Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/5/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, eine kurze Bilanz zu ziehen über eine strukturelle Veränderung, die wir zu Beginn der Legislaturperiode im Kanzleramt vorgenommen haben. Nach den Diskussionen vorangegangener Legislaturperioden haben wir ja zusätzliche Strukturen geschaffen, die der Koordinierung der Digitalpolitik in der Bundesregierung dienen sollten. Wir haben zum einen den Digitalrat eingerichtet, eine Institution, die sich aus meiner Sicht in ganz besonderer Weise bewährt hat, weil sie nicht nur die Bundesregierung beraten hat, wie es viele solche Institutionen ja tun, sondern der Digitalrat hat uns mit seinen Mitgliedern auch bei mehreren Projekten der Bundesregierung ganz konkret unterstützt. Deshalb glaube ich, dass es eine sehr sinnvolle Maßnahme war, ihn zu bilden. Er ist auch evaluiert worden. Dabei ist noch mal deutlich geworden, dass sich die etwas unkonventionellere Besetzung – statt ihn entlang unserer klassischen Strukturen mit verschiedenen verbandlichen Stakeholdern zu besetzen, wurde er mit Individualpersonen mit hoher sachlicher Reputation besetzt – im Ergebnis sehr bewährt hat. Das Zweite ist, dass wir Strukturen geschaffen haben, die darauf abzielen, dass wir in der Bundesregierung in Zukunft Digitalprojekte besser stemmen können. Das Ganze begann im Jahr 2018 mit der Gründung von Tech4Germany als einem Fellowship-Programm, wo wir junge technologieaffine Menschen an die Umsetzung von Verwaltungsprojekten heranführen. Umgekehrt kann man vielleicht sagen: Die Verwaltung wird an junge digitaltechnische Talente zur Umsetzung solcher Projekte herangeführt. Das hat sich sehr positiv entwickelt und mündete in der Gründung des DigitalService4Germany, einer GmbH, die jetzt für uns in der Bundesregierung solche Projekte als Institution umsetzen soll. Wir sehen, dass es auch in den Häusern unglaublich viel Bereitschaft gibt, davon Gebrauch zu machen. Wir sehen den Ausfluss vieler dieser Projekte schon sehr positiv. Wir haben darüber hinaus in der Pandemie die Digitalisierung auch genutzt. Im April des letzten Jahres sind sieben zivilgesellschaftliche Organisationen an uns herangetreten, und wir haben den #WirVersusVirus-Hackathon als Bundesregierung mit betreut und unterstützt. Daraus sind über 120 Projekte entstanden, die sich damit beschäftigen, wie wir digital die Pandemie besser bekämpfen. Wir haben damit einen Weltrekord aufgestellt: Über 30 000 Menschen haben sich im Sinne von Open Social Innovation daran beteiligt, etwas für ihr Land zu tun, etwas gegen die Pandemie zu tun, etwas für die Gesellschaft zu tun. Das haben wir jetzt verstetigt, unabhängig gemacht vom konkreten Anlass der Pandemie, und wir haben mit „UpdateDeutschland“ einen Weg gefunden, wie wir Menschen, die Interesse daran haben, auf digitaler Ebene an Problemlösungen mitzuarbeiten und die Bundesregierung zu unterstützen, auch strukturell einbinden. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Weg. Wir haben darüber hinaus im Bereich der Digitalisierung – da bedanke ich mich auch beim Deutschen Bundestag – mit vielen Gesetzen viel erreicht, zuletzt den Rechtsanspruch auf schnelles Internet. Wir haben mit den Vergaben, insbesondere im Bereich des Mobilfunks, eine sehr deutliche Verbesserung der Mobilfunkabdeckung in Deutschland. Wir stehen heute bei LTE bei 99 Prozent der Haushalte und bei 96,5 Prozent der Fläche. Ich kann nur sagen: In dieser Wahlperiode sind jedenfalls meine beiden meistgehassten Funklöcher verschwunden. Wir haben die Zahl der gigabitfähigen Anschlüsse von 27 auf 60 Prozent steigern können. Also, ich glaube, es ist viel geschehen. Zwei Projekte werden auch zu Beginn der nächsten Legislaturperiode große Relevanz haben. Das eine ist die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes; denn 2021 ist ja jetzt das große Jahr der Umsetzung, ebenso 2022. Da sind wir bei der Umsetzung der Einzelprojekte sehr gut vorangekommen. Die große Schwierigkeit liegt in der Implementierung in 11 000 Kommunen in Deutschland. Das wollen wir nach dem Einer-für-alle-Prinzip machen. Auch Sie als Haushaltsgesetzgeber haben dafür Milliardenbeträge zur Verfügung gestellt, und wir sind jetzt dabei, mit den Ländern die Einzelverträge zu machen, damit das auch wirklich gelingt. Aber das ist der am Ende geschwindigkeitsbestimmende Schritt, dass jede dieser Onlineleistungen nicht nur einmal, sondern wirklich flächendeckend implementiert ist. