Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Heute ist der erste Tag der maritimen Biennale. Alle zwei Jahre diskutieren wir den Antrag der Koalitionsfraktionen zur maritimen Wirtschaft, und danach veranstaltet die Bundesregierung ihre Nationale Maritime Konferenz. Das ist also eine Tradition – das ist richtig –, aber es ist vor allen Dingen eine Notwendigkeit. Auch wenn Deutschland eine Schifffahrtsnation ist und Europa der maritime Kontinent ist, ist es in keinster Weise garantiert, dass das so bleiben wird. Ganz im Gegenteil: Nur weil wir seit bald über 2 000 Jahren ein maritimer Kontinent sind, bedeutet das nicht, dass wir weiterhin eine Führungsrolle haben werden. Wir werden angewiesen sein auf unsere Verbindungen über die Weltmeere, um Handel zu treiben, um Güter zu importieren und zu exportieren. Aber die Frage ist, ob wir eine entscheidende Rolle spielen und ob wir die Standards setzen oder ob wir die Regeln der anderen befolgen müssen.
Seit vielen Jahren ist es so, dass China versucht – und es ist auf diesem Kurs auch sehr erfolgreich –, eine Vormachtstellung auszubauen. Wenn sich jemand für Imperialismus interessiert, kann er das hier erleben: Da kehrt nach Jahrhunderten ein Imperium zurück, mit einem ganz großen, ganz klaren Machtanspruch. Natürlich können wir uns als Europäer mit wohligem Schauer das Ganze ansehen und zuschauen, wie es über uns hereinbricht. Oder aber wir besinnen uns auf unsere Stärke und auf unsere Verantwortung. Denn entlang dieser Schifffahrtswege, entlang der Handelswege wird ja auch noch etwas anderes transportiert, nämlich wahlweise die Idee der Freiheit oder eben eine imperiale Idee der Unterordnung der anderen. Ich finde: Es ist wert, die europäischen Ideale zu verteidigen.
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Die letzten Jahrzehnte haben wir es zugelassen, dass wir im Wettbewerb keine faire Chance hatten. Der Wettbewerb wird auch nicht fair werden, weil unser Gegenspieler daran gar kein Interesse hat. Wenn man sich nicht auf gemeinsame Regeln einigen kann, dann muss man sich zusammentun, um sich zu verteidigen. Europa muss gemeinsame Schifffahrtspolitik betreiben.
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Europa muss eine Strategie finden, wie wir die Schiffe, die wir brauchen, selber bauen, selber konstruieren, selber bereedern und auch selber finanzieren.
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Wenn das in anderer Hand liegt, dann werden wir dabei abgehängt. Noch haben wir diese Möglichkeit; noch haben wir ein großes Know-how; noch können wir auf eine starke maritime Wirtschaft zurückgreifen, die immerhin für 50 Milliarden Euro Umsatz und 400 000 Arbeitsplätze gut ist – das ist nicht wenig. Und diese Schlüsselindustrie strahlt ja auch in andere Bereiche aus; das wissen wir alles.
Europa hat sich die Ziele des Green Deal gesetzt. Dazu gehört natürlich auch die Schifffahrt. Das bedeutet aber auch, dass wir diese Schiffe bauen sollten. Man muss bei den ehrgeizigen Klimaschutzzielen, die wir haben, eines bedenken: Wenn Sie heute ein Handelsschiff planen und bauen lassen, dann wird das in den 40er-Jahren noch fahren und vielleicht auch noch Anfang der 50er. Das heißt, diese Schiffe müssen schon heute so konzipiert sein, dass sie die Anforderungen beim Klimaschutz in 20 Jahren erfüllen. Und das können unsere Werften, wenn wir sie lassen, wenn wir sie unterstützen. Aber es kann doch nicht sein, dass unsere Schiffsbauaufträge, die auch öffentlich gefördert werden, in Asien abgearbeitet werden. Das ist doch Wahnsinn!
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Der Antrag, den wir als Koalitionsfraktionen vorgelegt haben, beschäftigt sich aber nicht nur mit diesem Aspekt. Wir haben 114 Punkte zusammengetragen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei meinem Kollegen Saathoff von der SPD-Küstengang, dass das wieder so gut funktioniert hat. Ich weiß natürlich auch, dass es für alle AGs eine Zumutung ist, wenn man diese 114 Punkte durchgehen muss und schauen muss, ob man irgendwie betroffen ist und ob man noch etwas verbessern kann oder ob einen irgendetwas ärgert.
Es ist ein guter Antrag geworden, und er enthält vor allen Dingen keine Lyrik. Die Geschichte der Anträge, die wir gemacht haben, ist die, dass sie in fast allen Punkten umgesetzt wurden. Manches, wie die Einfuhrumsatzsteuer, mussten wir zweimal beantragen; die Schlüsselkompetenz für den Marine-Überwasserschiffbau haben wir, glaube ich, dreimal hineingeschrieben. Aber dann hat es geklappt. Und so muss es ja auch sein: Die Regierung folgt dem Parlament.
In diesem Sinne: Noch einen schönen Tag!
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Kollege Kruse, ich kann Ihre Ansicht, dass Ihr Antrag gut sei, nicht teilen. Der Antrag der Großen Koalition kommt aus meiner Sicht wie ein Schaufensterantrag daher. Im Grunde ist er nichts anderes als Wahlkampfgetöse.
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In Zeiten, wo die Impfpriorisierung aufgehoben wird, eine Priorisierung für Schiffsleute zu fordern, ist schon sehr durchsichtig.
Sie haben sich den Frachtschiffbau von China wegnehmen lassen. Sie lassen sich nun von China den Bau von Kreuzfahrtschiffen wegnehmen. Der Schiffbau in Deutschland steht wegen Ihrer kurzsichtigen und ideologiegetriebenen Politik vor einem Scherbenhaufen.
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Mit Ihren willkürlich festgelegten Klimazielen zerstören Sie die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schiffbaus und verhindern so dringend notwendige Investitionen, effizientere, sparsamere und damit automatisch emissionsärmere Antriebssysteme. Am grünen Wesen, meine Damen und Herren, wird der deutsche Schiffbau ganz sicher nicht genesen.
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Entweder Sie handeln mit den maßgeblichen Schiffbaunationen einheitliche Standards aus, oder Sie verbieten „bösen“ chinesischen und koreanischen Schiffen die Einfahrt in deutsche Häfen.
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Alternativ könnten Sie es ja mal mit der sozialen Marktwirtschaft versuchen und den deutschen Schiffbau in einen fairen Wettbewerb entlassen.
Meine Damen und Herren, die deutsche Handelsschifffahrt hat durch den Dauer-Lockdown der Regierung dramatische Rückgänge zu verzeichnen. Die fortgesetzte Schließung des Einzelhandels führt die deutschen Reedereien an den Rand des Ruins. Die Russland-Sanktionen tun ein Übriges, um große Potenziale des Seehandels über die Ostsee liegen zu lassen. Und während China und Großbritannien dank belastbarer Öffnungsstrategien schon längst wieder auf einem strammen Wachstumskurs sind, diskutieren Sie noch darüber, ob für Geimpfte die Ausgangssperre gelten soll.
Sie bekräftigen in Ihrem Antrag, ein kohärentes und zukunftsfähiges nationales Hafenkonzept entwickeln zu wollen und die Kooperation zu Hafenstandorten zu stärken. Ja, Herrschaftszeiten, warum haben Sie das denn in den letzten Jahrzehnten nicht schon getan?
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Stattdessen haben Sie 20 Jahre an einer Elbvertiefung gebastelt, deren Zukunftsfähigkeit jetzt schon infrage steht, und sich dabei von Leuten auf dem Kopf herumtanzen lassen, mit denen Sie sich morgen schon am liebsten ins Koalitionsbett legen würden, und zwar beide, CDU/CSU und SPD.
In der Lockdown-Krise haben alle deutschen Überseehäfen und insbesondere der Hamburger Hafen massiv gegenüber den Konkurrenten in Rotterdam und Antwerpen verloren. Bei der dringend notwendigen Reform der Einfuhrumsatzsteuer haben Sie zwar die Fälligkeitszeiträume nach hinten verschoben. Das Verrechnungsmodell, das die AfD-Bundestagsfraktion hier schon mehrfach gefordert hat und das nach einhelliger Expertenmeinung auch dringend der Einführung bedarf, wartet aber immer noch auf seine Umsetzung.
Meine Damen und Herren, schöne Worte und Ideologie können die Krise, in die Sie die maritime Wirtschaft hineingeführt haben, nicht überwinden. Kehren Sie zurück zu einer marktwirtschaftlich geprägten Politik! Werfen Sie den ideologischen Ballast über Bord! Mit diesem Antrag, meine Damen und Herren, wird das ganz sicher nichts.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Johann Saathoff, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verhandeln heute den maritimen Antrag, der traditionell – Kollege Kruse hat darauf hingewiesen – vor der Maritimen Konferenz beraten wird. Es ist gute Tradition, dass die demokratischen Parteien des Deutschen Bundestages aus Anlass der Maritimen Konferenz auch einen maritimen Antrag in den Bundestag einbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, leider haben Sie es wieder einmal versäumt, einen maritimen Antrag einzubringen. Sie haben zwei Anträge eingebracht: einen zur Küstenwache und einen zu den Anlaufbedingungen deutscher Häfen. Mehr fällt Ihnen zu maritimer Wirtschaft nicht ein. Ich finde, das ist ein politischer Offenbarungseid der maritimen Wirtschaft und den Beschäftigten gegenüber, um das klar zu sagen.
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Alle zwei Jahre geben wir die politische Richtung für den maritimen Sektor vor. In diesem Jahr hat uns natürlich die Coronapandemie besonders beschäftigt. Vor allem das Segment des Schiffbaus macht uns große Sorgen. Ich finde, dass wir mit Stolz darauf zurückgucken können, dass wir in den letzten Monaten über Kurzarbeitsmechanismen dafür gesorgt haben, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Werften nicht darum bangen mussten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das ist aus meiner Sicht auch absolut der sozialdemokratischen Fraktion zu verdanken.
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Wir blicken auf das wichtigste Kapital der Werften. Was ist das wichtigste Kapital der deutschen Werften? Die Menschen, die auf den Werften arbeiten. Diese Menschen wollen wir im Blick unserer Politik haben.
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Deswegen haben wir in unserem Antrag formuliert, dass wir öffentliche Aufträge vorziehen wollen. Wir wollen also Beschäftigung sichern, indem wir gucken, was eigentlich an öffentlichen Schiffbauaufträgen für die nächsten Jahre erfolgen muss. Diese wollen wir vorziehen, damit wir jetzt schon Beschäftigung sichern können. Wir wollen auch klarstellen, dass wir mit „Schlüsseltechnologie“ den militärischen Überwasserschiffbau und den militärischen Unterwasserschiffbau meinen. Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundesverteidigungsministerium, wir meinen damit nicht nur den Bau, sondern wir meinen damit auch die Instandsetzung und die Reparatur, damit das ein für alle Mal klar ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine europäische Antwort auf die Wettbewerbsverzerrungen aus Asien. Wir wollen den ganzen Bereich des Green Shippings, der unglaubliche Potenziale für den Schiffbau auch in Deutschland hat, und des Schiffsrecyclings besonders ins Auge nehmen. Ich will an der Stelle persönlich sagen, dass wir einen Blick auf die Qualität der Arbeit werfen müssen. Werkverträge und Leiharbeit passen einfach nicht in eine Welt, in der Werften mit öffentlicher Förderung in der Beschäftigung gesichert werden. Wir werden uns da neu aufstellen müssen.
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Uns macht die maritime Ausbildung Sorge. Der Einstieg in die maritime Ausbildung lief in der Vergangenheit über den Beruf des Schiffsmechanikers. Durch die Änderung der Schiffsbesetzungsverordnung ist dieser Beruf massiv unter Druck geraten. Besonders in der Schleppschifffahrt hat man in der Vergangenheit immer einen wichtigen Partner der Ausbildung im maritimen Sektor gehabt. Wir fordern in unserem Antrag einen runden Tisch über die Zukunft der maritimen Ausbildung. Wir sollen sichern, dass deutsches Know-how auch in Zukunft eine große Rolle im maritimen Sektor spielt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ich schon bei der Schleppschifffahrt bin, will ich an dieser Stelle deutlich sagen: Die Schleppschifffahrt ist unter massiven Druck geraten. Es handelt sich aber um Daseinsvorsorge. Die Funktionsfähigkeit der Häfen könnte gefährdet werden. Daseinsfürsorge funktioniert aber eben nicht nach dem Motto „Billiger ist besser“, sondern da muss auch auf Qualität geachtet werden.
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Die Häfen sind wichtig für die Exportnation Deutschland. Investitionen in die Infrastruktur sind dabei erforderlich. Das gilt sowohl für die Digitalisierung, wobei wir soziale Aspekte dabei fest im Griff haben, als auch für neue Kraftstoffe wie LNG und Wasserstoff. Wir wollen die Häfen zur Drehscheibe der Energiewende machen. Offshore haben wir dabei im Fokus. Jetzt gibt es ja neue Klimaschutzerkenntnisse der Union. Vielleicht schaffen wir es beim nächsten Mal, Offshore auch noch prominenter in unserem Antrag zu platzieren. Bisher ist uns das leider nicht gelungen.
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Abschließend möchte ich sagen: Heute werden die Munitionsaltlasten mitberaten; das wäre aber eigentlich ein eigener Punkt gewesen. Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und wollen eine technologische Lösung anstreben. Ich danke Rüdiger Kruse und Peter Stein für die guten Beratungen. Neet de Wind saggt, wor dat lang geiht man de Seils. Wie man die Segel setzt, das bestimmt die Richtung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Hagen Reinhold, FDP, hat jetzt das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Regierung vier Sitzungswochen vor Schluss 114 Punkte aufzudrücken, das ist gut. Sie umzusetzen hätte mir, ehrlich gesagt, besser gefallen. Aber es sind ja gute Sachen mit dabei; keine Frage. Viele sind auch abgeschrieben von unseren Anträgen zur letzten NMK.
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Aber ich sage Ihnen eines: Wollen hat noch nie ein Schiff gebaut, das auf den Ozeanen der Welt gesegelt ist – noch nie –, sondern Machen.
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Deshalb ist mir Machen deutlich lieber als Wollen.
Sie haben die EU als wichtigen Hebel erkannt, um in der maritimen Wirtschaft gemeinsam voranzugehen. Das ist richtig und wichtig; so reden wir seit Jahren darüber. Warum hat man die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eigentlich nicht genutzt, um zum Beispiel bei Rüstungsexportrichtlinien voranzukommen,
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um zum Beispiel ein EU-Flotten-Erneuerungsprogramm auf die Spur zu setzen, um zumindest dafür zu sorgen, dass die vorzeitige Hereinnahme des Seeverkehrs in die CO2-Bepreisung, die weiteren Wettbewerbsnachteil bringen wird, gestoppt wird? Das ist alles nicht passiert. Beim Machen sind Sie schlecht, beim Wollen sind Sie gut.
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Auf nationaler Ebene gibt es sehr viele Förderprogramme, die gut ausgerichtet sind – keine Frage –, zum Beispiel auf Forschung und Entwicklung. Gleichzeitig lassen Sie eine TA Luft zu, die wahrscheinlich jeden einzelnen Prüfstand in Deutschland bei der Motorenentwicklung infrage stellen wird oder gar nicht mehr zulässt. Das ist Ihre Politik: einerseits Förderprogramme und andererseits auf die wichtigen Sachen nicht achten.
Dann haben Sie wieder reingeschrieben – Sie haben gesagt, manche Sachen müssen öfter rein; na mal gucken, wie oft das noch drinsteht –: Wir wollen den Breitbandausbau in den Häfen vorantreiben. – Das steht, glaube ich, schon das vierte Mal drin. Umgesetzt ist es immer noch nicht. Schade! Ich hoffe, das nächste Mal können Sie es rausstreichen.
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Eine Sache ist mir wichtig: Ja, Zero-Emission-Schifffahrt ist gut und richtig, aber wird noch nicht heute, sondern eher morgen umgesetzt werden. Denn dazu braucht es ja auch ein weltweites Netz für Reparatur, fürs Bunkern usw. usf. Wenn das die maritime Wirtschaft umsetzen soll, dann braucht sie solange auch das Brot- und Buttergeschäft. Dazu müssen wir sie in die Lage versetzen. Oder wollen Sie etwa mit Subventionen die Werften in Deutschland noch über Jahrzehnte aufrechterhalten, bis wir endlich wieder ein Marktsegment für uns erobert haben? Nein.
Deshalb ist es ja so wichtig, China – Sie haben es zu Recht gesagt – gegenzuhalten. Es war ja nicht ohne Grund, dass der Containerschiffbau in China gelandet ist. Der Grund war nicht, dass die ein Marktsegment haben wollten, sondern weil günstige Frachtraten dafür gesorgt haben, dass China seine Waren weltweit verschifft hat und damit in China über 5 Prozent zusätzliches Wirtschaftswachstum über Jahrzehnte hinaus gewährleistet hat; dazu gibt es genug Studien. Das ist der Wettbewerb, dem wir uns stellen müssen, und das muss erkannt werden. Das ist die globale Aufgabe, die wir haben. Deshalb muss Deutschland die WTO stärken; deshalb brauchen wir Handelsabkommen, wo immer es geht. Das dürfen wir hier im Parlament nicht verzögern.
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Wir müssen für ein anständiges Grenzausgleichssystem sorgen, damit wir nicht wieder zurückfallen. Das sind die Aufgaben der Zukunft. Das müssen wir angehen, sonst haben wir gar keine Chance; denn wenn es keine Werften mehr gibt, dann können Sie auch keine Zero-Emission-Schiffe bauen. So sieht es nun mal aus. Das ist die Aufgabe, der sich eine Regierung stellen muss, erst recht in der nächsten Legislatur.
Noch zwei, drei Worte zu den Anträgen, die wir vorgelegt haben: Küstenwache und sichere Routen. Ich glaube, das ist längst überfällig; das haben wir in diesem Hohen Haus auch schon öfter diskutiert. Wir brauchen Sicherheit im Seeverkehr, und dafür ist eine gemeinsame Küstenwache ein Instrument, das gut funktionieren würde. Hier stehen viele auf unserer Seite; im Übrigen war auch die Union lange Zeit dafür und ist vorangegangen und wollte es vorantreiben. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, Farbe zu bekennen und es umzusetzen. Wir haben aufgesetzt, dass der Bund Schritt für Schritt seine Kompetenzen zurückerhält und wir nicht sechsfarbig auf der See unterwegs sind, um für Sicherheit zu sorgen. Da könnten Sie jetzt Farbe bekennen.
Im Übrigen finde ich es sehr gut, dass Sie den Antrag zum Umgang mit Kampfmitteln von uns und von den Grünen abgeschrieben haben; dann ist es natürlich ziemlich leicht, einen guten Antrag vorzulegen. Bisschen besser abgeschrieben wäre noch besser gewesen; aber zumindest muss man den Antrag nicht ablehnen.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
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Jörg Cezanne, Die Linke, hat jetzt das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erhalt und Stärkung der maritimen Wirtschaft ist wichtig und notwendig für Deutschland, für die Beschäftigten in der Industrie und in der Schifffahrt. Dazu bedarf es aber einer strategischen, einer zukunftsorientierten Industriepolitik, die am besten auch europaweit koordiniert werden sollte. Die ist in der Fülle der unterschiedlichen Maßnahmen, Subventionen, Förderprojekte und internationalen Abkommen weder bei der Bundesregierung noch in dem maritimen Antrag der Koalition zu entdecken.
Dringend notwendig sind erstens eine noch stärkere Ausrichtung der Schiffbau- und Schifffahrtsförderung auf Zukunftsthemen wie den Spezialschiffbau, maritime Technik für erneuerbare Energie, CO2-neutrale Antriebe und ein umfassendes Ressourcenschonungs- und Recyclingkonzept für die Schiffe der Zukunft.
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Genauso wichtig sind zweitens bessere Arbeitsbedingungen, bessere Entlohnung für die Beschäftigten und die Nutzung ihres Know-hows für die Zukunft des Schiffbaus in Deutschland.
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Die Seeleute funken seit Jahren SOS, doch niemand wirft ihnen einen Rettungsring zu. Im Arbeitsalltag herrschen enorme Arbeitsverdichtung, Lohndumping – auch durch das Billigflaggen-Regime – und pure Existenzangst. Hier muss eingegriffen werden!
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Immer weniger junge Menschen entscheiden sich für einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz auf See. Anpassungen bei den Ausbildungsgängen können hier ein wenig helfen, sind aber keine durchgreifende Lösung. Der angestrebte Erhalt und Ausbau des maritimen Know-hows kann nur gelingen, wenn weitreichende Subventionen, zum Beispiel für die Reedereien, auch mit klaren Anforderungen für mehr Beschäftigung verbunden werden. „Keine Leistung ohne Gegenleistung!“ muss auch hier gelten!
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Schauen wir genauer hin: Deutsche Reeder zahlen für ihre Beschäftigten auf den Schiffen keine Sozialversicherungsbeiträge – das geht auch zulasten von Beschäftigten in anderen Wirtschaftsbereichen –, und sie stecken die Lohnsteuer, die ihre Beschäftigten abführen müssen, in die eigene Tasche. Die Zahlen der deutschen Seeleute geheh aber trotzdem Jahr für Jahr zurück. Die Gewerkschaft Verdi schlägt deshalb völlig zu Recht vor, in der Schiffsbesetzungsverordnung verbindlich vorzuschreiben, künftig nicht nur wie bisher zwei Seeleute mit deutschem oder europäischem Pass einzusetzen; vielmehr sollen zusätzlich zwei in Ausbildung befindliche Offiziere die Chance erhalten, praktische Erfahrungen zu machen. Diese 2-plus-2-Regelung sollte dringend umgesetzt werden.
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Genauso drängend ist die Situation in Sachen Klimaschutz. So erlauben die Regeln der Internationalen Maritimen Organisation weiterhin, billiges, aber extrem schwefelhaltiges Schweröl als Treibstoff zu verwenden. Immerhin sollen die Abgase mithilfe sogenannter Scrubber gereinigt werden. Der irrwitzige Haken an der Sache: Während die Abgase, die an die Luft abgegeben werden, dadurch weniger Schadstoffe enthalten, dürfen die herausgefilterten Schadstoffe in flüssiger Form ins Meerwasser geleitet werden. Das muss dringend, aber wirklich ganz dringend abgestellt werden.
Vielen Dank.
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Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen steht die Nationale Maritime Konferenz an – diesmal in meiner Heimatstadt Rostock –, leider dieses Mal überwiegend nur virtuell. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um in dieser traditionellen Debatte davor auf die besondere Situation der Seeleute während der Coronakrise hinzuweisen.
Gerade während der Coronakrise ist die Sicherheit von Lieferketten und zuverlässiger Güterversorgung besonders in den Blick geraten. Was in der Öffentlichkeit meist weniger bekannt ist, ist die Situation an Bord. Die Sicherstellung von Transporten ging häufig zulasten der Beschäftigten. Crews kamen nicht von Bord, und diejenigen, die sonst maximal neun Monate an Bord waren, konnten teilweise 15 Monate lang die Schiffe nicht verlassen; sie konnten ihre Familien nicht sehen, sie konnten nicht nach Hause reisen. Diese langen Zeiten an Bord führten zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zu reduzierter Schiffssicherheit.
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Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UNO sprach sogar von einer humanitären Katastrophe an Bord der Seeschiffe. Die Krise hat gezeigt: Die Seeschifffahrt ist nicht ersetzbar, und die Seeleute brauchen eine Perspektive. In Deutschland bedeutet das vor allem: Fokus auf eine zukunftsfähige und attraktive maritime Ausbildung.
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Nautikerinnen und Schiffstechnikerinnen sind Schlüsselberufe; wir brauchen sie. Nach Jahren fehlender Reformen wurde kürzlich immerhin der Zugang zum Seelotsberuf reformiert; solche Reformen brauchen wir dringend auch in allen anderen Bereichen der maritimen Ausbildung.
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Die Flottenentwicklung der letzten zehn Jahre ist rückläufig und damit auch die Beschäftigtenzahlen. Um diesen Trend nach Möglichkeit umzukehren, haben wir einen Antrag vorgelegt. Wir fordern endlich bessere Ausbildungs- und Karrierechancen für junge Menschen in der Seeschifffahrt. Dazu müssen Bund und Küstenländer zusammenarbeiten, das gemeinsam angehen. In Zukunft gilt: Hohe Qualität muss das Ziel sein. Das ist die Chance für die deutsche Seeschifffahrt und damit auch für die Beschäftigten in diesem Bereich.
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Wir müssen auch die Reeder stärker in die Verantwortung nehmen; denn die deutschen Reeder und damit auch die deutsche Flagge haben eine Verantwortung, einen positiven Ausblick auf die Zukunft aufzuzeigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU/CSU, ich muss ehrlich sagen: Ich vermisse einiges in Ihrem sonst doch sehr umfangreichen Antrag. Ich erkenne einen fehlenden Reformwillen, und im Bereich Klimaschutz sind die Forderungen noch etwas vage. Gerade vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und der anschließenden Beifallsbekundungen der zuständigen Ministerien hätte ich deutlich mehr erwartet und mir von diesem Antrag ein bisschen mehr erhofft; das gebe ich ehrlich zu. Deswegen: Nehmen Sie sich bei diesem Thema selbst beim Wort! Handeln Sie für einen zukunftsfähigen maritimen Standort Deutschland!
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Nächster Redner ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU.
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Einen schönen guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist es nun soweit: Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir den Antrag zum Umgang mit den Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee im Paket mit dem sehr umfangreichen Koalitionsantrag zur Nationalen Maritimen Konferenz in meiner Heimatstadt Rostock einbringen können. Das hebt die Bedeutung dieses Themas aus meiner Sicht sehr klar hervor. Ausgehend von zwei Resolutionen im Ostseeparlament habe ich in den letzten zwei Jahren einige dicke Bretter dazu bohren müssen. Herr Reinhold, die FDP hat in den letzten Jahrzehnten eher die Bretter gestapelt als den Bohrer geführt.
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Ich bin meinen Kollegen im Wirtschaftsausschuss, aber auch denjenigen im Umwelt- und im Haushaltsausschuss und auch dem Koalitionspartner von der SPD sehr dankbar, dass wir jetzt einen Weg zur Lösung dieses Problems finden. Ich danke auch dem Generalsekretär der BSPC, Bodo Bahr, und unseren Kollegen aus dem Europaparlament. Unser Antrag ist in einigen Vorschlägen und Forderungen sehr detailliert; er greift Aspekte auf, die bislang fast gänzlich unberücksichtigt geblieben sind. Er knüpft an meinen Zwischenbericht für die Ostseeparlamentarierkonferenz im letzten Jahr an.
Aufgrund der großen Dimension der vor uns stehenden Aufgaben und der Vielzahl an beteiligten Akteuren, national und international, waren sehr viele Gespräche und sehr komplexe Diskussionen nötig. Es herrscht nun große Einigkeit darüber, dass jetzt gehandelt werden muss, und wir werden vorankommen. Und ja, es wird Geld kosten. Natürlich muss eine faire Lasten- und Aufgabenverteilung gefunden werden. Wir reden über eine europäische Aufgabe in Nord- und Ostsee, die nur schwer abschließend zu beziffern ist, aber wir reden sicherlich über einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag in einem Zeitraum von maximal 20 Jahren; mehr Zeit haben wir nach Expertenmeinung nämlich nicht mehr.
Es ist vollkommen unstrittig, dass das Geld dafür bereitstehen muss und dass die Bundesländer dafür alleine nicht verantwortlich sein können. Angesichts der internationalen Dimension hinsichtlich Verortung der Munition und einer sehr komplexen historischen Verantwortung ist es zwingend, dass die Europäische Union mit ins Boot gehört. Ich freue mich daher über die beinahe einstimmig verabschiedete Resolution des Europaparlaments am 26. April dieses Jahres und die unterstützenden Aussagen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Es geht nicht nur um die unmittelbaren Gefahren beim Bau von Infrastruktur, in der Schifffahrt, in der Fischerei oder im Tourismus, und nicht nur in Nord- und Ostsee. Es ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass es auch um die langfristigen Gefahren in der Nahrungskette geht. Giftstoffe im Meer verändern das Erbgut von Fisch- und Muschelbrut. Das ist eine stille, aber eine sehr offensichtliche Gefahr für uns alle.
Was schlagen wir also nun vor? Ein ganz zentraler Punkt ist der Bau einer mobilen Plattform zur Behandlung von Kampfstoffen jeglicher Art auf hoher See. Das ist technisch umsetzbar, und wir stoßen diese Realisierung mit dem Antrag an. Diese Plattform kann in der Praxis zeigen, wie eine effiziente Räumung und Vernichtung von Kampfmitteln ohne Gefahr für Mensch und Ökosystem möglich ist.
Dieses Pilotprojekt kann nur der Anfang sein; denn schnellstmöglich muss eine maritim-industrielle Hochskalierung folgen, um Kosten zu senken und natürlich auch um schneller voranzukommen. Nach meiner Einschätzung brauchen wir zukünftig ein Dutzend dieser Plattformen, um das Problem in den 20 Jahren gelöst zu bekommen.
Wir leiten heute neue Schritte im Umgang mit den gefährlichen Kampfstoffen ein. Ohne die Unterstützung des Bundes und auch der EU wären wir jedoch nicht in dieser Situation. Zahlreiche Forschungsprojekte wurden und werden gefördert. Wir müssen das Wissen und die Daten international standardisieren, um effektiver zu werden; auch das fordert unser Antrag.
Einen gewaltigen Schub hat dabei die Entwicklung in der maritimen Wirtschaft und der Industrie ausgelöst. Deutschland ist hier technologisch führend. Diesen technologischen Vorsprung wollen wir in Wertschöpfung bringen und für den Schutz von Mensch und Natur nutzen. Das ist meiner Meinung nach der beste Ansatz, und wir können auf diesem Wege mehr internationale Kooperation organisieren. Das Bergen und das umweltschonende Unschädlichmachen von Kampfstoffen ist eine wertvolle Fähigkeit, die weltweite Nachfrage finden wird.
Die Kommissionspräsidentin hat sich nicht nur unterstützend geäußert, sondern angeregt, dass sich insbesondere die Ostseeanrainer als Pilotregion generieren sollten. Wir gehen also mit dieser Initiative aus dem Ostseeparlament und nun auch aus dem Deutschen Bundestag europaweit deutlich voran, und das erfüllt mich mit Stolz, aber auch mit Respekt vor dieser Aufgabe.
Und abschließend. Wir dürfen nicht warten, bis alle Rechtsfragen geklärt sind. Wir haben nicht die Zeit, bis alle Zuständigkeiten national oder international harmonisiert wurden. Wir müssen uns auch finanziell nicht nach der Decke strecken. Deshalb fordert unser Antrag auch den Weg in einen internationalen freiwilligen Geberfonds, der nach meiner Auffassung mit mindestens 500 Millionen Euro starten sollte. Wir brauchen eine Expertengruppe, die nach Gefahrenabschätzung priorisiert, die passende, wirksame Maßnahmen vorschlägt, die die zuständigen Stellen berät und die internationalen Ausschreibungen vorbereiten kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, das Trauma zweier Weltkriege und ein gemeinsamer Friedens- und Wohlstandswille führten zur Bildung der Europäischen Union. Europa ist auch hier ein Teil der Lösung.
Ganz herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Uwe Schmidt, SPD.
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Moin, Herr Präsident! – Oh, das ist aber feucht hier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Der Minister ist ja nicht da, aber der Staatssekretär, Herr Ferlemann. Moin! Mit Salzwasser hat Herr Scheuer das offensichtlich nicht so.
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Moin, Kolleginnen und Kollegen! Bei uns an der Küste sagt der Volksmund: Bei ruhiger See ist jedermann gern ein Lotse. – Doch unsere maritime Wirtschaft ist nicht erst durch die Coronapandemie in unruhiges Fahrwasser geraten. Daher möchte ich drei Punkte aus unserem Antrag – der übrigens hervorragend vom Kollegen Saathoff verhandelt wurde – hier herausstellen: erstens den Schutz von Bevölkerung, Küsten und Umwelt; zweitens die Sicherung von Arbeitsplätzen in der maritimen Wirtschaft, drittens den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Schiffbauindustrie und deren Zulieferer.
Diese Woche lief das erste Containerschiff mit dem zurzeit größtmöglichen Tiefgang den Hamburger Hafen an. Auf Containerschiffen dieser Art finden sich heute oftmals nur noch 20 Mann Besatzung wieder. Die Überforderung des knappen Personals birgt ein zusätzliches Unfallrisiko. Die Havarie der „Ever Given“ im Sueskanal zeigt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis so etwas auch bei uns passieren könnte, auf der Elbe oder der Weser. Ich hoffe, das geht an uns vorbei.
Schiffe dieser Größe bergen ein erhebliches Risiko für unsere Bevölkerung, Küsten und Umwelt. Da können die internationalen Großreedereien die Hauptverantwortung nicht einfach bei den Kapitänen belassen; da muss es zukünftig eine Betreiberhaftung geben.
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Das hätte ich gern Herrn Scheuer gesagt, aber der Kollege Ferlemann hört ja aufmerksam zu. – Aber davon sind wir in der Seeschifffahrt ja meilenweit entfernt. Die internationale Seeschifffahrt ist im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern völlig unreguliert.
Daher fordern wir, die Verantwortung für die Ladungssicherungskonzepte über die Schiffsführung hinaus auszuweiten, nach Gefährdungspotenzial festgelegte Schifffahrtsrouten sowie eine unabhängige Schiffszertifizierung; weil das bei den Kollegen in China und Südostasien an einigen Punkten nicht so richtig klappt.
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Sie, lieber Herr Minister, müssen bei der IMO endlich dafür sorgen, die Schiffsgrößenentwicklung zu begrenzen und die Haftungsfragen hier mal zu klären.
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Eines muss allen klar sein – und für uns als SPD gilt das selbstverständlich –: Schutz von Bevölkerung, Küsten und Umwelt geht vor Profitinteressen der internationalen Großreedereien.
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Mein zweiter Punkt. Immer weniger junge Leute wollen nautische Berufe erlernen. Warum ist das eigentlich so? Durch die Änderung der Schiffsbesetzungsverordnung 2015 – Herr Dobrindt war ja eben hier – fehlt den hochqualifizierten Leuten, die von den Schifffahrtsschulen kommen, offensichtlich die Möglichkeit, ihr Patent auszufahren.
({6})
Die deutschen Reeder haben sich hier nicht an ihre Zusagen gehalten und nicht ausreichend Bordarbeitsplätze zur Verfügung gestellt,
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für mich eine fatale Entwicklung. Die bisherigen Maßnahmen der Schifffahrtsförderung haben das Ziel damit deutlich verfehlt; das ist, glaube ich, jedem klar. Daher fordern wir, die Förderprogramme noch stärker an ihre Beschäftigungswirkung zu knüpfen, und das gemeinsam mit den Sozialpartnern.
({8})
Einen dritten Punkt möchte ich noch erwähnen. Das Vergabeverfahren zum Neubau eines renommierten Forschungsschiffes wie der „Polarstern“ hat gezeigt, dass verlässliche Auftragsvergaben wichtig für die maritime Wirtschaft sind.
({9})
Unsere Werften liefern im Forschungsschiffbau Leistungen auf absolutem Spitzenniveau ab. Daher fordern wir, den Behörden- und Forschungsschiffbau genauso als Innovationsträger und Schlüsseltechnologie einzustufen wie bereits den Marineschiffbau. Und da gab es ja bereits Schwierigkeiten.
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– Der Kollege Saathoff klatscht.
({11})
Nur so kann es uns gelingen, die Beschaffung von Behörden- und Forschungsschiffen sowie Marinefahrzeugen zu beschleunigen und Aufträge gezielt an die deutsche Industrie zu vergeben. Die bisherige Praxis – der billigste Jakob bekommt den Zuschlag – ist krachend gescheitert; ich will nur auf die „Gorch Fock“ verweisen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
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Dann beende ich jetzt meine Rede.
Bitte.
({0})
Dann kann ich leider nichts mehr – – Na, Gott sei Dank! Das überlasse ich Ihnen. Wenn Sie den überhaupt kennen – ich glaube, Sie kennen den nicht.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir in diesen Tagen die Arbeit von Betriebsräten, ich würde hinzufügen: auch von Personalräten und Werkstatträten, in Deutschland als Deutscher Bundestag ordentlich würdigen.
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Denn das, was Betriebsräte, Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter in diesen Zeiten, aber auch ganz grundsätzlich leisten, macht unser Land stark. Betriebsräte sorgen dafür, die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Unternehmen wirksam zu vertreten. Wo Betriebsräte aktiv sind, werden Arbeitsschutzregeln konsequent eingehalten. Wo Betriebsräte aktiv sind, werden die Interessen von Beschäftigten vertreten, wenn es zum Beispiel um Betriebsvereinbarungen für mobiles Arbeiten, fürs Homeoffice geht. Wo Betriebsräte aktiv sind, gibt es moderne Betriebsvereinbarungen, zum Beispiel auch für Qualifizierung und Weiterbildung. Also, meine Damen und Herren, was Betriebsräte leisten, ist für dieses Land, für unsere soziale Marktwirtschaft und unsere Volkswirtschaft unglaublich wichtig.
Aber ich will auch aus der wirtschaftspolitischen Perspektive sprechen. Aus meiner Heimat kenne ich leider Gottes einige Beispiele von Unternehmen, die an kurzsichtigen Anteilseignern oder an unfähigem Management gescheitert sind. Aber ich kenne kein Unternehmen in meiner Heimat, das je an einem sturen Betriebsrat gescheitert ist. Im Gegenteil, meine Damen und Herren:
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Betriebsräte übernehmen nicht nur die Interessenvertretung, sondern ganz oft, in vielen Fällen, in Krisen- und in Change-Prozessen mittlerweile auch Ko-Management-Funktionen in deutschen Unternehmen.
Deshalb ist es nach 20 Jahren höchste Zeit, dass wir das Betriebsverfassungsgesetz grundlegend erneuern. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute im Deutschen Bundestag als Bundesregierung einbringen, gibt es drei wesentliche Fortschritte, um Betriebsverfassung, um Mitbestimmung in Deutschland zu stärken:
Erstens. Wir brauchen in Deutschland mehr Betriebsräte. Denn ich habe über die guten Beispiele gesprochen, aber wir haben viel zu viele Bereiche, die betriebsratsfreie Zonen sind. Deshalb werden wir nicht nur die Gründung von Betriebsräten erleichtern und die Wahlverfahren vereinfachen; wir wollen auch Mut machen, dass mehr Menschen einen Betriebsrat gründen. Einen Betriebsrat zu gründen, ist schon heute ein gutes Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Es ist sogar ein Straftatbestand, das zu unterdrücken. Aber in der Realität des Lebens gibt es einige schwarze Schafe in Unternehmen, die mit allen Tricks und Mitteln Menschen einschüchtern, um eine Betriebsratsgründung zu verhindern. Übrigens soll das auch bei großen amerikanischen Konzernen in Deutschland vorgekommen sein.
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Deshalb stärken wir den Kündigungsschutz für diejenigen, die tatsächlich einen Betriebsrat gründen wollen, für die Wahlinitiatoren.
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Zweitens. Meine Damen und Herren, Betriebsräte in Deutschland brauchen moderne Arbeitsbedingungen. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass Betriebsräte auf der Höhe der Zeit arbeiten und auch entsprechend Beschlüsse fassen können müssen. Deshalb werden wir dauerhaft das Recht schaffen, per Video- und Telefonkonferenz Betriebsratssitzungen durchführen und darin Beschlüsse fassen zu können. Die Entscheidung darüber liegt aber beim Betriebsrat selbst, um das ganz deutlich zu sagen.
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Drittens. Ich habe es vorhin gesagt: Betriebsrätinnen und Betriebsräte brauchen in Deutschland die Möglichkeit, auch in Zeiten des digitalen und technologischen Wandels auf der Höhe der Zeit Mitbestimmung ausüben zu können. Deshalb stärken wir nicht nur das Recht, Betriebsräte zu gründen, sondern wir stärken auch die Rechte von Betriebsräten. Das betrifft beispielsweise ein Initiativrecht von Betriebsräten für Qualifizierung und Weiterbildung, damit die Beschäftigten von heute in diesem Wandel der Arbeitsgesellschaft auch die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen;
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beispielsweise auch, indem wir ein neues Recht auf Mitbestimmung für Betriebsräte bei der Ausgestaltung mobiler Arbeit schaffen, und auch, indem wir dafür sorgen, dass beim Einsatz von künstlicher Intelligenz Mitbestimmungsrechte gestärkt werden und dass den Betriebsräten das Handwerkszeug zur Verfügung steht, auch in diesem Bereich mitbestimmen zu können, indem sie leichter externen Sachverstand heranholen können.
Ich will mal ein Beispiel nennen. Künstliche Intelligenz ist eine Riesenchance zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft. Aber falsch eingesetzt kann sie die Rechte von Beschäftigten tatsächlich zerstören, wenn es beispielsweise um Personalauswahl geht, die man inzwischen auch über künstliche Intelligenz machen kann. Sie ist eine Chance, dass das diskriminierungsfrei läuft; aber falsch gemacht kann sie Diskriminierung auch noch verstärken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Präsident, die Mitbestimmung ist nicht nur eine gute Tradition in Deutschland als sozialer Marktwirtschaft; die Mitbestimmung ist nicht nur ein Stück deutscher Sozialstaat. Wo Betriebsräte arbeiten, gemeinsam mit Gewerkschaften, sind die Lohn- und Arbeitsbedingungen und die Zukunftsperspektiven von Beschäftigten in der Regel besser.
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Und deshalb braucht unser Land mehr Mitbestimmung und nicht weniger.
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Aber das hat auch eine Dimension nicht nur für die Rechte der Beschäftigten und für die wirtschaftliche Stabilität von Unternehmen in einem dramatischen Strukturwandel, sondern es hat auch mit Demokratie zu tun, meine Damen und Herren. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland macht Demokratie nicht Halt am Werkstor. Wirtschaftsdemokratie ist auch Teil der sozialen Marktwirtschaft. Demokratie sind nicht nur die Parlamente, sondern Demokratie sind auch Betriebsräte. Deshalb herzlichen Dank an die Betriebsräte in Deutschland. Wir stärken ihnen heute den Rücken.
Herzlichen Dank.
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Jürgen Pohl, AfD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Werte Arbeitnehmer im Land! Die AfD begrüßt ausdrücklich jeden geeigneten Vorschlag zur Erleichterung von Betriebsratswahlen mit dem Ziel, zu einer höheren Akzeptanz in den Betrieben zu kommen und den Arbeitnehmern insgesamt mehr Mut zu machen, eine Arbeitnehmervertretung zu wählen. Es müssen aber wirkliche Erleichterungen bei der Einleitung von Wahlen und vor allen Dingen bei der Kandidatenaufstellung sein. Auch die Befugnisse der betrieblichen Arbeitnehmervertreter müssen sich deutlicher an den wirklichen Interessen der Arbeitnehmer orientieren.
Erstens. Wir schlagen vor, vor allem für Klein- und Mittelbetriebe die Wahlen nach einem sogenannten vereinfachten Verfahren durchzuführen. Hierzu gibt es im BetrVG und in der Wahlordnung schon entsprechende Bestimmungen. Der Geltungsbereich sollte aber zwingend auf Betriebe mit bis zu 200 Beschäftigten ausgeweitet werden. Das trägt auf alle Fälle zu einer Beschleunigung und zusätzlicher Rechtssicherheit für die Wahl eines Betriebsrates bei. Konkrete Vorschläge seitens der AfD liegen vor. Ich empfehle hier das Papier „Sozialpolitische Impulse – Arbeit blau gedacht“.
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Zweitens. Darüber hinaus fordern wir eine Erleichterung für alle Arbeitnehmer bei der Aufstellung von Kandidaten und der Benennung von Wahlvorschlägen gegenüber dem jeweiligen Wahlvorstand. Zwei Unterstützungsunterschriften unter einem oder mehreren Kandidatenvorschlägen müssen ausreichen für einen gültigen und anerkannten Wahlvorschlag für die Betriebsratswahl.
Die Benachteiligung von Arbeitnehmergruppierungen gegenüber einer betrieblichen Gewerkschaft ist durch nichts zu rechtfertigen. Gewerkschaften sollten gegenüber einzelnen Arbeitnehmern im Betrieb keine Privilegien haben. Schließlich geht es bei einer Betriebsratswahl in allererster Linie um eine Wahl der Arbeitnehmer und um keine Wahl von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten oder sonstigen Funktionären.
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Insofern ist die Begründung innerhalb des Regierungsentwurfes, Herr Minister, geradezu eine Bevormundung von Arbeitnehmern und letztendlich Unsinn. Die Arbeitnehmer entscheiden ganz allein, wer gewählt wird. Die Bundesregierung sollte nicht den Versuch unternehmen, in ihre Gesetzesvorschläge sogenannte gewerkschaftliche Ideologien zu übernehmen. Aber augenscheinlich braucht Minister Heil für seinen Wahlkampf das Wohlwollen des DGB.
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Liebe Kollegen, wir müssen auch über den Tarifvorbehalt sprechen. Wir fordern, den Tarifvorbehalt der Gewerkschaften für die Regelung der Arbeitsbedingungen aufzuheben. Auch Betriebsräte sollten die Möglichkeit und die Kompetenz bekommen, für die Beschäftigten ihres Zuständigkeitsbereiches mit der Geschäftsleitung oder dem Arbeitgeber verbindliche Betriebsvereinbarungen oder eine Vereinbarung für einen Haus- oder Firmentarifvertrag zu treffen.
Die AfD, die Alternative für Deutschland, ist die Partei der Arbeitnehmer
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und steht für die Interessen der Arbeitnehmer und nicht für die Interessen der Altgewerkschaften.
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Kurzum: Arbeit von Betriebsräten muss wesentlich attraktiver gestaltet werden; gerade darin liegt die Aufgabe des Gesetzgebers.
Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung bewegt sich viel zu sehr in Richtung Bürokratie und technischer Vorgaben, anstatt auf wirklich notwendige Beteiligungs- und Mitspracherechte der Arbeitnehmer und ihrer Betriebsräte einzugehen. Die Vorschläge der AfD befördern dagegen einfachere und leichtere Durchführungsbestimmungen für Betriebsratswahlen und räumen den betrieblichen Arbeitnehmervertretern wichtige zusätzliche Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten ein.
Danke schön.
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Uwe Schummer, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Verehrtes Präsidium! Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von eben hat gezeigt: Sie haben ein Problem mit den demokratischen Parteien. Sie haben ein Problem mit den Kirchen. Sie haben ein Problem mit den Gewerkschaften. Sie haben ein Problem mit den Sozialverbänden. Aber irgendwann werden Sie begreifen: Nicht die Kirchen und Gewerkschaften sind das Problem; Sie sind das Problem.
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Das Betriebsrätegesetz ist jetzt ungefähr 100 Jahre alt. Es war ein katholischer Priester aus Essen, aus dem Ruhrgebiet, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns, der dieses Betriebsrätegesetz 1920 durchgesetzt hat. Und aus der gleichen Denke heraus sagen wir: Solidarität zwischen unterschiedlichen Kräften und Interessengruppen sowie eine partnerschaftliche Konsenskultur sind das Kontrastprogramm zu den Konfliktideologien jener und auch dieser Zeit, egal ob sie jetzt auf der einen Seite den Klassenkampf oder auf der anderen Seite den Rassenkampf propagieren. Wir wollen das Miteinander und Füreinander der verschiedenen Kräfte, und das spiegelt sich im Betriebsrätegesetz traditionell wider.
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Dass wir nach 100 Jahren auch ein Update der betrieblichen Mitbestimmung brauchen und dass Mitbestimmung kein Schönwetterkonzept ist, sondern sich gerade in schwierigen Zeiten immer wieder bewährt hat, ist offenkundig.
Es stimmt: Wir wollen zwei Linien verfolgen.
Zum einen wollen wir mehr Betriebsräte. Wir wollen die Erosion der Betriebsräte in den Unternehmen beenden. Wir sehen, dass viele neue Unternehmen diese Mitbestimmungskultur eben nicht aufgenommen haben. Deshalb wollen wir schauen, dass wir die Mitbestimmung modernisieren und mehr Betriebsräte bilden. Dazu hilft ein einfaches Wahlverfahren, das nicht kompliziert ist und nicht über sechs bis acht Wochen hinweg andauert, bis man mit vielen Unterstützungsunterschriften dann einen Betriebsrat gebildet hat, sondern man kann nun in Unternehmen mit bis zu 200 Beschäftigten optional das einfache Wahlverfahren über eine Wahlversammlung organisieren.
Wir wollen letztendlich auch deshalb mehr Betriebsräte, weil eine Nahrungskette mit betrieblicher Mitbestimmung eine Selbststeuerung der Wirtschaft, nämlich Tarifautonomie auf der einen Seite und Betriebspartnerschaft auf der anderen Seite, ermöglicht und auch dafür sorgt, dass der Staat sich weniger einmischen muss. Dort, wo es Betriebsräte gibt, liegt die Tarifautonomie bei über 70 Prozent. Dort, wo es keine betriebliche Mitbestimmung gibt, liegt auch die Tarifbindung bei nur noch 25 Prozent. Betriebliche Mitbestimmung und dann Tarifautonomie, bessere Löhne, faire Arbeit – das ist eine Nahrungskette, die wir stärken wollen.
Dazu gehört auch, in der sensiblen Phase, bevor ein Wahlvorstand gebildet wird, den Kündigungsschutz des Wahlvorstandes auf die Vorfeldinitiatoren zu erweitern, wenn sie sich in einer Protokollerklärung dafür aussprechen. Das betrifft vor allem die, wie Untersuchungen festgestellt haben, 10 bis 15 Prozent der Unternehmen, in denen gemobbt, gekündigt und gestört wird, damit kein Betriebsrat gebildet werden kann. Das ist eine Minderheit der Unternehmen; aber es gibt diese 10 bis 15 Prozent. Da müssen wir die Schutzbestimmungen ausweiten.
Das erreichen wir mit einem sehr einfachen Konzept, das von der Arbeitnehmergruppe innerhalb der Unionsfraktion seit drei Jahren propagiert wird, nämlich durch eine neutrale Stelle für die Protokollerklärung und die Ausweitung der Schutzbestimmungen auf die Vorfeldinitiatoren.
Wir wollen nicht nur mehr Betriebsräte. Wir wollen auch die Altersgrenze bei der Wahl der Jugend- und Auszubildendenvertretung aufheben, die ich 1993 als Bundesvorsitzender der Jungen CDA zusammen mit Bernd Rützel parlamentarisch durchgesetzt habe – jetzt kommen die Veteranengeschichten –; denn wir wollen, dass junge Menschen, wenn sie später die Ausbildung beginnen, auch mit 25 Jahren und darüber hinaus noch im dritten Lehrjahr die Jugend- und Auszubildendenvertretung mitwählen können. Wir wollen, dass junge Arbeitnehmer ein doppeltes Wahlrecht haben, nämlich sowohl für die Jugend- und Auszubildendenvertretung als auch für den Betriebsrat.
Wir wollen aber nicht nur mehr, sondern auch moderne Betriebsräte. Dafür sind die Erfahrungen, die wir in der Pandemie gemacht haben, nämlich Betriebsratssitzungen per Videokonferenz zu organisieren, wichtig. Es geht auch um Mitbestimmung beim Einsatz von künstlicher Intelligenz, wenn die Arbeitsablauforganisation der Beschäftigten betroffen ist. Bei Regelungsbedarf kann man sich auch auf einen ständigen Sachverständigen verständigen, der dann die Betriebsratsarbeit begleitet.
Das sind die Themen, die hilfreich und wichtig sind. Wir wollen also sowohl mehr Betriebsräte als auch moderne Betriebsräte. Dafür setzen wir uns ein.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Carl-Julius Cronenberg, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung verfolgt einerseits das Ziel, die Gründung von Betriebsräten zu fördern, und andererseits, die Rolle bestehender Betriebsräte zu stärken. So weit, so gut.
Der interne Abstimmungsprozess zum Gesetzentwurf hat im Wesentlichen zu einer Neuplakatierung geführt: Aus dem Betriebsrätestärkungsgesetz wurde das Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Namensgebung im Zentrum der Beratungen gestanden hat, dann ging es wohl weniger um den Inhalt des Gesetzentwurfs als um die Wahlkampftauglichkeit der Verpackung, und das kritisieren wir.
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Dabei gibt es ohne jeden Zweifel Bedarf an Modernisierung. Niemand kann sich freuen, dass betriebliche Mitbestimmung insbesondere in Betrieben mit zwischen 50 und 500 Beschäftigten seit Jahren auf dem Rückzug ist. Da stellt sich die Frage: Warum gibt es eigentlich so wenig Interesse an der Gründung eines Betriebsrats, so wenig Bewerber für den Betriebsrat?
Sie stellen im Gesetzentwurf den bewussten Verzicht auf einen Betriebsrat seitens der Belegschaft auf eine Stufe mit der bewussten Verhinderung der Gründung durch die Arbeitgeber. Dabei wissen Sie genau, dass Hunderttausende von Betrieben schlichtweg keine Notwendigkeit dafür sehen, weil sie vertrauensvoll und partnerschaftlich mit der Geschäftsleitung zusammenarbeiten, insbesondere kleine Betriebe.
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Dem gegenüber stehen nur handverlesene Einzelfälle einer arbeitgeberseitigen Behinderung. Das ist sehr schlimm und strafbewehrt. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel.
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Aber hier den Eindruck zu erwecken, es handle sich um ein Massenphänomen, ist, mit Verlaub, unredlich. Vielmehr ist die Betriebsratsarbeit überreguliert und bürokratisch.
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Warum können Beschlüsse nicht elektronisch im Umlaufverfahren gefasst werden? Warum benötigen Betriebsvereinbarungen in Zukunft eine qualifizierte elektronische Signatur? Das ist im Zweifel noch hinderlicher als die übliche Schriftform. Ihr Bürokratismus steht der Gründung von Betriebsräten definitiv mehr und öfter im Wege als mitbestimmungsfeindliche Arbeitgeber, liebe Koalition von CDU und SPD.
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Nehmen wir die Ausweitung des sogenannten vereinfachten Wahlverfahrens. Ganz ehrlich: Ihr vereinfachtes Wahlverfahren ist immer noch weit komplizierter als die Wahl eines Bundestagskandidaten oder eines Bundesvorsitzenden einer Partei. Und schon das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ist nicht gerade trivial, wie Sie wissen.
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Es ist dringend erforderlich, dass Betriebsräte auf elektronischem Weg gewählt werden können. Deshalb fordern wir genau das in unserem Antrag.
Beim Thema „Ausgestaltung von Homeoffice“ wollen Sie Betriebsräten mehr Mitbestimmungsrechte einräumen. Dabei wissen Sie doch ganz genau, dass Ihre Ergänzung um Nummer 14 in § 87 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz nichts, aber auch gar nichts regelt, was nicht bereits in den Nummern 1 bis 13 geregelt ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Das ist weder Stärkung noch Modernisierung. Das ist schlichtweg Symbolpolitik.
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Der Gesetzgeber ist gegenüber den Sozialpartnern zur Neutralität verpflichtet. Wenn er betriebliche Mitbestimmung stärken will, muss er sie entbürokratisieren. Genau darauf zielt unser Antrag ab. Digitale Wahlen, Sitzungen im digitalen Format – da ist Gott sei Dank etwas geschehen –, digitale Beschlussfassungen, so lautet der Dreiklang, der die Betriebsräte ins 21. Jahrhundert führt.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
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Jutta Krellmann, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Gewerkschaftssekretärin habe ich über 25 Jahre Betriebsräte betreut. Ich habe mit den Kolleginnen und Kollegen gestritten und gekämpft. Ihre Aufgabe ist, darüber zu wachen, dass Gesetze, Verordnungen und Tarifverträge eingehalten werden. Starke Betriebsräte schützen ihre Kolleginnen und Kollegen und gestalten Veränderungen im Betrieb.
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Im Gesetz steht: „In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf … Arbeitnehmern … werden Betriebsräte gewählt.“ Das ist gelebte Demokratie!
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Aber nur noch 9 Prozent der Betriebe haben einen Betriebsrat, 91 Prozent nicht. Nur 40 Prozent der Beschäftigten werden durch einen Betriebsrat vertreten, 60 Prozent nicht. Das, Kolleginnen und Kollegen, ist eine Katastrophe.
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Ich bin entsetzt, wenn ich höre, dass Abgeordnete über die vorhandene soziale Marktwirtschaft schwadronieren, aber dieses Problem ignorieren. Leider wird auch der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung an dieser Entwicklung nichts Grundsätzliches ändern. Das machen wir nicht mit!
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Wir brauchen endlich eine echte Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes. Von März bis Mai 2022 werden wieder Betriebsratswahlen stattfinden. Und ich muss Ihnen sagen, sehr geehrte Bundesregierung: Mit Ihrem Vorschlag werden wir nicht mehr Betriebsräte haben. – Über das vereinfachte Wahlverfahren wollten Sie schon 2001 mehr Betriebsräte erreichen. Das ist doch gescheitert. Warum soll das jetzt durch die geplante Ausweitung gelingen?
Die weiteren Punkte des Gesetzentwurfs sind vielfach eine Bestätigung sowieso schon herrschender Rechtsauffassungen. Und es gibt im Übrigen auch keine wirkliche Stärkung der Mitbestimmungsrechte. Sie haben keine innovative Idee für den Start in die nächsten 50 Jahre.
Wir haben in unserem Antrag viele konkrete Vorschläge zur Stärkung der Mitbestimmung gemacht. Aber die zentrale Frage ist, wie es gelingt, mehr Betriebsräte zu wählen. Die Linke sagt:
Erstens. Das Arbeitsgericht kann direkt einen Betriebsrat einsetzen, wenn Wahlen behindert wurden.
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Zweitens. Befristet Beschäftigte haben das Recht auf einen unbefristeten Vertrag, wenn sie in den Betriebsrat gewählt werden. Und schaffen Sie endlich sachgrundlose Befristungen ab!
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Drittens. Arbeitgeber müssen einmal jährlich die Beschäftigten über ihre Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz aufklären. Gewerkschaften sollen die Sitzung leiten. Dann können Beschäftigte informiert Betriebsratswahlen einleiten.
Wenn Sie wollen, dass die Rechte der Beschäftigten gestärkt werden, dann stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass es jetzt doch noch eine Reform der betrieblichen Mitbestimmung geben wird. Die weißen Flecken bei der Mitbestimmung sind groß. Die Betriebsräte brauchen mehr Schutz. Und die Mitbestimmung muss an die Digitalisierung und Transformation angepasst werden. Diese großen Herausforderungen können in den Unternehmen nur gemeinsam, also mit den Beschäftigten und den Betriebsräten, bewältigt werden, und das funktioniert nur mit einer Mitbestimmung auf Augenhöhe.
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Der Gesetzentwurf ist zwar kein großer Wurf – es gibt Licht und Schatten –, aber er geht in die richtige Richtung. Wirklich gut ist, dass jetzt endlich auch die Beschäftigten Schutz bekommen, die sich auf den Weg machen, erstmalig einen Betriebsrat zu gründen. Das ist die schwierigste Phase, vor allem in Unternehmen, die mitbestimmungsfeindlich sind. Den Schutz dieser aktiven Beschäftigten haben wir schon 2014 gefordert. Jetzt wird das umgesetzt, und das freut mich ganz besonders; denn wenn Arbeitgeber Betriebsräte verhindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig an der Seite der Beschäftigten stehen.
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Im Gesetzentwurf fehlt aber mehr Schutz für die Betriebsräte, die sachgrundlos befristet angestellt sind. Sie haben aufgrund ihres Engagements in der Regel keine Chance, übernommen zu werden. Hier fordern wir, dass diese Arbeitsverhältnisse entfristet werden.
Gut wiederum ist, dass es ein Mitbestimmungsrecht geben wird, wenn es um mobile Arbeit geht. Das fordern auch wir. Aber das reicht nicht. Wir brauchen natürlich auch ein Gesetz, Herr Minister, um Homeoffice und mobiles Arbeiten ganz grundsätzlich zu regeln.
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Auch das vorgesehene Initiativrecht bei der Weiterbildung ist zwar gut, aber zu wenig. Die Herausforderungen sind groß. Deshalb fordern wir ein echtes Mitbestimmungsrecht bei der qualitativen Personalentwicklung. Wichtig wäre natürlich auch ein digitales Zugangsrecht für die Gewerkschaften. Das müsste doch in einer digitalen Arbeitswelt selbstverständlich sein.
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Dann gibt es auch Regelungen, die gar nicht gehen, und zwar beim Thema Datenschutz. Hier wird vom Betriebsrat Unterstützung und Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber gefordert. Damit ist die Unabhängigkeit des Betriebsrats in Gefahr. Das müssen Sie, die Regierungsfraktionen, auf jeden Fall noch ändern.
Mein Fazit ist hier in erster Lesung: Die Reform ist wichtig, die Richtung stimmt. Im Gesetzentwurf gibt es alles, von „sehr gut“ über „schlecht" bis hin zu „geht gar nicht“, „nicht akzeptabel“. Sie sollten ihn also noch an einigen Stellen verbessern. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss. Das wird kontrovers; aber wir werden, wie immer, konstruktive Vorschläge machen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Heute ist ein wirklich guter Tag für alle Betriebsrätinnen und Betriebsräte in unserem Land. Hubertus Heil, unser Arbeitsminister, hat heute früh in seiner Rede nicht nur den Betriebsrätinnen und ‑räten für ihre hervorragende Arbeit gedankt und sie gelobt, sondern auch einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir die Rechte der Betriebsräte stärken, sie modernisieren und die Betriebsräte fit machen für die Herausforderungen und auch dafür sorgen, wie der Kollege Uwe Schummer gesagt hat, dass noch mehr Betriebsräte gegründet werden. Das stärkt dann die Tarifbindung, und das ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Jutta Krellmann hat die Zahlen des IAB-Betriebspanels genannt: Nur 9 Prozent aller betriebsratsfähigen Betriebe haben einen Betriebsrat, 91 Prozent nicht. Nur 40 Prozent aller Beschäftigten werden durch einen Betriebsrat vertreten. Woran liegt das? Wollen die Menschen keinen Betriebsrat, weil sie sehr vertrauensvoll mit dem Arbeitgeber zusammenarbeiten, lieber Carl-Julius Cronenberg? Es mag vielleicht sein, dass es solche Einzelfälle gibt. Aber ich kenne auch sehr viele Fälle, in denen Betriebsräte behindert werden,
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in denen Arbeitgeber mit allen Mitteln versuchen, dafür zu sorgen, dass der Betrieb betriebsratsfrei bleibt, dass der Betriebsrat nicht hochkommt. Ich kenne das aus meinem Wahlkreis; aber es gibt viele Beispiele, die jeder kennt. Da können wir nicht zugucken.
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Wir müssen an der Seite derer stehen, die sich treffen und lange überlegen: „Wir brauchen doch mal einen Betriebsrat“, und müssen dafür sorgen, dass sie nicht rausgeschmissen werden,
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dass sie nicht ausgehungert werden, dass sie einen Kündigungsschutz erhalten. Und das machen wir mit diesem Gesetz.
Das vereinfachte Wahlverfahren bei Betriebsratswahlen hat nachweislich dazu geführt, dass die Wahlbeteiligung in den Betrieben, wo es das vereinfachte Wahlverfahren gibt, 10 Prozentpunkte höher liegt als in denen, wo das nicht der Fall ist, weil es schneller geht, weil es kompakter geht, weil es besser läuft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir weiten das vereinfachte Wahlverfahren aus. Wir senken auch die Schwellen, was die Stützunterschriften anbetrifft.
Ich bin auch froh, dass die Jugend- und Auszubildendenvertretungen gestärkt werden, dass die Wahl ausgeweitet wird. Es ist nicht mehr wie früher, als die über 24‑Jährigen einen Anteil von nur 2 bis 3 Prozent an den Auszubildenden ausmachten. In Berlin zum Beispiel sind es derzeit 18 Prozent. Die Auszubildenden werden immer älter und stehen nicht wie wir, Uwe Schummer, mit 14 Jahren an der Werkbank. Ich habe mir sagen lassen: Man kann auch noch eine Ausbildung machen, wenn man 30 ist, wenn man 40 ist, wenn man 50 ist. Man lernt nie aus. Deswegen brauchen wir auch starke Jugend- und Auszubildendenvertretungen.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein herzliches Grüß Gott! Betriebliche Mitbestimmung und Tarifautonomie tragen wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes bei und sichern auch den sozialen Frieden. Soziale Marktwirtschaft, starke Sozialpartnerschaft setzt voraus, dass Interessen gebündelt werden, auf Betriebsebene, auf Ebene der Branchen und branchenübergreifend. Dazu braucht es starke Arbeitgeberverbände und natürlich auch Gewerkschaften.
Starke Sozialpartnerschaft setzt Gestaltungswillen und Gestaltungskraft voraus. Diese Fähigkeiten brauchen wir mehr denn je; denn Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel erzeugen eine unglaubliche Dynamik und beschleunigen Veränderungsprozesse. Aufgabe von Politik und Sozialpartnerschaft ist es, diese Veränderungsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken. Gleichzeitig sehen wir, dass die Kraft der Sozialpartnerschaft brüchig geworden ist. Die Bindekraft von Tarifverträgen lässt nach, und die betriebliche Mitbestimmung ist spürbar schwächer geworden; das wurde von meinem Vorredner beschrieben. Wir wollen genau diesen Trend stoppen; wir wollen ihn umkehren. Wir wollen mehr Betriebsräte in Deutschland. Deswegen wollen wir das vereinfachte Wahlverfahren bei der Betriebsratswahl ausweiten und damit die Gründung von Betriebsräten fördern.
Ich finde es durchaus besorgniserregend, welche Geringschätzung der betrieblichen Mitbestimmung zum Teil entgegengebracht wird. Nicht wenige meinen, Betriebsräte seien nicht mehr zeitgemäß, sie seien überflüssig. Die, die das äußern, unterliegen einer wesentlichen Fehleinschätzung; denn sie wissen nicht oder schätzen falsch ein, welchen großen Mehrwert es im Hinblick auf Akzeptanz und Betriebsfrieden bedeutet, wenn wichtige Entscheidungen zuvor im Betriebsrat besprochen und dann gemeinsam im Betrieb umgesetzt werden. Geringschätzung geht gar nicht, und erst recht nicht Behinderung oder gar Verhinderung von Betriebsratswahlen. Deswegen sorgen wir für bessere Schutzmechanismen bei der Betriebsratswahl betreffend den Wahlvorstand und auch die Vorfeldinitiatoren. Diese Schutzmechanismen sind zugleich ein klares Stoppsignal gegenüber denjenigen Arbeitgebern, die die Gründung von Betriebsräten verhindern wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Arbeitswelt ist massiven Veränderungen ausgesetzt. Achtstundentag, Präsenzpflicht, Ruhezeiten, diese klassischen Vorstellungen sind nicht allein, aber natürlich auch durch die Digitalisierung aufgebrochen worden. Die Beschäftigten wollen immer mehr Flexibilität, sie fordern sie ein. Video- und Telefonkonferenzen gehören zumindest seit der Pandemie zum täglichen Handwerkszeug. Deswegen führen wir sie auch bei der Betriebsratsarbeit dauerhaft als Option für die Präsenzsitzungen ein.
Heute haben wir uns ja an Computer, Smartphones und Apps als Unterstützung in allen Lebensbereichen längst gewöhnt. Weiterer technischer Fortschritt wird dazukommen, darunter auch künstliche Intelligenz. Künstliche Intelligenz ist ein neues Handwerkszeug, um Arbeit leichter und effizienter zu machen. Sie wird in vielen Bereichen menschliche Arbeit verändern und zum Teil auch ersetzen. Deswegen müssen wir Chancen und Schutz in Einklang bringen. Die frühzeitige Einbindung von Arbeitnehmervertretungen ist dafür wichtig; das stellen wir klar. Das erhöht Vertrauen und Akzeptanz bei der Einführung und Anwendung von künstlicher Intelligenz. Um uns das notwendige Handwerkszeug dafür an die Hand zu geben, kann man auch auf externen Sachverstand zurückgreifen; das ist richtig.
Ortsflexibles Arbeiten wird immer wichtiger und stärker von den Beschäftigten eingefordert. Sie begreifen das als Flexibilitätsgewinn, nicht als Bedrohung. Mobiles Arbeiten wird auch nach der Pandemie einen hohen Stellenwert haben. Die Entscheidung über die Einführung von mobiler Arbeit ist und bleibt Aufgabe des Arbeitgebers. Bei der Ausgestaltung von mobiler Arbeit werden Betriebsräte in Zukunft ein eigenständiges Mitbestimmungsrecht erhalten. Das ist auch sachgerecht; denn es geht darum, verbindlich und passgenau in den Betrieben zu regeln, wie der Einsatz von mobiler Arbeit funktioniert, und dabei auch die Grenzen klar zu formulieren. Das schafft Schutz und Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Deshalb schaffen wir ein neues Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung von mobiler Arbeit.
Mobile Arbeit ist nicht risikolos. Es gibt Lücken, gerade im Unfallversicherungsschutz. Derzeit sind wir im Gespräch, wie wir diese Lücken schließen können. Wir als Union wollen das, weil wir dazu beitragen wollen, den Versicherungsschutz zu verbessern.
Betriebsräte haben eine wichtige Funktion. Der vorliegende Gesetzentwurf stärkt unsere Betriebsräte in Deutschland. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um das Infektionsschutzgesetz im Allgemeinen und dessen verfassungswidrige Änderungen im Besonderen, wieder einmal. Schon zum dritten Mal stehe ich nun hier und versuche, einige von Ihnen, zumindest 90 aus den Altfraktionen, davon zu überzeugen, uns um unserer Bürger willen beim Kampf gegen das offensichtlich verfassungswidrige Infektionsschutzgesetz zu unterstützen. Wir bitten um Unterstützung gegen ein verfassungswidriges Notstandsgesetz,
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das durch eine relative Mehrheit hier im Deutschen Bundestag mit nicht mal allen Stimmen der Koalition vor zwei Wochen durchgepeitscht wurde, übrigens gegen die Stimmen von AfD und Linken und FDP und bei Enthaltung der selbsternannten Kanzlerinnenpartei; dies werden die Wähler allerdings verhindern.
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Meine Damen und Herren, sich beim Infektionsschutzgesetz, ein Thema, das die Bevölkerung umtreibt, zu enthalten und dann Haltung durch Enthaltung zu zeigen, das ist klassische, erbärmliche Grünenpolitik – erbärmlich, typisch grün.
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Aber ansonsten ist einiges anders: Linke und FDP gemeinsam mit der AfD und etwa 10 Prozent der Abgeordneten von CDU und CSU auf der demokratischen Seite. Plötzlich findet man Teile der FDP – nach vielen Monaten der Agonie und hoffentlich nur rein zufällig zu Wahlkampfzeiten – wieder im Bereich der Bürgerrechte, der Freiheit. Zunächst zögerlich Herrn Kubicki, der sich langsam vortastete und offenbar auch andere FDP-Abgeordnete stimulierte, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Leider hat die FDP dabei etwas vergessen. Möglicherweise liegt es daran, dass Sie nicht so einen guten Justiziar haben wie die AfD-Bundestagsfraktion. Der zeigt Ihnen jetzt, woran es bei Ihnen mangelt.
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Das scharfe Schwert ist die Normenkontrollklage. Für diese braucht man freilich 25 Prozent der Abgeordneten, also 178. Aber Sie von der FDP haben nicht einmal versucht, fraktionsübergreifend dafür zu werben, wir von der AfD hingegen schon. Wir haben Sie von der FDP und Sie von den Linken angeschrieben und gebeten: Beteiligt euch doch jenseits aller Gräben. – Bis heute – Stand 9.30 Uhr – ist noch keine Antwort eingegangen. Wir wollen das scharfe Schwert der Normenkontrollklage ziehen. Sie haben sich auf das stumpfe Schwert der Verfassungsbeschwerde beschränkt und gestern Abend gesehen, was in Karlsruhe damit passiert. Unter dem Vorsitz des ehemaligen stellvertretenden CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Harbarth hat das Bundesverfassungsgericht alle Eilanträge zu den Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
Meine Damen und Herren von der FDP, warum diese Zurückhaltung? Habt ihr die Normenkontrollklage vergessen aus Inkompetenz, Angst vor der eigenen Courage? Es ist egal. Wir machen mit. Wir unterstützen euch. Wir zeigen euch, wie es geht. Als Partei und Fraktion der Freiheit, der Demokratie, der Grundrechte und der Normalität werden wir als AfD alles unternehmen, um auch gegen diese offensichtlich verfassungswidrige Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorzugehen.
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Deshalb schlagen wir hier und heute den wichtigen und richtigen Weg der abstrakten Normenkontrolle ein und werben jenseits aller politischen Unterschiede um Unterstützung der Mutigen und Aufrechten bei Linken, FDP und CDU und CSU, meine Damen und Herren.
Wir Demokraten müssen im Sinne der Freiheit unserer Bürger gegen die Bestimmungen des § 28b Infektionsschutzgesetz mit allen politischen und rechtlichen Möglichkeiten vorgehen; denn sie greifen in vielfacher Weise unvertretbar in unsere Grundrechtspositionen ein,
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vor allem die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person – Stichwort „Ausgangsverbote“ –, die allgemeine Handlungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Freiheit der Berufsausbildung, die Rechte von Ehe und Familie. Alles ist unter die Räder gekommen. § 28b Infektionsschutzgesetz durchbricht auch die Vollzugskompetenz der Länder. Föderalismus? Fehlanzeige.
Zudem kommt es zu einer massiven Verkürzung des Rechtsschutzes und des Rechtsweges. Darüber hat sich Frau Merkel übrigens vor Kurzem richtig gefreut und damit wieder ihre Missachtung und Verachtung unserer Verfassung zum Ausdruck gebracht.
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Schließlich ist mit dem ausschließlichen Fixpunkt der Inzidenzen Willkür Tür und Tor geöffnet; denn dies ist manipulierbar ohne Ende. Sie können über die Anzahl der Tests darauf einwirken, ob Ausgangsverbote verhängt werden oder nicht. Das ist alles andere als rechtsstaatlich.
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Meine Damen und Herren, zusammenfassend: Millionen Menschen, die kerngesund sind, werden massivst in ihren Grundrechten eingeschränkt. Wir leben seit über einem Jahr – Ralph Brinkhaus hat es gesagt – in einem Ausnahmezustand, in einem Notstand, der Existenzen zerstört hat, Kindern die Bildungschancen raubt, Menschen zu Hause einsperrt, Alte vereinsamen lässt. Meine Damen und Herren von den Linken, von der FDP und auch die wenigen Aufrechten in der CDU/CSU-Fraktion,
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nehmen Sie all Ihren Mut zusammen, stellen Sie das Wohl der Bürger ein Mal – ein Mal – über Ihre Partei- und Fraktionsinteressen, und lassen Sie uns gemeinsam dieses verfassungswidrige Gesetz zu Fall bringen. Gehen wir gleich gemeinsam raus, werfen wir die blauen Stimmkarten in die Urnen, und zeigen wir Angela Merkel und ihren Truppenteilen, wo die Glocken hängen.
Vielen Dank.
({9})
Nina Warken, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch erstaunlich, dass ausgerechnet die AfD neuerlich so viel Wert auf unsere Verfassung und die darin verbürgten Werte legt.
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In öffentlichen Äußerungen wurde die sogenannte Bundesnotbremse von der AfD mit einem Anschlag auf die föderale Ordnung und auf die demokratischen Grundprinzipien unserer Republik verglichen. Da, wo es opportun erscheint und vermeintlich Stimmen und Stimmung bringt, erklären sich die Kolleginnen und Kollegen der AfD zu Verfassungshütern. Das ist nicht nur entlarvend, meine Damen und Herren, sondern auch lächerlich.
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Denn selbstverständlich gelten unser Grundgesetz und die Grundrechte auch und gerade in Krisenzeiten wie der Coronapandemie.
Natürlich ist es so, dass das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz teilweise die Grundrechte Einzelner wie die allgemeine Handlungsfreiheit, die Bewegungsfreiheit und auch die Berufsausübungsfreiheit berührt. Doch wie man bereits im juristischen Grundstudium lernt, gelten Grundrechte eben nicht völlig grenzen- und schrankenlos.
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Sie können insbesondere dort eingeschränkt werden, wo die Rechte anderer betroffen werden. Und betroffen ist durch die Pandemie vor allem das ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das brauchen wir doch bei über 80 000 Coronatoten allein in Deutschland nicht wirklich zu diskutieren.
Was wir diskutieren müssen – und das haben wir vor Verabschiedung des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes intensiv getan –, ist, wie in einem solchen Kollisionsfall die betroffenen Grundrechtsgüter angemessen ins Verhältnis zu setzen sind. Bis zum Einsetzen der Notbremse durch das infragestehende Gesetz ist die Zahl der Infizierten über Wochen exponentiell angestiegen. Die Intensivstationen sind in bedenklicher Geschwindigkeit immer weiter vollgelaufen. Auch jetzt noch haben wir jeden Tag viel zu viele Tote zu beklagen. Ich weiß nicht, auf welchem Ohr Sie taub sind, wenn Sie die Hilferufe aus der Intensivmedizin von den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegekräften nicht vernommen haben.
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Vor diesem Hintergrund muss abgewogen werden, und wir haben uns diese Abwägung nicht leicht gemacht. Aus meiner Sicht ist es zumutbar, dass man sich in Landkreisen mit einer Inzidenz von über 100 zwischen 22 Uhr und 5 Uhr des Folgetages in seinen Aktivitäten einschränkt, zumal Sport und Bewegung ja sogar bis 24 Uhr noch möglich sind und es darüber hinaus auch Ausnahmen gibt. Es ist zumutbar, weil wir damit Menschenleben retten.
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Das Gesetz wird zu Recht als Notbremse bezeichnet, schließlich befinden wir uns auch in einer Notsituation. Es handelt sich gerade nicht um eine Spaß- oder Freiheitsbremse, wie Sie unterstellen.
Und natürlich sind die Inzidenzzahlen nicht, wie Sie meinen, willkürlich gewählt. Es ist einfach ein Faktum – das sich in der Vergangenheit deutlich gezeigt hat –, dass ab einem Infektionsgeschehen jenseits einer 100er-Inzidenz eine effektive Kontaktnachverfolgung Infizierter nicht mehr möglich ist.
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Das führt dann zu einer unkontrollierten Ausbreitung von Infektionen.
Wir hätten diese Grenze möglicherweise auch bei 95 oder 102 ziehen können, aber hinsichtlich der exakten Festlegung besteht eben auch eine gewisse Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.
Dass wir insbesondere bei den Schulen einen großzügigeren Grenzwert angelegt haben, hat gute Gründe. Zum einen wird inzwischen in den Schulen regelmäßig getestet, und aufgrund des feststehenden Personenkreises ist dort die Kontaktnachverfolgung leichter möglich. Zum anderen sind hier die Einschränkungen wesentlich massiver als im Freizeitbereich. Kinder brauchen die Schule und ihr dortiges soziales Umfeld nicht nur zur reinen Wissensvermittlung, sondern gerade auch für ihre emotionale und soziale Entwicklung.
Und noch etwas: Die Bundesnotbremse ist eine vorübergehende Regelung mit dem Ziel, überall in Deutschland verlässliche und einheitliche Regelungen zu schaffen. Wir sehen schon jetzt, dass die Maßnahmen anfangen zu greifen.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend noch mal deutlich sagen: In unserem Land gelten das Grundgesetz und die darin verbürgten Grundrechte nach wie vor ohne Wenn und Aber – auch wenn die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag wieder einmal der Öffentlichkeit das Gegenteil suggerieren will.
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Deutschland ist eines der freiesten Länder auf dieser Erde. Alleine dass Sie Anträge wie diesen hier stellen können und dass wir im Parlament immer wieder über Ihre Ansichten zu den Pandemiemaßnahmen der Bundesregierung diskutieren, zeigt doch, dass es hier um den Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit bei Weitem nicht so schlecht bestellt ist, wie Sie behaupten. Das Gegenteil ist richtig.
Der von Ihnen angestrebte Normenkontrollantrag zum Bundesverfassungsgericht ist aus unserer Sicht unbegründet, wenn nicht sogar bereits unzulässig. Das würde auch das Bundesverfassungsgericht feststellen, obgleich ich einer Entscheidung durch Karlsruhe nicht vorgreifen möchte. Wir haben im Gesetzgebungsverfahren die verfassungsrechtliche Rechtslage ausführlich geprüft und das Gesetz als verfassungskonform bewertet. Der Bundestag ist zudem als Verfassungsorgan in einem solchen Verfahren auch nicht antragsbefugt, sondern nur seine einzelnen Mitglieder.
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Er kann also nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen solchen Antrag beschließen. Wir werden ihn daher natürlich ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Dr. Wieland Schinnenburg, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Herr Brandner geredet hat, muss ich mir erst mal die Haare richten. Da wird so viel Wind gemacht. Aber Herr Brandner, Ihr Phrasenpropeller kann nicht davon ablenken, dass Sie hier einen völlig unqualifizierten Antrag vorgelegt haben.
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Ich hatte Ihnen ja bei früherer Gelegenheit schon eine Lupe und einen Spiegel mitgebracht. Heute habe ich eine Ausgabe des Grundgesetzes dabei.
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Ich werde gleich noch klären, wozu wir das Grundgesetz jetzt hier brauchen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an fünf Beispielen erläutern, wieso Ihr Antrag schlicht und ergreifend peinlich ist:
Erstens. Es fängt schon damit an, dass die Hälfte Ihres Antrages aus der Wiedergabe des Gesetzestextes besteht, den Sie angreifen wollen. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen sagen: Die FDP-Fraktion hätte so etwas nicht nötig. Wir sind in der Lage, im Internet nachzuschauen, wie der Gesetzestext lautet. Es mag ja sein, dass man in Ihrer Fraktion nicht so weit ist. Vielen Dank, dass Sie die Rückständigkeit Ihrer Fraktion auf diese elegante Weise demonstrieren.
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Zweitens. Herr Brandner fängt erneut an, den Verteidigungsfall mit dem Schutz gegen Coronamaßnahmen zu vergleichen. Sie vergleichen also Maßnahmen zum Schutz von Menschen mit der Maßnahme, die mehr als alles andere Menschenleben gefährdet. Ein solcher Vergleich ist nicht nur makaber, er ist auch juristisch schlicht und ergreifend unsinnig.
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Drittens. Herr Brandner verunglimpft unabhängige Richter in Deutschland. Er schreibt dort hinein, die Fachgerichte würden das verfassungsrechtlich ja gar nicht prüfen und das Bundesverfassungsgericht werde manches leichtfertig nicht zur Entscheidung annehmen. Herr Brandner, Sie zeigen erneut, was für ein gebrochenes Verhältnis zum Rechtsstaat Sie haben. Pfui kann ich da nur sagen, meine Damen und Herren.
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Viertens. Herr Brandner rügt eine angebliche Verletzung des Zitiergebotes bezüglich der Artikel 12 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz. Herr Brandner, das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner ständigen Rechtsprechung, dass bei diesen Artikeln eine Zitierung nicht notwendig ist.
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Mein Vorschlag: Lesen Sie erst einmal die einschlägige Rechtsprechung, bevor Sie das Gericht anrufen! Das hilft ungemein, meine Damen und Herren.
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Fünftens. Herr Brandner zeigt erneut, dass er nicht in der Lage ist, auch nur ein vernünftiges Petitum zu produzieren. Er möchte, dass wir begrüßen, dass Menschen sich gegen das Gesetz wenden. Das nützt Ihnen nichts. Sie benötigen einen brauchbaren Antrag und 178 Unterschriften. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden beides nicht bekommen.
Meine Damen und Herren, Herr Brandner ist aus meiner Sicht ein hoffnungsloser Fall. Dennoch möchte ich einen letzten Versuch starten in der Hoffnung, dass Herr Brandner irgendwann mal einen brauchbaren Antrag vorlegt. Darum habe ich das Grundgesetz mitgebracht. Darin kann man nämlich nachlesen, wie das geht. Und, Herr Brandner, um Ihren Fähigkeiten entgegenzukommen, habe ich eine bebilderte Ausgabe des Grundgesetzes mitgebracht.
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Das ist ähnlich wie bei Kinderbüchern: Wenn man den richtigen Zugang hat, geht es auch ein bisschen leichter.
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Im Übrigen: Die AfD-Fraktion produziert nicht nur unsinnige Anträge, sie tut auch sonst nichts gegen die Pandemie. Sie polemisieren gegen Impfen und tragen keine Masken. Aus diesem Grunde habe ich Ihrer ganzen Fraktion ein Geschenk mitgebracht – Herr Gauland, das kriegen Sie gleich –: wunderschöne FFP2-Masken, liebevoll verpackt in FDP-Farben. Ich biete Ihnen diese Masken gerne an und bitte Sie, sie aufzusetzen. Damit würden Sie viel mehr für die Volksgesundheit tun als mit solchen unsinnigen Anträgen, meine Damen und Herren.
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Letzte Bemerkung. Die FDP-Fraktion fordert seit Langem engagierte, produktive und kompetente Maßnahmen gegen die Pandemie.
Herr Kollege Dr. Schinnenburg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
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Aber bitte schön.
Danke schön, Herr Kollege, dass Sie nicht nur über mich reden, sondern mich auch zu Wort kommen lassen. Ich hoffe, Sie haben jetzt Ihre parlamentarische Wundertüte ausgepackt. Wir sind ganz gespannt, was noch alles in diesem kleinen Beutel steckt. Bisher war das alles sehr interessant.
Meine Frage ist folgende: Sie gehen so gut wie gar nicht auf unseren Antrag ein.
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Im Kern geht es ja darum, dass wir als AfD-Fraktion gemeinsam mit der FDP-Fraktion der Meinung sind, dass das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz verfassungswidrig ist. Wenn Sie nicht der Meinung wären, hätten Sie und sämtliche Abgeordnete Ihrer Fraktion ja keine Verfassungsbeschwerde erhoben. Jetzt erklären Sie mir doch mal in einfachen Worten – Sie können es auch gerne vortanzen, damit ich es begreife, Herr Schinnenburg –, warum Sie nicht den Weg der Normenkontrollklage gegangen sind. Warum das stumpfe Schwert der Verfassungsbeschwerde, das Ihnen gestern Abend das Bundesverfassungsgericht um die Ohren gehauen hat? Warum nicht eine Normenkontrollklage gemeinsam mit der AfD, den Linken und Teilen der CDU/CSU-Fraktion?
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Ich verstehe gar nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass eine Verfassungsbeschwerde ein stumpfes Schwert ist. Sie ist eines der schärfsten Schwerter, die Bürger in diesem Lande haben, und das ist auch gut so.
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Wir haben die Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie haben ganz offensichtlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von gestern Abend nicht verstanden. Es ist keineswegs vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden, dass das Gesetz verfassungskonform ist oder dass wir nicht recht haben. Das Verfassungsgericht – Tipp von mir: Lesen Sie noch mal nach, wie Rechtsprechung in Karlsruhe geht! – hat also nur im Eilverfahren entschieden, nicht einmal über unseren Antrag, sondern über andere Anträge.
Im Eilverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht im ersten Schritt, ob die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Das tut es außerordentlich selten, dass es das feststellt. Warum? Weil es ein Eingriff in die Gewaltenteilung wäre. Das macht das Verfassungsgericht nur in ganz großen Ausnahmefällen. Das war auch nicht zu erwarten.
Das Zweite, was das Verfassungsgericht macht, ist eine Folgenabschätzung: Was passiert, wenn ich das Gesetz aufhebe und für nichtig erkläre? Und was passiert, wenn ich es nicht mache? Bei dieser Folgenabwägung ist das Verfassungsgericht zum Ergebnis gekommen: Nein, die Folgen wären eher schlimmer, wenn wir das Gesetz aufheben würden. – Das ist nur eine Entscheidung im Eilverfahren. Ich bin sehr optimistisch, dass der auch von mir gestellte Antrag –
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– Sie haben nichts gemacht –, also die Verfassungsbeschwerde, im Hauptsacheverfahren Erfolg haben wird.
Das Problem ist: Wir haben längst gehandelt. Sie wollen etwas begrüßen. Wir begrüßen Ihre Entscheidungen sowieso nicht. Wir würden es nur begrüßen, wenn Sie dem Bundestag bald nicht mehr angehören. Das würden wir begrüßen, meine Damen und Herren.
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Ich war gerade bei dem, was die FDP-Fraktion vorschlägt, abgesehen von einer Verfassungsbeschwerde, die wir eingereicht haben und bei der wir nach wie vor optimistisch sind: erstens testen, um Menschen zu finden, die noch zu einer Infektionskette führen können. Zweitens impfen, und zwar alle vorhandenen Impfstoffe sofort verimpfen; denn Impfstoffe nützen im Kühlschrank nichts. Sie nützen nur dann was, wenn sie im Körper des Patienten sind, meine Damen und Herren.
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Und der dritte Punkt: sofort lückenlose Ausstattung aller deutschen Gesundheitsämter mit den Programmen DEMIS und SORMAS und deren Nutzung, um die Kontaktnachverfolgung zu verbessern.
Diese drei Maßnahmen bringen hundertmal mehr als das, was Sie irgendwann mal produziert haben. Im Übrigen wollen wir endlich Freiheit für Genesene und Geimpfte.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Hygienevorschriften, Hygienevorschriften, Herr Kollege Dr. Schinnenburg. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke, SPD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einem Jahr schränken wir uns ein, um Leben zu schützen. Diese Einschnitte verlangen uns viel ab, manchen sogar zu viel. Konsequente Maßnahmen sind aber notwendig. Auch das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz war notwendig. Es hat bundeseinheitliche Regelungen geschaffen, Regeln, um die Pandemie bei einer Inzidenz von über 100 in den Griff zu bekommen. Das ist auch vernünftig.
Trotzdem: Gerade Ausgangssperren sind ein wirklich scharfes Schwert. Sie können aber dabei helfen – das haben wir ausdrücklich gesagt –, dass Menschen weniger Kontakte haben. Aber sie müssen immer verhältnismäßig sein. Deshalb war es für uns als SPD wichtig, dass wir die Sperren klar begrenzen. Für uns war wichtig, dass sie erst ab 22 Uhr gelten. Und wir wissen alle: Bis Mitternacht können die Menschen zum Beispiel weiter spazieren und joggen gehen. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine angemessene und maßvolle Regelung gewesen.
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Vielleicht nur deshalb, vielleicht aber auch deshalb ist der Eilantrag von dem Bundesverfassungsgericht, Herr Schinnenburg, abgelehnt worden. Trotzdem: Bei einem so kontroversen Thema können die Einschätzungen auseinandergehen.
Aber, Herr Brandner, die AfD macht sich gar nicht die Mühe, vernünftige Argumente oder gar Lösungsvorschläge zu präsentieren. Das wäre aber eigentlich die Aufgabe der Opposition. Erst im Januar – Herr Schinnenburg hat es gesagt – haben wir ja den vorherigen AfD-Antrag auf Normenkontrollprüfung hier beraten; dazu habe ich auch gesprochen. Dieser Antrag war – das hat Herr Schinnenburg auch gesagt – fast identisch mit dem jetzt vorliegenden Antrag.
Einziger Unterschied: Dieses Mal behaupten Sie, Herr Brandner, dass Sie um die Stimmen der gesamten Opposition werben, angeblich weil es um die Freiheit geht. Doch alle demokratischen Fraktionen wissen, dass das nicht stimmt. Es geht der AfD nicht um die Freiheit. Es geht der AfD nicht um Inhalte. Es geht Ihnen nur um den kleinlichen, parteipolitischen Streit, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Jetzt ist aber nicht die Zeit für Streit. Es geht vielmehr darum, die Pandemie hinter uns zu lassen. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns das bald gelingt. Wir wissen alle: Die dritte Welle ist vielleicht sogar schon gebrochen.
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Es gibt weniger schwere Verläufe, die Infektionszahlen sinken. Zurzeit sieht man, dass langsam weniger Patienten auf die Intensivstationen kommen, und unser Gesundheitssystem ist grundsätzlich gut gewappnet. Auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft hat gesagt, dass jedenfalls momentan keine Überlastung droht.
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Auch weil wir immer mehr impfen, auch weil wir immer mehr testen, auch weil endlich die Hausärzte an Bord sind.
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Sie kennen die Patienten am besten. Impfen klappt momentan wesentlich schneller und unbürokratischer. Das haben wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, vor allen Dingen auch unseren engagierten Hausärzten vor Ort zu verdanken.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Corona ist noch nicht besiegt. Doch wir bekommen es langsam in den Griff.
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Es ist so, dass wir sicherlich perspektivisch darüber nachdenken müssen, Einschränkungen schrittweise wieder aufzuheben.
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Und eins ist auch klar: Geimpfte müssen ihre wichtigen Grundrechte zurückbekommen. Es darf keine Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen mehr für Menschen geben, die nicht mehr ansteckend sind. Das hat übrigens auch nichts mit Privilegien zu tun. Grundrechte stehen jedem Menschen zu. Ohne Grund keine Grundrechtsbeschränkungen! Und unser Grundgesetz ist da eindeutig: Rechtfertigungsbedürftig ist nicht die Gewährung der Freiheit, sondern deren Beschränkung.
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Das ist ein wichtiges Prinzip unserer Verfassung.
Aber ich sage auch: Wir dürfen die Solidarität nicht aufgeben. Wir dürfen die Generationen nicht gegeneinander ausspielen. Es darf nicht sein, dass die ältere Generation in der Kneipe oder im Biergarten sitzt, und die jüngere muss draußen bleiben. Das wäre unsolidarisch und würde bei der Bevölkerung auch nicht ankommen.
Deshalb: Getestete müssen Geimpften immer gleichgestellt werden. Doch brauchen wir für alle, glaube ich, Öffnungsperspektiven. Wir brauchen die Öffnungsperspektiven für unsere Gesellschaft insgesamt. Wir alle wollen Schritt für Schritt zurück zur Normalität, und zwar in diesem Sommer.
Ich war letzte Woche bei dem vielleicht bekanntesten deutschen Aerosolexperten, Dr. Scheuch aus meinem Wahlkreis. Ich habe länger mit ihm gesprochen. Die Forschung hat eindeutig gezeigt: Draußen an der frischen Luft infiziert sich so gut wie niemand mit Corona. Daraus müssen wir sicherlich auch politische Konsequenzen ziehen.
