Mali, staatliche Strukturen aufzubauen, und sie unterstützt beim Schutz der Zivilbevölkerung. Um in dem Bild von vorher zu bleiben: MINUSMA ist im Moment die Hand, an die sich der Patient Mali klammert und die es auch durch den schwierigen Pfad der Transitionsphase – dies ist angesprochen worden – begleitet. Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind wir dafür, diesen Einsatz auch fortzuführen. Es ist nicht so, dass wir ihn nur aufgrund der Situation in Mali machen, nur um einem geschundenen Land zu helfen, sondern es ist auch in unserem eigenen Sicherheitsinteresse, in der Sahel-Zone in Mali für Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie dem Einsatz zu und verlängern Sie das Mandat. Reichen Sie Mali weiter die stützende Hand. Ich möchte allen Soldatinnen und Soldaten, die für uns diesen Einsatz, diesen gefährlichen Einsatz in der Wüste unter unsäglichen Bedingungen leisten, ganz herzlich danken. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche Bilder haben Sie im Kopf, wenn Sie an Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen denken? Bunte CSDs, feiernde, lebensfrohe, manchmal schrille Menschen? Oder erfolgreiche Minister, Moderatorinnen, Schauspieler, die sicher, selbstbewusst und sichtbar leben? Ja, das ist die eine, sehr, sehr gute Seite. Die andere Seite aber ist weniger schön: Ängste und Depressionen, eine erhöhte Gefahr, sich selbst das Leben zu nehmen, Gewalt auf offener Straße und ein erhöhtes Risiko von Armut und Obdachlosigkeit. Das sind die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen von Diskriminierung. Minderheit zu sein, stresst, macht krank und grenzt sozial aus, und es ist unsere Aufgabe als Bundestag, alles dafür zu tun, damit das aufhört. ({0}) Oft sind Diskriminierung und Abwertung sehr offen, teils lebensgefährlich, oft kommen sie aber auch subtiler daher. Ich habe das selbst persönlich erlebt. Mein eigenes Coming-out war alles andere als einfach. In meiner Familie und in meinem Umfeld haben Menschen mit Angst, Scham und Überforderung reagiert. Bis heute kenne ich persönlich das Gefühl der Angst, wenn ich meinen Mann in der Öffentlichkeit küsse; denn diese harmlose Geste kann bedeuten, im nächsten Moment beleidigt oder sogar zusammengeschlagen zu werden. Genau so geht es vielen LSBTI. Wir haben gelernt, immer zu hinterfragen, ob es gerade okay ist, etwas zu tun, was für alle anderen Menschen selbstverständlich ist. Oft hört man dann auch noch: Na ja, wenn ihr nicht immer so auffällig wärt, wenn ihr doch einfach normaler wärt, dann hätten wir auch keine Probleme damit. – Dazu sage ich hier und heute sehr klar: Nein, nicht die, die diskriminiert werden, müssen sich ändern, sondern die, die diskriminieren, müssen sich ändern. ({1}) Das ist eine hochpolitische Aufgabe. Dieser Bundestag muss viel mehr aktive Antidiskriminierungspolitik machen. Dazu passt es übrigens nicht, montags die Regenbogenflaggen zu schwenken und mittwochs im Ausschuss zu verhindern, dass der Bundestag diese Woche darüber abstimmen kann, ob LSBTI endlich auch im Grundgesetz geschützt werden. Das ist nicht glaubwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. ({2}) Wir brauchen einen bundesweiten Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit und für Vielfalt, wie wir Grünen ihn heute hier zur Abstimmung stellen; denn mit der Öffnung der Ehe ist eben nicht alles gut. Wenn ein Kind in eine Ehe mit zwei Frauen hineingeboren wird, rechtlich dann aber nur einen Elternteil hat, dann ist das Diskriminierung. Wenn ein schwuler Mann nur dann Blut spenden darf, wenn er ein Jahr lang keinen Sex hatte, während das für den Hetero mit ständig wechselnden Partnerinnen nicht gilt, ({3}) dann ist das Diskriminierung. ({4}) Wenn ein transgeschlechtlicher Mensch einfach nur in seinem Geschlecht anerkannt werden will, sich dafür aber jahrelang teuren Zwangsgutachten mit intimsten und entwürdigenden Fragen unterziehen muss, dann ist das Diskriminierung. ({5}) Das Transsexuellengesetz verletzt seit 40 Jahren die Würde des Menschen, es verletzt das Recht auf Selbstbestimmung, und es ist überfällig, dieses Gesetz endlich durch ein modernes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Das stellen wir heute hier namentlich zur Abstimmung. ({6}) Es geht hier nicht um irgendein Anliegen, es geht hier um Menschenrechte, und Menschenrechte dürfen nicht immer wieder auf die lange Bank geschoben werden. Es gibt in diesem Bundestag eine politische Mehrheit zur Überwindung des Transsexuellengesetzes, und es liegt vor allem an Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ob diese Mehrheit hier heute zustande kommt. ({7}) Wer montags die Regenbogenflaggen schwenkt, muss mittwochs im Bundestag Taten folgen lassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Bettina Wiesmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sexuelle Orientierung ist in ihrer Vielfalt Teil der Schöpfung. Als christlich geprägte Volkspartei nehmen wir diese Vielfalt selbstverständlich an, und wir sorgen dort, wo Menschen wegen ihrer Orientierung benachteiligt oder diskriminiert werden oder gar zu Schaden kommen, für Abhilfe. Ich bekenne mich für meine Fraktion ausdrücklich zu dem Auftrag, Schwulen, Lesben, bi-, trans- und intersexuellen Personen ein Leben in Würde und Anerkennung zu gewährleisten. ({0}) Dabei sind alle gefragt: die Bundesebene, die Länder und Kommunen, die Zivilgesellschaft, jeder von uns. Die Vielfalt und die Fülle der Selbstorganisationen – vom Verein bis zum Bundesverband – haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ihrer Großen Anfrage gezeigt und erfragt. Darunter sind auch etliche staatlich unterstützte Angebote von Beratung und Hilfe. Wir nehmen die ausführliche und gute Antwort der Bundesregierung hierzu sehr gerne zur Kenntnis. Vieles haben wir aber auch als Bundesgesetzgeber in dieser Wahlperiode angepackt und erreicht. Ich nenne es nur kurz, weil die Zeit sonst nicht reicht. Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass intersexuelle Menschen beim Eintrag ihres Geschlechts in das Personenstandsregister den Begriff „divers“ oder eine andere Geschlechtsangabe oder auch keine eintragen lassen können. Damit sind wir sogar über den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts hinausgegangen. ({1}) – Ja, genau, und zwar ganz bewusst und zu Recht. ({2}) Zweitens. Wir haben die pseudomedizinische Behandlung von homosexuellen Menschen, die sogenannte Konversionsbehandlung, untersagt, und zwar für Minderjährige und für Erwachsene mit Mangel an eigenem Willen. Damit schützen wir Menschen, die besonders vulnerabel sind, vor entwürdigenden und massiv schädigenden Traktierungen. Das ist ein gutes Werk. ({3}) Drittens. Wir haben verschiedene Gesetze angepasst, damit gleichgeschlechtliche Ehepaare gleiche Rechte und Pflichten wie heterosexuelle Ehepartner bekommen. Es ist jetzt die gemeinsame Adoption eines Kindes möglich, und ich bin sicher, wir werden auch – ich hoffe, bald – eine Lösung finden, damit die Mit-Mutter bei lesbischen Ehepaaren das leibliche eheliche Kind ihrer Gattin nicht adoptieren muss. ({4}) Viertens. Wir werden hoffentlich morgen beschließen, dass ehemalige Soldatinnen und Soldaten, die wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen oder einfach nur wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität dienstrechtlich benachteiligt wurden, endlich rehabilitiert und entschädigt werden. ({5}) Fünftens. Wir haben auch durchgesetzt, dass Operationen und Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern, mit denen ihnen ohne medizinische Notwendigkeit ein Geschlecht zugewiesen werden soll, nur dann zulässig sind, wenn sie einsichtsfähig sind und ein Familiengericht unter Hinzuziehung einer interdisziplinären Kommission einen entsprechenden Beschluss gefasst hat. Dabei wirken Ärzte, Psychologen, Ethiker und auf Wunsch der Eltern auch eine Beratungsperson mit gleichem Hintergrund mit. Ein gutes Ergebnis durch gute Zusammenarbeit von Koalition und Justizministerium! Ich meine, wir haben gemeinsam große Brocken zugunsten von LSBTI-Menschen aus dem Weg geräumt. Bedauerlicherweise ist es uns bisher nicht gelungen, das Transsexuellenrecht zu reformieren, obwohl uns neben den Betroffenen auch das Verfassungsgericht diese Notwendigkeit aufgezeigt hat. ({6}) Ich bin darüber angesichts des Vorliegens eines durchaus diskutablen Entwurfes bestürzt und appelliere an die Bundesregierung und an beide Häuser, noch einen Versuch zu unternehmen. Wir haben eine Grundlage für ein gutes Gesetz. ({7}) Liebe alle, wir wollen gemeinsam mit einem Kindergrundrecht – wohlformuliert – das Kindeswohl bei das Kind betreffenden Maßnahmen sorgfältig berücksichtigt wissen. Das muss auch in Fragen einer geschlechtlichen Transition gelten. Dafür ist eine Beratungslösung, verbunden mit gerichtlicher Feststellung für Minderjährige, ein kluger Weg, den wir zügig beschreiten sollten, und ein kluger Weg sind nicht die Vorschläge, die hier heute eingebracht werden. ({8}) Ich wünsche mir, dass wir da in dieser Legislaturperiode noch hinkommen. Wir haben es uns vorgenommen, wir haben es auch zugesagt. Es ist an uns und an der Bundesregierung, hier noch etwas zu erreichen. ({9}) Ich appelliere an alle, dazu beizutragen – aber nicht mit Ihren Gesetzentwürfen, die weit über das Ziel hinausgehen. Herzlichen Dank. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Beatrix von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ja nicht so, dass wir in Deutschland keine echten Probleme hätten. Das hält die LSBTI-Lobby von Grünen, Linken und FDP natürlich nicht davon ab, den Bundestag in einem Overkill an Anträgen und Anfragen mit ihren Bestenlisten des genderpolitischen Wahnsinns zu tyrannisieren. ({0}) Besonders den Grünen ist keine Frage zu absurd. In ihrer Großen Anfrage wollen sie in über 210 Fragen ({1}) von der Bundesregierung zum Bespiel wissen: Welche Informationen in Bezug auf Chem-Sex-Drogen von bisexuellen Erwachsenen hat die Bundesregierung, und welchen Zusammenhang sieht die Bundesregierung mit Diskriminierungen? Oder: Welche Unterstützungsangebote gibt es für LSBTI of Color? Oder: Welche speziellen Wohnungsangebote gibt es für Bi- und Transsexuelle im Alter über 60, also etwa besondere Hilfen für 70-jährige bisexuelle Afrikaner und transsexuelle Pakistani. ({2}) Die Grünen interessieren sich auch für besondere Suchthilfen nach dem Konsum von Sexdrogen und Crystal Meth im Kontext von schwulen Lebensstilen und schwulen Biografien. Da frage ich mich: Warum fragen Sie das eigentlich die Bundesregierung und nicht Volker Beck? ({3}) Noch absurder wird es, wenn die linksradikalen Genderideologen und Lindner-Liberalen nicht nur fragen, sondern fordern. Darüber sprechen wir jetzt. Sie wollen, dass jeder sein Geschlecht wechseln darf – einmal im Jahr soll er das dürfen; aus Robert wird Roberta – und dass jeder bestraft werden soll, der trotzdem das reale biologische Geschlecht auch nur anspricht. „Hallo Robert“ kostet dann 2 500 Euro Strafe. ({4}) Die „FAZ“ kommentierte das am 29. Januar 2021 so: Ein Staat, der das unter Strafe stellt, fordert seine Bürger zum Schweigen oder zur Lüge auf. Praktiken, die diktatorischen Regimen vorbehalten waren, werden plötzlich von den Freien Demokraten vertreten. – Oder in kurz: Die FDP ist nicht mehr zu retten. ({5}) Werden Ihre Forderungen Wirklichkeit, darf jeder Mann Olympiasieger beim Frauengewichtheben werden. Sie zerstören Frauen ihre ureigene Domäne, den Frauensport. Freie Bahn für Betrüger und Preisgeldjäger. Männer zerstören auch die Intimsphäre von Frauen, Männer dürfen in Frauenumkleiden, männliche Gewalttäter dürfen in Frauenhäuser usw. ({6}) Frauen, die sich gegen den Angriff auf ihre Intimsphäre wehren, müssen dann Geldstrafen bezahlen, weil sie den Mann mit seinem biologischen Geschlecht ansprechen. Noch schlimmer ist es, was Sie Kindern und Jugendlichen antun wollen. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf der FDP, Drucksache 19/20048, Seite 9, § 11 Absatz 2: Ein Kind, das das 14. Lebensjahr vollendet hat, kann … in einen operativen Eingriff an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen einwilligen. Die Einwilligung … bedarf – wenn die Eltern dagegen sind – der Genehmigung des Familiengerichts. Das Familiengericht erteilt die Genehmigung, wenn … der Eingriff dem Wohl des Kindes nicht widerspricht. ({7}) Und das ist dann der Fall, wenn irgendeine krude Beratung stattgefunden hat. Total irre ist das, was Sie machen. ({8}) Werbung für Schönheitsoperationen für Jugendliche ist aus guten Gründen verboten, weil Mädchen zum Beispiel davor geschützt werden sollen, sich die Brust vergrößern zu lassen; aber sich die Brust und die Gebärmutter entnehmen zu lassen, das ist okay. Vollkommen verrückt! ({9}) Sie machen den Weg frei, junge verunsicherte Menschen irreversibel unfruchtbar zu machen, zu kastrieren, zu entstellen und ganze Familien zu zerstören. Was Sie fordern, ist eigentlich nur noch ekelhaft. ({10}) Sie sind moralisch desorientiert, politisch gemeingefährlich. Sie gehören nicht in die Regierung und nicht mal auf die Oppositionsbank, sondern in Behandlung. Vielen Dank. ({11})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Susann Rüthrich von der SPD-Fraktion. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Kind wird geboren, und auf die Frage „Was wird’s denn?“ stimmt weder die Antwort „Mädchen“ noch die Antwort „Junge“. Seit dieser Legislaturperiode kann nun passend als Geschlecht „divers“ eingetragen werden. Die Vorstellung davon, wie ein Mensch zu sein hat, ist allerdings stark, und so wurden diese Kinder allzu oft operiert, um ihr Geschlecht an die Vorstellung von weiblich oder männlich anzupassen. In diesem Jahr haben wir hier per Gesetz klargestellt: Das Kind ist in Ordnung, so wie es ist. Geschlechtsanpassende Operationen sind verboten. ({0}) Das Kind soll selbst entscheiden können, wie es leben möchte. Wenn Kinder älter werden, sich ihre Persönlichkeit entwickelt, dann erkennen sich einige als schwul, lesbisch, bi oder trans. ({1}) Seit dieser Legislatur ist klargestellt: Alle vorgeblichen Therapien, die auf eine Konversion von Minderjährigen abzielen, sind traumatisierend. Sie sind nun verboten. Es gibt drei Beispiele, die von queeren Menschen handeln, die so in der Großen Anfrage der Grünen und in den Antworten der Bundesregierung aufgegriffen werden. Vielen Dank dafür. Ist nun aber alles gut? Leider nein. Queere Menschen erleben leider immer noch viel zu oft diskriminierende Situationen, werden bedroht und müssen im Extremfall ihr Leben lassen. Wir unterstützen die Betroffenen sehr breit, sei es mit Empowerment in Projekten wie „Demokratie leben!“ oder anderen, sei es, indem wir Beratung finanzieren und unterstützen, indem wir selbstbestimmte Wohnformen fördern und, und, und. Wir stehen damit eindeutig an der Seite von Vielfalt und Selbstbestimmung. Doch nicht nur gesellschaftliche Diskriminierung belastet queere Menschen und ihr Umfeld. Auch Gesetze wirken sich nach wie vor ungerecht aus. In den Antworten zur Großen Anfrage steht in solchen Fällen, der Meinungsbildungsprozess in der Regierung sei noch nicht abgeschlossen. ({2}) Nun, für uns, den sozialdemokratischen Teil der Regierung, trifft das nicht zu. Wir sind klar für Selbstbestimmung und gegen Ungleichbehandlung. ({3}) Zwei akute Beispiele: Ein Kind, das in eine Ehe oder Partnerschaft von zwei Frauen geboren wird, hat zunächst nur einen rechtlichen Elternteil: die Frau, die es auf die Welt gebracht hat. Die zweite Frau muss ihr Kind adoptieren. Für heterosexuelle Paare steht eindeutig fest: Es ist im Sinne des Kindes, dass der Gatte automatisch der rechtliche Elternteil ist, selbst dann, wenn eindeutig klar ist, dass er nicht der biologische Vater ist, beispielsweise weil das Kind durch eine Samenspende entstanden ist. Und bei Frauen soll das nicht gelten? Werte Koalitionspartner – zumindest mehrheitlich werte Koalitionspartner –, geben Sie sich einen Ruck. Lassen Sie uns umgehend das Abstimmungsrecht an dieser Stelle ändern, wenigstens an dieser. ({4}) Sonst wird es in Bälde das Verfassungsgericht entscheiden. Sie aus der Union sagten uns dazu öffentlich, wir würden Ideologie über Biologie stellen. Mit Verlaub, es ist wohl eher der ideologische Balken im eigenen Auge, der Sie hier handlungsunfähig macht; denn die Kinder in diesen Familien gibt es ja längst, und Sie sollten die Realitäten dieser Familien und Kinder endlich anerkennen. ({5}) Ein zweiter Bereich: Transpersonen werden über den übriggebliebenen Rumpf des Transsexuellengesetzes weiter in belastender und ungerechtfertigter Weise behandelt. Alle unsere Versuche, mit dem Koalitionspartner zu einer guten Lösung im Sinne der Betroffenen zu kommen, sind gescheitert. Das heißt allerdings nicht, dass wir die von FDP und Grünen vorgelegten Gesetzentwürfe inhaltlich vollumfänglich mittragen könnten; wenn wir Zeit hätten, würden wir uns schon einigen. Unsere Justizministerin Christine Lambrecht hat erneut einen Entwurf vorgelegt. Auch der wird in der Union leider bereits vor allen parlamentarischen Beratungen blockiert. So ist die Lage. Wer hier also echte Veränderung will, der muss für andere Mehrheiten sorgen. Und so viel sei verraten: Grün und Schwarz, Gelb und Schwarz statt jetzt Rot und Schwarz bringt diese Veränderung nicht. ({6}) Herzlichen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tragen Sie eigentlich Damenunterwäsche? Erzählen Sie doch mal: Wie masturbieren Sie denn? – Fanden Sie das jetzt übergriffig? Solche Fragen müssen transgeschlechtliche Menschen in Deutschland beantworten, wenn sie beim Standesamt ihren personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde korrigieren lassen wollen. Nach dem Transsexuellengesetz brauchen sie dafür zwei unabhängige Gutachten und ein gerichtliches Verfahren. Das empfinden viele Betroffene zu Recht als demütigende Schikane. ({0}) Diese Verfahren sind teuer, sie belasten die Menschen in einer ohnehin schon schwierigen Lebenssituation, und sie sind unnötig. Sie sind unnötig, weil spätestens seit Öffnung der Ehe für alle und seit Aussetzung der Wehrpflicht ohnehin kaum noch rechtliche Konsequenzen mit diesem Geschlechtseintrag verbunden sind. Und sie sind unnötig, weil in all den Ländern – weltweit –, die sich längst von diesen Verfahren verabschiedet haben, es gerade nicht zu den oft beschworenen Falschangaben oder zum Hin- und Herwechseln des Geschlechtseintrags gekommen ist. Auch in Deutschland kommt es nach dem Transsexuellengesetz und der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei diesem Geschlechtseintrag gerade nicht auf das rein biologische Geschlecht an, sondern auf das subjektive Geschlechtsempfinden: die geschlechtliche Identität. Dafür gibt es keinen besseren Experten als den jeweiligen Menschen selbst. Deshalb muss die reine Selbstauskunft beim Standesamt auch ausreichen, und wir sollten das Transsexuellengesetz endlich abschaffen. ({1}) Vier Jahre lang hatten Sie in der Koalition – auch die SPD – Zeit gehabt. Es gab ja viele Versprechen, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Kollegin Beatrix von Storch?