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Als Letztes will ich das Thema der IT-Konsolidierung ansprechen. Wir haben als Bundeskanzleramt die Aufgabe übernommen. Es ist ja für eine Regierungszentrale auch nicht ganz normal, dass wir gesagt haben, wir übernehmen das Controlling in einem Bereich der Dienste und der Betriebskonsolidierung, was ein riesengroßes Projekt in der Bundesregierung ist, mit verteilten Rollen zwischen Innen- und Finanzministerium. Auch die haben wir ja noch mal neu strukturiert. Da haben wir auch, weil das ja immer ein kritischer Punkt ist, zunächst am Anfang auf externe Unterstützung zurückgegriffen, und wir haben inzwischen intern die Kompetenzen für dieses Monitoring, für dieses Controlling aufgebaut. Und wir können heute sagen, glaube ich, dass wir jetzt sehr gut in der Lage sind, dieses komplizierte Projekt wirklich gut zu überblicken. Die Folge ist natürlich, dass man die Höhen wie die Tiefen sieht, also da, wo wir gut vorankommen, und da, wo sich noch sehr viel tun muss. Die IT-Struktur des Bundes, was die Betriebskonsolidierung angeht, ist außerordentlich komplex – das kann man, glaube ich, sagen –, und insofern ziehen wir eine positive Bilanz. Vieles von dem, was wir gemacht haben, ist im digitalen Sinne Tiefbau, also Vorbereitung auch dafür, dass die Bürger viel sehen. Aber Themen wie die digitale Identität und anderes werden auch in den nächsten Monaten zeigen, dass wir schon richtig vorangekommen sind. Vielen Dank, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die erste Frage stellt die Kollegin Beatrix von Storch, AfD.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank für das Wort. – Herr Minister, ich möchte zu der Verordnung für Sonderrechte für Geimpfte und Genesene fragen. Sie werden mir gleich sagen, dass es keine Privilegien sind – gleichwohl. In dieser Verordnung steht drin: Ist aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse hinreichend belegt, dass geimpfte Personen und genesene … nicht (mehr) ansteckend sind …, müssen … Erleichterungen … vorgesehen werden. Meine erste Frage lautet: Wie wollen Sie verhindern, dass dadurch die Republik unterteilt wird in Menschen, die geimpft sind, und Menschen, die nicht geimpft sind – die einen mit Grundrechten, die anderen mit weniger oder sehr viel weniger oder gar keinen Grundrechten? Das ist meine erste Frage. Meine zweite Frage bezieht sich auf den zweiten Absatz dieser Verordnung: Es handelt sich … nicht um … Privilegien, sondern um die Aufhebung nicht mehr gerechtfertigter Grundrechtseingriffe. Die Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe ist in § 28b geregelt. Da steht drin: Sieben-Tage-Inzidenz, 100er-Schwellenwert bei 100 000 Einwohnern. Meine Frage ist: Welche wissenschaftliche Grundlage gibt es für diese Rechtsgrundlage? Denn Sie müssen zunächst den Eingriff rechtfertigen. Für die Befreiung, sagen Sie, braucht es eine wissenschaftliche Grundlage. Ich möchte von Ihnen wissen, wie die Einschränkung von Grundrechten wissenschaftlich belegt ist. Welche wissenschaftliche Grundlage gibt es dafür, dass mein Mann und ich nach 22 Uhr nicht gemeinsam auf die Straße gehen dürfen, weil wir keinen Hund haben? Wenn wir einen Hund hätten, dürften wir das. Welche wissenschaftliche Grundlage haben Sie, dass meine Grundrechte so eingeschränkt sind? ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Frau Kollegin, die maßgeblichen Informationen beziehen wir natürlich vom Robert-Koch-Institut als unserem fachwissenschaftlichen Institut in dieser Pandemie. Hinsichtlich der Frage, was man möglicherweise schließt, welche Beschränkungen man auferlegt, hat das Robert-Koch-Institut uns Vorgaben gemacht, hat es uns Informationen gegeben. Nach dem Stufenschema, was sie haben, schlägt das Robert-Koch-Institut in einer Stufe Rot, 50er- bis 70er-Inzidenz, im Wesentlichen vor, in allen Bereichen Schließungen zu erwägen. Insofern ist, glaube ich, die Notbremse, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat, die solche Schließungen ab einer Inzidenz von 100 dann vorsieht, in jedem Fall verhältnismäßig und in jedem Fall von dem gedeckt, was das Robert-Koch-Institut uns dort gesagt hat.