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Daraus sollten wir über Öffnungen perspektivisch sprechen und Öffnungen auf den Weg bringen – aber dann, wenn es angezeigt wird.
Ich hoffe sehr, dass wir, wie schon diskutiert wurde, Pfingsten vielleicht nicht nur in Bayern im Biergarten sitzen. Ich hoffe sehr, dass wir bald wieder viele Geschäfte aufmachen können. Denn es ist wichtig, dass wir Licht am Ende des Tunnels haben. Es ist wichtig, dass wir ein Signal für sozialen Zusammenhalt in die Gesellschaft senden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ist die Pandemie nicht vorbei. Wir müssen weiter durch- und wir müssen zusammenhalten in der Gesellschaft. Gemeinsam, nur gemeinsam, liebe Kollegen von der AfD, werden wir Corona hinter uns lassen. Denn eins ist klar: Solidarität bleibt weiterhin das wirksamste Mittel gegen die Pandemie.
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Ich danke Ihnen.
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Niema Movassat, Die Linke, hat als Nächster das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich müssten wir jetzt hier über die großartige und historische Entscheidung der USA reden, die Impfstoffpatente freizugeben.
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An dieser Stelle: Thank you, Mister President!
Aber stattdessen müssen wir über einen Tagesordnungspunkt der AfD reden, der nur einen Zweck hat: Youtube-Contents zu generieren. Während Millionen Menschen in diesem Land ernsthafte Anliegen haben, etwa weil sie Angst vor dem Ruin haben, weil sie Angst um ihre Gesundheit haben, zwingt die AfD dieses Hohe Haus – man muss es wirklich so nennen –, sich mit Bullshit zu beschäftigen.
({1})
Worum geht es? Vor zwei Wochen hat der Bundestag mehrheitlich das sogenannte Vierte Bevölkerungsschutzgesetz beschlossen. Dieses Gesetz änderte das Infektionsschutzgesetz.
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Wir als Linke haben gegen das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz gestimmt, insbesondere weil wir nächtliche Ausgangssperren für nicht erforderlich halten.
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Vor allem haben wir aber mit Nein gestimmt, weil die Bundesregierung seit über einem Jahr in der Coronakrise nur hin- und herschlingert und sich nur in einem einzigen Ziel einig ist: Die Wirtschaft muss für den Profit der Reichen und Mächtigen weiterlaufen. Massive Einschränkungen des Privatlebens stehen und standen vergleichsweise harmlosen Eingriffen in der Wirtschaft gegenüber. Diese Koalition packt die Konzerne nur mit Samthandschuhen an. Das ist inakzeptabel.
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Nun aber zurück zur AfD-Show. Sie wollen, dass wir als Bundestag eine abstrakte Normenkontrollklage gegen das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz begrüßen.
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Ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle kann gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 Grundgesetz von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages an das Bundesverfassungsgericht gestellt werden, wenn diese ein Gesetz für verfassungswidrig halten. Sie wollen, dass der Bundestag mehrheitlich einen eventuellen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gegen ein Gesetz begrüßt, das zuvor dieselbe Mehrheit beschlossen hat. Sie merken hoffentlich selbst, wie absurd dieses Ansinnen ist. Wieso sollte denn die Mehrheit hier etwas gegen sich selbst beschließen?
Abgesehen davon ist der Bundestag aber auch kein Grüßonkel. Wenn Sie ein Viertel der Abgeordneten zusammenbekommen, können Sie doch eine abstrakte Normenkontrolle beantragen. Es steht aber der Mehrheit des Bundestages dann gar nicht zu, das zu begrüßen oder nicht; denn es handelt sich um ein Minderheitenrecht. Sie haben wirklich null Ahnung von der Verfassung.
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Und dann zu Ihrer Antragsbegründung. Ich habe heute wirklich gute Laune, und deshalb möchte ich Ihnen ein paar kostenlose Tipps geben. Ihr Antrag besteht aus neun Seiten, davon wird auf fünf Seiten § 28b Infektionsschutzgesetz wiedergegeben. Das heißt, die Substanz Ihres Antrages umfasst allenfalls vier Seiten. Mein erster Tipp: Wer erfolgreich in Karlsruhe klagen will, der muss schon deutlich mehr Substanz liefern.
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Dann schafft es die AfD, einen Antrag, der sich de facto an das Bundesverfassungsgericht richtet, zu schreiben, ohne eine einzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu zitieren. Zweiter Tipp: Wer erfolgreich in Karlsruhe klagen will, der muss sich inhaltlich mit der Rechtsprechung dort befassen. Aber Inhalte sind ja sowieso nicht die Stärke der AfD.
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Ihr Antrag besteht im inhaltlichen Teil fast ausschließlich aus Aussagen der Sachverständigen. Dritter Tipp: Das Bundesverfassungsgericht ist selber in der Lage, die Wortlautprotokolle der Anhörung zu lesen.
Dann zitieren Sie exakt einen einzigen Kommentar zum Grundgesetz. Vermutlich hat Herr Brandner ganz schnell bei beck-online, einer juristischen Datenbank, irgendwas zusammengeschustert. Letzter Tipp: Mittlerweile gibt es bei beck-online mehrere Grundgesetzkommentare, die Sie als Abgeordnete kostenlos abrufen können. Wer das Bundesverfassungsgericht überzeugen will, der muss schon diverse aussagekräftige Quellen liefern.
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Im Ergebnis muss man einfach sagen: Ihr Antrag ist handwerklich schlecht. Ein Juraerstsemester hätte das besser gemacht.
Mir ist natürlich klar, warum Sie dieses Theater wirklich veranstalten. Ihnen geht es ja nicht um die Sache. Sie wollen hier in der Kernzeit ein wenig Brimborium betreiben, um sich von Ihren Anhängern als Kämpfer der Grundrechte feiern zu lassen. Sie scheinen aber vor lauter Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende sowie internen Flügelkämpfen so schlecht organisiert zu sein, dass Sie mit Ihrem Theater viel zu spät dran sind. Beim Bundesverfassungsgericht sind mittlerweile 315 Verfahren gegen die letzte Änderung des Infektionsschutzgesetzes anhängig. Zwei Mitglieder der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus klagen gegen die Bundesnotbremse, die FDP hat Verfassungsbeschwerde eingereicht. Verbände, Unternehmen, Einzelpersonen: Hunderte von ihnen haben sich an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Im Gegensatz zu den Braunen ganz rechts hier im Plenum haben aber die eben genannten nicht eine Stunde unserer Zeit in Anspruch genommen und pathetisch nach medialer Aufmerksamkeit gewinselt.
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Dabei hat die AfD auch gar kein Konzept. Letzten März waren Ihnen die Maßnahmen nicht hart genug. Dann haben Sie die Pandemie und die Gefährlichkeit des Coronavirus begonnen zu verharmlosen. Nun gehen Sie mit Querdenkern, die in Wirklichkeit Leerdenker sind, auf die Straße und verhöhnen die Tausende Opfer des Coronavirus. Mittlerweile sind Sie in komplette Beliebigkeit abgedriftet: Impfen ja, aber auch nein. Jetzt sofort alles lockern, aber wenn dann mehr Menschen sterben, dann sind natürlich wieder die anderen schuld. Ihre Partei sollte sich umbenennen in Ich-bin-gegen-alles-egal-was-es ist-Partei.
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Meine Damen und Herren, Die Linke wird den AfD-Bullshit ablehnen. Und Im Übrigen gilt: Mit den Nazis der AfD kooperiert man nicht. Man bekämpft sie politisch, wo immer man sie trifft – hier im Parlament und auf der Straße.
Danke schön.
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Dr. Janosch Dahmen, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine juristische Prüfung des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes anzustreben, ist das gute Recht einer jeden Fraktion in diesem Haus. Was mich als Arzt, als Politiker, aber auch als Bürger im Falle der AfD aber enorm ärgert, ist, wie diese Partei, die nachgewiesenermaßen im Konflikt mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, den Begriff der Freiheit für ihre freiheitsfeindliche, antidemokratische Ideologie missbraucht.
({0})
Ich möchte Ihnen anhand von drei Beispielen skizzieren, warum die AfD rein gar nichts mit Freiheit zu tun hat. Erstens hat die AfD schon im letzten Jahr, und zwar schon vor der zweiten Pandemiewelle, das Ende aller Coronaschutzmaßnahmen gefordert. Ihr eigentlicher Anführer Björn Höcke sagte im August letzten Jahres – mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich wörtlich –: „Corona ist vorbei, und Corona wird auch nicht wiederkommen.“
Als Sie vor einem Jahr die Aufhebung aller Schutzmaßnahmen forderten, haben Sie nichts anderes gefordert als die Freiheit für das Virus und damit die Gefährdung von unzähligen Menschenleben in unserem Land. Es ist Ihre Fakten- und Evidenzfreiheit, die neben dem Virus die größte Gefahr in dieser Pandemie für alle Menschen in diesem Land darstellt.
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Zweitens. Wenn die AfD von Freiheit spricht, dann meint sie in Wirklichkeit die Freiheit, das Leben von Mitmenschen zu gefährden. Aber diese Definition von Freiheit gibt es nicht in unserer Verfassung. Es gibt aber ein Recht auf Leben. Nicht nur als Mediziner, sondern als Parlamentarier in diesem Haus sage ich: Es ist der Auftrag von uns allen, den Schutz des Lebens ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen.
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Dass das diese Fraktion nicht interessiert, sehen wir seit einem Jahr, wo Sie sich konsequent weigern, Masken zu tragen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses zu schützen.
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Wenn Sie die Tödlichkeit dieses Virus leugnen, wenn Sie die Impfung diskreditieren, dann ist das keine Freiheitsfreundlichkeit, sondern die widerlichste Form von Menschenfeindlichkeit.
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Die Politik, die Sie vorschlagen, schützt niemanden, im Gegenteil: Sie gefährdet die Menschen in unserem Land.
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Drittens will ich Ihnen noch einen Grund nennen, warum die AfD nun wirklich überhaupt nicht als Verteidiger der Grundrechte taugt. Ihre Freunde von der Querdenkenbewegung blockieren den Zugang zu Impfzentren, sie attackieren Journalistinnen und Journalisten. Wenn Angriffe auf die Grundrechte das ist, was Sie mit Freiheit verbinden, dann sehen Sie, wie Sie mit Ihren Aktionen die Brüder und Schwestern im Geiste der Querdenkerbewegung vorantreiben in Telegram-Kanälen mit zusätzlicher Verschwörungsideologie und Wissenschaftsleugnung. Das ist die Gefahr für dieses Land, und das ist antidemokratisch und gegen die Freiheit.
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Also hören Sie endlich auf, den Begriff von Freiheit zu missbrauchen, und fangen Sie an, die Gesundheit der Menschen in diesem Land ins Zentrum Ihrer Politik zu stellen!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dahmen. – Herr Kollege Movassat, im Präsidium herrscht eine gewisse Unklarheit darüber: Sie haben den Begriff „Nazis“ verwandt und haben ihn in einen Bezug zur AfD gesetzt. Es ist nicht ganz klar. Haben Sie die AfD als Nazis bezeichnet, oder wie haben Sie es gemeint?
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Ich muss das Protokoll überprüfen. Falls Sie es gemacht haben, werde ich Sie zur Ordnung rufen.
Im Übrigen sage ich: Bitte, liebe Kollegen, lassen wir diese Nazi-Beschimpfungen und -Vergleiche möglichst bleiben; dann ersparen wir uns diese Debatten.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Satz aus dem Grundgesetz, um den es heute im Kern eigentlich geht, lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Und ich füge hinzu: Jeder, egal ob er in der Pandemie einer Risikogruppe angehört oder nicht, hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Deswegen hat auch jeder den Anspruch darauf, dass der Staat ihn vor Gefahren für dieses elementare Recht schützt. Und dass dieses Recht ja wohl die Voraussetzung dafür ist, andere Rechte wahrzunehmen, ist doch absolut evident.
Viele von uns haben an frühere Positionierungen der AfD erinnert; auch ich habe mich bemüht. Ich erinnere mich an die Ministerpräsidentenkonferenz vor den Ostertagen. Am 23. März gab es eine entsprechende Kommentierung der Fraktionsvorsitzenden der AfD, die die Lage bei Facebook folgendermaßen kommentiert hat: „Ja zum Schutz von Risikogruppen, nein zur fortwährenden Geiselhaft durch das Coronakabinett! #Wirbleibennichtzuhause #Wirmachennichtmehrmit“. – Das ist die zentrale Botschaft: Wir machen nicht mehr mit. Wir bleiben nicht zu Hause. Lasst es einfach laufen! – Das ist die ganze Zeit der Pandemie hindurch die Botschaft der AfD gewesen:
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Lasst es einfach laufen! Es ist uns alles egal. Hauptsache, es läuft. Und das Äußerste, bei dem der Staat entscheiden dürfte, wären Schutzmaßnahmen für bestimmte Risikogruppen. Die AfD hat diese Schutzmaßnahmen hier mehrfach dargestellt.
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Wir wissen: Das hätte die Pandemie zu keinem Zeitpunkt wirksam eingedämmt. – Das muss hier festgehalten werden.
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Ja, es hat natürlich Kontroversen hinsichtlich der Frage gegeben – zu einem Zeitpunkt, an dem es viel Not gab und an dem, obwohl verabredet, wenig gebremst wurde –, ob diese Notbremse notwendig, verhältnismäßig und geeignet war. Darum geht es beim Streit um das Verfassungsrecht; darum geht es bei den eingereichten Klagen.
Aber der Kernpunkt ist der, dass man als Ziel der Bekämpfung der epidemischen Notlage formulieren kann, dass es um die Reaktion auf hohe und steigende Infektionszahlen ging und geht, dass es um ein diffuses Infektionsgeschehen ging und geht, dass es um die Ausbreitung bedenklicher Virusvarianten ging und geht und dass es um eine Überlastung des Gesundheitssystems sowie um die Verhinderung einer Vielzahl von Toten und Schwerkranken ging und geht.
Deswegen ist das Ziel der Maßnahmen der Schutz des überragend wichtigen Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, und zwar nicht nur der durch das Coronavirus Betroffenen und Gefährdeten, sondern auch derjenigen, die durch andere Krankheiten in ihrer Gesundheit belastet sind und die durch die Überlastung, insbesondere der Intensivmedizin, gegebenenfalls notwendige, aber leichter verschiebbare Behandlungen nicht bekommen bzw. später bekommen. Deswegen ist allein der Rückgang des Verdrängungseffektes in der Intensivmedizin ein großer Erfolg und etwas, was notwendig und anzustreben war.
Herr Kollege Henke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller, AfD-Fraktion?
Nein. Ich glaube, wir sollten uns jetzt nicht zu sehr auf die AfD konzentrieren.
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Vielmehr sollten wir die Zeit nutzen, um klarzumachen, worum es uns geht. Deswegen möchte ich keine Zwischenfrage zulassen. Ich bitte um Verständnis.
Seit diese Notbremse greift, haben wir zum neunten Mal in Folge einen Rückgang bei der Inzidenz von rund 10 Prozent. Wir haben eine sinkende Inzidenz in allen Bundesländern. Wir haben eine – für meine Begriffe zu langsame, aber vorhandene – Tendenz beim Rückgang der Sterbezahlen. Wir haben einen gewissen Entlastungseffekt in der Intensivmedizin. Und ich will nur noch mal sagen: Ob die überlastet sind oder nicht überlastet sind, das sieht aus der Sicht derer, die auf den Intensivstationen um das Leben der Patienten kämpfen, ein bisschen anders als aus der Sicht derer, die zum Beispiel die Verantwortung für das ganze Krankenhaussystem tragen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Ich bin näher bei den Kollegen, die sagen: Wir können bald nicht mehr. Deswegen bin ich froh um jede eingetretene Entlastung.
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Ich glaube deswegen –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ich komme zum Ende –, dass unsere Entscheidung an der Stelle verantwortlich und richtig war. Ich bin auch überzeugt, dass sie bei der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Keine Notlage entbindet uns von der Verantwortung, verfassungsgemäße Gesetze hier in diesem Hause zu erlassen. Und keine Panikmache wie eben entbindet uns davor, den Finger darauf zu legen und zu prüfen, ob diese Gesetze verfassungsgemäß sind.
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Dieser Inzidenzwertautomatismus verstößt gegen die Verfassung
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– Ihr Tourettesyndrom in Ehren, Frau Kollegin; jetzt rede ich – und entbindet uns nicht, zu prüfen, ob der Rechtsschutz der Bürger abgeschnitten wird. Die Kanzlerin hierzu hocherfreut: „Wir haben nicht mehr die unterschiedlichen Verwaltungsgerichtsentscheidungen.“ Ich zitiere hierzu Professor Heusch, Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf: „Wenn die Bundeskanzlerin es als Mehrwert sieht, dass die Verwaltungsgerichte ausgeschaltet werden, dann frage ich mich, was für ein Verständnis von Rechtsstaat sie hat.“ Mehr ist dem nicht hinzuzufügen, meine Damen und Herren.
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Theoretisch können wir alle Verfassungsbeschwerde einlegen. Ich habe es gemacht – vor Ihnen, den Kollegen der FDP; Sie haben es auch gemacht, das ist auch richtig so –; aber wir wissen alle: Eine Verfassungsbeschwerde ist eben kein ordentliches Rechtsmittel, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf. – Und da das Verfassungsgericht zustimmen muss, wenn es darum geht, ob es eine Entscheidung annimmt oder nicht, ist es mehr oder weniger auch ein Gnadenakt.
Im Bundesrat haben alle Ministerpräsidenten trotz erheblicher Kritik im Vorfeld das Gesetz quasi durchgewunken, ohne ihr verfassungsmäßiges Recht zu wahren, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Etwas Ähnliches haben wir vor einem Jahr erlebt. Damals haben alle Abgeordneten hier im Haus, außer die der AfD, ihre Gesetzgebungskompetenz an die Bundesregierung abgegeben. Das ist sehr bedauerlich. Wo bleibt die verfassungsgemäß garantierte Gewaltenteilung und der aus gutem Grund garantierte Föderalismus?
Heute haben Sie die Chance, den Bürgern dieses Landes zu zeigen, dass Sie unsere Gewaltenteilung, unseren Föderalismus und unser Grundgesetz noch ernst nehmen. Geben Sie diesem Parlament bitte die Würde zurück. Stimmen Sie einem Normenkontrollverfahren zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wirth. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich höre schon wieder die AfD-Groupies. Schön – – Nein, nicht schön, dass ihr da seid.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mitgefühl ist stärker als Hass, nur kann man Hass leichter grölen, und das hat die AfD heute auch wieder vorgeführt in Bezug auf die abstrakte Normenkontrolle. Ihr Business Case läuft nicht mehr in Bezug auf Flüchtlinge. Klimaschutz und auch Antifa waren eher Rohrkrepierer. Antiislam bringen Sie immer, reicht aber nicht; ist ja auch etwas schwierig geworden nach Hanau. Deshalb haben Sie jetzt Corona und Freiheit für sich entdeckt. Ich nenne das ein parasitäres Politikkonzept. Nichts anderes ist das, was Sie da betreiben.
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Ja, es ist ja ziemlich durchschaubar, was für ein Manöver Sie hier eingeschlagen haben. Ich finde es auch erstaunlich, dass Frau Weidel bei „Markus Lanz“ klar erklärt hat, die AfD habe nichts mit den Querdenkern zu tun. Denn ich erinnere mich an Herrn Hilse, der hier ein Querdenker-Shirt trug. Ich erinnere mich an den Abgeordneten Müller, der auf einer Demo von „Unrechtsregime“ und „Ermächtigungsgesetz“ gesprochen hat. Und ich erinnere an die AfD-Landesvorsitzende Kristin Brinker, die ausdrücklich sagt, die AfD sei der parlamentarische Arm der Anticoronaproteste. Wie passt das zusammen? Wir haben im Bereich des Ausländerrechts für das, was Frau Weidel gemacht hat, einen wunderbaren Namen: Das ist „hartnäckige Identitätsverweigerung“ oder „hartnäckige Identitätstäuschung“, die Sie betreiben.
Es wird aber noch interessanter.
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Sie tragen das ja vor als Defizit der Demokratie. Nur: Sie können es vortragen. Alle können klagen. Draußen kann demonstriert werden. Das heißt, Sie erbringen hier gerade selbst den Beweis, dass das, was Sie tun, völlig widersprüchlich ist, dass Meinungsfreiheit funktioniert und dass das Grundgesetz funktioniert.
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Sie haben sich selbst widerlegt.
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Dann kommen wir zum nächsten Punkt. Man muss im Kontext der Pandemie ernsthaft über Angst reden. Sie klagen ein Regime der Angst an. Aber was machen Sie denn? Sie stiften Angst vor Impfungen, Sie machen Angst vorm Unrechtsstaat, vor der angeblich zusammenbrechenden Demokratie.
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Sie sind diejenigen, die Angst schüren.
Und da kommen wir zu einem weiteren Punkt. Sie erklären ja, die Demokratie bricht zusammen, Grundrechte werden abgeschafft. Sie wären doch die Ersten – wenn Sie an der Macht wären –, die die Grundrechte abschaffen würden. Sie wären die Ersten, die das täten.
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Sie führen es ja schon vor:
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Wo Sie in den Stadtparlamenten sind, greifen Sie die Kultur an, greifen Sie antifaschistische Gruppen an.
Sie selber halten sich den Spiegel vor – das ist der nächste Punkt –: Das alles, was Sie da behaupten, das sind Projektionen Ihrer selbst.
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Sie sprechen letztlich über niemanden sonst als über sich selbst. Frau von Storch, da können Sie noch so schreien: Sie bestätigen sich nur selbst darin.
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Kurzum – fassen wir das alles erst mal zusammen –: Sie haben hier mustergültig den Selbstwiderspruch praktiziert.
Kommen wir zu den anderen. Die AfD hat das ja hier auf diese Weise gemacht. Die Mitglieder der FDP-Fraktion haben als Abgeordnete Verfassungsbeschwerde eingereicht. Das ist völlig legitim und auch zutiefst demokratisch; was für andere Kalküle eine Rolle spielen, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Meine persönliche Meinung zu den Grünen: In einer solchen existenziellen Lage schaffen es Politikerinnen und Politiker nicht, Menschen Halt zu geben und die Gesellschaft zusammenzuhalten, indem sie sich enthalten. Meine Meinung dazu.
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Kommen wir jetzt aber zu weiteren Fragen, den eigentlichen Fragen; denn das sind nicht die, die die AfD stellt. Es gibt diesen Satz, dass wir uns alle viel zu verzeihen haben werden. Ich glaube, der stimmt nicht. Es gibt keinen Anspruch auf Verzeihen. Wir können um Verzeihung bitten.
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Und diejenigen, die wir um Verzeihung bitten müssen, sollten im Mittelpunkt der Debatte stehen – zum Beispiel die jungen Generationen, die von Beginn an Verzicht geübt haben, die als Erste Solidarität zeigten und die jetzt wahrscheinlich als Letzte geimpft werden, die zum Beispiel als Studierende ein drittes Onlinesemester erfahren, die nicht zur Schule gehen können, all das. Deshalb ist dieses Aufholpaket auch so wichtig und ein erster Schritt. Sie, nicht Ihre antidemokratische Schwurbeleien, gehören in den Mittelpunkt der Debatte.
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Das gilt auch für die Seniorinnen und Senioren, die so lange Isolation erlebten. Deshalb hat Olaf Scholz völlig zu Recht einen Plan für Öffnungsstrategien gefordert. Auch das ist nicht nur Ornament und Add-on, sondern es ist zentral für den Prozess des Verzeihens und des Versöhnens, den wir brauchen.
Wir brauchen, glaube ich, noch mehr. Wir brauchen eine neue Form des Gesellschaftsvertrages. Es ist nicht zu spät dafür, zusammen mit der Bevölkerung die Pandemie zu bekämpfen und auch den Weg aus der Pandemie zu gestalten. Wie ärmlich ist es doch, wie Sie immer von Annahmen wie „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ ausgehen, wie Sie auf Neid und Missgunst setzen. Viel klüger ist es doch, auf Empathie zu setzen und auf Mitgefühl. Das ist unsere verdammte Aufgabe: dass wir die wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen für Mitgefühl schaffen.
Deshalb fasse ich zusammen. Wir brauchen in diesem Land deutlich mehr Jacinda Ardern, wir brauchen deutlich mehr Krisenentschlossenheit eines Winston Churchill, wir brauchen auch das Demokratiewagnis eines Willy Brandt statt parteipolitischer Taktierereien, statt solcher Demokratie- oder Antidemokratieschwurbeleien, statt auch mancher Enthaltung, statt eines einfachen Weiter-so, –
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– das müssen Sie ertragen, auch bei den Grünen –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– statt vieler „Bockeleien“ profilneurotischer Ministerpräsidenten. Vor allem brauchen wir es statt dessen, was heute die AfD vorgeführt hat:
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nämlich sich selbst zu profilieren, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– indem sie die Ängste, die Sorgen und die Verzweiflung von Menschen ausbeutet.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Sehr verehrter Herr Kollege Dr. Wirth, mir ist vom Sitzungsdienst mitgeteilt worden, dass Sie auf einen Zwischenruf wie folgt reagiert haben sollen: „Ihr Tourettesyndrom in allen Ehren.“ Ich halte das für eine massive Entgleisung, eine Missachtung der Menschen mit Behinderungen. Wenn das Protokoll das bestätigt – ich habe es jetzt nicht wahrgenommen –, werde ich Sie mit einem Ordnungsruf belegen.
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Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor 14 Tagen hat dieser Bundestag mit der Mehrheit von Union und SPD das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz beschlossen. Die Abgeordneten der FDP-Fraktion haben innerhalb von vier Tagen eine 83-seitige Verfassungsbeschwerde plus einen Eilantrag dagegen gestellt. Die AfD kommt nun nach 14 Tagen mit einem Antrag,
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in dem ein Normenkontrollantrag jedenfalls mal skizziert wird auf neun dürren Seiten, von denen – Kollege Movassat sagte es schon – auf den Seiten 2 bis 6,
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also über fünf Seiten hinweg, einfach nur § 28b Bevölkerungsschutzgesetz zitiert wird. Dann bleiben noch drei magere Seiten für inhaltliche, oberflächliche Ausführungen. Das lässt nichts Gutes erahnen, meine Damen und Herren.
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Für mich gibt es drei gute Gründe, diesen Antrag der AfD heute abzulehnen:
Der erste ist der schon vom Kollegen Movassat erwähnte schiere dünne Umfang; dazu brauche ich nicht mehr viel zu sagen. Es steckt nicht viel Denkarbeit in dem Antrag der AfD.
Der zweite Punkt: Der Antrag kommt reichlich spät; er ist eigentlich zu spät. Er bringt auch in das Verfahren, in die Diskussion keine Dynamik mehr hinein.
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Sie preisen uns hier an, dass ein Normenkontrollantrag sozusagen ein besseres Verfahren sei als unsere Verfassungsbeschwerde. Es mag zwar interessant sein, nach einem Jahr eine Grundsatzentscheidung aus Karlsruhe zu erhalten, aber unser Eilantrag – über den bis jetzt noch gar nicht entschieden worden ist; wir haben nur das Aktenzeichen des Gerichtes – bringt jedenfalls Dynamik in die Diskussion hinein. Das sieht man daran, dass schon jetzt politisch Folgewirkungen erkennbar sind; denn durch Rechtsverordnung legt die Bundesregierung jedenfalls eine gewisse Nachsteuerung, eine Verbesserung, gewisse Rechte, vor allem für Geimpfte, vor. Das zeigt, dass unsere Verfassungsbeschwerde bereits ihre Wirkung entfaltet, meine Damen und Herren.
Der dritte Punkt ist – das ist eigentlich das Alarmierende –, dass Sie in Ihrem Antrag und auch hier wieder dauernd von Ausnahmezustand reden und davon, dass Grundrechte großflächig suspendiert seien.
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– Meine Damen und Herren, die AfD kann es nicht lassen.
Herr Kollege Thomae, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Erlaube ich, ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Thomae. Wir kennen uns ja aus dem Rechtsausschuss. – Herr Thomae, meinen Sie nicht, dass es eher eine Klatsche war, die Sie da jetzt aus Karlsruhe gekriegt haben? Und meinen Sie nicht, dass jetzt genau das Gegenteil dessen eingetreten ist, was man erreichen wollte, nämlich Zweifel säen an der Rechtmäßigkeit des Ganzen? Meinen Sie nicht, dass genau das Gegenteil eingetreten ist, nämlich dass sich jetzt hier viele eher noch bestärkt sehen?
Um es noch mal zu erläutern: Wir haben keine Klatsche erhalten, weil über unseren Antrag noch nicht entschieden worden ist.
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Die gestrige Entscheidung betrifft ein anderes Aktenzeichen; da müssten Sie mal die Aktenzeichen genauer angucken, Herr Kollege Maier.
Zum Zweiten geht es in dem Eilverfahren und auch in der Eilentscheidung um eine reine Folgenabschätzung darüber, was gravierender wirkt: die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes oder die Nichtanwendung eines verfassungsgemäßen Gesetzes. Nur darum geht es. Es geht nicht um Entscheidung und Prüfung in der Hauptsache zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Deswegen ist es keine Klatsche, sondern – ich sage es noch mal –: Wir haben bereits eine Dynamik erzeugen können, ein Handeln, ein Reagieren der Regierung. Das ist die eigentliche Wirkung, die wir auf diese Art und Weise erzeugen konnten.
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Deswegen sage ich: Es ist alles andere als eine Klatsche; es ist schon ein erster Erfolg erkennbar.
Ich sage es noch mal: Die AfD zeigt mit ihrem Antrag und auch mit ihrem Verhalten hier: Es geht Ihnen nicht um die Grundrechte. Es geht Ihnen darum, Verschwörungstheorien zu befeuern. Es geht Ihnen darum, das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Verfassungsorgane zu erschüttern. Es geht Ihnen darum, die Integrität der Grundpfeiler unserer Verfassung in Zweifel zu ziehen: Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung.
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Meine Damen und Herren – und damit komme ich zum Schluss –, die FDP hat in dieser Diskussion die Regierung beileibe nicht geschont, und sie hat immer kritisch hinterfragt, welche Maßnahmen ergriffen werden. Aber wir haben an einem keinen Zweifel gelassen: Wir leben immer noch in einer Demokratie, wir haben immer noch einen Rechtsstaat, es gibt immer noch Gewaltenteilung.
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Am Anfang war die Krise vielleicht die Stunde der Exekutive. Sie ist jetzt wieder die Stunde des Parlaments und nicht zuletzt der Opposition.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Es geht uns, der FDP, –
Herr Kollege Thomae.
– um bürgerliche Freiheiten und demokratische Grundrechte. Der AfD aber geht es darum, Zweifel zu säen und das Gift des Misstrauens zu verbreiten. Davon lassen wir uns nicht täuschen, meine Damen und Herren!
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Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Ich bin immer ganz glücklich, wenn meine Aufforderungen nicht nur mit einem Kopfnicken beantwortet werden, sondern auch mit der Konsequenz, zu reden aufzuhören.
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– Das war gestern eine Minute zusätzlich, Herr Kollege Korte – in der Aktuellen Stunde.
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– Immerhin, fast eine Minute.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD beantragt mal wieder, der Bundestag möge begrüßen, dass ausreichend Abgeordnete mit Ihnen zusammen einen Normenkontrollantrag nach Karlsruhe schicken. „Ausreichend“ hieße konkret: 25 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages.
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Das muss ein großer Traum der AfD sein, einer, der einfach nicht in Erfüllung geht, auch wenn Sie das hier noch so oft beantragen.
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Wir Grüne haben solche Klagen in der Vergangenheit durchaus schon auf den Weg gebracht und sogar gewonnen. Wenn Sie aber die Stimmen nicht zusammenkriegen, dann sollten Sie das vielleicht nicht jedes Mal auch noch mit einem Antrag dokumentieren. Aber bitte, Ihre Entscheidung.
Alle anderen jenseits der AfD machen sich zurzeit eher Gedanken darüber, wie man dieses Land halbwegs sicher durch die dritte Welle und aus der Pandemie bringt,
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welche Maßnahmen geeignet, notwendig und verhältnismäßig sind, um Leben und Gesundheit zu schützen und gleichzeitig den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu wahren.
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Dabei ringen wir alle um den besten Weg und kommen auch nicht immer zum selben Ergebnis. Aber was uns alle eint, mit Ausnahme der AfD, sind die Sorge und die Ernsthaftigkeit unseres Ringens.
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§ 28b Infektionsschutzgesetz hat erhebliche Schwachstellen, wenn es um die Geeignetheit einiger Maßnahmen geht. Eine Ausgangssperre, wenn es doch draußen sicherer ist als drinnen, die fehlende Ausnahme für die Geimpften im Gesetz und der mangelnde Schutz in der Arbeitswelt haben auch uns Grüne dazu bewogen, dem Gesetz nicht zuzustimmen. Wir werden ja sehen, was das Verfassungsgericht dazu am Ende entscheidet. Aufgrund der zahlreichen Verfassungsbeschwerden ist Ihre Normenkontrollklage sowieso überflüssig.
Die Verkürzung des Rechtswegs hat an dieser Stelle den Vorteil, dass wir schneller eine einheitliche Rechtsprechung haben werden. Den Weg über ein Bundesgesetz halte ich außerdem nicht nur für richtig; meine Fraktion hat das bereits seit letztem Herbst gefordert.
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Der Infektionsschutz fällt eindeutig in die Bundesgesetzgebungskompetenz.
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– Ja, hören Sie zu! – Die alte Verordnungsermächtigung für die Landesregierungen war für lokale Ereignisse gedacht. Dass sich der Bund in einer epidemischen Lage nationaler Tragweite nicht darauf zurückziehen kann, die Landesregierungen zu koordinieren, dürfte seit dem gescheiterten Oster-Lockdown auch dem Letzten hier bewusst geworden sein.
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Mit angeblichen Notstandsgesetzen oder einem verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand hat das nichts zu tun.
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Eine nationale Tragweite erfordert eben auch eine nationale Gesetzgebung – so einfach ist das.
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So viel „national“ müsste Ihnen auf der rechten Seite doch eigentlich gefallen. Und wenn Ihnen so viel daran liegt, die verfassungsrechtlichen Mängel des § 28b aus dem Weg zu räumen, dann werden Sie ja sicher der Verordnung für die Gleichstellung der Geimpften diese Woche zustimmen, nicht wahr?
Zum Schluss sage ich Ihnen, was der Bundestag wirklich begrüßt. Der Bundestag begrüßt, dass Sie keine 25 Prozent haben und dass Sie die auch niemals haben werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Keul. – Nächster Redner ist der Kollege Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Verdachtsfall der Verfassungsfeindlichkeit, genannt AfD, will hier vorgeblich eine abstrakte Normenkontrolle ankurbeln. Zum wiederholten Male kommt hier ein vollkommen absurd formulierter Antrag zur Beratung – zum wiederholten Male. Sie haben ähnlichen Unsinn praktisch gleichlautend schon sechsmal hier vorgebracht. Sie machen das halbe Dutzend voll; das bekräftigt Ihre Unfähigkeit.
Mal wieder soll der Bundestag mit Mehrheit beschließen, ein mit Bundestagsmehrheit vor zwei Wochen beschlossenes Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen und – das ist der Schwerpunkt Ihres dürren Antrages – dieses Vorgehen irgendwie zu begrüßen. Ich nenne das mal die absurde Begrüßungspolitik der AfD.
Meine Damen und Herren, genauso absurd und widersprüchlich, wie Sie hier heute Ihr parlamentarisches Scheitern wiederholt nachweisen, agieren Sie im Übrigen auch außerhalb des Parlaments. Schauen wir uns die Fraktionsvorsitzenden der AfD-Fraktion an.
Im Februar und März vergangenen Jahres tritt Frau Weidel an die Öffentlichkeit. Sie fordert verpflichtende Tests für Risikopatienten und sagt, dass besonders Gefährdete und Ältere spüren müssten, dass sie ihren Anteil an der Bekämpfung der Pandemie leisten. Sie fordert im März 2020, alle Veranstaltungen sofort einzustellen. Sie fordert eine komplette Einstellung des öffentlichen Lebens.
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Und dann passiert Merkwürdiges: Es tritt der „Wandel der Weidel“ ein. Mitte April 2020 fordert dieselbe Person: Sofort alles aufmachen; Pandemie vorbei. – Meine Damen und Herren, das ist grotesk!
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– Im Gegensatz zu Ihnen merke ich allerdings noch alles, vor allen Dingen Ihre Widersprüchlichkeit.
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Meine Damen und Herren, wir schauen auf den Kollegen von Frau Weidel, Herrn Gauland. Er tritt hier vor uns und sagt wörtlich, man müsse in der Pandemie abwägen, „auch um den Preis, dass Menschen sterben“. Das ist übrigens derselbe Herr Gauland, der – was ich im Grundsatz sehr begrüße – sich impfen lässt. Kolleginnen und Kollegen seiner Fraktion hält das allerdings nicht davon ab, die Impfkampagne zu diskreditieren – das letzte Mal am Montag dieser Woche im Rechtsausschuss. In einem rechtlich und medizinisch wirren Vortrag gibt der Kollege Maier zum Besten, dass er wisse, dass die Impfsubstanzen in einem, wie er sagte, „Hula-Hoop-Verfahren“ zugelassen worden seien. Herr Maier alleine weiß, was ein „Hula-Hoop-Verfahren“ sein soll. Am Ende der Debatte im Rechtsausschuss wusste er auch gar nicht mehr, wie er zu seiner Meinung gekommen ist. Jedenfalls schwieg er; das war der beste Teil seiner Beiträge.
Meine Damen und Herren, ich finde es unverantwortlich, in einer Phase der Forschungserfolge diese Impfkampagne zu diskreditieren. Ich will auf das Gesetz, das heute hier in Rede steht, kurz eingehen. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Es geht um den Schutz von Leben und Gesundheit. Wir haben das auch in der Unionsfraktion intensiv diskutiert. Vor welchem Hintergrund? Vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Überlastung des Gesundheitssystems. Das würdigt auch das Bundesverfassungsgericht. Das höchste Gericht hat über die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen noch nicht in der Hauptsache entschieden. Aber in den aktuell veröffentlichten Beschlüssen zu den Eilanträgen hat das Gericht die Abwägungsleistung des Gesetzgebers erkannt und anerkannt, und es hat anerkannt, dass wir wissenschaftliche Untersuchungen herangezogen haben. Es sagt: Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sicherzustellen, sind wichtige Ziele.
Meine Damen und Herren, das machen wir, und deswegen diskutieren wir heute auch noch darüber, wie wir Geimpften und Genesenen Entlastung von Grundrechtseinschränkungen, die wir haben vornehmen müssen, zuteilwerden lassen können. Dafür gibt es zwei gute Gründe, nämlich die rückläufigen Inzidenzwerte und eine leichte Entspannung auf den intensivmedizinischen Stationen.
Meine Damen und Herren, ich will die rasante Beschleunigung der Impfkampagne ausdrücklich würdigen. Wir haben hierüber vor fünf, sechs Wochen in diesem Haus noch mit einem ganz anderen Toneinschlag diskutiert. Auch ich persönlich habe das hier angemahnt, und ich bin froh darüber, dass man zu dieser erheblichen Beschleunigung gekommen ist. Wir müssen allerdings – und deswegen werden wir diesem Antrag keinesfalls zustimmen können – weiterhin Umsicht walten lassen. Es darf uns nicht passieren, dass wir Impferfolge, Erfolge beim Brechen der dritten Welle leichtfertig verspielen. Sonst ergeht es uns so, wie wir es in Chile sehen.
Meine Damen und Herren, die Zeiten sind zu ernst für absurde und ignorante Anträge der AfD. Man kann ihnen, wenn man noch ein bisschen Verantwortungsgefühl in sich trägt, schlechterdings niemals zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Bevor ich dem letzten Redner das Wort zu dieser Aussprache erteile, komme ich zurück auf den Vorfall während der Rede des Kollegen Dr. Christian Wirth. Das Protokoll weist Folgendes aus: Nach der Aussage „Dieser Inzidenzwertautomatismus verstößt gegen die Verfassung“ hat die Kollegin Steffi Lemke dazwischengerufen: „Sie entscheiden das nicht, ob das verfassungsgemäß ist!“, und der Kollege Dr. Wirth hat darauf entgegnet: „Ihr Tourettesyndrom in Ehren, Frau Kollegin, jetzt rede ich.“ Herr Kollege Dr. Wirth, dafür erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
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– Frau von Storch, ich erteile Ihnen ebenfalls einen Ordnungsruf für die Zwischenbemerkung „Nur wenn sie keins hat“. Sie können das Spiel gerne fortsetzen.
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– Herr Kollege Brandner, Entscheidungen des Präsidenten sind der Diskussion entzogen.
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Ich bin bei Herrn Movassat nicht Sitzungsleiter gewesen. Aber wir können das Spiel fortsetzen. Der Kasten der Geschäftsordnung ist relativ weit. Ich warne Sie ausdrücklich: Nach dem Ordnungsruf kommt ein Ordnungsgeld. Ich kündige jetzt hiermit an, dass ich weitere Störungen dieser Art nicht zulassen werde.
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Letzter Redner ist der Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Pandemie zwingt uns alle, uns einzuschränken. Keine Frage: Das ist eine Zumutung für alle Menschen in diesem Land.
Wir haben bei diesem Tagesordnungspunkt sehr stark über das Thema der Ausgangssperre diskutiert. Ich glaube, beim Thema Ausgangssperre gibt es eine unterschiedliche Wahrnehmung in den Regionen unseres Landes. Ich habe das Gefühl, dass das in den Großstädten ein größeres Thema und im ländlichen Bereich, wo ich herkomme, eher ein geringeres Thema ist. Ich komme aus dem Erzgebirge und kann für den ländlichen Bereich nur sagen: Im Regelfall wird bei uns um 19 Uhr der Bordstein hochgeklappt. Ich kenne persönlich auch niemanden, der um 23 Uhr joggen gehen muss. – Deswegen war das ein Thema, bei dem ich das Gefühl hatte: Das bewegt die Leute relativ wenig – jedenfalls bei mir im Wahlkreis.
Es gibt andere Themen, für die ich ein größeres Verständnis habe; ich denke da an Schulen, an Kinder. Dort gibt es Einschränkungen, die ich persönlich für weit schwieriger halte, weil wir damit eben Eltern und Kindern ganz besonders viel zumuten. Aber das ist im wahrsten Sinne des Wortes notwendig. Wenn wir das Virus stoppen wollen, dann geht das nur, indem wir Kontakte begrenzen.
Zurück zur Ausgangssperre. Während der Pandemie hatten wir in fast allen Ländern auf dieser Welt Ausgangssperren. Frankreich hat vor wenigen Wochen die Ausgangssperre etwas abgemildert. Sie beginnt nun nicht mehr um 18 Uhr, sondern um 19 Uhr. Wir haben in Italien eine Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr. Wir haben Ausgangssperren in Spanien. Wir haben Ausgangssperren in Belgien. Wir hatten bis vor Kurzem in England die Situation, dass man nur aus triftigem Grund sein Haus verlassen konnte. Das sind Regelungen, die keine deutsche Spezifik sind, sondern Regelungen, die eigentlich alle Länder getroffen haben, um das Virus in den Griff zu bekommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Maßnahmen der Notbremse zeigen Wirkung. Das Bewusstsein für den Ernst der Lage in dieser dritten Welle ist bei den Menschen gestiegen. Wir sehen das auch an der Inzidenz: Sie sinkt zum Glück. Und die Sterbezahlen sind deutlich gesunken. Hier sehen wir auch den Erfolg des Impfens: Es gibt deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe. Fast jeder dritte Deutsche ist mittlerweile erstgeimpft. Wir haben 32 Millionen Impfungen durchgeführt in diesem Land. Wir können 1 Prozent der Bevölkerung pro Tag impfen. Das hat jetzt durch die Impfzentren an Tempo aufgenommen, aber insbesondere auch durch die Hausärzte, die hier mithelfen, sodass wir sagen können: Wir habe eine hohe Impfgeschwindigkeit, die kaum ein Land der Welt in dieser Größenordnung hinbekommt.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch immer ist die Inzidenz viel zu hoch. Ich komme aus einer Region, wo in diesen Tagen Patienten noch ausgeflogen werden müssen, weil die Intensivbetten voll sind,
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weil die Lage immer noch sehr angespannt ist. Es gibt sicherlich Regionen, wo das schon besser geworden ist; aber wo ich herkomme, ist das leider nicht der Fall. Ich hatte heute früh ein Gespräch mit der Geschäftsführerin eines Krankenhauses. Die hat zu mir gesagt: Wenn bei uns ein Intensivbett frei wird, dann wird es nicht erst kalt, weil wir sofort jemanden haben, der dort reinkommt, weil die Lage immer noch so angespannt ist.
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Wir können die Augen nicht davor verschließen, dass es gerade für die Mitarbeiter eine enorm hohe Belastung gibt, da sie seit November am Limit arbeiten, weil sie eben eine Eins-zu-eins-Betreuung der Patienten gewährleisten müssen. Deswegen sollten wir an diese Mitarbeiter bei allen Entscheidungen zuvörderst denken.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen bei der Inzidenz weiter runterkommen. Wir sind auf einem guten Weg; aber der Wert von 129, den wir jetzt haben, ist immer noch viel zu hoch. Die Pandemie stoppen wir nicht durch den Gang zum Bundesverfassungsgericht, sondern durch das Impfen und das Einschränken der Kontakte. Das haben wir alle in der Hand – wir hier im Parlament, aber auch die Bürgerinnen und Bürger im Lande.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Krauß. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Der Kampf gegen Steuervermeidung und Steuergestaltung ist eine der ganz großen Herausforderungen unserer modernen Zeit. Jahrzehntelang haben wir gedacht, dass steuerrechtliche Regelungen im Wesentlichen funktionieren, indem wir national etwas machen. Aber tatsächlich ist es so, dass diejenigen, die sich aktiv darum bemühen, das Steuernzahlen zu verhindern, alle möglichen Wege und Schlupflöcher überall auf der Welt nutzen, um in eine Situation zu geraten, in der sie die Steuern nicht mehr auf die Gewinne zahlen müssen, die sie in den Ländern erwirtschaften, wo ihr Gewinn eigentlich entsteht. Das ist ein Missstand, und der muss sich ändern. Wir müssen alles dafür unternehmen, dass das nicht mehr die Zukunft prägt.
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Viele, viele Dinge sind in den letzten Jahren gemacht worden, um da voranzukommen. Es ist ein großes internationales Projekt geworden, bei dem jetzt eine ganze Reihe von internationalen Vereinbarungen auch Praxis geworden sind, die dazu beitragen, dass wir etwas gegen die Steuergestaltung, den Steuermissbrauch und den Steuerbetrug tun, der mit all diesen Dingen verbunden ist. Steueroasen und manche Steuerinseln sind ein ganz beliebter Fluchtort für all diejenigen, die versuchen, sich vor dem Steuernzahlen zu drücken – anders als alle anderen Bürgerinnen und Bürger.
Ganz klar ist: Dagegen können wir nur international vorgehen. Das wird uns nicht alleine mit unseren Maßnahmen gelingen. Wir brauchen internationale Kooperationen, und wir brauchen eine gute Zusammenarbeit in der EU und weit darüber hinaus.
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Was da so alles passieren kann, hat die breite Öffentlichkeit bei der Veröffentlichung der Panama Papers mitbekommen. Da ist bis ins Detail für viele sehr nachvollziehbar geworden, welche Gestaltungsmöglichkeiten eigentlich genutzt werden, um das Selbstverständlichste nicht zu tun, nämlich dass man sich dann, wenn man gute Gewinne hat, auch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen muss. Deshalb ist es eine gute internationale Strategie und eine Strategie der Europäischen Union, nichtkooperative Steuergebiete auszuweisen, sie zum Beispiel auf schwarze Listen zu setzen und zu sagen: Wer auf dieser Liste steht, muss mit ernsthaften Konsequenzen und Sanktionen rechnen – diese Länder, aber auch die Unternehmen, die mit diesen Ländern kooperieren und von den Möglichkeiten dort Gebrauch machen.
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Wir bewegen uns da sehr wohl und sehr bewusst in einem internationalen Geleitzug; denn nur die internationale Verabredung macht die Sache erst stark. Es gibt regelmäßig Diskussionen, wer auf die Liste kommt, wer wieder runtergenommen wird; genau das war und ist beabsichtigt, um sicherzustellen, dass diese Steueroasen auf den internationalen Druck reagieren. Für mich ist aber wichtig, dass wir nicht nur mit diesen Listen Druck erzeugen, sondern dass wir auch unsere eigenen Zähne schärfen, wenn man das so sagen will, dass wir mit den Möglichkeiten des nationalen Steuerrechts dazu beitragen, dass es auch Konsequenzen hat, wenn man auf dieser Liste steht. Das ist das, was wir mit dem Steueroasen-Abwehrgesetz jetzt auf den Weg bringen.
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Ich will ausdrücklich dazu sagen, dass diese steuerlichen Konsequenzen, die hier aufgeschrieben sind und die wir miteinander Gesetz werden lassen wollen, das Schärfste sind, was in der Europäischen Union gegenwärtig diskutiert wird. Ich glaube, es ist richtig, wenn die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union hier so vorangeht. Wir sind es den anderen schuldig, so zu handeln, und wir sind dann auch ein gutes Beispiel für die Aktivitäten andernorts.
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Im Übrigen dürfen wir es jetzt nicht bei diesem Gesetz belassen. Wir müssen noch viele, viele andere Dinge tun, um sicher voranzukommen und die Strategie der Steuervermeidung zu bekämpfen, damit wir unsere Gemeinwesen finanzieren können. Deshalb ist es richtig und ein großer Fortschritt, dass wir, auf das alles aufsetzend, was wir in den letzten Jahren erreicht und geschafft haben, jetzt auch die große Chance haben, dass es eine internationale Verständigung über Mindeststeuern geben wird. Ich bin sehr froh, dass der von mir und meinem französischen Kollegen angestoßene Prozess über eine globale Mindestbesteuerung und über eine bessere Besteuerung der digitalen Geschäftsmodelle in diesem Sommer zu einem großen Ergebnis führen wird. Ich bin fest davon überzeugt: Mit der neuen amerikanischen Regierung werden wir das jetzt hinkriegen. Der Steuerdumpingwettbewerb zwischen den Staaten wird ein Ende haben.
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Es ist gut, dass wir diese Gelegenheit jetzt auch nutzen; denn tatsächlich haben sich viel zu viele Staaten ein Geschäftsmodell daraus gemacht, dass sie, weil sie nur eine kleine Bevölkerung haben, versuchen, Steuern, die anderswo erhoben werden sollten, bei sich zu erheben, und zwar in geringer Höhe, in der Hoffnung, dass bei ihnen dann mehr rauskommt. Ich glaube, dieses muss zu Ende gehen. Wir haben eine internationale Verpflichtung, dieser Praxis ein Ende zu bereiten. Mit dem Steueroasen-Abwehrgesetz, das wir heute beraten, aber auch mit dem, was wir dieses Jahr noch wollen, die globale Mindestbesteuerung, wird es eine Trendwende in der internationalen Steuerpolitik und für mehr Gerechtigkeit und mehr Fairness geben.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD-Fraktion.
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Bevor die Zeit läuft, eine kurze Erklärung: Ich werde nach meiner Rede gleich wieder zurück in den Wirecard-Untersuchungsausschuss gehen; wir haben kurz unterbrochen. Das ist nicht despektierlich den nachfolgenden Rednern gegenüber, sondern der Notwendigkeit geschuldet; wir haben dort Zeugen sitzen. – So viel vorab.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Bürger! Herr Finanzminister Olaf Scholz, ich habe Ihre Worte gehört. Aber gerade die EU – das gehört auch dazu; das habe ich hier vielfach schon kritisiert – ist bei der Steuervermeidung vornan. Sie nennen die Länder: Irland, Luxemburg und kleinere Länder wie Zypern und Malta, die den Bogen reichlich überspannen. Sorgen Sie endlich dafür – Sie hatten Zeit genug –, diesen Steueroasen, die Steuerersparnisse auch für große deutsche Konzerne ermöglichen, Einhalt zu gebieten. Diese Praxis geht zulasten der Menschen, die hier arbeiten. Es sind nicht nur die Googles & Co; es sind auch deutsche Konzerne, die diese Möglichkeiten reichlich nutzen. Machen Sie diese Tore endlich zu, und lassen Sie Ihren Worten und der Prosa auch Taten folgen!
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Heute behandeln wir in erster Beratung ein sehr wichtiges Gesetz, nämlich zur Abwehr von Steuervermeidung und unfairem Steuerwettbewerb. Manche Experten, beispielsweise der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, nennen dieses Gesetz – Sie haben es gesagt – auch „Steueroasen-Abwehrgesetz“. Nun ja, manchmal unterliegt man leider auch in der Oase einer Fata Morgana. Dennoch: Das Gesetz ist weitreichend und wichtig. Es soll nämlich zukünftig für alle Steuern – man merke auf! – und Steuervergütungen, die beispielsweise durch den Bund oder durch die EU geregelt sind, Anwendung finden. Davon ausgenommen sein sollen nur die Umsatzsteuer, die Einfuhrumsatzsteuer, Einfuhr- und Ausfuhrabgaben sowie die Verbrauchsteuern. Darüber hinaus soll die Vorschrift des Gesetzes Vorrang vor der Abgabenordnung und anderen Steuergesetzen haben. Das ist – Herr Scholz, da stimme ich Ihnen zu – steuerlich richtig und wichtig.
Für die Zukunft soll es erschwert werden, dass Geschäfte mit sogenannten Steueroasen dazu führen, dass Steuern in Deutschland gespart werden. Diese Steueroasen selbst werden über eine sogenannte schwarze Liste der EU festgehalten. Gut so! Diese Liste besteht übrigens seit 2017 und offenbart jene Steuerhoheitsgebiete, die entweder Steuerhinterziehung vereinfachen, keine Transparenz in Steuerfragen zeigen oder einen unfairen Steuerwettbewerb betreiben. Fangen Sie endlich an, mit diesen Staaten innerhalb der EU Tacheles zu reden! Ich glaube, als größter Nettozahler für diesen EU-Haushalt sind wir dazu in der Lage und sind es auch unseren Steuerzahlern, die im OECD-Vergleich ganz schön zur Kasse gebeten werden, schuldig, lieber Herr Scholz. Und nicht immer bei den Kleinen abschöpfen!
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An dieser Stelle möchte ich aber auch mal deutlich sagen, dass ich von der Bundesregierung schon erwartet hätte, dass sie in dem Gesetzentwurf auch mal eine Zahl nennt, und wenn sie nur geschätzt gewesen wäre; ich meine, Sie sind immerhin Finanzminister. Es geht uns Abgeordnete hier im Hohen Hause schon etwas an – und es ist wichtig –, über welche Summe wir hier eigentlich sprechen. Hierzu schrieb der „Tagesspiegel“ am 28. Dezember – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Dem deutschen Staat gehen durch Steuervermeidung der 333 größten Unternehmen pro Jahr 1,6 Milliarden Euro durch die Lappen. Das hat das Ifo-Institut erforscht.
Das sind zumindest mal greifbare Zahlen, Herr Kollege. Vielleicht kann die Bundesregierung hier in den anstehenden Beratungen ja noch weitere Details nennen; denn, ich schätze, die Zahl wird noch wesentlich größer sein.
Die Idee zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist aber auch nicht neu: Schon im Jahre 2009 gab es die sogenannte Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung; man muss sich den Namen mal auf der Zunge zergehen lassen. Die Beratungsgesellschaft eureos schrieb dazu in ihrer Stellungnahme zum Referentenentwurf des vorliegenden Gesetzes, dass diese Verordnung wenig Durchschlagskraft zeigte. An dieser Stelle muss also nachgebessert werden.
Wir als AfD-Fraktion werden dieses Gesetz auf jeden Fall kritisch begleiten. Wir werden den Tenor des Gesetzes definitiv unterstützen, werden aber sehr darauf achten, dass hier nicht wieder EU-Sprech oder Sonderlösungen herauskommen und dass kein weiteres Bürokratiemonster geschaffen wird; denn das brauchen die Menschen und auch die Unternehmen in unserem Lande, die eine hohe Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben, nicht.
Abschließend möchte ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren:
In der Praxis sei es außerdem in verschiedenen Fällen unbedingt erforderlich, eine Kontoeröffnung bereits zuzulassen, auch wenn noch nicht alle zur Prüfung einer Selbstauskunft erforderlichen Kundendaten vorliegen.
Hier geht es um das Thema „Kontoeröffnung und Selbstauskunft“. Und auch hier, meine Damen und Herren, werden wir genau hinschauen, ob Auswirkungen für den Endverbraucher und für Unternehmen festzustellen sein werden.
Herr Kollege.
Wir jedenfalls als AfD-Fraktion stimmen der Überweisung zu und werden dieses Gesetz konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Gottschalk.
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Nächster Redner ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ein weiteres wichtiges Steuergesetz beraten wir heute. Wer die Tagesordnung des Deutschen Bundestags beobachtet, sieht, dass wir zurzeit ganz viele Steuergesetze auf der Tagesordnung haben. Das finde ich gut, Herr Minister. Manches hätten wir gerne auch etwas früher beraten; dann hätten wir vielleicht auch ein bisschen mehr Zeit gehabt. Gut ist aber, dass wir dieses Steueroasen-Abwehrgesetz heute beraten.
Ich habe mich in Vorbereitung der Rede noch mal gefragt: Was ist eigentlich eine Steueroase? Woher kommt eigentlich dieser Begriff? Das hat ja wahrscheinlich was mit Wohlfühlen zu tun, in der Oase, in der Wüste, und wahrscheinlich fühlen sich die Falschen in einer Steueroase wohl. Von daher ist es wichtig, dass wir solche Steueroasen trockenlegen. Das werden wir mit diesem Gesetz zum Teil erreichen können. Von daher ist das Gesetz in die richtige Richtung gehend und findet daher auch unsere Unterstützung.
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Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung kämpfen wollen. Wir wollen uns für eine gerechte Besteuerung einsetzen. Es ist für viele Menschen zu Recht unverständlich, dass es einige internationale Konzerne gibt, die so gut wie keine Steuern zahlen, weil sie ihre grenzüberschreitenden Handlungen so ausrichten, dass sie fast bei null landen.
Ich will aber betonen, dass das nicht alle Konzerne betrifft; auch da sollten wir mal ehrlich sein. Es gibt viele Unternehmen in Deutschland, die ihre Steuerlast hier tragen und damit auch ihren Beitrag in diesem Land leisten. Von daher ein Dankeschön an die Unternehmerinnen und Unternehmer, die dies tun.
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Aber gerade diese Unternehmen haben auch einen Anspruch darauf, dass alle ihre Steuern zahlen, und darum müssen wir zu einer gerechten Besteuerung kommen.
Wir haben auch vereinbart, Steuerschlupflöcher zu schließen. Das haben wir mit dem Gesetz zur Reform der Grunderwerbsteuer gemacht, indem wir die Share Deals verunmöglicht haben, jedenfalls in großen Teilen. Wir haben uns ein Gesetz gegen unfairen Steuerwettbewerb gegeben und haben, wie der Minister bereits ausgeführt hat, gesagt: Das wollen wir national, europäisch und international tun. – Auch da ist mir wichtig, zu sagen: Es geht um den unfairen Steuerwettbewerb, meine Damen und Herren. Wir haben nichts gegen einen Steuerwettbewerb, solange er unter den gleichen Regeln stattfindet.
Da müssen wir, so glaube ich, in der Bundesrepublik Deutschland noch einiges tun; denn wir sind mit unserem Steuerrecht nicht wettbewerbsfähig. Von daher bin ich froh, dass die CDU/CSU-Fraktion bereits im November 2019 ein Papier zur Modernisierung des deutschen Unternehmensteuerrechts vorgelegt hat. Es wäre schön, Herr Minister, wenn Sie es mal lesen würden, falls Sie das noch nicht getan haben, und vielleicht einige Teile davon übernehmen würden. Das würde uns als Union sehr freuen.
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Einen Punkt haben Sie aber übernommen, und das ist auch gut. Das ist das Körperschaftsteuer-Modernisierungsgesetz, mit dem wir zu einer rechtsformneutralen Besteuerung kommen, sodass die Personengesellschaften in Deutschland wie Kapitalgesellschaften besteuert werden können. Von daher ist das ein gutes Gesetz. Wir sind da auf einem hoffentlich guten Weg, aber einiges müssen wir noch tun.
Unfairen Steuerwettbewerb wollen wir alle nicht. Da sind wir in dem sogenannten BEPS-Prozess auf OECD-Ebene schon lange unterwegs – unter Minister Wolfgang Schäuble ist das Ganze eingeleitet worden –; 15 Aktionspunkte, die wir in Deutschland teilweise schon in Gesetze umgesetzt haben. Es geht darum, die Erosion der Steuerbasis in den einzelnen Ländern zu verhindern.
Das wird jetzt weiterentwickelt; der Herr Minister hat darauf hingewiesen. Die OECD hat jetzt ein Zwei-Säulen-Modell vorgelegt, das als Ergänzung auch unsere Unterstützung findet. Da geht es in der Säule 1 darum, das Steuersubstrat, wie es so schön heißt, also den Steuerkuchen, gerechter aufzuteilen. Wir müssen genau hingucken, dass wir nicht der große Verlierer dieser Veranstaltung sind. Aber im Grundsatz geht das in die richtige Richtung. Die Säule 2 unterstützen wir sehr. Da geht es um eine effektive Mindestbesteuerung, die wir weltweit gemeinsam einrichten möchten. Es ist gut, dass wir entsprechende Signale aus den USA bekommen haben.
Das Steueroasen-Abwehrgesetz bereichert das Ganze. Es geht um nichtkooperative Staaten und Steuergebiete; das wird im Gesetz einzeln definiert. Wir verweisen nicht nur auf eine Blacklist, die irgendwo in Europa entsteht, die auch ihre Berechtigung hat, sondern wir dokumentieren und definieren es als Gesetzgeber selber. Das ist eine Weiterentwicklung zum Referentenentwurf, die richtig ist.
Und wir sagen, mit welchen Maßnahmen wir es bekämpfen wollen. Es sind vier Abwehrmaßnahmen im Gesetz genannt. Die Vereinbarung im Ecofin-Rat sah so aus, dass jedes Land nur eine Maßnahme umsetzen soll; wir tun also mehr, als es eigentlich sein müsste. Aber man kann darauf hinweisen, dass diese vier Abwehrmaßnahmen nie gleichzeitig eintreten werden, sondern das ist ein Kaskadensystem, das sozusagen aufeinander aufbaut, sodass immer nur eine Maßnahme auf eine Geschäftsbeziehung angewandt werden kann. Da geht es um das Verbot von Betriebsausgabenabzug, um verschärfte Quellenbesteuerung, Hinzurechnungsbesteuerung usw.
Ich will abschließend nur noch auf einen Punkt hinweisen, der uns in der Diskussion sehr bewegt hat, und auch da sind wir in einem Abwägungsprozess. Wir wollen die Staaten treffen, treffen aber als Erstes die Unternehmen, die in Geschäftsbeziehungen mit den Staaten treten. Nicht jedes Unternehmen kann sich den Staat aussuchen, mit dem es in Geschäftsbeziehungen tritt. Nehmen Sie ein touristisches Unternehmen: Es gibt nur gewisse touristische Destinationen. Ich will jetzt keine Staaten nennen. Von daher ist es da sehr schwierig, auszuweichen, weil man gar nicht die Möglichkeit dazu hat.
Bitte kommen Sie zum Schluss.
Von daher gibt es dort eine Abwägung. Diese treffen wir derzeit so, dass wir dem Gesetz natürlich zustimmen; aber, ich finde, wir müssen ehrlicherweise auch sagen: Wir wollen Staaten treffen, treffen aber teilweise auch Unternehmen, die es unverschuldet trifft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Güntzler. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Hessel, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Abwehr von Steueroasen ist ein richtiges und wichtiges Vorhaben, das wir heute hier diskutieren. Wir sind uns in diesem Haus einig, dass wir alle Steueroasen zumindest trockenlegen wollen. Es ist heute schon viel dazu gesagt worden, wie wir das im internationalen Prozess einordnen müssen. Wir sind in der OECD weitergekommen, und ich darf mich ganz herzlich auch mal bei Ihnen, Bundesminister Scholz, bedanken, dass diese Verhandlungen weitergehen.
An dieser Stelle aber auch – ich bin überzeugte Parlamentarierin – der Hinweis, dass ich es sehr schwierig finde, dass gerade die Verhandlungen zu der sogenannten ersten Säule, bei denen es um den Besteuerungskuchen von Deutschland geht, ohne Parlamentsbeteiligung stattfinden werden. Wir können hier nur Ihrem Verhandlungsgeschick vertrauen. Sie dürfen sich jetzt von mir als Oppositionspolitikerin sagen lassen, dass dieses Vertrauen nicht ganz so groß ist – immerhin geht es hier um wichtige Grundsätze unseres deutschen Steuersubstrates.
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Deswegen wäre es mir wichtig, dass wir solche Sachen auch hier im Parlament entscheiden können.
Es ist schon viel gesagt worden zu dem jetzigen Gesetz. Kollege Güntzler hat viel Richtiges und Wichtiges ausgeführt. Ich darf an dieser Stelle ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren, Kollege Güntzler. Schön, dass Sie ihn heute mit uns hier feiern!
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Es ist richtig, dass wir als nationaler Gesetzgeber auch definieren, was Steueroasen sind, und dass wir nicht nur auf die Blacklists der EU oder auf andere verweisen. Kritisch möchte ich an dieser Stelle jedoch anmerken – das hat auch Kollege Güntzler gerade schon gesagt, aber ich möchte es noch einmal unterstreichen –: Wir bestrafen in erster Hinsicht deutsche Unternehmen. Deutsche Unternehmen werden jetzt sanktioniert, weil wir die anderen Staaten nicht treffen – und das in einer Situation, wo es der deutschen Wirtschaft nicht gut geht.
Wir befinden uns in einer der schwersten Rezessionen. Wir haben die Covid-19-Krise, und jetzt fangen wir als Exportnation damit an, deutsche Unternehmen zu bestrafen. Die Unternehmen können es sich oftmals nicht aussuchen, wo sie ihre Niederlassung haben. Internationale Niederlassungen werden auch nicht nur aus Steuervermeidungsgründen gewählt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Wir stellen jetzt die Unternehmen unter Generalverdacht. Der mit dem Gesetz zusammenhängende Dateninformationsaustausch ist ein sehr wichtiges Anliegen im Zusammenhang mit der Vermeidung des internationalen unfairen Steuerwettbewerbs. Hierzu haben wir als FDP-Fraktion noch einen Antrag eingebracht, den wir heute dazugelegt haben: „Datenschutz und Menschenrechte im Kampf gegen Steueroasen stärken“. Gerade die Hackerangriffe auf Bulgarien haben gezeigt, dass auch hochsensible Daten von Staaten, die es mit Menschenrechten nicht ganz so genau nehmen, ausgewertet werden können. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir das bei zukünftigen Verhandlungen mit berücksichtigen.
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Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Hessel. – Ich nutze die kurze Pause, um auch meinerseits dem Kollegen Güntzler zum Geburtstag zu gratulieren, verbunden mit dem Hinweis, Herr Kollege Güntzler – nicht dass das falsch verstanden wird! –, dass das Präsidium des Deutschen Bundestages traditionell nur Geburtstagsgrüße ausspricht gegenüber Menschen, die deutlich älter aussehen als Sie.
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Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 2020 erwirtschaftete Amazon einen Rekordumsatz von 44 Milliarden Euro in der EU. Überraschung: An seinen europäischen Niederlassungen – Steuersitz Luxemburg – entrichteten sie für denselben Zeitraum 0 Euro Körperschaftsteuer. Gleichzeitig kämpft das Kleingewerbe in Deutschlands Innenstädten ums Überleben. Das ist eine krasse Wettbewerbsverzerrung. Hier muss endlich durchgegriffen werden.
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US-Präsident Biden – er ist ja zurzeit für einige Überraschungen gut – will die Unternehmensteuern erhöhen, eine Mindeststeuer von 21 Prozent durchsetzen. So wie ich die Amerikaner kenne, setzt er das auch hier in Europa bei den Techfirmen Amazon und Apple durch und wird sich auch hier die Gewinne in Irland oder Luxemburg holen. Deswegen haben wir natürlich das große Risiko, dass Europa in die Röhre guckt, wenn wir nicht entschlossen Quellen- und Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen erheben. Ich meine auch die Steueroasen, die wir hier in Europa vor der eigenen Haustür haben, meine Damen und Herren.
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Es ist im digitalen Zeitalter angezeigt, dass man stärker am Ort der Umsätze besteuert, weil eben Amazon oder Google keine Fabrik haben, sondern zum Beispiel mit unseren Daten ihr Geld verdienen. Wir begrüßen vor diesem Hintergrund das Steueroasen-Abwehrgesetz. Es enthält sinnvolle Maßnahmen.
Erstens das Verbot des Abzugs von Betriebsausgaben und Werbungskosten von Geschäften mit Steueroasen – sinnvolle Maßnahme.
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Zweitens eine Hinzurechnungsbesteuerung, die dazu führt, dass man etwas obendrauf gibt, wenn eine Briefkastenfirma in einer Steueroase sitzt und Gewinne dorthin verlagert – sinnvolle Maßnahme.
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Drittens sieht das Gesetz vor, stärker Quellensteuern zu verhängen. Wir wissen: Ein Drittel der Steuervermeidung entsteht dadurch, dass innerhalb des Konzerns Kredite vergeben werden. Also Amazon mit Sitz in einer Steueroase vergibt einen Kredit an Amazon Deutschland. Die deutsche Niederlassung zahlt kräftig Zinsen darauf. So verschiebt man die Gewinne wie ein Amazon-Paket in eine Steueroase. Deswegen ist es sinnvoll, stärker dort, wo die Gewinne erwirtschaftet werden, also in Deutschland, zuzuschlagen.
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Allerdings greifen all diese Maßnahmen nur bei Staaten, die auf der schwarzen Liste der EU stehen. Und Überraschung: Kein einziger EU-Staat steht darauf. Selbst wenn man 0 Prozent Unternehmensteuern erhebt, ist man nicht automatisch darauf. Das ist, wie wenn ich mit 100 Prozent Alkohol im Blut in die Alkoholkontrolle fahre und sage: Ich bin nüchtern. Deswegen, meine Damen und Herren, wäre es angezeigt – Herr Scholz, Sie haben ja hier auf Ihre Initiative mit dem französischen Finanzminister verwiesen –, dass wir vorangehen und sagen: Deutschland und Frankreich machen ein klares Signal: Wenn die Steueroasen in der EU nicht kooperieren, brauchen wir Quellen- und Strafsteuern auf Finanzflüsse in diese Steueroasen, um Druck aufzubauen, damit Europa nicht wieder in die Röhre guckt.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss mal ein bisschen Luft rauslassen. Das Gesetz kann man machen, aber das Scholz’sche Gesetz hält einfach nicht, was es verspricht. Das erkennt man schon allein daran, dass es eins der kürzesten Gesetze ist, die wir aus dem Hause Scholz in dieser Legislaturperiode bekommen haben.
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Es ist auch keine Scholz-Initiative, sondern es setzt EU-Vereinbarungen um.
Außerdem – das klang jetzt auch schon deutlich an –: Das Gesetz wird für die wichtigsten Steueroasen überhaupt gar nicht gelten. Die Steueroasen nach diesem Gesetz sind maximal die, die auf der EU-Liste der Steueroasen stehen. Aber diese Liste ist eben leider extrem kurz. Wichtige Steueroasen wie zum Beispiel die Cayman-Inseln und andere stehen nicht drauf. Nur 2 Prozent der weltweiten Steuervermeidung entfallen auf die Länder dieser Liste. Da frage ich mal ganz klar: Wo war der Einsatz von Olaf Scholz auf der EU-Ebene für eine strengere Liste, meine Damen und Herren?
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Nichts war da, gar nichts! Im Gegenteil: Als es um die Türkei ging, hat er sich doch persönlich darum gekümmert, dass die Türkei nicht auf die Liste kommt.
Von daher würde ich mal sagen: Klares, pures Window Dressing im Wahlkampf mit diesem Gesetz. Allerdings habe ich dann die Pressemitteilung der Union gesehen und musste feststellen – Herr Güntzler hat es ein bisschen verschwiemelt heute formuliert –, dass es der Union eigentlich noch viel zu weit geht, dieses wirklich nicht sehr kraftvolle Gesetz.
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Da sieht man doch noch mal einen Unterschied zwischen der nicht kraftvollen SPD und der noch weniger kraftvollen Union, wenn es um das Thema Steuervermeidung geht.
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Dabei wäre konsequenter Einsatz so wichtig; denn Steuervermeidungsmodelle kosten den deutschen Staat Milliarden. Konkret – so schätzt es das renommierte ifo-Institut aus München jüngst in einer Studie – entgehen derzeit 5,7 Milliarden Euro dem deutschen Staat dadurch, dass Unternehmen Gewinne in Länder mit besonders niedrigen Unternehmensteuern verlagern. Ja, nicht alle Gewinne in Niedrigsteuerstaaten sind Steuervermeidung, aber ifo-Präsident und Co-Autor der Studie, Clemens Fuest, also nicht irgendjemand, beziffert den Anteil der Verschiebung von Unternehmensgewinnen rein zur Steuervermeidung auf fast 40 Prozent, meine Damen und Herren!
Dazu kommt dann noch, dass von 16 größeren Unternehmen wie Lufthansa, TUI etc., die in der Coronakrise staatliche Hilfen bekommen haben, allein 13 Verbindungen zu Schattenfinanzzentren haben und das in der Regel nutzen, um Steuern zu sparen. Zwar hat die Bundesregierung in dem Zusammenhang gesagt, sie wolle sicherstellen, dass keine Coronahilfen in Steuersümpfe abfließen, aber in der Praxis ist das kaum zu kontrollieren.
Fazit: Die Steuervermeidung kostet uns aktuell Milliarden. Zweites Fazit: Wir müssen und können aus Deutschland und Europa heraus etwas tun. Aber wir müssen es auch wollen. Und diese Regierung will offensichtlich nur ein ganz, ganz kleines bisschen.
Wir Grüne sagen: Wir brauchen eine europäische Blacklist, die existierende Steueroasen klar nach Kriterien benennt, keine politische Liste. Wir brauchen ein öffentliches Country-by-Country Reporting, um auch genau zu erkennen, wo die Gewinne in den jeweiligen Ländern sind. Wir brauchen eine Pflicht zur Anzeige nicht nur von internationalen, sondern auch von nationalen Steuergestaltungsmodellen. Vor allem brauchen wir ein speziell ausgestattetes Bundesfinanzamt, welches ausschließlich für Konzerne und Einkommensmillionäre zuständig ist, um dem auch tatsächlich nachgehen zu können.
All das ist im Herbst wählbar, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Bevor ich dem Kollegen Binding das Wort erteile und damit die Spannung erhöhe, unterbreche ich die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 11.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Olaf Scholz hat die internationale Kooperation bei dem Thema Steuerbetrugsbekämpfung, das wir heute behandeln, besonders in den Mittelpunkt gestellt. Deshalb gibt es auch ATAD, die Anti-Tax-Avoidance-Directive. Tax Avoidance heißt Steuervermeidung. Anti Tax Avoidance heißt, wir sind gegen Steuervermeidung. Das ist die Überschrift.
Wir haben schon ganz viel gemacht: die Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung, Eindämmung von Share Deals, Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz, Geldwäschebekämpfung, Verschärfung internationaler Anzeigepflichten, zuvor das Kassengesetz. Heute geht es um die Austrocknung von Steueroasen.
Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit für deutsche Unternehmen, Familienunternehmen stärken.
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– Das ist einen Applaus wert, genau. – Das bedeutet aber auch, dass wir Wettbewerbsvorteile durch Betrug, Hinterziehung, Gestaltung blockieren und erschweren. Das ist wichtig; denn wenn jemand sich einen Vorteil erschleicht, ist es nicht nur zu seinem Vorteil, es ist auch zum Nachteil aller anderen. Deshalb, Katja Hessel, ist es keine Bestrafung der Unternehmen, es ist eine Belohnung, sich um die Unternehmen zu kümmern, die betrügen.
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Es ist eine Belohnung für die Ehrlichen, keine Bestrafung. Aber es stimmt: Wir wollen denen, die betrügen, Vorteile wegnehmen. Dass wir genau das wollen, ist insofern richtig.
Wir wissen, wir reden über etwas ganz Komplexes: hybride Gestaltungen. Warum? Weil bestimmte Möglichkeiten, seinen Gewinn zu vermindern, in den Ländern unterschiedlich geregelt sind. Wenn Konzerne das ausnutzen, müssen wir dagegen vorgehen. Oder wenn jemand seinen Gewinn, den er hier erwirtschaftet, in irgendein Oasenland verlagert, dann ist der Gewinn, der hierhergehört, in der Oase. Da sagen wir: Das müssen wir hinzurechnen. Also müssen wir den Gewinn, der jetzt sozusagen durch Tricks im falschen Land liegt, bei uns besteuern, weil da die Steuer hingehört, weil da der Gewinn hingehört und die Investitionen, damit alles fair ist, auch hinsichtlich der Arbeitsplätze und allem, was dazugehört. Da finde ich es unheimlich gut, wie Olaf Scholz diesen ganzen Komplex in diesem Gesetzgebungsstrauß zusammenfasst und sich nicht nur auf einen Punkt bezieht.
Es gibt ja Entstrickungsregeln. Was heißt eigentlich Entstrickung? Entstrickung heißt, etwas, was hier zu versteuern wäre, in ein anderes Land zu verlagern. Dann weiß das deutsche Finanzamt nichts davon, und dann es ist entstrickt. Ja, wir wollen das aber verstricken.
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Wir wollen gern das, was trickreich ins Ausland verlagert wird, hier fair besteuern. Deshalb ist es wichtig, die Wegzugsbesteuerung zu machen. Denn dass Leute ihre Gewinne aus Wertsteigerungen von wesentlichen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften ins Ausland bringen, ist total unfair.
Da muss ich jetzt sagen: Ich verstehe nicht ganz – denn es geht um Fairness fairen Unternehmen gegenüber –, dass das Wirtschaftsministerium sich manchmal so schwertut. Es hat sich ja mit der Wegzugsbesteuerung sehr lange schwergetan; das verstehe ich gar nicht. Die müssen doch auch ein Interesse daran haben, dass deutsche Unternehmen fair behandelt werden. Deshalb ist es klug, wenn wir das jetzt machen.
Jetzt habe ich mehrfach „fair“ gesagt. Das ist die Übersetzung einer gerechten Steuergesetzgebung, und zwar internationalisiert. Also gutes Gesetz, dem könnt ihr alle zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Mir ist aufgefallen, dass Sie Ihre Maske nicht aufgesetzt haben. Aber ich ordne es der Begeisterung für Ihre eigene Rede zu, dass Sie die Maskenpflicht gerade nicht beachtet haben.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der parlamentarischen Beratungen und der ersten Lesung des Gesetzes zur Abwehr von Steuervermeidung und unfairem Steuerwettbewerb, Steueroasen-Abwehrgesetz, möchte ich, um das wirklich noch mal klarzustellen, betonen, dass wir als CDU/CSU uns ausdrücklich und unmissverständlich gegen jede Form der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung mit Nachdruck einsetzen werden.
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Wir haben in der Vergangenheit viel gemacht und viele Maßnahmen umgesetzt, die gut und richtig waren, und bei jeder Maßnahme, die wir beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen – das ist, glaube ich, entscheidend –, müssen wir aber prüfen: Ist sie geeignet, ist sie erforderlich und ist sie angemessen, um das Ziel zu erreichen, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu begrenzen oder sogar ganz abzuschaffen?
Die EU hat hier vier Maßnahmen vorgeschlagen, von denen eine umgesetzt werden soll, und zwar immer diejenige, die im jeweils nationalen Steuerrecht am besten in die Systematik passt. Wir haben ja die vier Maßnahmen schon besprochen: Betriebsausgabenabzugsverbot für Aufwendungen an Unternehmen in Steueroasen, Verschärfung der Quellensteuermaßnahmen, wenn beispielsweise Zinsaufwendungen in Steueroasen geleistet werden, verschärfte Hinzurechnungsbesteuerung – die Kollegen haben es angesprochen –, wenn in einer Steueroase eine Zwischengesellschaft ansässig ist und so Steuerzahlungen vermieden werden, oder Maßnahmen bei Gewinnausschüttungen und Anteilsveräußerungen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat jetzt ein Jahr gedauert, bis der entsprechende Gesetzentwurf endlich hier im Parlament angekommen ist. Vor einem Jahr haben das die Finanzminister beschlossen, und jetzt, kurz vor dem Wahlkampf, kommt es, und es werden alle Maßnahmen umgesetzt. Ich habe aus dem Gesetzentwurf noch nicht ersehen können, dass die Abwägung zwischen Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit ausreichend vollzogen worden ist. Deswegen muss man im Laufe der Gespräche hier noch mal deutlich miteinander verhandeln.
Lieber Kollege Binding, Sie haben es gerade angesprochen: Wir wollen unfairen Steuerwettbewerb verhindern. Unfair heißt, dass diejenigen, die betrügen, sich quasi einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen verschaffen, die ehrlich sind. Aber wenn Sie, Herr Binding, und auch Sie, Herr Bundesfinanzminister, das wirklich wollen, dann müssen Sie aber auch für die Unternehmen, die in Deutschland ihre Steuern zahlen, faire Wettbewerbsbedingungen schaffen. Und den zweiten Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den tun Sie nicht. Zu einem fairen Steuerwettbewerb wäre es nämlich notwendig, auch die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland mit entsprechenden Maßnahmen durchzusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Den Schritt gehen Sie nicht, sondern Sie belasten alle Unternehmen. Die Kollegin Lisa Paus hat es ja auch gesagt: mehr Bürokratie und Misstrauen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen – und das ist übrigens der deutlichste Unterschied zwischen der einen und der anderen Seite hier im Hause –, die meisten Unternehmen, auch Konzerne, zahlen pünktlich und ordnungsgemäß ihre Steuern in voller Höhe in Deutschland, und dafür muss man wirklich, wie es auch der Kollege Güntzler heute an seinem Geburtstag getan hat, Danke sagen. Dabei ist es selbstverständlich, dass die deutschen Unternehmen in Deutschland ihren Steuerverpflichtungen nachkommen.
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Aber wenn man diejenigen dann belastet mit mehr Bürokratie, mit Mehraufwand, ihnen mit Misstrauen entgegentritt und wenn man alle Maßnahmen so umsetzt und die Abwägung eben nicht vornimmt, dann, glaube ich, sieht man am Schluss den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Wir müssen gezielt an diejenigen rankommen, die wirklich betrügen, und nicht alle gleichermaßen belasten. Manche Firmen können auch gar nicht in andere Länder ausweichen; Kollege Güntzler hat es angesprochen. Wir dürfen die Unternehmen also nicht unter Generalverdacht stellen, sondern wir müssen gezielte Maßnahmen durchsetzen und diejenigen – es sind wenige –, die Steuern vermeiden und Steuern hinterziehen, auch wirklich bekommen. Das muss das Ziel sein.
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Liebe Kollegin Paus, Sie versuchen immer, da was reinzudenken in der Form, dass wir irgendwie Leute schützen würden, die Steuern vermeiden und hinterziehen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen wirksame und keine politischen Beschlüsse.
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Das muss steuerrechtlich sauber durchdacht sein, und es muss dazu führen, dass wir am Ende auch diejenigen erwischen, die ihre Gewinne ungerechtfertigt verlagern und Steuern hinterziehen. Das muss auch in den weiteren Beratungen zu diesem Gesetz das Ziel sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit über einem Jahr werden in diesem Land Grundrechte eingeschränkt, deutlich, intensiv, und es wird hart darum gerungen, wie weit man dabei gehen kann, wie weit man dabei gehen muss. Dass wir das nicht machen, ohne einen guten Grund zu haben, das ist allen klar. Es geht nämlich darum, Leben und Gesundheit zu schützen, auch Leben und Gesundheit der anderen zu schützen. Dass das ein guter Grund ist, das hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen von gestern noch mal klargestellt. Es ist schon viel darüber gesprochen worden. Aber ich will es noch mal ausdrücklich zitieren; denn das ist wirklich noch mal eine Bestätigung dessen, warum Grundrechte eingeschränkt werden. Es dient nämlich einem grundsätzlich legitimen Zweck:
Der Gesetzgeber verfolgt in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht das Ziel, Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend gewichtigem Gemeingut … sicherzustellen.
Meine Damen und Herren, ich rate Ihnen allen, das noch mal intensiv nachzulesen; denn das zeigt noch mal, um was es eigentlich geht.
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Genau darum geht es.
Aber so klar, wie beschrieben ist, warum Grundrechte eingeschränkt werden können, genauso klar ist auch, wann Grundrechte eben nicht mehr eingeschränkt werden können, nämlich dann, wenn dieser gute Grund wegfällt. Meine Damen und Herren, nachdem die wissenschaftliche Expertise des RKI aufgezeigt hat, dass für Geimpfte und für Genesene, also Immunisierte, diese Begründung nicht mehr trägt, weil sie andere nicht mehr infizieren können – zumindest in einem deutlich geringen Maße als andere –, dass sie andere und auch sich selbst nicht mehr gefährden können, fällt dieser Grund weg, und dann können Grundrechte in einem Rechtsstaat auch nicht mehr eingeschränkt werden.
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Deswegen ist diese Verordnung, die wir heute vorlegen, der ganz konsequente Schritt.
In Zukunft werden somit Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Genesene nicht mehr gelten. Ich höre dann oft: Die dürfen jetzt alles. – Meine Damen und Herren, über was reden wir denn da? Wir reden darüber, dass in Zukunft Menschen, die im Pflegeheim über Monate hinweg keine Kontakte mehr hatten, die alleine in ihren Zimmern essen mussten und das auch schmerzhaft gespürt haben, wieder im Speisesaal zusammen essen können. Und worüber reden wir noch? Wir reden darüber, dass in Zukunft, vielleicht am Muttertag, Geimpfte ihre Mütter besuchen können und der Besuch eben nicht auf eine Person beschränkt ist.
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Darum geht es. Es geht um Geimpfte und Genesene, die in Zukunft von den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ausgenommen sind, meine Damen und Herren.
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Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiger Schritt, und das ist ein rechtsstaatliches Gebot. Deswegen ist diese Verordnung auch dringend geboten.
Geimpfte und Genesene werden in Zukunft gleichgestellt mit denjenigen, die einen Test vorlegen können – beim Einkaufen, beim Frisör –, eben auch, weil durch die Impfung bzw. durch die Erkrankung die Immunisierung festgestellt ist, sodass sie andere kaum noch infizieren und damit gefährden können.
Meine Damen und Herren, rechtsstaatliche Grundsätze gelten nicht nur in Normalzeiten, sondern sie müssen gerade auch in Krisenzeiten gelten.
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Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, den wir hier jetzt mit Leben füllen. Es geht darum, aufzuzeigen: Wir leben in einer lebhaften Demokratie. Wir leben nicht noch in einem Rechtsstaat, sondern wir leben in einem Rechtsstaat, und dann müssen diese Grundsätze auch durchgesetzt werden.
Ich kann all denen, die jetzt mit Ungeduld fragen: „Warum ich nicht?“ und „Wann sind wir denn dran?“, nur sagen: Wir alle müssen gemeinsam mit Hochdruck daran arbeiten, dass diese Schritte in die Normalität alsbald nicht nur für Geimpfte und für Genesene gelten,
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sondern dass wir alle uns diese ersehnte Normalität wieder zurückerarbeiten.
Wir sind auf einem sehr guten Weg; die Inzidenzzahlen zeigen das. Die Entspannung auf den Intensivstationen – vielleicht ist das zu weit hergeholt; aber zumindest nicht mehr diese Überlastung –
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ist ein wichtiges Signal. Lassen Sie uns deswegen verantwortungsbewusst, aber auch unter Einhaltung aller rechtsstaatlichen Grundsätze daran arbeiten, –
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
– dass wir alle wieder zurück in die Normalität finden können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Ministerin Lambrecht.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, erlaube ich mir einen Hinweis: Die AfD-Fraktion hat zu Tagesordnungspunkt 44 k eine Teilung der Frage beantragt. Über einen Teil des Gesetzentwurfs werden wir später namentlich abstimmen. Ich weise schon jetzt darauf hin, dass wir nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung noch über den Gesetzentwurf in dritter Beratung abstimmen müssen. Also: Teilung der Frage ist beantragt. Nur, dass das für die nachfolgenden Redner schon mal bekannt ist.
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– Ja, das habe ich schon gesagt.
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Ein bisschen zuhören wäre vielleicht auch nicht schlecht. – Jedenfalls: Teilung der Frage und dann namentliche Abstimmung über einen Teil dieser geteilten Frage.
Nächster Redner wird der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Wir als AfD-Fraktion fordern schon seit Langem die
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Normalisierung der Verhältnisse und die Beendigung des Lockdowns in Deutschland. Diese Forderung kommt nicht von ungefähr, sondern beruht auf wissenschaftlichen Grundlagen, zum Beispiel der Studie von Professor Ioannidis von der Stanford University. Er gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern der Welt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Lockdowns keinen signifikanten Einfluss auf die Ausbreitung von Covid-19 haben.
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Die restriktiven Maßnahmen sind epidemiologisch sinnlos, richten aber enormen Schaden an. Die gleiche Auffassung vertritt die WHO.
Wissenschaftler der Uni München haben festgestellt, dass die dritte Coronawelle auch ohne Bundesnotbremse bereits vor Ostern ausgebremst war. Entsprechend haben deutsche Gerichte in den letzten Monaten viele Anordnungen aufgehoben, da diese keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage hatten.
Mit der vorliegenden Verordnung wollen Sie geimpften oder genesenen Mitmenschen einen Teil ihrer verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte wiedergeben. Jedoch werden Millionen andere weiterhin diskriminiert.
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Für uns sind die Verordnung der Bundesregierung und der Gesetzentwurf der GroKo weitere Schritte auf dem Weg zu einer Impfflicht durch die Hintertür.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Resolution 2361 des Europarates vom Januar 2021 einzuhalten.
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In dieser wird gefordert, dass in den Mitgliedstaaten keine Diskriminierung Ungeimpfter erfolgt. Diese Resolution wurde übrigens auch von Mitgliedern der GroKo mitgetragen. Meine Damen und Herren, Resolutionen des Europarates haben nicht nur Gültigkeit bei Sanktionen gegen andere Staaten, sondern auch für die Demokratie in unserem Land.
({4})
Ich fordere die Bundesregierung daher auf: Geben Sie uns die Grundrechte zurück!
In Ihrer Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung schreiben Sie, dass es sich bei den vorgesehenen Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen nicht um Sonderrechte oder Privilegien handeln würde. Stattdessen nennen Sie es – ich zitiere – „die Aufhebung nicht mehr gerechtfertigter Grundrechtseingriffe“. Faktisch wird damit das Grundgesetz zu einem Privileg; denn das darin verbriefte Recht gilt eben nicht mehr grundsätzlich für jeden hierzulande. Sie teilen die Bevölkerung in zwei Gruppen.
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Doch auch die Geimpften und Genesenen können sich ihrer Privilegien nicht sicher sein; denn Sie operieren auch hier mit Hintertürchen. So gebe es – ich zitiere – „besorgniserregende Virusvarianten“,
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nicht weiter genannte zusätzliche Gründe sowie besondere Regelungen, die dazu führen können, diese Freiheiten wieder zu kassieren. Hören Sie auf, die Menschen zu verängstigen und gegeneinander auszuspielen!
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In den öffentlichen Anhörungen der letzten Wochen konnten wir im Gesundheitsausschuss, aber auch im Unterausschuss Pandemie hören, dass Wissenschaftler die Ansteckungsgefahr im Freien als äußerst gering einschätzen. Beenden Sie daher die unsägliche Maskenpflicht im Freien! Öffnen Sie die Spielplätze für unsere Kleinsten, die Biergärten und Gaststätten im Außenbereich! Lassen Sie uns Sport ohne Gängelei treiben! Und hören Sie endlich auf, die Freiheit zu ersticken! Geben Sie den Menschen wieder Luft zum Atmen!
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Liebe Bundesregierung, liebe GroKo, ich weiß, dass es schwer ist, bei großen Herausforderungen die richtige Strategie zu finden. Daher gebe ich Ihnen einen Ratschlag: Orientieren Sie sich an der Realität.
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Berücksichtigen Sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wahren Sie Ihr Gesicht, und gestehen Sie den Menschen und sich selbst ein, dass Sie sich geirrt haben. Beenden Sie den Lockdown und damit alle verbundenen Grundrechtseinschränkungen.
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Wissen Sie, ich werde bei den Zuständen hier daran erinnert, was 1989 passiert ist: Das Zentralkomitee der SED hat damals auch nicht gemerkt, dass es vorbei ist.
({11})
Denn sie wollten es nicht merken, auch dann nicht, als viele Menschen auf den Straßen waren. – Ihnen wird es wie dieser sozialistischen Riege ergehen: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Danke.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Oehme. – Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Oehme, wenn man Ihrem wirren Vortrag zugehört hat, ist man wirklich versucht, verfassungsrechtliche Nachhilfe zu geben.
({0})
Es ist unglaublich, was Sie hier vorgetragen haben. Denn es ist doch keineswegs so, dass die Grundrechte, die wir in unserem Grundgesetz stehen haben, alle gleichzeitig unbeschränkt gelten können.
Darüber hinaus steht bei den Grundrechten dabei, dass sie durch Gesetz eingeschränkt werden können.
({1})
Und ein Letztes: Sprechen Sie, wenn Sie darüber sprechen, bitte nicht nur über die Grundrechte, die in Form von Schutzmaßnahmen eingeschränkt werden müssen. Sprechen Sie auch darüber, warum wir dieses Grundrecht einschränken: Wir schränken es ein, um ein anderes zur Geltung zu bringen, nämlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Darum geht es.