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, erlaube ich nicht. – Leider liegen momentan nur zwei Gesetzentwürfe vor: einer von uns Freien Demokraten und einer von den Grünen. Sie unterscheiden sich durch ganz wenige rechtliche Details und haben doch ganz, ganz viele Gemeinsamkeiten. Denn gemeinsam wollen wir die geschlechtliche Selbstbestimmung trans- und intergeschlechtlicher Menschen in Deutschland stärken – mit einer Abschaffung des Transsexuellengesetzes einerseits, aber andererseits auch mit einem Ausbau der Aufklärungs- und Beratungsangebote, mit einer Sicherung der medizinischen Versorgung und mit einem Schutz vor ungewollten Outings, beispielsweise durch öffentliche Behörden. Ich weiß, dass heute auch viele transgeschlechtliche Jugendliche und ihre Familien dieser Debatte folgen, weil es in Deutschland vermutlich kaum ein anderes Gesetz gibt, das ihre persönliche Lebenssituation so stark beeinflusst und beeinträchtigt. Deshalb ist die Entscheidung, die wir heute treffen, so wichtig. ({0}) In ihrem Alltag haben sie ohnehin schon viele Probleme: Was sagen die Nachbarn? Kann ich mich in der Schule outen? Dazu kommen die verbalen und körperlichen Übergriffe in vielen deutschen Großstädten, die gesellschaftliche Stigmatisierung, auch die vielen Hasstiraden und auch die Verschwörungstheorien – wir haben eben eine Kostprobe bekommen –, die wir immer wieder hören. – Diese Probleme werden wir heute im Deutschen Bundestag nicht alle lösen. Aber wir können gemeinsam sicherstellen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre trans- und intergeschlechtlichen Bürger/-innen endlich so akzeptiert und respektiert, wie sie sind: mit ihrem Geschlecht und ihrer Selbstbestimmung. ({1}) Liebe Union und auch liebe SPD, enttäuschen Sie diese Menschen nicht. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Doris Achelwilm von der Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Transsexuellengesetz muss weg, und zwar schon lange. Es steht heute hier zur Debatte und zur möglichen Abwahl, was uns etliche Post von Bürgerinnen und Bürgern und ein sehr geteiltes Medienecho beschert. Es geht um viel. Das TSG, wie es kurz heißt, steht für jahrzehntelanges Leid, das Transpersonen von Staats wegen zugefügt wurde, weil offenbar nicht so wirklich sein darf, dass Menschen ein anderes Geschlecht haben als das bei Geburt zugewiesene. Es ist aber so, und es ist völlig okay so, und es ist zu respektieren. ({0}) Das TSG schreibt mündigen Bürgerinnen und Bürgern, für die das gilt, stattdessen penetrante Gutachten und Gerichtsverfahren vor, um ganz genau zu testen, wie belastbar ihr Geschlechtsempfinden ist. Diese Pseudoprüfungen, die nichts stellvertretend klären können, sondern vielfach Schikane sind, kosten Geld und Zeit, die woanders besser investiert wären. Der Moment, das einzusehen und zu ändern, ist jetzt. ({1}) Wenn das TSG nun wieder in die nächste Legislatur verschoben wird, blockiert die GroKo die Entlastung von Menschen, die anderen nichts wegnehmen, aber diskriminiert und bekämpft werden. Dann halten Sie an alten Geschlechtervorstellungen fest, die in vielen Lebensrealitäten, die laut Wissenschaft und nach Dafürhalten der Weltgesundheitsorganisation nicht mehr gelten. Damit betreiben sie praktisch Realitätsverweigerung. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was passiert, wenn das TSG weg ist? Dazu ranken allerhand negative Mythen. Szenarien werden grotesk überzeichnet und – wir haben es heute gehört – Regelungen mutwillig missverstanden. Ich bin mir sicher: Ein gut gemachtes Selbstbestimmungsgesetz würde diese Sorgen in der Praxis schnell entkräften. Fakt ist auch, dass Menschen sich gemäß TSG in zurückliegenden Jahrzehnten ungewollt scheiden lassen oder eine Sterilisation vornehmen mussten, wenn sie ihr Geschlecht leben wollten. Wie viel Besorgnis gab es damals eigentlich zu diesen Vorgängen?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Liebe Kollegin, geben Sie Beatrix von Storch von der AfD-Fraktion die Gelegenheit zu einer Nachfrage?