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kollegin, eine Nachfrage.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Frage war nicht, ob das verhältnismäßig ist, sondern ob die Maßnahme geeignet ist – das prüft der Jurist zunächst –, und für die Geeignetheit tragen Sie die Beweislast. Sie müssen darlegen und beweisen, dass der Eingriff etwas bringt, und das muss wissenschaftlich dargelegt werden. Und Sie sprechen hier auch für das Robert-Koch-Institut. Ich frage Sie: Was haben die für Grundlagen? Vielleicht noch konkreter: Warum dürfen nach dieser Verordnung Bücher verkauft werden, aber Lampen nicht? Warum dürfen Blumen verkauft werden, Schuhe aber nicht? Warum dürfen Fahrräder nicht verkauft werden, aber Rasenmäher schon? Das steht alles in dieser Verordnung drin. Und ich frage Sie noch mal: Welches sind die wissenschaftlichen Grundlagen, auf die Sie als Regierung diese Maßnahmen stützen – über das RKI? Aber was ist die Grundlage?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Also, zunächst mal ist es so, dass das Ziel der einschränkenden Maßnahmen immer ist, die Zahl der Kontakte in der Gesellschaft zu reduzieren. Dann, wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichen, um wirklich die Infektionszahlen in Deutschland in einer bestimmten Größenordnung zu halten, geht es darum, dass unser Gesundheitswesen nicht überlastet wird. Wir sehen momentan – das hat sich sozusagen in der Praxis wirklich ganz klar bewiesen –, dass wir, seitdem wir zuletzt über längere Zeit eine Inzidenz von über 100 hatten, der Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems wieder sehr nahegekommen sind. Nachdem wir die Notbremse in Kraft gesetzt haben, sehen wir jetzt eine deutliche Umkehr und momentan wirklich eine extrem schnelle Entlastung von den Infektionszahlen, was uns auch die Hoffnung gibt, dass sich auch die Überlastung des Gesundheitswesens reduziert. Bei der Frage der Kontaktreduzierung ist ganz klar: Der Gleichheitsgrundsatz, auf den Sie anspielen, ist enorm wichtig. Trotzdem ist es nicht einfach, weil wir in einer Gesellschaft Dinge des täglichen Lebens natürlich weiter brauchen. Deshalb sind Kontakte, die zum Erwerb von Dingen erforderlich sind, die wirklich im täglichen Leben unerlässlich sind, ({0}) natürlich welche, die weiter möglich sind. Zum Beispiel ist der Verkauf verderblicher Ware noch mal ein anderer Einstieg als der bei Dingen, die man auch noch sechs Wochen später verkaufen kann. Insofern war das eine Abwägung. Diese Abwägung hat nicht nur die Bundesregierung alleine getätigt, sondern auch mit der Unterstützung des Deutschen Bundestages, der ja gerade diese Regeln der Notbremse noch mal erheblich modifiziert hat. ({1}) Ich glaube, sie sind sowohl erforderlich als auch verhältnismäßig.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mein Räuspern ist ein akustischer Hinweis, wenn Sie das rote Signal nicht erkennen. – Kollege Dr. Kraft möchte eine Nachfrage stellen.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Gut, dass wir bei diesem Thema sind und dass wir einen Mediziner haben. – Herr Minister Braun, wie kann es sein, dass die Regierung diese weitgehenden einschränkenden Maßnahmen an dem Inzidenzwert festmacht, der eine reine statistische Erhebung ist und mit dem tatsächlichen Krankheitsverlauf in der Bevölkerung nichts zu tun hat? Denn der Inzidenzwert ist maßgeblich von der Anzahl der durchgeführten Tests abhängig. Diese sind aufgrund des Kriteriums der Spezifizität, also der falsch positiven Tests, ein Haupttreiber des Inzidenzwertes im Allgemeinen. Das heißt, durch eine Verdopplung der Test kann ich eine Verdopplung der Inzidenzen erreichen, auch wenn sich am tatsächlichen Krankheitsverlauf, am tatsächlichen Krankheitsbild der Bevölkerung, de facto nichts geändert hat. Ich kann sogar in einer Nullcoronasituation allein durch falsch positive Tests eine Inzidenz herbeitesten. Wie kann so was in ein Gesetz gegossen werden durch einen Mediziner im Kanzleramt?