({2})
Sie können die gesundheitlichen Folgen dieser Pandemie nicht einfach ausblenden, weil es schöner wäre ohne Schutzmaßnahmen. Ja, es wäre schöner ohne Schutzmaßnahmen; aber das Leben ist nicht so, wie man es sich wünscht. Wir haben hier Herausforderungen in Verantwortung gegenüber der Bevölkerung anzunehmen, und das tun wir. Das sollten Sie nicht diskreditieren.
({3})
Herr Kollege Frei, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau von Storch?
Ja.
({0})
– Tja, das gehört zum Parlamentarismus dazu.
({1})
Und zur Nachhilfe auch.
Vielen herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage genehmigen. – Welchen Effekt hat es im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte anderer Menschen, wenn ich um 22 Uhr alleine auf die Straße gehe? Können Sie begründen, warum ich nicht mehr auf die Straße gehen darf und alle anderen auch nicht?
({0})
Frau von Storch, wenn Sie das möchten, dann führe ich das gerne noch mal aus; aber ich war selbst an so vielen Debatten hier im Haus beteiligt, in denen das von unterschiedlichen Kollegen getan wurde. Dabei ist immer darauf hingewiesen worden: Es geht bei einem diffusen Infektionsgeschehen nicht um eine einzelne Maßnahme.
({0})
Es geht nicht nur um eine Ausgangsbeschränkung,
({1})
sondern es geht um die Summe der Maßnahmen, die wir zum Schutz der Bevölkerung getroffen haben. Und diese Summe hilft, ein diffuses Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen.
({2})
Daran ändert sich auch nichts, Frau von Storch, wenn Herr Oehme das bestreitet.
Fakt ist: Vor zwei Wochen haben wir hier das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz mit der Bundesnotbremse beschlossen. Wir haben heute eine Sieben-Tage-Inzidenz von 129; vor zehn Tagen lag sie noch bei 169.
({3})
Man kann natürlich alles abstreiten. Aber das sind die positiven Folgen dieses Gesetzes, und das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
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Heute ist in der Tat ein Tag der Hoffnung und der Freude,
({5})
weil wir gut 460 Tage, nachdem das erste Mal von einem Covid-19-Ausbruch in Deutschland berichtet worden ist, Licht am Ende des Tunnels sehen.
Vor zwei Wochen – ich habe vorhin das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz angesprochen – ist doch hier im Hause auch von unterschiedlichen Seiten beklagt worden, dass es keinen Impfturbo gäbe. Heute sehen wir doch auch: 30,6 Prozent der Bevölkerung haben bis heute eine Erstimpfung erhalten. Gestern war ein weiterer Tag mit über 1 Million Impfungen. Wenn das kein Impfturbo ist, dann weiß ich auch nicht, was Sie darunter verstehen. Das verschafft uns das Licht am Ende des Tunnels. Deswegen werden wir jetzt alles Notwendige tun, um diesen Impferfolg nicht zu gefährden, sondern dafür zu sorgen, dass wir auch die letzten Meter dieser Pandemie noch gut bewältigen können.
({6})
Herr Kollege Frei, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Sie haben eben von einem „Tag der Hoffnung“ gesprochen. Ich habe eine sachliche Frage zu § 6 der Ausnahmenverordnung. Dort geht es um Regelungen für den Sport, um Ausnahmen von der Beschränkung der Ausübung von Sport. Die Formulierung, die dort gefunden wurde, ist allerdings aus meiner Sicht unklar. Deshalb würde ich Sie gerne fragen: Dürfen nach dieser Verordnung, wenn sie denn beschlossen wird, vollständig Geimpfte und Genesene wenigstens im Freien wieder uneingeschränkt Sport treiben? Dann sollte man das zumindest sagen. Sollte es nicht so sein, dann wäre ich Ihnen für eine Begründung dankbar. Der Verordnungstext ist in dieser Frage nicht eindeutig. Viele warten auf ein entsprechendes Signal. Das wäre dann auch ein Zeichen der Hoffnung.
Zunächst einmal, Herr Kollege Hahn, ist es so, dass die Bundesregierung mit dieser Verordnung – wir stimmen ihr heute zu – den ersten Schritt auf dem Weg geht, den Geimpften und Genesenen Ausnahmen von Schutzmaßnahmen und damit Erleichterungen zu gewähren. Da geht es um die Quarantäne, da geht es um die Ausgangsbeschränkungen, die Kontaktbeschränkungen, da geht es darum, dass man die Getesteten den Geimpften gleichstellt oder umgekehrt, und es geht in § 6, den Sie angesprochen haben, um den Bereich des Sports.
Im Grunde genommen ist es so, dass wir im Hinblick auf die Regelungen, die wir in § 28b des Infektionsschutzgesetzes zum Sport – nicht zum Individualsport im Freien – getroffen haben, deutlich machen, dass dieser Sport möglich ist, wenn es sich um Geimpfte oder Genesene handelt. Damit ist diese Regelung aus meiner Sicht sehr klar. Das ist der erste Schritt auf dem Weg der Hoffnung, und es werden weitere Schritte folgen, Herr Hahn.
Das muss man, liebe Kolleginnen und Kollegen, an der Stelle auch ganz deutlich sagen: Ja, es ist der erste Schritt. – Wir haben diesen Spagat zu machen, einerseits diese Pandemie zu bewältigen und andererseits – Frau Justizministerin hat es in ihrer Rede sehr deutlich gesagt – dafür zu sorgen, dass diejenigen, bei denen es keine Rechtfertigung für die Einschränkung von Grundrechten gibt, ihre Grundrechte wahrnehmen können.
({0})
Jetzt ist es, wenn man sich mal anschaut, welche Grundrechte denn eingeschränkt werden, so: Nicht in allen Fällen werden die Beschränkungen mit dieser Verordnung aufgehoben. Das ist klar. Es gibt leichte Beschränkungen wie das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung, die Abstandsregeln, die Hygiene- und Schutzkonzepte. Diese werden wir auch den Geimpften zukünftig zumuten müssen, zum Schutz derer, die nicht geimpft werden können oder auch nicht geimpft werden wollen, damit wir insgesamt die Pandemie gut bewältigen können. Es gibt auch andere Einschränkungen, beispielsweise im Bereich der Berufsfreiheit, die wir mit dieser Verordnung nicht aufheben.
({1})
Deswegen wird es weitere Schritte auf diesem Weg geben müssen, und es wird sie auch geben.
Ein wichtiges Mitglied dieses Hauses hat heute Morgen in einer Zeitung die Frage gestellt: Warum hat man das denn nicht vor zwei Wochen im Infektionsschutzgesetz geregelt?
({2})
Warum haben wir im § 28c des Infektionsschutzgesetzes eine Verordnungsermächtigung geschaffen? Diese Frage kann man klar beantworten: weil wir Flexibilität brauchen, weil wir Antworten brauchen, falls es schwierige Virusmutationen gibt, die unter Umständen von Impfstoffen nicht umfasst sind, und weil der weitere Impffortschritt auch dafür sorgen wird, dass wir tatsächlich in weiteren Bereichen Erleichterungen schaffen und Ausnahmen machen können. Deswegen werden wir uns schon sehr bald wieder mit dieser Frage zu beschäftigen haben.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit März wissen wir vom Robert-Koch-Institut, dass von immunisierten Personen kein nennenswertes Infektionsrisiko mehr ausgeht. Und trotzdem wurde von Ihnen mit der Bundesnotbremse, Herr Frei, ein Gesetz verabschiedet, in dem die Rückgabe der Grundrechte gar nicht vorkommt. Ihre Begründung eben hat mich überhaupt nicht überzeugt.
({0})
Es ist bezeichnend für Ihre Politik, dass Sie bei den grundrechtseinschränkenden Maßnahmen sehr schnell sind. Bei der Frage der Rückgabe von Grundrechten an Genesene und Geimpfte lassen Sie sich leider sehr viel mehr Zeit.
({1})
Meine Damen und Herren, Grundrechte hat man von Geburt an, und zwar auch und gerade in Pandemiezeiten; da haben Sie völlig recht, Frau Ministerin Lambrecht. Wir haben zur Bundesnotbremse einen Änderungsantrag eingebracht, der die Rückgabe der Grundrechte verfassungskonform und umfassend geregelt hätte. Den haben Sie aber leider abgelehnt, meine Damen und Herren.
Sie erlassen jetzt eine Rechtsverordnung – das müssen wir auch mal klarstellen –, die eigentlich erst am 28. Mai hätte in Kraft treten sollen. Jetzt haben Sie aber Angst bekommen, dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht zuvorkommt. Dann muss man ja auch mal feststellen: Das hat die Verfassungsbeschwerde unter anderem der FDP-Bundestagsabgeordneten zumindest schon mal bewirkt – Sie sind aufgewacht und haben schneller als ursprünglich geplant diese Rechtsverordnung hier vorgelegt.
({2})
Die Verordnung führt jetzt richtigerweise zu mehr Freiheit, und das begrüßen wir ganz ausdrücklich. Aber sie geht uns längst nicht weit genug. Denn Freiheiten für Geimpfte und Genesene können nicht scheibchenweise zugeteilt werden, Frau Ministerin Lambrecht; es gibt keinen ersten und zweiten Schritt, Herr Frei. Freiheitsrechte gibt es nur als Ganzes, meine Damen und Herren.
({3})
Und es ist auch nicht nachvollziehbar, dass wesentliche Freiheitsbeschränkungen für Genesene weiterhin gelten sollen.
Die Verordnung klammert vollständig die Öffnung von Gaststätten, von Hotels, von Freizeit- und Kultureinrichtungen, von Sportstätten und Fitnessstudios für Genesene und Geimpfte aus. Es ist kein Grund ersichtlich, warum Geimpfte und Genesene nicht gemeinsam Mannschaftssport betreiben können.
({4})
Es ist auch nicht ersichtlich, warum der Gastronom, der geimpft ist, sein Lokal nicht für Genesene und Geimpfte öffnen kann.
({5})
Unser Grundgesetz schützt in Artikel 12 auch die Berufsfreiheit.
({6})
Es reicht auch nicht aus, dass Sie eventuell irgendwann mal in einem zweiten Schritt das Problem lösen. Sie wollen doch hier nur eine Neiddebatte verhindern. Die Vermeidung von Neid ist aber kein verfassungsrechtliches Gut, meine Damen und Herren.
({7})
Wir enthalten uns hier, weil wir zwar diese Rückgabe von kleinen Freiheiten sehr begrüßen, Freiheiten gibt es aber nicht scheibchenweise, sondern nur als Ganzes. Genau das ist Inhalt unseres Entschließungsantrages.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Ferschl, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten braucht es einen triftigen Grund. Entfällt dieser, sind sie selbstverständlich wieder zu gewähren.
({0})
Es ist also folgerichtig, für Geimpfte und Genesene einige Beschränkungen wieder zurückzunehmen. Deswegen stimmen wir Ihrer Rechtsverordnung auch zu.
({1})
Aber: Es ist Ihre Aufgabe als Bundesregierung, die Freiheitsrechte für alle Bürgerinnen und Bürger wiederherzustellen.
({2})
Dieser permanente Jo-Jo-Lockdown macht die Menschen mürbe: Brücken-Lockdown, Bundesnotbremse und heute nun die Ausnahmeverordnung – alles im Hauruckverfahren. Kanzlerkandidat Laschet hofft wahrscheinlich immer noch auf schönes Wetter. Aber weder mit Hauruckverfahren noch mit dem Prinzip Hoffnung besiegt man eine Pandemie. Dafür braucht es einen Plan.
({3})
Ich will Ihnen drei Punkte nennen, die uns wichtig sind:
Erster Punkt. Wir brauchen ein schnelles Impfangebot für alle. Hätten Sie, wie von uns gefordert, die Patente freigegeben, stünde schon lange mehr Impfstoff zur Verfügung und wären deutlich mehr als 8 Prozent bislang geimpft.
({4})
Selbst die USA fordern mittlerweile die Freigabe der Patente.
Besonders Menschen in zu kleinen Wohnungen, die jeden Tag in überfüllten Öffis zur Arbeit fahren müssen und nicht im Homeoffice bleiben können, stecken sich häufig an. Die sind im Übrigen besonders stark von den Einschränkungen betroffen. Denn es macht einen Unterschied, ob eine vierköpfige Familie in einer Dreizimmerwohnung ohne Balkon und Garten von der Ausgangssperre betroffen ist oder jemand in einer Villa in Dahlem mit 1 300 Quadratmetern Grund. Nehmen Sie die Menschen in prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Blick, und machen sie diesen ein schnelles Impfangebot.
({5})
Zweiter Punkt. Werden Sie konsequent. Während Sie allen bis in die Wohnzimmer hinein Vorschriften machen, haben Sie die Wirtschaft bislang mit Glacéhandschuhen angepackt. Es ist doch unglaublich, dass Amazon-Beschäftigten verboten wird, FFP2-Masken zu tragen. Nehmen Sie die Unternehmen endlich stärker in die Pflicht, und bestrafen Sie Verstöße gegen Arbeitsschutz konsequent.
({6})
Dritter und letzter Punkt. Wir brauchen eine andere politische Weichenstellung. Die Anfälligkeit für das Virus ist das Ergebnis einer Politik, die seit drei Jahrzehnten betriebswirtschaftliche Kriterien anwendet und nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche auf Profit getrimmt hat.
({7})
Die Konsequenz: überfüllte Busse und Bahnen, Kinder, die nicht beschult werden können, Pflegekräfte, die am Limit sind, Gesundheitsämter, die völlig überlastet sind, usw. usw.
({8})
Jetzt muss in die Bereiche investiert werden, die dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Statt Solidarität nur zu predigen, ist das die Solidarität, die Sie der Bevölkerung schulden.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir bekräftigen heute einen Verfassungsgrundsatz, eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, und zwar leider nur per Verordnung. Sobald tiefe Grundrechtseingriffe im Einzelfall niemandem mehr nützen, müssen sie gegenüber diesen Personen sofort aufgehoben werden.
({0})
Die Situation ist nach wie vor kritisch. Die Belastung auf den Intensivstationen ist immer noch viel zu hoch. Deswegen müssen wir eine klare Sprache sprechen: Heute werden nicht etwa die Kontaktbeschränkungen für Geimpfte aufgehoben, sondern Kontaktbeschränkungen unter vollständig Geimpften, und das ist ein wesentlicher Unterschied.
({1})
Wir wissen aber, dass Geimpfte selbst in den seltenen Fällen einer erneuten Infektion keine schweren Verläufe mehr durchleiden müssen. Deswegen nützt es niemandem, wenn sie sich untereinander weiterhin nicht mehr treffen dürften, auch nicht den überlasteten Beschäftigten auf den Intensivstationen, die übrigens selbst – und das freut mich –, wenn sie es wollten, zu der Gruppe derjenigen gehören, die bereits geschützt sind.
Man kann im Verfassungsrecht über vieles streiten. Darüber, dass diese Beschränkungen aufgehoben werden müssen, kann man nicht streiten.
({2})
Das ist etwa so, als ob man infrage stellen würde, dass eins und eins zwei ergibt. Die Art und Weise, wie Politikerinnen und Politiker der Koalition diese Debatte begonnen haben, war für mich einer der Tiefpunkte der letzten Monate, angefangen beim notorischen Horst Seehofer, dessen abwegige Argumentation ich hier überhaupt nicht wiederholen will. In der Weihnachtspause kam dann die Meldung: Rechtspolitiker von Union und SPD prüfen ein gesetzliches Verbot von Sonderrechten für Menschen mit Coronaimpfung. Im Januar warnte die Bundeskanzlerin vor angeblichen doppelten Privilegien für Geimpfte. Damit schürt man Neiddebatten, und das ist das Letzte, was diese Gesellschaft gerade braucht.
({3})
Weder von der Bundesjustizministerin noch vom Bundesgesundheitsminister war da eine klare Ansage zu hören. Im Gegenteil: Jens Spahn hat erst mal den Ethikrat mit dieser Frage beschäftigt – als ob es da irgendetwas zu prüfen gäbe. Der Ethikrat ist gut und sinnvoll für viele Dinge, aber wenn ein Bundesminister eine verfassungsrechtlich glasklare Frage zur Disposition stellt, dann stellt sich mir eine andere Frage, nämlich die, ob er seinen verfassungsrechtlichen Kompass während der Pandemie verloren hat oder ob er je einen hatte. Eins und eins ist zwei, und damit muss man nicht den Ethikrat beschäftigen.
({4})
Sie hätten Besseres zu tun gehabt. Wir hätten mit Beginn der Impfkampagne eine einfache fälschungssichere Dokumentation haben müssen. Heute haben wir 24 Millionen Menschen, die in Deutschland geimpft sind. Wir haben diese Dokumentation immer noch nicht.
Verfassungsrecht ist das Grundgerüst des Vertrauens in dieser Gesellschaft. Es darf auch während einer Pandemie nicht beschädigt werden; denn wir brauchen dieses Vertrauen auch in der nächsten Krise.
Es ist gut, dass wir nach diesen Irrungen und Wirrungen heute den Menschen das Vertrauen zurückgeben können. Unser Land ist ein freiheitliches Land. Wir brauchen Solidarität, aber wir erwarten keine Schikanen.
({5})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Mit diesem Gesetz beschließen wir nichts weniger als den Einstieg in die Rückkehr zur Normalität, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es stecken sich immer weniger Menschen an. Die Infektionszahlen gehen zurück, und alle Experten sagen, dass die dritte Welle gebrochen ist. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir nicht mehr notwendige Beschränkungen aufheben, und das machen wir mit diesen Regelungen hier.
({0})
Wir haben zum Gesundheitsschutz die Grundrechte der Bürger sehr schnell ganz erheblich beschränkt. Das war gerechtfertigt. Aber genauso schnell müssen wir jetzt dabei sein, die Beschränkungen, die wir nicht mehr benötigen, auch wieder aufzuheben. Wir haben den Bürgern viel zugemutet, ja, aber das hat Wirkung gezeigt. Das war auch der Grund dafür, dass das Bundesverfassungsgericht die Eilanträge gestern zurückgewiesen hat.
Wenn Bürgerinnen und Bürger das Virus nicht mehr übertragen können, dann stellen sie für andere und auch für sich selbst keine Gefahr mehr dar. Deswegen können wir diese Beschränkungen für die Geimpften und Genesenen aufheben. Deswegen ist es richtig, dass wir die Ausgangssperren, die Kontaktbeschränkungen und auch die Quarantänepflichten für sie aufheben und dass wir mit diesen Regelungen dafür sorgen, dass Geimpfte und Genesene genauso wie negativ Getestete behandelt werden, wenn sie bestimmte Einrichtungen wie Zoos oder den Friseur besuchen, und dass Genesene und Geimpfte keinen Test dafür benötigen. Auch das ist ein ganz wichtiger Schritt zurück zur Normalität, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ja, das wird zu Ungleichbehandlungen führen. Aber wir müssen doch sehen, dass das nur für einen überschaubaren, kurzen Zeitraum sein wird – ich hoffe, für wenige Wochen. Viele Bundesländer sind dabei, die Impfpriorisierung aufzuheben; es ist zu lesen, für AstraZeneca in ganz Deutschland in absehbarer Zeit. Der Zeitraum, in dem wir diese Ungleichbehandlung haben, wird also überschaubar sein. Und ganz nebenbei gesagt: Ich finde, es muss auch einen Anreiz geben, sich impfen zu lassen; denn ich glaube, dass wir schon in wenigen Wochen nicht mehr das Problem haben werden, zu wenig Impfstoff zu haben, sondern ich fürchte, es wird das Problem geben, dass es zu wenige Bürger geben wird, die sich impfen lassen wollen. Das kann es dann auch nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Und ja, oft ist der Vorwurf zu hören, es sei ungerecht, dass jetzt gerade die Älteren mehr Dinge tun dürfen, obwohl sie auch schon zuerst geimpft wurden. Dazu ist zu sagen, dass wir die Familien und die Kinder ganz genau im Blick haben. Wir wissen, dass die Kinder, die Jugendlichen, die Familien im Moment am meisten unter der Pandemie zu leiden haben. Gerade deshalb war es so wichtig, dass das Kabinett gestern 2 Milliarden Euro für das Aufholpaket zur Verfügung gestellt hat, dass wir den Kinderbonus beschlossen haben, um die Eltern zumindest ein Stück weit finanziell zu unterstützen.
({3})
Es ist eine gute Nachricht, dass sich die Zwölfjährigen bald werden impfen lassen können. Auch dass wir von der Notbremse eine Ausnahme für kleinere Gruppen von Kindern zugelassen haben, damit sich Kinder treffen können, damit sie sich austoben können, war ganz wichtig.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Straetmanns aus der Fraktion Die Linke?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Frage knüpft an das an, was der Kollege Hahn eben schon gefragt hat. Einfach nur zur Klarstellung für alle und zur Beruhigung für mich selber, da ich immer noch gerne auch mit Ihnen zusammen Fußball spiele: Dürfen Genesene und Geimpfte demnächst diesen Mannschaftssport oder auch andere Mannschaftssportarten wieder ausüben?
Es ergibt sich aus § 6 der Ausnahmenverordnung, dass Sport von Geimpften und Genesenen wieder ausgeübt werden kann, unabhängig von der Regelung des § 28b Infektionsschutzgesetz. Ich freue mich, bald wieder mit dir, lieber Friedrich, kicken zu können.
({0})
Beide geimpft?
Noch nicht. Aber das Training haben wir nötig.
({0})
Wenn wir geimpft sind, machen wir das, Friedrich.
Natürlich stellt die FPD die Frage zu Recht: Wenn der Wirt geimpft ist, wenn der Kellner geimpft ist und wenn die Gäste geimpft sind, wo ist dann noch die Ansteckungsgefahr? Deswegen ist es richtig, dass der nächste Schritt schon sein wird, Handel und Gastronomie und auch den Tourismus zu öffnen. Aber jetzt wir sind erst bei der persönlichen Lebensführung, bei den unmittelbaren persönlichen Lebensumständen. Lassen Sie uns erst einmal bei diesen den ersten Schritt gehen und dort die Beschränkungen wieder zurücknehmen.
Also, wir sind froh – die SPD hat hier Tempo gemacht –, dass der Gesetzentwurf in dieser Woche den Bundesrat erreicht. Ich hoffe, dass möglichst viele hier zustimmen. Wir wollen den Bürgern die Grundrechte wieder zurückgeben. Es geht nicht, dass Menschen, von denen keine Gefahren mehr ausgehen, weiterhin Beschränkungen unterliegen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch den folgenden Satz sagen, weil wir, wie ich finde, ein Jahrhunderturteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz hatten: Lassen Sie uns mit der gleichen Energie, mit der wir die Coronapandemie bekämpfen, mit der gleichen Entschlossenheit auch gegen den Klimawandel vorgehen.
({1})
Das ist die vielleicht noch größere Bedrohung für unsere Gesellschaft.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Fechner. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Rottmann, Sie wissen ja, ich schätze Sie sehr, aber bei Ihrer Rede gerade ist doch ein bisschen was verrutscht. Wenn Sie Minister Spahn vorwerfen, er habe seinen verfassungsrechtlichen Kompass verloren, wenn Sie gar behaupten, wir würden die Bürger schikanieren, dann frage ich mich, ob Sie nicht den Deutschen Bundestag mit einer Nominierungsveranstaltung der Grünen verwechselt haben. Da ist doch einiges danebengegangen, liebe Frau Kollegin.
({0})
Wir sind uns sehr bewusst, dass die Schutzmaßnahmen, die wir in den letzten 14 Monaten getroffen haben, einschneidend waren, dass viele Menschen darunter gelitten haben. Es war an vielen Stellen auch eine Zumutung, und natürlich war uns das klar. Aber ich sage auch: Es war richtig, dass wir diese Schutzmaßnahmen getroffen haben, weil wir das Infektionsgeschehen durch entschlossenes Handeln in den Griff bekommen mussten. Das ist uns gelungen. Es war wichtig, dass wir das gemacht haben, und die Verfassung sieht auch eine Schutzpflicht unsererseits gegenüber dem Leben und der Gesundheit der Menschen vor, verbunden mit der Notwendigkeit, entsprechend zu handeln.
So wie es verfassungsrechtlich notwendig war, diese Schutzmaßnahmen zu ergreifen, ist es jetzt verfassungsrechtlich notwendig, die Freiheiten zurückzugeben. Wenn Menschen nicht mehr infektiös sind, weil sie genesen sind, weil sie geimpft sind, dann gibt es für Freiheitsbeschränkungen keinerlei Rechtfertigung mehr. Deswegen war es uns von der Unionsfraktion und auch der SPD wichtig, dass wir das schnell machen. Deswegen habe ich, das muss ich ehrlich sagen, überhaupt kein Verständnis, dass jetzt hier von der Linken kritisiert wird, das sei ein Hauruckverfahren, sie aber gleichzeitig alles freigeben will. Was wollen Sie denn? Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie den Menschen schnell ihre Freiheiten zurückgeben, oder wollen Sie das kritisieren? Es ist widersprüchlich, wie Sie hier argumentieren.
({1})
Und Impfneid – das will ich noch sagen, weil das hier angesprochen worden ist – ist wirklich fehl am Platz. Es geht hier um die Wiederherstellung grundrechtlicher Freiheiten. Es geht nicht um Sonderrechte, es geht nicht um Privilegien. Deswegen wäre es aus meiner Sicht auch ein verfehltes Verständnis der verfassungsrechtlich garantierten Gleichheit, wenn man jetzt Rücksicht nehmen würde auf Nichtgeimpfte und die Aufhebung der Beschränkungen hinauszögern würde. Kein Nichtgeimpfter hat irgendetwas davon, wenn wir Menschen, die geimpft sind, ihre Freiheit vorenthalten. Deswegen war es richtig, dass wir hier gemeinsam aufs Tempo gedrückt haben.
({2})
Die FDP hat gesagt, wir müssten jetzt alles für alle freigeben, ganz egal was.
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Dem will ich deutlich widersprechen. Natürlich ist es so, dass die wissenschaftlichen Studien besagen, dass von Geimpften eine geringere Infektionsgefahr ausgeht, etwa 80 Prozent. Das heißt aber, dass es ein Restrisiko gibt.
({4})
Deswegen muss man sehen: Wenn man alles zulässt bei immer noch hohen Inzidenzen – Kollege Frei hatte richtigerweise darauf hingewiesen: sie ist deutlich gesunken, liegt aber immer noch bei 129 –, wenn wir jetzt alles öffnen, dann müssen wir auch der Gefahr ins Auge sehen, dass sich dieses Restrisiko realisiert. Das gilt gerade für Gastronomie in geschlossenen Räumen. Deswegen muss es jetzt doch unser Anliegen sein, die Inzidenzen weiter herunterzubekommen. Da sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn das gelungen ist, wenn wir wieder unter eine Inzidenz von 100 gekommen sind, dann bin ich sofort bei Ihnen, dass wir dann auch weitere Öffnungsschritte machen bei Kunst und Kultur, im Einzelhandel und auch bei der Gastronomie.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das alles wollen wir machen, aber noch nicht jetzt. Jetzt geht es erst einmal um die grundrechtssensiblen Bereiche. Das machen wir heute. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Luczak. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geimpfte und von Corona Genesene werden befreit von Testpflicht, Ausgangssperre, Kontaktbeschränkungen und Quarantäne. Das ist der Kern der vorliegenden Verordnung. Das machen wir, weil Geimpfte und Genesene keine relevante Gefahr mehr für sich und andere sind. Deshalb ist Impfen so wichtig. Impfen rettet Leben. Es schützt und ist der Schlüssel raus aus der Pandemie.
Wir kommen beim Impfen spürbar voran. Über 30 Prozent unserer Bevölkerung sind das erste Mal geimpft; das sind fast 25,5 Millionen Menschen. Über 7 Millionen Menschen sind bereits vollständig geimpft. Aktuell werden im Wochenschnitt jede Sekunde fast acht Personen geimpft. Jede Sekunde fast acht Personen! Das ist doch ein großartiger Erfolg, den wir gemeinsam erreicht haben. Deswegen gehen wir diese Schritte und gefährden auch nicht diesen großartigen Impferfolg, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Wir kommen Tag für Tag spürbar voran. Das macht auch hoffnungsvoll für den Sommer. Ich sage ein großes Dankeschön an die Mitarbeiter und die Ärzte in den Impfzentren, an die Hausärzte und die Fachärzte: Das, was Sie leisten, ist ein wesentlicher Beitrag zu diesem Impferfolg. Danke!
({1})
Impfen ist der Weg zurück zur Normalität. Wir machen jetzt einen ersten wichtigen Schritt. Weitere Schritte werden folgen. Es ist gut, dass die Länder bei einer Inzidenz von unter 100 weitere Öffnungsschritte gehen können und dies auch tun. Testen und Impfen machen den Unterschied.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem vorliegenden Änderungsgesetz stellen wir den Versorgungsanspruch bei einem Impfschaden durch eine Covid-19-Schutzimpfung klar. Wir schaffen Rechtssicherheit, insbesondere in Fällen, in denen ein Impfstoff im Einzelfall abweichend von den Empfehlungen der Länder, zum Beispiel für andere Altersgruppen, eingesetzt wird.
Wir ziehen auch Regeln zum Wechselunterricht und zu Ausnahmemöglichkeiten von untersagtem Präsenzunterricht glatt. Dies ist unter anderem für Hochschulen, für berufsbildende Schulen wichtig. Jetzt kann praktischer Unterricht zum Beispiel in Laboren, in Krankenhäusern zweifelsfreier gestattet werden. Und Aus- und Fortbildung von Polizisten, Rettungsdienstkräften und Feuerwehrleuten können auch im Präsenzunterricht durchgeführt werden. Voraussetzung dafür ist ein zweimaliger Test in der Woche.
Das Gesetz und die Verordnung enthalten wichtige Klarstellungen und Ausnahmen, Erleichterungen für Geimpfte und für coronagenesene Personen. Wir sind gut unterwegs. Der Weg, den wir für den Sommer beschreiten, ist hoffnungsvoll. Lasst uns entschlossen so weitergehen.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Staat hat in der Coronakrise Hunderte Milliarden Euro in die Hand genommen, um die Wirtschaft zu stützen. Und das war auch sinnvoll, weil sonst noch mehr Unternehmen über die Wupper gegangen wären, weil sonst noch mehr Arbeitsplätze vernichtet worden wären und im Ergebnis auch die Schulden weiter gestiegen wären.
Es ist aber so, dass bei vielen Unternehmen die Wirtschaftshilfen immer noch nicht angekommen sind. Wir müssen vor der Bundestagswahl diskutieren, wie wir unsere Wirtschaft nach der Wahl weiter organisieren wollen. Ja, Deutschland könnte wie nach der Finanzkrise aus den Schulden langfristig herauswachsen. Aber wir haben die Schuldenbremse im Grundgesetz stehen, beschlossen mit Zweidrittelmehrheit. Deswegen droht nach der Wahl ein Kürzungshammer: Die Coronakredite sollen in den nächsten 20 Jahren getilgt werden. Und deswegen muss man sich hier ehrlich machen und sagen, was man vorhat: entweder Investitionen und beim Sozialstaat kürzen oder die Steuern erhöhen, meine Damen und Herren.
({0})
Deswegen hat jede Partei die Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung, vor der Wahl zu sagen, was sie nach der Wahl tun will. Wer trägt die Kosten der Krise? Wer dies nicht beantworten will, der soll seine Wahlplakate erst gar nicht an den Laternenpfahl hängen, meine Damen und Herren.
({1})
Sind es wieder die Leute, die den Laden am Laufen halten? Ich erinnere mich, wie wir hier mit feuchten Augen, mit Standing Ovations diese Menschen beklatscht haben: die Lagerarbeiter, die Kassiererinnen und Kassierer, die Polizisten, die Pflegekräfte, die Müllwerker, die Busfahrer. Oder sind es – das will meine Fraktion – die Milliardäre in diesem Land, die eine Coronaparty gefeiert haben, meine Damen und Herren?
({2})
Das reichste 1 Prozent der Bevölkerung besitzt ein Drittel des Nettovermögens. Nettovermögen bedeutet Vermögen abzüglich der Schulden. Die vermögendsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen über 60 Prozent des Nettovermögens. Die Hälfte der Bevölkerung, die Leute, die sich hart anstrengen und an die Regeln halten, besitzt unter dem Strich nichts. Das hat mit Leistung nichts zu tun. Leistung muss sich wieder lohnen, meine Damen und Herren.
({3})
Es ist nun einmal so: Wer über Fabriken, über Aktienpakete, über mehrere Immobilien verfügt, erzielt jedes Jahr zusätzliche Einkünfte aus diesen Vermögen. Der französische Starökonom Piketty sagt, dass die Multimillionäre und Milliardäre jedes Jahr bis zu 8 Prozent Rendite darauf erwirtschaften. Gemäß Forbes-Reichenliste sind die Milliardäre in Deutschland in der Krise im Schnitt um 20 Prozent reicher geworden. Beate Heister und Karl Albrecht junior: Vermögen im März 2020 28 Milliarden Euro, mittlerweile 33 Milliarden Euro, ein Plus von 5 Milliarden Euro. Susanne Klatten, die CDU-Parteispenderin und BMW-Aktionärin – während die Arbeiter in Kurzarbeit geschickt wurden –: 14,1 Milliarden Euro vor der Krise, mittlerweile 24,3 Milliarden Euro, ein Plus von 10 Milliarden Euro. Der geschätzte Kollege Christian von Stetten steht hier leider nicht, aber er wird nach mir sprechen.
Deswegen brauchen wir eine Debatte in diesem Land, wer die Kosten der Krise trägt. Es liegen ja Vorschläge aus der Unionsfraktion auf dem Tisch. Der Kollege Ploß aus Hamburg hat vorgeschlagen, den Rentnerinnen und Rentnern ins Portemonnaie zu fassen, an die Mütterrente, an die Grundrente heranzugehen und denjenigen, die ein ganzes Leben lang hinterm Bock gesessen haben, die Rente mit 63 zu nehmen.
({4})
Es ist schon erstaunlich, dass das von einer Seite des Hauses kommt, von der es immer wieder heißt: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal. Der geschätzte Kollege Ploß hat nach dem Studium zwei Jahre als Pressereferent gearbeitet, dann ging es schwups in den Bundestag. Minister Spahn sitzt seit seinem 22. Lebensjahr hier im Bundestag. Und einige Abgeordnete aus der Unionsfraktion sind in der Krise zum Maskenmillionär geworden. Meine Fraktion wird es nicht zulassen, dass die Rentnerinnen und Rentner die Krise bezahlen.
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Deswegen hat Die Linke eine einmalige Vermögensabgabe als Einstieg in die dauerhafte Wiederbelebung der Vermögensteuer, die den Ländern zusteht, vorgeschlagen. Sie würde die reichsten 0,7 Prozent der erwachsenen Bevölkerung treffen. Also, wenn Sie auf die Straße gehen und dort 100 Leuten begegnen, trifft sie einen von 100, 99 trifft sie nicht. Es ist eine einmalige Abgabe von 10 Prozent auf Nettovermögen über 2 Millionen Euro mit einer Freigrenze für Betriebsvermögen von 5 Millionen Euro. Wer 2 Millionen Euro hat und 5 Millionen Euro Betriebsvermögen, also 7 Millionen Euro, der zahlt nichts. Wenn er 100 000 Euro mehr hat, dann zahlt er 10 Prozent darauf. Das sind 10 000 Euro über 20 Jahre, 40 Euro im Monat. Das ist angemessen, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({6})
310 Milliarden Euro kämen so in die Staatskasse, 19 Milliarden Euro im Jahr. Das würde fast den gesamten Tilgungsbedarf decken. Und wer seinen Briefkasten in die Schweiz verlagert, der würde über eine Stichtagsregelung rückwirkend beansprucht werden. Das heißt, man kann sich auch nicht davor verstecken.
Wenn es jetzt wieder heißt, das alles sei doch Enteignung und nicht angemessen: Der gute Herr Adenauer – „keine Experimente“ – hat damals 50 Prozent und höhere Sätze erhoben. Herr Gabor Steingart schreibt im „Fokus“ dazu – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Die Blaupause für einen solchen Substanzeingriff haben nicht Karl Marx oder Oskar Lafontaine geliefert, sondern der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger. Der Zentrumspolitiker – der also der direkten Vorgängerin der CDU angehörte – setzte das Reichsnotopfer nach dem für Deutschland verlorenen 1. Weltkrieg durch.
Eine große Mehrheit der Bevölkerung, über 70 Prozent quer durch alle Parteien, will sogar eine dauerhafte Vermögensteuer. Deswegen sagt Die Linke: Die Quandts und Klattens sollen nicht immer fragen, was das Land für sie tun kann, sie müssen sich fragen, was sie für dieses Land tun können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christian Freiherr von Stetten das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, zu beobachten, dass immer am Ende einer Legislaturperiode, also pünktlich zum Beginn des Bundestagswahlkampfes, die Substanzsteuern aus der sozialistischen Mottenkiste geholt werden, um diese auf Antrag der Linken hier im Deutschen Bundestag zu beraten.
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Sie begründen zwar heute Ihre Substanzsteuer mit der außergewöhnlichen Coronakrise, aber in Wirklichkeit ist diese Coronakrise bei Ihnen nur Mittel zum Zweck. Sie suchen sich jedes Jahr einen neuen Grund, um den Bürgern in die Tasche zu langen und sie teilzuenteignen.
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– Kollege De Masi, Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen: Im Jahr 2017 haben Sie Ihren Antrag so betitelt: „Reichtum gerechter verteilen“. Sie wollten Millionäre weiter belasten: „Reichtum umverteilen in Deutschland und Europa“. Einige Jahre davor hieß es: „Wer Schulden bremsen will, muss Millionäre besteuern“ usw. usw.
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Nun fordern Sie in der Coronakrise eine Vermögensabgabe. Eine unwiderrufliche Teilenteignung der Betroffenen ist also nun aus Ihrer Sicht unumgänglich und dringend notwendig.
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Ihr Antrag heute ist kein seriöser Debattenbeitrag zur Bewältigung der Coronakrise, sondern ein Angriff auf den Standort Deutschland, auf unsere mittelständischen Unternehmen, auf die Millionen Arbeitsplätze in inhabergeführten Familienbetrieben. Von daher ist es heute kein guter Beitrag zu diesem Thema.
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Sie haben völlig recht: Ihr Antrag hat trotzdem das Recht, dass wir 700 Parlamentarier uns intensiv mit ihm beschäftigen und ihn uns einmal genauer anschauen. Dann machen wir das doch einfach einmal. Sie hätten es uns ja einfach machen können, indem Sie einfach sagen: Wir wollen alle Personen, die ein Vermögen von 2 Millionen Euro oder 5 Millionen Euro haben, mit einer einmaligen Abgabe zwischen 10 und 30 Prozent besteuern. – Dann hätten wir relativ einfach ausrechnen können, was herauskommt. Aber Sie machen es sehr kompliziert. Sie wollen in der ersten Gruppe die reichsten 0,7 Prozent in Deutschland lebenden Erwachsenen bis zu einem Gesamtaufkommen von mindestens 300 Milliarden Euro besteuern.
Da frage ich mich schon: Wie viele Jahre werden Sie brauchen und wie viele Hunderte von Millionen Euro wird es kosten, um festzustellen, wer diese Personen überhaupt sind? 0,7 Prozent der reichsten Erwachsenen. In Deutschland leben 83 Millionen Menschen. Ungefähr 70 Millionen sind älter als 18 Jahre. Damit gelten sie als Erwachsene. Von diesen 70 Millionen wollen Sie nun 0,7 Prozent heranziehen. Das sind 486 000 Personen. Um das rechtssicher und verfassungsmäßig korrekt feststellen zu können, müssen Sie doch im Prinzip von diesen 70 Millionen Bürgern den Verkehrswert ihrer Vermögen festlegen, den Schuldenstand abziehen, dann eine Liste erstellen und die 486 000 Reichsten feststellen und diese dann zur Besteuerung heranziehen.
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Ein Wahnsinn. Das würde Zeit brauchen.
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Und es ist völlig richtig – Sie haben es doch angedeutet –: Was würde ein Betroffener machen, wenn er merkt, dieser Bundestag würde es mit dem Einbringen eines Gesetzentwurfs tatsächlich ernst meinen, der dafür sorgt, dass in Zukunft 30 Prozent seines Vermögens enteignet werden? Er würde von der deutschen Seite des Bodensees auf die österreichische Seite des Bodensees wechseln. Wir sind ein vereintes Europa. Die Rechtsformalien würden wahrscheinlich an einem Tag erledigt werden – kein Problem –, und das persönliche Vermögen würde erhalten bleiben.
Sie wissen ganz genau, dass es so ist. Weil Sie wissen, dass wir Ihnen dies heute vorhalten würden, haben Sie Ihren Antrag ja noch ergänzt und eine zweite Personengruppe aufgenommen, die Sie besteuern wollen. Sie schreiben in der Beschlussvorlage, dass Sie auch die beschränkt abgabepflichtigen natürlichen Personen besteuern wollen, die weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, also alle Menschen, die außerhalb von Deutschland leben, aber große Vermögen in Deutschland haben. Sie sind hier großzügig und gewähren – –
Kollege von Stetten, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Ja, sehr gerne, der Porschefahrer.
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Wenn Sie nett sind, nehme ich Sie mal mit, Herr von Stetten;
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aber Sie sind es nicht.
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Ich möchte Ihnen Folgendes sagen – denn das ärgert mich ein bisschen –: In Ihrer Rede geht es nur darum, warum das, was wir vorschlagen, nicht geht. Ich fordere Sie auf, zu den Kollegen zu gehen, die die Krise dazu benutzt haben, sich selbst maßlos zu bereichern, was gegenwärtig hier in diesem Lande massiv kritisiert wird. Die haben offensichtlich ein paar Ideen, wie so etwas geht. Vielleicht gehen Sie mal zu denen und lassen sich sagen, wie das geht, was wir vorschlagen. Dann wären wir hier nämlich ein Stück weiter und müssten nicht über so einen Unsinn diskutieren.
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Selbstverständlich ist es möglich, festzustellen, was einer an Vermögen hat. Man geht zu den Finanzämtern. Das ist relativ leicht. Und wenn man das weiß, dann ist die Frage, ob es 0,7 Prozent oder 0,65 Prozent sind, relativ wurscht.
Es geht darum, dass diejenigen zur Finanzierung der Krise herangezogen werden, die davon profitiert haben, und nicht die, die bereits dadurch herangezogen wurden, dass ihnen ihr Lohn durch das Kurzarbeitergeld nicht vernünftig ausgeglichen wurde und Ähnliches; andere haben wir ganz nach Hause geschickt. Das sind diejenigen, die das Ganze tragen und auch künftig tragen.
Unser Vorschlag ist: Wir brauchen eine andere Verteilung der Lasten. Haben Sie auch einen Vorschlag, oder können Sie nur herumnörgeln, Herr von Stetten?
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Lieber Kollege Ernst, das müssen Sie schon uns überlassen, dass wir, wenn Sie einen Antrag einbringen, den wir für nicht umsetzungsfähig halten, Ihnen das auch sagen und ihn nicht einfach in blindem Gehorsam beschließen.
Sie haben gerade gesagt: Es ist ganz einfach. Du gehst zum Finanzamt und findest heraus, ob dieser oder jener unter die 0,7 Prozent fällt. – Ich habe schon darauf hingewiesen: Sie wollen auch die beschränkt Abgabepflichtigen in Deutschland zur Steuer heranziehen. Die sind aber bei keinem deutschen Finanzamt gemeldet. Sie sind großzügig zu diesen Menschen. Sie sagen: Die kriegen einen Freibetrag in Höhe von 100 000 Euro, und vom restlichen Vermögen werden 10 bis 30 Prozent teilenteignet, wegbesteuert.
Da sage ich Ihnen: Viel Spaß auf der weltweiten Suchen nach dem Finanzamt, das Ihnen die Zahlen liefert, die Sie für Ihre Vermögensabgabe brauchen. Das ist doch – in Anführungszeichen – völlig „absurd“! Wie wollen Sie das denn machen? Wollen Sie den Leuten, die auf der Welt verteilt leben, von ihrem örtlichen Finanzamt einen Brief schicken lassen mit der Bitte um Auskunft über ihre Vermögensverhältnisse? Ich glaube, dieser Vorschlag – schauen Sie sich ihn selber noch mal an – wird nicht durchführbar sein.
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel. Einer der reichsten im Ausland lebenden, aber in Deutschland Vermögen habenden Personen ist sicherlich der Chinese Herr Li Shufu. Nach Medienangaben besitzt er 10 Prozent der Aktien der Daimler AG in Stuttgart. Nach heutigem Stand hat er ungefähr 7 Milliarden Euro investiert. Nun wollen Sie ihm einen Freibetrag von 100 000 Euro abziehen. Jetzt ist meine Frage: Soll das Finanzamt Stuttgart nach China einen Bescheid schicken? Glauben Sie, die kriegen da Auskunft?
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Wird das am Ende des Tages durchsetzungsfähig sein? Sollte es in China durchsetzungsfähig sein, weil Sie da besondere kommunistische Beziehungen haben und das hinkriegen?
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Dann dauert es aber keinen Tag, bis dieser chinesische Investor, den wir auch in Deutschland vielleicht dringend brauchen, sein Aktienpaket von der Daimler AG verkauft. So, wie er das als Investor machen wird, werden das noch Hunderte, wenn nicht gar Tausende andere Menschen machen, die in Deutschland investieren, aber hier nicht direkt steuerpflichtig sind.
Was würde passieren? Die deutsche Börse würde zusammenbrechen, Teile der deutschen Wirtschaft würden zusammenbrechen, wenn von heute auf morgen ausländische Investitionen abgezogen werden. Ja, das kann gut sein, dass Sie wollen, dass die deutsche Wirtschaft und die Börse zusammenbrechen.
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Wenn ich an Ihre antikapitalistischen Demonstrationen denke mit der Forderung, die soziale Marktwirtschaft zu überwinden, dann ist das sicherlich ein Punkt. Aber wir wollen das nicht. Wir wollen ausländische Investitionen in Deutschland und ein solides Fundament der sozialen Marktwirtschaft.
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Da auch das Thema Elektromobilität angesprochen wurde: Was machen Sie eigentlich mit Elon Musk? Elon Musk möchte gerade in Brandenburg 40 000 Arbeitsplätze schaffen. Wahrscheinlich hat er auch größere Summen – 100 Millionen oder in welchem Größenbereich auch immer – an Subventionen bekommen, damit diese wichtige Investition in unser Land kommt. An einem Tag schicken Sie ihm den Scheck über die Summe der Subventionen zur Unternehmensansiedlung, und ein halbes Jahr später schicken Sie ihm ein Teilenteignungsbeleg; damit ist seine ausländische Investition weg.
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– Es gibt überhaupt gar keinen Grund, so zu schreien.
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– Es gibt überhaupt keinen Grund, zu schreien. Wir diskutieren doch gerne über Ihren Antrag hier im Deutschen Bundestag. Aber bitte, vielleicht glauben Sie ja, dass es Ihnen am Ende des Tages im Wahlkampf hilft, in einen Überbietungswettbewerb mit der SPD und auch mit den Grünen darüber einzutreten, wer im Herbst die höchsten Steuern für die Unternehmen und für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erhebt.
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Es ist ja nicht nur Ihre Linksfraktion, die Substanzsteuern fordert. Wenn man in die Wahlkampfentwürfe der einzelnen Parteien hineinschaut,
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dann sieht man, dass SPD und Grüne neben den höheren Einkommensteuern teils auch Enteignungen von Vermögen vornehmen wollen. Nach einem Freibetrag, lieber Kollege, wollen Sie neben höheren Einkommensteuern auch eine 1-prozentige Vermögensteuer einführen, genauso wie die Grünen – 1 Prozent, und das nicht einmalig, sondern jährlich, Jahr für Jahr.
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Wir brauchen nach dieser Coronakrise keine Steuererhöhung. Wir brauchen keine Steuererhöhungsorgien. Wir brauchen im Herbst keinen Wettbewerb darum, wer die Unternehmen, die Bürger am meisten belastet. Wir brauchen das Gegenteil: Wir brauchen mehr Freiheiten für Bürgerinnen und Bürger, mehr Freiheiten für Unternehmen und Selbständige.
Wir gemeinsam – Opposition und auch Regierung – haben in dieser Legislaturperiode noch zwei Monate Zeit, den dringend notwendigen Bürokratieabbau zu beschließen, einen Bürokratieabbau, der diesen Namen auch verdient.
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Wir müssen die über Jahre hinweg angesammelten bürokratischen Vorschriften nicht nur kritisch sehen, sondern uns von diesen Fesseln befreien.
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Eine Bürokratie, die die deutsche Wirtschaft an der Entwicklung hindert, muss beseitigt werden, damit die Unternehmen in unserem Land nach dieser wirklich schwierigen Coronazeit endlich wieder voll durchstarten können. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bruno Hollnagel für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit fast anderthalb Jahren fährt das Staatsschiff ohne Radar durch den Coronanebel; ohne Radar deswegen, weil es für die Effizienz der einzelnen Anticoronamaßnahmen keine hinreichenden wissenschaftlichen Belege gibt. Nun ist das Schiff auf die Klippen gefahren und hat leckgeschlagen. Die Linken wollen das Leck mit einer Vermögensabgabe schließen, Grüne und SPD mit einer Vermögensteuer. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Virus in infamer Weise instrumentalisiert werden soll,
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nämlich um den Bürgern vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, um die Schuldenobergrenze zu kippen, um die Wirtschaft umzubauen und um eine Vermögensabgabe einzuführen. Alles das ist verwerflich.
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Die geforderte Abgabe suggeriert, dass wir in Deutschland ein Einnahmenproblem hätten. Das stimmt nicht.
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Wir haben ein Ausgabenproblem. Die Vermögensabgabe wird mit einer finanziellen Ausnahmelage begründet. Solange wir aber an Brüssel und an die Südländer mehr bezahlen als unbedingt nötig,
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existiert die erwähnte Ausnahmelage nicht; denn Geld ist wohl offensichtlich genug da, nur nicht für uns.
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Wir haben rekordverdächtig hohe Steuer- und Abgabenquoten. Wir sollten nicht den Ehrgeiz haben, diese noch weiter nach oben zu treiben.
Was ist also fiskalisch zu tun? Die im Haushalt bestehenden Reserven müssen aufgelöst werden, Steuerbetrug ist erfolgreich zu bekämpfen und Ausgaben sind zu kürzen. Erst danach können wir uns weitere Abgaben überlegen.
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Die Grünen, die SPD und Die Linke wollen in Wirklichkeit eine Neidabgabe auf Dauer. Sie wissen nicht, was sie tun. Was bedeutet das? Sie belasten diejenigen Einkommen, die bereits versteuert worden sind. Vermögen sind Investitionen oder potenzielle Investitionen; Sie bestrafen also Investitionen. Vermögen ist Sicherheit gegen Krisen; Sie bestrafen also Krisenvorsorge. Durch Ihre Abgaben vertreiben Sie Investoren aus dem Land. Sie vernichten damit Arbeitsplätze, und Sie verjagen die Steuerzahler.
Die Frage ist: Wie wollen Sie diese Lücke eigentlich schließen? Durch weitere Abgaben? Dann kommen Sie in die Abwärtsspirale, die kein Ende findet. Und schließlich schaffen Sie ein Bürokratiemonster.
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Eine Lawine von Klagen wird sich über das Land ergießen. Denn: Wie wollen Sie Verkehrswertermittlungen von Millionen von Häusern und anderen Wertgegenständen gerichtsfest durchsetzen?
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Sie setzen Millionen von individuellen Wertermittlungsverfahren voraus. Das wird ein Horror.
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Aber, meine Damen und Herren, gehen wir zurück. Da trifft sich ein Kommunist mit einem Kapitalisten.
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Der Kommunist fordert Solidarität. Er fordert, das Vermögen zu teilen. „Also gut“, sagt der Kapitalist, „du bist mein Freund, ich will in Frieden mit dir zusammen leben. Also teilen wir. Aber was machen wir dann, wenn du dein Geld ausgibst und ich meines spare?“ Da sagt der Kommunist: Dann teilen wir wieder. – Und genau diese falsche Methode wollen Sie hier anwenden,
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eine Methode, die eigenverantwortliches Handeln und damit die Basis des gesellschaftlichen Erfolges untergräbt. Sie sägen nicht am Ast, auf dem wir alle sitzen, sondern am Stamm des Baumes, der uns alle trägt.
Wir lehnen den Antrag ab.
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Das Wort hat die Kollegin Kiziltepe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in der größten Wirtschaftskrise seit dem Kollaps des Finanzsystems 2008. Mit der außerordentlichen Feuerkraft unseres Bundeshaushaltes halten wir dagegen. So schaffen wir es gemeinsam durch diese Krise. Als SPD haben wir immer für ein handlungsfähiges und für ein solide finanziertes Gemeinwesen gekämpft, und genau das zahlt sich jetzt aus.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Feuerkraft der öffentlichen Hand brauchen wir auch in Zukunft. Deswegen müssen wir über die Finanzen von morgen sprechen. Danke an die Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion, aufgrund ihres Antrags können wir heute über dieses Thema debattieren.
Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Jetzt können wir die Weichen richtig stellen. Schauen wir zurück, müssen wir vor allem zwei Punkte festhalten: Erstens. Sparen ist nicht nur in der Krise oft die falsche Antwort, sondern auch danach. Auf die Coronapandemie darf keine Austeritätswelle folgen.
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Zweitens. Die Ungleichheit stieg all die Jahre, egal was passierte. Die obersten 1 Prozent bekamen das beste Stück vom Kuchen. Dieses Stück wurde immer größer, während 99 Prozent durch gute und schlechte Jahre gingen. Eklatant ist dies besonders bei den Vermögenden. In kaum einem anderen Land ist die Ungleichheit so groß wie in Deutschland. Während die unteren 50 Prozent gerade einmal 1,3 Prozent des gesamten Vermögens besitzen, verfügt das oberste 1 Prozent alleine über ein Drittel des Gesamtvermögens.
Das zeigt auch diese Grafik, die ich Ihnen mitgebracht habe, sehr deutlich: Wer 2017 in der Mitte der Gesellschaft stand, hatte knapp 26 000 Euro. Zum reichsten 1 Prozent gehörte man mit einem Vermögen von über knapp 1 Million Euro; das entspricht ungefähr der Kante dieses Papiers.
Die reichsten Deutschen – laut der Forbes-Liste die Aldi-Erben – besitzen alleine 42,5 Milliarden Euro. Dafür müsste ich auf diesem Papier einen 8,5 Kilometer langen Balken oder Zollstock in den Himmel zeichnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Genau das ist eine Flughöhe, die eine gesellschaftliche Verantwortung mit sich bringt. Dafür brauchen wir ein Steuersystem, das diese Verantwortung auch reflektiert, und dafür stehen wir als SPD.
Wir als SPD wollen die Vermögensteuer wieder einführen. Die Linksfraktion schlägt hier einen anderen Weg vor: Sie möchte die Adenauer-Abgabe wieder einführen. Das ist kein Weg, den wir grundsätzlich ablehnen, anders als die Union, die scheinbar ihr eigenes Gründungsvermächtnis vergessen hat: Eine gerechte Vermögensbesteuerung war die Grundlage für den Wirtschaftsboom in den 50er- und 60er-Jahren. Heute wollen die Erben Adenauers diesen Fakt aus den Geschichtsbüchern streichen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, anders als die Linksfraktion wollen wir als SPD einen anderen Weg gehen, einen Weg, der Maß und Mitte im Blick behält; einen Weg, der bei der Verantwortung von Milliardären und Multimillionären ansetzt und kleine und mittlere Betriebe nicht belastet, einen Weg, der auch langfristig eine gerechte Besteuerung sicherstellt.
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Das erreichen wir mit einer dauerhaften Vermögensteuer und mit einer Entlastung für die arbeitenden Menschen mit geringen und mittleren Gehältern. Wir werden den vorliegenden Antrag deswegen, aber auch wegen der Erinnerungslücken unseres Koalitionspartners ablehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an alle Menschen da draußen appellieren: Im September habt ihr/haben Sie die Wahl. Gebt uns/geben Sie uns die politische Mehrheit, um ein Spardiktat nach der Pandemie zu verhindern und die Lasten der Coronakrise gerecht zu verteilen. Ich verspreche: Wir als SPD werden dafür kämpfen.
Vielen Dank.
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Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist abgelaufen. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das ist der Fall. Also haben Sie noch Gelegenheit. Ich werde die Abstimmung nach dem nächsten Redebeitrag schließen.
Das Wort hat der Kollege Markus Herbrand für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe keine Tabelle mitgebracht, aber auch wir können es ganz praktisch machen: Hier, ziemlich genau vor mir, verläuft die Linie in diesem Hause, an der die Abgabenpolitik sich trennt. Wir haben hier auf der einen Seite diejenigen, die eigentlich überhaupt nie genug Steuern einnehmen können,
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um ihre Umverteilungsfantasien irgendwie umsetzen zu können. Auf der anderen Seite haben wir, unter anderem mit der FDP natürlich, diejenigen, die die Rahmenbedingungen dafür setzen wollen, dass wir durch Wirtschaftswachstum überhaupt dafür sorgen können, dass wir Steuern einnehmen und eine gewisse Balance herstellen zwischen dem, was an Wertschöpfung in den Betrieben auf der einen Seite und an Abschöpfung durch den Staat auf der anderen Seite geschieht.
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Aus drei Aspekten heraus werden wir diese Vermögensabgabe – wir lehnen ja auch die Vermögensteuer ab; das wissen Sie – natürlich ablehnen. Der erste Aspekt ist ein psychologischer – da sind wir sogar noch einer Meinung; da bin ich ziemlich sicher –:
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Wir haben eine Vermögensabgabe in Deutschland dreimal erhoben, immer zur Finanzierung von Kriegsschäden. Ich glaube, das ist eine Rhetorik, die wir hier alle nicht wollen. Wir befinden uns nicht im Krieg, deshalb sollten wir uns davon auch lösen.
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Das zweite und viel wichtigere Argument ist die ökonomische Komponente. Wir halten es wirtschaftspolitisch eigentlich eher für kontraproduktiv, was hier vorgeschlagen wird. Es ergibt unserer Auffassung nach einfach keinen Sinn, in die Substanz hinein zu versteuern. Sie nehmen unter anderem den Betrieben wichtige Liquidität, die notwendig ist, damit Investitionen getätigt werden. Da sprechen wir auch über die Schaffung von Arbeitsplätzen, damit tatsächlich auch wieder Steuern generiert werden können. Ich will noch mal darauf hinweisen, dass in Deutschland 90 Prozent der Investitionen privat finanziert werden und nur 10 Prozent durch den Staat. Wir müssen die Rahmenbedingungen für die Privaten verbessern, damit auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie versuchen eigentlich immer, den Kuchen kleiner zu machen, von dem dann am Ende noch mehr essen sollen.
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Zweitens haben wir eigentlich auch gar keinen Bedarf – das ist jetzt mehrfach angesprochen worden; es wird ja nicht besser, wenn Sie lauter werden – an einem Mehr an Umverteilung. Nirgendwo in der Welt wird mehr umverteilt als in Deutschland,
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und das erfolgt über einen progressiven Steuertarif. Wir können nach meinem Dafürhalten ja auch darüber sprechen, ob unser Sozialstaat immer treffsicher ist. Da bin auch ich der Auffassung, dass wir großen Optimierungsbedarf haben. Aber wir haben wirklich keine Unterfinanzierung unseres Sozialstaates. Es gilt auch nicht, dass immer mehr auch mehr hilft. Das ist definitiv nicht der Fall.
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Die Menschen mit den starken Schultern sind bei uns in der Tat diejenigen, die schon sehr viel dazu beitragen.
Der dritte Aspekt – der ist mir ganz besonders wichtig – sind die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegen eine solche Abgabe bestehen. Die Mehrzahl der Rechtswissenschaftler sieht das so, und auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat geschrieben, dass die Vermögensabgabe nur möglich ist, wenn der Staat in eine „existenzbedrohende finanzielle Notlage“ geraten ist. Und das sind wir nicht. Wir haben noch andere Finanzierungsmöglichkeiten, über die dann tatsächlich politisch debattiert werden kann. Wir müssen auch Einsparmöglichkeiten bei den Subventionen etc. überprüfen.
Kollege Herbrand, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen De Masi?
Aber selbstverständlich; sehr gerne.
Vielen Dank, lieber Kollege Herbrand, lieber Markus, dass du die Zwischenfrage zulässt. – Ich würde gerne fragen, ob dir ein Artikel von Gabor Steingart – der ist bekanntlich kein Linker – aus dem „Focus“ bekannt ist. Er nimmt Bezug auf ebendieses Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages und schreibt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
In Wahrheit allerdings erfährt man bei genauer Lektüre des Gutachtens, dass die Wissenschaftler den Befürwortern einer Vermögensabgabe juristische Brücken bauen, die direkt in die Depots der Reichen führen könnten. So heißt es da:
• „Dadurch, dass die Vermögensabgabe im Grundgesetz in Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 ausdrücklich normiert wurde, ist sie grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig.“
• „Die Vermögensabgabe muss laut Verfassung eine einmalige Abgabe bleiben. …“
Und so weiter und so fort. – Ähnlich hat sich auch der Verfassungsrechtler Joachim Wieland in einem Gutachten für die Kollegin Kiziltepe geäußert.
Insofern will ich einfach nur sagen, dass dieses Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages offenbar auch von interessierten Kreisen in der Öffentlichkeit falsch wiedergegeben wird.
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Ich habe ja auch mit keinem Wort gesagt, dass alle der Auffassung sind, dass das nicht möglich ist. Aber die Mehrzahl der Juristen ist in meinen Augen der Auffassung, dass es verfassungsrechtlich sehr bedenklich ist. Und selbst wenn man zu der Auffassung käme, dass diese verfassungsmäßige finanzielle Notlage bestehen würde, gibt es Grenzen, die durch Artikel 14 des Grundgesetzes, nämlich die Eigentumsgarantie, gegeben sind. Also: Man kann darüber streiten, aber letzten Endes gibt es eine ganze Reihe von Verfassungsjuristen – meines Erachtens tatsächlich eine große Mehrheit –, die das sehr kritisch sieht.
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Ich will aber sagen: Wir haben andere Finanzierungsmöglichkeiten. Unsere Wirtschaft wächst offenbar erstaunlich schnell wieder aus diesen großen Schwierigkeiten heraus. Wir werden natürlich eine höhere Schuldenquote haben, wenn diese Krise einmal hinter uns liegt. Aber im internationalen Vergleich ist diese Schuldenquote immer noch sehr niedrig, was auch dazu führt, dass wir auf den internationalen Finanzmärkten eine wirklich blendende Bonität besitzen. Das alles, denke ich, sind Dinge, die dafür sprechen, dass es andere Finanzierungsmöglichkeiten gibt und keine existenzbedrohende finanzielle Notlage besteht.
Also: Mit uns wird es keine Vermögensabgabe und auch keine Vermögensteuer geben. Das Gegenteil ist aus unserer Sicht geboten: Wir müssen die Leistungsträger entlasten, damit der Kuchen insgesamt größer wird.
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Dann können wir auch besser und mehr verteilen.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine kaputte Infrastruktur, eine wacklige Konjunktur und gigantische soziale und politische Herausforderungen, ein wahres Trümmerfeld: Das ist Deutschland Anfang der 1950er-Jahre. Vom berühmten Wirtschaftswunder spüren die Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nichts. In dieser wirtschaftlich und sozial extrem schwierigen Situation hat der Bundestag schon einmal eine einmalige Vermögensabgabe beschlossen: das Lastenausgleichsgesetz. Es dient der Linken auch heute als gedankliche Brücke für eine einmalige Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre. Die Forderung dieses Antrags ist richtig, den konkreten Weg dahin und den Zeitpunkt möchte ich aber infrage stellen.
Das Vermögen in Deutschland ist sehr ungleich verteilt. Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über rund ein Drittel des Vermögens in diesem Land. Gleichzeitig besitzt die ärmere Hälfte lediglich rund 1 Prozent des privaten Nettovermögens.
Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Glaser?
Nein, erlaube ich nicht. – Als wäre das nicht skandalös genug, verschärft die Pandemie mit ihren Folgen die ungleiche Vermögensverteilung sogar noch: Wer Aktien und Immobilien besitzt, verdient sich weiter eine goldene Nase – trotz der Krise. Wer aber seinen Arbeitsplatz infolge der Pandemie verloren hat, keine Aufträge mehr bekommt oder seit Monaten in Kurzarbeit ist – zum Beispiel die vielen Angestellten in Hotels, in der Gastronomie oder im Kulturbereich –, der muss jeden Euro mehr als zweimal umdrehen. Diese massive Ungleichheit dürfen wir nicht weiter ignorieren!
({0})
Denn wachsende Ungleichheit ist ein Problem. Fragen nach der Verteilung von Lebenschancen, von Teilhabe und politischer Einflussmöglichkeit verlangen eine Antwort. Wenn eines von fünf Kindern in Deutschland von Armut bedroht ist, wenn nicht Talent und Engagement, sondern die soziale Herkunft über die Chancen eines Menschen entscheiden, dann ist das nicht nur beschämend für unser reiches Land, es stellt auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt infrage oder zumindest auf eine harte Probe und lässt viel Potenzial, ja lässt Menschen auf der Strecke bleiben. Extreme Vermögensungleichheiten abzubauen, heißt, Bildungschancen und Teilhabemöglichkeiten aufzubauen, und das ist Aufgabe der Politik.
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Politik muss für Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Wir dürfen uns doch nicht darauf verlassen, dass einige Reiche schon freiwillig ein Stückchen vom Kuchen abgeben werden. Von Marlene Engelhorn aus Wien haben Sie vielleicht gehört. Die junge Frau muss derzeit Interviews geben, weil sie sich von ihrem künftigen Millionenerbe zu 90 Prozent trennen will, weil – Zitat – „Vermögen und damit Macht und Lebenschancen wahnsinnig ungleich verteilt sind“, wie sie erkannt hat. Dieser Schritt ist ehrenwert; er ist aber auch die Ausnahme und entlässt die Politik nicht aus der Verantwortung.
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Wir dürfen nicht zulassen, dass Verteilungsgerechtigkeit vom freiwilligen Verzicht der Wohlhabenden abhängt! Die gerechte Verteilung von Vermögen und von Chancen ist die Aufgabe der Politik und hat nichts mit Gönnertum zu tun.
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Deswegen unterstützen wir das Ziel des Antrags. Wir brauchen mehr Verteilungsgerechtigkeit in diesem Land!
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Der Pfad, den die Linke dabei aber beschreiten möchte, ist nicht ganz ungefährlich; denn ich zweifle daran, dass er verfassungsfest ist. Damit sind wir beim ersten Problem des Antrags. Das Grundgesetz erlaubt zwar das Instrument einer einmaligen Vermögensabgabe, aber nur unter der Voraussetzung einer staatlichen Ausnahmesituation. Natürlich nehmen wir momentan Rekordschulden auf, um die Folgen der Krise zu meistern. Aber befinden wir uns gerade in einer existenziellen Krise? Ist unsere Situation gerade mit einer Lage wie beim Reichsnotopfer oder beim Lastenausgleich gleichzusetzen? Diese Frage kann zu diesem Zeitpunkt der Pandemie noch niemand abschließend beantworten.
Ein zweites Problem: Der Antrag kommt aus unserer Sicht zu früh. Wir sind mitten in der Krise. Wir wissen heute noch nicht, ob sich die Lage bis zum Sommer deutlich verbessert. Deshalb müssen wir jetzt die Pandemie überwinden, und erst wenn wir gemeinsam diese Herausforderung bestanden haben, ist es Zeit für eine Bilanz. Aus unserer Sicht wäre ein Antrag zu einem Zeitpunkt nach der Krise glaubwürdiger. Ich habe Sie auch so verstanden, Herr De Masi, dass eigentlich die Frage ist, was Sie nach der nächsten Bundestagswahl machen und nicht jetzt mittendrin.
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– Herr Kollege, was haben Sie denn für ein Problem?
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– Haben Sie keine Redezeit? Dann quatschen Sie doch nicht immer dazwischen.
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– Wenn Sie was sagen wollen: Bei Ihnen würde ich ja vielleicht sogar eine Frage zulassen.
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Das dritte Problem des Antrags ist die Zweckbindung der Vermögensabgabe. Abgaben sind immer zweckgebunden; aber die Linke beschränkt sich auf die Einnahmen von 300 Milliarden Euro, um das staatliche Defizit und die Pandemieschulden zu reduzieren. Das ist mir, ehrlich gesagt, zu wenig, zu uninspiriert. Ich vermisse ein Konzept, wie Sie mehr Verteilungsgerechtigkeit erreichen wollen. Kein Wort über Bildungsinvestitionen, eine anständige Grundsicherung, eine gute Ausstattung von Kommunen, nichts darüber, wie Sie die Altersarmut konkret bekämpfen und öffentliche Güter solidarisch finanzieren wollen. Da würde ich mir vorstellen, dass Sie ganz konkret in Ihren Antrag schreiben, wofür Sie das Geld verwenden wollen.
Kollege Schmidt, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP-Fraktion?
Die will ich erlauben, ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Ich muss sagen: Ich gebe den Kollegen der Linken recht, dass Sie hier Farbe bekennen müssen.
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Sie reden viel umher; aber die zentrale Frage, die Sie eigentlich in Ihrer Rede beantworten müssten, lautet doch: Wird es mit einer Regierungsbeteiligung der Grünen eine Vermögensabgabe oder eine Vermögensteuer geben? Das müssen Sie heute beantworten. Bitte tun Sie das, Herr Kollege Schmidt.
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Das mache ich sehr gerne. Sie können auch gerne einfach in unserem Programmentwurf lesen; das lohnt sich im Übrigen, übers komplette Programm hinweg. Da steht klar drin: Wir sind für eine Vermögensteuer, konkret ausdifferenziert, und dazu bekennen wir uns selbstverständlich.
({0})
Aber zur konkreten Fragestellung „Vermögensabgabe jetzt?“: Damit muss man, finde ich, ein bisschen differenzierter umgehen.
({1})
Ich finde es gut, dass wir heute über die ungerechte Vermögensverteilung sprechen. Wir müssen endlich raus aus diesen ideologischen Schützengräben, in denen wir uns – das haben meine Vorredner deutlich gemacht – befinden. Wir müssen die Fakten anerkennen und eine politische Lösung finden. Die Krise lässt die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergehen. Was das Mittel der Wahl ist, ob eine einmalige Vermögensabgabe oder eine andere Form der Vermögensteuer, darüber müssen wir sicherlich sprechen, aber nach der Krise.
Für uns ist klar: Wer viel hat, der muss auch mehr geben als derjenige, der wenig hat. Wir werden nicht zulassen, dass die Ungleichheit in unserer Gesellschaft noch weiter zunimmt.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. h. c. Hans Michelbach das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Woran merkt ein langjähriger Abgeordneter, dass der Wahltag naht? Sie wissen es nicht? Ich kann es Ihnen sagen.
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Das ist ganz einfach: Von der linken Seite des Hauses kommen dann Anträge zur Einführung einer Vermögensteuer oder, wie heute, zur Einführung einer Vermögensabgabe. Das Ganze wird dann jedes Mal wieder mit Verteilungsgerechtigkeit bemäntelt. Es macht sich ja im Wahlkampf auch ganz gut, ein paar Superreiche an den Pranger zu stellen. Das ist bei Ihnen Programm; das ist das allgemein bekannte Neidprogramm. Nur, meine Damen und Herren, mit Gerechtigkeit hat das alles nichts zu tun.
({1})
Ich sage Ihnen die Wahrheit: Unter dem Schleier der Gerechtigkeit verbergen Sie allzu schlecht Ihre Gier nach mehr Geld anderer,
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Ihre Gier nach dem Geld der Bürger zur Finanzierung Ihrer ideologischen Wunschträume. Sie bekommen nie Geld genug.
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Steuererhöhungen, das ist Ihr Thema, meine Damen und Herren.
({4})
– Betroffene bellen, meine Damen und Herren.
Ich kann nur sagen: Sie führen die Menschen in diesem Land hinters Licht; denn Sie verschweigen, dass die 10 Prozent der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen schon jetzt 50 Prozent zum Einkommensteueraufkommen beitragen.
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Sie verschweigen, dass die oberen 50 Prozent der Steuerpflichtigen sogar 94 Prozent der Einkommensteuer tragen. Die vereinigte Linke verschweigt, dass sie damit Betriebe und Arbeitsplätze besteuern will. Sie führen die Menschen in diesem Land hinters Licht; denn Sie verschweigen, dass dieses Vermögen, auch das der Betriebe, letzten Endes schon einmal versteuert wurde. Das ist der wesentliche Punkt.
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Sie verschweigen auch, dass der Halbteilungsgrundsatz gilt und Ihre Anträge deswegen generell verfassungswidrig sind. Ich war bei der Aussetzung der Vermögensteuer 1996 dabei. Da hat das Verfassungsgericht deutlich gesagt, was verfassungskonform und verfassungswidrig ist, meine Damen und Herren. Und all das wissen Sie genau. Aber es reicht Ihnen einfach nicht.
Sie ahnen natürlich die Folgen Ihres Tuns, nämlich die Abwanderung von Investoren, Unternehmen und Privatpersonen ins Ausland. Warum sonst sollen Vermögenswerte aus der Vergangenheit als Berechnungsgrundlage genommen werden? Mit einer Abwanderung von Investoren und Unternehmern ins Ausland ist doch aber niemandem gedient; das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Ihre Vermögensabgabe ist auch ein bürokratisches Monster. Es bedarf eines riesigen bürokratischen Aufwands, um diese Abgabe überhaupt erheben zu können, angefangen bei den Immobilienwerten.
Was ist mit den Wertgegenständen, die Sie natürlich auch besteuern wollen: Gemälde, Antiquitäten, Schmuck, Fahrzeuge, Oldtimer? Sie können sich letzten Endes in irgendeiner Form vorstellen, sie für die Verwirklichung Ihrer ideologischen Wunschträume zu Geld zu machen. Für jeden Gegenstand, für jede Immobilie müsste ein Wertgutachten erstellt werden. Dazu sagen Sie nichts. Sie stellen diese Steuererhöhung einfach ins Schaufenster, meine Damen und Herren.
Was glauben Sie, wozu die Vermögensabgabe auf Immobilienvermögen führt, meine Damen und Herren? Ich sage es Ihnen: zu höheren Mieten.
Herr Kollege Michelbach?
Frau Präsidentin, ich höre immer auf Sie.
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Troost?
Des Kollegen Troost? Der Axel Troost, der ist neu. Aber der hat so viel Nachholbedarf; dem genehmige ich das.
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– Der ist wieder da, ja.
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Danke schön, lieber Hans. – Es wird hier öfter gesagt, wir stellten regelmäßig Anträge zur Einführung einer Vermögensteuer. Jetzt habe ich so ein bisschen das Gefühl, dass du deine Gegenrede den alten Anträgen entnommen hast. Hier geht es ja nicht nur um sozialistische Freuden, sondern es geht auch darum, mit dieser Vermögensabgabe zu versuchen, die außerordentlich hohen Belastungen in einer Notsituation – das war die Bedingung für die Aussetzung der Schuldenbremse –, die die normale Finanzierung überschreiten, zu finanzieren.
Wir werden am Ende des Jahres 2023 bei rund 350 bis 400 Milliarden Euro an zusätzlichen Schulden landen, und die müssen dann abgebaut werden, und zwar mit einem Tilgungsplan über 20 Jahre. Unsere Vermögensabgabe dient nicht dazu, sozialistische Elemente zu finanzieren, sondern dazu, einen Ausgleich in genau in dieser Größenordnung zu schaffen, damit man nicht Investitionen oder Sozialausgaben kürzen oder die Mehrwertsteuer erhöhen muss. Die Vermögensabgabe ist nur für diesen einen Zweck bestimmt, sie darf auch nur zu diesem einen Zweck erhoben werden. Wir sagen allerdings: Die coronabedingten Schulden der Länder sollten auch noch mit aufgenommen werden. Das ist das Zentrum unserer Überlegung hier.
({0})
Lieber Kollege Troost, fast hätte ich gesagt, ich habe Sie nicht vermisst. Sie sagen – gewissermaßen wie in einer Art Voodoo-Ökonomie –, die Tilgung muss durch Steuererhöhungen stattfinden. Ihr ökonomischer Intellekt ist doch aber so weit – da kenne ich Sie –, dass Sie verstehen, dass mit einer Steuererhöhung immer kontraproduktiv gearbeitet wird. Tilgung kann nur mit Wachstum und Beschäftigung gelingen. Das ist der Kern der Sache.
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Das sicherzustellen, ist unser aller Aufgabe, und nicht: das einreißen, was wir brauchen, nämlich Wachstum und Beschäftigung.
Meine Damen und Herren, zur Vermögensabgabe auf Immobilienvermögen. Ich frage Sie: Wen trifft das denn? Es trifft genau die Menschen, die Sie mit Ihrer Mietergesetzgebung letzten Endes unterstützen wollen. Ich sage Ihnen: Das führt zu höheren Mieten; denn die zusätzliche Steuerbelastung wird natürlich auf die Mieter abgewälzt werden. Und das trifft dann vor allem Menschen in den Regionen, in denen die Mieten jetzt schon am höchsten sind. Sie treffen mit Ihrer Erhöhung der Steuern letzten Endes die Mieter. Das ist die Situation, meine Damen und Herren! Das ist doch ökonomischer Irrsinn!
({1})
Aber der Hauptleidtragende der Vermögensabgabe, meine Damen und Herren, wird wieder einmal der Mittelstand sein, werden die Familienunternehmen sein, der Motor von Wachstum, Ausbildung und Beschäftigung in unserem Land. Denn die Vermögensabgabe ist nichts anderes als eine Substanzbesteuerung.
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Die Vermögen der Mittelständler liegen in den Betrieben. Dort muss ausreichend Liquidität für Investitionen vorhanden sein;
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es muss Liquidität zur Sicherung von Arbeitsplätzen, für Forschung und für Entwicklung vorhanden sein.
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Darum geht es. Jeder Euro, den Sie mit Ihrer Vermögensabgabe abkassieren wollen, fehlt für Investitionen, zur Arbeitsplatzsicherung und für die Schaffung neuer innovativer Jobs, meine Damen und Herren.
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Sie wollen 300 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen; so viel wollen Sie abkassieren. Die Linke will auch noch eine Vermögensteuer von 5 Prozent einführen: 1 Prozent Vermögensteuer bedeutet in 20 Jahren schon einen Verlust von 20 Prozent des Unternehmenswertes.
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Im Klartext: Mit der Vermögensteuer ist das Unternehmen nach 20 Jahren zerstört, samt Arbeitsplätzen.
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– Ja, rechnen Sie sich das aus. Das ist die Wahrheit, wenn Sie das umsetzen, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Genauso ist es!
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Bei der SPD und den Grünen gibt es die Vermögensteuer bislang noch etwas billiger; vielleicht nehmen Sie das in Anspruch, um sich nicht gleich auf Grün-Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün festzulegen. Sie hat aber den gleichen Effekt, nämlich die Besteuerung von Arbeitsplätzen. Diese Steuerpolitik führt geradewegs in die Pleitewelle, zu massiven Arbeitsplatzverlusten und zu massiven Einnahmeverlusten für Staat und Sozialversicherungen; denn alles, was Sie wollen, ist letzten Endes eine kontraproduktive Vorgehensweise.
Meine Damen und Herren, was wir zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemiekrise brauchen, sind nicht zusätzliche Belastungen. Wir brauchen eine Politik, die Anreize für mehr Wachstum und Beschäftigung schafft. Die Vermögensabgabe ist nicht nur völlig untauglich, sie ist in einem hohen Maße schädlich für unseren Wirtschaftsstandort Deutschland.
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Hören Sie auf, ideologisches Stroh zu dreschen. Jeder Bauer, jeder Landwirt kann Ihnen sagen: Beim Strohdreschen kommt nichts Nahrhaftes heraus. – Und so ist das auch mit Ihrer Vermögensteuer, weil Sie die Wachstumskräfte, die Früchte, nicht ernten, sondern Sie dreschen leeres Stroh. Wir brauchen eine Politik unter der Überschrift: Leistung muss sich lohnen!
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Wir brauchen keinen Kommunismus, keinen Freiheitseingriff, keinen Neidpranger, keine Enteignungen, sondern wir brauchen eine Politik, die auf dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft basiert.
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Es geht um die freiheitliche soziale Marktwirtschaft. Die werden wir gegen diese linken rot-rot-grünen Kräfte verteidigen. Das müssen wir deutlich machen.
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Wir wollen diese Eingriffe, diese Bevormundungen, diese Steuererhöhungen nicht. Wir wollen Freiheit, wir wollen eine freiheitliche soziale Marktwirtschaft, weil sie am besten den Menschen dient. Arbeit für alle, Wohlstand für alle – das ist das Prinzip, das hier gelten muss, meine Damen und Herren,
({13})
und nicht das dieser vereinigten Linken, die uns ins Abseits führt, die uns auf die falsche Fährte führt. Wir brauchen diese Möglichkeit, eine Marktwirtschaft zum Erfolg zu führen.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie damit rechnen, dass nach der Pandemiekrise alles an die Wand fährt. Ich kann Ihnen sagen: Das beste Prinzip, um aus dieser Krise herauszukommen, um neue wirtschaftliche Leistungskraft zu entfalten, Arbeitsplätze zu sichern, Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, ist zweifellos die soziale Marktwirtschaft; denn die freiheitlichen Kräfte haben immer bewiesen, dass sie am besten die Sache voranbringen können.
({14})
In diesem Sinne darf ich Sie herzlich bitten, davon Abstand zu nehmen, solche Anträge überhaupt zu stellen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einen Tusch für Herrn De Masi, für diesen typisch sozialistischen Antrag, liebe Genossinnen und Genossen!
({0})
Herr De Masi, was ist denn das für ein schlaffer Haufen? Früher, wenn man Sie mit „Genossinnen und Genossen“ angesprochen hätte, haben Sie wenigstens noch Haltung angenommen.
({1})
Wollen Sie sich mit diesem Antrag, Herr De Masi, bei Ihren Freunden von der Sozialistischen Linken noch mal empfehlen, quasi zum Abgang aus dem Bundestag?
Was wollen Sie mit diesem Antrag? Sie wollen Reiche besteuern.
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Sie wollen eine Sonderabgabe auf Vermögen.
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Diese Forderung ist doch ein absolut alter Hut,
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und Sie holen ihn regelmäßig wieder aus der Schublade heraus. Dieses Mal wird das Ganze begründet mit der Coronakrise.
Wo waren Ihre Forderungen nach einer Reichenbesteuerung, als mit deutschem Geld in Griechenland und Italien die Staatshaushalte gerettet werden mussten? Bezieht sich Ihre sozialistische Solidarität nur auf das Ausland und gilt nicht für Deutsche? Woher rührt der Wohlstand in Deutschland? Ich sage es Ihnen: von hart arbeitenden Menschen, von Unternehmern, die investieren, die Risiken eingehen und die dann auch die Früchte ihrer Arbeit einfahren, versteuert wohlgemerkt. Sie haben darauf nämlich bereits Steuern gezahlt und den Staat mitverdienen lassen. Diese Kapitalpolster sind übrigens nötig, um Arbeitsplätze zu sichern, um Unternehmen durch Krisen und durch wirtschaftliche Flauten zu führen, so wie jetzt auch in der Coronapandemie.
Deutschland und sein Finanzplatz waren international immer ein sicherer Hafen. Diesen Nimbus wollen Sie jetzt aufs Spiel setzen? Sie wollen bereits versteuertes Vermögen enteignen. Sie gefährden nicht nur den Standort Deutschland, Sie gefährden auch die Existenz der Bürger in diesem Land. Sollte so ein Gesetz kommen, würde dies Panik bei den internationalen Investoren auslösen; es würde zu gigantischen Vermögensabflüssen aus Deutschland kommen. Als Banker sage ich Ihnen: Geld ist scheuer als ein Reh und schneller als ein Windhund.
Dieser Antrag ist übrigens auch handwerklich schlecht gemacht.
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Sie wollen nach einer Freigrenze 25 Prozent auf den Marktwert des Weltvermögens erheben. Wie wollen Sie den ermitteln? Was ist mit der Berücksichtigung von Haftungsrisiken? Wie sollen illiquide Werte liquide gemacht werden? Fragen über Fragen, auf die Sie keine Antworten haben.
Die links-grünen Enteignungsfantasien machen mir Angst. Haben Enteignung und mehr Staatswirtschaft jemals Mangel beheben können? Sie aus der DDR müssten das doch kennen. Nein, hat es nicht!
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Wohnraumenteignung hat beispielsweise nicht zu mehr Wohnraum, sondern zu Substanzverfall geführt.
Ich möchte schließen
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mit den Worten von Franz Josef Strauß:
Wenn diese Bundesrepublik Deutschland einen fundamentalen Richtungswandel in Richtung rot-grün vollziehen würde, dann wäre unsere Arbeit der letzten 40 Jahre umsonst gewesen. Das Leben der künftigen Generationen würde auf dem Spiele stehen. Wir stehen doch vor der Entscheidung: Bleiben wir auf dem Boden trockener bürgerlicher Vernunft und ihrer Tugenden oder steigen wir in das buntgeschmückte Narrenschiff Utopia ein, in dem dann ein Grüner und zwei Rote die Rolle der Faschingskommandanten übernehmen würden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlen sind eigentlich Feste der Demokratie, und Wahlkämpfe sind nichts Schlimmes. Wenn etwas als Wahlkampfauseinandersetzung bezeichnet wird, ist es eben der Kampf darum, den Menschen zu sagen, was man will. Das finde ich völlig in Ordnung. Wenn man den Dreschflegel schon rausholt, muss man hinterher auch ein paar Körner rausholen, Hans Michelbach. Das waren bei Ihnen, ehrlich gesagt, nicht ganz so viele, auch wenn es laut genug gewesen ist.
({0})
Vor ein paar Wochen habe ich hier eine Rede gehalten zu einem Gesetzentwurf der FDP-Fraktion. Die FDP war ganz besonders besorgt, wie es denn eigentlich mit dem Vermögen der Vermögenden während der Coronakrise weitergeht. Sie wollte deswegen sofort die Vermögensteuer komplett ad acta legen – eine Steuer, die seit 25 Jahren gar nicht mehr erhoben wird. Das hatte natürlich nichts mit Wahlkampf zu tun, das war fachlich einfach mal so dahergesagt.
({1})
Die Linken nehmen sich jetzt die Milliardäre vor. Ich finde das durchaus eine legitime Sache. Warren Buffett beispielsweise macht das ja auch. Der ist Milliardär und sagt: Ihr müsst uns endlich mal rannehmen. – Und Jerry Lewis hat gesagt: Milliardäre sind im Grunde genommen auch nur Menschen, die mal als ganz gewöhnliche Millionäre angefangen haben.
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Also muss man sie auch ganz normal behandeln.
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Sie merken: Die ideologische Bandbreite des Themas wächst; denn unter Berufung auf Konrad Adenauer – das weiß ich seit heute; nach Christian von Stetten ist das ein rheinischer Sozialist gewesen –
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will Die Linke nun eine Vermögensabgabe von 300 Milliarden Euro im Laufe von 20 Jahren nach dem Vorbild des Lastenausgleichs nach dem Zweiten Weltkrieg realisieren. Das ist ein bisschen „Zurück in die Zukunft“, aber der Film war auch nicht ohne Erfolg, muss ich ganz ehrlich sagen.
Ich begrüße jedenfalls sehr die Berufung auf Thomas Piketty, der auf die ungleiche Vermögensverteilung auch in Deutschland hingewiesen hat.
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Die ist in Wirklichkeit inakzeptabel, Herr von Stetten.
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Sie ist inakzeptabel. Sie ist in jeder Form ungerecht. Und wenn man darüber redet und glaubt, das Gegenprogramm zu mehr Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft, die auseinanderklafft, wäre Bürokratieabbau, dann ist man gewiss an seine intellektuelle Grenze gekommen, das muss ich echt sagen.
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Die Linken machen jetzt in ihrem Antrag einen Vorschlag, wie denn sozusagen die moderne Form der Expropriation der Expropriateure laufen kann, wohl wissend allerdings, dass dieser Antrag keine Mehrheit im Deutschen Bundestag findet. Das ist die Gemeinsamkeit mit dem FDP-Antrag: Dem werden wir auch nicht zustimmen. Dieser Antrag dient der eigenen Profilierung im Wahlkampf, und ich finde das nicht schlimm. Das ist überhaupt gar kein Problem.
Allerdings will ich eines sagen: Man muss dabei gerade bleiben. Wenn Sie in Ihrem Szenario sagen, es würde ohne Vermögensabgabe Ausgabenkürzungen geben, dann entgegne ich Ihnen: Nein. Wir haben eine Krise, und wir werden darauf in Zukunft nicht mit Ausgabenkürzungen reagieren, sondern mit Investitionen. Wir haben die sozialen Leistungen ausgeweitet. Wir haben nicht mit bürokratischer Kontrolle gegenüber Hartz-IV-Empfängern reagiert, sondern wir haben die Leistungen ausgeweitet. Das ist unsere Antwort.
({8})
Wir haben als Reaktion im letzten Jahr ein beispielloses Konjunkturprogramm mit einem Gesamtvolumen von 130 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Das geht noch für den gesamten Finanzplanungszeitraum bis 2025: eine Rekordsumme von 200 Milliarden Euro für Investitionen, damit die Konjunktur anspringt, damit wir Arbeitsplätze haben, damit wir Steuern einnehmen. Das ist der Weg aus der Krise, und den halten wir für richtig.
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Es ist auch nicht so, als ob wir gar nichts machen würden in dem ganzen Kontext. Ich nenne nur die Themen Reichensteuer und Soli: Die 10 Milliarden Euro jedes Jahr würde es ohne die SPD, ohne Olaf Scholz, gar nicht geben. Das ist eine dicke Finanzierung, an der wir übrigens festhalten wollen. Das steht auch in unserem Programm, Hans Michelbach. Ich weiß nicht, was in eurem Programm steht; das kennt man ja nicht. Das ist das Problem.
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Bei dem Thema ist aber noch Luft nach oben; das will ich gar nicht bestreiten. Deswegen haben wir als Zukunftsprogramm dargestellt: Entlastung für kleine und mittlere Einkommen; Erhöhungen bei den ganz großen Einkommen, auch im Hinblick auf Erbschaftsteuer und Vermögensteuer mit entsprechenden Freibeträgen. Das kann ich jetzt nicht mehr im Einzelnen darstellen, weil meine Zeit vorbei ist. Aber diesen Weg wollen wir nach der Bundestagswahl umsetzen.
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Das muss ich euch hier sagen: Wir wollen den umsetzen, nicht nur ankündigen, und deshalb müsst ihr euch gut überlegen, wen ihr unterstützt!
Danke schön.
({12})
Das Wort hat der Kollege Till Mansmann für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Vermögensabgabe und Vermögensteuer ist ein trauriger Dauerbrenner oder, wie der „Spiegel“ gerade in seiner aktuellen Ausgabe schreibt, ein „unsinniges“, ein „untotes“ Modell. Zu den verfassungsrechtlichen und ökonomischen Bedenken hat mein Kollege Markus Herbrand schon einiges gesagt.
Was Sie aber regelmäßig unterschätzen, ist der erhebliche Erhebungsaufwand und die damit verbundene Eingriffstiefe in die Grundrechte der Bürger; denn Steuerrecht ist Eingriffsrecht. Wenn Sie alle Vermögensarten ordentlich erfassen möchten, kommen Sie nicht darum herum, in alle Lebensbereiche der Menschen tief einzudringen: Immobilien, Unternehmensanteile, auch Wertgegenstände wie das Kunstwerk im Schlafzimmer – all das müsste erfasst werden.
Mit einem Erhebungsaufwand im niedrigen einstelligen Prozentbereich, wie das für ein ordentliches, effizientes Steuersystem die Maßgabe wäre, kommen Sie da nicht hin. Experten gehen eher von einem zweistelligen Erhebungsaufwand aus, bis hin zu einem Drittel der Summen, die Sie einnehmen wollen. Rechnen wir mal konservativ mit 10 Prozent, dann wären 30 Milliarden Euro von den 300 Milliarden Euro schon weg. Das ist etwas, was Sie den Bürgern erklären müssen; das können Sie ihnen meiner Ansicht nach aber nicht erklären. Einen solch ineffizienten Verlust darf sich ein Steuersystem nicht leisten.
({0})
Aber es geht Ihnen auch gar nicht unbedingt darum, jetzt diese Krise miteinander zu bewältigen. Sie wollen die Krisenfolgen in einem großen Gegeneinander ausschlachten: „die Reichen“ gegen „die Armen“ oder, wie an anderer Stelle gerade, „die Wessis“ gegen „die Ossis“. Hier sind es nun „die Krisengewinner“ gegen „die Krisenverlierer“. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen von allen Fraktionen: Mit so einer Grundhaltung des Gegeneinanders, des Klassenkampfes werden wir nicht besser durch die Krise kommen, sondern schlechter.
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Ihr Ansatz ist falsch; denn er macht den zweiten vor dem ersten Schritt. Hier haben viele Kollegen von dem Kuchen gesprochen, um den Sie jetzt herumstehen und den Sie verteilen wollen. Dabei ist dieser Kuchen erst noch zu backen.
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Das ist die viel wichtigere Frage. Unser Wohlstand der Zukunft hängt vor allem von unserer Leistungsfähigkeit ab. Deutschland kann sich glücklich schätzen, mit einer Vielzahl vitaler Familienunternehmen und mit einem starken Mittelstand eine gute Grundlage für die Bewältigung der Krise zu haben.
Genau an dieser Stelle setzen Sie schädlich an. Wir müssen die Belastungen in Deutschland senken, nicht steigern, und zwar durch eine negative Gewinnsteuer oder eine Erweiterung der steuerlichen Verlustverrechnung. Das alles sind Möglichkeiten, mit denen wir in die Zukunft gehen können. Wir brauchen Flexibilität und Investitionsspielräume bei den Betrieben, statt sie mit solchen zusätzlichen bürokratischen Lasten dauerhaft zu gefährden.
({3})
Lassen Sie uns die Ideen der vielen unternehmerisch in unserem Land tätigen Menschen entfesseln, indem wir den bürokratischen Dschungel der Bundesrepublik zurechtstutzen, statt neue bürokratische und substanzgefährdende Belastungen draufzupacken.
({4})
Nur so wird uns ein glaubhafter Neustart nach der Krise gelingen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Marco Bülow.