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. ({0}) Das Bundesverfassungsgericht war es, das die gröbsten Zumutungen 2008 und 2011 gestoppt hat, und es wäre eine richtige Reaktion gewesen, die Gesetzesruine TSG in der Folge politisch abzubauen und vergangene Fehler so gut es geht, zu heilen. ({1}) Statt der leidigen Gutachtenzwänge sollte aus unserer Sicht eine Vornamensänderung beim Standesamt als einfacher Verwaltungsvorgang möglich sein. Wir finden es falsch, dass Menschen nutzlose Prozeduren durchlaufen müssen, bis der Name in ihren Dokumenten zum Erscheinungsbild passt und bei Personenkontrollen keine Erklärungsnöte mehr drohen. Wir wollen, dass queere Menschen, dass trans- und nonbinäre Menschen gestärkt und unterstützt sind statt andauernd angreifbar, wie es aktuell die Situation ist. ({2}) Ich komme zum Schluss. Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung muss für Transpersonen besser geregelt sein. Wir müssen Bedarfe gesetzlich anerkennen, für die derzeit noch mühsame Antragsarien nötig sind. Einen Antrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung haben wir als Linke vorgelegt. Wir beantragen ebenfalls, dass die vergangenen Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet und die Opfer entschädigt werden. Schweden entschädigt in dieser Sache seit 2016. Auch in Deutschland ist es an der Zeit. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 5 und weise darauf hin, dass das Ende der Abstimmungen um 19.20 Uhr, also in drei Minuten, sein wird. Es hat das Wort Marc Henrichmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich bedauere ausdrücklich, dass es nicht gelungen ist, hausintern bei BMI und BMJV einen gemeinsamen Vorschlag zu erarbeiten. Das BMI hat einen Vorschlag vorgelegt, der eine, wie ich finde, sehr, sehr gute Gesprächsgrundlage bietet. ({0}) Wir beraten jetzt stattdessen über zwei Anträge von FDP und Grünen, über die die „FAZ“ gestern schrieb, damit würden Kinder zum „Experimentierfeld der Pharmaindustrie und ideologischer Interessen“. Ob man es so sehen möchte, mag jeder selber entscheiden. Ich glaube aber, es ist wichtig, dass man auf Beratung und Begleitung nicht verzichtet. ({1}) Es sagen uns alle Mediziner, die sich mit der Materie auskennen: Die Zahl der insbesondere jungen Frauen und Mädchen, die in den letzten zehn Jahren Beratung in Anspruch genommen haben, hat sich verfünfzigfacht. Der Beratungsbedarf ist also groß. Eine Studie aus Großbritannien besagt: Schnell wird dann mit Pubertätsblockern gearbeitet, die Pubertät unterdrückt. 98 Prozent der in diesem Fall jungen Frauen gehen dann den nächsten Schritt in Richtung Hormonbehandlung bzw. Operation. 90 Prozent allerdings, die sich nicht dafür entscheiden, so die Studie, geben diesen Wunsch spätestens mit Ende der Pubertät auf. Es mehren sich Berichte, wonach zu wenig begleitet, zu wenig hinterfragt wurde. Bemerkenswert ist ein Urteil des High Courts in Großbritannien aus dem Dezember, wo eine Frau, die bei Eintritt in die Behandlung 16 Jahre alt war, geklagt hatte und sagte: Ich habe das Gefühl gehabt, ich könnte trans sein. – Nach drei Stunden, sagt sie in ihrer Klage, habe sie Pubertätsblocker verschrieben bekommen. Mit 18 sei die Amputation der Brüste vorgenommen worden. Heute sei sie weder glücklich noch zufrieden, und sie wünschte sich, sie wäre damals mehr begleitet und beraten worden. ({2}) Selbstbestimmung ist kein schrankenloses Recht, genauso wie es kein Grundrecht ist. Der Staat hat eine Schutzfunktion, und die wollen wir ernst nehmen. ({3}) Das Gericht hat bemerkenswerterweise auch festgestellt, dass Pubertätsblocker ein Medikament seien, mit denen es noch keine Langzeiterfahrungen gibt, und es sei ein Experiment an Kindern. Auch das sollte uns Warnung sein. Der Staat hat auch ein Interesse an validen Geschlechtsmerkmalen, weil er Schutz und Förderung gestalten will, wahrnehmen will. So hat auch die Abgeordnete Maria Miller, die in Großbritannien das Selbstbestimmungsrecht vorangetrieben hat, erfahren müssen, dass ein Hauruckpersonenstands- oder ‑geschlechterwechsel durch eine kurze Meldung beim Standesamt, so wie es jetzt hier geplant ist, dazu führt, dass Männer plötzlich in Schutzräume für Frauen eindringen. ({4}) Und nicht umsonst sind es viele Frauenrechtsorganisationen, die sich in den letzten Wochen vermehrt zu Wort melden ({5}) und sagen: „Wir haben Angst, wir haben Sorge, wir wollen das nicht“ – von Frauenförderung und Co ganz zu schweigen. ({6}) Schweden hat den entsprechenden Gesetzentwurf zurückgezogen, in Großbritannien hat ihn das Parlament abgelehnt. Kritische Stimmen fürchten oder beklagen, dass sie ausgeblendet werden. Ich glaube, wenn man den „FAZ“-Artikel von gestern liest, weiß man: Es ist nicht nur die böse Union. – Es ist auch eine Transfrau, eine Sexualmedizinerin, Renate Försterling, die sich zu Wort meldet und sagt, „das Tempo für die Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung“ werde forciert. Das macht ihr Angst. ({7}) Die „verantwortungslose Haltung“ bezüglich der sexuellen Autonomie würde sie an die Pädophiliedebatte erinnern.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ob das der richtige Tonfall ist, weiß ich nicht. ({0}) Beratung und Begleitung sind uns wichtig. Wir wollen gesellschaftlich zusammenführen, nicht spalten. Unser Ohr ist offen. Wir reden gerne weiter, ({1}) aber nicht für den Preis, dass Kinder Opfer dieser Ideologie werden.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sie können mich hören. Ob Sie mich verstehen, das ist die andere Frage; denn beim Verstehen kommt zum einen die akustische und zum anderen die mentale Seite zum Tragen. Ich habe die Diskussion jetzt verfolgt und habe den Eindruck: Ich bin auf der falschen Baustelle, ich bin vollständig im falschen Raum. – Wir diskutieren darüber, dass wir in diesem Land das TSG ändern, dass wir das TSG abschaffen. Aber ich glaube, viele haben überhaupt keinen Blick in das TSG geworfen, auf das, was darin steht. Im TSG steht nämlich etwas drin zur Änderung des Geschlechtseintrags und des Namens von Personen, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Das wird auf Grundlage des TSG geändert und nichts anderes – keine Operationen, keine Transitionen, gar nichts von dem Zeug, ({0}) sondern nur die Personenstandsänderung. Bei der Personenstandsänderung – das darf ich sagen – hat Christine Lambrecht als Ministerin einen zweiten Anlauf gemacht, nachdem der erste von Katarina Barley krachend auch an der Community gescheitert ist, und zwar mit einem sehr guten Gesetz, bei dem die Ablösung des TSG durch Eingliederung in das Bürgerliche Gesetzbuch, wo es hingehört, im Mittelpunkt stand. Da gehört es hin und nirgendwo anders. ({1}) Liebe Kollegin Wiesmann, ich habe mich schon auch an der falschen Baustelle gesehen, als ich hörte, was die Union alles gemacht haben soll ({2}) und was im Maschinenraum von Christine Lambrecht im Justizministerium dann offensichtlich nur noch vollzogen worden sein soll. Ich glaube, wir müssen die Realität so sehen, wie sie ist. Ich sage auch an dieser Stelle: Ich bin koalitionstreues Mitglied dieses Hauses, und ich weiß, was Verträge sind – pacta sunt servanda –; aber ich erwarte, dass Verträge von beiden Seiten eingehalten werden und nicht nur von uns. ({3}) Ich weiß, dass die Union an bestimmten Stellen uns entgegengekommen ist, so wie das in einem Vertrag der Fall ist. Deshalb hätte ich eigentlich erwartet, dass bei der kleinen Frage, die noch offen war, nämlich ob in diesem Land weiterhin für die Änderung des Eintrags im Personenstandsregister eine Begutachtung erforderlich ist, wenigstens von irgendwoher – vom Innenministerium oder von der Fraktion – das Signal kommen würde, dies zu ändern. Bei Ihnen, Kollegin Wiesmann, wäre es vielleicht da gewesen, aber die Parteilinie ist – wie das so oft in großen Fraktionen und Parteien ist – eine andere. Mir tut das wirklich leid. ({4}) Aber deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt den beiden Gesetzentwürfen von Grünen und FDP zuzustimmen – welchem soll man überhaupt zustimmen? –, kann ich mir nicht vorstellen. ({5}) – Wir haben zwar die Auswahl. Aber wenn die SPD der Forderung folgte, einem der Gesetzentwürfe zuzustimmen, dann gäbe es rechnerisch keine Mehrheit. Es ist also ein ganz durchsichtiges Spiel. Ich sage auch ganz offen und ich sage das auch ganz deutlich: Mir gefällt es nicht, wenn man mit der Abschaffung des TSG, nämlich der Abschaffung der Regelungen zum Personenstand, durch die Hintertür, wie es Bündnis 90/Die Grünen und auch die FDP wollen, gleichzeitig – –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege – –

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gestatten Sie mir, den Satz noch zu Ende zu führen, Frau Präsidentin?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Sie sind noch nicht über die Zeit. Deswegen wollte ich noch die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage von Beatrix von Storch geben.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nee, nee, nee, das braucht’s ned. ({0}) Es reicht, wenn ich ihren Redebeitrag höre. Ich muss sie nicht noch ein weiteres Mal hören. Ich will an dieser Stelle noch sagen – ich sage dies ganz deutlich –: Durch die Hintertür die versicherungsrechtlichen Fragen des SGB, die Beratung und alles andere noch mit einzubauen, was wir in unterschiedlichen Gesetzen haben, ({1}) das macht man nicht, das tut man nicht, das gehört sich nicht. Deshalb werden wir dem inhaltlich auch nicht zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Brunner. – Das Wort geht an Stephan Pilsinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für uns als CDU/CSU-Fraktion steht die Würde des Menschen im Mittelpunkt unseres Handelns. Deshalb nehmen wir die soziale und gesundheitliche Situation der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst, und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung. ({0}) Deswegen danke ich der Linkspartei – ({1}) den Linken – dafür, dass wir heute die Gelegenheit haben, auch über die sexuelle Gesundheit von Schwulen und Lesben zu diskutieren. Ich halte das für ein Thema, das man sehr intensiv diskutieren kann, weil die Unterschiede durchaus gegeben sind, was die gesundheitlichen Risiken betrifft. Deswegen danke ich für die heutige Möglichkeit, darüber zu diskutieren. ({2}) Sobald wir anfangen, Menschen in bestimmte Schubladen zu stecken, sind Vorurteile und Diskriminierung nicht mehr weit. Stattdessen sollten wir jeden Menschen als selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft sehen. Das soll aber nicht heißen, dass spezifische soziale und gesundheitliche Belange keine Berücksichtigung finden. Als Arzt und Gesundheitspolitiker liegt mir natürlich die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger am Herzen. Ich weiß aber auch, dass aus medizinischer und sozialer Sicht manchmal Unterschiede in der Behandlung sinnvoll sind. Dank der modernen, ganzheitlichen Medizin können wir heute nicht nur HIV-Erkrankungen sehr effizient therapieren und einen Großteil weiterer Ansteckungen verhindern; wir stehen auch bei der Bekämpfung von Hepatitis an einem Wendepunkt. Die besonders ansteckende und tödliche Variante Hepatitis C war bisher nicht heilbar und nur schwer behandelbar. Heute sind wir einen entscheidenden Schritt weiter; denn Hepatitis C ist heilbar. Leider heißt das nicht, dass wir uns nun zurücklehnen können; denn es liegt noch viel Arbeit vor uns. Nur etwa 30 Prozent der Menschen mit Hepatitis C werden derzeit behandelt. Das liegt vor allem daran, dass lediglich zwei Drittel der Infizierten überhaupt diagnostiziert werden. Und hier müssen wir ansetzen, meine Damen und Herren. Im Alltag stoßen viele Menschen immer noch auf Ablehnung aufgrund ihrer Lebensweise, auch aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Lassen Sie uns deshalb den eingeschlagenen Weg weitergehen. Diskriminierung darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Wir als Regierungsfraktion haben in dieser Legislaturperiode schon einige wichtige Anliegen vorangebracht; die Kollegin Wiesmann hat das ja sehr eindrücklich geschildert. Ich denke, in der Zukunft müssen wir noch einige weitere Themen angehen, die eine Diskriminierung der Homosexuellen und Lesben betreffen. Ich persönlich glaube, dass es überfällig ist, Blutspenden auch für Homosexuelle zu ermöglichen. ({3}) Die modernen Diagnostikmöglichkeiten lassen dies durchaus gefahrlos zu. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass man vernünftige Lösungen für alle Bevölkerungsteile findet. Ich denke, gemeinsam können wir noch viel bewegen – vernünftig, mit ordentlicher Beratung und psychologischer Unterstützung für alle Menschen, die betroffen sind. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Bevor ich die Aussprache schließe, möchte ich der Kollegin Agnes Strack-Zimmermann das Wort für eine angemeldete Kurzintervention geben.