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Zunächst mal können Sie durch eine Verdopplung der Tests nicht die Verdopplung der Inzidenz erreichen; das ist nicht richtig. ({0}) – Der Inzidenzwert ist der beste Wert, den Sie haben können, um die Zahl der Neuinfektionen möglichst präzise zu bestimmen. Dazu muss man andere Faktoren betrachten, und das haben wir als Bundesregierung im Vorfeld des Gesetzes stark gemacht, zum Beispiel: Wie hoch ist der Anteil unserer positiven Tests insgesamt? – Das spielt bei dieser Frage eine ganz erhebliche Rolle, und das ist in den letzten Monaten immer in einer Größenordnung von 8 bis 12, 13, 14 Prozent gewesen. Das Zweite ist: Wenn wir auf das Infektionsgeschehen im Land reagieren wollen, dann muss man sich deutlich machen: Das Erste, was passiert, sind Neuinfektionen. Wenn die hoch sind, dann ist dies das erste Alarmsignal. Wenn Sie weitere Faktoren mit berücksichtigen, zum Beispiel die Zahl der Krankenhausaufnahmen, die Zahl der Intensivstationsaufnahmen, so sehen Sie: Die folgen sozusagen im statistischen Mittel in einem gewissen zeitlichen Abstand – nach sieben Tagen etwa typischerweise Krankenhausaufnahme, nach weiteren zwei Tagen Intensivstationsaufnahme, so lange, bis dann Krankenhausentlassungen, Genesungen oder möglicherweise eben auch Todeszahlen eine Folge einer solchen Neuinfektionszahl sind. Deshalb können Sie zu einem gegebenen Zeitpunkt – wir haben die Notbremse ja auch bis zum 30. Juni begrenzt – anhand von Neuinfektionen sehr gut vorhersagen, was Sie in den nächsten Wochen im Gesundheitswesen erleben werden. Das eine folgt aus dem anderen. Wir brauchen einen Frühindikator, wenn es hochgeht; so hat auch das RKI es gesagt. Wenn es runtergeht, dann kann man zum Beispiel auch die Entlastungen auf den Intensivstationen hinzuziehen. Da habe ich gar nichts dagegen. Aber wir brauchen einen Frühindikator. Das sind die Neuinfektionen, und die werden repräsentiert durch die Inzidenzen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat der Kollege Dr. Dahmen, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage, und danach der Kollege Huber von der AfD.

Dr. Janosch Dahmen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004962, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für das Wort. – Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben ja gerade noch mal einerseits erläutert, wie ernst die Lage weiterhin ist, und andererseits verdeutlicht, wie wichtig der Inzidenzwert bleibt als einziger objektiver Parameter, an dem sich das Infektionsschutzgesetz hinsichtlich der Schutzmaßnahmen orientiert. Was halten Sie vor diesem Hintergrund davon, dass das RKI neuerdings in die Sieben-Tage-Inzidenz, die maßgeblich für die Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz ist, nicht mehr alle Fälle einbezieht, sondern Fälle, die nachgemeldet werden, einfach rausrechnet?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Das RKI hat schon von Anfang an immer sehr deutlich gemacht: Es gibt Fälle nach Meldedatum und Fälle nach Erkrankungsdatum. Da gibt es zwei Statistiken, auf die wir beide regelmäßig gucken. Das halte ich auch für sehr geeignet. Wir wollen ja wissen, wann die Erkrankung stattgefunden hat. Aber der Zulauf erfolgt über das Meldedatum.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat der Kollege Huber eine Nachfrage.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Braun, vielen Dank für die Gelegenheit zur Nachfrage. Sie haben nämlich gerade geleugnet und bestritten, dass die Inzidenzzahl von der Anzahl der Tests abhängig wäre. Es ist nun mal im theoretischen Fall so – ich will es anschaulich machen –: Der Bundestag besteht aus etwa 700 Vertretern. Nehmen wir an, es wären alle infiziert. Dann ist die Inzidenz bei 50 Tests 50, bei 100 Tests wäre die Inzidenz 100, bei 200 Tests wäre die Inzidenz folglich 200. ({0}) Von daher ist die Testhäufigkeit natürlich ausschlaggebend für den Inzidenzwert. Bleiben Sie trotzdem bei der Meinung, dass der Inzidenzwert das geeignete Mittel der Wahl wäre? Warum nehmen Sie nicht die Positivrate als Grundlage für die Einschätzung des Infektionsgeschehens und auch des Pandemiegeschehens? ({1}) Die Positivrate wäre nämlich von der Testhäufigkeit abhängig und würde diesen Fakt wissenschaftlich betrachten.