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Erste Vorbemerkung: Die Reden der Union und der AfD liegen bei der Sozialpolitik gefährlich nahe beieinander; sie sind fast deckungsgleich. Zweite Bemerkung: Bei einigen Reden muss man sich fragen: Wo sind eigentlich die Spaßparteien? – Eine sitzt hier vorne.
Die Bemerkung fand ich wirklich sehr abstrus, dass keine Vermögensabgabe erhoben werden darf, weil dann nämlich diejenigen, die jetzt schon unglaublich viel Profit mit Wohnungen und Mieten gemacht haben, gezwungen wären, die Mieten zu erhöhen, und man deswegen die Mieter treffen würde. Also, das würde wirklich in jede Satiresendung passen. Da haben Sie sich schon verdient gemacht.
({0})
Es hätte noch die Bemerkung der Union gefehlt, dass der IWF ein kommunistischer Untergrundverein ist; denn auch dieser fordert eine Vermögensabgabe. Komischerweise ist das nicht gefallen.
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Schauen wir uns doch die Fakten an; dazu hat nämlich keiner aus diesem Lager was gesagt. Es sind ein paar benannt worden: 10 Prozent besitzen zwei Drittel des Gesamtvermögens in Deutschland. 50 Prozent – das ist kein Bodensatz, das ist die Hälfte der Gesellschaft, die Mitte, die Sie immer so gerne ansprechen – besitzen quasi nichts. Keine einzige Maßgabe, kein einziger Satz, keine einzige Forderung aus Ihren Reihen, das zu ändern! Das ist keine soziale Marktwirtschaft; das ist mittlerweile asoziale Marktwirtschaft, wenn wir das so stehen lassen.
({2})
Dann noch von Gier zu sprechen, wenn man so eine Vermögensabgabe einführt, bricht wirklich alle Rekorde. Das sagt eine Fraktion, die jetzt einige ausschließen musste – ja, ich weiß, sie sind freiwillig gegangen –, die wegen ihrer Gier noch ihr Geschäft mit der Pandemie machen müssen. Das war Gier! Gier ist es nicht, eine Vermögensabgabe einzuführen.
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Bleiben wir weiter bei den Fakten. Es gibt 58 000 neue Millionäre seit Beginn der Pandemie. Wir haben mittlerweile 2,1 Millionen Millionäre. Das ist schön. Das zeigt aber auch, wie reich wir in diesem Land sind, wenn mittlerweile jeder 40. Millionär ist. Wenn diejenigen, die in der letzten Zeit, auch während der Pandemie, so viel Profit gemacht haben, ein wenig – und zwar wirklich nur ein wenig – davon abgeben, ist das kein kommunistisches oder sozialistisches Teufelswerk, das ist Vernunft, und das ist sozialer Ausgleich.
({4})
Zum Schluss bin ich wieder bei meinem beliebten Thema Lobbyismus; denn nichts anderes ist das hier. Klar, Sie haben die Lobbyisten in der Immobilienwirtschaft und in den ganzen anderen Bereichen sitzen, die genau das nicht wollen. Das ist Profitlobbyismus, das ist Reichenlobbyismus, der hier betrieben wird. Wenn Sie keine Maßnahmen dazu einführen, dann wissen wir doch, wer die Zeche zahlt. Die Zeche zahlt am Ende die breite Mehrheit dieser Gesellschaft, die gerade in diesen Bereichen hart gearbeitet hat und die wenig hat. Die werden die Zeche zahlen; denn die eigentlichen Auswirkungen der Pandemie kommen noch.
Ich verlange, dass wir einen Ausschuss einrichten, der sich genau mit den Spätfolgen und Langfristfolgen der Pandemie auseinandersetzt, und zwar auch mit den sozialen Folgen. Dann wären wir einen Schritt weiter. Dann wären Sie konstruktiv.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht nur das Aufholpaket für Kinder und Jugendliche, das gestern im Kabinett beschlossen worden ist, sondern auch der Kinderbonus, die Ausbildungsprämie, das Kurzarbeitergeld, die Wirtschaftshilfen, die Konjunkturhilfen, die Beschaffung von Tests und Impfstoffen: Im Kampf, um die Folgen der Pandemie abzufedern und abzumildern, haben wir hier als Bundestag Milliarden mobilisiert. Das war richtig, weil uns am Ende nichts teurer zu stehen kommt, als gegen eine Krise anzusparen.
({0})
Darum stellt die Linkspartei mit ihrem vorgelegten Antrag auch die richtige Frage
({1})
– Die Linke –, nämlich wer die Zeche für diese Krise zahlen soll. Sollen diejenigen, die durch Homeschooling und Homeoffice doppelt belastet sind, zahlen? Sollen es diejenigen sein, die durch das Kurzarbeitergeld zwar gut abgefedert sind, aber trotzdem finanzielle Einbußen hatten? Oder sollen es die bezahlen, die wie die Kulturschaffenden und Gastronomen immer noch um ihre Existenz fürchten müssen? Oder wollen wir die Krisengewinnerinnen und Krisengewinner, die, die sich private Kinderbetreuung ohne Probleme leisten können, die, deren Vermögen so hoch ist, dass es ganz viele gar nicht mehr richtig fassen können, dazu heranziehen, für diese Krisenkosten aufzukommen? Für uns als Sozialdemokratie ist das eindeutig und klar: Die solidarische Finanzierung muss im Heute so gelten wie im Gestern, wie im Morgen: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.
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Ich sage auch ganz ehrlich bei der Debatte, die wie hier geführt haben: Mich ärgern die Ignoranz an dieser Stelle darüber, dass die Ungleichheit in Deutschland so eklatant ist, dass es ein Gerechtigkeitsproblem gibt, und die Ignoranz, die darin liegt, mit irgendwelchen bürokratisch vorgeschobenen Argumenten zu kommen. Denn Antworten müssen wir doch auf die Fragen finden: „Ist das gerecht?“ und: „Wen wollen wir für die Finanzierung dieser Kosten heranziehen?“
Meine Damen und Herren, wir als Sozialdemokratie wollen eine klare Finanzpolitik, die für innovative Jobs, für Zukunftsinvestitionen und für klimaneutrales Wachstum steht. Wir machen dazu ganz klare Vorschläge. Drei Vorschläge möchte ich vorstellen:
Der erste betrifft die Einkommensteuer. Bei der Einkommensteuer möchten wir die kleineren und mittleren Einkommen besserstellen, wir möchten sie entlasten. Damit ist, Herr Michelbach, Ihr Vorwurf, wir würden nur um mehr Steuern kämpfen, es würde nur um die Steuern gehen, falsch. Wir wollen die mittleren und die kleinen Einkommen entlasten.
Kollegin Esdar, –
Ja?
– gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Nein, nicht aus der AfD-Fraktion. Danke schön.
({0})
Wir wollen bei der Einkommensteuer die kleineren und mittleren Einkommen besserstellen und wollen die oberen 5 Prozent aber dann stärker heranziehen.
Zweitens wollen wir die Erbschaftsteuer reformieren, weil sie derzeit wirklich ungerecht ausgestaltet ist und die richtig hoch vermögenden Unternehmserbinnen und ‑erben bevorzugt.
Wir wollen – drittens – eine Vermögensteuer einrichten, einen einheitlichen Steuersatz von 1 Prozent für die sehr, sehr hohen Vermögen. Da müssen diejenigen, die ein Einfamilienhaus haben oder ein Haus erben, sich keine Sorgen machen. Aber es geht eben um die ganz reichen Vermögenden, um die Multimillionäre.
({1})
Wir sind aber, auch wenn ich glaube, dass man vorsichtig optimistisch sein kann – ein Twitter-Influencer hat neulich getwittert: „Der Sommer wird gut werden“ –, dass wir diese Pandemie jetzt langsam in den Griff kriegen, noch nicht am Ende dieses schweren Weges angekommen.
({2})
– Ah. – Darum ist an dieser Stelle auch noch nicht abzusehen, wie hoch das finanzielle Aufkommen am Ende in der Gesamtheit sein muss. Daher sind wir der Meinung, dass es zu früh ist, ein Preisschild dranzuhängen. Es ist zu früh, jetzt diesen Antrag zu stellen. Darum werden wir diesen Antrag von der Linksfraktion heute ablehnen.
Aber Sie können sich sicher sein, dass wir uns einig sind in dem Ziel, dass die starken Schultern mehr tragen müssen als die schwachen und auch mehr tragen müssen, als das jetzt der Fall ist. Darum kann ich, so wie meine Vorrednerin Frau Kiziltepe eben auch schon gesagt hat, dazu einladen, dafür zu kämpfen, dass wir im nächsten Bundestag eine progressive Mehrheit haben, mit der das auch möglich ist. Denn mit der Union ist leider in Sachen Steuergerechtigkeit nichts zu machen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Kraft zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank. – Ich bin etwas verwundert – nicht nur bei Ihrer Rede, sondern auch bei denen einiger Kollegen –, dass Sie sich jetzt hier mal wieder als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit aufspielen. Wenn wir uns Ihre Energiepolitik anschauen, dann sehen wir, dass Sie die Stromverbraucher zur Kasse bitten. Damit die Rendite derjenigen stimmt, die sich ein Investment leisten können, sei es eine Solaranlage auf dem eigenen Dach, sei es eine Beteiligung an einem millionenteuren Windrad, werden die Stromverbraucher, auch wenn sie im fünften Stock in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit Nordblick leben, zur Kasse gebeten.
Schauen wir uns Ihre Verkehrspolitik an. Sie fördern Luxusspielzeuge wie Elektrowagen im sechsstelligen Bereich, damit jemand, der sich einen Zweit- und Drittwagen leisten kann, eine Tausende von Euro teure Staatssubvention bekommt für sein Elektrospielzeug, während Sie den kleinen Leuten, die auf ihre Kleinstwagen angewiesen sind, damit sie zur Arbeit kommen, ihre Wagen wegnehmen. Jetzt stellen Sie sich hin und spielen sich tatsächlich als Bewahrer der sozialen Gerechtigkeit auf. Sie waren nicht die Einzige heute in dieser Diskussion, das möchte ich klarstellen; aber irgendwann reicht es hier ja auch mal mit Ihrer Bigotterie.
({0})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ein falscher Gedanke wird ja nicht dadurch richtig, dass man ihn laut herausschreit. Wenn Sie die Debatten verfolgt hätten, wüssten Sie, dass das, was Sie gerade gesagt haben, nicht stimmt. Beispielsweise haben wir den Mieterstrom eingeführt. Damit sind die Unterstellungen, die Sie gerade zum Thema Photovoltaik gemacht haben, einfach falsch.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 21. April 2021 hat dieses Haus abschließend über die sogenannte Bundesnotbremse entschieden. Das ist ein Gesetz, das eine ganze Reihe tiefer Grundrechtseingriffe enthalten hat. Und einigen hier im Haus gingen diese Grundrechtseingriffe noch nicht weit genug. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, hat ausweislich des Stenografischen Berichts hier zu Protokoll gegeben, dass, wenn er alleine hätte entscheiden können, die Eingriffe noch – ich zitiere – „härter und schärfer“ – Zitatende – geworden wären.
({0})
Wegen eines solchen Politikverständnisses, das in der ohnehin schweren Zeit der Krise nur eines kennt, nämlich immer härter und immer schärfer in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger einzugreifen,
({1})
ist es ein großes Glück, dass unsere Verfassung die Grundrechte kennt; denn die Grundrechte richten an die Politik eine Botschaft. Und diese Botschaft lautet: Nicht die Bürgerinnen und Bürger schulden dem Staat eine Begründung für ihre Freiheit, sondern es ist der Staat, der den Bürgerinnen und Bürgern eine Begründung für jeden einzelnen Grundrechtseingriff schuldet. – Das kann man dieser Tage gar nicht oft genug sagen, meine Damen und Herren.
({2})
Corona ist eine schwere Gefahr. Wir erinnern uns alle an die schrecklichen Bilder aus Bergamo. Wir sehen die schrecklichen Bilder aus Indien jeden Tag. Daher ist es klar, dass es auch vernünftige Regeln gibt, dass es auch eine ganze Reihe von Grundrechtseinschränkungen gibt, die natürlich vernünftig begründbar sind. Aber dass man Geimpften und Genesenen nicht erlaubt, einzukaufen, ihre Wohnung zu verlassen, ihre Angehörigen zu sehen, Sport zu treiben, auch mit anderen Geimpften und Genesenen, gehört nicht dazu.
({3})
Denn wir wissen mittlerweile, dass für diese Personengruppen das gilt, was die Mediziner „sterile Immunität“ nennen. Nach menschlichem Ermessen ist es eben höchst unwahrscheinlich, dass sich diese Personen selber anstecken können oder andere Menschen anstecken können. Ihre Freiheitseinschränkung ist deshalb kein Beitrag zur Pandemiebekämpfung. Wenn Grundrechtseingriffe aber keinen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten, dann ist die Pandemiebekämpfung auch keine vernünftige Begründung für diese Grundrechtseingriffe. Das gilt bei Geimpften und Genesenen. Auch das kann man dieser Tage nicht oft genug sagen, meine Damen und Herren.
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All das ist nicht neu. All das wussten wir schon, als die Bundesnotbremse beschlossen worden ist. Wir haben es Ihnen hier vorgetragen, Sie haben es ignoriert. Wir haben zu dem Gesetz Änderungsanträge vorgelegt, Sie haben diese Änderungsanträge niedergestimmt.
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Und plötzlich meint man, die schlimmsten Fehler hinsichtlich dieser Personengruppe ganz schnell korrigieren zu müssen. Man wundert sich: Plötzlich wird auf das RKI abgestellt. Plötzlich erinnert man sich an die Begründungspflicht bei Grundrechtseingriffen. In Wahrheit war das alles schon vorher bekannt.
Es gibt nur eins, was sich geändert hat: Inzwischen gibt es eine Unzahl von Verfassungsbeschwerden, auch die der 80 Abgeordneten der FDP-Fraktion. Es ist gut, dass es in diesem Haus nicht nur Politiker gibt, die meinen, immer härter und immer schärfer in die Freiheit eingreifen zu müssen, sondern die ihre Aufgabe darin sehen, als Hüter und Anwälte der Grundrechte zu agieren, meine Damen und Herren.
({6})
Daran hat sich übrigens auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gestern zu gewissen Eilanträgen nichts geändert. Über unsere Verfassungsbeschwerden und unsere Eilanträge ist nicht entschieden worden. Und über die Rechte der Geimpften sagt diese Entscheidung gar nichts aus, außer einem Hinweis: Macht euch in die Spur, GroKo, sonst wird euch großes Ungemach drohen! – Ich kann die Lektüre der Entscheidung nur empfehlen.
Was das Gericht ausdrücklich nicht gemacht hat, ist eine rechtliche Würdigung, weder was den Umgang mit Genesenen und Geimpften angeht, noch was die Ausgangssperren angeht. Ich will Ihnen aus den Erwägungen des Ersten Senats zitieren. Schon der zweite Satz lautet:
Bei der Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung haben die Gründe,
– Achtung! -
die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben ...
Das Verfassungsgericht hat eben nicht gesagt, dass die Maßnahmen in Ordnung sind, sondern es hat tatsächlich eine reine Folgenabwägung vorgenommen. Auch das muss man dem ein oder anderen sagen, der meint, das Verfassungsgericht habe sich auf die Seite der Schneller-und-härter-Fraktion, der Privilegienfraktion gestellt, derjenigen, die bis heute nicht verstehen wollen, warum man in Grundrechte nicht eingreifen darf, wenn es dafür keine vernünftige Begründung gibt, meine Damen und Herren.
({7})
Karin Maag hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Buschmann, selbstverständlich teilen wir das Ziel, die Freiheit für Geimpfte und natürlich auch für die Genesenen so schnell wie möglich wiederherzustellen. Genau deshalb hat die Regierung in Abstimmung mit uns und mit den Ländern die Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung vorgelegt. Schnell und rechtlich einwandfrei! Genau deshalb hat die Koalition der Verordnung heute Morgen auch zugestimmt.
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Beratung und Abstimmung über das letzte Wochenende, Kabinett am Dienstag, Bundestag heute, Bundesrat morgen, Verkündung am Samstag, Inkrafttreten am Sonntag – ich meine, mehr Geschwindigkeit, mehr Unmittelbarkeit gehen nicht.
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Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hatten heute jedenfalls auch die Chance, Ihren Einsatz für die Freiheit nicht nur anzukündigen – das passiert ja relativ oft –, sondern mit Ihrer Zustimmung zur Rechtsverordnung auch zu beweisen, dass es Ihnen damit ernst ist. Kraftvoll enthalten haben Sie sich. Schade, Sie haben diese Chance vertan.
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Wie gesagt, ich teile das Ziel. Was ich nicht teile, ist Ihr Arbeitsansatz: Für das Unangenehme, nämlich die harten Maßnahmen, um die Infektionszahlen herunterzubekommen, ist die Koalition zuständig. So viel Verantwortung wollten Sie aufseiten der FDP dann doch wieder nicht übernehmen. Sie klinken sich quasi nach der Pflicht wieder ein, wenn es um die Kür geht. Ihr Leib- und Magenthema: die Freiheitsrechte.
Ja, wir in der Koalition haben mit der sogenannten Notbremse dafür gesorgt, dass bei einer Inzidenz von über 100 bundeseinheitliche Maßnahmen das Infektionsgeschehen eindämmen. Herr Buschmann, ich als Gesundheitspolitikerin teile den Ansatz meines Fraktionsvorsitzenden und hätte es sogar mit strengeren Maßnahmen probiert. Aber richtig ist auch: Die Notbremse, erst seit 23. April in Kraft, sorgt bereits heute dafür, dass die Inzidenz in Deutschland endlich wieder sinkt.
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Ich erinnere daran: Am 23. April lag die Inzidenz bundesweit bei 187. Heute liegt sie bei 129. Die rückläufigen Zahlen gehen genau auf diese Notbremse zurück.
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Das sage nicht nur ich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich zitiere den Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Professor Marx:
Wir sind zuversichtlich, dass die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen sinken wird – und das hängt dann unmittelbar mit den Maßnahmen der Bundes-Notbremse, wie aber auch dem deutlichen Fortschritt beim Impfen zusammen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns geht es natürlich vor allem um die Menschen. Ich freue mich jetzt vor allem, dass mit der Ausnahmenverordnung zum Beispiel für geimpfte und genesene Senioren in den Einrichtungen wieder Geselligkeit möglich ist: Besuche, Karten spielen, schlicht Lebensqualität.
Sie haben vorhin das Stichwort „Spaltung der Gesellschaft“ in den Mund genommen. Ja, wir haben auch der jüngeren Generation in dieser Pandemie sehr viel zugemutet. Erst musste sie zum Schutz der alten Menschen auf ihr normales Leben verzichten, dann musste sie sich beim Impfen hinten einreihen. Aber auch da – das sage ich jetzt sehr bewusst – ist Licht am Ende des Tunnels.
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Im Mai ist im Wesentlichen die Prioritätsgruppe 3 dran. Das sind die Verkäuferinnen, das sind die Busfahrer, all jene, die nicht im Homeoffice sein können und die auch schon seit vier Monaten auf die Impfung warten. Anfang Juni ist es dann so weit: Wenn die Priorisierung aufgehoben wird, dann sind auch die jungen Gesunden dran. Die herzliche Bitte an die Jüngeren: Es geht um vier Wochen. Ich bitte herzlich noch mal um so viel Geduld.
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Mehr Freiheit, liebe FDP, gibt es auch für die Kinder und Jugendlichen. Bisher ist der Impfstoff von BioNTech ja erst ab 16 Jahren zugelassen. In Kanada ist der Impfstoff bereits für Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren zugelassen. Gleiches ist für Europa beantragt. Im Juni werden wir aller Voraussicht nach den Impfstoff für die Kinder und Jugendlichen ab 12 Jahre zur Verfügung haben.
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Alles in allem ist die Lage ermutigend. Die Impfkampagne läuft, 30 Prozent Erstgeimpfte, 9 Prozent vollständig Geimpfte.
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Gestern 200 000 Zweitimpfungen, insgesamt 1,1 Millionen Impfungen pro Tag – das hat bisher noch kein einziges europäisches Land geschafft.
Die Betriebsärzte sind ab 7. Juni dabei. Das Impfen wird für alle noch mal bequemer. Im Laufe des Juni wird die Priorisierung aufgehoben. Alle weiteren Parameter zeigen in die richtige Richtung. Über 10 000 Teststationen sichern den Rechtsanspruch auf mindestens einen kostenlosen Schnelltest pro Woche. Testgestütztes Öffnen ist eine reale Perspektive.
Wir bleiben bei unserer Maxime: Vorsicht und Umsicht wollen wir beibehalten, aber Zuversicht kann ich heute allen Zuhörerinnen und Zuhörern vermitteln.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Für die Fraktion der AfD hat als Nächstes das Wort der Abgeordnete Detlev Spangenberg.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! FDP – Freie Demokratische Partei. Sie fordern Freiheit für Geimpfte. Das heißt, Sie fordern Einschränkungen für alle anderen. Was ist daran frei, und was ist daran demokratisch, frage ich Sie. Ich kann es nicht erkennen, meine Damen und Herren.
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Sie wollen Opposition sein und rennen den Regierungsparteien hinterher.
Wir sagen: Grundrechte sind nicht verhandelbar und dürfen nur im äußersten Falle, nicht aber unter unsicheren Gesichtspunkten Menschen entzogen oder, je nach Gutdünken, zuerkannt werden. Oder deutlicher: Sind Grundrechte nun Privilegien oder der Normalfall?
Eine Opposition hat, wie wir es verstehen, eine bedeutende demokratische parlamentarische Aufgabe, auch sich einer selbstherrlich handelnden Regierung entgegenzustellen. Genau dies machen Sie nicht. Im Gegenteil: Sie betreiben mit Ihrem Antrag eine Anbiederungspolitik, die sich gewaschen hat. Will auch die FDP die Grundrechtseinschränkungen, die Gefährdung des Rechtsstaates mittragen, mitbefördern, mitdurchsetzen? Wir sehen es so.
Wenn betont wird, es handele sich um Grundrechtseinschränkungen, ist dies nicht ausreichend definiert; denn es sind hier wesentliche Grundrechte, nämlich die Freiheitsrechte, was weder verhältnismäßig noch zu akzeptieren ist.
Professor Lepsius, Professor für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, bezeichnete schon vor einem Jahr die Reaktion von Regierung und Gesetzgeber als einen – so sagt er –
... ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards ... Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtsfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht. Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden.
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Meine Damen und Herren, können wir ab kommender Woche unsere Grundrechte durch Impfung oder durch eine Genesungsbescheinigung zurückerlangen oder Grundrechte für einen Tag, für eine befristete Zeit „ertesten“? Es sieht so aus. Ist das die Perspektive in einem demokratischen Rechtsstaat? Die AfD sagt: Nein, ist es nicht.
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Meine Damen und Herren, nun haben wir doch genau das, was es angeblich nie geben sollte: einen Impfzwang, um seine Freiheitsrechte wenigstens teilweise wiedererlangen zu können.
Viele Maßnahmen, mit denen Sie die Einschränkung der Bürgerrechte begründen, sind wissenschaftlich umstritten, nicht haltbar:
Die Testarten. Schnelltests, Selbsttests sind mit so großen Fehlerquoten behaftet, dass man sie nicht verwerten kann. Wenn überhaupt, dann ergeben sie nur einen Sinn bei Menschen, die Symptome zeigen. Das ist aus der Anhörung vom 16. April 2021, Ausschuss für Gesundheit; Frau Maag, Sie waren dabei.
Inzidenzwerte. Willkürlich festgelegte Zahlen, wie der Inzidenzwert 165 in Absatz 3 des § 28b für den Präsenzunterricht, ausgehandelt in einer Kungelei bei der Ministerpräsidentenkonferenz.
Die Ermittlung von Inzidenzwerten mittels Testungen und daraus ermittelten Neuinfektionszahlen sagt allerdings nichts über die Anzahl von Erkrankten, die Schwere von Krankheitsverläufen, Behandlung von Covid-Patienten oder Auslastung von Intensivstationen aus. Professor Krüger, der Vorgänger von Dr. Drosten in der Charité, mahnte andere Parameter an: die Berücksichtigung von Brennpunkten, Krankheitslast, also die Häufigkeit, Schwere der Erkrankungen usw.
Die Maskenpflicht. Auch hier unterschiedliche gravierende Meinungen. Viele Mediziner kritisieren, dass es gesundheitlich bedenklich ist, wenn man viele Stunden am Tag die eigene Atemluft wieder einatmen muss. Kopfschmerzen, Übelkeit sind die Folgen. Und wo soll der Nutzen sein, meine Damen und Herren, wenn die Maskenpflicht sogar in geschlossenen Räumen verlangt wird, in denen sich nur eine einzige Person aufhält? Nehmen Sie zum Beispiel die Deutsche Bundesbahn, wenn Sie alleine im Abteil sitzen.
Impfstoffe: ständiges Hin und Her bei der Anwendung, Empfehlungen und Einschränkungen. Zum Beispiel AstraZeneca: Hersteller und Zulassungsbehörden sagen: keine Einschränkungen. Die STIKO sagt: nur für Menschen über 60 Jahre und als zweite Dosis am besten ein anderer Impfstoff. Impfschäden werden auch nur an Personen unter 60 Jahren dokumentiert. In einigen Ländern wird der Stoff nicht zugelassen.
Und jetzt meine Frage, meine Damen und Herren: Haben die Menschen nicht das Recht, darüber zu sprechen, darüber besorgt zu sein? Sehen Sie deshalb gleich eine Gefahr für die Demokratie, wenn sie eine Impfung nicht wollen oder ihr nicht vertrauen? Das ist die Frage.
Ausgangssperren: Aerosolmediziner verneinen die Ansteckung im Außenbereich fast gänzlich. Was soll dann eine Ausgangssperre? Was soll ein Verbot für ein Gartenlokal? Ist die Regierung so arrogant, meine Damen und Herren, dass sie jeden, der nach 22 Uhr auf die Straße geht, als potenziellen Kneipengänger deklariert, der in der nächsten Spelunke feuchtwarme Küsse austauscht? Ist das so gedacht? Meine Damen und Herren, es sieht schlimm aus hier in Deutschland.
Wie wird nun überprüft, wer nun gerade seine Grundrechte genießen darf und sich daher zu Zeiten der Ausgangssperre draußen aufhalten darf, wer sich gerade in seinem Zuhause mit mehreren anderen Menschen trifft? Sollen dann private Zusammenkünfte in Wohnungen gestürmt werden, um dann mittels Impfpass festzustellen, dass sich die Menschen hier treffen dürfen? Werden dann von der Polizei oder den Ordnungsämtern abends oder nachts Personenkontrollen durchgeführt?
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.
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Ein letzter Satz, Herr Präsident; selbstverständlich. – Die AfD steht für zielgenaue Schutzmaßnahmen für besonders Gefährdete, für die freie Entscheidung für oder gegen eine Impfung, für Selbstverantwortung, Freiheit und Rechtsstaat. – Meine Damen und Herren, Sie könnten noch vieles von uns lernen.
Herr Kollege, es ist vorbei.
Vielen Dank.
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Der Abgeordnete Dirk Wiese hat das Wort für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als zum Jahresbeginn 2021 Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eine Debatte angestoßen hatte, dass man dann, wenn es wissenschaftlich erwiesen ist, bei denjenigen, die vollständig geimpft und genesen sind, also nicht mehr infektiös sind und das Virus nicht mehr weiterverbreiten, hier andere rechtliche Maßstäbe anlegen muss, weil ansonsten durch die Einschränkungen die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt wäre, hat sie von vielen Kolleginnen und Kollegen hier aus diesem Haus, gerade auch aus der Opposition, viel, viel Kritik einstecken müssen. Aber es war richtig, frühzeitig auf diese Debatte aufmerksam zu machen.
Wir haben jetzt als Bundesregierung mit den Koalitionsfraktionen in der vergangenen Woche schnell gehandelt, nachdem das RKI wissenschaftlich untersucht und festgestellt hatte, dass diejenigen, die die doppelte Impfung erhalten haben und immunisiert sind, in der Form nicht mehr infektiös sind. Darum war es richtig, heute schnell und zügig zu handeln und diese Bundesverordnung – übrigens mit Zustimmung des Deutsches Bundestag; die Zustimmung des Bundesrates steht noch aus – auf den Weg zu bringen. Das war ein richtiger Schritt; das gebietet auch rechtsstaatliches Handeln.
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Ich glaube, meine Damen und Herren, wenn wir uns die erfreulichen Zahlen der letzten Tage anschauen, dass wir fast 30,6 Prozent Erstimpfungen haben, dass es gestern fast 1,1 Millionen Impfungen gab, dann zeigt das doch wirklich, dass es vorangeht, dass es viel, viel Licht für die kommenden Wochen gibt, dass es eine klare Perspektive gibt, dass auch die von Olaf Scholz mitinitiierte Taskforce Impfstoffproduktion ein wichtiger Schritt gewesen ist, um hier wieder mehr möglich zu machen. Von daher bietet das alles viele Möglichkeiten, mit denen es ausdrücklich in die richtige Richtung geht.
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Ich bin allerdings, Herr Buschmann, ein bisschen erstaunt. Ich freue mich, dass Sie diese Aktuelle Stunde angemeldet haben. Sie haben sich wahrscheinlich gewünscht, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt gewesen wäre. Jedenfalls habe ich manchmal bei Ihrer Rede gemerkt, dass sie eigentlich schon nicht mehr tagesaktuell gewesen ist, jedenfalls nach einigem, was wir heute beschlossen haben.
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Aber ich glaube – auch das muss man sagen –: Wir sind nach wie vor in einer nicht einfachen Situation. Wenn man sich die Folgenabwägung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts von gestern Abend anschaut, wird deutlich: Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Eilentscheidung – das Hauptsacheverfahren kommt noch – gesagt, dass es noch immer hohe Inzidenzzahlen bei uns gibt, dass es immer noch gefährliche Virusvarianten gibt, dass wir immer noch schwere Krankheitsverläufe und eine hohe Zahl an Todesfällen haben, dass wir also die Wirksamkeit bereits erfolgter Impfungen infrage stellen würden, wenn wir zu schnell und zu viel auf einmal lockern würden.
Ich muss auch bei Ihnen ganz klar sagen: Durch das, was Sie hier mit dieser Aktuellen Stunde suggerieren – dass Sie jetzt schon mehr Öffnungen, dass Sie jetzt schon mehr Freiräume haben wollen –, gefährden Sie die Fortschritte, die gerade in den letzten zwei, drei, vier Wochen erzielt worden sind.
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Weil Sie es angesprochen haben, kann ich nur warnen: Schauen Sie nach Chile! Schauen Sie nach Indien! Das waren Länder, die große Fortschritte erzielt haben, die viel vorangebracht haben, die dann allerdings zu früh unachtsam gewesen sind, die zu früh gelockert haben, die zu früh auch Veranstaltungen wieder zugelassen haben. Ich kann nur sagen: Wir wollen diesen Erfolg, diese positiven Signale, die wir sehen, nicht durch zu frühe Komplettlockerungen, wie Sie sich das vorstellen, gefährden.
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Das würde eher dazu führen, dass wir dann möglicherweise wieder Verschärfungen machen müssen, was keiner von uns haben möchte. Darum halte ich das, was Sie vorgetragen haben, in Teilen auch für verantwortungslos.
Ich muss auch deutlich sagen: Was die Bürgerinnen und Bürger neben einer klaren Perspektive wollen – übrigens: die Hotels bei mir im Sauerland fordern eine Perspektive ab dem 1. Juli. –, ist Verlässlichkeit und Planbarkeit. Da muss man auch mal den Blick auf einige Landesregierungen richten. Mit Blick auf die Landesregierung nach Nordrhein-Westfalen, zu Armin Laschet und Ihrem Wirtschaftsminister Pinkwart, will ich Ihnen mal ein paar Beispiele dafür geben, wie man Bürgerinnen und Bürger verunsichert.
Das erste Beispiel: Schulen. Die Schulpolitik, die Ihre Schulministerin Gebauer in Nordrhein-Westfalen macht, ist ehrlicherweise grotesk und sorgt für Verunsicherung bei Schülerinnen und Schülern, bei Lehrern. Das, was Sie da gemacht haben, hat zu viel Verunsicherung beigetragen und zu Recht auch Wut bei Eltern, bei Lehrern und bei Schülerinnen und Schülern ausgelöst. Da kann man nur sagen: Setzen, Sechs! Versetzung gefährdet wegen der Leistung, die Sie abgeliefert haben.
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Ich gebe Ihnen noch zwei Beispiele. In der Bundesnotbremse haben wir festgelegt, dass es Ausnahmen für Buchläden geben soll. Nordrhein-Westfalen hat das nicht mitaufgenommen. Die Buchläden in Nordrhein-Westfalen wussten vier Tage lang nicht, was sie tun sollten, weil ihr Wirtschaftsminister keine Anpassung in der Corona-Schutzverordnung vorgenommen hat, nicht gehandelt und Buchläden, Unternehmer verunsichert hat. Das ist Politik bei Ihnen in Nordrhein-Westfalen.
Der letzte Punkt. Ich halte es für richtig, über Modellregionen nachzudenken. Ich glaube, das kann bei sinkendem Inzidenzwert eine Möglichkeit sein. Bei mir im Hochsauerland sind Kommunen Modellregion geworden. Sie warten noch heute darauf, dass es klare Kriterien des NRW-Wirtschaftsministers Pinkwart gibt. Auch da gilt hinsichtlich der Praxis: Sie verunsichern die Bürgerinnen und Bürger. Sie machen in Regierungsverantwortung das Gegenteil von dem, was Sie fordern. Was Sie hier erzählen, das ist unverantwortlich. Die Politik, die die FDP in den Ländern macht, ist keine Politik mit Perspektive.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundrechte sind weder Privilegien noch Sonderrechte, sondern sie stehen jeder Bürgerin und jedem Bürger in unserem Land zu.
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Deshalb können sie auch nicht zurückgegeben werden, wie Herr Habeck meint; denn sie gehören uns nicht. Sie stehen im Grundgesetz.
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Dazu gehören die Freizügigkeit, die vollständige Versammlungsfreiheit, das Recht auf Kunst und Kultur, auf Bildung und Ausbildung und vieles andere. Wenn es durch den Bundestag tatsächlich Einschränkungen von Grundrechten grundgesetzgemäß geben soll, dann muss es dafür schlüssige, zutreffende und verhältnismäßige Gründe im Interesse der Allgemeinheit geben, zum Beispiel im Gesundheitsinteresse.
Um es juristisch einmal ganz klar zu sagen: Wenn wir 1 000 Personen nehmen und von 999 geht eine Gefahr aus, die zur Einschränkung ihrer Grundrechte zwingt, aber von der Eintausendsten nicht, hat niemand das Recht, dieser Eintausendsten ihre Grundrechte zu entziehen, soweit sie bei Verbot für die anderen überhaupt noch gewährleistet werden können.
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Deshalb wird es höchste Zeit, dass die vollständig Geimpften, die Genesenen und die negativ Getesteten ihre Grundrechte soweit wie möglich wieder wahrnehmen können.
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Ich kenne natürlich die Hinweise aus der Wissenschaft, dass es Mutationen der Viren geben kann. Das ist möglich. Solange es aber keine reale Gefahr für Hunderttausende oder Millionen Menschen gibt, darf eine solche Überlegung hinsichtlich einer Möglichkeit niemals zur Einschränkung von Grundrechten führen. Damit verletzte man das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
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Ich weiß, dass auch vollständig Geimpfte, Genesene und negativ Getestete eine sehr, sehr seltene Ausnahme dergestalt darstellen können, dass die einen die Viren trotzdem übertragen können oder dass die anderen doch positiv waren. Wenn zum Beispiel von diesen 1 000 Gegebenen diese Ausnahme für einen zutreffen sollte, hat niemand das Recht, auch den übrigen 999 Bürgerinnen und Bürgern die Grundrechte weitgehend zu entziehen oder sie einzuschränken. Wiederum verletzte man das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
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Wenn man vollständig Geimpften, Genesenen und negativ Getesteten die Grundrechte weitgehend einräumte, entsteht eine soziale Frage: Soweit Tests zum Beispiel in Unternehmen von den Beschäftigten bezahlt werden müssen, ist dies abzuschaffen. Die Tests müssen regelmäßig für alle Nichtgeimpften und Nichtgenesenen vom Staat gebührenfrei zur Verfügung gestellt werden.
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Hier gibt es neben der sozialen Frage noch eine weitere Überlegung. Die Bundesregierung und die EU-Kommission tragen die volle Verantwortung dafür, dass die Kapazitäten hinsichtlich der Impfstoffe so gering waren, dass bisher nur 8 Prozent unserer Bevölkerung vollständig geimpft sind. Das ist ein einzigartiger Skandal.
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Wenn also die Regierung den Jüngeren noch keinen Impfstoff anbieten kann, muss sie ihnen gebührenfrei die Tests zur Verfügung stellen, damit sie ihre Grundrechte so umfassend wie möglich wahrnehmen können.
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Übrigens habe ich hier einen Unterschied im Denken zwischen Ost und West festgestellt. Im Westen denkt man nur an Bestellung und Bezahlung. Im Osten weiß man, dass man auch über Kapazitäten nachdenken muss.
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Insofern wundert es mich, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel darauf nicht gekommen ist. Aber – na schön.
Außerdem schützen Sie ständig die Freiräume und nicht die Innenräume. Die Ansteckungsgefahr ist innen aber viel größer als draußen. Ich erwarte von Ihnen endlich eine Pflicht für die Unternehmen zur Gewährung von Homeoffice, soweit es geht, eine Testpflicht in bestimmten Abständen und auch Investitionen des Staates für Luftfilter und Luftreiniger in Großraumbüros und Klassenzimmern.
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Erstaunlich ist auch das Chaos der Regierung. Am letzten Freitag haben Sie noch gegen Grundrechte für vollständig Geimpfte, Genesene und negativ Getestete geredet. Nun haben Sie eine Verordnung beschlossen, die doch die teilweise Wahrnehmung der Grundrechte ermöglicht. Ich vermute, Sie haben Angst vor dem Erfolg der Verfassungsbeschwerden gegen das Bevölkerungsschutzgesetz beim Bundesverfassungsgericht.
Wenn alle vollständig Geimpften, Genesenen und negativ Getesteten ihre Grundrechte wieder weitgehender wahrnehmen dürfen, wären nur noch positiv Getestete und jene, die sich nicht testen lassen wollen, obwohl sie noch nicht geimpft und genesen sind, von wesentlichen Einschränkungen der Grundrechte betroffen. Bei den positiv Getesteten hoffen wir auf baldige Genesung. Und für die Wahrnehmung der Grundrechte durch alle Bürgerinnen und Bürger muss eine Herdenimmunität erreicht werden, die spätestens bei einer Impfquote von 70 Prozent der Bevölkerung eintritt.
Heute Abend wird namentlich über unseren Antrag zur Aufhebung des Patentschutzes für diese Impfstoffe im Bundestag abgestimmt. Das dient der Finanzierung gerade für die armen Länder. Der US-Präsident hat offensichtlich unseren Antrag gelesen,
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fand ihn gut und hat deshalb zumindest die befristete Aussetzung des Patentschutzes gefordert. Ich bin gespannt, wie die anderen Fraktionen heute Abend darüber abstimmen werden. Stehen Sie an der Seite der Armen, auch der USA und der Linken oder nicht? Das wird spannend.
Werte Bundesregierung – letzter Satz –, legen Sie, was das Impfen betrifft, nun endlich den Turbo ein, beenden Sie das Chaos, und sorgen Sie dafür, dass so schnell wie möglich sämtliche Grundrechte in Deutschland für alle wiederhergestellt werden.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen traf ich in Bremen eine gute Bekannte. Sie hatte gerade ihre zweite Impfung erhalten. „Es fallen mir so viele Steine vom Herzen“, sagte sie. Sie war dankbar und erleichtert, dass sie selbst jetzt geschützt ist und dass das Risiko, andere anzustecken, minimiert ist und dass sie ihre ebenfalls zweifach geimpfte Nachbarin jetzt wieder besuchen kann. Heute Morgen haben wir hier beschlossen, dass Kontaktbeschränkungen für doppelt Geimpfte jetzt im Wesentlichen wegfallen, und das ist gut.
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Es geht doch darum, dass einerseits der Infektionsschutz großgeschrieben wird und andererseits selbstverständliche Grundrechte wieder selbstverständlich werden. Auch in Pflegeheimen beispielsweise, wo die Bewohner/-innen und Pflegekräfte geimpft sind, wird jetzt gemeinsames Essen, gemeinsames Leben wieder möglich. Und so schützt die Impfung nicht nur vor einer Infektion, sondern auch vor Einsamkeit.
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Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie grundlegend sind: Sie grundieren die Freiheit und Würde jeder Person in unserem Land. Wenn die Einschränkungen für den Infektionsschutz nicht mehr notwendig sind, dann müssen sie aufgehoben werden. Aber, Herr Kollege Buschmann, was Sie hier erzählt haben, hat mich doch wirklich sehr verwundert; denn es geht hier doch nicht um Härte beim Infektionsschutz; es geht doch um Konsequenz und den Schutz für unser aller Gesundheit.
Noch sind wir mitten in der dritten Welle. Die Intensivstationen sind noch voll. Auch Menschen mit einem leichten Covid-19-Verlauf haben in den ersten sechs Monaten nach einer Erkrankung ein höheres Risiko, zu sterben. Jede zehnte Person leidet an Long Covid. Es sind erst 8 Prozent der Bevölkerung – so wie meine Nachbarin – vollständig geimpft. Wenn wir jetzt zu schnell lockern, so wie Sie das fordern, hat das Virus die besten Bedingungen, eine neue resistente Mutation zu entwickeln. Davor dürfen wir doch nicht die Augen verschließen. Eine vierte Welle mit einem noch gefährlicheren Virus müssen wir doch auf jeden Fall verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich habe wirklich große Sorge, dass wir wegen der Freude über das Licht am Ende des Tunnels, die wir ja alle teilen, die Debatte zu früh auf Öffnung fokussieren. In anderen Ländern wurde aufgrund des Wahlkampfs in steigende Zahlen der Infektion hinein der Infektionsschutz gelockert, und das hatte schlechte Folgen. Niedrige Inzidenzwerte sind die Grundlage für verantwortungsvolle Öffnungen, damit die Sportplätze, Theater, die Außengastronomie so schnell wie möglich wieder sicher geöffnet werden können, damit für Kinder und Jugendliche Spaß und Spiel wieder mehr Raum bekommen.
Solange Kinder und Jugendliche noch nicht geimpft werden können und junge Menschen noch kein Impfangebot haben, tragen sie ein besonders hohes Risiko, wenn die Schutzmaßnahmen jetzt nachlassen. Wenn die Impfungen für Kinder und Jugendliche hoffentlich bald zugelassen werden, dann ist das ein Meilenstein.
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Dafür muss die Impfkampagne schon jetzt vorbereitet werden. Wir müssen die Kinder mehr in den Blick nehmen.
Es ist entscheidend, dass jetzt alle schnell ein Impfangebot erhalten und dass es leicht zugänglich wird durch die Betriebsärztinnen und ‑ärzte am Arbeitsplatz und durch mobile Impfteams gezielt dort, wo viele Menschen eng zusammenleben, und auch global.
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Darum sollten sich Deutschland und die EU jetzt den USA anschließen und die Patente für den Coronaimpfstoff aussetzen.
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Wer noch nicht geimpft werden konnte, muss durch einen negativen Schnelltest gleiche Zugänge zu Gastronomie oder Kultur, wenn sie Schritt für Schritt wieder verantwortungsvoll öffnen können, bekommen, genauso wie Geimpfte und Genesene. Gerade Eltern, junge Familien oder Studierende und Auszubildende dürfen wir nicht vergessen.
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Unser Ziel muss also sein, liebe Kolleginnen und Kollegen: So viel Freiheit für möglichst viele Menschen so schnell wie möglich. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen dürfen wir aber nicht gegeneinander ausspielen. Unser höchstes Gut ist die Akzeptanz der Bevölkerung. Ein vernünftiger Stufenplan würde Akzeptanz und Perspektive bringen. Also: Konsequenter Infektionsschutz weiterhin, solange er notwendig ist, und Begegnungen endlich wieder dort, wo sie durch Schnelltests, Genesung oder Impfung wieder sicherer möglich sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Es macht sich bereit der Abgeordnete Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, ich glaube, ich werde Ihre Erwartungen nicht vollkommen erfüllen.
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Denn ich werde einiges aus Ihrer Sicht Falsches sagen. Aber das Ganze ist in Folgendem begründet – ich glaube gar nicht, dass Sie das absichtlich gemacht haben –: Sie haben sich mit Ihrem Verhalten in den Diskussionsbeiträgen heute vor den laufenden Abstimmungen und auch in den Positionierungen Ihrer Partei aus meiner Sicht – und ich bin damit nicht alleine – in eine ungute Nähe zu Ihren Nachbarinnen und Nachbarn hier weiter rechts begeben.
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Das macht Ihre Situation im Moment so unkomfortabel.
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Meine Damen und Herren, wie war der Ablauf? Es war absehbar, dass wir in dieser Woche die Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 diskutieren und verabschieden werden. Trotzdem haben Sie Ihren Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde, die dasselbe Thema hat, nämlich die Freiheiten für Geimpfte und Genesene wiederherzustellen, nicht zurückgezogen, sodass wir genau darüber debattieren, was wir bereits veranlasst haben. Sie kamen also bedauerlicherweise zu spät; aber in dieser Diskussion kamen Sie ohnehin häufig etwas zu spät, und Sie haben auch wenig präzise gearbeitet. Wir haben das anders gemacht. Wir haben uns der Verantwortung gestellt und konstruktiv gehandelt.
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– Herr Kollege Theurer, Sie haben sich, ehrlich gesagt, verweigert; aber dazu kommen wir gleich.
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Bereits mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite haben wir die Bundesregierung in den Stand gesetzt, durch eine Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundestages bedarf, für Erleichterungen und Ausnahmen von Geboten und Verboten für Immunisierte oder negativ Getestete zu sorgen. Es war im Übrigen die FDP, die diesem nicht zugestimmt hat.
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Insofern haben Sie sich dieser Diskussion vollkommen entzogen, und es ist ja bedauerlicherweise auch nicht das erste Mal in den letzten vier Jahren, dass Sie sich der Verantwortung entzogen haben.
Meine Damen und Herren, in einem zügigen und zielorientierten parlamentarischen Verfahren hat die Koalition dieser Verordnung in dieser Woche zugestimmt, und mit der zu erwartenden Bestätigung des Bundesrates werden wir die Einschränkungen für Geimpfte und Genesene wahrscheinlich ab Sonntag effektiv abgeschafft haben; der Zeitplan ist von Vorrednerinnen und Vorrednern schon dargestellt worden.
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Wir haben diese Verordnung heute Mittag angenommen. Meine Damen und Herren, das war auch dringend angezeigt. Das sind eben tatsächlich gelebte Verhältnismäßigkeit und verantwortungsvolles Handeln. Denn Grundrechtsbeschränkungen und ‑einschränkungen können stets nur Ultima Ratio, also letztes Mittel, sein. Daher ist es zwingend, die Beschränkungen genauso entschlossen und im Übrigen genauso verantwortungsvoll zurückzunehmen, wie die Beschränkungen, die zum Schutz der Bevölkerung, der Personen vor Schäden an Gesundheit und Leben ergriffen worden sind. Die positiven Entwicklungen bei den Coronainfektionszahlen setzten uns jetzt in den Stand, dies jetzt machen zu können.
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Meine Damen und Herren – da teile ich die Auffassung des Kollegen Gysi nicht –, wir haben es jetzt tatsächlich mit einem Impfturbo tun. Es gab Versäumnisse in den ersten drei Monaten; aber die Beschleunigung war so stark, dass der Impfturbo wahrscheinlich an Ihnen vorbeigefahren ist.
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Das ist bedauerlich, aber so ist die Realität. Kein anderes Land in Europa legt im Moment ein derartiges Tempo vor. Meine Vorrednerin hat das richtigerweise mit persönlichen Erlebnissen untermauert. Das sind die Gespräche, die auch an mich herangetragen werden. Darum geht es. Das ist gut. Das bringt auch Entspannung in die Diskussion.
Gestern waren 25,5 Millionen Menschen das erste Mal geimpft. 7,2 Millionen Menschen sind vollständig geimpft. Die Zahlen am heutigen Nachmittag sind schon deutlich höher. Wir erwarten heute wieder mehr als 1 Million Impfungen. Wir werden bei den Zweitimpfungen wahrscheinlich bei knapp 7,5 Millionen liegen. Das alles ist besonders erfreulich, und das führt dazu, dass Beschränkungen, die absolut schwierig zu entscheiden waren, aber ergriffen werden mussten, für immer weniger Menschen gelten werden. Das ist ein großer Schritt zurück in die Normalität. Ich freue mich darüber – das ist das helle Licht am Ende des Tunnels – für die Geimpften und Genesenen.
Das ist auch eine Perspektive für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, für Kultur, für Kunst, für die Selbstständigen. Wir haben über die Probleme der Soloselbstständigen diskutiert, über die Probleme von Leuten, die frisch in dieses Land eingewandert sind, aber natürlich auch über die von jungen Familien, von Familien mit Kindern, von Kindern und Jugendlichen, von Erstklässlern, die das große Erlebnis Schule gar nicht haben mitbekommen können. Über diese Fälle müssen wir auch im Nachgang reden. Deswegen ist das Neustartpaket unbedingt notwendig.
Ich warne aber vor einem, nämlich vor einer zu großen Leichtsinnigkeit. Es ist verschiedentlich angesprochen worden – Kollege Wiese und meine Vorrednerin haben es gesagt –: Wir schauen nach Chile und sehen, dass dort nach einer besonders erfreulichen Impfentwicklung ein riesengroßes Desaster eingetreten ist. Das zahlt die gesamte Gesellschaft, und die sozial Schwächsten zahlen den höchsten Preis. Das wollen wir nicht. Deswegen handeln wir verantwortungsvoll.
Vielen Dank.
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Der Abgeordnete Martin Reichardt hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über sogenannte Freiheiten für Genesene und Geimpfte. Die FDP nennt es „Freiheiten“. Die Regierung formuliert: „Es handelt sich insofern nicht um die Einräumung von Sonderrechten oder Privilegien, sondern um die Aufhebung nicht mehr gerechtfertigter Grundrechtseingriffe.“ Man kann noch so gestelzt daherformulieren, im Klartext heißt das: Impfpflicht durch die Hintertür, Eintritt in die Zweiklassengesellschaft, Diskriminierung gesunder Menschen,
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und das werden wir von der AfD niemals mitmachen.
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Im Gegensatz zu allen anderen hier im Hause vertretenen Fraktionen stehen wir zu unserer Verfassung.
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Wir stehen zum Grundgesetz, zur Demokratie, zur Freiheit und zur Eigenverantwortung. Jeder Bürger in Deutschland hat auch in der Coronafrage das Recht und die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob er sich impfen oder testen lassen will oder ob er eine Maske trägt. Diese Entscheidung darf für den Menschen keine Nachteile, keine Repressalien und keine Ächtung innerhalb der Gesellschaft nach sich ziehen, meine Damen und Herren.
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Aber genau das wird – auch durch Ihre Zwischenrufe hier – vorangetrieben. Nichtgeimpfte gelten angeblich als unsolidarisch. Sie sind sogar, wie man hört, schädlich für die Gesellschaft. Das sind Äußerungen, die wir in Deutschland nie wieder hören wollen, meine Damen und Herren.
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Die AfD fordert schon seit Langem: Gebt den Menschen ihre Freiheit und ihre Grundrechte zurück; denn 99,8 Prozent der Menschen haben kein Corona.
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Der Anteil der Coronainfizierten in der Bevölkerung liegt bei 0,22 Prozent, und infiziert heißt nicht einmal krank. Für alle Faktenchecker und alle ausgelagerten Zensurstellen der Regierung: Diese Zahlen kommen vom Statistischen Bundesamt; es besteht also keine Notwendigkeit, diese Rede zu sperren.
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Grundrechte sind keine Privilegien, die der Staat willkürlich aufheben kann. Grundrechte sind kein Privileg. Die Grundrechte sind jedem Einzelnen eigen, und sie werden nicht vom Einzelnen erst durch Wohlverhalten, durch die Abgabe eines Tests oder durch eine Impfung erworben. Das sollten Sie alle hier mitnehmen, meine Damen und Herren.
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Grundrechte sind „unveräußerlich“, so steht es im Grundgesetz. Seit aber in Deutschland in der Coronafrage – anders als bei allen Krankheiten, die es sonst noch so gibt, wie Grippe, Krebs und Herzinfarkt – der totale Gesundheitsstaat ausgerufen worden ist, gerät unsere Verfassung zusehends unter Druck. Das ist schlimm.
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Die Regierung will Geimpften mehr Freiheiten, mehr Rechte einräumen. Sie treibt damit die Spaltung der Gesellschaft weiter voran. Die sogenannten Volksvertreter aller Parteien außerhalb meiner Fraktion sind in diesem Hause leider zum Abnickverein der Kanzlerin geworden, meine Damen und Herren,
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ein Abnickverein, der sich nebenbei – das gilt gerade hier für den mittleren Bereich – noch die Taschen vollstopft, ein Abnickverein, der nicht mehr das Volk vertritt, das unter den unverhältnismäßigen Maßnahmen leidet, sondern einseitig einer Panikdoktrin Drosten’scher und Lauterbach’scher Provenienz folgt, mit Ausnahme der Antigrundrechtspartei, der Grünen, die die Bundesnotbremse sogar schon ab einer Inzidenz von 35 oder 50 forderte und damit noch totalitärer ist als die Regierung. Das Leben der Menschen in Deutschland wird also mit den Grünen noch düsterer, wenn diese Verbotsideologen dereinst die Macht in Deutschland übernommen haben, meine Damen und Herren.
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Es ist aber auch heute schon sehr düster für Millionen gesunder Kinder, die ihr Recht auf Bildung mit einem Zwangstest und bald vielleicht auch mit einer Zwangsimpfung erkämpfen müssen. Das lehnen wir in aller Deutlichkeit und mit aller Entschiedenheit ab, meine Damen und Herren.
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Wir müssen uns die Frage stellen, ob es in Deutschland noch Gewaltenteilung gibt, wenn Richter, die unliebsame Urteile gefällt haben, mit Hausdurchsuchungen drangsaliert werden, wenn Künstler mit Berufsverbot bedroht werden, weil sie eine abweichende Meinung haben. Da hätte ein Aufschrei durch dieses Haus hier gehen müssen.
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Ich komme zum Schluss.
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Sie alle tragen die Verantwortung dafür, dass unsere Demokratie erhalten bleibt und Menschenrechte nicht davon abhängig sein werden, ob man eine bestimmte Gesinnung oder einen bestimmten Impfstatus hat.
Vielen Dank.
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Herr Reichardt, nur zur Klarstellung: Alle Mitglieder dieses Hauses sind von den Bürgerinnen und Bürger gewählte Volksvertreter – keine „sogenannten“, sondern gewählte – nur zur Klarstellung.
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Die Abgeordnete Heike Baehrens hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir werden uns alle Grundrechte und Freiheiten wieder zurückerobern.“ Das habe ich Bürgerinnen und Bürgern, die sich damals besorgt zu den Grundrechtseingriffen geäußert haben, gesagt und geschrieben. Ich konnte tatsächlich nicht ahnen, wie lange es dauert. Aber jetzt ist es soweit, und wir halten Wort: Jetzt, wo Wissenschaft uns bestätigt, dass von Geimpften und Genesenen nur ein geringes Risiko ausgeht, das Virus zu verbreiten, jetzt, wo mehr und mehr Leute immer schneller geimpft werden, können erste Beschränkungen zurückgenommen werden. Das haben wir dem Virus in großer gemeinsamer Anstrengung abgerungen.
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Wie wichtig und wertvoll das ist – das hat unsere Ministerin Christine Lambrecht heute Morgen schon thematisiert –, zeigt sich gerade in Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Nur wenige wurden so extrem in ihrer Lebensqualität eingeschränkt wie Menschen, die in Gemeinschaftseinrichtungen leben. Ihr Bewegungsspielraum wurde auf ein kleines Zimmer reduziert, in dem sie lange nicht einmal Besuch bekommen konnten. Freiheitsräume, die die meisten von uns in der Familie und draußen immer noch hatten, waren für sie äußerst reduziert. Deshalb ist es ein Grund zur Freude, dass wir diese Lebensqualität gerade für diejenigen in einer Wohnsituation, die auch ohne Pandemie von Einschränkungen geprägt ist, jetzt zurückgewinnen.
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Ich habe das Beispiel des Seniorenzentrums Mühlehof in Steinen bei Lörrach vor Augen. Bis auf eine Bewohnerin wurden alle Bewohnerinnen und Bewohner geimpft, und über 90 Prozent der Mitarbeitenden ebenso. Dennoch durften sie sich über Monate nicht gemeinsam zum Mittagessen treffen. Erst nach langem Mahlen der Mühlen von Verwaltung und Justiz wurde eingelenkt. Jetzt können sich Seniorinnen und Senioren endlich wieder zum Essen oder auch für andere Gemeinschaftsveranstaltungen treffen.
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Auch jenseits von Verordnungen und Gesetzen müssen Infektionsschutzmaßnahmen mit Augenmaß und, ich finde, auch mit beherztem Pragmatismus abgewogen werden, gerade dann, wenn es um die allerletzte Phase im Leben geht. Ich denke, wir sollten Einrichtungen, Diensten und Pflegepersonal zutrauen, hier individuelle und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
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Denn Freiheit und Verantwortung müssen immer in Balance gehalten werden. Viele hatten vielleicht weniger Angst vor eigener Erkrankung, aber trafen Freunde trotzdem nur digital. Junge Menschen sagten Geburtstage und Abschlussfeiern ab, nicht aus Angst um die eigene Gesundheit, sondern weil sie nicht zum Infektionsgeschehen beitragen wollten, weil sie vernünftiger waren als die Vertreter hier von der rechten Seite, weil sie eben andere schützen wollten, weil sie Menschen mit Vorerkrankungen und Ältere schützen helfen wollten. Ich verstehe gut, dass es für junge Menschen kaum noch auszuhalten ist, dass wichtige Meilensteine des Erwachsenwerdens aufgeschoben oder gar verpasst werden. Umso bemerkenswerter finde ich, dass gerade sie, über Generationen hinweg, eine enorme Solidarität gezeigt haben. Ich finde, das fordert unser aller Respekt.
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Ich habe auch großes Verständnis, dass nun gefragt wird: Wann sind wir endlich dran? Wann können wir wieder Sport treiben, normal zur Schule gehen, verreisen? Denn auch für Familien besteht weiterhin die enorme Belastung, Schule, Homeoffice, eingeschränkte Freizeit zu organisieren. Ja, wir brauchen einen Plan für Öffnungen, wie es Olaf Scholz einfordert, und da müssen Kinder und Familien im Mittelpunkt stehen.
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Wir haben uns alle mit einem Kraftakt gegen das Virus gestemmt. Dass jetzt die ersten Lockerungen nicht sofort für alle gelten,
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ist trotzdem notwendig, bleibt aber schwer für ganz viele. Deshalb muss weiter alles getan werden, um allen, die es wollen, schnell ein Impfangebot zu machen. Darum wird bald, auch mit dem Fortschritt der weiteren Impfstoffe, die Impfstrategie entsprechend angepasst, werden weitere Ärzte wie die Betriebsärzte mit einbezogen, und es werden vor allem auch Impfstoffe für Kinder und Jugendliche entwickelt. Das alles macht Hoffnung und lässt uns noch etwas geduldig sein; denn jede weitere Impfung ist ein Schritt hin zur Öffnung für alle.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Der Vorwurf der Kollegen Karin Maag und Carsten Müller, die Diskussion heute Nachmittag sei gegenstandslos und nicht notwendig wegen der Verordnung der Bundesregierung, geht völlig ins Leere. Denn erstens nimmt ja die Verordnung der Bundesregierung die Einschränkungen für Geimpfte und Genesene nur punktuell zurück. Zum Beispiel sind weite Teile – die Öffnung von Geschäften, Hotellerie, Gastronomie und Veranstaltungen – komplett ausgenommen. Zum Zweiten ist der entscheidende Punkt der, dass, wenn von immunisierten Personen keine Infektionsrisiken ausgehen, sich grundsätzlich keine Einschränkungen ihrer Freiheit mehr rechtfertigen lassen. Dies wurde hier eindrucksvoll auch von Gregor Gysi bestätigt.
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Ich kann an der Stelle feststellen, dass wir mehr gemeinsam haben als nur unsere Frisur, Herr Kollege Gysi,
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nämlich auch den Einsatz für unsere Grundrechte.
Meine Damen und Herren, auch die Argumentation von Karin Maag, die Bundesnotbremse habe zum Rückgang der Inzidenzen geführt, entspricht ja offensichtlich nicht den Tatsachen. Denn wenn Sie sich mal die Infektionszahlen anschauen – ich habe hier mal die Zahlen der Johns-Hopkins-Universität mitgebracht: die rote Kurve zeigt die Schweiz, die blaue Kurve zeigt die Bundesrepublik Deutschland –, dann stellen Sie fest: Die Zahlen in der Schweiz gehen wesentlich deutlicher zurück als die Zahlen in der Bundesrepublik. Das heißt, die Bundesnotbremse Deutschlands wirkt in der Schweiz offensichtlich besser als in der Bundesrepublik,
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und das, obwohl, meine Damen und Herren, die Schweiz bereits Anfang März Läden, Museen, Außensportanlagen und Zoos geöffnet hat. Die Schweiz hat Mitte April die Außengastronomie, Kinos, Theater und Fitnessstudios geöffnet.
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Also, meine Damen und Herren – ich sage das ohne Häme –, Ihre Argumentation, die Bundesnotbremse habe den Rückgang der Inzidenzen eingeleitet, kann nicht den Tatsachen entsprechen, sondern – im Gegenteil – es muss andere Gründe dafür geben. Wahrscheinlich ist es der Fortschritt beim Impfen, aber auch die frische Luft. Es gibt weniger Ansteckungen an der frischen Luft; das wird auch von den Aerosolforschern klar gesagt.
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Nicht „Stay at home“, sondern raus an die frische Luft, Bewegung im Freien: Das minimiert die Ansteckungsgefahr.
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Meine Damen und Herren, deshalb ist auch eine ganz klare Aussage: Wenn das RKI recht hat, dass die meisten Infektionen im privaten Bereich stattfinden, dann muss die Antwort doch sein: Wer private Saufgelage verhindern will, der muss die Außengastronomie mit Hygienekonzepten wieder öffnen, damit die Menschen sich auch wieder treffen können.
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Entscheidend ist aber, dass von Geimpften offensichtlich keine Ansteckungsgefahren in erheblichem Umfang ausgehen. Das zeigt auch die Oxford-Studie; darauf beruhen ja jetzt auch die Empfehlungen, Freiheitseinschränkungen für Geimpfte und Genesene zurückzunehmen. Da stellt sich dann aber schon die Frage, warum eigentlich die Bundesregierung die Warnungen, man müsse die Impfstoffproduktionskapazitäten erhöhen, nicht ernst genommen hat.
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Herr Kollege Gysi, es gab auch Kapazitäten im Westen. Jedenfalls habe ich die Bundesregierung mündlich bereits im Mai und schriftlich im Juni darauf hingewiesen, dass Impfstoffkapazitäten erhöht werden müssen. Das ist aber nicht mit entsprechendem Nachdruck verfolgt worden.
Herr Kollege Spahn, wenn Sie sich jetzt in etlichen Tweets und Social-Media-Auftritten über den Impffortschritt freuen – da bin ich bei Ihnen –, dann hätten Sie an der Stelle vielleicht im Namen der Bundesregierung auch mal eine Entschuldigung dafür aussprechen können, dass die Impfstoffbestellung in Deutschland und in der Europäischen Union nicht mit dem notwendigen Nachdruck, nicht rechtzeitig genug, nicht in den entsprechenden Mengen und auch nicht zu den gleichen Preisen erfolgt ist wie zum Beispiel in Israel oder in den Vereinigten Staaten von Amerika.
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Meine Damen und Herren, der dritte Punkt sind die Modellprojekte. Ich schaue mir mal das Land Schleswig-Holstein an. Da machen die FDP-Landesminister Bernd Buchholz und Heiner Garg die Arbeit, und der Ministerpräsident Günther rühmt sich heute in der „Bild“-Zeitung für die Erfolge der Modellprojekte. Wir sind für Modellprojekte. Frau Kollegin Maag, wir haben einen Änderungsantrag zu Ihrem Gesetz gestellt, um diese Modellprojekte auch in Zukunft zu ermöglichen. Den haben Sie, genauso wie der Kollege Carsten Müller, in namentlicher Abstimmung abgelehnt. Und das ist ja auch der Grund, warum wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen konnten. Es hätte der Verordnung für die Geimpften heute gar nicht bedurft, wenn Sie unserem Änderungsantrag zugestimmt hätten, der eben entsprechende Ausnahmen für Geimpfte und für Genesene vorgesehen hat.
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„Auf uns hören“ heißt, auf Nachbesserungen verzichten zu können.
Deshalb bleiben wir dabei: Das, was Sie mit der Verordnung gemacht haben, ist ein Schritt in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Wenn von Geimpften und Genesenen keine Infektionsrisiken mehr ausgehen, dürfen die Freiheitsrechte dieser Menschen nicht länger eingeschränkt werden. Wir werden nicht müde, dies an dieser Stelle einzufordern.
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Nächster Redner ist der Kollege Lothar Riebsamen, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Freien Demokraten haben zweifelsohne einen besonderen Bezug zum Thema Freiheit im Allgemeinen und zum Thema „individuelle Freiheitsrechte“ im Besonderen. Das zweifeln wir überhaupt nicht an.
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Aber, Herr Theurer, ich bin mir ganz sicher, dass die FDP umgekehrt den Parteien, die das F nicht schon im Parteinamen tragen, sondern im Programm haben, auch nicht abspricht, dass sie jetzt, nach einem Jahr Pandemie und nach einem Jahr Einschränkung von Freiheitsrechten – das ist so –, die gleiche Sehnsucht danach haben – wie die FDP auch –, möglichst schnell wieder zur Normalität zurückzukehren und möglichst viele Freiheitsrechte wieder einzuräumen, die bisher aus gutem Grund nicht wieder eingeräumt werden konnten.
In den vergangenen Tagen – das muss man allerdings auch sagen – ist die Skepsis bei manchen Menschen gestiegen. Das merken wir wahrscheinlich auch an unseren E-Mails. Bei mir war es jedenfalls so, dass mich in den vergangenen Tagen viele E-Mails erreicht haben, deren Verfasser die Auffassung vertreten, es komme jetzt alles zu früh, es gehe zu schnell, es sei unsolidarisch gegenüber denjenigen, die noch keine Impfung erhalten haben. Ich bin allerdings der Auffassung, dass es nicht nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ gehen kann. Ich denke, es ist richtig, sich im Gegenteil mit denen zu freuen, die schon eine Impfung erhalten haben, die ihre Freiheitsrechte wieder zurückbekommen. Wir haben heute Mittag, vor zwei Stunden, die entsprechenden Beschlüsse für die Geimpften gefasst, und darüber sollten wir uns freuen.
Ich bin sicher, dass die Notbremse, Herr Theurer, wie wir sie für Inzidenzwerte über 100 in Deutschland eingeführt haben, sehr wohl genau zu dem Punkt geführt haben – natürlich zusammen mit den Impfungen –, dass wir Freiheitsrechte wieder einräumen können. Ich freue mich für die Schweizer, wenn sie mit ihren Maßnahmen Vergleichbares erreicht haben. Aber ohne die Notbremse – das können Sie an der Zeitachse ganz genau festmachen – wären die Inzidenzzahlen nicht so gefallen, wie sie in den vergangenen Tagen gefallen sind,
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wäre der R-Wert nicht so zurückgegangen, wäre die Belegung auf den Intensivstationen nicht so zurückgegangen. Das lässt sich einfach belegen und sollte jetzt überhaupt nicht Thema der Diskussion sein.
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Es liegt auf der Hand; es ist geradezu evident.
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an eine Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom Februar 2021 mit der Überschrift „Besondere Regeln für Geimpfte?“. Da steht – wenn ich das zitieren darf –:
Je mehr aber mit dem Fortschreiten des Impfprogramms besonders gravierende Risiken reduziert werden und verbesserte Kenntnisse hinsichtlich der Nichtansteckungsfähigkeit vorliegen, desto eher sind individuelle Rücknahmen von Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen vorstellbar und gegebenenfalls geboten.
Diese Empfehlung des Deutschen Ethikrats ist plausibel, klug und richtig. Auch aus diesem Grund haben wir vor zwei Stunden die entsprechenden Beschlüsse gefasst und den Geimpften und vergleichbaren Personengruppen ihre Freiheitsrechte wieder zurückgegeben.
Ich bin aufgrund der sinkenden Inzidenzen einerseits und der massiv ansteigenden Zahl der Geimpften andererseits zuversichtlich, dass wir in den nächsten Wochen zügig in diese Richtung fortfahren können. Das wünsche ich uns allen, aber nicht ohne abschließend darauf hinzuweisen, dass die Schutzpflichten natürlich nach wie vor bleiben. Es muss weiterhin getestet werden. Es müssen weiterhin die Hygienevorgaben und die Abstände eingehalten werden.
Wir haben jetzt 7,1 Millionen Menschen vollständig geimpft, aber eben noch nicht alle. Auch das ist ein Grund dafür, dass wir weiterhin die vulnerablen Gruppen schützen müssen. Die Maßnahmen zur Eindämmung müssen insofern aus guten Gründen noch für einige Wochen in Kraft bleiben. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir blicken auf 14 Monate einer unvergleichlichen Herausforderung, die unser Land und die Welt gefordert hat wie keine der Herausforderungen in den letzten Jahrzehnten; das ist der eine Teil. Der andere Teil ist – wenn man sich an den positiven Dingen orientieren will –: Wir reden über viele Millionen Menschen, die jeden Tag Impfungen erhalten, und darüber, dass es sogar verschiedenste Impfstoffe gibt, was nun dazu führt, dass wir weite Teile der Bevölkerung immunisieren können. Darum geht es hier in dieser Debatte.
Nun zur FDP, die eine Aktuelle Stunde beantragt hat. Diese Aktuelle Stunde ist vielleicht etwas aus der Zeit gefallen; denn sie findet, wenige Stunden nachdem wir als Große Koalition gehandelt und entsprechende Rücknahmen bei den Grundrechtseingriffen beschlossen haben, statt.
Wir sollten uns an etwas erinnern: Es fing damit an, dass wir keine Behandlungsmethoden kannten. Wir mussten mit diesem neuartigen Virus umgehen lernen. Es gab keine Situation, in der wir aus Impfstoffen wählen und sagen konnten: Das ist die Impfung für die und die Gruppe, die wir schützen wollen. – Das ist etwas, was wir als Parlament getan haben.
Die FDP blendet einen Teil dieser Debatte aus. Die Grundrechtseingriffe sind doch nur deswegen vorgenommen worden, um auch Zeit zu gewinnen; denn wir hatten keine Behandlungsmethoden. Wir waren nicht in der Lage, bestimmte Gruppen zu schützen. Ja, wir haben eine Bundesnotbremse beschlossen, um einheitliche Regelungen zu haben. Akzeptanz und Transparenz sind wichtig. Es muss klar sein: Daran orientieren wir uns, wenn wir bestimmte Maßnahmen beschließen.
Aber Sie von der FDP nehmen sich nur einen Teil dieser Diskussion, und Sie sind zu spät, weil die entsprechenden Beschlüsse heute schon gefasst worden sind. Die Grundrechtseingriffe dürfen nur so lange stattfinden, wie sie auch gerechtfertigt sind. Gerade dann, wenn Menschen genesen oder vollständig geimpft sind, entfällt der wesentliche Grund für diese Grundrechtseingriffe, und dieser Verantwortung sind weite Teile dieses Hauses demokratisch nachgekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Einen zweiten Teil der Debatte, den die FDP immer wieder ausblendet, kann ich Ihnen nicht ersparen: Eng verbunden mit der Idee der Freiheit ist ja auch die des handlungsfähigen Staates, der überhaupt die Grundvoraussetzungen schafft. Wenige Monate vor der Debatte um die Pandemie gab es doch gerade aus Ihren Reihen noch Diskussionen, Krankenhauskapazitäten im ländlichen Raum zu reduzieren und das Gesundheitswesen dem Marktdiktat zu unterwerfen.
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Sie waren doch diejenigen, die Einsparungen vorgenommen haben, die den Tarifvertrag für die Pflege nicht wollten, die alles dem Markt überlassen wollten. Sie haben auch in Ihrer Regierungsverantwortung dafür gesorgt, dass dieser Staat an den Rand der Leistungsfähigkeit kam, dass keine Vorsorge getroffen wurde, keine Masken gekauft worden sind und keine Ressourcen entsprechend bereitgestellt worden sind.
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Also können Sie sich diesen Teil der Debatte auch nicht ersparen.
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– Sie waren von 2009 bis 2013 verantwortlich, und Sie waren stolz darauf, Teile des Personals einzusparen. Wenn wir heute an die Kommunen denken, die nicht in der Lage sind, den Öffentlichen Gesundheitsdienst ausreichend zu finanzieren, dann wird klar: Sie sind hauptverantwortlich dafür. Sie können sich nicht den einen Teil dieser Debatte herausnehmen und über Freiheit reden
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– wenn Sie schreien, geben Sie mir doch recht –, wenn Sie auf der anderen Seite nicht in der Lage sind, den Bürgerinnen und Bürgern darzulegen, dass ein starker, leistungsfähiger Staat auch eine Grundvoraussetzung für die Freiheit aller Menschen in diesem Land ist, meine Damen und Herren.
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Da ist das Problem: Sie nehmen sich immer nur einen Teil der Debatte, weil Sie die gesamte Wahrheit nicht ertragen. Sie haben uns an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht mit Ihren Sparlogiken. Deswegen können wir stolz darauf sein, dass wir 14 Monate nach Beginn der Pandemie nicht nur einen Teil der Verantwortung, sondern die gesamte Verantwortung für dieses Land übernommen und gesagt haben: Wir wollen bessere Löhne in der Pflege, wir wollen die Krankenhäuser besser finanzieren, wir wollen Impfstoffe für die breite Masse organisieren, und wir wollen dafür sorgen, dass diese Pandemie eine Veränderung bringt, und zwar zum Positiven.
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Wenn das ein Lerneffekt ist, dann war es gut, dass die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Denn dann kann sie diesen Punkt auch mitnehmen, anstatt uns zu belehren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sie müssen damit leben, dass Sie die gesamte Debatte nehmen müssen. Sie können sich nicht nur den Teil der Lockerungen nehmen, wenn Sie auf der anderen Seite nicht die entsprechenden Einschränkungen oder die Finanzierung dieses Gemeinwesens mittragen wollen. Das ist Ihr Problem: Sie blenden einen Teil der Debatte bewusst aus.
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– Es ist wahr. – Die Debatte gehört hier ins Parlament.
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Gerade in diesem Moment tagt das Parlamentarische Begleitgremium – es ist die 4. Sitzung – und führt eine Anhörung zu den Rechten Geimpfter und zu den Fragen der Impfpriorisierung durch. Ich finde es wichtig, dass diese Debatte hier im Parlament stattfindet und nicht in nichtöffentlichen Debatten der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben einen Anspruch darauf, zu wissen: Wo stehen die Parteien, und wo wollen sie hin? Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der gute Teil dieser Aktuellen Stunde, die ansonsten in weiten Teilen völlig überflüssig war, liebe FDP.
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Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung: Wir führen eine sensible Debatte. Natürlich ist es so, dass die Verwirklichung von Freiheitsgarantien des Grundgesetzes, die hier im Mittelpunkt stehen, für uns treibende Kraft ist. Aber wir müssen uns in der Debatte schon auch mal die Zeit nehmen, den Blick auf diejenigen zu werfen, die noch nicht geimpft sind, weil sie noch keinen Termin bekommen haben, auf diejenigen, die noch nicht geimpft sind, weil sie sich nicht impfen lassen können, und ja, auch auf diejenigen, die sich aus irgendwelchen Gründen nicht impfen lassen wollen.
Ich bekomme – das wird Ihnen genauso gehen – aus meinem Wahlkreis viele Zuschriften von Menschen: Herr Hoffmann, ich bin kein Coronaleugner, ich bin kein Impfgegner, ich will mich auch irgendwann impfen lassen. Aber mir macht die Debatte Sorge, weil ich Angst vor einer Zweiklassengesellschaft habe. Ich brauche noch Zeit, weil ich mich von meinem Hausarzt impfen lassen will,
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und ich möchte am Schluss auch entscheiden, welchen Impfstoff ich bekomme.
Die Wahrheit ist halt auch, meine Damen, meine Herren, dass eine Gesellschaft eine Krise nur dann gut übersteht, wenn sie geschlossen bleibt. Ich will Ihnen von der FDP sagen: So wie Sie die Debatte befeuern, so ziehen Sie Gräben, statt sie zu schließen. Ich habe Ihnen jüngst schon einmal gesagt, dass Sie Ihren Kurs überdenken sollten. Ich glaube schon, dass auch Sie als FDP der Versuchung widerstehen müssen, immer wieder nach Instrumenten zu greifen, die mehr spalten als zusammenbringen.
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Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Vor zwei Wochen, als wir die Bundesnotbremse beschlossen haben, hat sich die FDP – und auch andere im Übrigen – dickbackig hingestellt und gesagt: Das ist offensichtlich verfassungswidrig. – Sie haben diese Woche die Quittung bekommen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat sogar ausdrücklich gesagt, dass eine Ausgangssperre grundsätzlich ein legitimes Mittel ist, Kollege Buschmann. Da war von „offensichtlich verfassungswidrig“ nicht mehr die Rede.
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Ich will aber auch noch ein paar Sätze zur AfD sagen.
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Die AfD erreicht eine für mich völlig neue Ebene; ich vermeide bewusst das Wort „Niveau“. Sie sagen: Das ist ein mittelbarer Impfzwang. – Jetzt überrascht mich das nicht. Ich sage mal: Das ist das Prinzip AfD: Die AfD schaut sich eine Debatte an und guckt: Was hat maximales Verhetzungspotenzial? Was hat maximales Empörungspotenzial? Und wenn wir nichts finden, dann konstruieren wir halt was.
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Viel spannender ist doch aber, meine Damen, meine Herren von der AfD, eine ganz andere Frage: Wie sehen Sie eigentlich Ihr Freiheitsversprechen für die Menschen in diesem Land in einer Zeit, wo klar ist, dass die Pandemie zunächst mit Lockdown-Maßnahmen bekämpft werden muss, bis wir zur Impfung kommen?
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Was sagen Sie denn den Menschen? Sagen Sie den Menschen: „Ja, wenn Sie geimpft sind, gehen Sie bitte nicht vor die Tür, wenn Sie eine FFP2-Maske tragen, gehen Sie bitte nicht vor die Tür, und auch wenn Sie ein negatives Testergebnis haben, gehen Sie nicht vor die Tür, weil Sie sonst ja auf diejenigen einen mittelbaren Zwang ausüben würden, die all das nicht wollen“? Ist das Ihr Freiheitsverständnis? Der Beweis, den Sie damit erbringen, liegt doch auf der Hand: Sie haben überhaupt kein Interesse, dass wir gut durch diese Pandemie kommen.
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Es gilt der Satz der AfD: Wenn es dem Land schlecht geht, geht es der AfD gut.
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Der eigentliche Hammer – deswegen habe ich vorhin von einer neuen Ebene gesprochen – kommt am Schluss. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Die AfD spricht, zumindest im Rechtsausschuss, von einer Minderheit, wenn sie über die Menschen spricht, die einen schweren Coronaverlauf erlebt haben, wenn sie über die Menschen spricht, die an Folgeschäden leiden oder an Corona gestorben sind. Sie spricht von einer Minderheit. In Ansehung der Todeszahlen ist das ohnehin ein unmöglicher Witz. Aber, meine Damen, meine Herren, wir alle wissen, wie despektierlich die AfD über Minderheiten denkt
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und wie despektierlich sie diesen Begriff einsetzt – in Bezug auf Homosexuelle, in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund und in Bezug auf Menschen mit muslimischem Glauben. Und dass Sie nun Menschen, die einen schweren Coronaverlauf hinter sich haben, Ihrem Minderheitenbegriff unterwerfen, lässt tief blicken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Wochen standen wir schon mal an selber Stelle und haben in der ersten Lesung das DVPMG, das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege, debattiert. Es war damals schon ein sehr guter Gesetzentwurf, und wir können heute mit Fug und Recht sagen: Jetzt ist es ein ausgezeichneter Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Deshalb können wir selbstbewusst feststellen: Auch hier hat das Struck’sche Gesetz gegolten. – Das heißt: Kein Gesetz geht so aus dem Bundestag raus, wie es in den Bundestag reingekommen ist. – Wir als Koalitionsfraktionen haben – auch auf viele Anregungen der Opposition hin – 25 Änderungsanträge eingebracht; wir haben diese Änderungsanträge in allen Bereichen diskutiert. Sie haben dazu geführt, dass das Gesetz noch mal erheblich an Qualität gewonnen hat. Ich möchte nur auf einzelne Punkte eingehen.
Erstens. Ganz herzlichen Dank möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen in der Bundestagsfraktion sagen, insbesondere meiner Sprecherin Karin Maag,
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die es immer geschafft hat, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung waren, die verschiedenen Positionen aus den Diskussionen zum Schluss zusammenzubinden. Das war nicht einfach – ich weiß das –; dafür ganz herzlichen Dank! Natürlich gilt mein Dank den vielen Kolleginnen und Kollegen im Bundesgesundheitsministerium, unserem Gesundheitsminister Jens Spahn und namentlich Gottfried Ludewig und Christian Klose, die bei den Änderungsanträgen und auch bei den Debatten, wie wir die Dinge noch besser machen können, stetig unterstützt haben.
Man kann zu Recht sagen, dass wir bei der Digitalisierung im Bereich der Pflege einen großen Schritt vorankommen. Wir setzen den Weg fort, den wir in dieser Legislatur beschritten haben: das dritte große Digitalisierungsgesetz. Es ist ganz wichtig, dass Digitalisierung gerade in der Pflege nicht abstrakt bleibt. Wir reden jetzt von digitalen Pflegeanwendungen. Das sind Anwendungen, die Pflegebedürftigen das Leben erleichtern. Es geht darum, Menschen mit Demenz bei der Heilung zu helfen bzw. ihr Gedächtnistraining zu verbessern; es geht darum, Schlaganfallpatienten, die mühsam das Sprechen wieder lernen müssen, mit digitalen Anwendungen zu unterstützen. Es gibt viele Beispiele, die zeigen, wie sinnvoll das ist.
Ein ganz wichtiger Punkt ist – ich glaube, auch da ist uns ein sehr guter Kompromiss gelungen –, wie wir es in die Pflegeheime, in den Pflegebereich hineintragen. Dabei geht es natürlich auch um finanzielle Unterstützung. Diese finanzielle Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir auch dadurch sicherstellen, dass wir das Programm für digitale Investitionen im Pflegebereich – 312 Millionen Euro – bis 2023 verlängern werden. Das heißt, jedes Pflegeheim hat dann die Möglichkeit, eine zusätzliche Förderung von bis zu 12 000 Euro für digitale Investitionen zu bekommen. Das ist sicherlich nicht unbedingt ausreichend überall; aber es ist zumindest ein richtiges Signal, dass es uns mit der Digitalisierung sehr ernst ist.
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Jetzt könnte ich viele Dinge aufzählen, die wir in diesem Gesetz sehr gut gemacht haben. Es geht darum, die Digitalisierung flächendeckend in die Pflege zu bringen, aber auch in alle anderen Bereiche; es geht darum, dass wir auch die Akteure mittelfristig anschließen. Natürlich hätten wir uns alle gewünscht, jetzt möglichst schnell und sofort alle Akteure aus dem Gesundheitswesen anzubinden; aber es geht natürlich auch darum, das technisch so zu organisieren, dass wir einerseits technologieoffen und andererseits mit den Möglichkeiten, die wir bereits jetzt haben, die Digitalisierung dort vorantreiben.
Ein Punkt vielleicht noch. Es gilt auch hier: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. Das wird nicht das letzte Digitalisierungsgesetz sein. Ich wünsche mir, dass wir bei der Frage der Datennutzung und bei der Frage, wie wir die Daten noch besser allen Akteuren zur Verfügung stellen, vorankommen. Ich bin da sehr, sehr hoffnungsfroh, insbesondere im Hinblick auf die Anregungen, die uns der Sachverständigenrat Gesundheit gegeben hat; das heißt, dass wir diese Daten auch für die Versorgung besser nutzbar machen müssen.
Wir haben in der Pandemie jetzt viele Erfahrungen sammeln können, die uns gezeigt haben: Mehr Daten, bessere Daten, einhergehend mit einem hohen Datenschutz- und Sicherheitsniveau, führen zu einer besseren Versorgung. – Ich wünsche mir, dass wir Gespräche darüber führen und das zukünftig noch besser hinbekommen. Insofern danke ich für Ihre Unterstützung, darf Sie animieren und bitten, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, und freue mich auf die weiteren Beratungen im Bereich der Digitalisierung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tino Sorge. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Uwe Witt von der AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Man könnte behaupten – ach, der Herr Spahn ist gar nicht da –, das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz sei ein so missglücktes Vorhaben wie sein Titel selbst. Das ist natürlich nicht weiter überraschend; denn an die Realität und die tatsächlichen Umsetzbarkeiten werden gerade hier viel zu wenig Gedanken verschwendet, wie wir alle wissen. Dennoch: Die Kernziele dieses Gesetzes sind dann auf den ersten Blick durchaus unterstützenswert: digitale Helfer für die Pflege, mehr Telemedizin und eine moderne Vernetzung des Gesundheitswesens. Die Formulierungen können beim Lesen den Gedanken erwecken, die Digitalisierung in Deutschland schreite mit riesigen Schritten voran. Doch dem ist leider, wie wir alle wissen, nicht so. Dieses Modernisierungsvorhaben wird noch im Keim von der miserablen Infrastruktur in Deutschland erstickt werden.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland hier schon seit Jahren als Verlierer da. Wir glauben nicht, dass mit digitalen Pflege-Apps der Pflegealltag wirklich besser zu bewältigen ist. Langfristig dürften viele Apps wenig bis gar nicht genutzt werden. Wer Gedächtnisspiele verordnet bekommt, wird möglicherweise schnell vergessen, dass er eine solche App auf dem Handy hat. Und ob die Pflegerinnen und Pfleger die Zeit finden, ihre Patienten regelmäßig daran zu erinnern, steht auch auf einem anderen Blatt. Oftmals haben sie kaum noch Zeit für die wichtigsten Aufgaben. Den seit Jahrzehnten bestehenden hausgemachten Pflegenotstand zu beseitigen, hätte hingegen einen deutlichen und nachhaltigen Effekt zur Verbesserung des Pflegealltags tatsächlich gebracht. Der zwischenmenschliche Umgang mit den Patienten dürfte mehr wert sein als die besten Apps und kommt heute schon viel zu kurz.
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Eine weitere Frage ist, wer überhaupt die Schreibrechte für diese Apps bekommen soll. In der Pflege wird der Qualifikationsmix durch die generalistische Ausbildung nicht abnehmen. So werden die Schreibrechte für das Pflegepersonal wahrscheinlich genauso unterschiedlich sein. Eine bürokratische Katastrophe, die in letzter Konsequenz wieder zurück zur analogen Pflege führen wird. Eine Entbürokratisierung gerade in der Pflege wäre daher wünschenswert, bevor man von großspurigen digitalen Revolutionen zu schwadronieren beginnt.
Ebenso verhält es sich mit der Nutzung der elektronischen Patientenakte. Sie ist kompliziert und durch die Speicherung der Daten an unterschiedlichen Stellen fehleranfällig. Dazu kommt, dass lebenswichtige Informationen gegebenenfalls nicht eingespeichert werden können.
Letztlich komme ich noch zur gematik GmbH. Diese gehört zwar mehrheitlich dem Bund, ist aber gleichzeitig zu 100 Prozent beitragsfinanziert. Das halten wir für genauso wenig hinnehmbar wie die Tatsache, dass sie in Doppelfunktion als Dienstleister und als Genehmigungsbehörde zugleich aktiv sein soll.
Wie Digitalisierung richtig und im Sinne der Bürger funktioniert, haben wir in unserem Antrag gegen das Aufweichen der Datenschutzvorgaben bei der Corona-Warn-App für Sie alle hier herausgearbeitet. Derzeit wird von verschiedenen Seiten gefordert, dass man den Datenschutz für die Pandemiebekämpfung zurückstellen sollte.
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Wir sehen eine erneute Gefahr des Eingriffs in die Privatsphäre unter dem Schirm der Coronapandemie. Dass persönliche Daten automatisch an die Gesundheitsämter weitergegeben werden sollen oder das Herunterladen der Corona-Warn-App verpflichtend zu machen, lehnen wir aus datenschutzrechtlichen und freiheitlichen Gründen entschieden ab.
Danke schön.
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– Ach Mensch. Da bin ich öfter, als Sie denken, per WhatsApp. Mal gucken!
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So, Rede beendet. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein kurzes Wort zum Vorredner, der hier gerade den Minister vermisst hat: Den Minister hätten Sie in letzter Zeit häufig und regelmäßig gut im Gesundheitsausschuss treffen können. Wenn Sie mal dagewesen wären, hätten Sie vielleicht auch eine Rede verfassen können, die in irgendeiner Form etwas mit dem Thema zu tun hat, über das wir heute reden.
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Jetzt möchte ich mich gerne dem Thema zuwenden, zuallererst aber die Idee des Kollegen Sorge aufgreifen und natürlich auch einen herzlichen Dank aussprechen: nicht nur an den Kollegen Sorge und die Kollegin Maag für die Zusammenarbeit, sondern natürlich auch an meine stellvertretende Fraktionsvorsitzende und unsere Sprecherin Frau Bas bzw. Bärbel sowie ausdrücklich an alle demokratischen Oppositionspolitikerinnen und ‑politiker hier in diesem Hause für eine hervorragende Mitarbeit. Ich glaube, dabei ist insgesamt ein gutes Gesetz herausgekommen, für das wir uns nicht zu schämen brauchen und das die Digitalisierung im Gesundheitswesen – und das ist zentral – nach vorne bringen wird. Das gilt auch für die beiden anderen Gesetze; denn die Digitalisierung im Gesundheitswesen war und ist ein großes Anliegen in dieser Legislaturperiode. Das Gesetz sorgt dafür, dass wir an dieser Stelle einen ganz großen Schritt weiterkommen.
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Und was bringt das nun für jeden Einzelnen? Das ist doch die entscheidende Frage. Wir lernen unter anderem aus der Coronapandemie, indem wir die Telemedizin deutlich nach vorne bringen. Wir bringen die Videosprechstunde, die in der Coronapandemie vielen Menschen geholfen hat, Kontakt aufzunehmen, deutlich nach vorne.
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Wir sorgen dafür, dass diese Videosprechstunde nicht nur Ärztinnen und Ärzten, sondern Hebammen, Heil- und Hilfsmittelerbringern und ganz besonders natürlich auch den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Verfügung steht.
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Ich persönlich freue mich sehr, dass es im parlamentarischen Verfahren gelungen ist, auch die akute Versorgung in der Psychotherapie in telemedizinische Versorgung einzubringen; denn gerade derjenige, der akut ein Problem hat, braucht schnelle, braucht gute, braucht vernünftige Zugänge. Dabei ist uns natürlich allen klar, dass der Zugang über Videosprechstunde und über Telemedizin in Zukunft nicht der einzige und schon gar nicht der vorrangige Zugang ist. Das bleibt der persönliche Kontakt, das bleibt das menschliche Miteinander. Aber wir alle haben doch gerade erlebt, was passiert, wenn dieses menschliche Miteinander nicht so funktioniert: Dann braucht man immer noch Hilfe und Unterstützung, und die kann so gegeben werden.
Was bringt Ihnen das des Weiteren, meine sehr geehrten Damen und Herren? Wir sorgen dafür, dass das Verordnungswesen insgesamt digital wird. Es geht darum, nicht für jedes Rezept zum Arzt oder zur Ärztin laufen zu müssen, nicht für jede Verordnung von häuslicher Krankenpflege zum Arzt oder zur Ärztin laufen zu müssen. Das kann alles digital funktionieren.
Wir sorgen zudem dafür, dass über die ordentliche und vernünftige Verifizierung jedes Einzelnen der Datenschutz und damit auch der Schutz und die Sicherheit seiner Daten gewährleistet wird.
Endlich gehen wir den Weg, dass die elektronische Gesundheitskarte eben nicht mehr der Datenspeicher ist. Das war eigentlich von Anfang an aus meiner persönlichen Sicht ein Weg, der nicht wirklich zutreffend war. Wir sorgen dafür, dass die Daten gespeichert werden, und zwar entweder in der elektronischen Patientenakte oder in der entsprechenden Kurzakte. In dieser Kurzakte werden insbesondere Notfalldaten und Ähnliches gespeichert. Deswegen geben wir auch all denen, die das benötigen, den nötigen Zugriff auf die entsprechenden Akten und gerade auf diese Kurzakte.
Wir haben im parlamentarischen Verfahren obendrein noch sichergestellt, dass das Ganze möglichst einfach funktionieren kann. Deswegen wird es in Zukunft eine digitale Identität geben, damit nicht die Gesundheitskarte alleine der Nachweis sein muss, sondern ich mich im Netz auch selbst ausweisen und damit die Angebote vernünftig und viel einfacher nutzen kann.
Viele, viele Schritte, viele, viele Angebote, Pflege-Apps, die in der Pflege natürlich helfen werden. Sie sind im Übrigen nicht dazu gedacht, andere Dinge wie Gedächtnistraining und Ähnliches überflüssig zu machen. Sie sollen unterstützen, sie sollen helfen, sie sollen Angehörige, sie sollen aber auch das Pflegepersonal entlasten und in der Pflege weiterbringen.