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin; das ist sehr freundlich von Ihnen. Meine Damen und Herren, wir sind hier im Deutschen Bundestag und nicht irgendwo in der hinteren Ecke einer Kneipe. Ich muss sagen, ich bedauere fast, dass Sie gerade nicht mitbekommen, was sich hier – wenn ich mich umdrehe, rechts von mir – abspielt. ({0}) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir hier sind in den Deutschen Bundestag gewählt, und das ist ein Privileg, eine Ehre. Dass wir hier herzhaft miteinander diskutieren, gerade bei einem solchen emotionalen Thema, ist selbstverständlich, und auch ich bin immer gerne bereit, eine fröhlich-lustige Auseinandersetzung zu führen. Wenn aber die Damen und Herren hier – Frau von Storch und vor allen Dingen die Herren – im Kontext von Transgender von „Schweinen“ und „Kühen“ sprechen, dann möchte ich hier eindeutig sagen: Ich bedauere sehr, Frau Präsidentin, dass Sie nicht hören, was sich hier abspielt. ({1}) Ich möchte nur, dass das jeder weiß. Diese despektierliche Art hier in diesem Hause ist unerträglich. ({2}) Die Tatsache, dass wir das ertragen müssen, ist das eine; aber ich finde, es ist wichtig, dass das alle wissen. Ich frage Herrn Gauland als Fraktionsvorsitzenden: Inwieweit reflektieren Sie eigentlich in einer Fraktionssitzung mal darüber, was Ihre Kolleginnen und Kollegen hier so schreien – unter der Hand, aber so laut, dass wir es deutlich hören können –, ({3}) was die so raushauen? Ich möchte, dass Sie, Herr Gauland, uns erklären, ob mal darüber reflektiert wird, was wir hier alles ertragen müssen – und das im Namen des deutschen Volkes. Ich wehre mich dagegen und ertrage es auch nicht länger. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Möchte jemand aus der AfD-Fraktion reagieren? – Frau von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir dürfen entscheiden, wer auf diese ungeheuerlichen Anwürfe antwortet. – Sie haben hier gerade ganz pauschal in unsere Richtung gezeigt. Sie können nicht sagen, was gesagt worden ist und wer was gesagt hat. Außer Ihnen hat es niemand gehört. Im Protokoll steht nichts drin. Das ist pure Propaganda, was Sie hier machen. ({0}) Sie wollen von dem ganzen irren Zeug ablenken, das wir hier verlesen haben, von Ihren vollkommen verrückten Anträgen. ({1}) Sie wollen, dass minderjährige Kinder ihr Geschlecht gegen den Willen der Eltern umoperieren lassen können. ({2}) So viel dummes Zeug! Das steht hier drin, § 11. Das haben wir alles verlesen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Liebe Kollegin Frau von Storch, wir debattieren nicht erneut, sondern es geht um den Umgang.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es ist gut, dass wir darüber diskutieren, und es ist gut, dass das in der Öffentlichkeit ist. Aber hören Sie auf mit diesen Anwürfen, die Sie nicht begründen können! ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der europäischen Trainingsmission in Mali und weiteren Sahelstaaten. Diese Mission soll die Sicherheitskräfte in Mali, aber auch in anderen Sahelstaaten in die Lage versetzen, die Sicherheit ihrer Bevölkerung vor terroristischen Angriffen zu gewährleisten, sie vor bewaffneten Auseinandersetzungen zu schützen. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten. Es ist wahr: Obwohl die internationale Gemeinschaft seit 2013 mit einerseits militärischen Mitteln, aber andererseits auch zivilen Mitteln und Entwicklungszusammenarbeit versucht, die Situation in Mali zu verbessern, ist eine solche Verbesserung nicht eingetreten. Wer sich die letzten Berichte der Vereinten Nationen anschaut, der muss feststellen: Die Sicherheitslage hat sich sogar weiter verschlechtert. Allein in Mali sind im vergangenen Jahr 2 850 Menschen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen, fast 1 000 davon Zivilisten. Die Terrorgruppen sind weiter aktiv. Dazu kommt: Organisierte Kriminalität und ethnische Konflikte haben zugenommen. Nun kann man vor einem solchen Hintergrund sagen – einige Abgeordnete in diesem Haus haben das ja auch getan –: Das bringt alles nichts; die Bundesrepublik Deutschland sollte sich aus diesen Einsätzen zurückziehen. – Aber, Kolleginnen und Kollegen, was würde denn dann konkret passieren? Natürlich kann das keiner mit endgültiger Sicherheit sagen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit würde Folgendes passieren: In das Machtvakuum, das durch diesen Rückzug entsteht, würden terroristische Gruppen vorstoßen, ({0}) die Ableger von IS und al-Qaida würden größere Territorien im Sahel unter ihre Kontrolle bringen, und damit würden Rückzugsräume für internationalen Terrorismus entstehen. Und genau das können wir nicht wollen. ({1}) Im Übrigen – weil einige sagen: man darf nur zivil agieren – wäre unter solchen Bedingungen auch keinerlei ziviles Engagement mehr möglich; denn das zivile Engagement in der Sahelregion ist auf die Unterstützung durch MINUSMA, durch EUTM und andere Missionen angewiesen. Werte Kolleginnen und Kollegen, die Regierungskoalition unterstützt deshalb einen anderen Weg. Wir wollen sowohl MINUSMA als auch EUTM Mali, also die Trainingsmission für das malische Militär und weitere Staaten, fortsetzen. Aber wir sehen auch die Defizite der Vergangenheit. Deshalb wollen wir zum einen die Trainingsmission weiterentwickeln. Das bedeutet, sie soll über die Grenzen von Mali hinaus Wirksamkeit entfalten, nämlich auch unter Einbeziehung von Burkina Faso und Niger und zukünftig vielleicht auch weiterer G-5-Sahelstaaten. Gleichzeitig muss aber die Ausbildung auch dahin gehend verbessert werden, dass sie effizienter wird und dass verhindert wird, dass durch staatliche Streitkräfte Menschenrechtsverletzungen passieren, wie wir das in der Vergangenheit gesehen haben. Das verhindern wir aber nicht durch einen Rückzug, sondern nur durch eine andere, verbesserte Kooperation, indem wir die Streitkräfte genau darauf vorbereiten. Werte Kolleginnen und Kollegen, am Ende ist immer richtig: Es gibt in solchen Konflikten keine militärische Lösung. Deshalb verfolgen wir einen vernetzten Ansatz. Wir brauchen drei Dinge: die militärische Absicherung der Situation, einen massiven politischen Druck auf die politischen Eliten in diesen Staaten, Konfliktlösungen nicht im Weg zu stehen, sondern sie tatkräftig anzupacken, und gleichzeitig Entwicklungszusammenarbeit, um die Konflikte, die hinter diesen Auseinandersetzungen liegen, anpacken zu können und zu entschärfen. Nur so kann dauerhafter Frieden in der Sahelregion entstehen. ({2}) Ich weiß: Wir schicken unsere Soldatinnen und Soldaten in einen gefährlichen Einsatz, übrigens auch Zivilistinnen und Zivilisten, die in ziviler Mission dort unterwegs sind.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte Ihnen allen bei Ihrer für uns so wertvollen Arbeit alles Gute wünschen. Kommen Sie gut nach Hause! Die SPD-Fraktion wird dieses Mandat weiter unterstützen. Herzlichen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Gerold Otten. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Durch das zivil-militärische Engagement in Mali wird beabsichtigt – ich zitiere aus dem Antrag der Bundesregierung –, „dass die Regierungen im Sahel mittel- und langfristig Sicherheit auf ihrem Staatsgebiet weitgehend selbst garantieren können“, dass „eine Grundversorgung mit staatlichen Dienstleistungen in allen Regionen sichergestellt ist“ und dass „die staatlichen Akteure von der Bevölkerung als glaubwürdig und legitim akzeptiert werden“. Das liest sich wie eine Definition für State Building. Die Anträge der Bundesregierung und der Grünen benennen dabei drei Methoden, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Die Grünen wollen mehr ziviles Engagement und damit natürlich auch mehr Geld für ihre Freunde bei den NGOs bei gleichzeitiger Reduzierung der militärischen Komponente; denn militärischer Schutz, so eine Kernaussage, sei gefährlich. Das ist natürlich völlig absurd, und alle außer den Grünen wissen das. Richtig ist aber eine Beobachtung, die wir schon lange anprangern: Humanitäres Engagement in Afrika dient eben allzu häufig auch der Stabilisierung von Unrechtsregimen. Dagegen plädiert die Bundesregierung für noch mehr von dem, was bisher schon nicht im Geringsten geholfen hat; denn erfolglos waren die bisherigen Experimente, westliches Staatsdenken in fremde Kulturkreise zu implementieren. Man muss endlich