Ich finde, wir haben ein gutes, ein weiterführendes Gesetz auf den Weg gebracht, bedanke mich bei allen, die dabei mitgewirkt haben und wünsche mir, dass Sie alle zustimmen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Heidenblut. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion der FDP die Abgeordnete Nicole Westig.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Verheizt uns junge Ärzte nicht!“, so schreibt ein Vertreter des Hartmannbundes gestern im „Handelsblatt“. Dass viele Assistenzärzte aufgeben wollten, liege auch an der ineffizienten Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. Dem wirkt das DVPMG mit durchaus guten Ansätzen entgegen. Die papierlose Praxis und telemedizinische Leistungen, die Weiterentwicklung von elektronischer Verordnung und E-Rezept, die stärkere Vernetzung der Leistungserbringer helfen beim Bürokratieabbau, und natürlich sind die digitalen Anwendungen in Gesundheit und Pflege wichtige Bausteine.
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Doch gerade bei der Anbindung der Pflege an die Digitalisierung ist das Gesetz nicht ambitioniert genug. Warum kommen die Pflegeanwendungen nicht richtig in den stationären Einrichtungen an? Warum wird der Ausbau der Telepflege nur lückenhaft betrieben? Daran zeigt sich: Dieses Gesetz ist noch nicht der große Wurf.
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Auch gute Einzelmaßnahmen können die dringend benötigte nationale Digitalisierungsstrategie nicht ersetzen.
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Digitalisierung muss umfassender gedacht werden, wenn sie gelingen soll. Sie muss vor allem offen für Innovationen sein. Was ist mit unseren digitalen Start-ups und Dienstleistern? Sie beeindrucken uns tagtäglich mit ihrer Innovationskraft, so wie der Unternehmer aus meiner Heimatstadt Bad Honnef, der eine Software entwickelt hat, die die Besucherregelungen in Kliniken und Pflegeheimen digital abbildet. Er kann noch viel mehr. Und solche Fortschrittsbeschleuniger brauchen wir.
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Sie bleiben aber in diesem Gesetz außen vor.
Ob die gematik den Zukunftskonnektor im Alleingang entwickeln kann, daran haben wir Freie Demokraten so unsere Zweifel. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört Deutschland zur Weltspitze bei der Herztransplantation? Weil es das Ergebnis einer beispielhaften Zusammenarbeit zwischen Politik, Industrie, Forschung und den Gesundheitsberufen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen Bereich, der nicht nur uns Freien Demokraten große Sorgen bereitet: Das ist das Nationale Gesundheitsportal, ein vom BMG gesteuertes redaktionelles Gesundheitsmedium. Informationen zur Gesundheit sind gut, aber bitte nicht staatlich gelenkt und bewertet.
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Noch am Montag haben wir den Internationalen Tag der Pressefreiheit begangen. Und heute wollen wir ein Gesetz verabschieden, das einen derartigen Eingriff in die freie Presse darstellt? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das DVPMG hat gute Ansätze, springt aber zu kurz und bedroht die Pressefreiheit. Wir können uns leider nur enthalten.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. Achim Kessler.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Coronapandemie hat dazu beigetragen, dass ein Teil der Gesundheitsversorgung stärker im virtuellen Raum stattfindet. Bürgerinnen und Bürger können die Videosprechstunde bei ihrer Ärztin oder bei ihrem Arzt als zusätzliches Angebot nutzen. Das ist eine positive Entwicklung.
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Durch die Pandemie ist die Akzeptanz digitaler Gesundheitsanwendungen gewachsen; auch das ist erfreulich. Doch zugleich sind Gesundheitsdaten sehr intime und persönliche Informationen. Ein Missbrauch kann lebenslange Folgen haben. Die Linke fordert die Bundesregierung dazu auf, ein Höchstmaß an Datensicherheit und Datenschutz zu garantieren.
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Deshalb ist es auch ein Schritt in die richtige Richtung, dass Sie mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz endlich Expertinnen und Experten in die Prüfung von digitalen Gesundheitsanwendungen einbeziehen.
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Es ist gut, dass Sie hier eine Forderung der Linken umsetzen. Sie sollten das ruhig öfters tun.
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Trotzdem, meine Damen und Herren, bleibt es fragwürdig, dass mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine staatliche Behörde, die direkt dem Gesundheitsminister unterstellt ist, über die Aufnahme von digitalen Gesundheitsanwendungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung entscheidet, und das nach wie vor, meine Damen und Herren, ohne jeden wissenschaftlichen Nachweis des gesundheitlichen Nutzens. Bei allen anderen Behandlungsmethoden ist der Gemeinsame Bundesausschuss dafür zuständig. Meine Damen und Herren, digitale Gesundheitsanwendungen ohne wissenschaftliche Prüfung an den Patientinnen und Patienten auszuprobieren, hat mit verantwortungsbewusster Gesundheitspolitik nichts zu tun. Die Linke lehnt das nach wie vor entschieden ab.
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Dass die Kassen nach Zulassung durch eine Bundesbehörde zwölf Monate lang den Preis erstatten müssen, den der Hersteller angibt, ist dreiste Wirtschaftsförderung auf Kosten der Versicherten. Da werden die Spenden aus der IT-Wirtschaft für die CDU und die CSU sicher wieder hervorragend sprudeln. Das ist wirklich ein Skandal.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege? Tino Sorge würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, sehr gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Kollege Dr. Kessler, es ist ja nichts Neues, dass Sie hier darüber in Rage geraten, wie schlimm doch die Industrie sei bzw. wie schlimm das BMG und das BfArM seien.
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Ich möchte Ihnen daher mal jemanden zitieren, der eigentlich unverdächtig erscheint, nämlich den Sachverständigenrat Gesundheit. Der hat im Hinblick auf die von Ihnen gerade angesprochene Thematik „Datennutzung und Datenschutz“ ja ein sehr gutes Gutachten letztens auf den Markt gebracht – in Anführungsstrichen. Ich zitiere mal:
Der Datenschutz muss im Sinne eines umfassenden Patientenschutzes neu gedacht werden. Er muss insbesondere mit dem Schutz von Leben und Gesundheit abgewogen und in sinnvollen Einklang gebracht werden. Dieser Verantwortung müssen sich auch die Datenschutzpolitiker in der Gesetzgebung und die Datenschutzbeauftragten in der Umsetzung stellen.
Ich zitiere weiter.
Aber nicht ganz vorlesen.
Nein, nein, nur noch zwei Sätze, Herr Präsident, dann bin ich durch. – Ich zitiere weiter:
Datenschutz muss vor allem die sichere Nutzung von Gesundheitsdaten für bessere Versorgung und Forschung ermöglichen, damit dem einzelnen Patienten und der einzelnen Patientin zielgenauer geholfen werden kann. Dazu bedarf es der Auswertung großer Datenmengen.
Was ist denn Ihre Frage?
Jetzt würde ich gern meine Frage stellen, Herr Präsident; Sie weisen zu Recht darauf hin.
Mich würde vor diesem Hintergrund interessieren, warum Sie hier ständig das Wort gegen generelle Digitalisierung oder Datennutzung führen,
({0})
wo wir doch gemeinsam im Rahmen der Beratung zum DVPMG nicht nur das Thema behandelt haben, wie wir Datenschutz und Datensicherheit besser sicherstellen können, sondern auch, wie wir in dem ganzen Kontext die Patientinnen und Patienten mit einer besseren Nutzung ihrer Daten, wenn sie informiert eingewilligt haben, unterstützen können. Das würde mich interessieren.
Ich glaube, die Frage ist verstanden. Vielleicht können Sie die Antwort kürzer machen als die Frage.
Ich glaube, ich kann die Antwort auf diese sehr einfache, aber langatmige Frage wirklich kürzer machen. Es beruhigt mich erst mal, dass Sie sich auch weiterhin über mich aufregen,
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sogar so sehr, dass Sie noch nicht mal zuhören, was ich sage. Ich habe nämlich am Anfang ausdrücklich gesagt, dass es gut ist, dass digitale Anwendungen in der Pandemie gestärkt worden sind.
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Das habe ich ausdrücklich gesagt. Sie können mir nicht zuhören; das ist Ihr Problem.
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Im Übrigen empfehle ich Ihnen sehr die Lektüre der Ausarbeitung des Datenschutzbeauftragten der Bundesregierung, den Sie ja gerade auch zitiert haben, der nämlich genau das, was ich gesagt habe, also den mangelnden Datenschutz Ihrer Gesetzgebung, kritisiert hat und der sich bitter beklagt hat, dass er nicht beteiligt worden ist.
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So, jetzt haben wir das auch geklärt. – Bitte.
Das Gesetz ermöglicht, dass digitale Anwendungen zukünftig auch in der Pflege gebraucht werden können. Auch das finde ich gut so, Herr Sorge.
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Dabei muss aber sichergestellt werden, dass Menschen mit Pflegebedarf die digitalen Pflegeanwendungen auch tatsächlich nutzen können. Denn viele von ihnen sind dazu ohne Unterstützung nicht in der Lage. Es ist deshalb völlig unverständlich, dass Sie die gesonderte Vergütung für diese Unterstützung wieder aus Ihrem Gesetzentwurf gestrichen haben.
Meine Damen und Herren, auch deshalb lehnt Die Linke Ihren Gesetzentwurf ab.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat als Nächstes das Wort die Kollegin Maria Klein-Schmeink.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Dies ist jetzt das dritte umfangreiche Digitalisierungsgesetz, mit dem TSVG sogar das vierte. Man kann schon sagen: In dieser Wahlperiode hat die schwarz-rote Regierung das aufgeholt, was sie über viele, viele Jahre bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen versäumt hat. Das muss man anerkennend sagen.
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Aber wie schmerzlich und wie weit wir zurückgelegen haben, das haben wir ja jetzt in der Pandemie gemerkt. Und wir merken es in den nächsten Wochen schon wieder, wenn es darum geht, dass wir alle nach einem digitalen Impfnachweis suchen und wahrscheinlich feststellen werden: Oh, der wird nicht da sein, und es wird ein ziemlich großes Problem sein, wie der denn dann nachträglich ausgefüllt wird usw. – Das ist also wieder ein Beispiel dafür, wie weit wir eigentlich zurückhängen. Das hat auch damit zu tun, dass die Perspektive der Patientinnen und Patienten jeweils als Allerletztes drangekommen ist. Das ist einer der ganz großen Webfehler in der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung; denn daran mangelt es bei dieser Strategie.
({1})
Wenn wir mal gucken, worum es denn geht, stellen wir fest: Es geht erstens um die Chancen auf bessere Information und Beteiligung der Patientinnen und Patienten. Es geht um das Gesundheitsportal; das sage ich nur hier in den Raum, FDP. Dann geht es darum, Gesundheitsförderung und ‑prävention sehr gezielt nutzen zu können, unter Einbindung aller Leistungserbringer, nicht nur der Ärztinnen und Ärzte. Es geht darum, Therapie so vernetzen zu können, dass wir wiederum nicht nur die ärztliche Perspektive, nicht nur die Krankenhausperspektive, sondern eben umfassend die Perspektive aller, die an der Leistungserbringung beteiligt sind, miteinbeziehen. Auch da gilt: Wir kommen ein Stückchen weiter, aber wir sind noch längst nicht da, wo die Patientinnen und Patienten wirklich ganz konkret im Alltag erfahren können, dass das klappt. Man muss sagen: Auch da werden wir noch Nachbesserungen brauchen.
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Zweitens haben wir insgesamt Defizite in unserem Gesundheitswesen, wenn es darum geht, in der Zusammenarbeit besser zu werden. Für diese Zusammenarbeit ist ja gerade die Digitalisierung der entscheidende Schlüssel, weil Information fließen kann. Genau das ist aber etwas, was, wenn man genau nach dem Plan guckt, der in diesem dritten Gesetz enthalten ist, höchstens 2026 vollständig umgesetzt sein wird. Man muss sagen: Ganz schön lange weg. Insofern ist auch da ein bitterer Tropfen. Aber wir müssen anerkennen: Immerhin ist es jetzt endlich vorgesehen, und immerhin steht das Drehbuch.
Weiterhin geht es darum, wozu denn eigentlich die Digitalisierung nützen soll. Auch da haben Sie versäumt, eine Strategie festzulegen. Da haben Sie versäumt, zu sagen: Was soll die Telemedizin bringen? Wie weit wollen wir denn in dem und dem Jahr sein? Was soll sie an Nutzen und besserer Versorgung bringen? Auch da ein zentrales Versäumnis.
Sie sehen: Es gibt noch vieles zu tun. Ich bin sicher, dass wir auch bald schon das nächste Digitalisierungsgesetz erleben werden. Immerhin erkennen wir aber an, dass mindestens das Drehbuch schon mal ein bisschen steht. Wir fordern eine bessere Patientenbeteiligung und bessere Beteiligung aller Nutzerinnen und Nutzer, vor allen Dingen auch der nichtärztlichen Berufe.
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Und wir fordern eine klare Strategie, damit wir wissen, wo wir in den nächsten vier Jahren sein werden.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Thomas Gebhart.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir spüren doch alle in dieser Gesundheitskrise, in diesen Wochen und Monaten, wie wichtig es ist, dass wir in Bezug auf die Gesundheitstechnologien auf der Höhe der Zeit sind. Und bei der Entwicklung von Covid-19-Impfstoff konnten wir dank unserer Offenheit für Innovationen auch selbst Schrittmacher sein. Ich weiß aber auch: Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens wären wir heute gerne weiter; das ist überhaupt keine Frage. Aber wichtig ist: Wir kommen in Tritt. Offenheit und Raum für Innovationen entstehen. Und nur dann, wenn wir die Entwicklungen mitgestalten, können wir auch selbst die Richtung mitbestimmen.
Die Digitalisierung ist eine der ganz großen Herausforderungen im Bereich der Gesundheitspolitik, des Gesundheitswesens, und sie ist zugleich die ganz große Chance. Die Digitalisierung wird stattfinden in der ein oder in der anderen Form. Aber die Frage ist: Wie gestalten wir den Prozess? Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Aber sie muss eben so gestaltet werden, dass sie am Ende den Menschen in diesem Land, den Patientinnen und Patienten Nutzen stiftet, dass sie die medizinische und pflegerische Versorgung verbessert. Und genau unter dieser Maßgabe treiben wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran.
({0})
Jetzt geht es ganz konkret um praktische Lösungen für den Alltag im Gesundheitswesen. Die elektronische Patientenakte kommt, das elektronische Rezept, digitale Gesundheitsanwendungen, digitale Pflegeanwendungen, die Videosprechstunde und einiges mehr. Es geht langfristig um bessere Versorgungsstrukturen mit Telemedizin, Datenaustausch, besserer Diagnostik, neuen Therapien, um Krankheiten beherrschbarer zu machen. Im Sinne dieser langfristigen Strategie für Digitalisierung haben wir einen Raum geschaffen: das Innovationsforum „Digitale Gesundheit 2025“. Experten aus allen Bereichen des Gesundheitswesens sowie Vertreterinnen und Vertreter der Patienten sind eingebunden. Damit können wir über Wahlperioden hinaus eine gemeinsame strategische Vorstellung entfalten für ein erfolgreiches, digitalisiertes deutsches Gesundheitssystem.
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Genau dieser Konzeption, meine Damen und Herren, folgt auch das Gesetz, das wir heute beschließen. Es geht um konkrete Verbesserungen im Alltag der Versicherten und um diese langfristige Strategie. Es gibt weitere Impulse, insbesondere in den Bereichen der Pflege, der Telemedizin, aber eben auch bei der Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur und ihrer jeweiligen Anwendungen.
Mit diesem Gesetz – es wurde bereits erwähnt – haben wir in dieser Legislaturperiode bereits das dritte eigenständige Digitalisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Dazu kommt noch eines: Im Grunde haben bei allen Gesetzen im Gesundheitsbereich in dieser Legislaturperiode Digitalisierungsaspekte eine wichtige Rolle gespielt; und das ist in der Summe, denke ich, schon beachtlich. Denn so dynamisch, wie sich die Technologien entwickeln, so dynamisch und agil müssen wir eben auch den Rechtsrahmen gestalten.
Schließlich brauchen wir diesen Rahmen für Innovationsoffenheit, damit Lösungen für digitale Gesundheitsversorgung in diesem so sensiblen Bereich überhaupt bei uns entwickelt werden, in Deutschland, in Europa. Es sind Lösungen mit einer Grundausrichtung, die nicht durch Überwachung geprägt ist, sondern vom mündigen Patienten her gedacht und bestimmt ist. Es sind Lösungen nach unseren Wertvorstellungen für die Patientinnen und Patienten, die Pflegebedürftigen und diejenigen, die in diesem Gesundheitswesen Tag für Tag arbeiten.
Ich möchte mich zum Schluss ganz herzlich bedanken bei allen, die hier konstruktiv im parlamentarischen Prozess mitgewirkt haben, aber auch ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesgesundheitsministerium, die in den letzten Wochen und Monaten Enormes geleistet haben und trotz hoher Belastungen an allen Stellen auch für dieses Gesetz großartige Arbeit geleistet haben,
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aus der festen Überzeugung heraus: Digitalisierung ist eine wichtige Grundlage für eine bessere Versorgung.
Ich bitte Sie herzlich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Sabine Dittmar.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon gesagt worden: Es ist das dritte Digitalisierungsgesetz im Bereich Gesundheit in dieser Wahlperiode. Ich denke, wir können sagen: Der gordische Knoten in Sachen Digitalisierung ist hiermit ein für alle Mal durchschlagen.
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Aber bei aller Euphorie und Dankbarkeit über das gemeinsam Geleistete gibt es – das muss ich jetzt einfach so deutlich sagen – für mich auch einen Wermutstropfen. Deshalb erlauben Sie mir, nachdem mein Kollege Dirk Heidenblut, unser Berichterstatter, bereits ausführlich auf die wirklich vielen positiven Effekte und Inhalte dieses Gesetzes eingegangen ist, auch ein paar kritische Bemerkungen zu machen.
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie muss in erster Linie den Versorgungsalltag der Menschen verbessern. Das gilt für den Versicherten, den Patienten, den Beschäftigten im Gesundheitswesen genauso wie für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Deshalb ist es unsere Aufgabe, hier die passenden Rahmenbedingungen für die Digitalisierung gezielt voranzutreiben. Und die Maßnahmen müssen sich daran messen lassen, dass sie die Versorgung erleichtern und verbessern und im Einklang stehen mit den Grundpfeilern unseres Gesundheitssystems.
Einer dieser Grundpfeiler ist die Frage der Beteiligung, die Frage der Mitbestimmung der Akteure der Selbstverwaltung inklusive der Patientinnen und Patienten. Deshalb sage ich für meine Fraktion ganz deutlich: Die Entscheidung, welche digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen in der gesetzlichen Krankenversicherung erstattungsfähig sind, gehört in die Hand der Selbstverwaltungsakteure und nicht in die Hand der Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht dass Sie mich hier jetzt falsch verstehen: Nicht das Fast-Track-Verfahren zur Prüfung der DiGAs und DiPAs ist das Problem, sondern die fehlende Hinzuziehung der Selbstverwaltungsakteure sowie Patientinnen und Patienten bei der Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit.
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Auch die Frage der freien Preisbildung im ersten Jahr von digitalen Gesundheitsanwendungen durch Hersteller ist aus Sicht meiner Fraktion, der SPD, sehr problematisch. Wir werden deshalb die anstehenden Entscheidungen über Höchstpreisgruppen bei DiGAs sehr genau im Auge behalten. Denn klar für uns ist, dass die Zahlung von Mondpreisen für digitale Gesundheitsanwendungen aus Beitragsmitteln im ersten Jahr nicht sachgerecht ist.
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Meine Damen und Herren, trotz der eben aufgezeigten Problemfelder, bei denen wir abhängig von den künftigen Entwicklungen sicher nachsteuern müssen, ist das DVPMG ein gutes Gesetz, dem sicherlich auch noch einige nachfolgen werden. Denn auch schon vor der Coronapandemie war uns allen klar, wie wichtig Digitalisierung im Gesundheitswesen ist und welches Potenzial darin liegt. Egal ob digitale Angebote wie die Videosprechstunde, das E-Rezept oder die AU-Bescheinigung, der Anschluss weiterer Leistungserbringer oder die Einbindung der Pflege: Dies alles sind wichtige Aspekte für eine wirklich gute zeitgemäße Versorgung. Die bringen wir mit dem vorliegenden Gesetz ein ganzes Stück weiter.
Dementsprechend bitte ich um Ihre Zustimmung und bedanke mich für die guten Beratungen.
Bleiben Sie gesund!
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Vielen Dank, Kollegin Dittmar. – Als letzten Redner in der Debatte hören wir von der CDU/CSU-Fraktion Stephan Pilsinger.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eines der Kernthemen unserer gesundheitspolitischen Agenda. Mit dem nun vorliegenden dritten Digitalgesetz in dieser Legislaturperiode machen wir deutlich: Die Digitalisierung hat für uns oberste Priorität. Die Menschen sollen die Vorteile des technologischen Fortschritts endlich konkret in ihrem Versorgungsalltag spüren.
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Meine Damen und Herren, heute soll es nicht um Infektionsschutz oder Pandemiebekämpfung gehen. Heute geht es darum, unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen. Mit dem DVG und dem PDSG haben wir die Grundsteine für einen notwendigen Wandel in den Strukturen unserer Gesundheitsversorgung gelegt. Das vorliegende Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz baut genau auf diesem Fundament auf und entwickelt die bisherigen Regelungen konsequent weiter.
Um uns herum macht der technologische Fortschritt keine Pause. Der moderne Patient kommuniziert heute in der Regel über sein Smartphone und entsprechende Apps. Da reicht es nicht, wenn man den Versicherten veraltete Lösungen präsentiert. Genau aus diesem Grund müssen wir jetzt auch die Gesetzgebung für die Digitalisierung stetig weiterentwickeln. Mit dem DVPMG schaffen wir deshalb nicht nur die Grundlage für neue digitale Anwendungen in der Pflege, sondern auch für den weiteren Ausbau der Versorgung mit den bestehenden digitalen Gesundheitsanwendungen.
Eine wichtige Neuerung, die ich als Arzt besonders begrüße, ist zudem die Schaffung der Patientenkurzakte. Hier werden Notfalldaten und Hinweise auf persönliche Erklärungen der Versicherten an einem Ort vereint. Besonders im ärztlichen Bereitschaftsdienst oder im Rettungsdienst kommt es manchmal auf wenige Minuten oder Stunden an. Da können schnell zugängliche Patientendaten Leben retten.
Aber auch der elektronische Medikationsplan wird weiterentwickelt. Als eine der zentralen Funktionen der Telematikinfrastruktur wird der Plan künftig von der Gesundheitsakte gelöst und in eine eigenständige, komfortabel nutzbare Anwendung überführt.
Besonders wichtig ist hier: Auch bei zunehmender Komplexität muss das zuverlässige Zusammenwirken aller Anwendungen, also die Interoperabilität, stets gewährleistet sein. Deshalb haben wir im parlamentarischen Verfahren unter anderem dafür gesorgt, dass nun auch die privaten Krankenversicherungen bei den Inhalten der zentralen Anwendungen der Telematikinfrastruktur mitreden können.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbessern wir nicht nur spürbar den Versorgungsalltag der Patientinnen und Patienten, wir legen damit auch den Grundstein für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung für dieses gute Gesetz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Pilsinger. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle hören doch aus unseren Wahlkreisen, dass Spätfolgen einer Coronaerkrankung leider keine Einzelfälle mehr sind. Diese Schicksale lassen doch keinen von uns kalt. Chronische Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Kopfschmerzen, Schwindel, Atembeschwerden, Ängste, Depressionen – das sind Folgen, die den Menschen schwer zu schaffen machen.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass zwölf Wochen nach einer Covid-19-Erkrankung etwa jeder zehnte Patient noch immer unter den Langzeitfolgen leidet. Es betrifft alle Bevölkerungsschichten, von jung bis alt. Selbst Leistungssportler sind von Covid-19-Langzeitfolgen betroffen. Nach Medienberichten – das wird auch aus persönlichen Berichten klar – nehmen die Hilferufe besorgter Eltern, deren Kinder sich nach einer SARS-CoV-2-Infektion nicht vollständig erholt haben, deutlich zu.
In Deutschland gibt es bisher keine spezialisierten Behandlungszentren, um den Menschen, den Kindern schnellstmöglich zu helfen – weder ambulant noch stationär. Dabei benötigen die heute schätzungsweise 300 000 Betroffenen unbedingt unsere Hilfe.
({0})
Damit sie sich nicht im Versorgungswirrwarr verirren, brauchen sie geeignete Ansprechpartner. Für Patientinnen und Patienten ist es oft sehr schwierig, den bestmöglichen Versorgungspfad zu finden; denn die Symptome von Long Covid sind unspezifisch und unterschiedlich ausgeprägt. Außerdem führt die fehlende Datengrundlage zu einem geringen Wissensstand.
Es gibt derzeit nur vereinzelt spezialisierte Therapiemöglichkeiten. In anderen Ländern wurden bereits sehr konkrete Schritte für eine bessere Versorgung unternommen. Für Großbritannien kündigte der Chef des National Health Service an, flächendeckend über 80 spezialisierte Behandlungszentren zu eröffnen. In Deutschland gibt es kein vergleichbares Angebot, und das wollen wir gerne ändern.
({1})
Wir müssen uns jetzt mit dieser Thematik befassen und nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Denn die Patientinnen und Patienten brauchen jetzt unsere Hilfe und nicht erst in einem Jahr oder noch später.
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Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, einen flächendeckenden Aufbau von Long-Covid-Behandlungszentren zu etablieren. Die Leistungserbringer der vertragsärztlichen Versorgung, die Krankenhäuser und die Vorsorge- und Rehaeinrichtungen müssen berechtigt sein, entsprechende Leistungen zu erbringen. Der Gemeinsame Bundesausschuss definiert dabei den Behandlungsrahmen. – Das fordern wir in unserem Antrag.
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Meine Damen und Herren, um ausreichend Erkenntnisse über diese neue Erkrankung zu sammeln, wollen wir gemeinsam mit den Bundesländern ein Long-Covid-Register entwickeln, das die Fälle systematisch erfasst und analysiert. Ein Register kann helfen, Krankheitssymptome rechtzeitig zu erkennen. Auch Forschungsstudien über Long Covid müssen dringend auf den Weg gebracht und dauerhaft gefördert werden; denn eine zielgenaue Diagnose und Therapie verhindern langes Leiden.
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Die Bundesregierung muss jetzt handeln und darf nicht zögern!
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Auf den digitalen Impfpass warten wir bis heute. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Long-Covid-Patienten optimal versorgen und dass es für diese Menschen nicht wieder zu spät ist.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank, liebe Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Das Wort geht an Stephan Albani von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin den Oppositionsfraktionen für die beiden Anträge sehr dankbar, durch die wir diese Debatte nutzen können, um auch über die Langzeitfolgen einer Covid‑19-Erkrankung zu reden.
Ja, nach Angaben der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC treten als Langzeitsymptome der Covid‑19-Erkrankung am häufigsten folgende Symptome auf: Fatigue – das heißt Müdigkeit –, schnelle Erschöpfung, Luftnot, Husten, Gelenkschmerzen, Thoraxschmerzen, also Schmerzen des oberen Brustkorbes, Konzentrationsprobleme, Depressionen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, rezidivierendes Fieber und Palpitationen, was Herzklopfen, Herzstolpern und dergleichen mehr bedeutet. Sie sehen an dieser großen Auswahl: Wer das hat, der weiß, was er hat. Das ist sehr unangenehm. Aber zugleich wird deutlich: Es ist eine große Heterogenität, was die Fragen der Zuordnung, des richtigen Umganges und der Behandlung sehr schwierig zu beantworten macht. Diese Symptome treten, wie meine Vorrednerin schon gesagt hat, erst nach zwölf Wochen auf, teilweise auch erst nach sechs Monaten. Es kann also teilweise sehr lange dauern, bis dies auftritt.
Und ja, in der derzeitigen Situation beschäftigen sich die Berichterstattungen, beschäftigen wir uns im Rahmen der öffentlichen Diskussion über die Pandemie mit Inzidenzen, R‑Werten, Infektionszahlen, Auslastungen. Wir beklagen über 84 000 Tote in der Pandemie – Menschen, die wir verloren haben. Diese Verluste können wir nicht wiedergutmachen.
Gegen alle anderen Folgen der Pandemie können und müssen wir aktiv arbeiten. Das tun unzählige Menschen jeden Tag, und zwar nicht nur, wie hier häufig erwähnt, in den Altenheimen, Krankenhäusern, Intensivstationen, Impfzentren, Hausarztpraxen – in der letzten Zeit sehr intensiv –, sondern halt auch in den Rehaeinrichtungen. Und es gibt bereits – da möchte ich Sie korrigieren – erste Spezialeinrichtungen, Spezialsprechstunden, gerade an Universitätskrankenhäusern, zum Beispiel in München. Da gibt es also schon einiges. Ich danke auch den Menschen in diesem Bereich; denn sie werden mitunter vergessen.
({0})
Wir lernen täglich über die Pandemie hinzu, und im Lichte neuer Erkenntnisse verschärfen wir auch die Anstrengungen. Als Forschungspolitiker möchte ich daher sagen: Die Anträge der Opposition sind deutlich hinter dem zurück, was wir derzeit bereits auf den Weg gebracht haben – 150 Millionen Euro für den Aufbau eines Forschungsnetzwerkes, um die Forschungsaktivitäten der gesamten Universitätskliniken rund um die Bewältigung der Covid‑19-Pandemie zu unterstützen. Da geht es auch genau um die Datensammlung, von der Sie sprachen und die derzeit – weil wir versuchen, solche Fälle zu verhindern – erst in begrenztem Maße vorliegt. Aber die entsprechenden Daten zu sammeln, ist auf den Weg gebracht. Hier geht es darum, konkrete Erfahrungen aus der Behandlung von Coronapatienten so schnell wie möglich auszutauschen.
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Denn das ist natürlich notwendig, um entsprechende Maßnahmen dagegen zu entwickeln. 50 Millionen Euro wurden für ein neues Förderprogramm zur Unterstützung der Entwicklung von Therapeutika und klinische Studien bereitgestellt, fast 1 Milliarde Euro für die Forschung im Bereich der Impfstoffe. Insofern möchte ich die Behauptung, dass hier – auch im Bereich des Danach – nichts getan würde, entschieden zurückweisen. Hier haben wir viel auf den Weg gebracht.
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Auch im Rahmen des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregierung haben wir für Corona ein entsprechendes Rahmenprogramm für die Erforschung körperlicher und psychosozialer Folgen von Covid-19 auf den Weg gebracht. Wir stärken die entsprechenden Strukturen der Medizininformatik-Initiative und der DZG. Die Ministerin Karliczek hat einen Vorschlag unterbreitet, wie auf europäischer Ebene im Rahmen der Pandemiebewältigung das Danach gestaltet werden soll, hier durch die Einrichtung einer europäischen Agentur für Krisenvorsorge und die Schaffung derartiger Strukturen. Hier ist also einiges zusammen mit Experten auf den Weg gebracht.
Das zeigt, dass die Anträge der Opposition in Bezug auf die Forschung zu der Erkrankung zu spät und leider in einigen Bereichen viel zu früh kommen. Das heißt, die Wissenschaft lernt über die Erkrankung täglich dazu. Aber nach Vorstellung der FDP sollten schon heute Behandlungszentren eingerichtet werden. Als eine ansonsten so staatsskeptische Partei fordern Sie schon wieder eine Struktur, der die Wissensgrundlage momentan noch fehlt.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Insofern müssen wir sagen: Mit diesen Anträgen wollen FDP und Linke schlauer sein als die Wissenschaft. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel: Sie sind es nicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Robby Schlund von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wer hätte das gedacht, dass Politiker durchaus vernünftige Vorschläge machen können? Und damit meine ich nicht Ihre Anträge, die wir gerade diskutieren, sondern den Mediziner und Staatsrat Christoph Hufeland aus dem 19. Jahrhundert. Denn er postulierte: „Vorbeugen ist besser als Heilen!“
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Was uns von der AfD im Geiste mit ihm eint, ist, dass definitiv die Vorbeugung und Prävention einer langwierigen Behandlung von Krankheiten vorzuziehen ist.
({1})
Im Übrigen haben wir diesen Ansatz bereits im Februar letzten Jahres hier an dieser Stelle vorgestellt. Dabei spielen die drei Säulen eines effizienten Pandemiemanagements eine wichtige Rolle, nämlich, erstens, Prävention, zweitens, medikamentöse Behandlung und, drittens, internationale Forschung, zum Beispiel an gemeinsamen Impfstoffen.
({2})
Meine Damen und Herren, versuchen Sie doch erst einmal, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Und wenn Sie das geschafft haben,
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dann können wir gerne über die Folge- und Kollateralschäden diskutieren, die für die Betroffenen wirklich sehr schlimm sind – aber sie werden in einem sehr guten Gesundheitssystem bereits versorgt. Einiges wurde hier auch auf den Weg gebracht.
Umso mehr ist es nicht zu verstehen, wieso bis heute immer noch nicht der Impfstoff Sputnik V zugelassen ist und wieso sich unsere Gesundheitsgremien überhaupt noch nicht mit dem zweiten russischen Impfstoff, EpiVacCorona, befasst haben. Bereits Anfang April wurde von russischer Wissenschaftsseite mitgeteilt, dass dieser Impfstoff gegen alle Mutationen inklusive der südafrikanischen hochwirksam ist, und es ist mittlerweile auch bekannt, dass dieser kaum Nebenwirkungen hat.
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Es zeichnet sich auch ab, dass damit nach einer Covid-Erkrankung deutlich weniger Post-Covid-Symptome auftreten würden.
Nun vermisse ich eigentlich Ihre Anträge hierzu; denn die Menschen haben nicht nur ein Recht auf Freiwilligkeit der Impfung, sondern eben auch ein Recht auf freie Wahl des Impfstoffs und des Impfstofftyps. Würden Sie solche effizienten Anträge hier einbringen, könnten Sie das angeschlagene Vertrauen in die Impfpolitik wieder zurückgewinnen.
Gestern diskutierten wir zum Beispiel über die Entlassungen in den Sana Kliniken. Unter diesem Aspekt muss man sich schon fragen, ob einige der Antragsteller darüber nachgedacht haben, dass es gerade durch ihre Ideen zu einer weiteren Kommerzialisierung und Kapitalisierung im Krankenhausmarkt kommen wird. Deshalb lassen Sie mich mit einem Zitat – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin – von Dr. John Mandrola, Kardiologe aus Amerika und scharfer Kritiker einer Long-Covid-Strategie, enden:
Aus der Perspektive eines Krankenhaus-Betreibers bietet Long-COVID eine Gelegenheit, den Marktanteil zu erhöhen und Geld zu verdienen.
Dass das für Sie, liebe FDP, kein Problem darstellt, wundert mich, ehrlich gesagt, wirklich nicht.
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Aber bei den Kollegen der Linken mache ich mir da so meine Gedanken. Denn bei so vielen links-marktliberalen Sorgen kann ich Ihre Kollegin, Frau Wagenknecht, manchmal durchaus verstehen.
Der Überweisung stimmen wir zu.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön. – Das Wort geht an die Abgeordnete Bettina Müller von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Covid-19 fordert Tote, Covid-19 füllt die Intensivstationen, Covid-19 schränkt unser aller Alltagsleben massiv ein. Wir haben das hier im Hohen Hause schon unzählige Male diskutiert. Covid-19 schränkt aber auch die Gesundheit von vielen Menschen ein, nachdem sie von der eigentlichen Infektion genesen sind, und das über viele Wochen und Monate. Insofern bin ich für die Gelegenheit dankbar, dass durch die heutige Debatte das Augenmerk auch einmal auf die Herausforderungen gerichtet wird, die durch Post Covid bzw. Long Covid entstehen, Herausforderungen, deren Bewältigung unser Gesundheitssystem wohl noch sehr lange beschäftigen wird.
Klar ist: Die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Long-Covid-Symptomen ist Teil des notwenigen Miteinanders bei der Bekämpfung der Pandemie und in einem solidarisch organisierten Gesundheitssystem natürlich selbstverständlich. Und es ist eben nicht so, dass es hier keine Hilfe gibt oder, wie es der Titel des FDP-Antrags suggeriert, Long Covid nicht ernstgenommen wird.
Trotz der vielen ungelösten Fragen der medizinisch weitgehend ungeklärten Zusammenhänge und trotz der dünnen Studienlage – die FDP weist in ihrem Antrag ja selbst darauf hin – haben sich bereits Versorgungsstrukturen entwickelt. Nahezu alle Universitätskliniken – das ist schon angeklungen – haben inzwischen sogenannte Post-Covid-Ambulanzen eingerichtet. Bundesweit gibt es mehr als 40 solcher Ambulanzen, in denen Patientinnen und Patienten im Anschluss an stationäre Covid-19-Behandlungen betreut werden. Sie kümmern sich aber auch um Menschen, die nach milden Infektionsverläufen – das ist ja das Fatale an diesem Syndrom – Long-Covid-Symptome aufweisen. Hinzu kommen die niedergelassenen Ärzte, die ihre Covid-Patientinnen und ‑Patienten selbst behandeln oder mit den Ambulanzen sehr eng verzahnt sind. Auch die Rehaträger halten inzwischen entsprechende Kapazitäten vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Long Covid wird wirklich sehr ernst genommen. Wir sind da alle am Ball. Es gibt bereits etablierte Strukturen. Die Finanzierung ist grundsätzlich gegeben. Im ambulanten Bereich sind die Leistungen zur Behandlung von Long Covid durch den EBM, einheitlicher Bewertungsmaßstab, gedeckt. Die Ambulanzen, vor allem die Hochschulambulanzen, sind finanziert. Projektfinanzierungen, zum Beispiel über den Innovationsfonds, kommen noch hinzu. Und laut Auskunft der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind die Ambulanzen außerhalb der Hochschulen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen bereits im Gespräch über die Finanzierungsfragen.
Gleichwohl: Man muss die Situation sorgfältig im Auge behalten, genau prüfen, wo möglicherweise Nachregelungsbedarf in Struktur- und Finanzierungsfragen besteht, wie sich die Fallzahlen und die Dauer der Behandlungen entwickeln, welche Therapiemöglichkeiten sich als geeignet erweisen und wo es zu Verdrängungsprozessen – das ist auch ein ganz wichtiger Punkt – zulasten anderer Patienten in den Ambulanzen kommt.
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Hier ist neben der Politik vor allem auch die Selbstverwaltung gefragt. Der G‑BA muss Vorgaben machen, die medizinischen Fachgesellschaften müssen Leitlinien für die Behandlung weiterentwickeln, und hier muss auch die Forschung ihren Beitrag leisten. Überall ist man hier, aus meiner Sicht, wirklich auf einem guten Weg.
Die FDP hat zu ihrem Antrag eine Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss anberaumt, die für Anfang Juni angesetzt ist. Ob ihre Vorschläge, wie zum Beispiel die Schaffung eines neuen § 116c SGB V, tatsächlich geeignet sind, die Versorgung von Long-Covid-Patientinnen und ‑Patienten zu verbessern, das werden wir dann im Austausch mit den relevanten Akteuren und eingeladenen Sachverständigen sicher klären können.
Ich danke Ihnen allen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollegin Müller. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Dr. Achim Kessler.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Menschen sind in der Coronapandemie durch ihren Beruf einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie von den Regierungsfraktionen diese Personen, dass Sie unseren Antrag mit keiner Silbe erwähnen; offensichtlich ist Ihnen das Schicksal dieser Menschen egal.
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Zu diesen Menschen gehören Pflegerinnen und Pfleger, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Busfahrerinnen und Busfahrer, Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, Lehrerinnen und Lehrer, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie halten mit einem hohen persönlichen Risiko für uns alle das gesellschaftliche Leben am Laufen. Die Linke sagt allen diesen Menschen: Danke für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement!
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Aber, meine Damen und Herren, das reicht nicht. Beim Dank allein darf es nicht bleiben. Wir sind verpflichtet, sie vor Ansteckung zu schützen und für den Fall einer Krankheit auch abzusichern.
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Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie endlich für verbindliche, gesetzlich geregelte Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz. Und vor allem: Setzen Sie diese Maßnahmen dann auch mit wirksamen Kontrollen durch.
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Es darf doch nicht sein, dass diese oft schlecht bezahlten Beschäftigten das volle Gesundheitsrisiko tragen, während die Manager und die Anteilseigner in Einzelbüro und Homeoffice die Gewinne einstreichen.
Und ich fordere Sie auf: Sorgen Sie endlich dafür, dass Covid-19 für alle Berufe als Berufskrankheit anerkannt wird.
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Es ist gut, dass Covid-19 bei den Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege als Berufskrankheit anerkannt ist. Aber was ist mit den anderen? Was ist mit den Busfahrerinnen und Busfahrern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern? Meine Damen und Herren, auch sie verdienen die bestmögliche Absicherung.
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Die Anerkennung als Berufskrankheit ist notwendig, damit Betroffene bei Langzeitfolgen die Leistungen der Berufsgenossenschaften erhalten. Die gehen nämlich weit über die Leistungen der Krankenkassen hinaus und beinhalten beispielsweise auch Entschädigungsrenten.
Inzwischen haben sich 3,5 Millionen Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Coronavirus infiziert. In Wahrheit werden es wahrscheinlich noch viel mehr sein. Jede zehnte dieser Personen leidet inzwischen an Langzeitfolgen der Erkrankung. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein umfassendes Programm zur Erforschung der Krankheit, ihrer Langzeitfolgen und der Behandlungsmöglichkeiten aufzulegen. Die US-Regierung hat dazu ein Programm mit einem Volumen von 1 Milliarde Dollar aufgelegt. Warum ist das in Deutschland nicht möglich?
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Alle Betroffenen müssen gut und umfassend versorgt werden. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, schnell zusätzliche Kapazitäten zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Long Covid zu schaffen. Dazu gehören spezialisierte Rehakliniken und Long-Covid-Ambulanzen; denn die ersten Rehakliniken melden schon jetzt, dass sie an ihrer Kapazitätsgrenze sind.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Ich finde es wirklich schade, dass Sie unsere Vorschläge wieder zurückweisen. Vielleicht greifen Sie sie in einem halben Jahr auf. Aber eigentlich müsste dieses Auf-Sicht-Fahren der Bundesregierung jetzt endlich ein Ende haben. Ich fordere Sie auf: Handeln Sie, und warten Sie nicht wieder, bis es zu spät ist.
Vielen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar für die beiden Anträge, die die Gelegenheit schaffen, hier auf die Probleme von Long Covid hinzuweisen und auch auf die Versorgungslücken, die wir derzeit in Deutschland an dieser Stelle haben. Dafür bin ich dankbar.
Ich wundere mich ein bisschen, dass diese ganzen Themen, die wir jetzt zur Sprache bringen, heute Morgen in der Aktuellen Stunde und in der Diskussion über Geimpfte und Nichtgeimpfte und die Verfassungseingriffe, Grundrechtseingriffe keine Rolle gespielt haben.
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Gerade die Folgen von Long Covid sind ja ein wichtiger Grund, warum wir den Gesundheitsschutz so verdammt ernst nehmen müssen.
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Das an die Adresse der beiden Antragsteller.
Insgesamt sehen wir, dass die Folgen von Long Covid durchaus massiv sein können, und wir können im Moment auch noch nicht wirklich überschauen, wie lange sie eigentlich anhalten werden. Wenn wir von neurologischen Ausfallerscheinungen sprechen, wenn wir von Depression sprechen, wenn wir davon sprechen, dass Menschen Konzentrationsstörungen haben, wenn sie Kopfschmerzen haben, dauerhaft und in einem ganz großen Umfang, dann muss man sagen: Das sind schon sehr ernstzunehmende Beeinträchtigungen für diese Menschen, und in der Tat ist für viele noch nicht klar, wie lange das andauern wird. Sie sind deshalb auf eine gute Versorgung angewiesen.
Und da, Herr Albani und Frau Müller, muss ich sagen: Nein, es steht nicht zum Besten um die Forschung. Ja, es gibt Forschungsprogramme. Dabei geht es aber um die Akutversorgung von Infizierten und ganz wenig darum, wie die Nachsorge insgesamt aussehen muss und wie insgesamt mit Long Covid umgegangen werden muss. Das ist nicht Teil dieser Programme. Wir haben das hier abgefragt, und ich persönlich muss sagen: Ich war mehr als erschrocken, als ich die Antworten auf unsere Kleine Anfrage erhalten habe, wie wenig die Bundesregierung weiß und wie wenig sie dafür tut, das Wissen tatsächlich systematisch zu erweitern. Da besteht Handlungsbedarf.
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Genauso besteht Handlungsbedarf bei den vielen Ambulanzen, die es an den Unikliniken in der Tat ja schon gibt. Die sind aber nicht durchfinanziert, sondern in der Regel kommt es zu einem Verschieben von einem Arbeitsfeld zu einem anderen Arbeitsfeld. Man hat einfach einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Dann entstehen aber natürlich Lücken in diesem Bereich. Insofern stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit der Versorgung von circa 300 000 Menschen, die bis jetzt betroffen sein werden, um? Das ist nicht geregelt, und deshalb werden wir sehr deutlich darüber sprechen müssen.
Vor einem möchte ich dringend warnen: Wir haben mit den ME/CFS-Erkrankten ganz massive und abschreckende Beispiele dafür, was passiert, wenn sich dieses Gesundheitswesen einer Erkrankung nicht stellt.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Das sind Menschen mit einem Fatigue-Syndrom, die seit Jahrzehnten auf eine gute Versorgung warten. In diesem Sinne kann uns das nur Warnung sein, und gleichzeitig muss das Auftrag sein, für eine gute Versorgung all dieser Gruppen zu sorgen.
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Danke schön. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Erwin Rüddel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele Covid-19-Patienten klagen auch Wochen und Monate nach Überwindung der akuten Krankheitsphase über anhaltende Symptome. Während die meisten Infizierten nach Überwindung von Fieber, Husten und Schnupfen Gott sei Dank beschwerdefrei in ihr gewohntes Leben zurückkehren können, haben zahlreiche Covid-19-Patienten weiterhin erhebliche Probleme.
Das ist mehrfach angesprochen worden, aber ich denke, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass man diese Probleme wie Müdigkeit, Atemnot, Muskelschmerzen, Schlaf- und Sehstörungen, Gedächtnis- und Konzentrationsschwächen bis hin zu Bewusstseinsstörungen erkannt hat. Zu chronischer Müdigkeit kommen in vielen Fällen langanhaltende Störungen des Geruchssinns hinzu.
Deshalb bin ich dankbar, dass wir diese Diskussion heute hier führen. Wir haben die Möglichkeit, einerseits darzustellen, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, und andererseits aber auch zu zeigen, wo noch Lösungen gesucht werden müssen. Aktuelle Studien legen den Schluss nahe, dass auch nach einer überstandenen Infektion eine Impfung nach sechs Monaten in jedem Fall sinnvoll ist – auch, um das Risiko solcher Symptome bei Genesenen zu reduzieren.
In Deutschland werden derzeit bereits an verschiedenen Orten die Spät- und Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung erforscht, zum Beispiel an der Uniklinik Köln. Davon profitieren auch die Menschen, die, wie es Frau Klein-Schmeink angesprochen hat, unter dem Chronischen Erschöpfungssyndrom leiden. Ich denke, auch die muss man mit in die Erforschung und auch in die Versorgungsplanung einbeziehen. An mehreren Kliniken wurden inzwischen Post-Covid-Ambulanzen eingerichtet, etwa am Universitätsklinikum Frankfurt und in Jena.
Bundesweit steht die Gesundheitsministerkonferenz in einem ständigen Austausch über die Folgen der Pandemie. Das Robert-Koch-Institut sammelt kontinuierlich alle Erkenntnisse zu Langzeit- und Spätfolgen. Aber natürlich wird der bilaterale Wissensaustausch mit unseren Partnerländern ebenfalls intensiviert, wie auch der internationale Austausch über die WHO. Bei all diesen Bemühungen geht es selbstverständlich auch darum, verstärkt adäquate Versorgungsangebote für Long-Covid-Patientinnen und -Patienten in den Blick zu nehmen. Dabei dürfen wir die Menschen mit ähnlichen Erkrankungen nicht aus dem Blick verlieren.
Wir werden im Ausschuss auf Grundlage der vorliegenden Anträge beraten und sicherlich ergänzende Maßnahmen beschließen. Es ist vielleicht banal, aber die besten Möglichkeiten, Spät- und Langzeitfolgen auszuschließen, sind die Primärprävention und das Impfen.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Deshalb möchte ich hier noch einmal ganz deutlich machen: Impfen schützt Leben, und deshalb müssen wir Impfskeptiker und Impfgegner hier im Land überzeugen, dass sie sich impfen lassen. Das hilft.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Das Wort geht an Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich betrachte die hier eingebrachten Anträge als Unterstützung dessen, was wir bereits auf den Weg gebracht haben, und ich finde es gut, dass wir uns im Rahmen der vierten Coronadebatte hier heute auch mit diesem Thema beschäftigen; denn jedes Schicksal ist wichtig.
Sicherlich kennen wir den einen oder anderen Fall auch aus unserer unmittelbaren Umgebung, dass Monate nach einer Coronaerkrankung immer noch Atemnot existiert, die Haare ausfallen und viele andere Nebenerscheinungen sich im täglichen Leben zeigen und das tägliche Leben und die Teilhabe an der Arbeitswelt erschweren. Es ist unsere Aufgabe und unser Auftrag, dafür zu sorgen, dass wir genügend Forschungsunterlagen haben, dass möglichst viele und umfassende Therapie- und Reha-Angebote gemacht werden usw., und dem stellen wir uns.
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Dass wir uns dem stellen, zeigt die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Grünen. Man sagt ja so schön: Lesen bildet. – Ich empfehle, die Antworten zu lesen. Ich bin keine Regierungssprecherin, will aber doch sagen: Die Antworten auf diese Kleine Anfrage geben durchaus einen Einblick in das, was bisher schon auf den Weg gebracht worden ist.
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Ich finde, im Bereich der Versorgung, im Bereich der Forschung und auch in Bezug auf unsere Aufgabe als Parlament haben wir uns da ganz gut auf den Weg gemacht.
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Egal ob die Charité, die Uniklinik Köln, das Universitätsklinikum Freiburg oder die Gesundheitsforschungszentren: Alle beteiligen sich. Vielleicht geschieht das noch nicht in genügendem Umfang, und vielleicht haben wir auch die Vernetzung noch nicht ausreichend sichergestellt. Das mag unsere Aufgabe sein; dieser wollen wir uns gerne annehmen. Wir haben uns aber auf den Weg gemacht, seitdem die ersten Nacherkrankungen bzw. Folgeerscheinungen offenbar geworden sind, und das ist auch gut und richtig so. Ich finde, das darf man nicht kleinreden. Man sollte sich immer weiter anspornen, und das wollen wir auch gerne tun.
Ich will jetzt hinsichtlich der Versorgung gerne auf einen Punkt aufmerksam machen, der im FDP-Antrag zu finden ist. Dort steht, dass Sie im SGB V hinter dem § 116 auch einen § 116c einfügen wollen. Es gibt bereits den § 116b, nach dem die Möglichkeit der Vernetzung von ambulanten und stationären Angeboten besteht. Es macht mich irgendwie ein bisschen – wie soll ich sagen? – ratlos, dass Sie ausgerechnet für Corona einen Sonderparagrafen – den § 116c – einbauen wollen, um einen besonderen Leistungsanspruch generieren zu können. Das ist nicht einsehbar, weil man die Erkrankung Corona durchaus in § 116b aufnehmen kann, und man kann auch Wert darauf legen, dass nicht sämtliche Leistungserbringer im Krankenhauswesen davon profitieren, sondern die zugelassenen Krankenhäuser, die sich jetzt schon auf den Weg machen.
Ich sage: Lesen Sie die Antwort auf die Kleine Anfrage. Ich sage Ihnen gerne die Drucksachennummer: 19/28419. Dann kommen wir da zusammen und können gemeinsam auf dieser Grundlage die nächsten Schritte miteinander planen.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Zum Abschluss der Debatte bekommt Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe hier nicht nur als Abgeordneter und Gesundheitspolitiker, sondern ich stehe hier auch als Betroffener. Ich habe mich am 3. Januar bei der Sterbebegleitung meiner Mutter mit Corona infiziert und habe leider auch meine ganze Familie infiziert.
Meine Familie und ich haben Spätfolgen, und ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, wie es sich anfühlt, wenn man sich jeden Tag mit diesem Thema aktiv auseinandersetzen muss. Wir alle hatten unterschiedliche Symptome, und jeder von uns hat auch in der Spätfolge andere Symptome, außer meiner Mutter; sie ist nämlich verstorben.
Von daher möchte ich schon darauf hinweisen – und natürlich auch bitten, dies anzuerkennen –, dass das ein großes Thema ist. Ich höre hier natürlich auch auf die Wissenschaft. Wenn Frau Professor Behrends aus München, die für den Bereich Kinder- und Jugendmedizin zuständig ist, sagt: „Ja, wir machen die Feststellung, dass zwischen 5 und 7 Prozent der Kinder und Jugendlichen hier Symptome aufweisen, die in die Richtung ME/CFS gehen“, und wenn Frau Professor Scheibenbogen von der Charité in Berlin sagt: „Ja, wir rechnen damit, dass 2 Prozent hier mit Spätfolgen belegt sind, die in diese Richtung gehen“, dann ist es unser politischer Auftrag, das ernst zu nehmen. Und deshalb sind die beiden Anträge gut und auch sinnvoll.
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Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass wir bereits Strukturen haben und dass nicht alles schlecht ist. Dass wir hier natürlich in Forschung und Weiterbildung investieren müssen, das ist klar. Das, was wir jetzt aktuell haben, genügt nicht. Und deshalb ist es notwendig, dass wir unsere niedergelassenen Ärzte, unsere Hausärzte, unsere Fachärzte und natürlich auch die Ärzte in den Kliniken hierzu weiterbilden und dass wir sie fortbilden.
Es ist aber auch wichtig, dass wir bestehende Einrichtungen, die wir in Reha-, in Kurkliniken, in Heilbädern haben, hier natürlich wieder mit ins Boot holen. Und wir brauchen hier auch eine Differenzierung mit Blick auf die Erwachsenen-Reha für Long Covid, aber natürlich ebenso in der Kinder- und Jugendmedizin eine Systematik, wo man nicht sagt: Kinder sind kleine Erwachsene. – Das ist wichtig. Hier ist man in Bad Füssing unterwegs, indem man gerade ein interdisziplinäres Post-Covid-Rehabilitationskonzept mit multimodalem Behandlungsansatz entwickelt.
Als ich auf Reha kam und gepostet habe, dass ich erst einmal fünf Wochen weg bin, haben sich 7 500 Menschen gemeldet, die mich um Hilfe gebeten haben und gesagt haben: Wir haben weder einen Ansprechpartner, noch haben wir eine Hilfe oder hier jemanden, der uns Informationen gibt. Das hat mich dazu bewogen, dass wir am 21. Mai einen Selbsthilfeverein gründen; er nennt sich ELIAS.
Ich freue mich, wenn ich sehe, was wir da an Zulauf haben. Ich danke Ralph Brinkhaus und Alexander Dobrindt, dass sie mir versprochen haben, das Ganze auch hier im politischen Alltag mit einzubringen. Ich glaube, in diese Richtung können wir niederschwellig etwas leisten. Das ist auch unsere Aufgabe. Ich lade Sie alle dazu ein. Herzlichen Dank, wenn Sie hier aktiv werden!
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Kollege Irlstorfer. – Ich beende die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Hass und Hetze im Netz, das ist immer noch eine große Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaft und vor allem für viele Bürgerinnen und Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren. Und wir haben leider allzu viele schwere Straftaten erleben müssen, bei denen sich gezeigt hat, wie schnell aus Worten Taten werden. Und deshalb ist für uns klar: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz war eine ganz wichtige Regelung. Aber wir müssen die Lage im Netz im Auge behalten, und wir können hier Fortentwicklungen betreiben. Das tun wir mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lassen Sie uns dem so zustimmen.
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Einer der Hauptkritikpunkte war, es könne zu Overblocking führen. Da möchte ich nach vier Jahren NetzDG ganz klar festhalten: Es gibt in Deutschland keine Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und damit das auch so bleibt, damit wir das sichern, haben wir jetzt hier zahlreiche Verbesserungen am NetzDG vorgesehen. Wir wollen zum Beispiel, dass sich die sozialen Netzwerke an die Vorgaben halten, und wir wollen, dass ihre Berichte noch mehr Informationen hergeben und dass sie vor allem transparenter und vergleichbarer werden.
Für uns ist auch klar, dass es für Nutzer einfach sein muss, Beschwerden über rechtswidrige oder als rechtswidrig erkannte Inhalte zu übermitteln. Das geht nicht, wenn die Meldewege zu kompliziert sind oder wenn sie auf den Seiten der sozialen Netzwerke sehr versteckt sind. Und auch hier kommen wir jetzt zu Verbesserungen; denn es ist klar: Das soziale Netzwerk muss von vermeintlich rechtswidrigen Inhalten schnell Kenntnis bekommen, damit es reagieren kann.
Und wir wollen, dass Streitigkeiten zwischen Nutzern und den sozialen Netzwerken schnell geklärt werden. Deswegen führen wir hier die Möglichkeit einer außergerichtlichen Streitbeilegung ein. Das kann für Akzeptanz sorgen, und vor allem ist es sowohl für das soziale Netzwerk als auch für die Nutzerinnen und Nutzer von Interesse, wenn Streitigkeiten im Rahmen einer solchen außergerichtlichen Streitbeilegung schnell und im besten Falle auch einvernehmlich beigelegt werden können.
Wenn ein Inhalt zu Unrecht gelöscht wurde, dann gibt es als Mittel für den Nutzer hiergegen die sogenannte Wiederherstellungsklage. Das heißt, dass Nutzer, deren Inhalte zu Unrecht gelöscht wurden, vor Gericht gehen können und das Netzwerk auf Wiedereinstellung ihres Inhaltes verklagen können. Das ist ein ganz wichtiges Mittel.
Aber wir wollen, dass solche Klagen auch in Deutschland geführt werden können. Daran hakte es in der Vergangenheit oft, wenn das soziale Netzwerk seinen Sitz nicht in Deutschland hatte. Und deswegen wollen wir ausdrücklich klarstellen, dass der Zustellungsbeauftragte, den wir ja genau zu diesem Zweck in das Gesetz hineingeschrieben haben, auch für Wiederherstellungsklagen zuständig ist. Auch das ist eine ganz wichtige Regelung, damit Rechtsschutz für Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland stattfinden kann.
Im parlamentarischen Verfahren haben wir uns noch zwei weitere sehr gute Verbesserungen vorgenommen und schlagen sie hier zur Abstimmung vor. Zum einen haben wir geregelt, dass es das Gegenvorstellungsverfahren, also ein Beschwerdeverfahren gegen das soziale Netzwerk, nicht nur dann gibt, wenn das soziale Netzwerk aufgrund von Verstößen gegen die gesetzlichen Vorschriften gelöscht hat, sondern dass es dieses Gegenvorstellungsverfahren auch dann geben soll, wenn das Netzwerk wegen vermeintlichem Verstoß gegen die eigenen AGB eine Löschung vorgenommen hat. Da erweitern wir also auch die Schutzmöglichkeiten für die Nutzerinnen und Nutzer.
Schließlich haben wir auch eine Forschungsklausel vorgesehen. Das heißt, dass es für wissenschaftliche Forschung einen Auskunftsanspruch gibt. Forscherinnen und Forscher haben einen Rechtsanspruch auf Auskunft gegenüber einem sozialen Netzwerk. Das halten wir vor allem deshalb für wichtig, weil die politische Debatte ja ganz deutlich zunehmend von den Diskussionen in sozialen Netzwerken geprägt wird. Deshalb ist es für die Allgemeinheit schon von Interesse, zu erfahren, wie die Entscheidungsprozesse dort organisiert sind, wie Dynamiken entstehen. Das zu erforschen, ist ganz wichtig.
Also, es sind ganz viele wichtige Fortentwicklungen unseres Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Stimmen wir dem so zu.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Kollege Fechner. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Stephan Brandner.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist die Woche der Meinungsfreiheit, gerade jenes Grundrechts also, das in der letzten Zeit von den Regierenden – und damit meine ich Sie alle; denn Sie alle regieren ja irgendwie, irgendwo und schon immer mit – unter tatkräftiger Mithilfe der üblichen Verdächtigen aus der „Krampf gegen rechts“-Industrie sturmreif geschossen wurde.
Meine Damen und Herren, es steht im Grundgesetz:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern … Eine Zensur findet nicht statt.
So eindeutig, so schön, so kurz, so prägnant formuliert es unser Grundgesetz, und so wurde es mir und wahrscheinlich vielen von Ihnen bereits in der Schule als aktuell geltendes Grundrecht beigebracht und damals auch täglich gelebt; ich erinnere mich noch gut daran.
Inzwischen aber ist der Wortlaut und auch der Geist dieses wichtigen Grundrechts in Deutschland bloße Theorie – Vergangenheit, ein Fall für den Geschichtsunterricht.
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Die gelebte Wahrheit inzwischen: soziale Ächtung, Ausgrenzung, Verlust der Arbeitsstelle, Berufsverbote, wenn man sich wagt, aufzumucken. Staatlich finanzierte Steckbriefe in der Nachbarschaft, Boykottaufrufe, Verwüstung von Versammlungslokalen, brennende Autos, brennende Häuser, wenn man sich wagt, von der veröffentlichten Meinung abzuweichen.
Nicht alles geschieht durch direkte staatliche Maßnahmen wie beispielsweise durch zunehmende Aktivitäten der Landesmedienanstalten, die Jugendschutz und Qualitätssicherung behaupten, in Wahrheit aber zensieren, oder durch mit staatlichen oder Parteivertretern bestückte Rundfunk-, Verwaltungs- oder sonstige Räte des ja angeblich so staatsfernen Rundfunks, aus denen dann schon mal gefordert wird, „Tatort“-Ermittler rauszuschmeißen, weil sie sich kritisch gegenüber der Regierungspolitik geäußert haben.
Und Hilfstruppen gibt es ja auch noch: Hilfstruppen der Antifa und ihre Anhängsel. Nahezu sämtliche, auch gewalttätigen Akteure der durch Hunderte, Tausende staatlicher Programme geförderten Antifa und ihrer Anhängsel sind unter Merkel sozialisiert. Sie sind aufgewachsen mit dem Wissen: Kann ich nichts und will ich Bambule, dann gehe ich in den „Krampf gegen rechts“. – Irgendwo im Umfeld von Amadeu-Antonio-Stiftung oder anderen Flaggschiffen oder Beibooten der Zivilgesellschaft findet sich immer ein warmes Plätzchen, um linke demokratiefeindliche Gelüste auszuleben.
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Meine Damen und Herren, der erste große Sündenfall hinsichtlich der Zensur, der Unterdrückung von unbequemen Meinungen, war und ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das nichts anderes ist als ein Netzwerkzersetzungsgesetz. Freiheiten wurden eingeschränkt, Zensur privatisiert.
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Zwar ist nicht alles ganz so schlimm geworden, wie ursprünglich von uns befürchtet; aber schlimm genug. Für Sie von den Einheitsparteien nicht schlimm genug; denn das Hass-und-Hetze-Gesetz verschärfte den Druck nochmals. – Ich vermisse eigentlich Frau Lambrecht. Wo ist denn die? Na ja. – Demnächst kommt das Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz. Das lässt aus meiner Sicht sehr Böses erahnen: weitere Eingriffe in die Meinungsfreiheit, weitere Schikanen der Bürger, weitere Millionen und Milliarden an die linke, ansonsten in den Arbeitsmarkt nicht vermittelbare Klientel.
Meine Damen und Herren, eine Meinung frei zu äußern, ist im Deutschland des Jahres 2021 höchst gefährlich, ohne dass es in irgendeiner Form um Strafrecht ginge oder gesetzwidrig gehandelt würde. Meinungen, die regierungskritisch sind, werden – zumindest staatlich geduldet – gelöscht, zensiert, verboten, wobei sich der Staat eigentlich aktiv für die Meinungsfreiheit einsetzen sollte. Aber was will man erwarten von einer Bundesregierung, die seit etwa 16 Jahren von einer Autokratin geleitet wird, die sich zudem mit Jasagern in Exekutive und Medien umgeben hat.
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Langer Rede kurzer Sinn: Was wir brauchen, ist ein Mehr an Meinungsfreiheit und ganz sicher nicht ein Weniger. Deshalb lehnen wir das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – sowohl so, wie es bisher vorliegt, als auch so, wie es geändert werden soll durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung – ab. Einzig akzeptabel sind die Zustellvorschriften – darauf wurde hingewiesen –; aber die retten das Gesetz auch nicht.
Gleiches gilt übrigens auch für den Entschließungsantrag der Grünen, der zwar ein bisschen herumwerkelt,
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aber in der Sache sehr substanzlos ist. Aber das ist ja ein Markenzeichen von den Grünen und – Frau Künast, Sie lächeln so charmant – insbesondere von Ihnen.
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Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit und wünsche noch einen schönen Nachmittag.
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Danke. – Das Wort hat Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Woche der Meinungsfreiheit. Sie werden erleben: Die wird gelebt, selbst wenn großer Quatsch erzählt wird, wie eben zum Beispiel vom Kollegen Brandner, der behauptete, seine Rede hätte wenigstens kurzen Sinn, obwohl da gar kein Sinn drin war. Dennoch wird das hier feilgeboten,
({0})
und wir können das sicherlich auch in den sozialen Medien verfolgen.
Meine Damen und Herren, ein Gesetz wird vier Jahre nach der Inkraftsetzung verbessert. Es gab eine Reihe von Diskussionen hier im Hause, in der Gesellschaft, in den Fachkreisen. Es wurde das Wort „Overblocking“ im Mund geführt. Auch „Einschränkungen der Meinungsfreiheit“ haben wir gehört; das hören wir bei einigen wenigen heute immer noch. In Wahrheit ist das alles so nicht eingetreten. Wir haben diese vier Jahre nicht tatenlos verstreichen lassen, sondern haben uns intensiv mit dem Gesetz – das war ja eigentlich ein weltweiter Prototyp – auseinandergesetzt, es evaluiert und ein gut funktionierendes Gesetz noch besser gemacht.
Wir haben einen Dreiklang etabliert, nämlich den Dreiklang aus erhöhter Transparenz der Netzwerke, verbessertem Rechtsschutz für Nutzer und einer Öffnung der Netzwerke für Wissenschaft und Forschung. Das war der Union besonders wichtig. Wir hatten da einige Widerstände im Ministerium zu überwinden, aber das ist uns schließlich gelungen.
Die Änderungen werden maßgeblich zum Schutz der Meinungsfreiheit beitragen und Persönlichkeitsrechte stärken und nicht schwächen. Dazu ergänzen wir die Informationspflichten der Anbieter sozialer Netzwerke und erhöhen den Informationsgehalt und insbesondere auch die Vergleichbarkeit der Transparenzberichte. Uns geht es um die Nutzerfreundlichkeit der Meldewege. Im Vorgriff hat es eine Reihe von sozialen Netzwerken schon etabliert. Probieren Sie es aus! Es funktioniert, und es funktioniert sehr einfach. Das ist wichtig, um dem Ganzen Effektivität zu verleihen.
Wir stärken im Weiteren die Position der Nutzer gegenüber Bedrohungen, Beleidigungen, Hass oder Hetze, Diffamierungen, Herabsetzungen, Herabwürdigungen, Fake News. All das sind nämlich Dinge, die nicht zur Meinungsfreiheit gehören, sondern selbige im Kern bedrohen. Es sind – der Kollege Fechner hat richtigerweise darauf hingewiesen – in diesem Land aus Worten Taten geworden. Wir haben Getötete zu beklagen, die Opfer von Hass und Hetze im Netz geworden sind. Das lassen wir nicht zu.
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Eine wichtige Neuregelung wird, wie gesagt, im § 5a erfasst. Damit sorgen wir für den Zugang der Wissenschaft. Diese Forschungsklausel sichert eben gerade den Datenzugang, und das ist in Zeiten wichtig, in denen soziale Netzwerke im Übrigen nicht nur in den politischen Diskurs, wie es Kollege Fechner eingangs auch ausführte, sondern in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingreifen. Diese Netzwerke werden immer wichtiger. Deswegen muss die öffentliche Hand, aber auch die Öffentlichkeit in Sonderheit wissen, wie es funktioniert und wie wir gegebenenfalls – es wird heute nicht das letzte Mal sein, dass wir ans Netzwerkdurchsetzungsgesetz gehen – dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz noch weiter verbessern.
Meine Damen und Herren, ich will noch auf letzte Punkte kommen. Wir verbessern und stärken die Befugnisse des Bundesamtes für Justiz. Wir schaffen die Voraussetzung für einen Austausch auf Augenhöhe mit den Jugendmedienschützern der Länder. Wir sorgen für Staatsferne. Wir binden insofern das Konzept der regulierten Selbstregulierung in dieses Gesetzeswerk ein usw. usf.
Meine Damen und Herren, abschließend: Dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz, erst recht in seiner verbesserten Fassung, setzt international Maßstäbe. Die Welt guckt auf uns, und sie hat festgestellt: Global agierende Netzwerke können mit einer klugen, zurückhaltenden, abgewogenen nationalen Regulierung besser gemacht werden und eben genau zu den Hütern der Meinungsfreiheit werden. – Das machen wir. Deswegen stimmen wir zu. Ich bitte Sie, ebenfalls zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Müller. – Das Wort geht an Dr. Jürgen Martens von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat, Hass und Hetze haben in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Es ist eine Verrohung festzustellen gewesen, vor allen Dingen in den sogenannten sozialen Netzwerken und auf Plattformen, die einen bisweilen erschrecken lässt. Was mich auch erschreckt, ist die Unfähigkeit von AfD-Vertretern, einzusehen, dass sie einen gut Anteil an dieser Verrohung des Klimas in Deutschland haben.
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Vier Jahre nach Einführung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes beschäftigen wir uns jetzt mit seiner Änderung: mit weiteren Angabepflichten, mit der Möglichkeit, Gegenvorstellungen einzubringen oder eine Schlichtungsstelle anzurufen, wenn man sich zu Unrecht von Maßnahmen eines Betreibers betroffen sieht.
Allerdings fehlen nach wie vor etliche Schritte, die nach unserem Dafürhalten notwendig sind, um effektiv gegen Hass und Hetze vorzugehen. Messengerdienste bleiben nach wie vor außen vor, obwohl über sie ein Großteil von wirklich widerlichen Meldungen verbreitet wird. Die Möglichkeit der Gegenvorstellung ist zwar schön und gut, aber die Entscheidung darüber, ob dem nachgekommen wird, bleibt am Ende beim Betreiber. Auf das Schlichtungsverfahren kann man sich einlassen, man muss es aber nicht; denn es ist ein freiwilliges Verfahren.
Der Gesetzentwurf beseitigt nicht die grundsätzliche Kritik, die die FDP von Anfang an an den Vorhaben geäußert hat. Es gibt tatsächlich Fälle von Overblocking, auch wenn sie zahlenmäßig nicht so ins Gewicht fallen. Aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass es zu Overblocking gekommen ist, etwa wenn Anbieter von Plattformen Bilder löschen, weil auf ihnen auf einer 500 Jahre alten Renaissance-Marmorstatue ein männliches Geschlechtsteil in Marmor abgebildet ist.
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Es bleibt auch bei den Systemfehlern. Wir haben eine effektive Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz verlangt. Dazu gehört die Möglichkeit der Erstattung einer Onlineanzeige bei Polizei oder Staatsanwaltschaft. Wir wollen gegenüber Plattformbetreibern einen Anspruch auf Auskunft zum Absender strafbarer Inhalte und einen Anspruch auf Auskunft gegenüber Providern, um Identitätsfeststellungen durchführen zu können. Wir wollen, dass Zivilverfahren zu Auskunft und Schadensersatz schneller geführt werden, etwa in IT- und digitalbasierten Verfahren. Wir wollen auch, wie gesagt, die bisher unzureichende Einbeziehung von Messengerdiensten geändert wissen. Sie werden verstehen, dass wir deshalb diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen können.
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Vielen Dank, Kollege Martens. – Das Wort geht mit Niema Movassat an die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die Koalition diese Woche wieder serviert, ist eine Frechheit.
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Wir haben über den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, kurz NetzDG, vor über einem Jahr erstmals diskutiert. Sie hatten also fast ein Jahr Zeit, seitdem wir uns das letzte Mal mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben. Und was machen Sie? Sie schicken uns am Montag einen umfangreichen Änderungsantrag zum Entwurf des Änderungsgesetzes, den Sie anscheinend nicht mal richtig Korrektur gelesen haben. Das merkte man unter anderem daran, dass die Verweise zwischen Begründungsteil und Beschlussteil nicht passten. So geht schlechte Gesetzgebung; aber anders sind wir das von dieser Koalition auch nicht gewohnt.
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Wie soll denn die Öffentlichkeit bei Ihnen überhaupt noch hinterherkommen? Ihr Änderungsantrag bezieht sich auf drei verschiedene Fassungen des NetzDG, und Sie haben es nicht mal für nötig gehalten, eine Synopse vorzulegen, um für die Öffentlichkeit Transparenz herzustellen. Wer so handelt, will offensichtlich schlechte, intransparente Gesetzgebung betreiben. Das schadet dem Ansehen dieses Hauses.
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Das Ganze ist umso dramatischer, als dass das NetzDG einen tiefen potenziellen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt. Wer Gesetze macht, die das Herz des Grundgesetzes tangieren, der muss sorgfältiger arbeiten. Alles andere ist inakzeptabel.
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Das können die wenigen positiven Verbesserungen nicht aufwiegen.
Sie ermöglichen zwar der Wissenschaft einen Zugang zu Daten über rechtswidrige Beiträge in sozialen Netzwerken, über Meldungen und über Sperrungen und damit Einblicke in das Phänomen Hass im Netz, leider aber müssen die Forscher mit den Netzwerken aushandeln, wie viel sie für diese Daten zu bezahlen haben.
Außerdem erweitern Sie das Gegenvorstellungsverfahren, also die Möglichkeit der Beschwerde gegen die Löschung eines Beitrags – das ist im Ansatz gut –, aber durch die weiterhin vorgesehene Berichtspflicht über den Einsatz von Software zur Erkennung verbotener Inhalte wird normalisiert und anerkannt, dass Computer darüber entscheiden, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht.
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Das Wirrwarr aus drei verschiedenen, potenziell parallel verlaufenden Verfahren bei vermeintlich rechtswidrigen Inhalten – erstens das Verfahren vor einer anerkannten Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung, zweitens das Gegenvorstellungsverfahren und drittens der eröffnete Zivilrechtsweg – ist nicht behoben worden. So schafft man Rechtsunsicherheit in der Bevölkerung.
Das NetzDG delegiert auch nach der heute zu beschließenden Änderung weiterhin ureigene Aufgaben des Staates, namentlich die Rechtsdurchsetzung, an private, profitorientierte Konzerne. Zudem bleibt die Ausleitung von Nutzerdaten an das Bundeskriminalamt bestehen. Dies ermöglicht eine riesige, zentralisierte Datensammlung über das Internetverhalten Hunderttausender Menschen.
Alles in allem haben wir es hier mit verschwindend geringen Verbesserungen an einem schlechten Gesetz zu tun. Deshalb wird Die Linke heute auch nicht zustimmen.
Danke schön.
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Danke, Kollege Movassat. – Das Wort geht mit Renate Künast an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines muss man sagen: Ich glaube, die meisten hier denken, dass die Zukunft unserer Demokratie im Netz entschieden wird. Das mag sich stark anhören, aber ich bin davon überzeugt. Warum? Es stellt sich jetzt die Frage, wie in dieser zentralen Infrastruktur dieser unserer Gesellschaft miteinander umgegangen wird, ob wir in der Lage sind, das, was im analogen Leben gilt, auch, wenn auch in etwas anderer Form, mit anderen Werkzeugen, ins digitale Leben zu übertragen. Wir müssen das machen, weil wir mittlerweile wissen, dass Menschen unterwegs sind, die Hass, die Hetze, die Vorbereitung von Terrorismus im Netz betreiben, die Leute in eine Blase holen, die dann im analogen Leben wirklich mit Waffen losziehen und Menschen ermorden oder gefährden. Deshalb sage ich: Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden.
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Das haben wir in den Fällen von Christchurch und Halle sowie im Fall der Ermordung von Herrn Lübcke, dem Regierungspräsidenten, gesehen, meine Damen und Herren. Und ich muss an dieser Stelle leider sagen: Der Aufgabe, die daraus erwächst, wird diese Bundesregierung nicht gerecht. Sie verliert sich irgendwie in einer Vielzahl von Maßnahmen, es geht hin und her. Sie macht Vorschläge, die verfassungsrechtlich nicht standhalten oder hängenbleiben.
Um nicht nur negativ zu sein, sage ich: Ich bin ja froh, dass jetzt ein paar Dinge passieren. Übernommen werden Dinge, die wir in alten Anträgen, aber auch schon 2017 bei der Schaffung des Gesetzes aufgeführt haben. Wir haben schon damals gesagt, wir brauchen einfachere Meldewege. Wir haben schon damals gesagt, dass die Transparenzberichte so gestaltet werden müssen, dass man sie auch lesen und vergleichen kann, meine Damen und Herren. Gut, endlich kommt etwas.
Aber manches ist noch nicht zu Ende gedacht.
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Warum? Erstens – einige Kolleginnen und Kollegen haben es schon gesagt –: Ein vereinfachter Auskunftsanspruch, so wie er jetzt formuliert ist, reicht noch nicht für eine bessere zivilrechtliche Rechtsdurchsetzung; und ich weiß, wovon ich rede. Zweitens. Wir brauchen Eilverfahren für Betroffene. Was bringt es denn, wenn du bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung zwei, drei Jahre brauchst, Pirouetten drehst, und während dieser Zeit ist dieser ganze Hass oder die Fakeinformation über dich im Netz?
Wir brauchen mehr Forschung. Wir müssen mehr Forschung ermöglichen, meine Damen und Herren. Ich würde sagen, dass Ihre Vorlage, über die wir jetzt diskutieren, von der Realität längst überholt ist,
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und ich will Ihnen auch sagen, warum. Es fehlen noch viele Dinge. Das werbebasierte Geschäftsmodell der Plattform wird gar nicht angegriffen. Der Schutz der Nutzer/-innen ist viel zu wenig da. An die Algorithmen gehen wir gar nicht ran, aber Algorithmen treiben die Polarisierung doch voran. Wir brauchen endlich eine ganzheitliche Strategie gegen Hass und Hetze im Netz, die tatsächlich die Plattformen in die Pflicht nimmt, ihren Beitrag zum Schutz der Betroffenen zu leisten, statt nur Geld zu verdienen.
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Meine Damen und Herren, mein letzter Satz über das, was auch noch offen ist. Erstens. Ich stehe nicht im Verdacht, ein gutes Wort über Trump zu sagen, aber dass das Oversight Board von Facebook – nicht unabhängig – entscheidet, ob jemandem grundsätzlich der Account gesperrt wird, ist nicht in Ordnung, ja? Das muss man anders regeln bzw. dafür braucht es Regeln.
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Mein zweites Beispiel.
Das letzte Beispiel hoffe ich.
Ja. – Dass es jetzt ein Instagram für Kinder geben soll, lässt mir eher die Haare zu Berge stehen. Nein, meine Damen und Herren, wir können nicht die Möglichkeit eröffnen, dass hier alle an alle Kinder rankommen und Kinder mehr gefährdet werden. Wir brauchen endlich einen ganzheitlichen Ansatz; mehr als das, was Sie heute hier vorlegen.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hass und Hetze im Netz kennen wir alle. Frauen bekommen sie mehr zu spüren als Männer; Menschen, die sich politisch engagieren, gerade auf der kommunalen Ebene, mehr als solche, die die Netzwerke nur in der Freizeit nutzen. Menschen mit Migrationshintergrund bekommen Hass und Hetze stärker zu spüren als Deutsche. Hass und Hetze im Netz – das ist ein Gift, das den demokratischen Diskurs zerstört; ein Gift, das den Austausch der Gedanken, Ideen und Meinungen behindert; ein Gift, das geeignet ist, die Grundfesten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung anzugreifen.
Wir wollen, dass man auch im Netz gut, in fairer Auseinandersetzung und sachlich diskutiert. Dafür müssen wir mehrere Voraussetzungen schaffen. Eine ist, dass die Gesellschaft, dass wir alle die Hauptverantwortung haben. Wir müssen gemeinsam dafür eintreten, dass wir eine gute Debatte im Netz haben. Das Wirksamste, wenn eine Diskussion bei Facebook oder Instagram ausartet, ist, dass sich Leute dagegenlehnen, dass sie sagen: „So geht es nicht, so kann man nicht diskutieren“; dass man mit Argumenten dagegenhält und auch ein klares Stoppschild zeigt. Dafür wurden in den letzten Jahren tolle Initiativen entwickelt: HateAid zum Beispiel macht einen tollen Job in der Beratung derjenigen, die von Hass und Hetze betroffen sind, oder auch die ganz neue Initiative „Stark im Amt“, die sich an Kommunalpolitiker richtet.
Das Zweite ist, dass wir als Rechtsstaat Hass und Hetze nicht einfach hinnehmen dürfen. Deshalb haben wir 2017 das NetzDG auf den Weg gebracht, und ich kann dem Kollegen Müller nur zustimmen: Das ist ein Erfolgsmodell. Der Digital Services Act der Europäischen Kommission orientiert sich genau an unserem NetzDG,
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und mit den Änderungen, die wir heute auf den Weg bringen, verbessern wir noch mal die Verfahren, verbessern wir die Transparenz und auch die Meldewege, die es ermöglichen, dass der Einzelne sich tatsächlich beschweren kann, wenn seine Rechte verletzt wurden. Und: Für die Meinungsfreiheit stellen wir sicher, dass sich auch derjenige beschweren kann, der meint, dass ein Beitrag von ihm fälschlicherweise gelöscht worden ist.
Das sind Maßnahmen, die zu einem sehr ausgewogenen Verhältnis zwischen all denjenigen beitragen, die sich im Netz bewegen. Sie bestimmen auch die Abstufungen im Rahmen der regulierten Selbstregulierung: dass die Plattform bei klaren Fällen nämlich schnell agieren muss, dass aber natürlich auch der Weg zu den Gerichten weiterhin offen ist. Das ist ein gutes, abgewogenes Verfahren, das auch international Maßstäbe setzt.
Mir ist wichtig, dass wir mit diesen Änderungen heute auch den Forschern den Zugang zu den Daten ermöglichen; denn wir müssen wissen, was in den Netzwerken passiert, damit wir auch wirksame Maßnahmen ergreifen können, wenn Sachen aus dem Ruder laufen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Das werden wir in Zukunft weiter tun und beobachten. Mit diesem Gesetz legen wir die Grundlagen dafür. Deshalb ein herzliches Dankeschön für die guten Beratungen. Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam gegen Hass und Hetze aufstehen.
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Danke sehr. – Das Wort geht mit Dr. Jens Zimmermann an die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsextremismus ist und bleibt die größte Gefahr für unsere offene und demokratische Gesellschaft. Das bestätigt zuletzt die vor zwei Tagen vorgestellte Statistik zur politisch motivierten Kriminalität in Deutschland mit einem Höchststand seit ihrer Einführung.
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– Ja, lesen Sie auch mal ganz. Der rechte Balken ist ziemlich hochgekommen, und es ist ja auch kein Wunder, dass die AfD hier sofort aus der Haut fährt. Ich würde sagen: Erwischt, Herr Kollege.
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Genau aus diesem Grund müssen wir gegen jede Form von Extremismus,
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aber insbesondere gegen den Rechtsextremismus vorgehen, und das tun wir: Wir handeln nämlich. Wir haben mit der Verabschiedung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes 2017 einen wichtigen Schritt getan. Wir haben mit dem Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität die Plattformen dazu verpflichtet, strafrechtlich relevante Inhalte auch an das BKA zu melden – Löschen allein ist nämlich zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen –, und wir entwickeln heute und hier das Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiter.
Aber wir nehmen auch die Kritik ernst. Von Anfang an wurde das NetzDG begleitet von Sorgen vor Overblocking. Die Erfahrung und die Evaluierung haben diese Sorge aus unserer Sicht nicht bestätigt. Ich persönlich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mache da immer den Hans-Georg-Maaßen-Test. Der geht ganz einfach: Sie gehen auf den Twitter-Account des neuen Stars am Himmel der Thüringer CDU und schauen sich an, was der da so in die Weltgeschichte schreibt. Wenn Sie feststellen, dass das da immer noch steht, dann ist das zwar eine ziemliche Zumutung, aber Overblocking ist es eben nicht, meine Damen und Herren.
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Wir haben in diesem Gesetz wichtige Neuerungen und Ergänzungen festgeschrieben. Wir stärken die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer durch das Wiederherstellungsverfahren, wir geben der Wissenschaft die Chance, auf belastbare Daten zuzugreifen und diese auszuwerten, und wir vereinfachen auch das Melden rechtswidriger Inhalte.
Meine Damen und Herren, bei diesen Diskussionen ist es aber auch sehr, sehr wichtig, dass wir klar unterscheiden: Was ist aktuelle Gesetzeslage in Deutschland, und was sind die sogenannten Hausregeln der sozialen Netzwerke? Vorhin wurde hier berichtet, dass das Bild einer antiken Statue geblockt wurde, weil da ein männliches Geschlechtsorgan zu sehen war. Das hat aber exakt nichts mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu tun, sondern etwas mit den Hausregeln dieser Plattformen,
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die irgendwie prüde amerikanisch geprägt sind. Das ist ein Problem, meine Damen und Herren. Auch dass der ehemalige Präsident Trump gesperrt wurde – die Kollegin Künast hat es angesprochen –, hat nichts mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu tun, aber es hat etwas mit den Hausregeln von Twitter und von Facebook zu tun. Das ist ein Punkt, den wir natürlich auch sehr genau ins Auge fassen müssen; denn die Probleme liegen nicht hier bei den gesetzlichen Regelungen in Deutschland, sondern sie liegen bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, bei den Hausregeln der sozialen Netzwerke. Diese Unterscheidung, meine Damen und Herren, ist sehr, sehr wichtig.
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Lassen Sie mich zum Abschluss deshalb trotzdem eines noch mal klarmachen: Wir brauchen einen wirksamen Schutz von Meinungs- und Informationsfreiheit genauso wie die wirksame, grundrechts- und rechtsstaatskonforme Durchsetzung dieses Rechtes hier von uns allen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Zimmermann. – Als letzten Redner der Debatte hören wir Alexander Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Wir erinnern uns mal zurück: 2017, als wir diese Debatte begonnen haben, hat die Bundesrepublik Deutschland als erste Nation den Versuch unternommen, einen gewissenhaften Ausgleich mit Augenmaß herzustellen, einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Meinungsfreiheit im Netz einerseits und der Zielsetzung, dass das Netz eben nicht zum rechtsfreien Raum werden darf, andererseits.
Das Interessante, meine Damen, meine Herren, ist doch folgender Umstand: Diese Zielsetzung – das Netz darf nicht zum rechtsfreien Raum werden – garantiert am Ende die Meinungsfreiheit im Netz; denn wenn ich meine Meinung im Netz nicht schreiben kann, ohne dass ich Drohungen erhalte, die dann nicht mehr rauszubekommen sind, ohne dass ich einen Shitstorm bekomme, der dort nicht mehr zu entfernen ist, weil er schon durch die ganze Welt gegangen ist, dann ist es eben um die Meinungsfreiheit im Netz schlecht bestellt.
Ich verstehe ja jeden, der Kritik anbringt. Ich verstehe jeden, der vor allem das hohe Gut der Meinungsfreiheit hochhält. Aber dann hätte ich schon gern ein ganz klares Bekenntnis von Ihnen genau zu diesem Zusammenhang. Das betrifft den Kollegen von der Linken und den Kollegen von der AfD sowieso; denn wenn wir die Debatte führen, dann wünsche ich mir, dass wir sie bitte ehrlich führen. Es ist doch schon der Satz nicht richtig – ich korrigiere es jedes Mal –, dass mit dem Gesetz jetzt plötzlich Zensur privatisiert wird, dass eine staatliche Aufgabe privatisiert wird.
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Entschuldigung, es war in den 80er-Jahren schon so, dass jeder Zeitungsverlag vor der Veröffentlichung eines Leserbriefs hat prüfen müssen, ob dort Beleidigungen enthalten sind, weil er einfach gewissenhaft schauen muss: Wie gehe ich mit dieser Bühne um?
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Der zweite Punkt, der mir wichtig ist, betrifft das Overblocking. Gehen wir doch einmal zurück ins Jahr 2017. Da hieß es: Das ist das Ende der Meinungsfreiheit; es wird massenhaft zu Overblocking kommen. – Jetzt erleben wir eine kleinlaute Opposition im Rechtsausschuss – Kollege Müller muss schon lachen –, wo es heißt: Ja, es gibt kein Overblocking, aber man kann zumindest nicht beweisen, dass es keins gibt. – Das ist jetzt Ihre Rückzugsposition. Wenn wir uns schon zum Grundrecht der Meinungsfreiheit bekennen, dann, meine Damen, meine Herren, bitte ehrlich und mit allen Konsequenzen.
Ich glaube, dass wir heute genau diese Erfolgsgeschichte fortschreiben. Wir schaffen Transparenz, wir schaffen mehr Benutzerfreundlichkeit, und wir etablieren ein Gegenvorstellungsverfahren. Ich glaube, dass wir deswegen auch wieder Maßstäbe setzen und letztendlich ein vielbeachtetes Beispiel geben, wie man Meinungsfreiheit in Einklang bringen kann mit dem Ziel, dass das Netz eben kein rechtsfreier Raum sein darf.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute gehen wir einen weiteren Schritt gegen die Wegwerfgesellschaft. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf regeln wir endlich, dass bei Einwegkunststoffverpackungen Rezyklate eingesetzt werden. Das bedeutet, dass recyceltes Plastik zum Einsatz kommt. Wir werden ein verpflichtendes Angebot einführen. Danach muss es bei To-go-Produkten immer auch Mehrwegprodukte geben, sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher die Wahl haben und die Produkte nicht den direkten Weg in den Abfalleimer finden, sondern in den Kreislauf zurückgeführt werden. Als Drittes erweitern wir die Pfandpflicht für bestimmte Einwegflaschen und Dosen, sodass wir auch hier die Kreisläufe schließen und am Ende zu sortenreineren Produkten kommen. Wir haben in der letzten Zeit viele dieser Punkte hier im Haus behandelt, und ich glaube, wir sind hier insgesamt auf einem guten Weg.
Erlauben Sie mir aber, dass ich, weil dies heute wohl meine letzte Rede im Deutschen Bundestag sein wird,
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noch ein paar Worte dazu finde. Ich bin jetzt fünf Legislaturperioden Mitglied im Deutschen Bundestag gewesen, und für mich war einer der wichtigsten Punkte, als ich hier in den Deutschen Bundestag gekommen bin, nicht am Sessel zu kleben, sondern mich ersetzbar zu machen. Für mich war es wichtig, einen selbstbestimmten Schlussstrich zu ziehen, und deswegen habe ich mich entschieden, nicht mehr für den Deutschen Bundestag zu kandidieren und noch mal etwas anderes zu machen, bevor ich 50 werde.
Ein weiteres Prinzip war, dass ich angesichts der vielen Vorurteile, die den Abgeordneten entgegenschlagen, mit gutem Beispiel vorangehen wollte. Ich bin seit 19 Jahren gläserner Abgeordneter, und alles das, was ich vorgelebt habe, ist jetzt, nach 19 Jahren, Bestandteil der Regelungen des Deutschen Bundestages geworden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie es war, als ich vor 18 Jahren abends privat mit dem Taxi gefahren bin. Da hatte ich einen typischen Berliner Taxifahrer. Der hat erst mal geschimpft wie ein Rohrspatz auf diese fetten, faulen Bundestagsabgeordneten, die nichts können, die keine Ahnung haben und sich nur selber die Taschen vollstopfen. So nach fünf Minuten hat er mich dann gefragt: Und, was machen Sie so beruflich in Berlin? – Da habe ich gesagt: Wissen Sie, ich habe einen der am schlechtesten angesehenen Berufe.
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Nur Versicherungsvertreter und Totengräber haben ein schlechteres Ansehen als meine Berufsgruppe. – Dann habe ich ihn raten lassen, was ich denn so mache. Er kam nicht drauf. Zum Schluss habe ich ihm ein ordentliches Trinkgeld gegeben, wollte keine Quittung und habe gesagt: Ich bin einer dieser fetten, faulen Bundestagsabgeordneten, von denen Sie gerade gesprochen haben.
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Ich finde, gerade wenn ich die Zwischenrufe hier von der rechten Seite höre: Wir alle haben eine Verpflichtung, diese Demokratie zu verteidigen und gegen all diese Vorurteile anzukämpfen. Ich würde mir wünschen, dass wir im demokratischen Spektrum des Deutschen Bundestages alles dafür tun, dass die Demokratie und damit auch der Zusammenhalt und der Respekt in unserer Gesellschaft gestärkt werden.
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Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Danke sagen; denn ohne die wären wir als Abgeordnete auch ganz wenig wert. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen Danke sagen. Ich will an der Stelle sagen: Der Deutsche Bundestag ist nicht „House of Cards“; das ist nicht meine Erfahrung der letzten 19 Jahre. Vielmehr habe ich über Parteigrenzen hinweg viele Menschen in der Zusammenarbeit kennengelernt, mit denen ich gut befreundet bin. Ich gebe zu: Am Anfang war für mich hier im Deutschen Bundestag alles noch sehr schwarz-weiß, und ich habe viel dazugelernt. Ich glaube auch, der Anteil der Leute, mit denen man abends kein Bier trinken gehen will, ist in allen Fraktionen ungefähr gleich verteilt.
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Ich möchte mich auch bei meinen beiden Ministerinnen, meiner Fraktion und meiner Partei bedanken, weil sie mir zum Beispiel das ermöglicht haben, was uns alle im Deutschen Bundestag umtreibt, nämlich etwas zu gestalten, etwas zu verändern. Die Wahrheit ist doch, dass wir hier ganz selten selber alleine etwas hinkriegen, sondern das ist immer eine Gemeinschaftsarbeit. Aber ich durfte die Koalitionsverhandlungen führen, gerade im Bau- und Stadtentwicklungsbereich, und ich bin mir deswegen sicher, dass ich ein paar Spuren hinterlassen habe: beim Thema Mietpreisbremse, bei der Erhöhung der Mittel der Städtebauförderung, beim sozialen Wohnungsbau, bei den Premiumprojekten des Städtebaus, die wir eingeführt haben. Es ist schon gut, wenn man sieht, dass nach 19 Jahren ein paar Dinge bleiben, die man ganz gut gemacht hat.
Ich möchte mich deswegen bei Ihnen, bei euch allen ganz, ganz herzlich bedanken für 19 wirklich spannende und interessante Jahre. Ich höre heute noch nicht auf. Ich kämpfe auch noch weiter. Aber aller Voraussicht nach ist das meine letzte Rede. Ich muss sagen: Das Allermeiste hier hat mir Spaß gemacht, auch weil ich viele interessante Debatten führen durfte und weil ich viele interessante und auch nette Kolleginnen und Kollegen an meiner Seite hatte, die zwar oft mit mir gestritten haben; aber im Kern war das Schönste, dass man abends doch ein Bier trinken gehen konnte und sich dann wieder ganz gut vertragen hat.
In dem Sinne hoffe ich, dass das auch bald wieder möglich ist. Bleiben Sie alle gesund! Herzlichen Dank für diese 19 Jahre.
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Herzlichen Dank, lieber Parlamentarischer Staatssekretär. Das Präsidium bedankt sich im Namen des Parlaments für die gute Zusammenarbeit und wünscht Ihnen alles Gute, auch wenn es heute noch nicht Ihr letzter Arbeitstag war, vielleicht aber Ihre letzte Rede. Wir hoffen noch auf anstrengende drei Wochen, die wir hier zusammen verbringen werden. Vielen Dank!
Als Nächstes hat Andreas Bleck von der AfD-Fraktion das Wort.
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Warte es ab. – Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Pronold! Bei der Abschiedsrede soll man großzügig und milde sein, und deswegen übersehe ich den Angriff auf die AfD. Auch ich wünsche Ihnen für Ihre private und berufliche Zukunft alles Gute.
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Früher war die Union im Wahlkampf für weniger Belastungen und Einschränkungen. Heute ist sie für mehr Belastungen und Einschränkungen. Die Tinte auf dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war noch nicht getrocknet, da wollte die Union das Klimaschutzgesetz bereits verschärfen, also mehr Steuern und Abgaben. Jeder, der ohne Scheuklappen herumläuft und sich keinen Baerbock als Kanzler aufbinden lässt, merkt: Wir leben nicht in normalen, sondern in unnormalen Zeiten. Diese Entwicklung macht auch vor der Abfallwirtschaft keinen Halt.
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Mit ihrem Gesetzentwurf entschärft die Bundesregierung die erweiterte Herstellerverantwortung nicht. Es war grotesk, die Hersteller an den Reinigungskosten für illegal entsorgte Abfälle zu beteiligen. Nun verweisen Union und SPD in ihrem Entschließungsantrag darauf, dass die Europäische Kommission immer noch keine Leitlinien zur Beteiligung der Hersteller an den Reinigungskosten veröffentlicht hat. Doch die richtige Reaktion darauf heißt nicht Umsetzung dessen, sondern Abschaffung dessen, werte Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Verbraucher ihre Kunststoffabfälle illegal entsorgen, gehören nicht die Hersteller, sondern die Verbraucher bestraft. Das Verursacherprinzip muss endlich wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
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Statt über mehr Herstellerverantwortung sollten wir also über mehr Verbraucherverantwortung reden. Im Unterschied zu Ihnen ist unser Verbraucherbild das Bild eines mündigen Verbrauchers – eines Verbrauchers, der verantwortungsbewusst mit der Umwelt umgeht, eines Verbrauchers, der zwar aufgeklärt, aber nicht indoktriniert werden möchte. Alles in allem können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung trotz Einführung eines Mindestrezyklatanteils und Erweiterung des Einwegkunststoffpfands nicht zustimmen.
Kommen wir zu den Grünen. Diese fordern in ihrem Antrag unter anderem, die EU-Abgabe für nicht recycelte Kunststoffverpackungen auf die Hersteller umzulegen. Das lehnen wir allein schon deshalb ab, weil die Hersteller diese Kosten wiederum auf die Verbraucher umlegen würden.
Ohnehin ist dieses Instrument denkbar ungeeignet, bedenkt man, wo es herkommt. Diese EU-Abgabe sollte nur das Haushaltsloch füllen, das durch den Brexit entstand. Dabei ging es nie um den Umweltschutz, sondern einzig und allein um das Budgetrecht. Die Europäische Union hat sich eine weitere Eigenmittelkategorie erschaffen, um einen weiteren Schritt in Richtung Staatswerdung zu unternehmen. Denn das wichtigste Recht eines Staates gegenüber seinen Bürgern ist die Steuererhebung. Die Europäische Union ist jedoch kein Staat und darf es auch niemals werden.
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Aus diesen Gründen kann es nur eine Forderung geben: Diese Eigenmittelkategorie muss abgeschafft werden.
Beim ganzen Klein-Klein dürfen wir das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Die Kunststoffvermüllung der Meere, die in der Abfallwirtschaft ein wichtiger Grund für die Verschärfung des Umweltrechts ist, muss vor allem in Afrika und Asien bekämpft werden. Die Fakten sind hier eindeutig: Die zehn stärksten mit Kunststoffabfällen belasteten Flüsse der Welt liegen in Afrika und Asien. Die 20 Staaten mit der höchsten Kunststoffvermüllung sind für vier Fünftel der Kunststoffabfälle in den Meeren verantwortlich. Doch unter diesen 20 Staaten befindet sich nicht ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union. Das heißt, wir müssen doch auch endlich mal den Nebenkriegsschauplatz verlassen und auf den Hauptkriegsschauplatz gucken.
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Wir wollen die Abfallwirtschaft in eine echte Kreislaufwirtschaft überführen, um Ressourcen so lange wie möglich im Umlauf zu halten. Das wollen wir mit Mitte und Maß erreichen, mit Angeboten und Anreizen, mit Verbraucheraufklärung und Pfandsystem. Wir wollen auch die Vermüllung der Umwelt bekämpfen, um Menschen, Tiere und Pflanzen zu schützen. Das wollen wir auch mit Innovationen und Investitionen zur rechten Zeit am rechten Ort erreichen. Dafür haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt. Denn egal ob in Europa, Afrika oder Asien, wir wollen, so die Union, gut und gerne leben. Die AfD ergänzt: aber normal.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Bleck. – Das Wort geht an Björn Simon von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das jetzt nicht kommentieren, was der Kollege von der AfD teilweise gesagt hat. Normalerweise sind wir qualitativ bessere Reden von Ihnen gewohnt. Aber das war doch sehr eindeutig.
Verpackungen sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. In vielen Fällen, zumindest im Einwegverpackungsbereich, sind Verpackungen oft überflüssig und umweltfeindlich. Bei Getränken sind Verpackungen allerdings unverzichtbare Voraussetzungen. Ein Blick auf unser deutsches Pfandsystem zeigt an dieser Stelle ein tolles Erfolgsmodell. Wir erzielen Rückgabequoten von bis zu 99 Prozent. Es ist ein funktionierendes und vor allem vom Verbraucher akzeptiertes Rücknahmesystem, das uns zeigt, wie Kreislaufwirtschaft erfolgreich funktionieren kann. Eine Vielzahl von Vorgaben der Europäischen Kommission erfüllen wir – teilweise übererfüllen wir – bereits heute.
Mit der vorliegenden Novelle des Verpackungsgesetzes setzen wir diesen erfolgreichen Weg heute fort. Fruchtsäfte, Fruchtsaftschorlen und alkoholische Mischgetränke in Einwegkunststoffgetränkeflaschen oder auch Dosen fallen ab 2022 unter die Pfandpflicht. Während der parlamentarischen Beratungen in den vergangenen Wochen ist mir unter anderem aufgefallen, dass wir gerade im mittelständischen Bereich und bei regionalen Unternehmen Schwierigkeiten bei diesem ambitionierten Zeitplan bekommen werden.
Ein Beispiel aus meiner Heimat sind die Produzenten von Äppelwoi, Hochdeutsch: Apfelwein. Sie dürften in Einweggetränkeflaschen und Dosen abgefüllte Getränke schon ab Januar nicht mehr verkaufen. Aber auch bereits eingekaufte oder gelagerte Getränkeverpackungen dürften nicht mehr zum Zwecke des Verkaufs befüllt werden und müssten ohne Einsatz vernichtet werden. Das kann nicht im Sinne unserer Politik und nicht im Sinne von Ökologie sein. Daher haben wir in unserem gemeinsamen Änderungsantrag eine Übergangsfrist bis Juli 2022 verankert, um gerade unseren regionalen Getränkeproduzenten entgegenzukommen. 2024 folgen dann auch Behältnisse für Milch und Milcherzeugnisse in die Pfandpflicht.
Diese Übergangsfrist spielt vor allem vor dem Hintergrund von Hygienefragen eine bedeutende Rolle. Wir brauchen an dieser Stelle ein sauberes, ein durchdachtes System, das von den Verbraucherinnen und Verbrauchern akzeptiert und auch angenommen wird. Der klare Hinweis aber an dieser Stelle an die gesamte Branche und auch an den Handel: Wenn Sie es früher können als 2024, dann setzen Sie es bitte um und warten nicht, bis das Gesetz in Kraft tritt.
Ein weiterer wegweisender Schritt zur Stärkung unseres funktionierenden Rezyklatmarktes in Deutschland und Europa ist die erstmalige Festschreibung von Mindestrezyklatanteilen. Die Mindestquoten setzen wir übrigens eins zu eins aus der europäischen Vorgabe um. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, sind nach wie vor überzeugt, dass eine Festschreibung von Mindestquoten nur auf europäischer Ebene sinnvoll ist.
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Durch unseren gut funktionierenden Rezyklatkreislauf, den es zweifelsohne in Deutschland gibt, erreichen wir die europäischen Vorgaben bei Mindestquoten von 25 Prozent ab dem Jahr 2025 und 30 Prozent ab dem Jahr 2030 bereits heute. Rund 94 Prozent aller PET-Getränkeflaschen in Deutschland werden recycelt. Die Verwertungsquote liegt hier bei fast 100 Prozent. Der geschlossene Wertstoffkreislauf im PET-Bereich macht uns in eindrucksvoller Weise vor, wie Kunststoffprodukte umweltschonend und verantwortungsbewusst eingesetzt werden können.
Dieser geschlossene Kreislauf funktioniert aber auch deshalb so gut, da es sich hier um einen sehr reinen Rezyklatkreislauf im PET-Bereich handelt. Dabei teilen wir aber auch die Sorge der Recycler, dass es durch die Ausweitung der Pfandpflicht zu einer möglichen Verunreinigung des Kreislaufes kommen könnte. Daher fordern wir als Koalitionsfraktionen die Bundesregierung ganz bewusst auf, dies genau zu beobachten und sich im Rahmen der anstehenden Überarbeitung der europäischen Verpackungsrichtlinie dafür einzusetzen, Additive und Barrierebeschichtung in Kunststoffverpackungen, wie wir sie aktuell noch haben, die das Recycling erheblich beeinträchtigen können, europaweit zu verbieten.
Vor dem Recycling kommt natürlich die Abfallvermeidung. Durch die Coronapandemie und ihre Folgen können Restaurants, Bistros, Cafés ihre Speisen und Getränke in den meisten Fällen leider nur to go anbieten, eine Maßnahme, die aus der Not geboren ist und ohne die die Gastronomie in Deutschland nicht hätte überleben können. Oft werden die Produkte in Einwegverpackungen angeboten, die direkt nach dem Verzehr verunreinigt im Müll landen und nur schlecht oder gar nicht recycelbar sind.
Mit einer verpflichtenden Mehrwegalternative geben wir den Kunden zukünftig eine bewusste Auswahlmöglichkeit. Mehrwegverpackungen werden als gängige Alternative etabliert, und Einwegverpackungen sollen eingespart werden. Für die Union gilt: Lieber recyceln als entsorgen und lieber vermeiden als recyceln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der vorliegenden Novelle des Verpackungsgesetzes schreiben wir den Erfolgskurs der Kreislaufwirtschaft in Deutschland fort. Ich danke allen, die an der vorliegenden Novelle mitgearbeitet haben: unserer umweltpolitischen Sprecherin Marie-Luise Dött mit ihrem kompletten Büro und meinem Kollegen aus der SPD-Fraktion, lieber Michael Thews, für die intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Umweltministerium sage ich herzlichen Dank.
Lieber Kollege Pronold, nach Ihrer letzten Rede als Parlamentarischer Staatssekretär an diesem Pult treten Sie bei der kommenden Bundestagswahl nicht mehr an. Ich kann zwar nur über die auslaufende Wahlperiode berichten, aber mein Eindruck wurde von meinen erfahrenen Kollegen bestätigt: Die Zusammenarbeit mit Ihnen war stets und ist bis heute vertrauensvoll und transparent. An vielen Punkten von Gesetzgebungsverfahren haben Sie mit Ihrer fachlichen Expertise für den notwendigen Kompromiss und für ein partnerschaftliches Arbeitsklima gesorgt. Im Namen der Unionsfraktion möchte ich Ihnen dafür danken, Sie um Fortführung dieses guten Verhältnisses bis zur Bundestagswahl bitten und Ihnen bereits heute für die Zeit nach der Bundespolitik alles Gute wünschen. Wir bitten natürlich für unseren Antrag um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Simon. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Judith Skudelny.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz ist ein klassisches Beispiel für eine freiwillige Verschlimmbesserung der Situation in Deutschland. Ausgangspunkt ist eine Richtlinie der Europäischen Union, die verschiedene Ideen und Gedankengänge zur Verbesserung des Recyclings in der EU vorlegt. Dabei haben sie sich in den unterschiedlichen Ländern umgeschaut und gesehen: Mensch, Deutschland hat ja ein funktionierendes Pfandsystem! Mensch, da kommen ja sogar Rezyklate raus, die so gut sind, dass ihr Preis teilweise über dem des Virgin Materials, des Originalmaterials, liegt.
Da könnten wir ja sagen: Das ist super! Wir könnten uns selber auf die Schulter klopfen und sagen: Deutschland hat etwas richtig gemacht. Wir sind Vorbild! Die anderen machen das nach. – Aber nein, was machen wir? Wir setzen noch eins obendrauf. Wir nehmen Milchprodukte und Saftflaschen mit in die Pfandpflicht rein. Zum einen ist das ein Problem für die Hygiene im Lebensmittelhandel und zum anderen ein Problem für die hohe Rezyklatqualität, die dadurch droht zu sinken. Meine Damen und Herren, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wir können doch nicht, weil wir die Vorbilder waren, jetzt zum Nachreiter werden, weil wir denken, wir müssten besser sein als alle anderen, und dabei aber alles schlimmer machen.
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Zumindest den drohenden Qualitätsverlust hat die Union gesehen; die Koalitionsfraktionen haben dazu eine Entschließung vorgelegt. Herr Simon, Sie haben gesagt: Wir haben jetzt einen Auftrag, es in der EU besser zu machen. – Ganz ehrlich – ich habe es vorhin reingebrüllt –: Erst national etwas freiwillig zu verbocken, um dann der EU einen Auftrag zu geben, das wieder zu reparieren, kann doch nicht wirklich der Ernst dieser Koalition sein.
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Das Ganze ist zwar ein bisschen Murks, aber passt irgendwie zu dem Gesetz, das insgesamt auch ein klein wenig Murks ist. Manche Maßnahmen sind einfach zu pauschal, um tatsächlich überall eine positive Umweltwirkung zu haben. Andere Maßnahmen sind bürokratisch, unnötig oder teilweise sogar unmöglich. An dieser Stelle sei gesagt – mir fehlt leider die Zeit, alles zu erklären –: Ein Blick in das Gesetz, vor allem ein Blick der Verbände, hat gezeigt, dass Ihr Gesetz in vielen Punkten Deutschland nicht besser macht, sondern maximal stagnierend oder schlechter.
Wir als Serviceopposition haben allerdings trotzdem einen Vorschlag dafür, was man besser machen könnte: Nach Ihrem Gesetz – also dem von der Koalition, von der Regierung – ist eine Glasflasche mit einem Plastiketikett eine Plastikflasche, für die Ausnahmen gelten. In unserem Änderungsantrag haben wir festgestellt und festgehalten, dass eine Glasflasche mit Plastiketikett eine Glasflasche mit Plastiketikett bleibt.
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Wenn Sie unserem Antrag zustimmen, macht es zwar das Gesetz nicht besser, aber deutlich richtiger, als es heute ist.
Zwei Sätze noch zu dem Antrag der Grünen. Liebe Grünen, wenn ihr wirklich Plastikmüll vermeiden wollt, dann wäre ein erster vernünftiger Schritt, nicht den Dauer-Lockdown der Regierung zu unterstützen, sondern dort, wo ihr Verantwortung habt, vernünftige hygienische Maßnahmen zu beschließen, damit der Einzelhandel wieder öffnen kann. Das würde nicht nur Verpackungsmüll vermeiden, sondern auch CO2 einsparen.
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Herr Pronold – ich hoffe, Frau Präsidentin lässt es zu –, zwei Sätze noch zu Ihnen. Sie werden mir verzeihen: Alle Ihre Prestigeprojekte würde die FDP-Fraktion wahrscheinlich am liebsten rückabwickeln. An diesem Pult habe ich viel gesprochen, aber wenig Nettes zu den von Ihnen vorgelegten Gesetzen. Trotz allem würde ich jederzeit mit Ihnen ein Bier trinken. Ich möchte mich herzlich für den engagierten Schlagabtausch mit Ihnen und die guten Gespräche danach bedanken. Ich werde Sie vermissen, und ich glaube, das Parlament wird einen wirklich engagierten und guten Abgeordneten weniger haben.
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Herzlichen Dank, Kollegin Skudelny. – Das Wort geht an Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder behandeln wir im Bundestag ein Novellchen des Verpackungsgesetzes, und die Union verhinderte leider notwendige Verbesserungen. Die Verpackungsmengen werden weiter steigen, und die privaten Entsorger, die Dualen Systeme, werden die Abzocke der kommunalen Entsorger fortsetzen, und wir Bürgerinnen und Bürger müssen mit höheren Müllgebühren dafür aufkommen.
Zumindest bei Glas, Plaste und Blech wird durch die Einführung eines Einwegpfandes auf alle Getränkeverpackungen zukünftig weniger Müll in der Umwelt landen. Auf alle Getränkeverpackungen? – Nein! Tetrapacks und Verpackungen mit weniger als 0,1 Liter Fassungsvermögen bleiben außen vor. Da ist die Gefahr doch offensichtlich, dass zukünftig noch mehr Fruchtsäfte oder andere Getränke in Pappkartons angeboten werden und diese weiterhin die Umwelt zerstören. Mit diesem Gesetz konterkarieren Sie die Müllvermeidung. Wir als Linke fordern eine Pfandpflicht für alle Getränkeverpackungen, ohne Ausnahmen!
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Liebe Bürgerinnen und Bürger, Recyclingquoten für Kunststoff sind wichtig. Darüber entsteht eine spannende Diskussion – wir haben es eben schon gehört –, ob Kunststoffetiketten auf Glasflaschen bewirken, dass diese Flaschen in die Recyclingquote mit einfließen oder nicht. Und die FDP möchte dann auch definieren, dass eine Glasflasche mit Kunststoffetikett eine Glasflasche bleibt. Als Techniker hätte ich eine ganz einfache Lösung: Wenn die Unternehmen zu Papieretiketten zurückkehren, braucht es keinen Kunststoff mehr, und wir hätten das Problem gelöst.
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Kolleginnen und Kollegen, gesetzlich dürfen die privaten Entsorger, die Dualen Systeme, die Papier- und Kartonsammlungen der Kommunen für ihren Verpackungsmüll mitbenutzen und sollten für diese Sammelleistung eigentlich bezahlen. Fehlanzeige! 22 Prozent der Kommunen haben bis heute keinen Vertrag mit den Dualen Systemen über die Übernahme der Entsorgungskosten abschließen können. Und bei den abgeschlossenen Verträgen decken die Entgelte, die die Dualen Systeme bereit sind zu zahlen, meistens nicht die Kosten für die Einsammlung des Abfalls.
Dadurch erhöhen sich unsere Müllgebühren, liebe Bürgerinnen und Bürger. Dann stellt sich die Frage: Warum schließen die Kommunen überhaupt solche Verträge ab? Da lohnt ein Blick ins Gesetz. Die Kommunen haben einen Entsorgungsauftrag, sie müssen entsorgen; auch wenn es keinen Vertrag mit den Dualen Systemen gibt. Die Dualen Systeme müssen nur bezahlen, wenn es einen Vertrag gibt, und deswegen nutzen die Dualen Systeme Schlupflöcher. Mithilfe von Winkeladvokaten verweigern sie Verträge, und das sichert ihnen Zusatzprofite. Das ist ein Skandal!
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Das ist aber nicht genug: Bei 40 Prozent der abgeschlossenen Verträge haben die Kommunen die Leistungen aus 2019 und 2020 bis heute nicht bezahlt bekommen. Das lehnt Die Linke ab. Wir fordern, dass Gebührenrecht gilt, wenn keine Verträge vorliegen, damit die Kommunen ihre Leistungen auch fair bezahlt bekommen. So könnte man die Steigerung der Müllgebühren verhindern und die Dualen Systeme zur Ehrlichkeit zwingen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Dr. Bettina Hoffmann.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In den Hinterhöfen und in den öffentlichen Grünanlagen quellen die Mülleimer über. Ja, wir leben in einer Wegwerfgesellschaft mit gravierenden Auswirkungen für unsere Umwelt und unser Klima. Mehr als 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wollen das nicht mehr. Sie finden, es wird zu wenig getan, um Verpackungsmüll zu vermeiden. Das sagt eine neue Studie aus dem Umweltbundesamt.
„Zu wenig“ ist aber das Aushängeschild der Regierung. Das belegt der Gesetzentwurf, den wir heute ablehnen. Die Gesellschaft ist der GroKo wieder mal meilenweit voraus. Die Initiative für dieses Gesetz kam noch nicht einmal von der Bundesregierung selbst – es sind EU-Beschlüsse, die Union und SPD mal wieder spät und nicht ausreichend umsetzen.
Einwegpfand soll nun tatsächlich für alle Plastikflaschen kommen, wenn auch wieder mit Fristverlängerungen und Ausnahmen, siehe Milchprodukte. Aber die Dimension der Müllflut und die Verantwortung der Regierung sind so groß, dass wir über das reden müssen, was nämlich nicht im Gesetz steht.
Bleiben wir beim Flaschenpfand. Sie haben sicher auch schon mal vor einem Automaten gestanden und waren genervt, weil er mal wieder Ihre Flasche ablehnt. Das schafft Frust und senkt die Bereitschaft zur Müllvermeidung. Wir sind daher für eine ganz einfache Regel: Jeder Automat nimmt jede Flasche, egal ob Mehrweg oder Einweg.
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Kommen wir zum Verpackungsabfall. Für die wachsenden Müllberge sind vor allem Einweg-to-go-Verpackungen und Versandkartons verantwortlich. Die sogenannte Angebotspflicht des Gesetzentwurfs für Mehrwegalternativen greift aber hier zu kurz. Kleinflächige Betriebe sind befreit, obwohl gerade sie häufig auf Außer-Haus-Verkehr setzen. Echte Anreize zum Umstieg auf Mehrweg sind Fehlanzeige. Schon jetzt bieten manche Bäckereien und Kaffeeketten Mehrwegbecher an. Das ist gut, aber es bleibt eine kleinteilige Insellösung ohne wirksamen Effekt. Was wir aber wirklich brauchen, ist ein Gesetz, das Mehrweg als Standard festschreibt und bundesweite digital gestützte Systeme fördert. Ziel muss sein, dass Papppfandbecher und Pfandboxen bei allen Verkaufspunkten zurückgegeben werden können.
Damit es sich auch finanziell lohnt, den Kaffee oder das Mittagessen in einem Pfandbehälter zu bestellen, fordern wir eine gesetzliche Klarstellung: Mehrweg muss an der Ladentheke immer das günstigste Angebot sein. Für eine Mehrweg-Renaissance stehen in Deutschland längst innovative Unternehmen in den Startlöchern. Sie entwickeln Mehrwegtaschen und ‑boxen für Versandhandel, Supermärkte und Lieferdienste. Diesen müssen wir zum Durchbruch verhelfen. Eine echte Kreislaufwirtschaft würde viele zukunftsfähige Arbeitsplätze bei uns bringen und wäre ein unverzichtbarer Beitrag für Klimaschutz.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion; Michael Thews hat das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zu Beginn will auch ich mich noch einmal ganz herzlich bei Florian Pronold für die Zusammenarbeit in den letzten Jahren bedanken. Eines der wichtigsten Projekte war genau das Gesetz, worüber wir heute reden: das Verpackungsgesetz. Da geht mein Dank auch noch an Barbara Hendricks; denn dieses Gesetz haben wir in der letzten Legislaturperiode in der Koalition auf den Weg gebracht. Das war ein ganz wichtiges Gesetz.
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Heute sprechen wir über die Umsetzung der EU-Einwegkunststoffrichtlinie. Worum geht es wirklich? In der Abfallhierarchie, geregelt in § 6 Kreislaufwirtschaftsgesetz, steht ganz oben unter der Nummer 1 die Abfallvermeidung. Wir wollen Abfälle vermeiden; das ist ein ganz wichtiges Ziel. Sehr viele Abfälle, ungefähr 350 000 Tonnen pro Jahr, fallen momentan im To-go-Bereich an: Einwegverpackungen – einmal benutzt, dann weg – sind sofort Müll.
Genau in diesem Bereich können wir einsparen. Am besten können wir da mit Mehrwegsystemen einsparen; das wissen wir alle. Diese Mehrwegsysteme sind aber noch nicht so verbreitet; es gibt sie an der einen oder anderen Stelle. Dieses Gesetz regelt jetzt ganz klar, dass die Mehrwegsysteme bis 2023 verpflichtend angeboten werden müssen. Das wird zu einer starken Verbreitung von Mehrwegsystemen führen, wodurch deutlich Abfälle eingespart werden. Ich glaube, das ist ein gutes Ziel und ein gutes Gesetz, das wir heute beschließen.
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Wenn wir Abfälle nicht vermeiden können, dann recyceln wir – auch das steht in § 6 Kreislaufwirtschaftsgesetz –, dann halten wir die Rohstoffe in einem Kreislauf. So ist das vorgesehen, und um das zu tun, müssen wir natürlich bestimmte Dinge anpassen. Gerade im Getränkebereich gab es immer noch viele Ausnahmen: für PET-Flaschen, für Dosen; es gab zig Ausnahmen für Säfte, für alle möglichen Getränke, Milchprodukte. Diese Ausnahmen werden wir streichen.
Ich will deutlich sagen, was das überhaupt bedeutet. 1,5 Millionen bis 2 Millionen Flaschen werden jetzt in dieses Pfandsystem überführt; sie werden hochwertig gesammelt und können dann auch hochwertig recycelt werden. Das ist echter Fortschritt für den Bereich Recycling und erfüllt in dem Fall auch die Anforderungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Das ist ein guter Tag für das Recycling, wenn wir dieses Gesetz heute hier beschließen werden.
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Beim Recycling machen wir noch etwas ganz Wichtiges. Im Kunststoffbereich haben wir ein Problem mit den Rezyklaten. Wir wissen, dass die Rezyklate – also zerkleinerter Kunststoff, aus dem wieder neue Produkte werden – nur schwer in den Markt kommen. Das Ganze werden wir jetzt mit einer Mindestrezyklatquote einführen. Das ist ein wichtiger und richtungsweisender Schritt in die Zukunft für weitere Dinge, die wir in diesem Bereich vorhaben.
Ganz kurz will ich noch auf die Entschließung eingehen. Es wurde eben schon vom Kollegen Lenkert gesagt: Die Kommunen haben Probleme mit einer praxisgerechten Lösung für die Mitbenutzungsentgelte; sie streiten sich mit den Dualen Systemen herum. Ich hätte mir gewünscht, dass das auch ins Gesetz gekommen wäre. Wir haben es nun in der Entschließung, und ich hoffe, dass wir dieses Problem in Kürze lösen können. Das geht nämlich auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen.
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Abschließend würde ich mir für die Zukunft wünschen, dass wir zusätzlich zum Verpackungsgesetz zu einem Wertstoffgesetz kommen. Das muss das Ziel für die Zukunft sein. Daran würde ich gerne mitarbeiten. Das ist genau das, was wir brauchen, um unsere Wirtschaft in eine Kreislaufwirtschaft umzubauen. Das muss unser Ziel sein. Vielen Dank auch an Björn Simon für die gute Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte spricht von der CDU/CSU-Fraktion Michael Kießling.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen die Bilder von verschmutzten Meeren und Stränden. Wir kennen die Thematik des Mikroplastiks, das sich auch in unseren Körpern und in der Lebensmittelkette befindet.
Wir wissen auch, dass wir alle zu viel Müll produzieren. Ganz klar, auch wir in Deutschland müssen unseren Beitrag leisten, und das machen wir mit diesem Gesetz. Wir müssen die Fragen klären: Wie gestalten wir ein möglichst abfallarmes Leben? Wie können wir die Verschwendung von Ressourcen reduzieren? Wie können wir Abfälle wiederverwerten? Mein Vorredner hat das noch einmal aufgezeigt, und das ist auch die Grundlinie dieses Gesetzes.
Noch wichtiger ist die Frage, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft und Umwelt zusammenbringen. Auch diese Frage müssen wir beantworten. Unser Anspruch als CDU/CSU-Fraktion ist es, dass wir zusammen eine Lösung finden. Wir wollen nicht, wie manche Oppositionsfraktionen hier, als Richtschnur Ideologie und Polarisierung haben. Wir polarisieren nicht, wir bringen zusammen.
Mit der Umsetzung der verschiedenen europäischen Vorgaben bringen wir heute Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit und gesellschaftliche Akzeptanz zusammen. Wir setzen wichtige Akzente zur Stärkung von Abfallvermeidung, zur Herstellerverantwortung und zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft. Ziel der Umsetzung der Richtlinien ist es, die Auswirkungen von Einwegkunststoffprodukten zu verringern und zu vermeiden.
Heute gehen wir konsequente und nachvollziehbare Schritte zum Schutz der Umwelt und auch zum Schutz der menschlichen Gesundheit. Erstens binden wir die Wirtschaft stärker in die erweiterte Herstellerverantwortung ein. Zweitens verpflichten wir die Wirtschaft durch Quoten für Rezyklate. Das schaffen wir, ohne dabei die Interessen und die Machbarkeit der betroffenen Unternehmen aus dem Auge zu verlieren. Drittens verpflichten wir die Gastro, Mehrwegalternativen für Take-away-Konsum anzubieten.
Vielfach kam Kritik wegen der zu langen Übergangsfristen. An dieser Stelle möchte ich mal etwas Betriebswirtschaftliches sagen: Wenn wir im Hinblick auf die Gastronomie, die jetzt im Lockdown ist und auch finanziell schon stark gebeutelt ist, die Fristen zu kurz setzen, kann sich die Gastronomie Mehrwegalternativen schlichtweg nicht leisten. Deswegen haben wir Übergangsfristen festgelegt, die händelbar und für die Gastronomen auch umsetzbar sind.
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Was mich auch stört, ist das zunehmende Selbstverständnis, dass wir alle Verantwortung rein auf die Unternehmer abwälzen, ohne Wenn und Aber, ohne Angebote, nur mit Pflichten und Verboten, ohne Sensibilität für die Kosten. Das ist nicht nachhaltig.
Zum Schluss lassen Sie mich festhalten: Wir gestalten die Zukunft. Wir versuchen, Ökonomie, Ökologie und die gesellschaftliche Verantwortung zusammenzubringen, sodass Umwelt- und Klimaschutz von jedem getragen und nachhaltig umgesetzt wird.
Jetzt noch kurz zu einem namhaften SPD-Politiker aus Bayern; so viele gibt es dort ja nicht mehr. Lieber Florian Pronold, vielen Dank für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Du hast vorhin gesagt, du hättest früher, als du angefangen hast, sehr viel schwarz-weiß gesehen. Ich dachte, damals war es schwarz und noch etwas mehr rot. Ich wünsche dir alles Gute für deinen Werdegang in der Zukunft. Mir hat der politische Austausch immer Spaß gemacht, auch im Hinblick auf Bauen und Wohnen. Ich wünsche dir viel Erfolg und sage herzlichen Dank für die wunderbare Zusammenarbeit.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es zu vorgerückter Stunde um Religionsverfassungsrecht und Rechtsgeschichte geht, kann ich verstehen, dass Herr von Notz nicht der Einzige ist, der es gar nicht abwarten kann, in diese Debatte einzutreten.
Aber es hat auch große Relevanz für die Gegenwart, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist in der Tat 218 Jahre her, dass ein Großteil des kirchlichen Herrschaftsbesitzes im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses säkularisiert und weltlich eingezogen wurde. Dafür waren und dafür sind die Kirchen zu entschädigen. Und seit gut 102 Jahren, seit der Weimarer Reichsverfassung von 1919, besteht der Verfassungsauftrag, die dafür fälligen Staatsleistungen abzulösen. Diesen Auftrag nehmen auch wir ernst; aber diesen Auftrag werden wir in dieser Wahlperiode noch nicht abschließen können.
Gleichwohl war es, wie ich schon in der ersten Lesung gesagt hatte und wie ich es jetzt nach der Expertenanhörung im Innenausschuss bekräftige, durchaus sinnvoll und notwendig, dass wir dieses Thema in dieser Legislaturperiode einmal grundlegend diskutiert haben. Insoweit möchte ich ohne Pointe und ehrlich anerkennend auch Worte an die Kollegen von Grünen, FDP und Linken richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben durchaus die etwas erlahmte Diskussion konstruktiv wiederbelebt und sinnvolle Impulse gegeben. Das finde ich kollegial und vernünftig; das kann man auch einmal anerkennen.
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Dieses Lob kann ich allerdings nicht an die ganze Opposition weitergeben; denn der Antrag der AfD, der uns vorliegt, ist lediglich ein Vorschlag einer unrechtmäßigen Schlechterstellung der Kirchen. Er ist verfassungswidrig. Das habe ich in der ersten Lesung bereits gesagt, und das hat sich in der Anhörung bestätigt.
Aber zurück zum Konstruktiven. Es ist richtig, dass es die Erwartung einer grundsätzlichen Entflechtung der finanziellen Beziehungen von Staat und Kirche gibt. Aber es ist ebenso berechtigt, dass die Kirchen vom Staat erwarten, dass wir unseren historischen Verpflichtungen nachkommen. Dazu für ein künftiges Gesetzgebungsverfahren vier Anmerkungen:
Erstens. Wir stehen – das haben unsere Debatten gezeigt – weiter vor dem Definitionsproblem, was sich genau hinter Staatsleistungen im Sinne von Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung verbergen soll. Dem sind die Entwürfe der Opposition auch nicht nachgekommen.
Zweitens. Wir werden über die Höhe des Ablösefaktors noch diskutieren müssen. Die Opposition schlägt eine Anknüpfung an das Bewertungsgesetz vor. Das ist nicht völlig fernliegend; aber es beachtet nicht das aktuelle Niedrigzinsumfeld, in dem wir uns bewegen. Mir ist es jedenfalls wichtig, dass unsere Kirchen nach dem Äquivalenzprinzip entschädigt werden und dass es nicht zu einer irgendwie gelockerten Entschädigungspflicht kommt, wie es mancher Gutachter vertreten hat.
Drittens stehen wir vor dem Problem einer notwendigen regionalen Differenzierung bei der Ablösung der Staatsleistungen. Gerade als ostdeutscher Abgeordneter sage ich, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Diözesen und Landeskirchen in Deutschland im Verlauf der Geschichte unterschiedlichen Belastungen ausgesetzt waren. Darauf müssen wir mit Flexibilität reagieren.
Schließlich stehen wir vor der Notwendigkeit eines breiten Beteiligungsprozesses. Die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz weisen dem Bund nicht die Rolle des Zahlmeisters bei der Ablösung der Staatsleistungen zu, sondern die Rolle des neutralen Maklers. Wir sollen die Grundsätze definieren; aber die Bundesländer sollen am Ende bezahlen. Man muss der Ehrlichkeit halber sagen, dass die Bundesländer im Moment – das überrascht angesichts der Haushaltslage auch nicht – kein Interesse an der Ablösung der Staatsleistungen haben. Wir sollten also die Bundesländer mitnehmen, und ich wünsche mir, dass wir auch intensiver mit unseren Kirchen reden; denn sie nehmen die wertvolle Aufgabe der Wohlfahrtspflege wahr.
Insgesamt sage ich: konstruktiv, keine Debatte, die zum Polemisieren neigt, eine sinnvolle Initiative, noch nicht des Rätsels letzter Schluss. Wir nehmen die Debatte mit, werden dies aber erst in der nächsten Legislaturperiode angehen. Trotzdem herzlichen Dank für diesen konstruktiven Beitrag.
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Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Volker Münz.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen ist überfällig. Es geht um die Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers und der Kirchen. Seit über 200 Jahren zahlen die Bundesländer bzw. ihre Rechtsvorgänger Entschädigungsleistungen für Enteignungen aus der Zeit der napoleonischen Besatzung um das Jahr 1800 an die Kirchen. Seit über 100 Jahren gibt es den Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen zu beenden. Dieser Auftrag wurde bis heute nicht umgesetzt, obwohl die Religionsartikel der Weimarer Reichsverfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind. Dieser seit über 100 Jahren bestehende Verfassungsauftrag sollte endlich umgesetzt werden, meine Damen und Herren.
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Die Staatsleistungen belaufen sich derzeit auf rund 550 Millionen Euro pro Jahr an die Katholische Kirche und an die evangelischen Landeskirchen. Es geht hier nicht um die 12 Milliarden Euro Kirchensteuer; denn diese sind Mitgliedsbeiträge und keine staatlichen Zahlungen. Es geht auch nicht um Zuschüsse für Kirchenrenovierungen, Diakonie, Kindergärten oder Ähnliches. Von den Gesamteinnahmen der Kirchen machen die Staatsleistungen nur rund 2 Prozent aus.
Kirche und Staat sollten entflochten werden, nicht nur finanziell. Es sind unterschiedliche Bereiche, wie es auch schon in der Bibel steht. Auch als evangelischer Christ stimme ich dem emeritierten Papst Benedikt zu, der gesagt hat, dass die Kirche sich entweltlichen müsse.
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Die Kirchen haben eine besondere Stellung in unserem christlich geprägten Land, und die sollen sie auch behalten. Aber eine zu enge finanzielle, organisatorische und personelle Verflechtung von Kirche und Staat und die gegenseitige Einmischung taten selten in der Geschichte gut und tun auch heute nicht gut, meine Damen und Herren.
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Nur durch die im internationalen Vergleich gute Finanzausstattung können sich die deutschen Amtskirchen Dingen zuwenden, die mit Kirche nichts zu tun haben. So leistet sich zum Beispiel die EKD ein Institut zur Förderung der Genderideologie – die der Bibel widerspricht! –
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und ein Schiff auf dem Mittelmeer, welches unter der Antifa-Flagge fährt. Dies wird letztlich auch durch Staatsleistungen finanziert. Es ist unfassbar.
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Beide großen Kirchen mischen sich zudem einseitig in die Politik ein. Eine Konzentration der Kirchen auf ihre eigentlichen Aufgaben, also Verkündigung und Seelsorge, ist notwendig, um dem Mitgliederschwund zu begegnen.
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Nach dem Gesetzentwurf meiner Fraktion sollen die Bundesländer in den nächsten fünf Jahren noch insgesamt rund 3 Milliarden Euro an die Kirchen zahlen.
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Dies sehen wir als angemessen an.
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Die Anhörung hat ergeben, dass das Äquivalenzprinzip, auf das Sie bauen, und auch das Bewertungsgesetz hier nicht anzuwenden ist.
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Seit 200 Jahren wird bezahlt, noch 100 Jahre nach dem Verfassungsgebot der Ablösung.
Den Gemeinschaftsentwurf der anderen Oppositionsfraktionen lehnen wir als vollkommen überzogen ab.
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Danach würden die Bundesländer noch weitere 20 Jahre Staatsleistungen von insgesamt rund 10 Milliarden Euro bezahlen und außerdem noch eine Ablösesumme von 10 Milliarden Euro, zusammen also 20 Milliarden Euro.
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Das widerspricht unseres Erachtens dem Grundsatz der Angemessenheit und ist geeignet, die Integrität der Kirche weiter zu beeinträchtigen, meine Damen und Herren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Volker Münz. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Lars Castellucci.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen zwei Gesetzentwürfe zum Thema Staatsleistungen vor, der erste von der AfD-Fraktion; wir haben das eben mitanhören müssen.
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Wir haben wieder mal festgestellt – das ist auch nicht sehr verwunderlich –, dass eine Partei, die immer wieder Fragezeichen hervorruft, was ihre Verfassungstreue anlangt, uns hier verfassungswidrige Gesetze vorlegt.
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Insofern kann das hier einfach zu den Akten genommen werden. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, kann man sich Ihre Rede noch mal zu Gemüte führen, Herr Münz. Wenn man für die Trennung von Staat und Kirche ist, dann ist es nicht ziemlich, sich an dieses Pult zu stellen und den Kirchen zu sagen, wofür sie ihre Gelder auszugeben haben. Das hat mit Religionsfreiheit nämlich überhaupt nichts zu tun.
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Es ist so: Sie sind nicht auf dem Boden unserer Verfassung unterwegs. Das wird irgendwann einmal von unseren Behörden auch so klar festgestellt werden.
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Der andere Gesetzentwurf hat hingegen eine Würdigung verdient; keine Frage. Ich will trotzdem begründen, warum wir ihn ablehnen werden. Das hat mit der sehr qualifizierten Anhörung im Innenausschuss zu tun. Ich will drei Punkte herausgreifen, die mir da deutlich geworden sind:
Der erste Punkt ist, dass wir hinsichtlich des Begriffs der Staatsleistungen eine gemeinsame, präzise Vorstellung brauchen, bevor wir über die Ablösung dieser Staatsleistungen sprechen können.
Der zweite Punkt, der wichtig ist, betrifft die Höhe der Ablösung. Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen: Ich bin für ein Äquivalenzprinzip; sonst hätte ich das in Richtung der AfD nicht so sagen können. Es geht also darum, dass die Leistungen nicht einfach auslaufen, sondern man die Kirchen in die Lage versetzt, mit den Erträgen aus den Geldern ihre Arbeit langfristig zu erfüllen.
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Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Allerdings haben uns die Sachverständigen klar gesagt, dass es im Kern um Angemessenheit und nicht notwendigerweise um Äquivalenz geht. Wenn wir hier ein verfassungsrechtlich vernünftiges Gesetz vorlegen wollen, werden wir auch über diese Frage zu sprechen haben.
Der dritte Punkt ist mir der allerwichtigste; auch das ist von den Sachverständigen klar gesagt worden. Die Rechnung haben am Ende die Länder zu zahlen. Deswegen sind wir sehr gut beraten – und dazu sind wir von den Sachverständigen auch aufgefordert worden –, diese Fragen zu behandeln, weil es uns unsere Verfassung aufträgt, aber eben nur im Rahmen eines Grundsätzegesetzes, das die Länder ermächtigt, tätig zu werden, und ihnen den Korridor aufzeigt, in dem sie tätig werden können. Das müssen wir gut vorbereiten, mit wissenschaftlichem Verstand und mit denjenigen, die betroffen sind, mit den Kirchen und den Bundesländern, die das am Ende aus ihren Haushalten zu zahlen haben. Diesen nächsten Schritt werden wir erst in der nächsten Wahlperiode gehen können.
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Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass ich das Religionsverfassungsrecht, also den Rahmen, den wir uns für das Verhältnis von Kirche und Staat gegeben haben, für einen sehr guten Rahmen halte. Er ist nicht vom Himmel gefallen. Es gab Zeiten, in denen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion notwendig war, beispielsweise um bestimmte Staatsämter zu bekleiden.
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Davon haben wir uns, Gott sei Dank, verabschiedet. Wir haben uns danach aber nicht für ein laizistisches Prinzip entschieden und die Religion einfach ins Private abgleiten lassen, sondern ein Modell einer freundlichen Trennung von Staat und Kirche erfunden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch die Fragen, die wir heute debattieren, zusammen mit den Kirchen zu einer guten Lösung bringen können. Das ist unser Wille, und das sage ich Ihnen für die nächste Wahlperiode auch zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Lars Castellucci. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Benjamin Strasser.
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Hochverehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gibt es für die Lösung von unangenehmen Fragen überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? Vermutlich nicht. Trotzdem muss man sie lösen. Eine solch unangenehme Frage ist die Ablösung der Staatsleistungen der Kirchen. Seit über 100 Jahren ist sie ein Verfassungsauftrag, der schlicht und einfach vom Gesetzgeber ignoriert wird. Über eine halbe Milliarde Euro pro Jahr zahlen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler an die Kirchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute besteht die historische Chance, diesen Verfassungsauftrag mit Leben zu erfüllen und mit dem Einstieg vom Ausstieg dieser Staatsleistungen zu beginnen. Nutzen wir diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Ungelöst ist diese unangenehme Frage auch, weil sich die Beteiligten mit dem bestehenden System irgendwie zurechtgefunden haben, trotz des krassen Interessenkonflikts: auf der einen Seite die Länder, die natürlich möglichst wenig Ablösung an die Kirchen zahlen wollen, auf der anderen Seite die Kirchen, die eine möglichst hohe Ablösesumme erzielen wollen. Deshalb, Herr Kollege Amthor, haben die Mütter und Väter der Weimarer Verfassung bewusst entschieden, dass die Grundsätze nicht die Länder festsetzen sollen, sondern der Bund als ehrlicher Makler. Und deswegen kann man nicht sagen: Wir warten mit der Verabschiedung eines Grundsätzegesetzes, bis sich die Kirchen und die Länder darüber einig geworden sind, was in einem solchen Grundsätzegesetz stehen soll. – Es ist unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag, diesem Auftrag nachzukommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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FDP, Linke und Grüne nehmen diese Aufgabe ernst. Wir haben einen fairen Kompromiss vorgelegt. Er ist fair, weil er auf der einen Seite den Kirchen eine angemessene Entschädigung über das Äquivalenzprinzip zusichert und auf der anderen Seite den Ländern sowohl flexible Ablösemodalitäten ermöglicht als auch einen finanziellen Deckel mit dem Faktor 18,6 aus dem Bewertungsgesetz einzieht. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass von allen Seiten Zuspruch kommt. Die Entrüstung bei Ländern und Kirchen ist ausgeblieben. Die Sachverständigen haben in ihrer ganz großen Mehrheit unserem Gesetzentwurf zugestimmt. Und selbst die Große Koalition nutzt jede Chance, unseren Gesetzentwurf zu loben, und wird ihn deswegen konsequenterweise heute ablehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, Sie haben weder einen Änderungsantrag zu unserem Gesetzentwurf vorgelegt noch einen eigenen Vorschlag in die Debatte eingebracht. Das können Sie tun. Aber eines ist klar: Die Zeit der Ausreden und des Aussitzens ist vorbei! Wenn Sie heute Nein sagen, sehen wir uns im Herbst bei den Koalitionsverhandlungen wieder, und dann lösen wir diese unangenehme Frage.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der von FDP, Grünen und uns Linken gemeinsam eingebrachte Entwurf eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen an die großen Kirchen ist der erste fraktionsübergreifende Gesetzentwurf, der den bis heute gültigen Verfassungsauftrag aus der Weimarer Reichsverfassung zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen umsetzt. Vor über 200 Jahren wurde Kirchenbesitz enteignet. Seitdem zahlt der Staat Jahr für Jahr entsprechend des kirchlichen Entschädigungsanspruchs. Das führt zu jährlich wachsenden Zahlungen des Staates an die Kirchen. Allein 2021 zahlen die Bundesländer rund 581 Millionen Euro an die Kirchen. Wir wollen das beenden.
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Im Innenausschuss gab es eine Anhörung mit hochkarätigen Expertinnen und Experten. Unisono haben sie klargemacht: Die Umsetzung des Verfassungsauftrages ist geboten. SPD und CDU – das muss ich hier leider so deutlich sagen – haben bisher die Arbeit verweigert; deswegen haben wir es gemacht. Vielen Dank noch mal an Stefan Ruppert und Benjamin Strasser von der FDP, Konstantin von Notz von den Grünen und natürlich auch an meinen Kollegen Friedrich Straetmanns, der an diesem Entwurf mitgearbeitet hat.
({1})
Mit dem Gesetz sollen die Länder in die Lage versetzt werden, die jährlichen finanziellen Leistungen an die Kirchen rechtssicher und dauerhaft abzulösen. Es ist der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen die endgültige Entschädigung zu ermitteln ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, diese Ablösung in Gang zu setzen.
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Dieser Rahmen belässt den Bundesländern hinreichend Handlungsspielraum für die konkrete Umsetzung; denn sie sind es ja, die entschädigen müssen. Im Gesetzentwurf haben wir das 18,6-Fache der jährlichen Zahlungen an die Kirchen als ausreichend angesehen. Bundesländer und Kirchen können sich gemeinsam auf niedrigere Werte oder andere Entschädigungsarten einigen. Wir stellen hier nur die Grundsätze auf. Ich will auch noch mal sagen, dass eine wichtige Erkenntnis aus der Anhörung war, dass die Entschädigung nicht zwangsläufig in der Höhe des Äquivalenzbetrags erfolgen muss. Wir als Linke sagen klipp und klar: Wir können uns auch einen deutlich niedrigeren Wert vorstellen.
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Ich finde es interessant, dass in der Debatte kaum noch die Nebelkerzen der Vergangenheit gezündet werden. Es wurde ja immer gesagt, der Gesetzentwurf richte sich gegen die Kirchen. Diesen Vorwurf haben, glaube ich, alle Experten ausgeräumt. Eine Ablösung, hieß es, würde die wichtigen sozialen Dienste, die die Kirchen leisten, infrage stellen. Aber auch das ist nicht richtig; denn sozialstaatliche Leistungen durch kirchliche Einrichtungen wie Alten- und Krankenpflege werden sozialbuchrechtlich finanziert.
Wir sind der Meinung: Es gibt keine weiteren Ausreden mehr. Es darf kein weiteres Zögern bei dem wichtigen Thema geben, die Entflechtung von Staat und Religion auch hinsichtlich der finanziellen Beziehungen umzusetzen. Deswegen: Stimmen Sie heute unserem Gesetzentwurf zu.
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Vielen Dank, Christine Buchholz.
({0})
– Was lange währt …
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Konstantin von Notz.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Über 100 Jahre – es ist oft gesagt worden –: So alt ist der konkrete Verfassungsauftrag. Und ich kann es heute Abend – das haben Sie alle gesehen – gar nicht abwarten, dass wir es jetzt endlich hinbekommen. Es muss angegangen werden. Der Gesetzgeber hat es 100 Jahre liegen gelassen. Und mit dem Gesetzentwurf der FDP, der Linken und der Grünen liegt hier und heute etwas sehr Konkretes vor, das diesen Missstand endlich beenden kann.
({0})
Dass alle Oppositionsfraktionen – alle demokratischen Oppositionsfraktionen – hier gemeinsam einen Gesetzentwurf vorlegen,
({1})
zeigt die große Relevanz dieses Themas und dokumentiert leider auch – das kann ich der GroKo nicht ersparen – die Bräsigkeit der großen, aber vor allen Dingen müden und zerstrittenen Koalition, die sich trotz monatelanger Einbindung nicht dazu entschließen konnte, sich hier mit Substanz einzubringen. Das ist sehr bedauerlich, meine Damen und Herren.
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Unser Entwurf rüttelt nicht am bewährten und verfassungsrechtlich gesicherten kooperativen Grundverständnis von Kirche und Staat. Denn diese Grundlage hat sich gerade in diesen bewegten Zeiten bewährt. Wir entscheiden auch nicht darüber, ob die Möglichkeit zur Erhebung von Kirchensteuern legitim ist oder nicht. Diese allen Religionsgemeinschaften offenstehende Möglichkeit ist für uns eine Errungenschaft und bleibt von diesen Regelungen völlig unberührt.
Wir entscheiden heute allein über die sogenannten Staatskirchenleistungen. Es geht also um die historischen Leistungspflichten der Länder gegenüber den Kirchen. Dass diese Pflichten nicht ewig bestehen sollen, war der explizite Wille der Mütter und Väter unserer Verfassung, und diese Ablösung ist überfällig, meine Damen und Herren.
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Alle Expertinnen und Experten unserer Anhörung waren sich einig – es ist gesagt worden –: Unser Entwurf zeigt einen verfassungsrechtlich gangbaren Weg. – Über diese positiven und konstruktiven Einschätzungen haben wir uns gefreut. Wir wollen die Abhängigkeit der Kirchen vom Staat beenden und die staatlichen Haushalte langfristig entlasten. Dabei legen wir das Äquivalenzprinzip an; denn alles andere ist – und das hat die Anhörung auch glasklar gezeigt – nicht verfassungskonform. Und dass die AfD es nicht hinbekommt, selbst in so schlichten Fragen auf dem Boden des Grundgesetzes zu bleiben, spricht für sich, meine Damen und Herren.
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Schließlich wird unser Gesetzentwurf auch der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Religionsgemeinschaften gerecht. Die Kirchen, kirchlichen Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Bahnhofsmissionen, Sozialeinrichtungen und vieles mehr sind wichtiger Teil der sozialen Infrastruktur unseres Landes, gerade in der Fläche, meine Damen und Herren. Und deswegen will ich für diesen Einsatz, die Arbeit, die gelebte Nächstenliebe an dieser Stelle allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchen und den Kirchen selbst ganz herzlichen Dank sagen, meine Damen und Herren.
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Der Gesetzgeber sollte die Dinge regeln, wenn er es unbefangen und selbstbestimmt tun kann. Mit den Kirchen und den Ländern standen und stehen wir im Dialog. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, die Ablösung endlich in Angriff zu nehmen.
Bedanken möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen von FDP und Linken – ich finde es gut, dass wir das so gut zusammen hinbekommen haben –, insbesondere beim Kollegen Stefan Ruppert, beim Kollegen Benjamin Strasser und bei der Kollegin Buchholz. Ganz herzlichen Dank für die vertrauensvolle Kooperation!
Der GroKo kann ich nur sagen: Danke für die netten Worte, gerade auch von der CDU Mecklenburg-Vorpommern.
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Aber mit warmen Worten, lieber Philipp Amthor, wird man einem Verfassungsauftrag nicht gerecht.
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Wenn Sie heute nicht zustimmen oder sich enthalten sollten, frage ich Sie: Wo ist Ihr Entwurf, meine Damen und Herren? – Ich frage für einen Freund, der Artikel 140 GG ernst nimmt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Konstantin von Notz. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Marc Henrichmann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Jahre 1803 verloren die Kirchen Besitztümer, Flächen, Vermögen. Damit haben sie eigentlich die Grundlage, ihre Einnahmequelle, komplett verloren. Im Gegenzug hieß es, der Staat übernehme zukünftig die Finanzierung der Kirchen – als Ausgleich, nicht als Entschädigung. Später wurde in der Tat geregelt, dass Staatsleistungen durch Landesgesetzgebung abgelöst werden und die Grundsätze vom damaligen Reich oder, übertragen in die heutige Zeit, vom Bund geregelt werden. Es ist gut und richtig, das anzugehen. Deswegen kann ich auch dem Kollegen Amthor uneingeschränkt zustimmen.
Wie man es nicht machen darf – das hat die Anhörung bewiesen und auch die Einlassung des Kollegen Münz von der AfD –, ist, einfach zu sagen: Wir lassen es auslaufen. – Die Experten sagen: Schlichtes Auslaufenlassen genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. – Ehrlicherweise ist das Willkür, weil einem die Kirche nicht passt – das wurde ja auch deutlich –, und mit Willkür kann man vielleicht in der AfD punkten, aber kein Land führen.
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Aber auch über die Oppositionsvorlage müssen wir kritisch reden; denn so einfach, wie es gesagt wird, ist es ja auch nicht. Es gab in der Anhörung doch die eine oder andere Einlassung, die besagte: Man muss darüber reden, ob die Leistungen der Kommunen, die es ja hier und da gibt und die teilweise auch in den Landesverfassungen geregelt sind, miteinbezogen werden müssen. – Auch über den Faktor von 18,6 wird gestritten, weil er zum Beispiel auch eine Verzinsung von 5,5 Prozent jährlich beinhaltet, die eigentlich nirgendwo zu erzielen ist. Das Äquivalenzprinzip ist auch nicht ganz so unumstritten. Aber was ich persönlich am schlimmsten finde: Es gibt ja Vereinbarungen und auch Regelungen wie den Artikel 18 des immer noch gültigen Reichskonkordats, der besagt, dass „vor der Ausarbeitung der für die Ablösung aufzustellenden Grundsätze rechtzeitig“ ein Einvernehmen mit den Kirchen herbeizuführen ist. Und § 3 Ihres Gesetzentwurfs besagt jetzt: Die Verständigung mit den Kirchen ist möglich, aber nach der Aufstellung der Grundsätze. – Sie setzen sich hiermit über geltendes Recht hinweg, meine Damen und Herren.
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Die Frage ist komplex, und die Kirchen leisten – das klang an – gerade im ländlichen Raum ganz wertvolle Dienste im Bereich Betreuung, Seelsorge usw. Ich glaube, man wird sich auch die Situation der Kirchen in den weiteren Beratungen anschauen müssen. In Nordrhein-Westfalen machen die Staatsleistungen nicht mal 1 Prozent der Einnahmen der Kirche aus, anderswo über 20 Prozent. Und wir wollen nicht, dass funktionierende Strukturen in Schieflage geraten. Deswegen gebietet die Fairness, hier miteinander zu reden, so wie es die Vereinbarungen vorsehen.
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Im Deutschlandfunk haben sich die einbringenden Fraktionen in der Bundespressekonferenz seinerzeit erklärt. Kollege von Notz, Sie haben dann sinngemäß gesagt, über die Zahlungsmodalitäten entscheide nicht ein Land, das müsse kooperativ ausgehandelt werden, es brauche zwei Seiten. Ja, es braucht zwei Seiten, und die bestehen nicht aus dem Gesetzgeber hier und irgendwem sonst, sondern die Kirchen sind ein wichtiger Part. Und mit den Kirchen gemeinsam muss es eine Lösung geben. Auf den Weg haben wir uns gemacht.
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Es ist komplexer, als es scheint. Die Lösung ist nicht dieser Gesetzentwurf. Wir laden Sie herzlich ein, mit uns gemeinsam zu beraten.
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Wir werden in der nächsten Wahlperiode in der Tat eine Lösung finden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Aber dieses Gesetz ist keine Lösung für dieses sehr komplexe Thema.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen in der Tat vor der Aufgabe, einen Verfassungsauftrag zu erfüllen, der seit nunmehr über hundert Jahren besteht, eine Altlast, die eine erhebliche fiskalische Anstrengung verlangt und deren Beseitigung die betroffenen Religionsgemeinschaften nicht überfordern darf.
Seit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung ist der Gesetzgeber aufgefordert, sämtliche Staatsleistungen an die evangelischen Landeskirchen und die katholischen Bistümer durch einmalige Ablösung endgültig zu beenden. In Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung sind drei unterschiedliche Wirkungen festgehalten: Erstens werden die Länder verpflichtet, die Staatsleistungen im Wege der Landesgesetzgebung durch Ablösung zu beenden. Zweitens enthält die Norm eine Garantie für den Fortbestand der Staatsleistungen bis zu ihrer Ablösung; da befinden wir uns jetzt immer noch. Und drittens wird die Einrichtung neuer Staatsleistungen ausgeschlossen.
Die Zahlung von Staatsleistungen an die Kirchen in Deutschland hat historische Ursachen. So entstanden sie als Ausgleich für vorangegangene Enteignungen im Zuge der Säkularisation. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, dem letzten bedeutenden Beschluss im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, gingen wesentliche kirchliche Güter auf weltliche Herrschaften über, und die Regentschaften geistlicher Herrscher wurden beendet. Mit der Annektierung dieser Güter übernahmen die neuen weltlichen Regenten als Rechtsnachfolger auch die lebenslänglichen Unterhaltsverpflichtungen für die vorherigen geistlichen Regenten und die Baulasten für kirchliche Gebäude.
Die Rechtsnachfolger dieser weltlichen Regenten wiederum sind seit 1919 die Länder. Aber sehr häufig sind die Nachfahren dieser ehemaligen weltlichen Regenten wiederum die Nutznießer der damaligen Eigentumsübertragung. In Form von Staatsleistungen entschädigen die Bundesländer die Kirchen bis zum heutigen Tage, da der Weimarer Verfassungsauftrag, wie wir alle wissen, bislang nicht umgesetzt wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Länder rechtssicher in die Lage zu versetzen, die Staatsleistungen in der Zukunft abzulösen, benötigen wir also ein Rahmengesetz des Bundes, ein Grundsätzegesetz, in dem sichergestellt ist, dass eine leistungsäquivalente Ablösung der Staatsleistungen durch die Länder ermöglicht wird. Diesem Umstand werden die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen nicht gerecht. Aufgrund der geschichtlich bedingten unterschiedlichen Sachlagen und Vertragssituationen in den Ländern lehne ich daher einen konkreten Faktor, wie es im Entwurf vorgesehen ist, ab. Auch wenn die Länder mittel- und langfristig Kosten einsparen, werden sie bei Inkrafttreten eines Staatsleistungsablösegesetzes mit unterschiedlich hohen Kosten konfrontiert sein. Bislang sind die, die es betrifft, aber nicht in die Beratungen der vorliegenden Gesetzentwürfe einbezogen worden. Auch das wird der Sache nicht gerecht.
Es ist mir also ein besonderes Anliegen, zunächst eine Kommission mit allen Beteiligten zu bilden, um einen verfassungskonformen und tragbaren Konsens zu finden. Neben den Kirchen, der Wissenschaft und dem Bund sollten zuvorderst die Länder mit am Tisch sitzen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Barbara Hendricks. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Artikel 140 des Grundgesetzes sieht in der Tat einen Verfassungsauftrag vor, die Staatsleistungen abzulösen. Es geht nicht um das Ob, sondern nur um das Wie und das Wann.
Der Hintergrund ist die Beendigung staatlicher Herrschaft im Jahr 1803 durch die Kirchen und nicht die Frage der Kompensation für Religion. Und es ist auch grundsätzlich, wenn man sich die Einnahmesituation der Kirchen ansieht, leistbar, weil in der Tat die Staatsleistungen nur einen untergeordneten Teil der Finanzierung einnehmen. Dennoch ist die Sachlage komplex, und das müssen wir berücksichtigen.
Die Weimarer Reichsverfassung hat eine auf den ersten Blick eigentümliche Konstruktion gewählt. Das Reich oder jetzt der Bund stellt die Grundsätze auf, und die Länder lösen durch eigene Gesetzgebung ab. Der Hintergrund ist, dass das Reich oder der Bund verhindern wollte, dass die Länder unter Wert und damit unter dem Verfassungsauftrag, die Ablösung sicherzustellen, die Kirchen entschädigen.
In den zwölf Jahren der Weimarer Republik war naturgemäß eine Ablösung nicht möglich. Und die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich bei der Frage nach dem Religionsverfassungsrecht zunächst einmal ziemlich schwergetan und deswegen als Kompromiss schlichtweg die Artikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Das ist der Grund, warum über viele Jahrzehnte wenig passiert ist. Man hat sich damit arrangiert. Aber in der Tat: Der verfassungsmäßige Auftrag bleibt, und wir nehmen ihn ernst und werden ihn demnächst erfüllen.
Der Punkt ist aber, dass der vorliegende Gesetzentwurf an zwei oder drei Stellen eine Nachschärfung braucht. Es geht um die Frage: Was sind Staatsleistungen? Die positiven oder auch die negativen wie Vergünstigungen und die Leistungen der Gemeinden? Es geht um die Frage der Bewertung: Sind Staatsleistungen tatsächlich nach dem Bewertungsgesetz zu bewerten wie ein Kapitalwert eines Wirtschaftsgutes? Und die Frage ist in der Tat: Wie und in welchem Umfang müssen wir tatsächlich die Länder einbeziehen? Wir haben ein Verfassungssystem der Kooperation zwischen Bund und Ländern. Deswegen sollte der Bund kein Gesetz machen, das die Länder alleine ausführen und bezahlen müssen, ohne dass wir uns mit den Ländern ins Benehmen gesetzt haben. Das wäre kein bundesfreundliches Verhalten.
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Mir ist wichtig, einen letzten Punkt zu betonen: Was bleibt, wenn wir abgelöst haben? Das sind die Grundsätze im Staatskirchenrecht, der Umstand, dass die Kirchen Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, dass die Sonntagsruhe gilt und dass die Seelsorge garantiert ist – ein wichtiges Moment für Zusammenhalt in der Gesellschaft, und das wird bleiben.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir lieben Lebensmittel: Diesen Satz kann sicherlich jeder von uns unterzeichnen. Denn wer liebt keine Lebensmittel? Jeder will genießen, jeder will essen, jeder will sich gesund ernähren. Alles das ist möglich mit Lebensmitteln aus Deutschland.
Noch nie waren diese so sicher wie heute; das bestätigt das Bundesinstitut für Risikobewertung. Noch nie wurde ihnen so vertraut wie heute, und zwar weltweit. Lebensmittel made in Germany sind heiß begehrt.
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Aber wie zeigt sich diese Liebe? Durch das Verhalten an der Kasse? Nein. In kaum einem Land wird weniger für Essen und Trinken ausgegeben als in Deutschland – knapp 10 Prozent des Haushaltseinkommens. Ramschpreise machen es möglich, zum Beispiel morgen: 1 Kilo Schweinenacken für 3,99 Euro.
Was nichts kostet, scheint nichts wert zu sein. Im Schnitt wirft jeder Verbraucher 76 Kilo pro Jahr in den Müll – insgesamt 6,1 Millionen Tonnen an Energie, an CO2. Alles zu gut für die Tonne!
Wie zeigt der Handel seine Liebe? Durch Fairness? Beim Handel vor Ort bestimmt. Er kauft regional zu, er sucht die Partnerschaft mit dem Landwirt, mit dem Bäcker, mit den Metzgern. Aber wie ist es bei den Großen? Fairness? Augenhöhe? Nein. David tritt gegen Goliath an. Zehntausende von Produzenten gegen vier Riesen, die 85 Prozent des Marktes in der Hand halten und immer noch mehr wollen. Dafür führen sie brutale Kämpfe auf dem Rücken von Landwirten und Lieferanten.
Deshalb bauen wir heute für sie einen Schutzwall. Deshalb haben wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung noch einmal verschärft. Mein besonderer Dank gilt insoweit unserem Berichterstatter Albert Stegemann, aber auch unserer Kollegin Ursula Schulte.
Auf der schwarzen Verbotsliste stehen jetzt neben zum Beispiel kurzfristigen Stornierungen, einseitigen Vertragsänderungen und kommerziellen Vergeltungsmaßnahmen auch die Rückgabe von unverkauften Produkten und Listungsgebühren. Kein ehrbarer Kaufmann macht so etwas.
Die graue Liste ist nur noch kurz. Denn welche Vereinbarung sollte David gegen Goliath schon fair aushandeln können?
Zu den Davids gehören übrigens auch unsere Genossenschaften. Eine Molkerei mit einem Inlandsumsatz von 3 Milliarden Euro klingt stark. Aber was ist das gegen die Nummer eins des Handels mit einem Inlandsumsatz von 67 Milliarden Euro?
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Deshalb haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion dafür gekämpft, dass der Schutzbereich ausgeweitet wird. Das war uns besonders wichtig. Jetzt fallen eben auch die großen Erzeugergenossenschaften in den Bereichen Obst, Milch, Fleisch und Gemüse mit einem Umsatz von bis zu 4 Milliarden Euro darunter, und das ist gut so.
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Bei Verstößen drohen drakonische Bußen. Der Schutzwall steht.
Und was haben die Verbraucher davon? Am Ende alles. Wenn die Erzeuger nicht fair behandelt werden, sterben Höfe und Betriebe – und mit ihnen die allerhöchsten Standards, die bei uns in diesem Land gelten.
Ein Beispiel gefällig? Früher wurden in Deutschland Gänse gehalten, aber nicht fair bezahlt. Heute kommen sie zum Beispiel aus Frankreich. Dort werden sie qualvoll mit einem Metallstab gestopft – auf das Zehnfache ihres Normalgewichts. Die Daunen kommen übrigens aus China. Dort werden Gänse bei lebendigem Leib gerupft.
In Deutschland sind diese tierquälerischen Techniken schon lange verboten. Deshalb haben wir bei uns bereits heute höchste Tierwohlstandards. Das Beste für Tier und Gesundheit kommt also von unseren Landwirten und unseren Lebensmittelproduzenten.
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Deshalb ist dieses Gesetz so wichtig; denn es schützt sie.
Den Kampf auf europäischer Ebene für diesen Entwurf hat unsere Ministerin geführt. Insoweit: Herzlichen Dank an Julia Klöckner!
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Wir wollen noch mehr: Wir brauchen zwingend eine Herkunftskennzeichnung – europäisch verbindlich und verpflichtend. Jeder soll erkennen können, woher die Lebensmittel kommen, damit am Ende jeder in diesem Land unter Beweis stellen kann: Ich liebe Lebensmittel.
Wir tun es. Stimmen Sie deshalb unserem Gesetzentwurf zu!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gitta Connemann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Wilhelm von Gottberg.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Klöckner! Frau Ministerin, Sie haben bei der Einbringung des Gesetzes am 27. Januar 2021 einleitend ausgeführt – ich zitiere –:
Ein menschenwürdiges Einkommen, faire Preise für die Bauernfamilien müssen selbstverständlich sein. Es geht … um Fairplay im und am Markt.
Sie wollen mit dem nunmehr nachgebesserten Gesetzentwurf die Position der Bauernfamilien gegenüber dem Einzelhandel stärken, um bessere Erlöse und mehr Fairplay am Markt durchzusetzen. Ihre Absicht ist anerkennenswert. Die Erfolgsaussichten sind aber sehr gering.
Die AfD-Fraktion hat die Expertenbefragung zu diesem Gesetz bereits in der ersten Lesung sehr begrüßt und am 22. Februar 2021 entsprechend genau verfolgt. Die Anhörung brachte gute Erkenntnisse, und offenbar weckte sie auch bei der Koalition die Einsicht: Der Gesetzentwurf ist zu modifizieren, ist nachzubessern. – Wir stellen aber fest, dass die Expertenempfehlungen wenig Beachtung gefunden haben.
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Zugestanden sei: Das Thema ist vielschichtig und nicht einfach zu bewerten. – Die zahlreichen Änderungswünsche des Bundesrates belegen dies.
Das Resümee der Expertenanhörung bleibt eindrücklich: unnötige Kosten und sinnloses Bewegen von Papier. – Wir gratulieren der Regierungskoalition zu diesem Erfolg.
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Zum Inhalt des Entwurfs: Überwachungsbehörde für die Einhaltung des fairen Wettbewerbs soll die BLE, die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, sein. Dazu hat die Anhörung am 22. Februar ergeben, was ich für die AfD bereits in der ersten Lesung im Januar gefordert habe: Das Bundeskartellamt ist geeigneter für diese Aufgabe. Geschultes Personal ist dort vorhanden, und es hat auch die Kompetenz, unlautere Handelspraktiken mit Bußgeldern zu ahnden. Im Gegensatz dazu muss die BLE für die neue Aufgabe erst aufwendig hochgerüstet werden. Dadurch können am Ende sogar teure Doppelstrukturen entstehen.
Die AfD-Fraktion begrüßt, dass durch die Einarbeitung der UTP-Richtlinie in das Agrarmarktstrukturgesetz unlautere Handelspraktiken weitergehend als bisher unterbunden werden sollen. Das neue Gesetz ändert aber nichts an der Machtkonzentration und an wenig geballten Abnahmestrukturen der Landwirtschaft gegenüber Ernährungsindustrie und Handel. Ganz im Gegenteil: In der Anhörung wurde unsere Befürchtung bestätigt, der Preisdruck auf die Bauern könnte sich durch diese Gesetzgebung noch erhöhen.
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Wenn man die Machtstellung der landwirtschaftlichen Betriebe stärken will – hier wiederhole ich unseren Appell vom 27. Januar –, muss man auf der Angebotsseite stärker bündeln. Genau in diese Richtung geht unser hier ebenfalls abzustimmender Antrag, den alle anderen Fraktionen aber offenbar ablehnen.
Abschließend: Das Gesetz ist im Hinblick auf die EU-Vorgabe zur Umsetzung fast eine Woche überfällig – ein Armutszeugnis. Auch der holprige Weg der Gesetzgebung gerade bei diesem Gesetz ist beachtenswert. Begrüßenswert sind die Einrichtung einer Ombudsstelle und das Anheben der Bußgeldobergrenze auf bis zu 750 000 Euro. Der Anwendungsbereich erfasst nun Milch- und Fleischprodukte, Obst, Gemüse und Gartenbauprodukte sowie Kartoffeln. Die Umsatzgrenze wurde auf Unternehmen bis zu 4 Milliarden Euro Umsatz hochgeschleust. Das ist ein anerkennenswertes Signal.
Das teilweise Hinausgehen über den Umfang der EU-Richtlinie sehen das Bundeskartellamt und die Bundesrechtsanwaltskammer kritisch. Dem schließen wir uns an. Die Umsetzung der UTP-Richtlinie in nationales Recht können und wollen wir nicht verhindern. Andernfalls würde gegen geltendes EU-Recht verstoßen.
Danke.
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Danke schön, Wilhelm vom Gottberg. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ursula Schulte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes setzen wir die EU-Richtlinie über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette, kurz: UTP, um.
Die UTP-Richtlinie will Erzeuger und Lieferanten vor unlauteren Handelspraktiken schützen. Dafür führt sie konkrete Praktiken in zwei verschiedenen Listen auf. Der Unterschied zwischen schwarzer und grauer Liste: Bei den Praktiken der grauen Liste geht man davon aus, dass sie ihre Unlauterkeit verlieren können, wenn beide Parteien sie einvernehmlich vereinbaren.
Man blendet bei dieser Annahme geflissentlich aus, dass die Vertragsverhandlungen in diesem Bereich selten auf Augenhöhe stattfinden, was dazu führt, dass Lieferanten aus Angst um ihre Existenz letztlich Verträgen zustimmen, die für sie nachteilige Bedingungen enthalten. Lieferanten berichten uns zudem, dass es eben gerade die Praktiken der grauen Liste sind, die ihnen das Leben schwermachen. Ich möchte daher unterstreichen, was ich bereits bei der ersten Lesung im Januar gesagt habe: Unlauter ist und bleibt unlauter.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass wir uns mit unserem Koalitionspartner darauf verständigen konnten, im Vergleich zur EU-Richtlinie zumindest einige Praktiken der grauen Liste in die schwarze zu überführen und somit gänzlich zu verbieten. So dürfen Handelsunternehmen Lieferanten nicht mehr an den Lagerkosten beteiligen oder nicht verkaufte Ware zurückschicken, ohne dafür zu bezahlen. Wir als SPD – das ist kein Geheimnis – hätten gerne alle grauen Praktiken geschwärzt,
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und wir wollten eine offene Liste bzw. eine Generalklausel, um klarzustellen, dass jegliches unlautere Geschäftsgebaren in der Lieferkette unzulässig ist.
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Das hätte die Position der Erzeuger und Lieferanten ganz wesentlich verbessert. Eine Generalklausel war mit der Union nicht umzusetzen; das möchte ich hier nicht verschweigen.
Angesichts dieses Wermutstropfens ist es aber umso wichtiger, dass das Gesetz nach zwei Jahren evaluiert wird. Dafür und für die konkrete Formulierung des Evaluierungsparagrafen hat sich meine Fraktion vehement eingesetzt. Darin heißt es:
Neben der Überprüfung der Einhaltung bestehender Verbote kann der Deutsche Bundestag im Zuge der Evaluierung gegebenenfalls auch die Liste verbotener Handelspraktiken um neue, bisher nicht erfasste unlautere Handelspraktiken erweitern. In die Evaluierung fließen auch
– und das ist mir ganz wichtig –
die Ergebnisse der Prüfung eines möglichen Verbots des Einkaufs von Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen unterhalb ihrer Produktionskosten ein.
Es wird also künftig genau darauf zu achten sein, ob Unternehmen die Verbote kreativ umgehen, indem sie sich neue Praktiken oder Vertragsbestandteile einfallen lassen, die bisher nicht vom Gesetz erfasst wurden. Dann muss der Gesetzgeber nachschärfen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die SPD-Fraktion war es ganz wichtig und war es ein Herzensanliegen, eine Ombudsstelle einzurichten. Davon konnten wir schließlich auch unseren Koalitionspartner überzeugen. – Ich bin froh, dass Sie das mittragen.
Die unabhängige Ombudsstelle soll keine Konkurrenz zur Durchführungsbehörde sein, sondern eine sinnvolle, weil niedrigschwelligere Ergänzung. Sie soll Anlaufstelle für alle sein, die von unfairen Handelspraktiken oder unfairen Preisen betroffen sind. Dabei können ihr auch Praktiken gemeldet werden, die das Gesetz noch gar nicht aufführt. Zudem soll die Stelle die Entwicklung von Produktionskosten und Preisen beobachten. Die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, sollen wiederum in die Gesetzesevaluierung einfließen.
Ich bin davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diese Ombudsstelle, die im Entschließungsantrag näher beschrieben wird, ist ein echter Meilenstein für mehr Fairness in der Agrar- und Lebensmittellieferkette.
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Und sie sollte schnellstmöglich umgesetzt werden. Darauf werden wir auf jeden Fall achten.
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Leider war die Union nicht bereit, ein Verbot von Dumpingpreisen im Zuge der UTP-Umsetzung auf den Weg zu bringen. Dafür ist es uns aber gemeinsam gelungen, die Erhöhung des Bußgeldrahmens um 50 Prozent zu vereinbaren. Im Fall von Verstößen gegen die neuen Regeln können nun bis zu 750 000 Euro Strafe verhängt werden. Das ist gut so; denn Strafen müssen eine abschreckende Wirkung haben.
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Alles in allem legen wir dem Deutschen Bundestag ein gutes Gesetz vor, das ein Meilenstein für bessere Bedingungen für unsere Landwirte ist. Deswegen bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Ursula Schulte. – Darf ich Sie noch mal herzlich bitten, den Geräuschpegel wirklich nach unten zu drehen bzw. still zu sein und Diskussionen nicht hier im Raum zu führen? Es ist unglaublich schwierig, die Rednerinnen und Redner zu verstehen. Und eigentlich ist es auch wirklich nicht solidarisch, wenn die Kolleginnen und Kollegen Ihnen ihre Rede vortragen, Gespräche zu führen. Dann machen Sie das draußen und nicht hier im Saal.
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Nächster Redner: Dr. Gero Hocker für die FDP-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann nicht sein, dass ein Milchbauer zu dem Zeitpunkt, da seine Milch abgeholt wird, nicht weiß, welchen Preis er für 1 Liter bekommt, sondern das erst einige Tage später per Bescheid erfährt. Und es kann auch nicht sein, dass die Erzeuger, Landwirte, verdorbene Ware, die der Lebensmitteleinzelhandel nicht hat absetzen können, zurücknehmen müssen. Meine Damen und Herren, das Ungleichgewicht der Marktkräfte zwischen Erzeugern auf der einen Seite und Lebensmitteleinzelhandel auf der anderen Seite kann auch nicht sein.
Aber ich sage es ganz ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen der SPD: Meine Damen und Herren, das ist auch nicht zuletzt auf Sigmar Gabriel zurückzuführen,
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der 2016 Wirtschaftsminister gewesen ist, der sich nämlich über die Empfehlung des Bundeskartellamtes, der Experten, hinweggesetzt hat und die Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka durchgewunken hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das gehört zur Wahrheit dazu.
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So richtig es ist, dass UTP umgesetzt wird, so sehr habe ich auch den Eindruck, dass die Bundesregierung ein bisschen versucht, sich aus der Verantwortung für die schlechte und falsche Agrarpolitik der letzten dreieinhalb Jahre zu stehlen, und den Schwarzen Peter einfach anderen zuschieben will.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung, Sie wollen davon ablenken, dass Sie in den letzten Jahren zu häufig zu gerne auf NGOs gehört haben und eben nicht der wissenschaftlichen und fachlichen Praxis das Wort geredet haben: bei Insektenschutz, bei Düngeverordnungen, bei der Nutztierhalterverordnung und vielen anderen Themen mehr. So einfach kommen Sie nicht durchs Loch, Frau Ministerin.
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Sie haben im zweiten Halbjahr 2020, vom 1. Juli bis 31. Dezember 2020, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft tatsächlich auch keine einzige Initiative vorzuweisen, die einen Beitrag dafür geleistet hätte, dass die Wettbewerbs- und Produktionsstandards innerhalb des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes angeglichen werden.
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Deswegen machen Sie es sich zu einfach, UTP mehr als erforderlich, mehr als eins zu eins umzusetzen und jetzt pauschal dem Lebensmitteleinzelhandel den Schwarzen Peter zuzuschieben. Damit kommen Sie nicht durchs Loch, meine Damen und Herren.
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Ich sage es ganz ausdrücklich: Wenn man mit dem Handel spricht, dann sagen die Kolleginnen und Kollegen: Na ja, das ist ja alles schön und gut; aber es birgt natürlich die Gefahr, wenn Sie die Daumenschrauben zu fest andrehen, dass die Warenströme künftig eben von außerhalb Deutschlands – aus der Europäischen Union, vielleicht auch aus Übersee – nach Deutschland und zum Verbraucher gelangen. Sie erweisen den Landwirten in Deutschland einen Bärendienst, wenn Sie die Schrauben zu fest anziehen.
Was wir wirklich endlich bräuchten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Frau Ministerin, ist ein Auflagenmoratorium, damit Landwirte, die Investitionen, die sie gerne tätigen – egal ob bei Tierhaltung, Ackerbau oder wo auch immer –, weil sie sich gerne weiterentwickeln wollen, tatsächlich auch amortisieren können und für einen kritischen Zeitraum tatsächlich auch die Gewähr haben, dass der Gesetzgeber nicht kommt und auf dem Gesetzeswege wiederum neue Auflagen erlässt, bevor die ersten Investitionen überhaupt zurückgezahlt werden konnten. Das wäre Ihre Aufgabe, und da müssen Sie liefern, anstatt den Schwarzen Peter einfach anderen zuzuschieben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Gero Hocker. – So, liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind noch zehn Minuten Abstimmungszeit übrig. Ich möchte Sie darauf hinweisen: Zehn Minuten lang können Sie bei der namentlichen Abstimmung noch abstimmen.
Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Kirsten Tackmann.
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Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die EU-Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken in der Lebensmittelkette umgesetzt.
Sinnverwandt zu „unlauter“ sind übrigens laut Wörterbuch die Begriffe „betrügerisch“, „gaunerhaft“, „irreführend“, „unzulässig“. Tatsächlich ist „unlauter“ eine geradezu verharmlosende Bezeichnung für die Situation, die ich als Linke seit Jahren kritisiere; denn es geht darum, dass Lebensmittelkonzerne ihre Marktübermacht missbrauchen und ihre Profitinteressen auf Kosten der Agrarbetriebe durchsetzen. Für eigene volle Kassen wird also die soziale Schieflage in den Agrarbetrieben verschärft. Das ist wohl eher gaunerhaft, und es ist definitiv inakzeptabel.
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Deshalb war es überfällig, dass die EU mit der Richtlinie dagegen einen Stein ins Rollen gebracht hat. Auf einer schwarzen Liste stehen verbotene Handelspraktiken. Zum Beispiel müssen jetzt bestellte verderbliche Lebensmittel wie Salat oder Erdbeeren auch abgenommen werden. Auf einer grauen Liste stehen Handelspraktiken, die bei Einvernehmen erlaubt bleiben sollen. Nur, ohne Augenhöhe zwischen den Verhandelnden ist doch eine solche graue Liste unsinnig. Deshalb hat Die Linke auch gefordert, im Gesetz alle grauen Handelspraktiken auf die schwarze Verbotsliste zu setzen.
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Leider erfolgt das nur für zwei graue Handelspraktiken. So ist nun wenigstens die Rückgabe nicht verkaufter Erzeugnisse ohne Bezahlung verboten und auch das Abwälzen von Lagerkosten auf die Lieferantinnen und Lieferanten.
Ja, die Koalition hat den Gesetzentwurf verbessert. Aber ich habe selten in einer Anhörung so einhellige Forderungen aller Sachverständigen nach deutlichen Nachbesserungen erlebt. Deswegen ist die Lernkurve bei der Koalition zwar erkennbar, sie bleibt aber gemessen an der Realität trotzdem zu flach. Warum? Das steht im Entschließungsantrag der Linken. Zu den wichtigsten Kritikpunkten: Es werden nicht einmal alle – übrigens über 40 – bekannten unlauteren Handelspraktiken verboten. Auch Die Linke fordert darüber hinaus eine sogenannte Generalklausel, damit eben alle, auch bisher unbekannte Praktiken verboten werden.
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Denn die Konzernzentralen sind einfallsreich.
Und ja, es ist gut, dass nun doch eine Ombudsstelle für Beschwerden kommen soll. Leider stehen deren Aufgaben aber nicht im Gesetz. Und ja, es ist richtig, dass die Ombudsstelle auch Produktionskosten und Preisentwicklung beobachten soll. Aber in Spanien und Frankreich gibt es eine eigene Preisbeobachtungsstelle.
Das Gesetz bleibt ohne Verbot des Verkaufs unter Produktionskosten zahnlos. Natürlich müssen dann auch Produktionsmengen reguliert werden; das war ein wichtiger Hinweis des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter in der Anhörung. Es fehlt in dem Gesetz die Beweislastumkehr, damit Konzerne ihr lauteres Handeln nachweisen müssen. Auch Kartellrecht und Entflechtung fehlen im Gesetz.
Weil also auch dieser geänderte Gesetzentwurf bestenfalls einige Symptome lindert, können wir uns als Linke leider nur enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Kirsten Tackmann. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir uns an bestimmten Punkten hier im Parlament einigermaßen einig sind. Wir sind uns mittlerweile einig, dass es nicht akzeptabel ist, wenn Bäuerinnen und Bauern für den Liter Milch so wenig ausgezahlt bekommen, dass sie damit noch nicht mal ihre eigenen Herstellungskosten decken können. Wir sind uns mittlerweile einig, dass es nicht akzeptabel ist, wenn immer mehr Bäuerinnen und Bauern in diesem Land ihre Betriebe aufgeben müssen, weil sie nicht in der Lage sind, von ihrer eigenen Arbeit noch leben zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine vielfältige, eine regionale, eine faire Landwirtschaft ist nötig in unserem Land. Aber dafür braucht es eben auch einen Markt, der funktioniert. Und das ist etwas, was nicht der Fall war. Angesichts einer immensen Marktmacht von wenigen großen Supermärkten auf der einen Seite und sehr vielen, auch kleinen Landwirten auf der anderen Seite haben wir in den letzten Jahren ein eklatantes Marktversagen beobachtet. Es ist gut, dass das Parlament jetzt endlich den Mut hat, hier Regeln zu erlassen, die dem entgegenwirken.
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Ich sage „endlich“; denn das Ganze war ein Prozess mit vielen kleinen Schritten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich vor ungefähr einem Jahr in der Fragestunde des Bundestages Frau Ministerin Klöckner die Frage gestellt habe, ob es nicht angesichts der immensen Marktmacht der Supermärkte notwendig wäre, mehr zu tun als die Minimalumsetzung einer EU-Richtlinie. Sehr geehrte Damen und Herren, ich erspare Ihnen die ganze Antwort; sie war nämlich ziemlich lang und nur einigermaßen freundlich. Aber die Ministerin hat sehr klar gesagt, dass sie keinen weiteren Handlungsbedarf sieht.
Aus diesem Grund, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, bedanke ich mich wirklich ganz herzlich, dass Sie den Mut gefunden haben, weiterzugehen, dass Sie den Mut gefunden haben, Regelungen zu erlassen, die wirklich in der Lage sein könnten, die Landwirtinnen und Landwirte in diesem Land zu schützen und zu unterstützen.
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Es ist richtig – wir haben es lange von Ihnen gefordert –, eine Ombudsstelle einzurichten, an die die Bäuerinnen und Bauern sich auch anonym wenden können, eine Ombudsstelle, die nun auch die Aufgabe hat, Preise zu beobachten; denn nur wenn wir wissen, wie die Preise sind, nur wenn wir definieren, was faire Preise sind, können wir auch den Durchsetzungsbehörden die Instrumente an die Hand geben, um Marktmachtmissbrauch effektiv festzustellen. Hier hätten Sie allerdings die Aufgaben klarer beschreiben müssen. Das wäre ein notwendiger Schritt gewesen.
Es ist auch richtig, dass Sie sich dazu durchgerungen haben, die Liste der unfairen Handelspraktiken zu erweitern auf die sogenannten grauen Handelspraktiken. Schade ist es, dass Sie nicht den ganzen Schritt gemacht haben. Schade ist es, dass Sie nur die halbe Liste der unfairen grauen Handelspraktiken verboten haben. Auch dass man die Landwirte dafür zahlen lässt, dass die Supermärkte ihre Produkte bewerben, auch dass man die Landwirte weiterhin nicht vollständig von den Zahlungen für Listungen ausschließt, hätten Sie verbieten müssen. Das wäre ein notwendiger Schritt gewesen, um die Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.
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Zum Letzten. Es ist nahezu eine Revolution, dass Sie jetzt zumindest als Prüfauftrag in Ihren Änderungsantrag aufgenommen haben, dass es ein Verbot des Verkaufs unter Herstellungskosten geben soll. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie viel Spott und Häme uns Grünen entgegengeschlagen ist, als wir vor zwei Jahren diesen Vorschlag gemacht haben. Es ist richtig, es ist wichtig, es ist sogar wettbewerbsrechtlich geboten, dass man den Missbrauch von Marktmacht so definiert, dass es unfair ist, wenn man Produkte im Supermarkt verkauft, die noch nicht mal die Herstellungskosten der Landwirte decken. Das ist Marktmachtmissbrauch, der reguliert werden muss. Hier sollten Sie sich nicht nur mit einem Prüfauftrag zufriedengeben, sondern hier können Sie endlich handeln. Das ist nämlich am Ende das entscheidende Instrument, was den Landwirten in diesem Land wirklich helfen würde.
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Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Albert Stegemann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer politisch gestalten will, muss wissen, was den Menschen in diesem Land wichtig ist. Also lohnt sich ein Blick darauf, wofür wir in Deutschland unser Geld ausgeben. Laut Statistischem Bundesamt geben wir die Hälfte unseres Einkommens für unsere Grundbedürfnisse Wohnen, Energie und Nahrungsmittel aus. Da wir es uns gern sehr schön einrichten, dem Nachbarn in nichts nachstehen wollen, da wir selbstverständlich nicht auf unser Auto und unseren hoffentlich bald wieder möglichen Urlaub verzichten wollen, bleiben für unsere Grundnahrungsmittel nur noch 15 Prozent. 15 Prozent der gesamten Konsumausgaben bleiben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren. Bereinigt um die Genussmittel ist es noch mal deutlich weniger.
Um das Jahr 1900 lag dieser Wert noch bei etwa 50 Prozent. Die Entwicklung von 50 Prozent auf 15 Prozent lässt sich mit nur einem Wort beschreiben: Wohlstand. Wir konnten durch das günstige Angebot an Nahrungsmitteln immer mehr in andere Konsumgüter investieren, und der Motor unserer Konsumwirtschaft brummte.
Leider sind damit auch negative Konsequenzen verbunden: So sehnen sich viele nach dem Modell des Tante-Emma-Ladens; aber den gibt es nicht mehr – zu teuer, zu ineffizient, zu personalkostenintensiv. Die Discounter waren geboren: größer, schneller, noch billiger. Geiz ist geil! Teuer war gestern! – Da ist ein „Wir lieben Lebensmittel“ für viele Produzenten wohl nur noch ein schwacher und ironischer Trost.
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Dennoch mache ich dem Lebensmitteleinzelhandel keinen Vorwurf. Wer sich am täglich stattfindenden Angebotskampf um das günstigste Lebensmittel nicht beteiligt, verliert Marktanteile und verschwindet bald von den Werbeflächen, da der Umsatz ausbleibt.
Man kann den Konkurrenzkampf im Lebensmitteleinzelhandel zu Recht und sehr zutreffend als Haifischbecken bezeichnen. Inzwischen hat diese Situation dazu geführt, dass die vier großen Player 85 Prozent des Marktes unter sich aufteilen. Dadurch ist eine enorme Marktasymmetrie entstanden. Unsere Bauern, aber auch Verarbeiter wie unsere Molkereien sind der Marktmacht des Handels viel zu oft unterlegen. David und Goliath lassen grüßen.
Preisdruck ist in der Konsequenz eine Folge marktwirtschaftlichen Handelns. Aber wo wir als Gesetzgeber nun nicht mehr wegschauen können, sind die daraus resultierenden unlauteren Handelspraktiken.
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Wenn zum Beispiel bestellte verderbliche Ware kurzfristig storniert wird, der Lieferant also auf seiner Ware sitzen bleibt, oder wenn Rechnungen vom Käufer bewusst nicht bezahlt werden, nur um den Lieferanten unter Druck zu setzen, dann müssen wir handeln.
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So verbieten wir im Agrarmarktstrukturgesetz eine ganze Liste von unlauteren Handelspraktiken, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit für einen ehrbaren Kaufmann sein sollten.
Ich will mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der Kollegin Ursula Schulte von der SPD dafür bedanken, dass wir diesen Zug erfolgreich auf die Schiene gesetzt haben. Ich möchte mich aber auch bei unseren Wirtschaftspolitikern, insbesondere bei Matthias Heider, ganz herzlich bedanken, der uns in dieser Sache wirklich konstruktiv begleitet hat.
Ich freue mich, dass wir das alles so hinbekommen haben. Auf geht’s zu mehr Fairness im Lebensmitteleinzelhandel!