anerkennen, dass Staatsbildung ohne Nationenbildung schlichtweg nicht möglich ist; denn es fehlen gemeinschaftsstiftende Mechanismen. Auch ist sich der Regierungsantrag seines – ich nenne es mal ‑ambitionierten Ansatzes unsicher. So spricht er denn auch von einer mittel- bis langfristigen Perspektive. Gebaut ist er auf dem Prinzip Hoffnung, dass aus mehr staatlicher Präsenz in der Fläche größere Akzeptanz in der Bevölkerung entsteht. So hangelt man sich von einer Mandatsverlängerung zur nächsten – seit acht Jahren. Für mich klingt das alles nach einem neuen Afghanistan, nach einem weiteren Endloseinsatz der Bundeswehr. ({0}) Hilfe kann aber immer nur einem Zweck dienen: der Selbsthilfe. Nur die Malier selbst können den Konflikt beenden. Es ist ihre Aufgabe und vor allem ihre Verantwortung, sich eine sichere Zukunft zu bauen, nicht die unsrige. Hilfe muss an Bedingungen geknüpft werden, sonst ändert sich dort nie etwas zum Besseren. Aber ich möchte nicht bei dieser grundsätzlichen Kritik bleiben. Gerne greife ich auch mal ein Detail des militärischen Einsatzes auf. Weil Vertragsaspekte gegen eine Anmietung bei der bundeswehreigenen Fuhrpark GmbH sprachen, mussten Fahrzeuge bei dort ansässigen Firmen angemietet werden. Kosten für den Steuerzahler: mittlerweile mehr als 9 Millionen Euro, 16 500 Euro pro Fahrzeug pro Monat. Diese Fahrzeuge sollen angeblich militärischen Schutzstandards entsprechen. Aber sie tun es nicht. Die existierenden Sicherheitszertifikate werden selbst von der Bundeswehr in Zweifel gezogen. Daher werden seit 2017 nun sukzessive eigene geschützte Fahrzeuge beschafft – ein Eingeständnis des jahrelangen Wegsehens, das Gott sei Dank bisher noch keinem unserer Soldaten das Leben gekostet hat. Meine Damen und Herren, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind circa 14 000 Malier in den Genuss von Ausbildungskursen gekommen. Doch was hat die Ausbildung gebracht? Wo sind die Soldaten jetzt? Warum zeigt sich der Ausbildungserfolg nicht im Einsatzgebiet? So ist denn auch bezeichnend, was Anfang des Jahres ein Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung der Deutschen Welle berichtet hat. Ich zitiere: Wenn man mit malischen Offizieren spricht, dann wird immer kritisiert, dass die Trainingsmission ... zu theoretisch sei ... umgekehrt hört man von den internationalen Offizieren, dass die malischen Streitkräfte keine Partner sind, mit denen sich Trainingsmissionen leicht umsetzen lassen. Nun, ohne gemeinsame operative Vorstellungen eben keine vernünftige und erfolgreiche Zusammenarbeit. So einfach ist das! Zuletzt: Sie bedauern die verschlechterte Sicherheitslage, wie eben auch gerade wieder gehört, verweigern aber unseren Soldaten den entsprechenden Schutz, nämlich den durch Drohnen, die aufklären, beobachten und wirken können. Schutz gibt es eben nur durch Waffenwirkung, oder Soldaten müssen sich verschanzen. Und das geschieht in Mali so wie davor in Afghanistan. Wir sagen Nein zu den vorliegenden Anträgen und Nein zu diesem Einsatz ohne Plan, Methode und erreichbares Ziel; denn wir Alternativen wollen kein neues Afghanistan. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Kollege Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Derzeit sind alle Augen auf den Nahen Osten gerichtet, nicht zuletzt auch vor wenigen Stunden hier im Hohen Haus – in der Hoffnung, dass dort zeitnah ein haltbarer Frieden naht. Gleichzeitig blicken wir – das Stichwort ist schon gefallen – angespannt nach Afghanistan. Dort gilt es, den schwierigen Abzug der westlichen Truppen, auch der Bundeswehr, zu bewerkstelligen, ohne gleichzeitig die afghanische Regierung zu schwächen. Es gibt ein Zeitfenster, wann wir unsere Soldatinnen und Soldaten nach fast 20 Jahren dankbar zurückerwarten können. Eine der größten sicherheitspolitischen Herausforderungen für uns in ganz Europa bleibt aber die Lage in der Sahelzone. Wir müssen ganz nüchtern erkennen, dass dies wohl auf eine unbestimmte Zeit so bleibt. Denn die Lage ist dort fragil, und sie kann jederzeit kippen. Es geht für uns Europäer dort um viel: Es geht um die Destabilisierung einer ganzen Region. Es droht die Gefahr einer humanitären Katastrophe, wenn man den Sahel den Terror- und Verbrechensbanden überlässt. Schlussendlich geht es um ein zentrales europäisches Interesse: unsere Sicherheit. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht es auch um die Verantwortung, das Engagement und die Verlässlichkeit Deutschlands. ({0}) Es wurde viel über die Details des Mandats gesprochen: Mandatsobergrenzen, die politische Beschaffenheit unserer Partner vor Ort. Mit dem Abzug aus Afghanistan und mit der verschlechterten Lage in der Sahelregion rückt unser Engagement dort noch mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit – und das zu Recht. Unsere Partner in Europa und im Sahel schauen, wie wir über diese Mandate diskutieren, allen voran unser Partner Frankreich. Frankreich hat früher als andere europäische Partner verstanden, was in der Region auf dem Spiel steht. Es hat im Frühjahr 2013 beherzt interveniert. Frankreich hat im Kampf gegen den Terror viel gegeben und blutige Verluste erlitten, auch noch in jüngster Zeit. Heute stehen viele Partner an der Seite Frankreichs. Da darf gerade und vor allem Deutschland nicht fehlen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Mit Blick auf die Bundestagswahl wollen wir darum sehr bewusst ein Signal der Kontinuität unserer Sicherheitspolitik setzen. Wir wollen mit Kontinuität, Augenmaß und Verlässlichkeit weiter im Sahel agieren. Dabei muss uns klar sein: Einfache, schnell wirksame Lösungen gibt es nicht und – der Kollege Matschie hat das beschrieben – rein militärische natürlich auch nicht; das ist vollkommen klar. Wir brauchen einen umfassenden Einsatz. Wir müssen Unterstützung bei der Regierungsbildung, bei Good Governance leisten. Wir müssen entwicklungspolitisch sehr viel leisten. Wir müssen durchsetzen, dort Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu ermöglichen. Aber ohne unsere militärische Hilfe – Herr Kollege Otten, das muss man ganz klar sagen – sind die Staaten der Sahelzone hilflos Terrorbanden ausgeliefert. Deswegen ist Hilfe an dieser Stelle ein Beitrag zur Humanität in dieser Region, zu unseren Sicherheitsinteressen und ein Beitrag zur Menschlichkeit. Deswegen ist der Einsatz gerechtfertigt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion ist bei MINUSMA und EUTM Mali immer einen klaren Kurs gefahren: einen Kurs der Verlässlichkeit, der Verantwortung und der europäischen Solidarität und dezidiert auch der deutsch-französischen Schicksalsgemeinschaft. Wir haben immer einen Blick auf die Realitäten gehabt. Das war oft ernüchternd, bleibt es auch heute. Doch es gibt keine perfekten Bedingungen für unser Engagement. Und wären sie da, dann bräuchte es eben auch keinen militärischen Einsatz. Die Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist kein völkerrechtliches Proseminar. Sie ist voller Unzulänglichkeiten. Wer das nicht akzeptiert, verharrt schlimmstenfalls im Nichtstun. Doch es gilt das, was die heutige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat: Nichtstun ist keine Option. – Das wäre höchstens Ausdruck politischer Naivität und Traumtänzerei. Deswegen empfehle ich allen Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und auch Ihrer Parteivorsitzenden, sich heute der Realität zu stellen. Sie haben in dem vergangenen Jahr dem Mandat nicht zugestimmt. Sie haben damit ein deutliches Zeichen der Unsolidarität in Europa gesetzt. Man kann, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht Europa predigen und es dann Ländern wie Estland, Schweden und Frankreich überlassen, die schwierige militärische Arbeit vor Ort zu verrichten. ({3}) Man kann nicht mit dem Interesse Macrons an den deutschen Grünen kokettieren und Frankreich dann im Stich lassen. Spätestens dann, wenn Sie sich der Regierungsarbeit konkret nähern sollten, in welcher Funktion auch immer in der nächsten Regierung: In einem Jahr werden Sie konkret vor der Frage stehen, ob Sie an der Seite Frankreichs stehen. ({4}) Das sollten Sie vor der Wahl zeigen. Man kann nicht mit dem Kanzleramt liebäugeln und sich der Realität zugunsten vermeintlich moralischer Reinheit verweigern. ({5}) Statt sich in den gravierenden innenpolitischen Problemen von Tschad und Mali zu suhlen, die es in der Tat gibt und die wir nicht beschönigen, sollten Sie sich lieber der Verantwortung stellen und diesmal dem Mandat zustimmen. Enthalten ist Nichtstun, und mit Nichtstun löst man keine Probleme, vor allem nicht in der Sahelzone. Hier braucht es auch das Engagement der Bundeswehr, Seite an Seite mit den regionalen und europäischen Partnern. Deswegen wird die CDU/CSU-Fraktion zustimmen. Ich bitte auch Sie um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Bevor ich das Wort an den nächsten Redner gebe, möchte ich darauf aufmerksam machen – ich komme damit zurück zum Tagesordnungspunkt 6 –, dass die Abstimmungen in circa neun Minuten beendet sein werden, und bitte alle diejenigen, die noch nicht abgestimmt haben, ihre Stimmen abzugeben. Wir gehen wieder zum Tagesordnungspunkt 7, und Dr. Marcus Faber von der FDP-Fraktion hat das Wort. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Oktober 2019 war ich dienstlich in Mali. Das ist noch nicht mal zwei Jahre her, und dennoch hat sich in diesem Land in der Zwischenzeit viel verändert, nicht alles zum Positiven. Schon damals war allerdings der geringe Ausbildungsstand der malischen Soldaten ein großes Thema vor Ort. Dies kann man feststellen. Es greift allerdings zu kurz; denn leider ist das zentrale Problem in Mali Korruption und Vetternwirtschaft. Auch einfache Soldaten sind zu oft bestechlich und unterhöhlen damit die Legitimität des Staates. So wird auch ein Staat Mali instabil. Es bräuchte daher in Mali eine echte Reform des Sicherheitssektors. Dabei reicht die Ausbildung der Soldaten, die wir vor Ort vornehmen, nicht aus, auch wenn sie sicherlich hilfreich ist. Der Putsch im August 2020 hat das glasklar gemacht. Unter den Offizieren befanden sich leider auch Soldaten, die in Europa ausgebildet wurden. Der französische Generalstabschef Lecointre findet dazu deutliche Worte. Ich zitiere: Die EU-Trainingsmission EUTM Mali müsse „die malische Armee nicht nur ausbilden, sondern regelrecht rekonstruieren“. Ich fürchte: Da hat er recht. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist die schlechte Ausrüstung. Wenn man die Sicherheitskräfte vor Ort ausbilden will, wenn man sie auf den Ernstfall vorbereiten will, dann braucht es auch adäquates Gerät. Es braucht überhaupt Gerät. ({0}) Vor Ort in Mali gab es für die Übung nicht mal Platzpatronen; kein Witz. „Tack, tack, tack“ hieß es da, wenn die malischen Soldaten eine Schießübung im Gelände machten. Das kann man sich kaum vorstellen; das ist aber die Realität. Das hat mich bei meinem Besuch wirklich überrascht und, wie Sie jetzt zwei Jahre später sehen, auch nachhaltig geprägt. An diesem Trainingsbeispiel sieht man aber eben auch, dass es sich um eine Trainingsmission handelt. Es handelt sich nicht um einen Kampfeinsatz. Herr Pflüger, Sie sind ja stellvertretender Vorsitzender Ihrer Partei; da können Sie das Ihrer Vorsitzenden vielleicht noch einmal nahebringen. Ich glaube, da gibt es Nachholbedarf. ({1}) Im heutigen Mali bildet die Bundeswehr aus. Sie kämpft nicht. Zu Letzterem wären wir mit diesem Mandat auch gar nicht in der Lage. Meine Damen und Herren, dort, wohin wir unsere Soldaten in den Dienst schicken, wo wir sie ihren Dienst verrichten lassen, müssen wir auch ihren Schutz gewähren. Wir müssen die Mittel dafür bereitstellen. Deshalb müssen wir zum Beispiel den Schutz im Camp in Koulikoro verbessern, damit er der angespannten Sicherheitslage vor Ort gerecht wird. Wir Freie Demokraten sehen die Kritikpunkte an diesem Einsatz. Dennoch sagen wir: Er ist wichtig. Die Ausbildung dort ist nötig, und sie ist auch sinnvoll. Die Bundeswehr tut dies: Sie bildet hier aus, sie stabilisiert eine fragile Region und hilft, Sicherheit herzustellen. Deswegen sagen wir: Wir tragen die Verantwortung für die Sahelzone, für Mali an dieser Stelle mit. Wir unterstützen unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und wir zollen ihnen auch den Respekt und die Anerkennung für diese sehr schwierige Mission. Vielen Dank. ({2})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier heute den Bundeswehreinsatz im Rahmen der Ausbildungsmission EUTM Mali. Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten sollen neben der malischen Armee auch die regulären Streitkräfte in Niger und Burkina Faso ausbilden. Dazu möchte die Bundesregierung die Obergrenze von 450 auf 600 deutsche Soldatinnen und Soldaten erhöhen. Seit Ende 2019 wurden über 600 Menschen von den Sicherheitskräften in Burkina Faso, Mali und Niger umgebracht. Human Rights Watch und die UN berichten von ungesetzlichen Tötungen, oft im Rahmen von sogenannten Antiterroroperationen. Die Menschen werden also ermordet von genau denjenigen, die Sie für den Antiterrorkampf an der Seite des französischen Militärs – ich zitiere – bis zur Einsatzreife trainieren wollen. Wer diese Armeen weiter ausrüstet, berät und militärisch ausbildet, macht sich mitverantwortlich. ({0}) Der von der Bundesregierung gestützte Präsident Keïta wurde nach Massenprotesten im letzten August vom malischen Militär abgesetzt. Unter großem Druck der internationalen Gemeinschaft wurde eine Übergangsregierung eingesetzt. Dass Militärs hier in Schlüsselpositionen vertreten waren, nahm die internationale Gemeinschaft im Namen der vorgeblichen Stabilität in Kauf. Die Übergangsregierung wurde vor Kurzem aufgelöst. Einflussreiche Posten in vielen gesellschaftlichen Bereichen sind jedoch von Militärs besetzt. Diesen Monat protestierten die Beschäftigten des Gabriel-Touré-Krankenhauses gegen die Ersetzung ihres Direktors durch ein Militär. Wir Linke sagen: Demokratie, gesellschaftlicher Fortschritt und Sicherheit können nicht von außen aufgezwungen werden. ({1}) Dass es der Bundesregierung nicht einmal darum geht, attestiert Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das deutsche Engagement in Mali folge dem Interesse – Zitat –, „Deutschlands Solidarität mit Verbündeten, vor allem Frankreich, hervorzuheben und die deutsche Bereitschaft zu unterstreichen, internationale Verantwortung zu übernehmen.“ Wie in Afghanistan geht es also nicht um die Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Es geht um Migrationsabwehr und darum, den geopolitischen Einfluss Deutschlands in der Welt zu vergrößern. Das lehnen wir ab! ({2}) Die einsatznähere Ausbildung durch die Bundeswehr und die Ausbildung von Spezialkräften führen zur Militarisierung der Konflikte. Das löst keine Probleme. Im Gegenteil: Zivile Lösungsansätze, die es in Mali nämlich auch gibt, werden dadurch verdrängt. – In Mali gibt es Gewerkschaften, die gerade jetzt gegen Armut und für höhere Löhne kämpfen. Und es gibt Bürgerrechtsbewegungen, die sich für den Ausgleich zwischen den Ethnien einsetzen. Es gibt außerdem eine aktive Linke, die sich gegen ausländische Truppen und die Militarisierung einsetzt. ({3}) Wir sagen, es gibt nur eine Lösung: Die Bundeswehr muss aus Mali abgezogen werden. ({4})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grüne Fraktion hat dem Einsatz und dem Mandat für MINUSMA gerade hier in dieser Sitzung zugestimmt. Ich hoffe, Herr Wadephul, Sie haben das zur Kenntnis genommen. ({0}) Und wir haben bis vor einem Jahr auch die Ausbildungsmission EUTM mitgetragen. ({1}) Die politische Lage, in die EUTM eingebettet ist, hat sich allerdings dramatisch verändert. ({2}) In gleich zwei der G-5-Staaten haben in den vergangenen zehn Monaten Militärputsche stattgefunden. ({3}) Ich hoffe, das haben Sie auch zur Kenntnis genommen, Herr Wadephul. ({4}) Diese Putsche sind natürlich nicht ganz gleich zu bewerten. Dem Putsch in Mali gingen monatelange Proteste der Zivilgesellschaft gegen die Regierung Keïta voraus. Ob und wie die Macht – wie angekündigt im Februar nächsten Jahres – wieder an Zivilisten abgegeben wird, bleibt abzuwarten. Das erfordert eine schwierige Gratwanderung, aber es macht politisch Sinn, die Ausbildung malischer Militärs mindestens bis dahin aufrechtzuerhalten, solange es diese Chance auf baldige Rückkehr in demokratische Verhältnisse gibt. ({5}) Diesen Teil von EUTM unterstützen wir also nach wie vor. ({6}) Im Tschad wurde der langjährige autokratische Machthaber Déby von Rebellen getötet und daraufhin die Macht durch einen Militärrat ergriffen. An dessen Spitze steht nun der Sohn von Déby. Die im Mandat postulierte Ausdehnung von Ausbildung und Ausrüstung auf dem Tschad war schon letztes