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An un för sük denkt de Minske bloot an sük. – Zunehmend leben wir in einer Welt, in der jeder nur an sich selbst denkt und auch im Handelsbereich oft mit unfairen Mitteln versucht, seine eigenen privaten Ziele umzusetzen. Dagegen richtet sich die UTP-Richtlinie der Europäischen Union, die mit dem vorliegenden Agrarmarktstrukturgesetz nunmehr bei uns in geltendes nationales Recht umgesetzt wird.
UTP steht für „Unfair Trading Practices“, also für unlautere Handelspraktiken. Wollen Sie Beispiele hören? Ein Beispiel für eine unlautere Handelspraxis ist die Rückgabe unverkaufter Erzeugnisse an den Lieferanten ohne Zahlung des Kaufpreises. Ein Beispiel für unlautere Handelspraxis ist ein Zahlungsverlangen für die Listung der Produkte. Noch ein Beispiel ist die Forderung, die Kosten für Preisnachlässe zu übernehmen. Und noch ein Beispiel sind die Zahlungsverlangen gegenüber Lieferanten für die Werbung des Verkäufers. Das sind lauter unfaire Handelspraktiken. Ich könnte noch 36 weitere nennen, die bekannt sind, und sicher noch ganz viele darüber hinaus, die noch unbekannt sind. Die Kreativität scheint unendlich zu sein, und wir setzen der Kreativität dieser unlauteren Handelspraktiken jetzt endlich Grenzen.
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Wir schaffen mit diesem Gesetz ein faires Handelsgesetz.
Allerdings schränken wir nur bekannte Praktiken ein. Wir Sozialdemokraten hätten das Gesetz lieber offener formuliert – das darf man, glaube ich, sagen – und der Kreativität noch mehr direkt entgegengesetzt. Das war mit der Union leider nicht zu schaffen; meine Kollegin Ursula Schulte hat darauf hingewiesen.
Aber ich will an dieser Stelle nicht jammern, sondern mich freuen. Wir schaffen mit diesem Gesetz nämlich etwas ganz Wichtiges: eine Ombudsstelle. Die Ombudsstelle wird unabhängig sein und damit auch unvoreingenommen. Keiner, kein Landwirt, keine Landwirtin, muss mehr Schaden fürchten, wenn unfaire Handelspraktiken gemeldet werden. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Entscheidung für die Einrichtung dieser Ombudsstelle bedeutet einen guten Tag für die Landwirtschaft.
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Wir haben das Bußgeld höhergesetzt. Die Bußgeldobergrenze beträgt jetzt nicht, wie im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehen, 500 000 Euro, sondern sie wird 750 000 Euro betragen, damit die Kalkulation im Einzelhandel, Bußgeld könnte wirtschaftlicher sein, als sich an die Regeln zu halten, nicht aufgeht.
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Seit Jahrzehnten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Menschen in der Landwirtschaft unter Druck. „Wachsen oder weichen“ war die notwendige Devise, von dem einen schweigend geduldet, von dem anderen vielleicht sogar still und heimlich geplant. Wir wollen diesen Teufelskreis in der Landwirtschaft von „Wachsen oder weichen“ durchbrechen. Wir gehen heute dafür den ersten wichtigen Schritt, damit der Egoismus sich nicht weiter durchsetzt, damit Geiz nicht länger geil ist, sondern damit Verantwortung auch im Handel gelten soll.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Johann Saathoff. – Und der letzte Redner in dieser Debatte: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte zum Agrarmarktstrukturgesetz ist festzustellen, dass wir hier vor allen Dingen zwei Dinge zusammenbringen wollen: auf der einen Seite die Stärkung der Produzenten, nämlich unserer Bäuerinnen und Bauern, deren Arbeit ja die Grundlage dafür ist, dass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher uns freuen können, dass wir großartige und gesunde Lebensmittel in hervorragender Qualität bekommen können. Auf der anderen Seite geht es um den Handel, der in starkem Wettbewerb steht und den Verbrauchern günstige Angebote unterbreitet. Das ist immer eine große Herausforderung für alle Marktteilnehmer. Vor allen Dingen muss das alles auch in partnerschaftlicher Hinsicht gestaltet werden, und dafür legen wir mit diesem Gesetz die Grundlage.
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Partnerschaft zieht jeder für sich selbst heran; das ist völlig klar. Jeder glaubt, dass er die besten Grundlagen geschaffen hat. Trotzdem müssen wir feststellen, dass es in der Vergangenheit auch sehr unlautere Praktiken gab, einfach ob der Handelsmacht der einzelnen Akteure. Die Kollegin Gitta Connemann, Albert Stegemann und auch andere Redner haben bereits auf die Handelsmacht unserer vier großen Player hingewiesen. Sie repräsentieren 85 Prozent des gesamten Handels in Deutschland.
Aber das ist nicht genug. Sie haben sich auch in europäischen Einkaufsverbünden zusammengeschlossen, die noch eine weit größere Handelsmacht darstellen. Von einer Handelsmacht mit einem Volumen von 160 bis über 200 Milliarden Euro wird hier gesprochen. Deshalb bedeutet das Ganze auch, in dieser Situation ein gewisses Gleichgewicht herbeizuführen, und dazu trägt dieses Gesetz bei.
Ich bin überzeugt, dass es Wirkung hat. Auf der einen Seite geht es darum, weiterhin Lebensmittel in guter Qualität zu haben. Es geht auf der anderen Seite aber auch darum, dass unsere Produzenten, die Bäuerinnen und Bauern, vom Verkauf ihrer Produkte zu diesen Preisen leben können. Das ist hier entscheidend, und deshalb wenden wir uns gegen diese unlauteren Handelspraktiken.
Kollege Saathoff hat gerade manche genannt. Ich kann noch eine hinzufügen, weil mir die besonders ins Auge gestochen ist, nämlich die Hochzeitsprämie. Wenn eine große Handelsmarke 50 Läden übernehmen wird, dann sollen angeblich Hochzeitsprämien zu zahlen sein. Das heißt, die Lieferanten zahlen letztendlich für die Übernahme. Das kann nicht richtig sein; das muss man auch mit sehen. Deshalb bin ich dankbar, dass wir mit diesem Gesetz all diese Praktiken verhindern, auf der einen Seite zugunsten der Bäuerinnen und Bauern in unserem Land, gleichzeitig aber auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land, damit sie weiterhin hervorragende, günstige, aber qualitätshaltige Lebensmittel haben werden. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen wissen wir alle: Die Covid-19-Pandemie besiegen wir weltweit oder eben gar nicht. Deutschland übernimmt mit seinem Coronasofortprogramm schon seit April 2020 international eine führende Rolle bei der Bekämpfung der Krise, auch in Bezug auf ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen. So unterstützt die Bundesregierung mit dem unter dem Dach der WHO eingerichteten Access to COVID-19 Tools Accelerator – kurz ACT-A – die Bereitstellung von Impfstoffen, von Diagnostika und Therapeutika sowie die Stärkung von Gesundheitssystemen.
2020 und 2021 sind wir mit einem Beitrag von knapp 2,1 Milliarden Euro zweitgrößter ACT-A-Geber; davon 1 Milliarde Euro für Impfstoffe für Entwicklungsländer über die weltweite Impfkampagne Covax.
Bislang wurden fast 50 Millionen Impfdosen an 121 Länder ausgeliefert. Bis Ende 2021 sollen es 2 Milliarden Impfdosen sein; da ist noch viel Luft nach oben.
Wir brauchen weitere Maßnahmen. Am Aufbau von Produktionskapazitäten arbeitet neben GAVI, der WHO und der WTO auch das BMZ. Wir prüfen ganz konkret Möglichkeiten zur Impfstoffproduktion in Ghana, im Senegal und in Südafrika. Wir ermöglichen zudem effektive Teststrategien und die Ausstattung von Gesundheitspersonal mit Schutzausrüstung.
Über unsere Partner, vor allen Dingen den Global Fund, konnten wir 2020 über 60 Millionen kostengünstige Tests in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen bereitstellen; bis 2021 sollen es insgesamt 900 Millionen Tests werden – ein essenzieller Schritt, um beispielsweise auch andere Gesundheitsprogramme wie gegen HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria aufrechtzuerhalten.
Wir engagieren uns aber nicht nur bei der Bekämpfung der aktuellen Pandemie, sondern wir arbeiten auch daran, dass in Zukunft solche Pandemien erst gar nicht entstehen. Die wachsende Weltbevölkerung, zunehmende globale Mobilität, industrielle Nutztierhaltung, das Vordringen des Menschen in bisher unberührte Lebensräume, der Biodiversitätsverlust und der Klimawandel begünstigen die Übertragung und Ausbreitung von Infektionskrankheiten und antimikrobiellen Resistenzen. Um das Risiko der Entstehung von Zoonosen zu reduzieren, schützen wir natürliche Lebensräume. Wir setzen uns für die Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels und eine deutliche Reduzierung und Regulierung von legalem Wildtierhandel ein.
Um Human- und Veterinärgesundheitssysteme gemeinsam zu stärken und Frühwarnsysteme im Sinne der Epidemie- und Pandemieprävention zu schaffen, setzen wir auf den „One Health“-Ansatz, das heißt eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Human- und Veterinärmedizin sowie den Umweltwissenschaften.
Wir behalten unsere langfristigen Ziele in der globalen Gesundheit im Blick. In vielen Ländern richten die indirekten Effekte der Pandemie massive Schäden an. Kinder verpassen ihre Routineimpfungen. Der Zugang zu essenziellen Dienstleistungen der Familienplanung und Mutter-Kind-Gesundheit ist eingeschränkt. Gewalt gegen Mädchen und Frauen eskaliert. Deshalb unterstützen wir bilateral und multilateral über den Global Fund, über das UN-Bevölkerungsprogramm.
Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie wichtig es ist, Gesundheit global und ganzheitlich zu denken,
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und die Bundesregierung nimmt hierbei weltweit eine Führungsrolle ein.
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Erlauben Sie mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, meine wohl letzte Rede an diesem Pult mit ein paar persönlichen Worten zu beenden. Ich habe es stets als großes Privileg empfunden, Mitglied dieses Hohen Hauses zu sein, weil es einen Unterschied macht, was wir hier tun oder nicht tun, für die konkreten Lebensumstände von Hunderten von Menschen in unserem Land und weit darüber hinaus. Es kommt auf die Abgeordneten in diesem Haus an, wenn es um die Zukunft unserer Demokratie und des Grundgesetzes geht, um Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in unserem Land, um verantwortliche Politik auf EU- und VN-Ebene, und das umso mehr, als wir in den letzten Jahren lernen mussten, wie verletzlich unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Es ist eine große Verantwortung, die mit einem Bundestagsmandat verbunden ist, und ich hoffe, ihr einigermaßen gerecht geworden zu sein.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg für ihre Unterstützung, Kollegialität und Freundschaft. Und ich bitte all diejenigen um Nachsicht, denen ich unabsichtlich und in ganz wenigen Fällen, wenn es unbedingt notwendig war, auch absichtlich auf die Füße getreten habe.
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Es war aber immer um der Sache willen. Behalten Sie mich dennoch in guter Erinnerung. Auf Wiedersehen!
Vielen Dank und Gottes Segen!
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Patente für Impfstoffe freigeben – Weder wirtschaftliche noch nationale Interessen dürfen die Bekämpfung der Pandemie beeinträchtigen“, so Die Linke im Titel ihres Antrags. Meine Damen und Herren, seit 1917 bzw. 1989 ist ja der Kommunismus, der im Wesentlichen auf Enteignung gesetzt hat, jämmerlich gescheitert. Trotzdem keine Einsicht: Allen wirtschaftlichen, psychologischen und realen Gründen zum Trotz bleiben Sie bei einer gescheiterten Ideologie.
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Sie behaupten in einem der Anträge:
Geistige Eigentumsrechte wie Patente und exklusive Nutzungslizenzen verhindern die Bereitstellung ausreichender und bezahlbarer Impfstoffdosen in ärmeren Ländern
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und verzögern damit die Eindämmung der COVID-19-Pandemie.
Dass die Pharmaunternehmen, deren Patente Sie quasi enteignen wollen, diese Impfpräparate überhaupt erst entwickelt haben, scheint Ihnen völlig gleichgültig zu sein. Die populistische Schlichtheit der Forderung wurde Ihnen in der öffentlichen Anhörung am 24. Februar von den fachlich versierten Sachverständigen förmlich um die Ohren gehauen; Sie erinnern sich. Das war vorauszusehen und hat wohl niemanden wirklich erstaunt.
Jede Entwicklung beruht auf einer gewaltigen Forschungsleistung, großem persönlichem Einsatz, Ideenfindung und Erfolgswunsch – all das, was die Entwicklung von Produkten oder Verfahren erst möglich macht. Ohne dies würde keine Forschung und Entwicklung in Deutschland und in anderen Ländern stattfinden.
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Müssten Unternehmen in bestimmten Ländern befürchten, ihre Patente seien dort nicht mehr sicher, würden sie einen Teufel tun, dort wieder zu forschen und Patente anzumelden.
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Sie würden in andere Länder gehen, dorthin, wo man Eigentum schätzt und seine Bedeutung für die Wirtschaft eines Landes erkennt und achtet. Das wäre die Auswirkung.
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Folgt man Ihren Vorstellungen – hier nur auf Deutschland bezogen –, meine Damen und Herren, wäre das eine Demontage des Forschungs- und Wissenschaftsstandortes Deutschland. Das wäre vielleicht in Ihrem Sinne und ideologisch ganz nachvollziehbar. Offensichtlich ist der Neid auf Erfolg Leitschnur Ihres politischen Handelns.
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Deutschland, ein Land ohne Rohstoffe, ist auf Wissen, geistige Leistungen und Forschung angewiesen. Das ist der Grund für unsere starke Volkswirtschaft. Auch als Geberland – daran denken Sie vielleicht mal! – ist es Vorbild in der ganzen Welt. Im Jahre 2019 gab es in Deutschland fast 70 000 Patentanmeldungen. Damit liegt Deutschland europaweit weit vorn. Das ist sowohl wirtschaftliches wie auch gesellschaftliches Kapital, das wir nicht gefährden dürfen. Seien Sie ehrlich und konsequent, und fordern Sie gleich die Enteignung und Verstaatlichung aller Forschungseinrichtungen oder, wie ich es persönlich erlebt habe in den 70er-Jahren, die Enteignung eines ganzen Wirtschaftszweiges, was ja auch der Grundstein für den Niedergang der DDR gewesen ist, meine Damen und Herren.
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Die patentierbare Entwicklung von Verfahren und Produkten wird in der Regel durch Risikokapital und Kredite finanziert. Dass diesem unternehmerischen Risiko und dem zeitlichen und personellen wie auch technischen Aufwand ein Schutz durch ein Patent gegenüberstehen muss, damit sich dieser Entwicklungsaufwand künftig amortisieren kann, ist selbstverständlich – für Sie nicht, für die meisten anderen schon.
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Ohne diesen Aspekt gäbe es künftig keine Forschung durch Unternehmen mehr, meine Damen und Herren. Auch für Kapitalgeber sind die Patente nicht zuletzt ein Schutz für ihr eingesetztes Kapital. Über so was denken linke Ideologen allerdings lieber nicht nach. Kapital ist böse, Gewinn ist schlecht – so lautet ja Ihre schlichte Gleichung, die ich selber noch im Unterricht in der Schule gehört habe.
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Im Übrigen wurde in der Anhörung erklärt, dass bisher keine Pharmaproduktionsstätte in Indien oder in einem afrikanischen Staat um Patente ersucht hat, meine Damen und Herren. Im Serum Institute in Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra wird der AstraZeneca-Impfstoff unter anderem Namen in großer Menge hergestellt. Das wirft die Frage auf, ob man überhaupt auf deutsche Patente angewiesen ist. Was das Fehlen von Impfstoff in ärmeren und weniger entwickelten Ländern betrifft, so sind die Ursachen vielfältig. Der Patentschutz ist dabei marginal; er kommt überhaupt nicht zum Tragen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, letzter Satz. – Meine Damen und Herren, die AfD schützt das geistige Eigentum. Wir brauchen es in Deutschland als einer starken Wirtschaftsnation. Wir werden uns gegen jegliche Enteignungstendenzen wehren.
Recht vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Heike Baehrens.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war gestern ein guter Tag für die Weltgesundheit und vor allem auch im Kampf gegen die Pandemie. Die Ankündigung der USA, einer zeitweisen Aussetzung der Patentrechte für Covid-Arzneimittel und -Impfstoffe zuzustimmen, ist historisch bedeutsam und gibt Hoffnung.
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Die aktuellen Zahlen zur globalen Impfkampagne müssen aufrütteln. Während wir in Deutschland in Riesenschritten beim Impfen vorankommen und bis heute fast 33 Millionen Dosen verimpft haben, wurden über den Impfstoffverteilmechanismus der Weltgesundheitsorganisation Covax – Stand heute – erst 54 Millionen Dosen verteilt, und das weltweit. Dieses krasse Missverhältnis zeigt, dass wir zwei Dinge jetzt endlich angehen müssen:
Der Verteilmechanismus der Weltgesundheitsorganisation muss von allen Industriestaaten unmittelbar mit Impfstoffkontingenten unterstützt werden.
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In dieser Woche beginnt die Auslieferung von Impfdosen über die EU; 650 000 Dosen gehen an die Westbalkanstaaten. Das ist gut, kann aber nur ein Anfang sein.
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Ich hoffe sehr, dass wir nun auch den nächsten Schritt tun und die Logik des großzügigen Spenders verlassen, der nur abgibt, was er selbst übrig hat.
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Impfstoff allen zugänglich zu machen, ist kein karitativer Akt, sondern Teil der globalen Verantwortung. Es ist im Interesse aller Staaten, also auch in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse, die Pandemie weltweit unter Kontrolle zu bringen.
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Darum brauchen wir zusätzlich und schnell eben auch die Ausweitung der weltweiten Produktionskapazitäten. In der öffentlichen Anhörung wollten einige Sachverständige den Eindruck erwecken, dass das bestehende System doch bis hierhin ganz gut funktioniert habe und dass die bisherigen Bemühungen, freiwillig Know-how zu teilen und die Produktion auszuweiten, ausreichten. Das ist aber mitnichten der Fall. Ich halte eine solche Aussage angesichts selbst der optimistischsten Verteilprognosen von Covax für mindestens problematisch.
Klar ist: Auch Technologietransfer braucht seine Zeit, und auch Lockerungen im Patentrecht – wenn es denn gelingen soll – werden erst mittelfristig Wirkung zeigen.
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Was mir deshalb im Antrag der Linken fehlt, ist ein Konzept, das über die Patentfrage hinausgeht und tatsächlich zu besserer Versorgung und zur Bewältigung der akuten Pandemie führt.
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Wir brauchen jetzt eine globale Impfstrategie. Wir brauchen einen Ausbau der Lieferketten und eine Ausweitung der Produktion.
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Darum kommt viel darauf an, ab sofort die vorhandenen Impfstoffkontingente gerecht unter allen zu teilen und die Pharmaunternehmen dafür zu gewinnen, die ärmsten Länder dieser Welt zu versorgen. Die großen Industrienationen haben die Unternehmen massiv mit Forschungsmitteln und auch beim Aufbau der Produktionsstandorte, vor allem hier in der EU, unterstützt. Manche Staaten haben ihnen sogar mit öffentlichen Geldern das unternehmerische Risiko abgefedert. Dann sollten die Pharmaunternehmen im Gegenzug auch einen fairen Beitrag zur Bewältigung dieser globalen Gesundheitskrise leisten.
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Als SPD setzen wir uns dafür ein, jetzt das historische Fenster zu nutzen, das sich bei den Impfpatenten geöffnet hat.
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Denn wenn wir es nicht schaffen, dem Virus gemeinschaftlich entgegenzutreten, dann hätte das Virus schon gesiegt. In diesem Sinne weiß ich fast alle hier vertretenen Fraktionen einig, dass wir unser Engagement für die globale Covid-19-Bekämpfung weiter ausbauen müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Andrew Ullmann.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Pandemie ist der Staat das Problem und nicht der Unternehmer. Es waren nämlich die Unternehmen und die Wissenschaft, die in Rekordzeit einen Impfstoff entwickelt haben.
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Während Staaten in einen Impfstoffnationalismus verfallen sind, wie die von Ihnen gerade gelobte USA, liebe Heike Baehrens, haben Unternehmen global kooperiert, um Instrumente im Kampf gegen die Pandemie bereitzustellen. Deshalb sei die Frage erlaubt – gerade hier an die linke Seite –: Über welche Probleme sprechen wir hier eigentlich, die beseitigt werden müssen?
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Unstrittig ist doch, dass wir schnell und so viel wie möglich sichere und effektive Impfstoffe weltweit für alle Menschen zur Verfügung stellen wollen. Doch statt diese Herausforderung genauer zu analysieren oder gar anzusehen, sind die Linken blind; denn sie bieten sofort eine vermeintlich einfache Lösung an für ein sehr komplexes Problem,
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und zwar die Freigabe von Patenten. Nein, liebe Freunde, liebe Damen und Herren, das ist rotäugiger Populismus, was Sie hier betreiben.
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Dass Sie aber meinen, eine neue Generation an Impfstoffen könne in einem Chemielabor einfach nachgebastelt werden, zeigt, dass Sie reich sind, und zwar reich an Naivität. Denn solche Stoffe herzustellen, ist nicht trivial und bedarf wirklich guter Instrumente in der Industrie, und das kann man nicht einfach so nachbasteln.
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Was sind denn Ihre Lösungen für die immer kritischer werdenden Lieferprobleme bei Rohstoffen? Was sind denn Ihre Lösungen, um eine qualitativ hochwertige Herstellung zu gewährleisten? Meinen Sie etwa im Ernst, dass die Produktionsanlagen und die Fachkräfte vom Himmel herunterregnen?
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Wo sind denn Ihre Lösungen, um Abfüllkapazitäten zu erhöhen? Denn dafür bedarf es keiner Patente, sondern einer Zusammenarbeit von Unternehmen, einer Zusammenarbeit, die bereits heute funktioniert. Verweigerungen sind bisher keine bekannt.
Noch wichtiger: Wie wollen Sie Anreize für die Entwicklung von innovativen Therapien bei Infektionskrankheiten und bei Krebs aufrechterhalten? Die Linken versprechen große Luftschlösser bei der Impfstoffversorgung, die bei der Umsetzung sofort zusammenfallen würden.
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Meine Damen, meine Herren, es waren doch kleine Start-up-Unternehmen, die erfolgreich mit kapitalstarken Konzernen freiwillig zusammengearbeitet haben.
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Sie zerstören die Ideen-Hotspots mit Ihrem Ansatz. Denn leider stellen die Linken, aber auch die Grünen, den Schutz des geistigen Eigentums infrage. So würden Sie uns nachhaltig unvorbereitet in die nächste Pandemie hineinlaufen lassen.
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So eine Zukunft wollen wir verhindern und werden diesen Antrag natürlich ablehnen.
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Wir wollen nach realistischen Lösungen mit Unternehmen und Forschern suchen. Wir wollen weltweite Lieferungen von Impfdosen durch Covax stärken und Impfnationalismus durchbrechen. Wir wollen überschüssige Impfdosen gegen SARS-CoV-2 schnell und unbürokratisch global verteilen.
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Wir wollen, dass unser Land sein Gewicht in der globalen Gesundheitspolitik einsetzt, um andere Länder dazu aufzurufen, den ACT-Accelerator zu unterstützen und die Finanzierungslücke von insgesamt 19 Milliarden US-Dollar zu schließen.
Herzlichen Dank.
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Na ja, jetzt bin ich schuld am Geschrei? Nein, nein.
Vielen Dank, Dr. Andrew Ullmann. – Nächster Redner: für Die Linke Dr. Achim Kessler.
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Nach diesem Ausflug in die Märchenwelt kommen wir jetzt zurück in die Realität.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz einmal sagen würde, aber ich danke dem US-Präsidenten Joe Biden, nämlich dafür, dass er Menschenleben vor Profite stellt
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und die Freigabe der Patente für Impfstoffe unterstützt, damit alle Menschen weltweit schnell geimpft werden können.
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Das ist eine Wendung um 180 Grad. Die Linke hat bisher den Impfnationalismus der USA immer scharf verurteilt. Umso mehr begrüßen wir diese fundamentale Wendung.
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Ich frage die Bundesregierung hier und jetzt: Unterstützen Sie die Initiative des US-Präsidenten, ja oder nein? Nicht nur wir erwarten dazu von Ihnen heute eine klare Antwort.
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Meine Damen und Herren, angesichts der Millionen Toten und der verheerenden sozialen Folgen der Pandemie darf es in dieser Frage auch keine Fraktionsdisziplin geben.
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Ich fordere jeden und jede von Ihnen auf, Ihr Gewissen sehr genau zu prüfen – nach dieser sehr guten Rede sage ich das insbesondere in Richtung SPD –, wenn wir heute über unseren Antrag zur Freigabe der Patente abstimmen.
Meine Damen und Herren, die Fehler bei der Bekämpfung der Aidspandemie dürfen sich nicht wiederholen.
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Viele Millionen Menschen sind völlig unnötig gestorben, weil die Pharmaindustrie den weltweiten Zugang zu HIV-Medikamenten jahrelang mit allen Mitteln verhindert hat.
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Wenn Sie heute unseren Antrag ablehnen, können Sie hinterher nicht sagen, Sie hätten die Folgen nicht gekannt. Stimmen Sie unserem Antrag zu!
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Wir sehen die katastrophalen Folgen des Virus weltweit. Die Gesundheitssysteme einiger Länder sind bereits zusammengebrochen.
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– Andrew, hör mal zu! – Über 3 Millionen Menschen sind bis jetzt gestorben. Das dürfte eigentlich auch dich nicht kaltlassen; aber ich täusche mich vielleicht.
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Die Regierungen Indiens und Südafrikas haben frühzeitig einen Antrag an die Welthandelsorganisation gestellt, den Schutz der Patente für die Dauer der Pandemie auszusetzen.
({11})
Und jetzt? Sehen Sie sich aktuell die katastrophale Situation in Indien an.
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Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung für die gesundheitliche und humanitäre Katastrophe, indem sie die Anträge zur Patentfreigabe ablehnt.
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Ich fordere Sie auf: Revidieren Sie Ihre Haltung! Stimmen Sie bei der Welthandelsorganisation der Aussetzung des Patentschutzes zu, damit alle Menschen, auch in ärmeren Ländern, geimpft werden können und damit die Pandemie nicht in Form von resistenten Mutanten zu uns zurückkommt.
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Meine Damen und Herren, noch immer sind erst 8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland vollständig geimpft, und das in dem Land, in dem einer der ersten wirksamen Impfstoffe entwickelt worden ist.
({15})
– Ich komme gleich darauf. – Die Impfaktion verläuft viel zu langsam, und das liegt daran – und jetzt hören Sie bitte gut zu von der FDP –,
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dass die Bundesregierung zwar 1,25 Milliarden Euro in die Entwicklung von Impfstoffen gesteckt hat,
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aber vollkommen versäumt hat, Maßnahmen zu ergreifen, diese erfolgreichen Impfstoffe dann auch in die Massenproduktion zu bringen.
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Wider besseres Wissen überlässt die Bundesregierung die Produktionsplanung der Pharmaindustrie und den Gesetzen des Marktes. Dabei haben die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung dazu ermächtigt, in der Pandemie die Patente freizugeben, damit möglichst schnell möglichst viel Impfstoff produziert werden kann.
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Meine Damen und Herren, es ist vollkommen unverständlich und es ist vollkommen verantwortungslos, dass Sie dieses Instrument, das Sie selbst in weiser Voraussicht geschaffen haben, jetzt nicht nutzen.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen jetzt –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– letzter Satz – mit allen Mitteln schnellstmöglich weltweit eine Herdenimmunisierung erreichen; denn sonst geht das Ganze im Herbst von vorne los.
Herr Kollege!
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Geben Sie die Patente frei!
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pandemie ist erst dann vorüber, wenn sie überall vorbei ist.
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Der Satz geht leicht über die Lippen; aber leicht gesagt ist nicht leicht getan. Wir diskutieren hier bei uns tagtäglich über die nationale Impfstrategie; aber wir werden Corona nur mit einer globalen Impfstrategie bekämpfen können.
Blicken wir kurz nach Indien. Dort erleben die Menschen im Moment die Hölle auf Erden und hoffen auf internationale Hilfen. Und auch uns nützen diese Hilfen; denn wir müssen vermeiden, dass die Mutationen sich weltweit ausbreiten können.
({1})
Vor allem – das ist noch viel wichtiger – ist Indien ein ganz wichtiger Produzent und Lieferant von Impfstoffen weltweit, übrigens auch nach Deutschland, und bietet über Covax gerade Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen Impfstoffe gegen Covid-19 an. Meine Damen und Herren, was passiert, wenn ein so wichtiger globaler Produzent ausfällt?
Gestern hat sich die US-Regierung für die temporäre Aufhebung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe ausgesprochen, wie es auch die WHO und die Zivilgesellschaft fordern. Deswegen ist meine erste Forderung an die US-Regierung, die Exportverbote aus den USA in den Rest der Welt aufzuheben
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und weiterhin dafür zu sorgen, dass die Impfstoffe weltweit verteilt werden können, auch die, die aus den USA kommen.
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Meine Damen und Herren, eine globale Gesundheitskrise braucht natürlich außergewöhnliche Maßnahmen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich gemeinsam mit der EU, vielleicht schon morgen oder übermorgen, dem US-amerikanischen Vorstoß zum Patentschutz anzuschließen.
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Das ist notwendig; denn das Ziel muss sein, gemeinsam mit der Welthandelsorganisation ein TRIPS-Waiver-Abkommen zu schließen, um die Produktion und das Know-how weltweit massiv zu steigern. Aber bis dieses Abkommen zustande kommt, wird es dauern. Deshalb ist aus unserer Sicht auch ein internationales Sofortprogramm notwendig.
Wir brauchen erstens ein sofortiges Dosis-Sharing. Während wir hier über die Aufhebung der Priorisierung sprechen, ist in anderen Ländern das Gesundheitspersonal noch nicht mal geimpft. Wir brauchen dringend die Impfung von Menschen in diesen Schlüsselfunktionen, auch in anderen Ländern.
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Wir brauchen zweitens eine sofortige Ausweitung der Produktionskapazitäten, am besten in Ländern, die bereits Erfahrungen haben, die selber schon Impfstoffe produzieren.
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Ich nenne hier nur den Senegal als Beispiel.
Wir brauchen drittens sofortigen Technologietransfer mit qualifiziertem Personal. Meine Damen und Herren, BioNTech hätte die Fabrik in Marburg nicht eröffnen können, wenn dort nur eine leere Fabrik gestanden hätte. BioNTech konnte es, weil sie qualifiziertes Personal hatten, um Impfstoffe herzustellen.
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Dafür müssen wir uns einsetzen.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Meine Damen und Herren, die Coronapandemie zeigt uns ein globales Systemversagen.
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Deutschland und die EU sollten sich hier zum Vorreiter machen, –
Frau Kollegin!
– in unserem eigenen Interesse und im Interesse der internationalen Solidarität.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche.
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– Herr Kollege Korte, Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten jetzt nicht der Öffentlichkeit mitteilen.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der Linken über die Freigabe von Patenten für Impfstoffe. Die Linken waren ja bei vielen Dingen, die wir in den letzten Wochen und Monaten beschließen mussten, dabei. Deswegen will ich die Zeit auch nutzen, um die positiven Aspekte ihres Antrags hervorzuheben.
Es ist richtig, dass der Impfstoff das wichtigste Mittel zur Eindämmung der Pandemie ist und wir eine möglichst breite Durchimpfung brauchen. Die Pandemie kann nicht durch Impfnationalismus bekämpft werden, sondern wir brauchen einen globalen Ansatz. Und wir sind uns darüber einig, dass es eine herausragende Leistung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern war, innerhalb kürzester Zeit einen Impfstoff zu entwickeln.
Aber da fangen dann schon die Differenzen mit den Linken an. Es ist schade, dass Sie nicht auch die unternehmerischen Leistungen in vielen Betrieben in den letzten Wochen und Monaten gewürdigt haben: Unternehmer haben durch gutes Management viel geleistet; Mitarbeiter in mittelständischen Betrieben in Deutschland haben Hand angelegt, um innerhalb kürzester Frist sichere Lieferketten und Produktionskapazitäten aufzubauen.
Ich spüre diese Euphorie der Linken, seitdem der amerikanische Präsident gesagt hat, er möchte über die Aussetzung des Patentschutzes nachdenken.
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Vielleicht haben Sie die Zeit, sich in den nächsten Tagen zwei Zeitungsartikel vom heutigen Tage zu Gemüte zu führen: einen Artikel aus der „FAZ“, in dem ein südafrikanischer Impfstoffproduzent zu diesem Thema Stellung genommen hat, und einen Artikel aus der „Berliner Morgenpost“.
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In dem Artikel der „FAZ“ sagt dieser südafrikanische Impfstoffproduzent, mit der Vektortechnologie sei es möglich, innerhalb eines Jahres 20 Millionen bis 30 Millionen Impfdosen zu produzieren. Zu dem neuen Impfstoff von BioNTech sagt er, dass kein Wissen über das Verfahren und über die Technik vorliege und dass es Jahre dauern würde, bis man Produktionskapazitäten aufgebaut hätte. Und dann kommt etwas ganz Spannendes: dass nämlich BioNTech und Pfizer schon im letzten Jahr Produktionsvereinbarungen mit diesem Unternehmen getätigt haben. Ich frage mich, ob das alles passiert wäre, wenn BioNTech und Pfizer gewusst hätten, dass sie im Grunde genommen den Patentschutz aufheben müssen.
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Dann schauen Sie sich mal den Artikel in der „Berliner Morgenpost“ an, in dem beschrieben wird, dass für den neuen BioNTech-Impfstoff 50 000 Arbeitsschritte notwendig sind, dass Pfizer und BioNTech in diesem Jahr innerhalb kürzester Zeit 2,5 Milliarden Dosen produzieren und mittlerweile 65 Länder aus Deutschland heraus beliefert werden.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Ich glaube, das zeigt mehr als deutlich, dass wir auf freiwillige Kooperation bauen müssen und dass wir die Probleme nicht mit staatlicher Zwangswirtschaft lösen.
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Der Beweis – BioNTech mit seinen Kooperationen – macht es mehr als deutlich.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hennrich. – Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bis auf den rechten Block sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass wir den Menschen weltweit möglichst viel und möglichst schnell Impfstoff zur Verfügung stellen müssen.
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Fakt ist allerdings auch, dass nur ein geringer Prozentbruchteil an Impfstoffen wirklich in den ärmsten Ländern dieser Welt ankommt.
Nun glaubt Die Linke – und beschreit das hier sehr lauthals –, die Patentfreigabe müsse erfolgen,
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und meint, mit ihrem Antrag, den sie zur Abstimmung stellt, dieses Problem lösen zu können. Tatsächlich geht es in dem Antrag aber nicht um die Freigabe von Patenten – Sie müssten ihn selbst mal lesen –, vielmehr wollen Sie die Patentinhaber und ‑hersteller zur Vergabe von Lizenzen veranlassen. Weicher hätte ich es auch nicht formulieren können.
Es gibt da aber einen wesentlichen Unterschied. Wer jemals Lizenzverhandlungen mitgemacht hat, der weiß, wie lange das dauert, welche rechtlichen Schwierigkeiten damit verbunden sind, und vor allen Dingen, wie viel Geld man mitbringen soll und muss – ich weiß gar nicht, wer das bezahlen soll: die Länder, die die Lizenzen beantragen und erhalten sollen? –,
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und der weiß auch, dass diese Lösung nicht funktionieren wird. Ebenso weiß er, dass das, was Sie gerade machen, leider Populismus auf Kosten der Ärmsten ist; denn es hat nichts mit Patentfreigabe zu tun.
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Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, das zu sagen. Ich glaube nicht, dass es sehr hilfreich ist, wenn man viel Geld für Lizenzen ausgibt und am Ende des Tages nicht eine Dose Impfstoff mehr hat. Dann hat man zwar eine Lizenz, aber nichts in der Hand.
Dieser Weg ist also nicht der richtige, und ich finde, er beschreibt auch nicht die beiden Probleme, die ich jedenfalls sehe.
Das erste zentrale Problem ist das der mangelnden Produktionskapazitäten – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – für einen völlig neuartigen Impfstoff, nämlich einen mRNA-Impfstoff, an den ich vor einem oder vor anderthalb Jahren noch nicht geglaubt hätte, der auch noch kompliziert herzustellen ist und gerade mal seit fünf Monaten zugelassen ist. Das alles ist nicht trivial, und tatsächlich müssen wir in diesem Bereich insgesamt besser werden.
Das zweite wichtige Problem – und ich finde es schon erstaunlich, dass Die Linke das verschleiert – besteht nicht etwa in den Patenten, sondern darin, dass wir als reiche Länder dieser Welt völlig unsolidarisch den Impfstoffmarkt leergekauft haben – schlicht und einfach. Wenn wir zur Problemlösung beitragen wollen, müssen wir an unsere eigene Nase fassen.
Deswegen ist es wichtig, an zwei Stellen anzusetzen: nämlich erstens den Kapazitätsaufbau von Produktionsstätten weltweit – nicht nur in Deutschland; wenn es die alle schon gäbe, hätten wir hier ja genug Impfstoff – zu unterstützen und massiv zu fördern, und zweitens, wie Deutschland das schon vorbildhaft tut – aber da müssen wir mehr machen, bei Covax usw. –, deutlich mehr in die Impfstoffe zu investieren.
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Ich finde es sehr erstaunlich, dass Sie die USA loben. Wenn die amerikanische US-Handelsbeauftragte Tai davon spricht, das Ganze über ein TRIPS-Waiver-Abkommen regeln zu wollen, –
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
– weil jetzt die Versorgung der eigenen amerikanischen Bevölkerung sichergestellt ist, dann ist das sehr bedenkenswert.
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Es ist aber eine gute Idee für eine Initiative. Wir werden darüber nachdenken.
Herr Kollege, einen Satz noch!
Wenn wir am Ende bei uns die Probleme gelöst haben und es dann immer noch Probleme mit Patenten gibt, werden wir diesen Weg weiterverfolgen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Röspel. – Ich gebe mal einen technischen Hinweis: Es macht relativ wenig Sinn, die Maske auf das Blinkzeichen zu legen. Sie sehen das dann zwar nicht, aber es blinkt trotzdem.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Das Ziel, welches dieser Antrag verfolgt, ist in meinen Augen nicht so falsch. Menschen weltweit zu helfen und die Coronaimpfstoffe jedem zugänglich zu machen, ist richtig. Der Mensch muss in dieser Pandemie im Mittelpunkt stehen. Das ist unser Ziel.
Wenn hier ein Vorschlag aus Amerika kommt – Joe Biden hat einen Plan vorgelegt –, dann ist das generell gut.
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Wir möchten versuchen, diese Pandemie zu besiegen. Das werden wir nicht im Klein-Klein der Nationalstaatlichkeit schaffen, sondern das werden wir nur in größeren Zügen – europäisch und weltweit – lösen können. Da braucht man auch ein starkes Land wie Deutschland.
Aber ob das Instrument, welches diesem Antrag zugrunde liegt, nämlich die Aufhebung von Patentschutz, richtig ist, da bin ich mir nicht so ganz sicher.
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Aber es ist ein Vorschlag. Und unser Minister hat heute klar gesagt, dass wir über diesen Plan diskutieren, dass wir diesen Plan abwägen werden und dass wir dann eine Entscheidung treffen, die klug, die hilfreich und segensreich ist. Die Vorstellungen der Linksfraktion, dass der Staat mit ein paar Handgriffen Patente aussetzen kann, ist ein Trugschluss und vereinfacht sehr viel.
Wir haben nun einmal diese Situation; aber das Ganze kommt jetzt in Schwung, und wir sehen, dass das Impfen wirklich zu den Menschen kommt, dass es auch Wirkungen zeigt und dass es Lösungen bietet. Dass das der richtige Weg ist, um die Menschen zu schützen, das erleben wir doch Tag für Tag. Und sind wir doch mal ehrlich: Sicher gehören politische Entscheidungen dazu, aber es ist doch vor allem die große Leistung von Wissenschaft und Forschung und von den Betrieben, die das alles handwerklich umsetzen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Die Impfstoffproduktion ist komplex, und so ist auch die dazugehörige Patentstruktur. Hier eine adäquate Lösung zu finden, wird laut Aussage vieler Expertinnen und Experten eine juristische Mammutaufgabe werden, die viel Zeit kostet. Uns muss leiten, dass wir das Vernünftige tun, dass wir das Machbare, zu dem Politik in der Lage ist, umsetzen, dass wir aber auch die internationale Verteilung menschlich und nach dem Grundsatz der Nächstenliebe vornehmen.
In diesem Sinne werden wir die Gespräche führen, und ich wünsche uns dazu viel Kraft und auch Weitblick.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir über die Errichtung der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung, zwei Tage vor dem 8. Mai. Der 8. Mai 1945 hat das Leben einer ganzen Generation geprägt. Zu dieser Generation gehörte auch Helmut Kohl. Helmut Kohl steht wie kaum ein anderer für diese Generation, er und auch andere wie beispielsweise Hans Rosenthal.
Vor einigen Tagen ist ein Gespräch von 1982 wieder im Netz aufgetaucht: Hans Rosenthal und Helmut Kohl im Gespräch. Auf der einen Seite der Showmaster Hans Rosenthal, ein Berliner Jude, dessen kleiner Bruder 1942 von den Nationalsozialisten nach Riga deportiert und wenige Tage später im Konzentrationslager Majdanek ermordet wurde. Auf der anderen Seite der Christdemokrat Helmut Kohl, dessen älterer Bruder 1944 als deutscher Soldat fiel. Hans Rosenthal überlebte den Holocaust, weil ihn zwei mutige Berliner Frauen in einer Laubenkolonie versteckten. Helmut Kohl blieb der Einsatz als Flakhelfer in den letzten Kriegstagen gerade noch erspart.
Hans Rosenthal und Helmut Kohl waren zwei Männer der gleichen Generation, die manches getrennt, aber doch so vieles verbunden hat in ihrer Erinnerung und ihrem späteren Wirken. Zwei Lebenswelten: hier die politische, da die historisch-künstlerisch-journalistische.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Erfahrungen aus seiner Kindheit und Jugend haben Helmut Kohl tief geprägt und begründeten seinen Einsatz für „Nie wieder Krieg!“ und für die Einheit Europas und führten dazu, dass er sich früher engagierte als andere, in der Jungen Union und in der Christlich Demokratischen Union. Er übernahm Verantwortung, wurde Abgeordneter, Ministerpräsident, Parteivorsitzender und später Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Als Helmut Kohl 1982, einige Zeit nach diesem Gespräch, Bundeskanzler wurde, stand hier, unweit vom Reichstag, die Berliner Mauer. Unser Vaterland war getrennt. Unser Kontinent war getrennt. Unversöhnlich standen sich zwei militärische Weltmächte gegenüber. Jederzeit konnte der Kalte Krieg zu einem heißen werden. Als Helmut Kohls Amtszeit als Bundeskanzler endete, war Deutschland wiedervereinigt, Berlin eine freie Stadt, und Deutschland war das erste Mal in seiner Geschichte nur von Freunden umgeben.
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Helmut Kohl war ein Brückenbauer. Deswegen ist das, was sich in seiner Kanzlerschaft ereignet hat, tief mit seinen Überzeugungen und vor allem mit seinem Wirken verbunden, auch und vor allem die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und die Einheit Europas.
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Am 9. November reiste Helmut Kohl nach Warschau, um der neuen demokratisch gewählten Regierung in Polen die Ehre zu erweisen. An diesem Tag, als er mitbekam, was in Berlin passierte, musste er sich entscheiden: Bleibt er in Warschau, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen wieder auf ein neues Level zu bringen, oder reist er zurück nach Berlin, um am 9. November als Bundeskanzler in Berlin zu sein? Er entschied sich, zurück nach Deutschland zu reisen. Das war damals gar nicht so einfach, weil die Luftwaffe der Bundeswehr gar nicht nach Berlin fliegen konnte, sondern ein militärischer Flieger der US-Armee angefordert werden musste.
Die Polen waren besorgt, weil sie nicht wussten: Was bedeutet eine mögliche Grenzöffnung und vielleicht eine Wiedervereinigung für die östlichen Nachbarn der Bundesrepublik? Das Einzige, was er ihnen anbieten konnte, war sein Wort. Und sie vertrauten dem Wort Helmut Kohls, und er hielt sein Wort, so wie er immer als bodenständiger Weltpolitiker sein Wort gehalten hat. Am Ende seiner Kanzlerschaft pflegte die Bundesrepublik gute und freundschaftliche Beziehungen mit Paris genauso wie mit Warschau, mit Washington genauso wie mit Moskau.
Helmut Kohl ist für viele junge Menschen noch heute ein großes Vorbild, und er sollte für alle, die sich politisch engagieren, ein großes Vorbild sein – immer die Geschichte im Blick zu haben, aber weiter zu denken als über den heutigen Tag.
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Übrigens – ich will keine Fraktionen hier im Deutschen Bundestag nennen; aber die Älteren wissen es –: Als viele in der Bundesrepublik die Einheit noch gar nicht wollten, auch im Deutschen Bundestag, wollte sie Helmut Kohl, und er glaubte an diese Chance der Geschichte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Helmut Kohl hat als junger Mensch Geschichte studiert. Durch sein Wirken, durch sein Lebenswerk ist er selbst zur großen Geschichte unseres Landes und der Europäischen Union geworden. Heute ist vieles für junge Menschen selbstverständlich: Ein festes Bündnis der Verteidigung in der NATO, die Europäische Union, die Grenzfreiheit in der Europäischen Union, eine gemeinsame Währung, und – wie gesagt, das Wichtigste – wir sind von Freunden umgeben.
Diesen Zustand verdanken wir dem Wirken von Helmut Kohl. Daran wollen wir erinnern, und dazu dient diese Stiftung.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ziemiak. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! CDU/CSU und SPD wollen – und werden mit ihrer Mehrheit sicherlich auch – eine Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung errichten. Warum muss es übrigens „Bundeskanzler“ heißen? Es heißt ja auch nur Otto-von-Bismarck-Stiftung oder Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Name Helmut Kohl könnte meines Erachtens ebenfalls für sich alleine stehen; er hätte diese begriffliche Krücke eigentlich nicht nötig – aber sei’s drum.
Der Kanzler der Einheit also, den inmitten der vermeintlich posthistorischen 80er-Jahre der Mantel der Geschichte streifte und der ihn beherzt ergriff, er wird durch diese Stiftung nun selbst zu einer Figur der Geschichte. Als solcher ist er dem Leben, auch dem politischen, entrückt und wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Aufarbeitung, Deutung, Einsortierung und damit endgültig zu jenem Monument, als das er sich gegen Ende seines Lebens manchmal selbst schon zu betrachten schien.
Anlässlich Ihrer Reden, werte Kollegen, die wir in der ersten Lesung ja schon vor zwei Wochen hier gehört haben, bin ich aber unwillkürlich versucht, mich hineinzuversetzen in den noch lebenden, noch politisch aktiven Helmut Kohl, und ich frage mich, was er wohl gesagt hätte zu diesem Spektakel hier. Etwa aus der Sicht der frühen 80er-Jahren zu Beginn seiner Kanzlerschaft, als er eine „geistig-moralische Wende“ in Deutschland gefordert hatte, weg vom Sozialismus und den Gesellschaftsexperimenten der 68er-Generation hin zu konservativen Tugenden wie Leistung, Eigeninitiative, Familienwerten,
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aber auch zu einem anderen nationalen Selbstverständnis. Was hätte er gesagt zu einer CDU, die ihn jetzt salbungsvoll auf den symbolischen Sockel hebt, in ihrer Realpolitik aber all das dementiert und mit Füßen tritt, was die geistig-moralische Wende einst intendiert hat?
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Die Partei Helmut Kohls ist inzwischen nicht nur zu Ende sozialdemokratisiert und durchgegrünt, sie setzt in etlichen Punkten – in der Flüchtlingspolitik, bei Frauenquoten, in der wirtschaftsfeindlichen Energiepolitik – Positionen um, die man zu Kohls Zeiten „linksradikal“ genannt hätte.
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Legendär die Warnung von Franz Josef Strauß vor Rot-Grün 1986 auf einem CDU-Parteitag: Das „bunt geschmückte Narrenschiff Utopia“, auf dem „ein Grüner und zwei Rote die Rolle der Faschingskommandanten übernehmen“, das müsse mit „bürgerlicher Vernunft“ verhindert werden, weil es das Leben der künftigen Generationen aufs Spiel setze. – Helmut Kohl saß dahinter und applaudierte, und zu Recht.
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Aber genau dort, meine Damen und Herren, sind wir heute angekommen. Und auch wenn Helmut Kohl diese Entwicklungen damals schon mit auf den Weg gebracht hat unter dem trügerischen Schlagwort „Modernisierung der CDU“, auch wenn er sich viel zu wenig dagegengestemmt hat: Angesichts des Zustands, in den die CDU unter Angela Merkel Deutschland inzwischen gebracht hat, würde er sich im Grabe umdrehen, und er würde die Loblieder, die heute hier auf ihn gesungen werden, nicht goutieren, schon gar nicht von den grün-rot-roten Faschingskommandanten; davon bin ich überzeugt.
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Die AfD-Fraktion wird sich bei diesem Stiftungsgesetz enthalten, zum einen wegen der Ambivalenz der Figur Helmut Kohl. Wir ehren ihn als den Kanzler der Einheit, der sich durch seinen politischen Instinkt und sein konsequentes Handeln im historischen Moment ein unsterbliches Verdienst um unser Land erworben hat. Wir sehen ihn aber auch mitverantwortlich für fatale Entwicklungen: die Preisgabe der D-Mark für den Euro, den Beginn der Räumung vieler konservativer Positionen.
Vor allem aber können wir der Konstruktion dieser Stiftung nicht zustimmen. Von fünf Kuratoriumsmitgliedern kommen zwei aus der CDU-nahen Adenauer-Stiftung, zwei werden von der Kulturstaatsministerin bestimmt, ebenfalls CDU, und eines ernennt der Bundespräsident, SPD. Diese wählen dann den dreiköpfigen Vorstand. Das klingt nicht nach Unabhängigkeit, sondern nach politischer Kungelrunde, und das hat Helmut Kohl – aller schwarzen Kassen zum Trotz – nicht verdient.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Dr. Jongen. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung: Es ist eine gute Tradition, dass wir diese Stiftungen einrichten und dass wir heute als Deutscher Bundestag die Errichtung einer Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung auf den Weg bringen. Was machen diese Stiftungen? Sie leisten politische Bildungsarbeit. Sie arbeiten das Lebenswerk der Kanzler auf. Sie wollen, dass aus der Geschichte gelernt wird. Sie wollen aus der Geschichte letztendlich auch Zukunft gestalten.
Ich möchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitieren, der zum Tode von Helmut Kohl gesagt hat:
Helmut Kohl war ein Ausnahmepolitiker und ein Glücksfall für die deutsche Geschichte. Das Ziel, für unser Land die Einheit in Freiheit zu erlangen, verfolgte er genauso beharrlich wie den Bau des Hauses Europa.
Helmut Kohl war ein Mann – das muss man sagen –, der natürlich auch im Lichte seiner eigenen Lebensgeschichte gesehen werden muss, der sich aber klar dazu entschieden hatte – und auch das muss man heute hier noch mal erwähnen –, für ein europäisches Deutschland zu streiten, das nach dem Fall der Mauer seine Einheit wiederfand, und es ist ein europäisches Deutschland gewesen, das allem widerspricht, Herr Jongen, was Sie mit Ihrer Partei vertreten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gehört zur Ehrlichkeit allerdings auch dazu, dass die Auseinandersetzungen, auch der Sozialdemokratie, mit Helmut Kohl sicherlich nicht einfach gewesen sind. Sie waren durchaus hart; sie waren hart in der Sache. Sie waren allerdings auch von Respekt geprägt.
Gerhard Schröder hat den treffenden Satz gesagt – ich zitiere –:
Obwohl wir im Jahr 1998 einen harten Wahlkampf gegeneinander geführt haben und in vielen politischen Fragen weit auseinanderlagen und ‑liegen, habe ich für seine historische Leistung größten Respekt.
Wenn wir an den Besuch von Helmut Kohl 1984 in Verdun, an das gemeinsame Bild mit Francois Mitterrand denken – sicherlich sind uns allen die Bilder im Hinterkopf –, wenn wir uns das noch einmal vor Augen führen, dass Deutschland und Frankreich einmal Erbfeinde gewesen sind, die viele Kriege gegeneinander geführt haben, wenn man selbst einmal in Verdun gewesen ist und selbst erlebt hat, was Nationen im Kampf gegeneinander anrichten können, sieht, was auf den Schlachtfeldern dort passiert ist, wenn man die Granathügel auch heute noch sieht, dann kann man es nicht hoch genug anrechnen, dass unsere beiden Länder, Deutschland und Frankreich, sich ausgesöhnt haben und dass es zwischen unseren beiden Ländern keine Erbfeindschaft mehr gibt. Das ist wichtig.
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Wenn man sieht, wie viele Städtepartnerschaften heute freundschaftliche Beziehungen pflegen, ja, dass es selbstverständlich ist, dass wir alle Europäer sind, dann gehört auch das zu dem, was heute Abend erwähnt werden sollte.
Helmut Kohl hat meinen Wahlkreis, den Hochsauerlandkreis, am 3. März 1994 besucht. Er war dort zu Gast beim 750-jährigen Stadtjubiläum der Stadt Schmallenberg. Er hat dort eine Festansprache vor 2 000 Gästen gehalten unter dem Motto „Tradition hat Zukunft“. Er hat – so wird es jedenfalls in den Zeitungen berichtet – gesagt, dass Schmallenberg ein prachtvolles Beispiel von Stadtkultur mitten in Deutschland ist. Das hat sich bis heute nicht geändert; das kann ich unterschreiben. Er hat davon gesprochen, dass die solide Finanzpolitik der Stadt wirklich herausragend ist. Auch das ist heute noch aktuell.
Außerdem gilt es, den ebenfalls anwesenden Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor von den Sozialdemokraten, hier zu zitieren, der am Ende eigentlich den wichtigsten Satz gesagt hat, der immer noch aktuell ist – denn aller guten Dinge sind drei –: „Es ist schön hier, es ist richtig schön hier“ im Sauerland. – Ich denke, da wird auch Helmut Kohl damals zugestimmt und das auch so gesehen haben.
Zu unserem Antrag, den wir heute verabschieden, gehört auch, dass wir einige Änderungen an der Willy-Brandt-Stiftung vornehmen, gerade für das Willy-Brandt-Haus in Lübeck, aber auch für das Willy-Brandt-Forum in Unkel. Dafür will ich mich noch mal ausdrücklich bedanken. Hier geben wir Sicherheit, und das ist ein wichtiges Signal für die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung.
In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wird der Errichtung einer Helmut-Kohl-Stiftung zustimmen, allerdings aus ganz anderen als den hier genannten Gründen. Natürlich hat das Wirken von Helmut Kohl das Land nachhaltig geprägt. Ich meine das ganz wertfrei; denn um die Wertung seines Wirkens soll es heute hier gar nicht gehen.
Der uns vorliegende Entwurf orientiert sich an den bereits bestehenden Stiftungen für Willy Brandt und Helmut Schmidt; wir haben das gehört. Auch sie dienen der Pflege des Erbes der Altkanzler.
Das Erbe von Helmut Kohl besteht nicht nur aus seinem sichtbaren Wirken, sondern auch aus seinem Nachlass. Deswegen müssen wir an dieser Stelle wieder über die Akten sprechen. Ich wundere mich immer, dass das keiner tut; denn das ist doch ein entscheidender Punkt.
Die Unterlagen lassen sich in drei Kategorien einteilen: Erstens: die amtlichen Akten, die Kanzlerakten. Die gehören ins Bundesarchiv. Zweitens: die Parteiakten. Die gehören – so ist es jedenfalls bei Willy Brandt und Helmut Schmidt – der parteinahen Adenauer-Stiftung. Drittens: der persönliche Nachlass in Form von Dokumenten. Der gehört dann – so ist es gedacht – in die Helmut-Kohl-Stiftung.
Entscheidend wird sein, ob sich die Kanzlerinnen-Witwe – so scheint sie sich zu verstehen – Maike Kohl-Richter an dieses Prozedere hält. Und kaum hatte ich meine Rede fertig geschrieben, wusste ich: Sie wird es nicht tun. – Denn der „Spiegel“ titelte: „Helmut Kohls Witwe lehnt geplante Stiftung ab“. Damit ist davon auszugehen, dass sie die Akten, die immer noch im Keller des Einfamilienhauses in Oggersheim liegen, nicht herausrücken wird. Das Problem ist doch, dass sie am liebsten selber entscheiden möchte, welches Bild von Helmut Kohl in der Zukunft gezeichnet wird. Das ist vollkommen absurd.
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Die Helmut-Kohl-Stiftung muss dazu beitragen, dass dieses Theater aufhört; denn natürlich gehören all diese Unterlagen zum kulturellen Erbe dieses Landes.
Insofern begrüßen wir ausdrücklich, dass das Bundesarchiv und das Deutsche Historische Museum eng mit der Stiftung zusammenarbeiten sollen. Im Zweifel wird nämlich erst mal zu klären sein, welche Papiere in welche Kategorie gehören. Weil diese Unterlagen nicht vollständig zugänglich sind, konnte eine solche Einschätzung bisher gar nicht vorgenommen werden. Ich denke, Bundesarchiv und Deutsches Historisches Museum werden dabei eine große Hilfe sein. Denn natürlich muss das Erbe Helmut Kohls für diese und kommende Generationen zugänglich sein.
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Genauso gilt natürlich das Persönlichkeitsrecht. Insofern wäre es wichtig, dass das zu benennende Kuratorium den Passus „Benutzereinschränkungen“ aus dem Bundesarchivgesetz mit in die Satzung aufnimmt, der den Zugang unter diesem Aspekt regelt.
Auch wenn es heute bei Ihnen, Kollege Ziemiak, durchklang: Nein, es geht nicht darum, Helmut Kohl ein Denkmal zu setzen. Es geht darum, die Weichen so zu stellen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Arbeit möglich wird.
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Denn dass der so hochgelobte Kanzler der deutschen Einheit keine total geeinte Gesellschaft hinterlassen hat, hat eben auch was mit seinem Wirken zu tun.
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Darüber wird man in Zukunft zu reden haben. Damit man das kann, braucht man die Akten. Das soll die Stiftung machen. Das begrüßen wir.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schwarzen Koffer mit 2,1 Millionen D-Mark Spendengeldern für die Parteiarbeit an allen Büchern vorbei und im krassen Widerspruch zum Parteiengesetz gehören auch zum Vermächtnis Helmut Kohls.
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Die Spendenaffäre nicht aufzuarbeiten, schafft sie nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Jeder Versuch, eine objektive, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zu umgehen, versperrt auch den Blick auf das politische Wirken Kohls, versperrt den Blick auf Helmut Kohl als Transatlantiker, als Entspannungspolitiker, als großen Europäer, als Kanzler der Einheit. Aber niemand steht über dem Gesetz. Schweigekartell und Ehrenwörter, anstatt die Sachen klar beim Namen zu nennen – das ist und bleibt inakzeptabel.
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Dem Ansinnen, eine Helmut-Kohl-Stiftung zu gründen, stehen wir nicht entgegen; denn es geht um die Aufarbeitung einer historisch prägenden Zeit der Neuausrichtungen. Helmut Kohl war hier eine entscheidende und gerade in seiner außenpolitischen Wirkung vielfach auch zukunftsweisende Figur. Diese Forschungsarbeit hat die historische Persönlichkeit Helmut Kohl auf jeden Fall verdient.
Eine solche Stiftung – das ist selbstredend – muss ihrem Stiftungsgegenstand gegenüber kritische Distanz wahren. Wie auch andere Politikerstiftungen sind diese Stiftungen keineswegs Spielbälle der jeweiligen Mehrheiten im Deutschen Bundestag oder Austragungsorte für parteipolitische Machtkämpfe. Das verhindert schon das Stiftungsrecht.
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Selbstverständlich gehört eine Stiftung, die in Helmut Kohl auch den Kanzler der Einheit würdigt, nach Berlin. Berlin als einer der Orte der Friedlichen Revolution steht für die demokratische Leistung dieser Bewegung. Ohne sie gäbe es keine deutsche Einheit. Das wusste auch Helmut Kohl. Es geht um die Symbolkraft des historischen Ortes Berlin.
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Nichtsdestotrotz schließt das Gründungsgesetz – gerade durch den Änderungsantrag der Koalition zur Willy-Brandt-Stiftung – nicht aus, dass es einen Ausstellungsort in Ludwigshafen/Oggersheim geben könnte. Das begrüßen wir.
Aber um das noch einmal deutlich zu sagen: Der Umstand, dass es die CDU bis heute nicht geschafft hat, sich über den Stiftungsinhalt zu einigen, über den Ort und die Beteiligung von Frau Kohl-Richter, ist einerseits dem jetzt an den Tag gelegten Schweinsgalopp im Verfahren geschuldet, liegt andererseits aber auch an der generellen politischen Kraftlosigkeit, die Sie aktuell an den Tag legen.
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So unvorbereitet und eilig – sozusagen kurz vor Sendeschluss – die Stiftung ins Leben zu rufen, kratzt jetzt schon gewaltig am Image der noch nicht einmal existierenden Stiftung.
Meine Damen und Herren, der gelernte Historiker Kohl hat einmal gesagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Machen wir es an dieser Stelle also wie Helmut Kohl: Akzeptieren wir, dass es historisch immer um eine kritische Aufarbeitung geht, nicht um das Fabulieren eines Heldenepos.
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Und seien wir dem Taktiker Helmut Kohl ruhig auch ein bisschen dankbar.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Denn ohne sein Strippenziehen müssten wir uns heute womöglich über eine Bundesstiftung Franz Josef Strauß streiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Ich glaube, das war das Stichwort für den nächsten Redner. Nachdem der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion, seine Rede zu Protokoll gegeben hat
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bedanke mich bei meiner Fraktion, dass ich heute als Ostdeutscher zur Bundeskanzler-Helmut‑Kohl-Stiftung reden darf. Es gibt mir die Gelegenheit, Helmut Kohl als Mensch und als Staatsmann zu schildern, so wie ich ihn noch erleben durfte.
Als ich 1994 in den Deutschen Bundestag, damals noch in Bonn, kam und wir in den Fraktionen verstreut saßen, ging es vielen wie mir: Wir schauten genau hin, was die da auf der Regierungsbank so machten, wie sie sich gaben, wie sie sich unterhielten. Und Helmut Kohl hatte eine Angewohnheit: Wenn er auf seinem Platz saß, fasste er in seine rechte Jackentasche, brachte ein kleines Notizbuch hervor, riss eine Seite heraus, fasste in die linke Tasche, brachte einen kleinen Bleistift hervor, klemmte die Zunge ein wenig unter und schrieb etwas auf diesen Zettel, faltete ihn eng zusammen und gab ihn einem Minister oder einer Staatssekretärin auf der Regierungsbank. Der Empfänger oder die Empfängerin machte ihn auf, las es, drehte ihn um, schrieb was drauf, faltete ihn wieder zusammen; es ging zurück an Helmut Kohl. Helmut Kohl öffnete das Ganze, las es. Dann zerriss er es so klein, dass es nie wieder jemand zusammensetzen konnte, kein Geheimdienst dieser Welt. Für uns war klar: „Staatsgeheimnisse!“ – bis mir mal eine Staatssekretärin nach vielen Jahren erzählte, was gelegentlich auf einem Brief an sie draufstand. Da stand drauf: Gertrud, wann bringst du mal wieder hausgeschlachtete Wurst mit?
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Dass ich 1994 – und mit mir viele andere – unsere ostdeutsche Heimat im Bundestag vertreten durfte, hatte viel mit dem Staatsmann Helmut Kohl zu tun, mit seiner Überzeugung, seinem Stehvermögen, seiner Autorität und auch seiner internationalen Akzeptanz.
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Denn – und das ist heute schon wieder erklärungsbedürftig – in den 80er-Jahren waren weite Kreise der bundesdeutschen Gesellschaft, Bevölkerung, Publizistik, Parteien auf dem Trip, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft zu akzeptieren und die Teilung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR dauerhaft hinzunehmen.
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Auf diese Erwartungshaltung und Forderungen in der Gesellschaft – entsprechende Zitate von Literaturnobelpreisträgern und anderen sind vorhanden – sattelte Erich Honecker mit seinen Geraer Forderungen auf. Es waren vier Forderungen: Elbgrenze in der Elbmitte, Auflösung der Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft, Aufwertung der ständigen Vertretungen zu Botschaften.
Erster Punkt: Erfassungsstelle in Salzgitter. Dort ist das DDR-Unrecht, das insbesondere in den Gefängnissen in Bautzen und Hohenschönhausen und anderen Gefängnissen politischen Häftlingen geschehen ist, aufgezeichnet worden. Ich weiß von vielen Häftlingen, die danach berichtet haben, dass sie nur durchgehalten haben in der Erwartung, in der Hoffnung, dass das irgendwo notiert, aufgeschrieben ist, der Nachwelt dokumentiert wird, wie sie zerstört werden sollten, ihre Persönlichkeit gebrochen. Und genau diese Erfassungsstelle sollte nicht mehr weiter bestehen. Die Finanzierung wurde von Bundesländern eingestellt, als Erstes von Oskar Lafontaine als Ministerpräsident des Saarlandes, dann von allen SPD-geführten Bundesländern. Und Helmut Kohl hat entschieden: Der Bund verdoppelt seine Ausgaben für diese Erfassungsstelle, damit sie – und das hat sie bis nach 1989 getan – weiterarbeiten kann.
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Zweiter Punkt: eigene DDR-Staatsbürgerschaft. Es gibt viele Zitate, die darauf hinausliefen: Wir sollten nicht von der deutschen Einheit reden – eine darauf gerichtete Politik sei „reaktionär und hochgradig gefährlich“, sagte Gerhard Schröder zum Beispiel –, Erich Honeckers Forderung nach einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft und der Streichung des Wiedervereinigungsgebotes aus dem Grundgesetz sollte nachgekommen werden.
Wir haben 1989, am 9. November, die Mauer von Ost nach West umgeschubst.
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Das war ein großer Akt. Wenn wir damals DDR-Bürger gewesen wären, hätten wir alle in der Bundesrepublik politisches Asyl beantragen müssen. Und dem Festhalten an der deutschen Einheit, der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft, ist es zu verdanken, dass wir auch vom Staatsbürgerrecht her relativ problemlos in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland integriert werden konnten.
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Ich beeile mich, Herr Präsident. – Ein dritter Punkt. Am 11. November 1989 hat Michail Gorbatschow Helmut Kohl angerufen und hat gesagt: Herr Bundeskanzler, ich habe Berichte, dass es sich in Ostberlin möglicherweise aufschaukeln könnte. Er hatte Sorge um die sowjetischen Einrichtungen, das Ehrenmal, die Botschaft. Und Helmut Kohl hat ihm gesagt: Herr Generalsekretär, ich versichere Ihnen, das wird es nicht geben. Wir werden alles tun, dass das gleichmäßig und in geordneten Bahnen verläuft. – Michail Gorbatschow hat diesem Helmut Kohl vertraut, und wir verdanken ihm die schnelle Einheit.
Für viele Ostdeutsche verneige ich mich vor dem Staatsmann Helmut Kohl.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschehnisse in Hongkong haben viele von uns sehr berührt. Millionen Menschen, darunter viele junge Menschen, die friedlich demonstrieren, die ihre Freiheiten behalten wollen, haben unsere Sympathien. Die Hoffnung, dass die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ ernst genommen würde, dass Hongkong für China weiterhin eine Brücke in die freie und demokratische Welt sein könnte, dass die Erfahrungen aus Hongkong sich auch positiv auf den Rest Chinas auswirken könnten, diese Hoffnung hat sich spätestens mit dem nationalen Sicherheitsgesetz erledigt.
Mit diesem Gesetz hat sich Peking seine Durchgriffsrechte gesichert. Anders als angekündigt, ist nicht eine kleine, radikale Minderheit adressiert worden; nein, alle politischen Entscheidungsträger, der öffentliche Dienst, alle sollen sogenannte Patrioten sein, und jeder Hongkonger und jede Hongkongerin soll sich mit der Volksrepublik identifizieren und die KP unterstützen. Pekings Vision eines sogenannten Sozialismus chinesischer Prägung soll auch alle Hongkonger Gesellschaftsbereiche durchdringen – mit einem parallelen Rechtssystem durch das Sicherheitsgesetz, mit einem neuen Wahlsystem, mit einem De-facto-Vetorecht Pekings bei der Zulassung von Kandidatinnen und Kandidaten, mit Loyalitätsbekundungen von Beamtinnen und Beamten und mit ideologischen Schulungen, mit einem neuen Curriculum, das die Gewaltenteilung aus den Lehrbüchern löscht und stattdessen die Vermittlung des nationalen Sicherheitsgesetzes auf den Lehrplan setzt, und mit dem Umbau des öffentlichen Rundfunks und vielem anderen mehr.
Die Beendigung des vertraglich bis 2047 zugesicherten hohen Grads an Autonomie ist ein weiteres Zeichen dafür, welche Richtung China eingeschlagen hat. China bleibt zwar unser Partner, wenn es um die globalen Herausforderungen geht wie die Bekämpfung des Klimawandels, die Bekämpfung der Folgen der Pandemie, die globale Friedenssicherung und auch, wenn es um die gerechte Entwicklung ärmerer Länder geht. China bleibt aber unser Wettbewerber, wenn es um wirtschaftliche Dynamik, Märkte und Produkte geht. Aber vor allem wird China so für uns immer mehr ein systemischer Rivale, der unserer freien und demokratischen Gesellschaft eine zensierte und autoritäre Alternative entgegenstellt, ein Rivale, der sein Entwicklungsmodell deutlich gegen die freie und demokratische Welt positioniert.
Aber die Richtung, die China in Fragen Freiheitsrechte, in Fragen Menschenrechte insgesamt einschlägt, zeigt sich nicht allein in Hongkong. Reporter ohne Grenzen sieht China im Ranking der Pressefreiheit unverändert auf Platz 177 – von 180. Auch Amnesty International berichtet in seinem neusten Menschenrechtsreport von erheblichen Verschlechterungen bei den Menschenrechten insgesamt, die durch die Pandemie noch deutlich verschärft wurden. Betroffen sind insbesondere Menschenrechtsverteidiger, ethnische und religiöse Minderheiten und Journalistinnen und Journalisten.
Der große Erfolg Chinas in der Armutsbekämpfung, die rasante wirtschaftliche Entwicklung, die den Menschen bessere Lebensbedingungen und eine Perspektive ermöglicht, wird durch die Einschränkungen der persönlichen Freiheit so leider wieder relativiert. Denken wir auch an die Situation in Tibet, denken wir an die Innere Mongolei. Die Menschen in China insgesamt sind durch Überwachung, Kontrolle und das Sozialkreditsystem unter Druck.
Die Beziehungen zu Deutschland, die Beziehungen zu Europa werden zunehmend stärker von Wertefragen, von Systemfragen dominiert. Die Menschenrechtslage in Xinjiang ist ein globales Thema und hat weltweit zu entsprechenden Reaktionen geführt. Die gemeinsamen, die von der EU initiierten und von den USA, Kanada und Großbritannien unterstützten kalibrierten, zielgenauen Sanktionen gegen drei Personen und eine Einrichtung in Xinjiang sind dafür ein wichtiges Signal gewesen.
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Sorgen macht mir zunehmend auch das aggressivere Auftreten nach außen und die zunehmende Militarisierung des Indopazifiks. Wie gehen wir also damit um? Zunächst ist die Antwort: Gemeinsam mit unseren Partnern. Das alles führt dazu, dass wir als Europa zusammen mit den USA und Kanada und darüber hinaus mit den freien und demokratischen Staaten in Asien enger zusammenstehen und uns besprechen. Zu unseren Partnern gehören Japan, Indien, Australien, Südkorea. Sie alle haben ihre eigenen Erfahrungen, die für eine gemeinsame Strategie von Bedeutung sind. Das wird nicht leicht – und wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen –, aber das wird gelingen. Und wir müssen die Balance halten und Eskalationsszenarien verhindern, ohne aber Entwicklungen, die internationales Recht infrage stellen oder das Recht des Stärkeren international etablieren wollen, unbeantwortet zu lassen. Deswegen hoffe ich, dass die EU es schafft, sich auf gemeinsame Maßnahmen in Reaktion auf die verschärfte Kontrolle Hongkongs durch Peking zu einigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ziel ist und bleibt es aber auch, mit China weiter zusammenzuarbeiten, dort, wo wir gemeinsame Ziele verfolgen, aber dabei eben auch Klarheit über unsere Interessen zu schaffen. Und die finden sich wieder im Gedanken des Multilateralismus, einer regelbasierten Weltordnung und der Universalität der Menschenrechte.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dominierende Weltmachtstellung der USA wird zunehmend durch China herausgefordert. Das hat nicht erst mit Donald Trump begonnen, und das wird auch mit Joe Biden nicht enden. Der daraus resultierende Konflikt wird auf vielen Ebenen ausgetragen. Offensichtliche Beispiele sind die wechselseitigen Wirtschaftssanktionen und das militärische Kräftemessen im Südchinesischen Meer. Nicht ganz so offensichtlich ist die Instrumentalisierung sogenannter Zivilgesellschaften, um indirekt Unruhe zu stiften. Das ist nichts anderes als die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes. Und Hongkong ist dafür ein anschauliches Beispiel.
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Zunächst ein Blick auf den Hongkonger Aktivisten Joshua Wong, mit dem sich unser Außenminister gemeinsam ablichten ließ und der später mit den Worten zitiert wurde: „Mit rein friedlichem Protest werden wir unser Ziel nicht erreichen.“ Er wurde von den USA von langer Hand als Ikone aufgebaut. Das „Time Magazine“ kürte ihn zu einem der einflussreichsten Teenager des Jahres 2014. Das amerikanische Medienunternehmen Netflix stellte ihn 2017 einem breiten Publikum in der Produktion „Teenager vs. Superpower“ vor. Und 2018 nominierte ihn der amerikanische Präsidentschaftskandidat Marco Rubio sogar für den Friedensnobelpreis.
Schauen wir dann auf die Hongkonger Zivilgesellschaft. Sie erhält aus dem Ausland signifikante Summen. Die mit Abstand größten Geldgeber sind auch hier wieder die Vereinigten Staaten, die allein zwischen 2000 und 2015 über 200 Millionen Dollar zur Demokratieförderung in China ausgegeben haben. Bereits während der sogenannten Regenschirmproteste in Hongkong im Jahr 2014 kritisierte die chinesische Regierung diese destabilisierende Einmischung in innere Angelegenheiten.
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Und der international angesehene Berater des amerikanischen Verteidigungsministeriums, Dr. Michael Pillsbury, konzedierte im amerikanischen Fernsehen, dass diese Anschuldigungen wohl nicht ganz falsch seien.
Aber nicht nur in Hongkong, auch hier bei uns werden transatlantische Netzwerke aufgebaut und politisch wohlmeinende Personen gefördert.
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Der bereits erwähnte Marco Rubio hat im vergangenen Jahr ganz entscheidend den Aufbau einer interparlamentarischen China-Allianz vorangetrieben. Deren Ziel ist es, die China-Politiken von Abgeordneten in unterschiedlichen Ländern zu koordinieren, vermutlich im amerikanischen Interesse.
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Unter den Mitgliedern finden sich auch Namen von Politikern, die die vorliegenden Anträge unterzeichnet haben. Sie sind teils auch Mitglieder anderer Netzwerke wie der Atlantik-Brücke oder der Young Leader des American Council on Germany.
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Die Diskussionen zu Hongkong finden also nicht im luftleeren Raum statt. Sie sind Elemente eines zunehmenden chinesisch-amerikanischen Konfliktes. Was heißt das nun für uns?
Erstens. Ich bin Vertreter einer Partei, die Souveränität für unser Land zurückgewinnen will.
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Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir nicht die Souveränität anderer Länder untergraben sollten, indem wir sie von innen destabilisieren.
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Zweitens. Sie sorgen sich um die Wahrung einer Vereinbarung, die 1984 zwischen Großbritannien und der Volksrepublik China über Hongkong geschlossen wurde. Nicht wir, sondern Großbritannien ist aufgerufen, eventuelle Verstöße gegen diese Vereinbarung aufzunehmen. Dazu brauchen sie keine Hilfe aus Deutschland.
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Drittens. Wir sollten uns generell nicht vor den Wagen anderer Mächte spannen lassen, die sich bemühen, Deutschland in ihren geopolitischen Konflikt zu verwickeln.
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Das ist ganz sicher nicht im Interesse unseres Landes. Genau in diese Richtung gehen aber Ihre Anträge. Die AfD-Fraktion wird ihnen daher nicht zustimmen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe während der Rede des Abgeordneten Hartwig die ganze Zeit überlegt: Ist das, was wir hier hören, jetzt stalinistisch oder maoistisch? Ich finde, es ist schlicht eine Sauerei, die Menschen, die in Hongkong für die Freiheit kämpfen, so zu diskreditieren.
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Die Kollegin Schmidt hat ja sehr ausführlich und auch sehr gut dargestellt, um was es uns in Hongkong geht; ich will deswegen verzichten, darauf jetzt noch mal einzugehen.
Wenn wir Wege für gemeinsames Wirken in der Welt mit China suchen, muss uns immer klar sein, dass wir es hier mit einer kommunistischen Diktatur zu tun haben, die bereit ist, zur Durchsetzung ihrer vermeintlich ideologischen Ziele buchstäblich über Leichen zu gehen,
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sei es im Kampf gegen die Uiguren oder gegen die Tibeter oder die Mongolen, sei es bei der Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit im Land oder sei es bei der Unterdrückung der Demokratie in Hongkong, die ja durch internationales Recht geschützt ist; darüber setzt sich China rücksichtslos hinweg.
Ich finde es absolut richtig, dass die Europäische Union gezielte Sanktionen ergriffen hat gegen Personen, die für Menschenrechtsverletzungen und Grundrechtsverletzungen in China verantwortlich sind. Das betrifft eine kleine Zahl, aber wir sind uns ganz sicher, dass wir damit Personen treffen, die wirklich Verantwortung tragen. Die chinesische Regierung hat mit einem Keulenschlag darauf reagiert, indem sie Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Beamte, Diplomaten, Familienangehörige von Abgeordneten und sogar Wissenschaftler von renommierten, international tätigen Instituten mit entsprechenden Personensanktionen überzogen hat. Ich habe Verständnis dafür, dass das Europäische Parlament sagt: Unter diesen Bedingungen können wir dem Investitionsabkommen mit China nicht zustimmen.
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Lassen Sie mich noch einen Satz zu den vorliegenden Anträgen sagen. Ich stimme in weiten Teilen überein mit der Analyse und auch mit der Rhetorik der Anträge, etwa der Grünen. Aber ich frage mich doch: Was sind eigentlich Ihre Ideen, wie wir das in den Griff kriegen können, wie wir unsere Resilienz gegen den chinesischen politischen Druck verstärken können? Da gibt es die Strategie, die auch die Kollegin Schmidt angesprochen hat, dass wir in der freien Welt enger zusammenrücken müssen, dass wir zusammenstehen müssen, dass wir uns koordinieren müssen, dass wir zum Beispiel die Regeln des fairen und freien Handels zwischen unseren Kontinenten und Nationen festigen und stärken, damit sich zum Beispiel lateinamerikanische Staaten darauf verlassen können, dass sie mit Europa sicheren und fairen Handel treiben können und nicht zur Beute von chinesischen Geldgebern werden, die in diesen Ländern bereits massiv unterwegs sind.
Ich finde, wenn man konkret etwas für die Demokratiebewegung und für die Menschenrechte in Hongkong bzw. in China tun will, dann muss man den Westen – das, was wir gemeinhin als Westen verstehen – stärken und die Bande im Westen zusammenführen. Deswegen passen für mich die Ablehnung von CETA, die Ablehnung des Mercosur-Handelsabkommens und der Kampf für die Menschenrechte in China nicht zusammen. Ich bitte, dass wir uns ehrlich machen und darüber nachdenken: Was können wir tun? Es ist für mich eine Schande, dass wir es nicht geschafft haben, in diesem Deutschen Bundestag zum Beispiel das Handelsabkommen mit Kanada zu unterzeichnen, dem harmlosesten Land der Welt, wie mal ein kanadischer Außenminister zu mir gesagt hat. Und ich glaube, er hat recht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Ich nutze die kleine Pause, um die Parlamentarischen Geschäftsführer noch mal darauf hinzuweisen: Trotz aller Bemühungen sind wir immer noch bei einem Sitzungsende um 2 Uhr heute Nacht. Wenn wir über Menschenrechte reden, sollten wir auch immer an die Rechte der Beschäftigten dieses Hauses denken.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Joshua Wong wurde heute zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate verurteilt. Dieser Mann ist Anfang 20, und wir müssen wohl davon ausgehen, dass die kommunistische Partei sich neue Vorwürfe gegen ihn ausdenken wird, um ihn so lange wie möglich hinter Gittern halten zu können. Joshua opfert seine persönliche Freiheit, seine Lebenszeit, weil er trotz allem immer noch daran glaubt, dass Freiheits-, dass Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie in Hongkong eine Zukunft haben können. Joshua steht stellvertretend für so viele Tausende Gesichter in dieser Hongkonger Freiheitsbewegung.
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Wenn Joshua darüber schreibt und davon spricht, dass Hongkong das neue Westberlin ist, dann will er uns damit klarmachen: In Hongkong kristallisiert sich gerade der globale Werte- und Systemwettbewerb unserer Zeit, und da geht es um jeden Meter, den der autokratische digitale Überwachungsstaat der kommunistischen Partei Chinas an Einfluss gewinnt. Für die Weltgemeinschaft, für uns, geht es hier um die Verteidigung unserer Werte und unserer liberalen Ordnung. Für die Menschen in Hongkong geht es um alles.
Liebe Regierungsfraktionen, es ist schön, wenn wir von Ihnen hören, was Sie gerne tun wollen, aber wir sehen das überhaupt nicht in Ihren Anträgen. Wir als FDP würden von Ihnen gerne wissen: Interessiert Sie dieses Thema so wenig, dass Sie nicht in der Lage sind, etwas Eigenes vorzubringen?
Die Grünen haben hier heute zwei Anträge eingereicht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat innerhalb eines halben Jahres bereits zwei Anträge eingereicht. Einen davon diskutieren wir hier heute Abend. Aus den Regierungsfraktionen kommt nicht mehr als warme Worte, und das ist peinlich für dieses Haus und für die Worte, die Sie auf dem G-20-Gipfel, auf dem G-7-Gipfel, in Europa, in Brüssel und auf sämtlichen anderen Gipfeln sprechen.
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Ich muss sagen: Wir glauben, dass Ihnen da außenpolitisch wirklich die Puste ausgeht.
Der einzige kleine Lichtblick in dieser Woche war gestern die gemeinsame Abschlusserklärung der G 7 zu Hongkong. Eine für Montag geplante Ratsschlussfolgerung der EU zu Hongkong ist leider an Ungarn und am Einstimmigkeitsprinzip gescheitert. Ich muss Ihnen sagen: Mir fehlt die Fantasie, mir einen Außenminister Maas vorzustellen, der sich bei der G 7 für eine möglichst scharfe Botschaft eingesetzt und alles dafür getan hat, dass Ungarn bei dieser Erklärung mitmacht.
Man versteht auch nicht mehr, wie Ihre China-Politik eigentlich aussehen soll, liebe Bundesregierung. Während der Außenminister die G-7-Erklärung unterschreibt, lobt die Kanzlerin noch letzte Woche öffentlich das während der Konsultationen mit China beschlossene Investitionsabkommen. Sie konterkariert damit gerade die gemeinsame EU-Linie, zu entscheiden, dass das Abkommen erst mal auf Eis gelegt wird.
Ebenso – und das ist mein letzter Punkt – ergibt sich ein fataler Eindruck der Indifferenz, wenn wir uns beispielsweise die „BN (O)“-Passports, die „British National (Overseas)“-Passports, angucken, wo Fehler bei dem Gewähren von Schutz für Hongkonger, die hier Zuflucht gesucht haben, unterlaufen sind.
Wir Freie Demokraten stehen an der Seite der Menschen in Hongkong, die für Freiheit kämpfen, die wir hier garantiert sehen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden die Bundesregierung weiterhin in die Pflicht nehmen, das auch zu tun – so lange, bis Sie Haltung zeigen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
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Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherheitsgesetze, mit denen Bürgerinnen und Bürger wegen bloßer Meinungsäußerungen oder der Teilnahme an Demonstrationen unter Terrorismusverdacht gestellt werden, lehnt Die Linke kategorisch ab.
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Polizeigewalt gegenüber friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten lehnen wir ab. Das ist inakzeptabel.
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Mit Erschrecken müssen wir allerdings auch heute hier feststellen, dass durch die Koalition, die FDP, die Grünen und teilweise auch die AfD die Menschenrechte zum Steinbruch geopolitischer Orientierungen gemacht werden. Während das Sicherheitsgesetz im Fall Hongkong Ihnen als neue Blaupause für den Ruf nach weiteren Sanktionen gegen China dient, werden von der Bundesregierung entsprechende Sicherheitsgesetze in der Türkei zum Anlass genommen, neue Waffen zu liefern und auf eine Ausweitung der Zollunion zu drängen.
Während Sie im Fall Honkong die Einschränkung der Autonomie als Sprungbrett für eine weitere Zuspitzung der Beziehungen zu China nutzen, war Ihnen die völlige Beseitigung der Autonomie Kaschmirs durch die hindu-nationalistische Regierung in Indien kein Anlass für auch nur eine kleine Kritik.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: In Kolumbien werden Dutzende friedliche Demonstranten von staatlichen Stellen auf offener Straße ermordet – 37 Tote, Hunderte Verletzte in den letzten Tagen. Wir haben es in Kolumbien mit einem mörderischen Regime zu tun, das vom Paramilitarismus durchdrungen ist, das Tausende Demokraten, Linke, Gewerkschafter, Sozialaktivisten und Friedensaktivisten töten lässt und sich dennoch der besten Wertschätzung der Bundesregierung erfreut, weil es prowestlich ist. Ich frage Sie: Wie wollen Sie angesichts dieser Tatsachen dem Vorwurf begegnen, Sie betrieben eine selektive Menschenrechtspolitik, die sich nur nach geopolitischen Wetterlagen richtet?
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Einer der wenigen China-Kenner in unserem Land, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, hat immer wieder versucht, dagegen anzugehen, dass man in Sachen Menschenrechte auf dem hohen Ross sitzt. So forderte Helmut Schmidt im Hinblick auf China den – ich zitiere – „Verzicht auf Überheblichkeit und herablassende moralische und politische Belehrungen“. Der Bundestag wäre gut beraten, sich diese Mahnung zu Herzen zu nehmen, auch, um nicht Gefahr zu laufen, mit einer Politik des rassistischen Überlegenheitsanspruchs gegenüber China, wie sie der vormalige US-Präsident Donald Trump nach vorne stellte, identifiziert zu werden.
Zu China höre ich in diesem Hohen Haus von Grünen und FDP leider nie etwas, wenn es darum geht, die fortgesetzte Ehrung der deutschen Kolonialverbrecher zu beenden. Hier gibt es doch tatsächlich mal eine wirkliche Bringpflicht.
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Ich finde es jedenfalls mehr als bedenklich, dass heute in Deutschland immer noch Leute wie Graf von Waldersee geehrt werden, der für zahlreiche Verbrechen in China verantwortlich ist.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Statt Konfrontation brauchen wir eine glaubwürdige Entspannungspolitik gegenüber China und mehr Kooperation.
Frau Kollegin Dağdelen, bitte.
Es darf nicht sein – mein Schlusssatz, Herr Präsident –, dass wir die Menschenrechte instrumentalisieren, um mit neuen Feindbildern Konflikte weltweit zu befördern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dağdelen. – Jetzt lauschen wir gespannt den Worten des Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So richtig überzeugt hat es mich nicht, über China, wenn man über Menschenrechte spricht, nicht zu reden und stattdessen über Kolumbien und Kaschmir zu reden. Diese Form von Whataboutism geht an der Sache vorbei.
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Das, was Sie gesagt haben, lieber Kollege Hardt, hat mich auch nicht ganz überrascht. Sie sind in der Transatlantikveranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgestern ja mit der Kanzlerin zusammengerasselt, die Sie belehrt hat, dass ein Zusammenrücken mit den USA nicht unbedingt zur Interessenidentität führt. Ein Stück Realpolitik klang da plötzlich aus ihr raus. Die Frage, der wir uns stellen müssen, ist aber doch: Ist eigentlich eine Haltung, die gut für die deutsche Automobilindustrie ist, schon eine realpolitische deutsche China-Politik?
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Hier sollte uns allen Hongkong zu denken geben. Natürlich ist das, was dort passiert, verehrter Herr Hartwig, eine Verletzung internationalen Rechts und ein Beweis, dass China kein multilateral verlässlicher Partner ist, wenn völkerrechtliche Verträge dort gebrochen werden.
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Und es ist auch keine innere Angelegenheit, völkerrechtliche Verträge zu brechen.
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Die Chinesen wissen, was sie dort machen. Sie machen es mit Absicht; sie wollen etwas demonstrieren. Sie wollen klarmachen, dass die Zeit von Deng Xiaoping, der ausdrücklich gesagt hat, China strebe nicht an, Großmacht zu sein, vorbei ist. Sie streben an, Großmacht zu sein. Ihr Vorgehen in Hongkong ist Ausdruck ihrer selbstbewussten Haltung, die Systemkonkurrenz mit anderen politischen Systemen und Werten zu suchen.
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Das ist die ernste Herausforderung, vor der man steht.
Anstatt von all den Listen, wer sich da verschworen hat, zu hören, hätte ich, lieber Herr Hartwig, von Ihnen eigentlich schon erwartet, dass Sie sagen: Selbst wenn mir Herr Wong nicht gefällt, ist es gegen jede Rechtsstaatlichkeit und gegen Menschenrechte, Menschen wegen ihrer Meinung einzusperren. – Sie haben hier heute Morgen doch selber für die Meinungsfreiheit gestritten.
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Wenn es stimmt, dass das sozusagen die große Herausforderung ist, dann kann man sich doch nicht, wie bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, hinstellen und sagen: Wir haben schon ein paar ordentliche Verträge gemacht. Ansonsten gab es – ich zitiere die Kanzlerin – „Meinungsverschiedenheiten“. – Diese Systemauseinandersetzung ist keine Meinungsverschiedenheit, sondern das ist ein tiefer Konflikt.
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Ich bin wirklich jemand, der sagt: Ja, diesen Gleichschritt, den die Europäer formuliert haben, China sei systemischer Rivale, Partner und Wettbewerber – und häufig auch unfairer Wettbewerber –, sollten wir im Kopf behalten, und wir sollten nicht in eine Konfrontation abgleiten. – Aber man muss die Schärfe des Systemkonfliktes doch mal durchbuchstabieren, und deswegen sage ich: Wir brauchen eine europäische China-Politik. Schluss mit dem deutschen Sonderweg nach Peking!
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Außerdem müssen wir uns auch in den Bereichen, in denen wir es partnerschaftlich angehen, über den Systemkonflikt klar sein. Wir wollen einen fairen Wettbewerb und Marktzutritt. Das gilt dann umgekehrt aber auch, und dann müssen wir hier in Europa für Reziprozität – auch für chinesische Unternehmen – sorgen.
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Wir sagen: China ist Partner beim Klimaschutz. – Ja, aber dann dürfen wir nicht zulassen, dass die Überkapazitäten der chinesischen Stahlindustrie jede Innovation unserer Stahlindustrie in Richtung Wasserstoffwirtschaft kaputtmachen.
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Dann braucht es ein Carbon Border Adjustment.
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Herr Kollege Trittin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Wenn wir sagen, wir nehmen Menschenrechte und die Bekämpfung der globalen Armut ernst, dann müssen wir Regeln haben und mit einem vernünftigen und mit Zähnen ausgestatteten Lieferkettengesetz verhindern, dass unter Ausbeutung und Zwangsarbeit hergestellte Produkte aus China oder von irgendwo anders aus der Welt hier auf den Markt kommen.
Herr Kollege, bitte.
Das heißt, sich dem Systemkonflikt zu stellen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Da der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion, seine Rede zu Protokoll gegeben hat,
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ist der letzte Redner der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, in dieser Debatte ist noch mal deutlich geworden, dass es weltweit eine wichtige Auseinandersetzung über die Frage gibt, welche Art von Ordnung in der Welt – diejenige, die auf Menschenrechte und Freiheit setzt, oder das Ordnungsprinzip autoritärer Staaten – sich durchsetzt.
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Hongkong war in der Geschichte – das ist wichtig zu betonen – immer auch Zufluchtsort für Menschen, die vor Unterdrückung geflüchtet sind: Monarchisten und Opfer der chinesischen Kulturrevolution, aber auch Menschen, die in Richtung Freiheit geflohen sind. Das hat sich umgedreht. Mittlerweile fliehen Menschen aus Hongkong, wie Nathan Law, an den ich heute erinnern möchte.
Ich habe kürzlich ein Interview mit ihm gelesen. Er war einer der jüngsten Abgeordneten im Legislativrat in Hongkong, musste fliehen und hat mittlerweile in Großbritannien Asyl erhalten. Er macht deutlich, dass es hier mittlerweile um mehr geht, nämlich um die Frage, ob diese letzte Flamme der Freiheit noch brennt oder ob entgegen internationalem Recht diese Freiheit stirbt. Diese Debatte ist deswegen wichtig, um deutlich zum Ausdruck zu bringen: Wir als Deutscher Bundestag stehen auf der Seite der Freiheit. – Das Bewusstsein für die Menschen, die sich für Freiheit einsetzen, muss deutlich werden.
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Das ist übrigens auch eine Frage des Respekts vor der internationalen Ordnung. Die chinesisch-britische Erklärung von 1984 ist bei den Vereinten Nationen hinterlegt worden und damit Teil der Völkerrechtsordnung.
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Wir müssen bei all den Auseinandersetzungen, die wir haben, deutlich machen, dass das Völkerrecht mit seinen Regelungen gelten muss, und zwar für jeden,
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dass hier eine Verletzung internationalen Rechts vorliegt und dass wir mit Fug und Recht einfordern – nicht nur wir, sondern gemeinsam mit unseren europäischen Partnern –, dass das Völkerrecht – auch im Rahmen der chinesisch-britischen Erklärung – gilt.
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Ich glaube, dass dieser Kampf in Hongkong noch nicht zu Ende erzählt ist und dass wir hierbei Fragen der wirtschaftlichen Beziehungen nicht von der Frage der Freiheitsrechte trennen können, aber es muss deutlich werden, dass diese Erzählung und die Frage, wer im Mittelpunkt steht, nur dann eine positive Wendung bekommen können, wenn am Ende Menschenrechte und Freiheit im Mittelpunkt stehen. Das ist das Ergebnis dieser Debatte und unsere Haltung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich finde es, offen gestanden, eine ziemliche Leistung, von Unterdrückung und Freiheit, von Diktatur und Demokratie, von Hongkong gestern und heute zum Schwarmfinanzierungs-Begleitgesetz zu kommen.
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Ich glaube, wir müssen uns auch immer klarmachen, in welchen Dimensionen wir hier manchmal denken und Politik machen, und die Wertigkeit entsprechend zuordnen. Das wollte ich für diesen Tagesordnungspunkt kurz leisten.
Zum Schwarmfinanzierungs-Begleitgesetz: Vielleicht haben Sie mal von Startnext, VisionBakery, Steady, 99 Funken, Kickstarter oder Indiegogo gehört. Das sind Crowdfunding-Plattformen, auf denen Leute ihr Geld für Projekte abgeben können. Schwarmfinanzierungsdienstleister kümmern sich dann um dieses eingesammelte Geld.
Das ist eine alternative Finanzierungsform für Projekte von vielen Investoren – meist kleinen Investoren – und läuft über Plattformen oder über Internetportale. Das ist sehr wichtig für die Start-up-Finanzierung und auch für junge Unternehmen, hat also ein Zukunftsmoment. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns darum kümmern. Die inhaltlichen Anforderungen wurden schon über eine EU-Verordnung definiert. Dies ist also unmittelbar geltendes Recht für Deutschland.
Was wir heute machen, ist ein Begleitgesetz, um sozusagen die begleitenden Vorschriften in deutsches Recht zu überführen. Im Wesentlichen geht es um die zivilrechtliche Haftung der Schwarmfinanzierer, also der Projektträger; sie haften für falsche und fehlende Informationen. Jetzt muss ich sagen: Bei dieser Haftung geht es letztendlich darum, die Anleger zu schützen. Das ist klar; das ist eine Verbraucherschutzinitiative. Wir wollen diesen Markt aber auch stabilisieren und sicherer machen. Das ist für den Markt selbst gut.
Mich irritiert jetzt, dass manche betroffene Verbände die Haftung kritisieren und sagen: Das ist eine Katastrophe für die Branche. – Offen gestanden, das kann ich überhaupt nicht einsehen; denn wir haben Erfahrungen damit, was am Finanzmarkt passieren kann. Nein, die Haftung entspricht der üblichen zivilrechtlichen Haftung im deutschen Schadensersatzrecht – Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit –, ist also gar nichts Besonderes. Insofern hat mich die Aufregung etwas irritiert, weil ich es wichtig finde, dass in diesem Markt sicher investiert werden kann; denn bei Wikipedia steht: Das ist ein grauer Markt. – Und wer investiert schon gerne in einen grauen Markt?
Mit unserem Gesetz, kombiniert mit der Verordnung, verlässt die Schwarmfinanzierung praktisch den grauen Markt, und das ist ein riesiger Vorteil für alle, die sich da engagieren wollen: für die Branche und für die Leute, die dort selbst investieren. Das ist einfach eine Stärke des Marktes, die wir jetzt hinzufügen. Ansonsten kann er ja so bleiben, wie er will, und alle, die bis jetzt zuverlässige Angaben gemacht haben, werden von den Regeln gar nichts merken.
Jetzt gibt es eine Reihe von weiteren Regeln; das ist ja so ein bisschen ein Omnibusgesetz. Dabei geht es zum Beispiel um die Factoring- und Leasingunternehmen; dazu führen wir etwas ein. Gut, der Anlass, die AvP-Insolvenz, war eigentlich gar nicht echtes Factoring und Leasing. Es geht darum, dass man das Vieraugenprinzip einführt, weil man sagt: Zwei Geschäftsführer sehen mehr und tragen wechselweise Verantwortung; dies macht das Factoring- und Leasinggeschäft sicherer. – Es ist nicht ganz leicht, immer einen Zweiten zu finden, weshalb wir die Inkraftsetzung dieser Regel noch mal etwas verschoben haben.
Daneben gibt es einen weiteren Punkt: den Provisionsdeckel. Es geht darum, dass es in der Restschuldversicherung den Tatbestand des Wuchers gibt; es werden exorbitant hohe Provisionen gezahlt. Das wird jetzt auf 2,5 Prozent der versicherten Darlehenssumme begrenzt – wir glauben, das ist eine sehr angemessene Vergütung –, und höhere Vergütungen sind unzulässig.
So merken wir, dass dieses gesamte Gesetz einen Strauß an Verbraucherschutzregeln aufbaut, die wir für sehr wichtig halten.
Ja, einen kleinen Wermutstropfen gibt es auch: Wir haben es leider nicht geschafft, einen Provisionsdeckel für Lebensversicherungen zu organisieren. – Somit haben wir noch eine schöne Aufgabe für die nächste Legislaturperiode.
Vielen Dank.
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Oh, vielen Dank, Herr Kollege Binding.
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Nächster Redner ist der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Schwarmfinanzierung, auch Crowdfunding genannt. Daneben geht es aber um weitere Themenfelder, die mit Crowdfunding, Schwarmfinanzierung, so gar nichts zu tun haben. Hier möchte die Koalition sozusagen im Endspurt dieser Legislaturperiode noch weitere, bisher liegengebliebene Themen abhandeln und in einer nur 30-minütigen Debatte durchwinken. Da sind wir als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag gefordert, der Regierung insbesondere hier auf die Finger zu schauen, was in einer vierminütigen Rede allerdings nur sehr oberflächlich möglich ist.
Worum geht es? Schwarmfinanzierungsdienstleister, also Plattformen, die zur Finanzierung verschiedener Projekte im Internet Kapital von Investoren einsammeln, sollen EU-weit zulassungspflichtig gemacht und europäischen Regelungen unterworfen werden. Hier werden die Crowd-Finanzierungsplattformen verpflichtet, über komplexe Simulationsmodelle die Risikotragfähigkeit zu simulieren und über das bisherige deutsche Recht hinaus sehr weitgehende Regeln zu Transparenz und Offenlegungspflichten einzuhalten.
Wir halten dies für zu weitgehend. Auch bisher schon müssen Anbieter sämtliche Regeln der Kredit- und Wertpapiervermittlung beachten. Einen echten Mehrwert aus den erweiterten EU-Regeln können wir so nicht erkennen. Daneben wird noch die grenzüberschreitende Erbringung von Schwarmfinanzierungsdienstleistungen explizit geregelt. Wofür haben wir eigentlich, frage ich mich, seit fast 30 Jahren den Binnenmarkt?
Die persönliche Haftung der Organmitglieder der Emittenten für die Richtigkeit der Angaben geht weit über die bestehenden Regelungen des Wertpapierprospektgesetzes hinaus. So werden die Initiatoren in für sie unüberschaubare Haftungsrisiken gedrängt, was letztendlich unternehmerisches Engagement ausbremsen dürfte.
Zusätzlich sollen kleine Factoring-Unternehmen, also zum Beispiel Abrechnungsstellen für Handwerker, verpflichtet werden, mindestens zwei Geschäftsführer einzusetzen. Das kann für kleine Unternehmen von der Kostensituation her durchaus existenzgefährdend sein. Die zugrundeliegende EU-Verordnung gilt bereits unmittelbar. EU-Verordnungen kommen bekanntlich ohne nennenswerte öffentliche Beteiligung zustande und auch nur äußerst selten gegen die deutsche Stimme am Tisch.
Daneben geht es hier auch noch um ein paar paneuropäische private Pensionsprodukte, sozusagen Riester und Rürup für Europa. Brauchen wir das? Ich sage: Nein. – Der Webfehler in der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge ist sicherlich nicht im staatsübergreifenden Wohnsitzwechsel von Arbeitnehmern zu suchen. Stellen Sie doch erst mal die Rente auf sichere Füße, schaffen Sie einen guten Rechtsrahmen für eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge, wovon auch die Kunden etwas haben und nicht nur in erster Linie die Versicherungsunternehmen profitieren!
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Ein weiterer Punkt ist die Einführung eines Provisionsdeckels beim Vertrieb von Restschuldversicherungen. Die hier von der Bundesregierung vorgesehene Deckelung der Provision auf 2,5 Prozent der Kreditsumme gehen wir mit. Eine zu starke Begrenzung, wie von den Grünen gefordert, und weitere Vertriebshindernisse, wie von den Linken gefordert, würden aus unserer Sicht das Produkt insgesamt unwirtschaftlich machen. Gerade in diesen Zeiten der anhaltenden Arbeitsplatzunsicherheit ist die Absicherung eines Kredites über eine Restschuldversicherung für die Kunden elementar, um das Risiko einer Privatinsolvenz auszuschließen.
Das zunächst noch vorgesehene Vergleichsportal für Girokonten wurde in den letzten Tagen wieder heruntergenommen, weil die Koalition hier keine Einigkeit erzielen konnte. Das, liebe Große Koalition, macht keinen guten Eindruck.
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Die 2017 noch als groß bezeichnete Koalition aus Union und SPD liegt jetzt laut jüngster forsa-Umfrage zusammen nur noch bei 37 Prozent. Das nenne ich abgewirtschaftet.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Keuter. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten Brodesser, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Schwarmfinanzierungs-Begleitgesetz bringen wir heute ein ganzes Bündel von gesetzlichen Regelungen zum Abschluss, die zum großen Teil dem Verbraucherschutz dienen. Im Kerngesetz, also in Bezug auf die Schwarmfinanzierung – darauf ist der Kollege Binding schon eingegangen –, haben wir dieses immer populärer werdende Finanzierungsinstrument auf europarechtlich solide Beine gestellt sowie die Haftung für fehlerhafte Informationen für die Verbraucher klargestellt.
Die ursprünglich im Entwurf sehr weit gefasste Haftung für fehlerhafte Prospektinhalte auch für die Aufsichtsorgane solcher Plattformen ging unseres Erachtens zu weit. Deshalb haben wir die Haftung auf grobe Fahrlässigkeit und auf Vorsatz beschränkt. Eine ähnliche Haftungsbeschränkung – auch das hat der Kollege Binding erwähnt – bei Leitungsorganen für unrichtige Angaben im Anlageinformationsblatt ist aus unserer Sicht jedoch nicht vertretbar; denn der Anleger muss sich auf die Richtigkeit der Informationen im Anlagebasisinformationsblatt verlassen können.
Die Einführung eines Vieraugenprinzips durch einen zweiten Geschäftsführer bei Leasing- und Factoring-Unternehmen wird vor allem für kleinere Anbieter eine Herausforderung sein, weshalb wir die Umsetzungsfrist auf den 1. Januar 2024 ausgedehnt haben.
Erwähnenswert ist ferner eine Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes in Bezug auf die Pensionskassen, die die Rahmenbedingungen für Unterstützungszahlungen durch Arbeitgeber verbessert. Wir stärken damit die Sicherheit und Finanzierbarkeit der betrieblichen Altersvorsorge und das Vertrauen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die betrieblichen Pensionsverpflichtungen.
Großen Raum nahm im parlamentarischen Verfahren die Deckelung von Abschlussprovisionen bei Restschuldversicherungen ein, die meine Fraktion bereits im letzten Jahr eingefordert hatte. Auswüchse mit in der Spitze über 50 Prozent Provisionsanteil an der Gesamtprämie gehören nun der Vergangenheit an; denn diese Provisionen sind zukünftig durch eine Deckelung auf 2,5 Prozent des versicherten Darlehensbetrages begrenzt.
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Wir haben Umgehungsmöglichkeiten bei der Vertriebsvergütung ausgeschlossen und eine Stornohaftung eingeführt.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist dies ein guter Tag; denn wir ermöglichen dadurch auch in Zukunft eine passende Absicherung gegen existenzielle Risiken zum fairen Preis.
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Allen, die an dem vorliegenden Gesetzentwurf beteiligt waren, möchte ich ausdrücklich für ihre kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit danken. Mein Dank gilt insbesondere den Kolleginnen und Kollegen unseres Koalitionspartners sowie den Fachabteilungen im BMF.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen, trage ich heute bei dieser Rede im Plenum keine Krawatte.
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Das hat auch einen guten Grund; denn in den letzten Wochen ist mir mehrfach der Kragen geplatzt.
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Denn wichtig ist nicht nur das, was in diesem Gesetz geregelt wurde, sondern auch das, was eben nicht geregelt wurde.
Im Rahmen der öffentlichen Anhörung wurde die Verordnung zur Absenkung des Höchstrechnungszinses in der Lebensversicherung von 0,9 auf 0,25 Prozent thematisiert, womit sich auch der vorliegende Antrag der FDP befasst.
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Diese betreffende Verordnung bedarf zwar formal nicht der parlamentarischen Zustimmung, hat aber erheblichen Einfluss auf die Systeme der betrieblichen und privaten Altersvorsorge.
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Im Anschreiben zu dieser Rechtsverordnung schreibt das BMF, dass die Anpassung des Höchstrechnungszinses dem Vorschlag der Deutschen Akutarvereinigung entspreche. Das ist richtig. Was das BMF jedoch verschweigt, ist die Tatsache, dass die Deutsche Aktuarvereinigung bereits im Dezember letzten Jahres in aller Klarheit auf die dringende Notwendigkeit hinwies, die Beitragsgarantie in der Riester-Rente sowie bei der Beitragszusage mit Mindestleistung in der betrieblichen Altersvorsorge zu reformieren.
Das war aber nur ein Teil eines unwürdigen Schauspiels, dessen Hauptdarsteller ausdrücklich nicht meine Kolleginnen und Kollegen der SPD im Finanzausschuss waren; denn sie wussten ja selber nicht, wie es weitergeht. Nein, Hauptdarsteller dieser Tragödie war der Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
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Aber der Reihe nach: Anfang 2018 schlossen die Union und die SPD den Koalitionsvertrag, womit sich auch der Bundesfinanzminister verpflichtete, die private Altersvorsorge weiterzuentwickeln und zügig ein attraktives Riester-Standardprodukt zu präsentieren. Gleichzeitig wurde eine Rentenkommission mit Vertretern aus Union, SPD, Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Wissenschaft eingesetzt, die sich ebenfalls mit notwendigen Anpassungen der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge beschäftigen sollte. Parallel dazu tagten über anderthalb Jahre flankierende Arbeitsgruppen der Fraktionen.
Im März letzten Jahres legte die Rentenkommission ihren Abschlussbericht vor. Sie empfahl unter anderem, künftig modifizierte Garantien bei der Riester-Rente zu ermöglichen, um ein angemessenes Verhältnis von Rendite, Sicherheit und Risiken zu erhalten. Im Frühjahr 2020 tagten dann verschiedene Arbeitsgruppen der Riester-Produktanbieter auf Einladung des BMF. Im Oktober wurden die abschließenden Gespräche dann wieder ohne weitere Hinweise abgesagt.
Bereits im Frühjahr letzten Jahres veröffentlichte die Fraktionsarbeitsgruppe meiner Fraktion ihre konkreten Verbesserungsvorschläge, um die staatlich geförderte Altersvorsorge günstiger, bürokratieärmer und zukunftssicherer zu machen. Noch vor der Sommerpause im letzten Jahr sendeten wir diese Vorschläge an Olaf Scholz. Wir haben auf dieses Schreiben bis heute keine Antwort erhalten.
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Es ist ja nicht so, als hätten wir den „Obersten Führer“ Nordkoreas, Kim Jong Un, angeschrieben und keine Antwort erwartet.
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Nein, wir sprechen hier vom Bundesfinanzminister, der notwendige Schritte zur Reform der staatlich geförderten Altersvorsorge unternehmen sollte.
Im Dezember 2020 sprach ich dann selbst mit Olaf Scholz.
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Er versicherte mir, dass er nach Weihnachten wirklich gute Reformvorschläge unterbreiten wolle.
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Ich frage mich heute: Welches Weihnachten hat er wohl gemeint?
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Anstatt zu handeln, hat er vertröstet, gebremst und sich letztlich der Problemstellung verweigert.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor 20 Jahren mit der Riester-Rente die Möglichkeit geschaffen, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den Einstieg in eine zusätzliche Altersvorsorge schmackhaft zu machen.
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Über 16 Millionen Menschen haben der Politik und ihren Empfehlungen vertraut. Wie die Zukunft der staatlich geförderten Altersvorsorge im Detail aussehen wird, entscheidet die nächste Regierung, leider.
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Unabhängig davon, ob sich zukünftig die Menschen in unserem Land für eine Zulagenrente, für ein Paneuropäisches Privates Pensionsprodukt oder für einen Bürgerfonds entscheiden werden, müssen die 16 Millionen bestehenden Sparer im Auge behalten werden,
({15})
und es ist die Aufgabe des Bundesfinanzministers, das aktuelle System bis dahin zumindest zu stabilisieren.
Die passende und auch noch mögliche minimalinvasive Lösung in den verbleibenden Wochen ist eine Öffnung der Beitragsgarantie, die auch nach Meinung der Wissenschaft zu mehr Rendite und mehr Sicherheit führt.
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Eine Anhörung zu diesem Thema im Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag dieser Woche hat dies auch noch einmal untermauert. Herr Scholz – auch wenn er heute nicht da ist –,
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nutzen Sie diese Chance, 16 Millionen Riester-Sparer zu entlasten!
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 11 Millionen Riester-Sparer!
Wir erwarten jetzt Ihr Handeln.
Und: Herr Heil, nutzen auch Sie diese Chance, damit die Beitragszusage mit Mindestleistung als Teil der betrieblichen Altersvorsorge erhalten bleibt!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. Ich bin sicher, dass diese beachtliche Rede von Herrn Bundesfinanzminister Scholz wirklich zur Kenntnis genommen wird.
({0})
– Herr Kollege Schäffler, auch Sie müssen aufgerufen werden. Aber Sie haben als Nächster jetzt das Wort. – Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank für deinen Hinweis. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz ist eigentlich eine relativ kleine Nummer. Mein Vorredner von der SPD hat vorhin deutlich gemacht, um was es im Wesentlichen eigentlich geht: Es geht in diesem Gesetz unter anderem um die Förderung der Schwarmfinanzierung und um viele andere Fragen.
Sie haben die Schwarmfinanzierung besonders gelobt und gesagt, Sie würden hier besondere Haftungsregime schaffen. Das Problem ist nur, dass die Branche und die, die das betreiben in Deutschland, angekündigt haben, Deutschland zu verlassen, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird.
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Das ist die Konsequenz Ihrer Gesetzgebung. Sie verschärfen das Haftungsregime so stark, dass es gar keine Anbieter mehr in Deutschland geben wird, die das betreiben wollen, sondern die gehen anschließend lieber nach Luxemburg. Das ist die Folge Ihrer Politik.
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Das Zweite ist: Die Finanzierung von Unternehmen erfolgt vielfach über Factoring-Unternehmen, die zu 90 Prozent Kleinst- und Kleinunternehmen sind. Wenn Sie denen zwei Geschäftsführer aufs Auge drücken, werden auch die vom Markt verschwinden. Das ist auch Folge Ihrer Politik.
Das Dritte – und das hat Herr Brodesser richtig angesprochen – ist das Dilemma, das Sie hier bei der Riester-Rente erzeugen, und das muss doch auch einem Sozialdemokraten im Herzen wehtun.
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Das Riester-Projekt trägt den Namen eines Sozialdemokraten; Walter Riester hat 2002 diese Riester-Rente geschaffen. Der Staat hat Anreize dafür geschaffen, dass 16 Millionen Bürger in diese Altersvorsorgeprodukte eingezahlt haben.
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– Ja, da sind natürlich einige, die auch – –
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– Ja, das wissen wir ja alles.
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– Okay, dann sind es 15 oder 14 Millionen; ist doch egal.
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Aber es sind Millionen Bürger,
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die in diese Verträge über sehr, sehr lange Zeit hineingespart und sich darauf verlassen haben – auch auf die Sozialdemokratie verlassen haben –,
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dass dieses Produkt, diese Art der Altersvorsorge, am Ende funktioniert, und jetzt lassen Sie diese Leute im Stich. Sie müssten sich eigentlich schämen!
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Sie müssten sich schämen, dass Sie diese Leute im Stich lassen; denn am Ende werden diese Menschen weniger herausbekommen, als sie eingezahlt haben, und die Verantwortung dafür tragen Sie, weil Sie vier Jahre hier regiert und nicht dafür gesorgt haben, dass sich diese Verträge am Ende rechnen.
Diese Verträge müssen entbürokratisiert werden. Am Ende muss die Rentengarantie aufgeweicht werden. Am Ende muss die Beitragsgarantie aufgeweicht werden. Nur so können in der aktuellen Kapitalmarktsituation überhaupt noch Erträge erwirtschaftet werden. Wenn Sie das so lassen, dann versündigen Sie sich an diesen Millionen Menschen in diesem Land.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schäffler. – Nächster Redner wird sein der Kollege Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde spreche ich nur zu einem Thema aus diesem ziemlich bunten Strauß verschiedener Teile dieses Gesetzentwurfes, nämlich zu den Restschuldversicherungen. Hier ist zum Schutz der Verbraucher eine deutlich schärfere Regelung notwendig, als im Gesetzentwurf vorgesehen ist.
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Restschuldversicherungen werden gerne angeboten, wenn Banken Verbrauchern einen Privat- oder Verbraucherkredit verkaufen. Die Versicherung, so die Erklärung, soll einspringen, falls die Verbraucherin oder der Verbraucher die Rate nicht mehr zahlen kann, zum Beispiel wegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Bei genauerem Hinsehen muss man aber eher von Kreditwucher reden.
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Das Verbraucherportal „Finanztip“ – und die sind nicht die Ersten gewesen – hat im April noch einmal belegt, dass die Kosten für die Versicherung des Kredits meistens höher sind als die Zinsen für den eigentlichen Kredit selbst.
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Bei allen überprüften Kreditanbietern verdoppelte sich der angegebene Effektivzinssatz des Kredits, wenn man auch die Kosten der Restschuldversicherung einberechnete. Ein unhaltbarer Zustand!
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Die Regelung im vorliegenden Gesetzentwurf, jetzt einfach nur die Provision zu kürzen, um damit den Verkauf solcher Restschuldversicherungen nicht noch weiter anzureizen, reicht einfach nicht aus. Es geht in die richtige Richtung; aber es reicht nicht aus.
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Dieser Provisionsdeckel beseitigt nicht den Anreiz, durch den Verkauf von Restschuldversicherungen ein Zusatzgeschäft zu machen; das wird es weiterhin geben. Wenn Sie jetzt den Deckel draufmachen, dann liefern Sie den Banken ja geradezu einen Anreiz, zu versuchen, die ihnen dann entgehenden Einnahmen durch den Verkauf von noch mehr Kreditversicherungen wieder auszugleichen.
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Auch das Problem, dass Versicherungen verkauft werden, die dem Bedarf der Verbraucherinnen und Verbraucher gar nicht entsprechen, weil sie diese gar nicht benötigen, wird durch die niedrigere Provision nicht beseitigt.
Die Grünen haben einen sehr guten Antrag zu dem Thema vorgelegt,
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der viele von diesen Problemen sehr gut lösen würde und dem wir gerne zustimmen.
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Wir haben Ihnen heute noch einen Antrag dazugelegt – er trägt den Titel „Kreditwucher beenden“ –, mit dem wir einen Vorschlag des bundesweiten „Bündnisses gegen Wucher“ aufgreifen. In dem von uns eingebrachten Antrag schlagen wir vor, den Wucherparagrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs – § 138 – um eine klare Bestimmung zu ergänzen, wann genau denn ein auffälliges Missverhältnis zwischen den Kosten für die Versicherung und der gebotenen Versicherungsleistung selbst vorliegt. Wenn das klar bestimmt ist, wären Verträge, die diese Kriterien nicht erfüllen, nichtig, und das wäre für die betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher eine große Hilfe.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion, sowie der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
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sodass ich die Aussprache schließen kann.
Herr Präsident! Ich freue mich, zu dieser Primetime über die Bedeutung von Europol sprechen zu dürfen. Ich darf vorab vorausschicken, dass zwei meiner geschätzten Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben, sodass sich die Redezeit zu diesem Tagesordnungspunkt insgesamt etwas reduzieren wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Bedeutung von Europol an einem ganz persönlichen Erlebnis festmachen. Ich bin, wie der eine oder andere vielleicht weiß, Vorsitzender einer unabhängigen, überparteilichen Bürgerinitiative namens „Pro Polizei Wetzlar“; Wetzlar ist meine Heimatstadt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Polizei ideell und materiell zu unterstützen und präventiv tätig zu sein. Wir bieten unseren Mitgliedern Veranstaltungen, Vorträge und anderes mehr an. Übrigens wurde vor Kurzem „Pro Polizei Sachsen-Anhalt-Süd“ durch den Kollegen Bernstiel gegründet. – So viel zu diesem Werbeblock.
Mit dieser Pro-Polizei-Bürgerinitiative, mit 50 Mann, waren wir – und da schließt sich der Kreis – in Den Haag bei Europol. Die hatten ein tolles Programm für uns ausgearbeitet. Einer hat einen Vortrag gehalten über die Zusammenarbeit von Europol mit nationalen Behörden und hat einen Fall geschildert, bei dem uns im weiteren Verlauf immer deutlicher wurde: Den kennen wir. Es war nämlich ein spektakulärer Überfall auf ein Juweliergeschäft in unserer Heimatstadt Wetzlar. Er berichtete, wie man miteinander vernetzt ist. Es kam heraus, dass eine Bande aus Litauen professionell versuchte, leider seinerzeit erfolgreich, dieses Geschäft zu überfallen – ein Beispiel dafür, wie hervorragend die Arbeit von Europol ist, in Form von Vernetzung und Austausch von Daten.
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Man könnte viele andere Beispiele bringen. Aktuell vor wenigen Tagen: eine Schleuserroute über den Balkan entdeckt durch Europol, in Zusammenarbeit mit spanischer Polizei Schleusernetzwerk entdeckt usw. usf.
Meine Damen und Herren, Europol unterstützt seit 1999 die Strafverfolgungsbehörden innerhalb der europäischen Staaten in den Bereichen grenzüberschreitende Kriminalität, Terrorismus, Islamismus, Cyberkriminalität, Organisierte Kriminalität. Wichtig ist dabei: Es gibt keine eigenen operativen Ermittlungen, sondern „nur“ – in Anführungsstrichen – die Vernetzung von Daten über das Schengener Informationssystem. Das heißt, Kernaufgabe von Europol ist die Funktion als Zentralstelle für den Informationsaustausch bei der Analyse.
Weil dies ein Kernpunkt ist, begrüßen wir den Entwurf der neuen Europol-Verordnung der EU-Kommission, die zum Ziel hat: Stärkung und Ausbau der Informationsmöglichkeiten durch Zusammenarbeit – und das ist das Neue – mit Drittstaaten auf der einen Seite, aber auch mit privaten Anbietern auf der anderen Seite. Gemeint sind zum Beispiel die Onlinedienste, damit unter anderem der Bereich Kinderpornografie entsprechend aufgehellt werden kann – eine wichtige Sache.
({1})
Ein weiteres Ziel ist die rechtliche Sicherstellung und Ausweitung des Datenaustausches – bei Wahrung des Datenschutzes. Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiges Problem. Wenn Sie mit den Experten sprechen, wissen Sie, dass der Datenschutz, der zwingend notwendig ist – das bestreitet niemand ernsthaft –, häufig zu einem Täterschutz innerhalb der Europäischen Union führt. Das gilt im Übrigen auch für Interpol.
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Deshalb ist es richtig, meine Damen und Herren, dass wir diesen Datenaustausch auf eine rechtlich verlässliche Basis stellen,
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damit entsprechend auch ausgewertet werden kann.
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Wir begrüßen ausdrücklich – damit bin ich fast schon am Ende, Herr Präsident –
({5})
die Erklärung zur Zukunft von Europol durch den Innenminister im Rahmen einer EU-Innenministerkonferenz, die deutlich macht, welchen Stellenwert und welche Bedeutung Europol für uns als Union, für uns als Regierungsfraktionen hat. Wir hatten eine tolle Veranstaltung; Frau Mittag hat sie hervorragend geleitet. Wir hatten einen tollen Innenminister, der eine Grundsatzerklärung dazu vorgetragen hat und deutlich gemacht hat, wie wichtig und notwendig die personelle und finanzielle Unterstützung von Europol auch in Zukunft ist.
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Meine Damen und Herren, wenn Sie wissen, dass der Etat bei rund 175 Millionen Euro liegt, –
Lieber Kollege.
– wogegen allein die Organisierte Kriminalität einen Schaden von 130 Milliarden Euro verursacht, dann wird deutlich, –
Lieber Kollege, jetzt ist aber Schluss. Sie haben eine halbe Minute überzogen.
– welche Bedeutung Europol hat.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache genauso Ernst wie meine Vorgängerinnen und Vorgänger hier im Amt. Das Präsidium ist entschlossen, den Hahn abzudrehen, wenn die Redezeit 10 Sekunden überschritten ist.
({0})
Das Wort geht an Martin Hess von der AfD-Fraktion.
({1})
Verehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute debattieren wir darüber, ob Europol mehr Kompetenzen im Bereich der Sicherheit erhalten soll. Dabei hat eine Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene bislang kein einziges Problem unserer Bürger gelöst. Zwei Beispiele:
In der Coronakrise versäumt die EU zuerst, die europäischen Staaten bei der Krisenbewältigung zu unterstützen. Dann reißt sie die Impfstoffbeschaffung an sich – um auch damit kläglich zu scheitern. Und jetzt will die EU allen Europäern einen digitalen Impfpass aufzwingen, der im Ergebnis ein Zweiklassensystem für Geimpfte und Ungeimpfte bedeutet,
({0})
und deshalb lehnen wir das kategorisch ab.
({1})
Auch in der Migrationskrise versagt die Europäische Union gnadenlos.
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Auf der einen Seite hindert sie die Nationalstaaten daran, ihre Grenzen effektiv zu schützen; auf der anderen Seite verweigert sie einen echten Schutz der europäischen Außengrenzen.
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Sie zwingt sogar deutsche Polizisten dazu – im Rahmen des Frontex-Einsatzes –, mit kriminellen Schleppern und linksextremistischen Migrationshelfern zu kooperieren und Wassertaxi für illegale Armutsmigranten zu spielen.
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Dieser Zustand muss ein Ende haben.
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Wir müssen illegalen Migranten klar und deutlich sagen: Stopp! Europa wird niemals eure Heimat.
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Denn solange diese Politik der offenen Grenzen fortgeführt wird, kann die desolate Sicherheitslage in den europäischen Staaten nicht verbessert werden.
Schauen Sie sich den Europol-Bericht zur Terrorlage doch einmal an: Zwischen 2015 und 2019 hatten wir 94 islamistische Terrorattacken mit 374 Toten zu verzeichnen. Von 5 358 verhafteten Terroristen waren mehr als die Hälfte Islamisten. Seit 2015 gab es in Frankreich 250 Terroropfer, einige bestialisch enthauptet. Auch bei uns hat der islamistische Terror wiederholt zugeschlagen, wie letztes Jahr in Dresden, als Thomas L. von einem syrischen Gefährder mit einem Messer ermordet wurde.
Und was tut diese Regierung, um den islamistischen Terror endlich wirksam zu bekämpfen? Nichts wirklich Wirksames! Stattdessen verschwendet sie wertvolle Sicherheitsressourcen und trägt dazu bei, dass Europol für die Zensur legitimer Meinungsäußerungen als Hassrede missbraucht wird.
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Es ist wirklich unfassbar, wie man eine derart verfehlte Sicherheitspolitik betreiben kann. Wie viele Väter und Mütter, Söhne und Töchter müssen denn noch durch islamistische Terroranschläge umkommen, bis diese Regierung endlich entschlossen handelt?
Wir brauchen kein europäisches FBI, wie von der SPD gefordert, und auch kein Europäisches Kriminalamt, wie die FDP das in ihrem Antrag vorschlägt. Operative Aufgaben sind bei unseren nationalen Sicherheitsbehörden am besten aufgehoben. Das bestätigt auch Gerhard Hantschke vom Bundeskriminalamt in seiner Stellungnahme zum SPD-Antrag. Er schreibt, dass Exekutivbefugnisse für Europol nicht erforderlich sind, weil – ich zitiere – „die Polizeibehörden der Mitgliedsstaaten über die notwendigen Exekutivbefugnisse verfügen, um internationale Ermittlungen erfolgreich zu führen“. Stattdessen, so der Polizeidirektor, sollte Europol operativ bedeutende Informationen zusammenführen und bewerten. Genau das ist auch die Position der AfD.
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Deshalb ist es richtig und wichtig, dass Europol jetzt die Befugnis erhalten soll, Ausschreibungen im Schengener Informationssystem vorzunehmen.
Aber diese Regierung hat es zugelassen, dass Großbritannien wegen seines EU-Austritts gerade von diesem wichtigen System getrennt wurde.
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Uns gehen dadurch elementare Sicherheitsinformationen verloren.
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Das ist ein sicherheitspolitischer Super-GAU, für den Sie entsprechend Mitverantwortung tragen.
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Also hören Sie auf, Ihr sicherheitspolitisches Versagen mit der Forderung nach einer stärkeren Rolle von Europol kaschieren zu wollen!
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Setzen Sie endlich einen effektiven Grenzschutz, den konsequenten Kampf gegen Terroristen und die Abschiebung von Gefährdern, Hasspredigern und Gewaltverbrechern um! Nur das schafft mehr Sicherheit. Und dafür brauchen wir Europol nicht.
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Danke, Kollege Hess, für diese zeitliche Punktlandung.
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Das Wort geht an Susanne Mittag von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt kommen wir mal wieder von der Polemik zu den Fakten; das hilft ja immer bei so einer Rede.
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Beim Thema Europol, denke ich, haben viele eine oft durch Bücher oder Filme geprägte Vorstellung. Ich kann sagen: Das trifft so nicht zu. Aber eigentlich weiß man ja, dass solche Beschreibungen keine Dokumentationen sind. Europol ist völlig anders aufgestellt als übliche Polizeibehörden, eine Behörde, die sich aus Mitarbeitern der eigenständigen europäischen Länder zusammensetzt, die kontrolliert wird von allen europäischen Ländern – ich darf mit Boris Pistorius und dem Kollegen Irmer dabei sein – sowie Mitgliedern des Europäischen Parlaments.
Genau so, wie sich bei den örtlichen Polizeien, den Landeskriminalämtern, dem BKA und der Bundespolizei die Aufgaben, Zuständigkeiten, Ausstattungen und Erfordernisse geändert haben, so ist es auch bei Europol. Die Änderung des Mandats haben wir schon anlässlich unserer EU-Ratspräsidentschaft – wir hatten hier auch den Vorsitz in der Europol-Kommission – vorbereitet. Und nun – hoffentlich mit Einigkeit aller EU-Länder und des Europäischen Parlaments – wird das Mandat von Europol den heutigen Zeiten angepasst und auf die Zukunft ausgerichtet.
Dazu gehört eine verbesserte Zusammenarbeit mit OLAF, zuständig für Betrugsermittlungen – sehr wichtig –, sowie mit der relativ neuen Europäischen Staatsanwaltschaft. Es wird seit Jahren schon mit den Dienststellen vor Ort zusammengearbeitet – mal persönlich, aber in erster Linie informell, auswertend, unterstützend und vernetzend – bei der Sicherung und Analyse von Informationen der eigenen und immer wieder neu ermittelten Daten, bei der Vernetzung mit den unterschiedlichen Dienststellen und Informationssystemen und bei der Auswertung und Zuordnung von beschlagnahmten Datenmengen – oftmals inzwischen im Terabyte-Bereich – zum Beispiel im Bereich der Organisierten Kriminalität. Nach letzten Schätzungen – und die dürften auch schon veraltet sein – gibt es circa 5 000 OK-Gruppen allein in Europa.
Ich erinnere nur an das kürzlich veröffentlichte Verfahren hinsichtlich sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der deutsche Täter sitzt in Südamerika und hat über 300 000 Kunden im Netz. Das soll man erst mal ermitteln! Dazu gehören auch die notwendigen und noch zu erforschenden Anwendungen von KI, künstlicher Intelligenz. Natürlich ist auch die Unterstützung und Weiterentwicklung im Bereich Kriminaltechnik nicht zu unterschätzen.
In all diesen Bereichen hat eine rasante Entwicklung stattgefunden und findet auch jetzt immer noch statt. Dem wollen wir hier mit der Weiterentwicklung von Europol gerecht werden. Es geht neben der Organisierten Kriminalität auch um die Finanzkriminalität und Terrorismus. Wenn wir Europol nicht hätten, dann müssten die hiesigen Dienststellen mit dem Bundeskriminalamt allein ermitteln; das Dunkelfeld wäre noch dunkler.
Die Erweiterung der Aufgaben erfordert natürlich auch eine erhöhte Kontrolle durch die Europol-Kommission, und die findet statt. Der Datenschutz findet ebenfalls statt, durch mehr Befugnisse des Datenschutzbeauftragten. Dazu gehört auch, Daten von Drittstaaten und Privaten weder vorbehaltlos anzunehmen noch abzugeben. So schlau sind die Ermittler von Europol schon. Auch wir haben inzwischen mitbekommen, dass angebliche Straftaten von Staaten instrumentalisiert werden und Private sehr ausgeprägte Eigeninteressen verfolgen können. Das wird sehr wohl unterschieden.
Es gäbe natürlich noch sehr viel mehr Möglichkeiten für Europol. Wir hatten im letzten Jahr eine Anhörung, bei der aber auch deutlich wurde, dass eine Umsetzung der dafür notwendigen Anpassungen des Strafrechts und Strafprozessrechts derzeit nicht absehbar ist.
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Wir tauschen im Vorfeld und in der Nachbereitung zu Europol-Sitzungen mit Vertretern der Oppositionsfraktionen, soweit Interesse besteht, Informationen zu den Gremien aus, besprechen die Berichterstattung und begleiten Veränderungen und Verbesserungen. Da wurde schon deutlich, dass allein bei Veränderungen der Geschäftsordnung eine gemeinsame Entscheidung aller beteiligten Länder und des Europäischen Parlamentes sehr viel Verhandlungsgeschick und Empathie erfordert.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu verstehen: Die Angleichung rechtsstaatlichen Vorgehens in so unterschiedlichen Ländern und die Durchführung eigenständiger Ermittlungen in einem Land, das kollidiert mit den Aufgaben der dortigen Polizei. Ein derartiges Mandat mit Zustimmung aller Länder umzusetzen, das ist derzeit und auf absehbare Zeit einfach illusorisch.
Da hätte ich Ihnen von der FDP etwas mehr Realismus zugetraut; Sie waren doch immer mal bei den Besprechungen dabei.
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Aber immerhin konnten wir vereinbaren, dass die Länder zu Ermittlungen aufgefordert werden können. Das bietet sich auch an, weil die auswertenden Erkenntnisse von Europol den betroffenen Ländern oft noch gar nicht vorliegen.
Die genannten Veränderungen sind Verbesserungen: mehr Aufgaben, mehr Möglichkeiten, schnellere Kriminalitätsbekämpfung. Wie wichtig das ist, zeigt ganz aktuell die Bandbreite der Organisierten Kriminalität: Sie hat Gewinne aus der Pandemie genauso schnell abgeschöpft, wie die Pandemie sich ausgebreitet hat.
Mit dem Beschluss hier und heute jedoch ist Zurücklehnen nicht angesagt. Es muss weiter, wie im Beschluss aufgeführt, auf die finanzielle Absicherung von Europol geachtet werden – es ist schon erwähnt worden: Europol ist immer noch unterfinanziert –, und an den Verbesserungen muss weiter gearbeitet werden. Kriminalitätsbekämpfung hat auch viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, und für soziale Gerechtigkeit stehen wir ja wohl immer alle ein.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank für die eingesparte Zeit. – Die Kolleginnen und Kollegen Kuhle, Jelpke, Mihalic, Throm und Oster geben ihre Reden zu Protokoll.
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Wir sind damit am Ende der Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unbemannte Luftfahrzeuge, das klingt nach Zukunftsvisionen – und in der Tat, da liegen viele Chancen, die wir in der Zukunft nutzen können –, aber unbemannte Luftfahrzeuge, das fängt schon beim traditionellen Modellflug an. Der ist insbesondere in Deutschland sehr beliebt, begeistert Hunderttausende und vermittelt im Rahmen der Jugendarbeit engagierter Verbände bereits den Jüngsten komplexe technische Zusammenhänge. – Alles Realität.
Hunderttausende Privatleute besitzen und nutzen Drohnen – auch das alles schon Realität –, und auch im kommerziellen Bereich werden immer häufiger Drohnen eingesetzt, ob für die Inspektion von schwer zugänglichen Bauwerken, für den Blutkonserventransport oder zur Rehkitzrettung bei Mäharbeiten.
Die Palette möglicher Anwendungen wird fast täglich größer. So sind auch Flugtaxis keine abstrakte Zukunftsvision mehr, sondern bereits heute eine vielversprechende konkrete Technologie, bei der Deutschland weltweit eine Spitzenposition hinsichtlich Forschung und Entwicklung eingenommen hat. Darauf, denke ich, können wir auch ein bisschen stolz sein, meine Damen und Herren.
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Beim Stichwort „Flugtaxi“ muss ich natürlich daran erinnern, dass man vor wenigen Jahren noch belächelt wurde, wenn man davon gesprochen hat; in diesem Zusammenhang herzliche Grüße und vielen Dank an unsere Digitalstaatsministerin Dorothee Bär! Das ist heute schon Realität, im Test funktioniert das alles schon, und wir werden auch bald die konkreten Anwendungen sehen.
Damit Deutschland weiter Treiber der Weiterentwicklung der unbemannten Luftfahrt bleibt, hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die unbemannte Luftfahrt in Deutschland vor dem Hintergrund des europäischen Rechtsrahmens sicher in die bestehenden Strukturen integriert. Das Ziel ist die Beibehaltung des derzeit hohen Schutzniveaus in Bezug auf Privatsphäre, Umwelt und die bemannte Luftfahrt; das sind die Sorgen, die mit dieser Technologie immer wieder verbunden werden. Ganz klar: Wie bei jeder neuen Technologie müssen wir die Menschen mitnehmen, wir müssen Akzeptanz für diesen neuen Verkehrsträger schaffen, und das geht eben nur, wenn wir einen sicheren Rechtsrahmen für den Betrieb von Drohnen schaffen.
Gleichzeitig müssen wir aber auch den Rahmen so gestalten, dass genug Freiheiten existieren, um einen sinnvollen Drohnenbetrieb zu ermöglichen. Die Erfahrungen, die wir in den vergangenen Jahren mit der unbemannten Luftfahrt gemacht haben, zeigen, dass bedingungslose Verbote zu unnötiger Bürokratie führen und das Wachstum der Drohnenwirtschaft abwürgen könnten.
Mit dem Gesetzentwurf haben wir daher konkrete Voraussetzungen formuliert, um den Betrieb von Drohnen erlaubnisfrei zu ermöglichen. Es gibt also Erleichterungen für viele Anwendungen; darauf haben viele schon lange gewartet.
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Wichtig ist auch, dass die Nutzer einen zentralen Ansprechpartner im Bereich der unbemannten Luftfahrt haben; diese Rolle wird künftig in den allermeisten Bereichen das Luftfahrt-Bundesamt einnehmen.
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Die Aufgaben erstrecken sich von der Betreiberregulierung über die Abnahme von Kompetenznachweisen bis hin zur Erteilung von Betreiberzeugnissen. So werden bürokratische Hürden abgebaut und die Landesluftfahrtbehörden entlastet. Gleichzeitig sollen aber die Länder dort zuständig bleiben, wo sie besonders kompetent sind, nämlich bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen, die eine genaue Kenntnis der lokalen Bedingungen verlangen.
Eines ist klar: Eine sichere Luftfahrtverwaltung kann auch im Bereich der Drohnen nur gemeinsam funktionieren, Bund und Länder müssen ihre individuellen Stärken einbringen und zusammen an einem Strang ziehen. Auch deshalb möchte ich mich an die Mitglieder des Bundesrates wenden, die sich kritisch gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung geäußert haben: Die gestern vom Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur des Deutschen Bundestages vorgeschlagenen Änderungen greifen Ihre Anliegen in verantwortungsvoller Weise auf. Mehrere Bereiche wurden deutlich innovationsfreundlicher formuliert. Also erneut – so wie gestern in der anderen Debatte auch schon – herzlichen Dank an die Bundestagsabgeordneten, insbesondere auch an die Berichterstatter aus der Koalition, für wirklich viele gute Punkte, mit denen wir den Gesetzentwurf noch weiter verbessern konnten!
Also, lassen Sie uns jetzt gemeinsam die Weichen dafür stellen, dass die unbemannte Luftfahrt eine sinnvolle Ergänzung der bestehenden Mobilität bilden kann und dabei ein hohes Niveau beim Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Privatsphäre und der Natur gegeben ist. Was wir jetzt brauchen, sind gesetzliche, EU-konforme Regelungen, die Rechtssicherheit schaffen und den Blick in die Zukunft richten. Wir haben die Chance, das noch in dieser Legislaturperiode gemeinsam zum Erfolg zu bringen.
Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Dr. Dirk Spaniel für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz soll Gestaltungsspielräume für die unbemannte Luftfahrt schaffen, um den sicheren Betrieb dieses zukunftsweisenden Verkehrsträgers zu gewährleisten. Das ist ein Ansinnen, das unsere volle Zustimmung erfährt.
Und es ist auch dringend nötig. Während die Raumfahrtnation China mit deutschen Steuergeldern den Lieferverkehr vom Fahrrad auf die Drohne umstellt, arbeiten weite Teile dieses Parlaments daran, auf das Fahrrad umzustellen. Doch was nun als Gesetzestext vorliegt, ist ein weiterer Hemmschuh für die Innovationen hier in Deutschland. Ohne jeden erkennbaren Nutzen schaffen Sie bürokratische Hürden für die Drohnenfliegerei, andererseits bleibt ein Teil der Flugsicherheit hierbei auf der Strecke.
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Die Aufteilung der Zuständigkeit für unbemannte Luftfahrtsysteme – nach der Startmasse – bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen macht keinen Sinn und schafft Wettbewerbsnachteile für deutsche Firmen. Das erforderte ja sogar einen Änderungsantrag der Koalition, über den jetzt mit abgestimmt wird.
Unverändert bleibt – leider –, dass Fluggenehmigungen in Abhängigkeit vom Ort des Betreibers und nicht in Abhängigkeit vom Fluggebiet erteilt werden. Kurz zur Verdeutlichung: In Bremen werden dann Drohnenflüge in den Alpen genehmigt und in Stuttgart Drohnenflüge über der Ostsee. Es wird noch willkürlicher: Ist der Sitz des Betreibers im europäischen Ausland, so ist die dortige Behörde für die Betriebsgenehmigung zuständig, auch wenn der Flugbetrieb in Deutschland stattfindet. Wo wird ein Hersteller von Drohnen dann wohl zukünftig seinen Betriebssitz wählen, wenn ihm die deutschen bürokratischen Wettbewerbsnachteile klar werden? Wir als AfD teilen Ihre Begeisterung für die Bevorzugung ausländischer Unternehmen übrigens nicht.
Das wären vielleicht noch einige verzeihliche handwerkliche Fehler gewesen, wenn wenigstens die Flugsicherheit unangetastet geblieben wäre. Aber nach diesem Gesetz – wir haben es uns genau angeguckt – können Drohnen in Flughöhen von mehr als 120 Meter über Grund vorstoßen, wodurch die Einhaltung eines vertikalen Sicherheitsabstandes zur Mindestflughöhe bemannter Flugsysteme nicht mehr als ausreichend gewährleistet angesehen werden kann. Das gilt insbesondere für flache Anflugprofile, wie sie in der Sportfliegerei üblich sind.
Der Genehmigungsprozess der unbemannten Luftfahrt ist dem etablierten Prozess der bemannten Luftfahrt anzugleichen. Selbstverständlich sind in Flugplatznähe auch die Flugleitungen mit einzubeziehen, genau wie das woanders auch passiert. Nur so kann den Interessen von Bund und Ländern bezüglich Zuständigkeit und Behördenaufwand Rechnung getragen und der Betrieb von unbemannten Luftfahrzeugen planungssicher und zukunftsfähig und akzeptabel gestaltet werden. Weder Flugvorbereitungen noch ‑genehmigungen dürfen zu einem bürokratischen Monster verkompliziert werden. Ganz nebenbei wird der Hobbyfliegerei so der Garaus gemacht werden; das passiert mit Ihrem Gesetz.
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Und schon gar nicht darf die Flugsicherheit leiden.
Der Änderungsantrag der Grünen – wen wundert es? – geht nach unserer Auffassung in die völlig falsche Richtung.
Die Anträge der FDP und der Koalition versuchen, die Probleme etwas abzumildern. Wir werden uns da enthalten.
Unsere Fraktion wird sich dem Gesetzentwurf der Regierung nicht anschließen können; wir werden ihn ablehnen müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Dr. Spaniel. – Als nächster Redner spricht Arno Klare von der SPD-Fraktion zu uns.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Gesetzentwurf in der Ursprungsfassung mit der jetzigen Fassung vergleicht – ach so, ich habe die Maske noch auf,
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Pardon, man ist so daran gewöhnt, man nimmt sie schon gar nicht mehr ab –, dann stellt man fest: Da hat sich verdammt was verändert. Ich bedanke mich ausdrücklich bei meinem Kollegen Björn Simon. Wir beide zusammen haben den Gesetzentwurf wirklich sehr stark verändert. Ich hatte hier die Formulierung stehen: „Wir haben ihn auf links gedreht“, aber diese Aussage könnte als politische Positionierung gedeutet werden. Also: Wir haben ihn sehr, sehr stark verändert, zum Besseren verändert; das ist der wichtige Punkt.
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§ 21h Luftverkehrs-Ordnung war der am meisten kritisierte Paragraf in dem Entwurf. Dieser Paragraf beginnt jetzt mit einem entscheidenden Satz: „Die Benutzung des Luftraums … ist frei …“. Das ist ein Zitat aus § 1 des Luftverkehrsgesetzes, das jetzt in § 21h Luftverkehrs-Ordnung wiederholt wird. Das macht deutlich, dass wir erst einmal einen Duktus haben wollen, der erlaubt und der ermöglicht, dass wir keine Litanei von Verboten aufschreiben wollen, wie es im ursprünglichen Gesetzentwurf der Fall war; das haben wir komplett geändert.
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Ein Hinweis noch mal zu den Luftsportverbänden in Deutschland, die eine hervorragende Arbeit leisten. In der Anhörung – wer da war, hat es gemerkt – hatten zwei Verbände ja sehr unterschiedliche Auffassungen, was § 21f und § 21g der Luftverkehrs-Ordnung betraf. Auch das haben wir, wie ich finde, jetzt in einer vernünftigen Art und Weise harmonisiert, sodass beide Verbände ihrer Arbeit nachgehen können und ihre hervorragende Arbeit, vor allen Dingen Jugendarbeit, fortsetzen können.
Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier nicht über Spielzeug, wie einige glauben, sondern über die Fluginstrumente der Luftfahrt von morgen – darauf ist schon hingewiesen worden –; das reicht von der kleinen Drohne der Dachdeckermeisterin, die damit ein Dach kontrolliert –, hochauflösende Fotos erhält, ohne dass sie draufsteigen muss –, über – auch das gibt es schon, ist schon im Einsatz – einen Drohnenschwarm von 50 bis 100 Drohnen, die bei einem Waldbrand sozusagen einen Regen über dem Gebiet ablassen – auch das gibt es schon – und damit die Löschanstrengungen anderer ergänzen, über Fluggeräte zur Überwachung von Schienenstrecken – das kennen wir – bis hin zu Drohnen, die in 500 Metern Höhe Strom erzeugen. Das kennen viele vielleicht noch nicht; aber es gibt ein paar Leute bei uns, die das schon gesehen haben, zum Beispiel Mathias Stein und Gero Storjohann aus Schleswig-Holstein. In Klixbüll kann man sich das anschauen. Das gibt es bereits. Auch das sind Drohnenanwendungen.
Es gibt noch ein bisschen was zu tun für die Kolleginnen und Kollegen, die uns in der nächsten Legislaturperiode folgen: Wir müssen – das gewinnt auf der europäischen Ebene gerade Gestalt; es liegen auch schon Texte dazu vor – in diese Verordnung noch die U-Space-Regulation der europäischen Ebene integrieren; die muss da auftauchen. Wir müssen natürlich – auch das ist in Arbeit, auch das wird geschehen – ein ATM, also ein Air-Traffic-Managementsystem, installieren, das diesen U‑Space dann auch organisiert und überwacht, diesen Luftraum G, „Golf“ abgekürzt, in dem sich die Drohnen bewegen.
Das ist ein gutes Gesetz geworden, dank unserer Arbeit, Björns und meiner, finde ich, und ich bitte darum, dass alle zustimmen.
Danke.
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Vielen Dank, Kollege Klare. – Als Nächstes hat der Abgeordnete Bernd Reuther von FDP das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung und die Große Koalition verhindern die innovative und klimafreundliche Anwendung von Drohnen. Dabei hatte sie sich das Ziel gesetzt, Deutschland zum Leitmarkt für die unbemannte Luftfahrt zu machen. Diese Märkte werden jetzt woanders entstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dafür gibt es zwei ganz gravierende Gründe:
Erstens versäumt die Bundesregierung, eine einfache EU-Verordnung reibungslos in nationales Recht zu übertragen. Andere Staaten, unsere Nachbarn Österreich und Tschechien zum Beispiel, machen vor, wie es gehen kann. Hier wurden die Regelungen zur unbemannten Luftfahrt auf wenigen Seiten festgehalten.
Außerdem will die Bundesregierung die Genehmigungsverfahren auf alle Bundesländer ausweiten. Das ist unnötig und bürokratisch. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Landwirt – in der Landwirtschaft werden Drohnen ja häufig benutzt – hat Felder in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz; es geht eine Hochspannungsleitung durch sein Gebiet; er möchte diese Felder vor der Ernte überfliegen, um nach Wild zu schauen. Bis dieser Landwirt eine Genehmigung bekommen hat, ist die Ernte schon längst gelaufen. – Mit einer zentralen Genehmigungsstelle wollen wir Freien Demokraten das verhindern und jegliche Drohnenanwendungen zügig genehmigen.
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Der zweite Grund: Die Bundesregierung setzt auf Verbote für innovative und klimafreundliche Anwendungen. – Kollege Klare, Sie haben gesagt, Sie hätten am Gesetzentwurf viel verändert. Sie haben das Wort „Verbote“ gestrichen und durch „Gebote“ ersetzt, aber die ganzen Verbote aus der ursprünglichen Fassung unter den Geboten wieder eingereiht. Das klingt nur freundlicher; es ändert sich dadurch allerdings nicht viel.
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Ich gebe Ihnen zum Schluss noch ein ganz konkretes Beispiel für diese unsinnige Regelung: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es einfacher sein, mit einem Helikopter ein Naturschutzgebiet zu befliegen, als mit einer Drohne über diesen Baumwipfeln zu schweben. Sie glauben also ernsthaft, dass eine Drohne eine schlechtere Alternative zum Helikopter ist. Dass das keinen Sinn macht und ökologischer Unfug ist, muss man wohl niemandem erklären.
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Für uns Freie Demokraten ist eines klar: Die unbemannte Luftfahrt wird ein wichtiger Teil der Mobilität der Zukunft sein. Aber anders als die Bundesregierung wollen wir diese nicht behindern, sondern unterstützen und fördern.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, lieber Kollege Reuther. – Der Abgeordnete Jörg Cezanne von der Fraktion Die Linke gibt seine Rede zu Protokoll.
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– Ja, Die Linke möchte auch gerne gelobt werden, da sie ab jetzt bis zum Ende der Sitzung alle Reden zu Protokoll gibt.
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Das tun wir hiermit.
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Daniela Wagner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit Drohnen und später Lufttaxis kommt eine neue Verkehrssparte mit einer völlig neuen Dimension hinzu: die Nutzung und Bewirtschaftung des äußerst sensiblen untersten Luftraums. Das erfordert Änderungen mehrerer Gesetze und Verordnungen im Bereich des Luftverkehrsrechts. Das Verkehrsministerium hatte – richtigerweise – zum Schutz von Mensch und Natur, von Einrichtungen und Infrastruktur Abstandsregelungen und Flugverbote vorgesehen, die leider durch die Ausschussberatungen deutlich abgeschwächt wurden.
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Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Drohnenverordnung war aus Sicht der Interessen von Bürgerinnen und Bürgern vor den Änderungsanträgen der Koalition besser als danach. Es gibt – und das sehen auch wir so – durchaus eine Vielzahl sinnvoller Anwendungen und Einsatzbereiche: bei der Vermessung, bei der Überprüfung von Infrastruktur, im Sicherheitsbereich, beim Transport eilbedürftiger medizinischer Produkte oder der Belieferung abgelegener, schwer erreichbarer Gegenden. Aber, meine Damen und Herren, das stark herstellergetriebene Geschäftsmodell verfolgt in Zukunft in erster Linie die Zielsetzung eines massenhaften Güter- und Personentransportes im städtischen Bereich. Und da fragt man sich schon, weshalb eigentlich die Bitte des Nachhaltigkeitsbeirates um Überprüfung der Klimawirkung, der Energiebilanz, des Lärmaufkommens, der Verletzung der Privatsphäre sowie das Gefühl der Bedrohung und Belästigung bei der Bevölkerung schlicht ignoriert wurden.
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Diejenigen hier im Haus, die das ungeprüft und unhinterfragt mittragen oder sogar, wie die FDP, noch mehr ungehinderte Freiheit für Drohnenbetreiber einfordern,
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müssen sich schon mal fragen lassen, ob ihnen völlig egal ist, wie die Bewohnerschaft unserer Städte das eigentlich empfindet.
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Das Vorhaben ist ausgesprochen industriegetrieben, und es wäre unsere Aufgabe hier im Haus, den Betreiberinteressen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger entgegenzusetzen
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und eine angemessene Abwägung vorzunehmen, zum Beispiel auch die Abwägung hinsichtlich des realen Nutzens für Bürgerinnen und Bürger. Das hat die Anhörung im Verkehrsausschuss deutlich gezeigt; sie hat wichtige Hinweise darauf geliefert, wie wichtig das ist. Diese Hinweise sollten wir nicht ignorieren.
Gerade in Ballungsräumen sind Menschen zahlreichen Folgen von Mobilität ausgesetzt: Verkehrslärm jedweder Art, Fluglärm in der Umgebung von Flughäfen, Feinstaub und Ultrafeinstaub. Darauf weisen Ärzte seit Jahren und Jahrzehnten hin. Wer glaubt, meine Damen und Herren, mehr Drohnen und Lufttaxis über unseren Köpfen bedeuteten mehr Entspannung auf den Straßen, der dürfte sich gründlich irren.
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Kommen Sie bitte zum Ende.
Unsere Mobilitätsprobleme werden wir nicht mit Drohnen lösen, sondern mit klugen Lösungen am Boden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollegin Wagner. – Der nächste Redner ist von der CDU/CSU-Fraktion Björn Simon.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen zu später Stunde! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stellen wir auf nationaler Ebene die Weichen für die neue innovative Form der Mobilität und die Möglichkeiten, die mit unbemannten Fluggeräten verbunden sind.
Unbemannte Fluggeräte, auch Drohnen genannt, haben ein großes ökologisches, aber auch ökonomisches Potenzial. Wir wollen die Praxisanwendung unkompliziert gestalten und dabei die berechtigten Sorgen rund um öffentliche Sicherheit und gesellschaftliche Akzeptanz im Blick behalten. Das haben wir mit dem vorliegenden Entwurf und dem Änderungsantrag auch geschafft. Wir konnten im parlamentarischen Verfahren umfangreiche und wichtige Änderungen erreichen, die wir gestern im Verkehrsausschuss in einem Änderungsantrag verabschiedet haben. So haben wir beispielsweise festgeschrieben, dass bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen in der Kategorie „speziell“ keine Unterscheidung gemacht wird, ob das unbemannte Fluggerät ein Gewicht von über oder unter 25 Kilogramm hat. Zudem wird es hier im Hinblick auf die Zuständigkeit nun ein – Vorsicht, Herr Kollege Reuther! – Optionsmodell geben.
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Das heißt, dass die Länder für das Erteilen der Betriebsgenehmigung zuständig sind; aber wenn sie wollen, können sie es auch an den Bund und an das LBA, das Luftfahrtbundesamt, abgeben.
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Das schafft Flexibilität.
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Eine weitere wichtige Änderung betrifft die von vielen Seiten kritisierte strikte Verbotshaltung in der Luftverkehrs-Ordnung. Hier haben wir eine komplette Neuformulierung der §§ 21 h und 21 i erreicht, durch die nun von Geboten und nicht mehr von Verboten gesprochen wird.
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Es ist uns wichtig, beim Einsatz von Drohnen nicht zu restriktiv und mit zu starren Verboten vorzugehen. Damit würden wir die wichtigen und vielversprechenden Einsatzmöglichkeiten dieser neuen Mobilitätsform unnötig einschränken. Mit diesen und noch weiteren Änderungen konnten wir den Gesetzentwurf entscheidend verbessern und schaffen Anreize für den Einsatz von Drohnen.
Dass wir diese und noch weitere Änderungen festschreiben konnten, ist nicht allein Verdienst der Verkehrspolitiker von CDU/CSU und SPD. Trotzdem möchte ich die hervorragende Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Arno Klare – er hat es ja auch schon gesagt – besonders betonen.
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Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten gemeinsam in einem überaus produktiven Austausch mit vielen Akteuren gestanden, die sich intensiv mit der zukünftigen Nutzung von unbemannten Luftfahrzeugen beschäftigen, Wissenschaftler an Hochschulen, Fachverbände, Modellflug- und Luftsportverbände, die teilweise über Zehntausende Mitglieder haben. Die haben wir entsprechend in die Gesetzgebung eingebunden. Sie alle haben durch ihre Hinweise und ihre Rückmeldungen einen überaus wertvollen Beitrag geleistet, für den ich mich an dieser Stelle bedanken möchte.
Ein ebenso herzlicher Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Bundesverkehrsministerium. Auch ihre Expertise und das zusätzliche Engagement waren insbesondere im Hinblick auf die noch umgesetzte Änderung überaus hilfreich.
Wenn der Gesetzentwurf mit unseren Änderungen nun in Kraft tritt, gilt es allerdings, nach vorne zu schauen und das Potenzial von unbemannten Luftfahrzeugen auch weiterhin bestmöglich zu nutzen. So sprechen wir uns in der Unionsfraktion deutlich dafür aus, ein nachgelagertes gesetzliches Verfahren anzustoßen. Die Land- und Forstwirtschaft gehört zu den Branchen, die zukünftig am meisten vom Einsatz unbemannter Flugsysteme profitieren können, beispielsweise durch das Transportieren und Abwerfen von Pflanzenschutzmitteln.
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Die EU-Verordnung verbietet diesen Transport aktuell noch. Daher wäre es wichtig, dass das Bundesverkehrsministerium hier zeitnah gemeinsam mit den zuständigen Genehmigungsbehörden in Land und Bund auf eine gemeinsame Änderung hinwirkt.
Wir geben den unbemannten Luftfahrzeugen mit diesem Gesetzentwurf und unserem Änderungsantrag einen stabilen gesetzlichen Rahmen, durch den die neue innovative Mobilitätsform ihr Potenzial weiter entfalten kann. Gleichzeitig werden auch die Sorgen im Hinblick auf die Privatsphäre und die öffentliche Sicherheit entsprechend berücksichtigt.
Ich hoffe, auch die Sorge um Ihre Redezeit.
Wir bitten um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Simon. – Rainer Spiering von der SPD gibt seine Rede zu Protokoll.
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Zum Abschluss der Debatte hören wir Thomas Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben in Deutschland manchmal ein Problem mit Technologie. Ich sage dies, weil wir heute hier über Drohnen reden und ich ganz oft, wenn ich über solche Themen spreche, höre: Könnt ihr euch nicht mal um die richtigen Probleme kümmern?
Ich will Ihnen mal sagen, was die richtigen Probleme sind. Ich hoffe nicht, dass sich hier Anwesende einer Operation unterziehen müssen, vielleicht eine Krebsoperation. Dabei müssen Gewebeproben entnommen werden, während Sie auf dem OP-Tisch in Narkose liegen. Ich habe es vorher auch nicht gewusst: Diese Gewebeproben werden heute mit dem Krankenwagen mit Blaulicht durch den ganzen innerstädtischen Stau vom Krankenhaus zum Pathologen gebracht und dort analysiert. Während all das stattfindet, liegen Sie weiter in Narkose auf dem OP-Tisch. – Das zu verändern ist Gegenstand des Projekts Medifly, das das Bundesverkehrsministerium unterstützt hat und das Bundeswirtschaftsministerium mit dem Innovationspreis Reallabore ausgezeichnet hat. Das hilft Ihnen konkret, sicherer durch diese Operation zu kommen. Im Übrigen sind Sie auch sicherer auf den Straßen, weil weniger Krankenwagen unterwegs sind.
Das ist eins von ganz vielen Beispielen, das zeigt, dass Drohnen heute für die Menschen in diesem Land einen ganz konkreten Nutzen bringen. Und es bringt auch einen großen wirtschaftlichen Nutzen: Mittlerweile sind in Deutschland durch das Thema Drohnen mehr als 14 000 Menschen beschäftigt. Das sind übrigens fast 4 000 mehr als noch im Jahr 2019. Gerade der kommerzielle, der gewerbliche Markt springt bei uns richtig an. Seit 2012 wurden 423 Millionen Euro in deutsche Drohnenunternehmen investiert, davon allein zwei Drittel in den letzten beiden Jahren.
Meine Damen und Herren, über das Thema Flugtaxen wurde diskutiert. Ich finde es gut, dass die Bundesregierung dieses Thema in der Breite nach vorne schiebt. Wir im Bundeswirtschaftsministerium unterstützen das übrigens ganz konkret, zum Beispiel durch unser neues Flugzentrum in Magdeburg-Cochstedt, wo man Technologien testen kann, auch sehr experimentelle, und durch unser Luftfahrtforschungsprogramm, über das wir alleine im Bereich Drohnen in der letzten Förderperiode 50 Millionen Euro investiert haben.
Ich glaube, es kommt jetzt darauf an, dass wir das Thema Drohnen richtig in die Anwendung bringen. Bei Demonstrationen hier in Berlin oder bei bestimmten Verkehrssituationen sehe ich immer noch große Hubschrauber am Himmel. Ich glaube, wir können viel Geld und CO2 sparen, wenn wir hier auf Drohnen setzen.
Der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Rat der Stadt Düsseldorf, Rolf Tups, hat mir noch mit auf den Weg gegeben, dass die Stadt Düsseldorf das Silvesterfeuerwerk 2022 durch eine in Deutschland einmalige Drohnenshow ersetzen wird. Die Grünen als unser Kooperationspartner im Düsseldorfer Stadtrat haben übrigens diesem Projekt mit großer Begeisterung und Freude zugestimmt; Frau Kollegin Wagner, Sie hatten sich hier so kritisch zum Thema Drohnen geäußert. Ich glaube, so kommen wir nach vorn. Ich freue mich jedenfalls darauf und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, lieber Kollege Jarzombek. – Ich schließe die Aussprache.
Deutschlandtakt – Frau Präsidentin, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen –, für die einen ist das gleichbedeutend mit Lärm und Naturzerstörung, für die anderen ist das die Lösung aller Mobilitätsprobleme. Aber was ist der Deutschlandtakt wirklich? Es ist einfach nur ein System, einen Fahrplan zu kreieren, der möglichst wenig Umsteigezeiten beinhaltet. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Züge nun besonders schnell fahren oder nicht so schnell oder langsam; er funktioniert bei allen Geschwindigkeiten. Aber natürlich brauchen die Züge auch in diesem Fall eine Trasse. Ein Taktfahrplan benötigt verlässliche Trassen.
Unser Regelwerk zur Verteilung dieser Trassen, das Eisenbahnregulierungsgesetz, bildet das nicht ab; es kennt das nicht. Darum ist es sehr wichtig, dass wir hier heute Abend eine Erprobungsklausel beschließen, damit diese innovativen Fahrpläne möglich werden.
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Diese Möglichkeiten sind umso wichtiger, als der BGH im Februar beschlossen hat, dass verspätete Züge eben nicht systemimmanent sind und dass gebuchte Trassen den Eisenbahnverkehrsunternehmen pünktlich zur Verfügung gestellt werden müssen. Sonst drohen Strafzahlungen.
Wenn also Taktfahrplan und pünktliche Trassengestellung da sind, dann muss es aber auch eine vernünftige Finanzierung der Betriebswege geben, damit das Ganze funktioniert. Obwohl bei der großen Reform in der letzten Legislatur beschlossen wurde, dass wir nach zwei Jahren die Finanzierung dieser Schienenwege erneut überprüfen, lag erst nach über vier Jahren der jetzige Gesetzentwurf vor. Das bot uns eben nicht ausreichend Zeit, um diese wichtigen Dinge, die zum Beispiel in § 37 stehen, nämlich die Festschreibung, dass die Trassenpreise im Nahverkehr um maximal 1,8 Prozent im Jahr steigen dürfen, noch mal zu überprüfen. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn zu wenig Geld für den Erhalt der Infrastruktur da ist, dann leidet die Pünktlichkeit. Dann ist ein Deutschlandtakt nicht möglich, und das geht nicht.
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Wenn der Entschließungsantrag, der hier heute vorliegt, der neuen Bundesregierung Anregungen mitgibt, diese Reform erneut anzufassen, –
Liebe Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
– dann sollten Sie sich aber bitte mehr Zeit dafür nehmen; denn diese Zeit ist wichtig für die Kunden und Kundinnen, für die Bahn und für unser Klima.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Lühmann. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion. Es spricht Wolfgang Wiehle.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Eisenbahnregulierungsgesetz, mit einem passenden Bild wird auch dieses Thema anschaulich: Nehmen wir dieses Handy. Das hat ein System, das regelt, wie die Apps mit Infrastruktur wie Anzeige und Kamera zusammenarbeiten. So ähnlich steuert die Eisenbahnregulierung auch die Zusammenarbeit der Unternehmen, die Bahnstrecken und Züge anbieten.
Jetzt hat man dieses fünf Jahre alte System untersucht und präsentiert uns ein Update. Selbst seine Macher geben zu, dass dieses Update zu schmal geraten ist, und liefern deshalb ein hochheiliges Versprechen mit: dass das nächste Update aber größer sein soll.
Welche Neuerungen werden uns da angeboten? Rahmenverträge sollen wieder möglich werden und langfristige Garantien für Angebote, zum Beispiel im Regionalverkehr, geben. Das ist im Prinzip gut. Aber die DB Netz AG soll ein Kündigungsrecht erhalten. Einen Rahmenvertrag müssen die Behörden genehmigen, seine Kündigung aber nicht. Das ist doch unlogisch.
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Die Deutsche Bahn AG hat als integrierter Konzern eine große Macht am Eisenbahnmarkt. Um diese zu begrenzen, bietet der neue Gesetzentwurf zu wenig. Vor allem fehlt der früher einmal angekündigte Bußgeldkatalog gegen Diskriminierung von Wettbewerbern. Genauso fehlen Haftungsregeln bei Schlechtleistung des Infrastrukturbetreibers. Dass das relevant ist, haben wir ja gerade im Februar erlebt, als die DB Netz AG wichtige Strecken tagelang nicht vom Schnee geräumt hat. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Gerät bekommt Schnee ab, fährt herunter und Sie können die wichtigsten Apps erst nach sechs Tagen wieder starten.
Das Bahn-Chaos nach dem Wintereinbruch ist auch der Grund für den AfD-Antrag, über den wir nachher abstimmen. Dieser Antrag besagt, dass die Bundesregierung auf die Bahn einwirken soll, damit die Bahnstrecken mit höchster Priorität verkehrssicher bereitgestellt werden, und er enthält einen Ansatz, wie sich die Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Forderung auf die staatlichen Gelder für die Bahn auswirken soll. Wir werden nachher sehen, wer diese Forderungen unterstützt.
Mit dem System der Eisenbahnregulierung sollen künftig Experimente gemacht werden; denn es gibt ein neues Ziel: den Deutschlandtakt. In das Gesetz kommt eine Experimentierklausel, die aber nur sehr schwammig formuliert ist. Was hier mit „Strecken“ und „gesellschaftlichem Nutzen“ gemeint ist, steht nicht dabei. Staatssekretär Ferlemann hat am Mittwoch in der Ausschusssitzung eine sehr pragmatische Erklärung für die Bestimmung dieses Nutzens gegeben. Was wird aber passieren, wenn im Verkehrsministerium nach der Wahl grüne Ideologen sitzen? In solche Experimente können wir dann nicht mehr vertrauen.
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Einen Vorgeschmack darauf bietet der grüne Entschließungsantrag. Danach sollen die Zugfahrten in staatlich vorkonstruierte Systemtrassen gelenkt werden. Dann kann man sich das Experimentieren für den Deutschlandtakt gleich sparen.
Unabhängig von der politischen Couleur rate ich zu höchster Vorsicht mit der Experimentierklausel. Lesen Sie noch mal nach, was Professor Mohr in der Expertenanhörung zur Vereinbarkeit mit dem EU-Recht gesagt hat. Eine neue Pleite wie bei der Pkw-Maut können wir uns nicht leisten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Das Update für die Eisenbahnregulierung ist alles andere als ein Meisterwerk. Die AfD-Fraktion rät von der Installation ab. Wir stimmen gegen den Gesetzentwurf.
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Vielen Dank, Kollege Wiehle. – Als Nächster hat der Abgeordnete Matthias Gastel von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Koalition plant eine Änderung des Eisenbahnregulierungsgesetzes. Wenn man sich an die Änderung eines bestehenden Gesetzes macht, dann sollte man erst mal analysieren, inwiefern die Ziele des bisherigen Gesetzes erreicht oder nicht erreicht wurden und inwiefern und an welcher Stelle Korrekturen notwendig sind.
Die Ziele sind definiert – ich mache es hier ganz kurz aufgrund der späten Stunde –: Steigerung der Verkehrsanteile der Schiene, Förderung von Investitionen in die Infrastruktur. – Schauen wir uns nun die Situation an, wie sie sich heute tatsächlich darstellt: Wir haben einen stagnierenden Verkehrsanteil der Schiene, mit dem sich leider die Klimaziele nicht erreichen lassen, und wir haben viel zu niedrige Investitionen, um eine leistungsfähige Infrastruktur zu schaffen, mit der sich zuverlässige Angebote auf der Schiene realisieren lassen.
Was zu tun ist, aber leider in diesem Gesetzentwurf entweder fehlt oder wo man viel zu kurz springt, ist die dauerhafte Senkung der Trassenpreise; denn das bringt mehr Verkehr auf die Schiene.
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Mit Systemtrassen wird der Deutschlandtakt ermöglicht, also bessere Angebote für die Fahrgäste, damit mehr Menschen auf die Schiene umsteigen, weil die Angebote aufeinander abgestimmt sind, weil die Züge häufiger und besser abgestimmt fahren. Das ist etwas, das eben fehlt. Das wäre nötig gewesen für diese Reform.
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Und wir brauchen gezielte Investitionen in die Infrastruktur. Der Bund investiert aber viel zu wenig. Er investiert zum Beispiel in diesem Jahr doppelt so viel in den Aus- und Neubau von Straßen wie in die Infrastruktur der Schienenwege. Genau das ist der Fehler. Das muss geändert werden. Das muss korrigiert werden, wenn die Schiene stark werden soll.
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Also: Mit dieser Gesetzesänderung wird leider nichts besser. Die komplizierte Regulierung, die wir schon haben, wird noch komplizierter und noch bürokratischer. Sie verpassen als Koalition eine weitere Chance, die Schiene zu stärken.
Deswegen: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, weil wir hier die Schwachpunkte erkennen, weil wir dieses Gesetz besser machen und damit die Schiene stärken. Wir wollen, dass Menschen die Bahn nutzen, dass Güter mit der Bahn transportiert werden, statt die Straße zu belasten, statt das Klima zu belasten. Wir machen die entsprechenden Vorschläge mit unserem Entschließungsantrag und Ihren Gesetzentwurf entsprechend besser. Bitte stimmen Sie diesem zu!
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Vielen Dank, Kollege Gastel. – Der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann, der Abgeordnete Detlef Müller sowie die Abgeordneten Herbst, Donth, Leidig und Oßner geben ihre Reden zu Protokoll.
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Wir sind damit am Ende dieser Debatte.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Legislaturperiode haben wir den Kohleausstieg beschlossen. Das war ein großer Schritt in Richtung Klimaschutz und CO2-freie Energieversorgung. Spätestens bis zum Jahr 2038 steigen wir aus der Kohleverstromung aus.
Heute geht es um die bergrechtliche Seite; denn unabhängig vom Endzeitpunkt des Kohleausstiegs – ob 2038 oder vielleicht auch noch ein paar Jahre früher – gilt, dass dieser Ausstieg natürlich große Folgen für die Tagebaue hat. Wenn wir die Kraftwerke herunterfahren, dann müssen die Tagebaue eben auch umgeplant werden. Das betrifft als Erstes das Rheinische Revier. Dort werden bis Ende nächsten Jahres bereits acht Blöcke vom Netz gehen, dann werden weitere elf bis zum Jahr 2030 in der Lausitz und im Rheinland stillgelegt, und danach gehen noch einmal elf Blöcke im Rheinland, in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier vom Netz.
Deshalb hat RWE schon mit den Umplanungen begonnen. Das ist auch nötig. Wie wir alle wissen, soll der Restbestand des Hambacher Forsts erhalten bleiben. Der Abstand zwischen den Abbruchkanten der Tagebaue und den Ortschaften – das ist meinem Kollegen Günter Krings besonders wichtig – soll größer ausfallen als nach der bisherigen Leitplanung, und vor allem sollen insgesamt etwa 1,2 Milliarden Tonnen weniger ausgekohlt werden.
Solche Genehmigungsverfahren, die jetzt erforderlich werden, dauern sehr lange. Es gibt eine große Öffentlichkeitsbeteiligung und komplizierte Verfahren; denn es geht ja um viel. Es werden ganze Landschaften umgeplant. Wenn wir diesen ambitionierten Ausstiegspfad jetzt umsetzen wollen, dann müssen wir uns auch mit diesen Genehmigungsverfahren beeilen.
Das hat die Kohlekommission angemahnt; das brauchen aber auch die Kommunen vor Ort für eine sichere kommunale Planung. Sie müssen wissen, wo sich letztlich der Tagebaurestsee befinden wird, wo landwirtschaftliche Flächen, Bauland und dergleichen entstehen werden.
Und da setzt die Novelle an. Wir werden die Hauptbetriebspläne länger laufen lassen, wir werden es ermöglichen, dass Projektmanager – der Name sagt es schon – die Verwaltungsverfahren als Verwaltungshelfer managen. Es wird daneben die Möglichkeit zu einem vorzeitigen Vorhabenbeginn geben, und Klagen gegen diese Maßnahmen sollen unmittelbar vor dem Oberverwaltungsgericht erhoben werden können; die Verfahren sollen damit beschleunigt werden.
Wir stehen jetzt am Beginn des Raumordnungsverfahrens. Die Landesregierung NRW hat bereits eine neue Leitentscheidung vorgelegt. Damit fängt es an; das ist der erste Schritt. Wir sind also schon in einem guten Verfahren und brauchen jetzt genau diese bergrechtliche Ergänzung hier.
An anderer Stelle reden wir darüber, welche Energien an die Stelle der Kohle treten werden, und über die Hilfen, die die Regionen bekommen, damit dort auch etwas Gutes entstehen kann.
Zwei andere Punkte, die auch in dieser Novelle enthalten sind und mit dem Kohleausstieg nichts zu tun haben, will ich noch kurz darstellen:
Zum einen geht es um die Erdwärme und Geothermie. Hier vereinheitlichen wir die Fristen, und es gibt einheitliche Ansprechpartner. Das soll den manchmal kleinen Unternehmen, die sich daranmachen, helfen; das ist gut für die Entwicklung der Geothermie.
Zum anderen regeln wir klar, nach welchem Rechtsregime Lithium gefördert wird, vor allem das Lithium in wässrigen Lösungen, das wir etwa im Oberrheingraben finden. Dort gibt es erhebliche Vorkommen. Das soll nun auch als bergfrei gelten, damit dort eben Investoren tätig werden können, um diesen kostbaren und wichtigen Rohstoff zu bergen. Das ist wichtig für die Energiewende, für die Verkehrswende und für Zukunftstechnologien in Deutschland.
Vielen Dank.
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Wir sind aufgrund der Einsparung der Zeit stolz auf die Bundesregierung.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Wir kommen zu dem Abgeordneten Enrico Komning von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Zu später Stunde hier am Abend: Die Bundesregierung hat die Wirtschaft derzeit in einem Würgegriff, der seinesgleichen sucht. Die langfristigen Auswirkungen der Coronamaßnahmen sind noch in keiner Weise absehbar.
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Die kurzfristigen sehen wir aber schon überall.
Die LEAG – immerhin zweitgrößter deutscher Stromerzeuger – plant für dieses Jahr, Mitarbeiter im Braunkohletagebau zum wiederholten Male in Kurzarbeit zu schicken. Grund sei der niedrige Stromverbrauch wegen des Corona-Lockdowns. Insgesamt 2,5 Millionen Menschen in Deutschland sind momentan in Kurzarbeit – von den 500 000 zusätzlichen Arbeitslosen seit einem Jahr gar nicht zu sprechen.
Sie von der Bundesregierung lassen sich von diesen Zahlen schon lange nicht mehr beeindrucken, geschweige denn erweichen. Sie von der Bundesregierung haben die Perspektivlosigkeit dieser Menschen zu verantworten.
Und nun dieser Gesetzentwurf! Gleich in der Problemstellung machen Sie deutlich: Durch stillstehende Unternehmen – ich zitiere – „drohen erhebliche wirtschaftliche Schäden (auch mit Folgen für die Arbeitnehmer wie z. B. Kurzarbeit) …“ – Tja, wer hätte das gedacht?!
Da müsse man ja nun was tun, und das machen Sie auch. Sie planen den Abbau bürokratischer Hürden und eine Rechtswegverkürzung in Bezug auf die Genehmigung der Wiedernutzbarmachung von Tagebaustätten für Anlagen zur Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen; Frau Staatssekretärin, Sie haben darauf hingewiesen.
Es ist ein Begleitgesetz zu Ihrem Kohleausstiegsvorhaben. Es soll sicherstellen, dass Sie Ihren Kohleausstieg auch tatsächlich bis 2038 hinbekommen. Mit anderen Worten: Wenn es um Ihre Klimaideologie geht, funktionieren auf einmal die erstaunlichsten Dinge: Bürokratieabbau und Rechtswegverkürzung sollen im Hinblick auf den Kohleausstieg stattfinden können. – Dem Mittelstand hingegen wird jeder bürokratische Knüppel zwischen die Beine geworfen, den man nur finden kann.
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Damit wir nicht missverstanden werden: Bürokratieabbau ist ja grundsätzlich gut. Auch die nun bestehende Rechtssicherheit durch die klare Definition von Lithium als bergfreiem Bodenschatz schafft Planungssicherheit für Investoren. Bezogen auf die Rechtswegverkürzung muss man sich allerdings die Frage stellen, ob dies nicht zu einer zu starken Belastung der nun erstinstanzlich zuständigen Oberverwaltungsgerichte führt.
Insgesamt lehnen wir den Ausstieg aus der Kohleverstromung aber ab. Sie gefährden damit nämlich die Energiesicherheit Deutschlands, bürden den Menschen die höchsten Energiekosten der Welt auf, nehmen strukturelle Verelendungen ganzer Regionen in Kauf und haben am Ende, wie schon im Ruhrgebiet, kein Konzept für den dann anstehenden Strukturwandel. Dem Klima wird es am Ende egal sein.
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Wir von der Bundesregierung – –
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– Tja, noch nicht! – Wir von der AfD-Bundestagsfraktion würden uns von der Bundesregierung ein ähnlich großes Entbürokratisierungsengagement wünschen, wenn es um die Rettung des deutschen Mittelstandes und der sozialen Marktwirtschaft geht. Darauf werden wir wohl noch lange warten können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Komning.
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– Wünschen darf man sich ja mal was; das darf jeder.
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Das Wort geht an Dr. Julia Verlinden von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat gerade erklärt, dass das sogenannte Klimaschutzgesetz der Bundesregierung das Klima eben nicht ausreichend schützt. Es benachteiligt die kommenden Generationen, weil längst überfällige Maßnahmen immer weiter hinausgezögert werden.
Und was macht die Bundesregierung? Sie doktert an einem völlig veralteten Berggesetz herum und erleichtert sogar noch die Verlängerung der Abbaugenehmigung für Braunkohletagebaue. Wachen Sie endlich auf!
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Wir brauchen dringend eine ambitionierte Energieeffizienz- und Erneuerbaren-Politik. Wir brauchen einen konsequenten Ausstiegspfad aus der fossilen Energieerzeugung.
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Und glauben Sie mir: Das funktioniert – wenn man die richtigen Gesetze macht.
Am besten, Sie fangen hier und jetzt an und überarbeiten das Bundesberggesetz grundlegend. In unserem Entschließungsantrag haben wir Ihnen dazu einige Punkte aufgeschrieben.
Wo steht der Klimaschutz in diesem Gesetzentwurf? Fehlanzeige! Wie hoch ist der Umweltschutz gewichtet? Viel zu niedrig. Was ist mit den vom Bergbau betroffenen Menschen und Kommunen? Ich würde sagen, zeitgemäße Beteiligungsformate sehen anders aus.
Schauen wir mal nach Niedersachsen. 97 Prozent der heimischen Erdgasförderung findet hier statt. Seismische Erschütterungen und Schäden an Häusern, unsanierte giftige Bohrschlammgruben und erhöhte Krebsraten verunsichern und belasten die Menschen. Derzeit ist es sogar noch erlaubt, in Wasserschutzgebieten und Naturschutzgebieten nach Erdgas und Erdöl zu bohren. Solche Bohrungen in Schutzgebieten müssen untersagt werden.
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Umwelt und Gesundheit müssen Priorität gegenüber den Gewinninteressen von einzelnen Unternehmen haben.
Die Menschen haben es schon zu oft erlebt, dass die Erdgasförderstellen nicht ordentlich gewartet werden und Leckagen auftreten. Sie bangen um ihre Gesundheit und um die ihrer Familien. Aber dieses Problem ist lösbar – mit einem zeitgemäßen Berggesetz. Wir brauchen eine unabhängige und dauerhafte Überprüfung von Erdgas- und auch Erdölförderstellen, um ein effektives Monitoring aufzubauen, und die Menschen müssen Gewissheit haben, dass sie selbst und ihre Umwelt bestmöglich geschützt werden.
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Was außerdem dringend im Bergrecht klargestellt werden muss: dass für die Rohstoffgewinnung eine Förderabgabe gezahlt wird, in die auch Umweltschäden eingepreist werden; denn was sich da vor einigen Monaten in Niedersachsen abgespielt hat, ist echt unfassbar. Die Landesregierung hat da mal einfach so entschieden, dass die Förderabgabe gesenkt wird – und rückwirkend für das Jahr 2020 sogar auf null. Mit diesem Deal mit der Erdöl- und Erdgasindustrie verzichtet die schwarz-rote Landesregierung in Niedersachsen mal eben auf Einnahmen in Höhe von 250 Millionen Euro. Im Bundesbergrecht sollten diese Schlupflöcher für Rabatte an die fossile Industrie endlich geschlossen werden!
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Und dann das Thema Fracking. Die aktuelle Hängepartie der Fracking-Gesetzgebung ist nun schon vier Jahre alt. Wir brauchen kein Fracking, wir brauchen ein grundsätzliches Verbot; denn Fracking bringt nicht nur Gefahren für Mensch und Umwelt. Wir brauchen schlichtweg nicht immer mehr, sondern weniger fossile Energieträger.
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In diesem Sinne ist es besonders absurd angesichts eines unumgänglichen Kohleausstiegs, der bis spätestens 2030 abgeschlossen sein sollte, jetzt noch längere Genehmigungen für den Braunkohleabbau zu ermöglichen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Fangen Sie endlich damit an, den Klimaschutz ernst zu nehmen, und überarbeiten Sie das Bundesberggesetz grundlegend, auch im Sinne des Umweltschutzes und zum Schutz der Menschen!
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Sehr geehrte Frau Kollegin – – Es ist schon Geisterstunde. Das Beste zum Schluss.
Ich glaube, die Kollegen hätten sich gefreut, wenn Sie gesagt hätten: Liebe Präsidentinnen und Präsidenten!
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Fangen wir noch einmal an; das geht von meiner Redezeit ab.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Vorbereitung liegt der Schlüssel zum Erfolg. Als Abgeordnete brauchen wir für viele unterschiedliche Entscheidungen immer wieder genaue Daten und verlässliche Zahlen. Dabei hat sich jeder von uns bestimmt schon mal die Frage gestellt: Wie viele Personen betrifft das eigentlich? Hat jemand mal eine Statistik dafür? Haben wir dafür zuverlässige Zahlen? – Eines ist klar: National wie international steigen Bedarf und Anforderungen an die Bevölkerungsstatistik.
Der Zensus muss digitalisiert sein, er muss schneller und präziser sein. Wirtschaftlicher – sprich: günstiger – soll er werden und Bürgerinnen und Bürger von teils lästigen und redundanten Befragungen befreien – und das immer mit Blick darauf, dass wir stets aktuelle Daten benötigen, zum Beispiel für den Bau einer Schule vor Ort oder für bundesweite Förderprogramme.
Der Weg in die Zukunft ist ein registerbasiertes Verfahren zur Datenermittlung; das haben wir in der öffentlichen Anhörung auch so zu hören bekommen. Nur so kann es uns gelingen, den hohen Standards und Anforderungen an einen modernen Staat sowie an künftige statistische Ermittlungen von Einwohnerzahlen gerecht zu werden und diese dann auch in der Praxis zu erfüllen.
Die Grundlage für diese Zukunft schaffen wir jetzt mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf. Es gilt, die Daten aus den unterschiedlichen Registern in Deutschland nun besser für die amtliche Statistik nutzbar zu machen.
Register, das sind Datenbestände der öffentlichen Verwaltung; diese sind entweder notwendig, um Verwaltungsleistungen erbringen zu können, oder es sind Daten, die von Verwaltung und Politik unterstützend genutzt werden können, so zum Beispiel die örtlichen Melderegister oder das Handelsregister.
Entscheidend ist, dass mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Erprobung von Verfahren eines Registerzensus und zur Änderung statistikrechtlicher Vorschriften genau das getan wird, was der Entwurf bereits im Titel offenbart, nämlich: Es werden die rechtlichen Grundlagen geschaffen, damit Verfahren erprobt werden können, um nach dem Zensus 2022 verlässliche Daten für weitere Bevölkerungsstatistiken erheben zu können.
Die Daten aus dem Zensus 2022 sollen unter anderem genutzt werden, um zum Beispiel Methodentests durchzuführen, die die Erprobung von Verfahren zur Verknüpfung von Registern ermöglichen, um ein statistisches Einrichtungsregister aufzubauen, das Informationen zu Anstalten und Gemeinschaftsunterkünften enthält oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, um in Zukunft vorhandene Daten zur Ermittlung verschiedener Merkmale nutzbar machen und Lieferverpflichtungen für weitere Erhebungsmerkmale erfüllen sowie das Anschriftenregister weiterentwickeln zu können.
Der Gesetzentwurf enthält zusammen mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen darüber hinaus Maßnahmen, um Daten statistisch zu bereinigen, Unstimmigkeiten zu klären und so insgesamt zu einem hochqualitativen Datenniveau beizutragen.
Ich bedanke mich bei meinem Kollegen Thomas Hitschler von der SPD und bitte um und rechne mit Ihrer Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, liebe Kollegin Nicolaisen. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit dem Kollegen Dr. Christian Wirth.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Es gibt ja lustige Sachen. Eine lustige Sache ist heute Abend dieser Gesetzentwurf. Wir wollten eigentlich – bis gestern – über einen Gesetzentwurf zur Einführung eines elektronischen Identitätsnachweises mit mobilen Endgeräten reden. Heute reden wir plötzlich über einen Gesetzentwurf zur Erprobung von Verfahren eines Registerzensus und zur Änderung statistikrechtlicher Vorschriften. Wir wollten also über etwas ganz anderes reden, und plötzlich reden wir über Statistik. Gut, gar kein Problem.
Wir haben lange über den Zensus geredet – über die letzten Jahre – und festgestellt, dass die Regierung eigentlich viel verschlafen hat. Plötzlich soll es – im Gegensatz zu gestern – um den Zensus-Gesetzentwurf gehen, weil die EU plötzlich möchte, dass wir sehr schnell und jedes Jahr sehr viele solcher Daten weitergeben. Deshalb reden wir plötzlich heute Abend über einen Gesetzentwurf, der gestern gar nicht vorgesehen war. Da muss ich sagen, –
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– überhaupt kein Problem –, ich wundere mich einfach, wie sich hier das Verfahren ändert.
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Gestern noch sollten wir über ein anderes Verfahren reden, heute reden wir über diesen Gesetzentwurf. Ich muss sagen: Nein, wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil es einfach so ist
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– ja, Junge, ist gut! – Wir werden einem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wo die EU heute sagt, wir müssen jedes Jahr Daten übertragen. Was soll das? Wir wollten gestern über ein anderes Gesetz reden. Heute reden über wir dieses. Meine lieben Damen und Herren, wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank.
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Nur ein kleiner Hinweis: Die Tagesordnung ist abgestimmt worden, und darauf stand genau dieser Tagesordnungspunkt. – Ich bedanke mich.