Jahr politisch falsch. ({7}) Das ist jetzt durch den Putsch noch falscher geworden. ({8}) Meine Damen und Herren, es ist eine Sache, sich für die Stabilisierung einer fragilen, in der Krise befindlichen, bisherigen Demokratie zu engagieren. Es ist eine ganz andere Sache, ein autokratisches, diktatorisches Regime zu unterstützen. ({9}) Dort sollte sich unsere Bundeswehr nicht engagieren. Das ist übrigens auch eine Zumutung für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten. ({10}) Deshalb wird meine Fraktion dem vorliegenden Mandat für EUTM nicht zustimmen, sondern sich enthalten. ({11}) Das deutsche und das europäische politische und militärische Engagement im westlichen Sahel muss in ein Gesamtkonzept eingebettet sein. Wir haben es in unserem Antrag zur Sahelpolitik skizziert, der unter diesem Tagesordnungspunkt ebenfalls abgestimmt wird. Ihre Zustimmung dazu würde mich natürlich freuen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({12})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, vielen Dank. – Auf dem Siegel von Mali steht auf Französisch: „UN PEUPLE – UN BUT – UNE FOI“, was so viel heißt wie ein Volk, ein Ziel, ein Glaube. In einem Land, in dem mehr als zehn Stämme leben und zahlreiche Sprachen neben dem Französischen gesprochen werden, bekräftigt dieses Siegel doch die Zusammengehörigkeit unter einem Schirm, unter ebendiesem, dass man zusammengehört und unter dem man auch gemeinsam stehen möchte. Dass es trotzdem zahlreiche sozioökonomische Herausforderungen gibt, ist uns allen klar. Der Einsatz der Bundeswehr verfolgt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Der Ansatz, der häufig in der Entwicklungszusammenarbeit von Bedeutung ist, gilt auch für die Streitkräfte und für die militärische Zusammenarbeit. Vor dem Hintergrund des Völkerrechts und der Achtung der Menschenrechte bildet die Bundeswehr die malische Armee aus. Ziel ist es, dass die ausgebildeten Offiziere das Gelernte weitergeben und die Ausbildung der malischen Streitkräfte nach und nach übernehmen können. Somit besteht tatsächlich auch die Möglichkeit, das Mandat nach erfolgreicher Mission zu beenden. Im Detail sorgen deutsche Soldatinnen und Soldaten dafür, dass der Staat Mali langfristig auf seinem Staatsgebiet selbst für Sicherheit sorgen kann. Beraten und ausgebildet werden von der Bundeswehr vor allem das Verteidigungsministerium, die Armeeführung und die Streitkräfte selbst. Wenn wir über den Tellerrand hinausschauen, sehen wir immer wieder, in welch stabilem und sicherem Staat wir leben. Es ist unsere Verantwortung, diese Sicherheit, diese Stabilität aufrechtzuerhalten. Die Auswirkungen von fehlender Sicherheit und Stabilität sehen wir in zahlreichen Ländern: Konflikte weiten sich aus, Extremismus gewinnt Überhand, Menschen flüchten. Unser strategisches Interesse an einer sicheren und stabilen Weltordnung beinhaltet auch die Fürsorge und Unterstützung, um diese Sicherheit und Stabilität in Mali herzustellen. Mit EUTM erkennt auch die EU diese Verantwortung an, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Fokus auf die Sahelregion, und Mali im Speziellen, ist sehr wichtig für die langfristigen Erfolgsaussichten. Als zentrales und großes Land kann es auch als Beispiel dienen, wenn es nach und nach Sicherheit und Stabilität selbst verantworten und gewährleisten kann. Und gerade weil es vollkommen klar ist, dass viele der Sicherheitsbedrohungen für Mali – Armut, internationaler Terrorismus, Hunger, Arbeitslosigkeit, Dürre, Plagen; alles, was dieses Land plagt – ja nicht an den Grenzen haltmachen, ist es richtig und wichtig, Stabilität in der Sahelregion zu schaffen, in diesem für die Sahelregion zentralen Land – als Anker, als Ausgangspunkt und auch als klares Signal der Weltgemeinschaft: In Zeiten der Not seid ihr nicht allein. – Es ist deshalb auch richtig, wenn man weiß, dass diese Bedrohungen nicht an der Grenze von Mali haltmachen, das Mandat dann eben auszuweiten und noch weitere Punkt mit hineinzunehmen. Ich möchte an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten danken, die diese Aufgaben ausführen. Es sind auch Soldatinnen und Soldaten aus meinem Wahlkreis in Mali. Sie sind bei EUTM, aber auch bei MINUSMA eingesetzt, und ich weiß, welchen entbehrungsreichen Dienst sie tun. Deswegen im Namen der SPD-Fraktion vielen Dank für ihren Dienst. ({0}) Der Einsatz in Mali zeigt aber auch, wie erfolgreich europäische Sicherheitskooperationen aussehen können. Gemeinsam arbeiten Streitkräfte aus verschiedenen EU-Ländern und stärken so nicht nur die Lage in Mali, nein, sie bauen auch ein europäisches Netzwerk, das die EU weiter zusammenwachsen lässt. So häufig sie als Ufo oder als Theoriegebilde verunglimpft wurde, belegt die EU ein weiteres Mal, dass sie in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen, einen komplexen Einsatz zu koordinieren, ihn durchzuführen und zum Erfolg zu bringen. EUTM ist so auch ein Beleg für das souveräne Europa. Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit ist nicht zu Ende. Mali ist noch kein stabiles Land, und es benötigt weiterhin unsere Hilfe. Für die Verlängerung des Mandates werbe ich hier ausdrücklich, damit der Wunsch nach einem Volk, einem Ziel und einem Glauben, so wie es auf dem Siegel steht und es die Malier auch für sich selber wollen, Wirklichkeit werden kann. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Erndl das Wort. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Das neue „Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung“ macht einmal mehr deutlich, dass wir den großen Herausforderungen unserer Zeit nur durch gemeinsames Handeln begegnen können. Flucht, Vertreibung sowie Stabilität und Sicherheit sind solche Herausforderungen. Und die Stabilität in der Sahelregion, auf unserem Nachbarkontinent, hat nun mal direkten Bezug auch zu unserer Sicherheit. Die Region kennzeichnen Instabilität, Armut und eben Flucht. Islamistische Terrorgruppen und Organisierte Kriminalität bedrohen nicht nur die Menschen in der Sahelregion, sondern am Ende auch unsere freiheitlichen Gesellschaften in Europa. Gerade der grenzübergreifende Terrorismus ist eine große Herausforderung, nicht nur militärisch. Und die vielen verschiedenen Terrorgruppen finden bei Teilen der Bevölkerung Gehör, weil die Staatlichkeit der fünf Sahelländer schwach ist, weil extreme Armut und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit existieren. Deswegen ist unser vernetzter Ansatz so entscheidend. Entwicklungspolitische, wirtschaftliche und diplomatische Maßnahmen sind wichtige Bestandteile unseres ganzheitlichen Engagements. Aber ebenso entscheidend sind nun mal Sicherheit und Stabilität. Und da gibt es, Kollege Schmidt, eben nicht immer die perfekten Rahmenbedingungen. ({0}) Aber wer für Stabilität sorgen will, der muss nun mal auch einen realistischen Blick auf die Region haben. Für uns bleiben die verschiedenen militärischen und polizeilichen Missionen der UN, aber auch der Europäischen Union in der Sahelzone eben unabdingbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland kann es sich nicht leisten, international – und das schließt eben auch diese Militärmissionen explizit mit ein – an der Seitenlinie zu stehen. Deutschland steht für Multilateralismus, und das dürfen eben keine leeren Worte sein, sondern das heißt letztendlich auch, Fähigkeiten der Bundeswehr im Rahmen von international mandatierten Einsätzen einzubringen. Die Ausbildungsmission EUTM Mali ist für die Verbesserung der operativen Fähigkeiten der Streitkräfte in der Einsatzregion und damit auch für eine unmittelbare Stärkung der Handlungsfähigkeit dieser G-5-Sahelstaaten wichtig. Mit dem neuen Standort in Sévaré haben wir zukünftig noch geeignetere Ausbildungsbedingungen. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten hier einen unverzichtbaren Beitrag auch unter schwierigen Umständen. Deshalb danke ich an dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten für den Einsatz. Auch ich habe Soldatinnen und Soldaten aus dem Wahlkreis derzeit in Mali, und ich hoffe, dass alle auch gut und gesund zurückkommen. ({1}) Meine Damen und Herren, die EUTM Mali ist neben MINUSMA einer der wesentlichen Bausteine des internationalen militärischen Engagements. Die Mission bleibt weiterhin notwendig und muss verlängert werden. Bitte stimmen Sie dem zu! Herzlichen Dank. ({2})