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Ich habe ja vorhin gesagt, dass die Frage, wie unsere Testpositivrate ist, natürlich etwas ist, was wir berücksichtigen, was wir auch regelmäßig ausweisen und was eine Rolle spielt. Aber ich habe sehr klar gesagt, dass man bei doppelt so vielen Tests nicht auf eine doppelt so hohe Inzidenz kommen kann. Das war ja das, was Ihr Kollege gesagt hat. Jetzt muss ich Ihnen gegenüber zugeben: Sie haben eine einzige Fallkonstellation genannt, wo das tatsächlich passieren kann. Das ist nämlich in einer Gesellschaft möglich, in der alle gerade akut infiziert sind. Ob das jetzt eine realistische Grundlage ist, um die Inzidenz infrage zu stellen, entscheiden Sie am besten selbst. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Dr. Hoffmann, FDP, hat noch eine Nachfrage. – Dann würde ich aber die Nachfragen zu der ersten Frage beenden und der Kollegin Baehrens das Wort zur nächsten Frage geben.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kanzleramtsminister, Sie sind ja auch ein Naturwissenschaftler, haben Medizin studiert, Sie haben einen Doktor gemacht, und ich denke, Sie haben sich auch mit Statistik beschäftigt. Sie haben ja eben bei der Frage auch bewiesen, dass Sie davon was verstehen. Dennoch frage ich mich, wie es sein kann, dass das RKI keine begleitenden Studien macht, die den Verlauf der Epidemie repräsentativ widerspiegeln, um eben zu wissen: Wo kommen Infektionen her? Wo sind die Treiber? Dafür haben wir einfach zu wenig Informationen. Das fehlt mir einfach. Deshalb frage ich mich: Woran liegt das? Liegt es am RKI, dass es nicht vorangegangen ist und diese Fragen nicht gestellt worden sind? Ich will mal eine einfache Fragestellung nehmen. In Baden-Württemberg hatten wir eine Ausgangssperre, in anderen Bundesländern nicht. Da wäre doch aufgrund der statistischen Zahlen die Frage gleich relativ einfach zu beantworten gewesen: Bringt die Ausgangssperre was, oder bringt sie nichts? Sie haben es nicht gemacht. Warum?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Zunächst mal ist es so: Wir haben auch dank der Entscheidung des Deutschen Bundestages schon im April letzten Jahres im Infektionsschutzgesetz eine zusätzliche Meldepflicht verankert, sodass die Ansteckungsumstände, also wo sich jemand angesteckt hat, zusätzlich klar meldepflichtig sind, und das haben die auch in die EDV-Systeme eingegeben. Seitdem hat das RKI eine Statistik über die Frage „Wo hat die Ansteckung stattgefunden?“, und es meldet diese Statistik auch. Das Problem dabei liegt ein ganzes Stück in der Inkubationszeit dieser Coronaerkrankung selbst. Weil Menschen eben erst einige Tage später registrieren, dass sie krank geworden sind, fällt es sehr vielen Menschen sehr schwer, die Ansteckungsumstände sozusagen zu rekonstruieren. Deshalb ist es so, dass das eben trotz dieser klaren Meldesystematik, die wir haben, in sehr vielen Fällen unklar bleibt. Das Zweite, was wir auch wissen, ist, dass aus den Zahlen deutlich hervorgeht, dass ein ganz großer Bereich der Ansteckungen dem Bereich des Privaten zuzuordnen ist, also Freizeit und Familie. Das ist genau der Bereich – das ist die Abwägung, die man bei Beschränkungen treffen muss –, wo wir zu Recht als Deutscher Bundestag und auch als Bundesregierung die größte Zurückhaltung üben, weil Eingriffe genau in diese Bereiche sich grundrechtlich sozusagen am allerschwersten rechtfertigen lassen. Deshalb gibt es, wenn es aber trotzdem um ein Erfordernis geht, die Kontakte in einer Gesellschaft zu reduzieren, neben der Frage „Wo steckt man sich an?“ auch eine Abwägung der Vertretbarkeit von Einschränkungen in solchen sensiblen Bereichen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Heike Baehrens, SPD, hat die nächste Frage.

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Bundesminister, die Löhne in der Altenpflege in Deutschland sind deutlich niedriger als in der Krankenpflege, also in den Krankenhäusern. Dabei wird auch in Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten eine hervorragende Arbeit geleistet, die nicht nur beklatscht, sondern auch gut bezahlt werden sollte. ({0}) Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist schon lange klar: Diese ungleiche Entlohnung muss verändert werden. Finanzminister Olaf Scholz und Sozialminister Hubertus Heil haben gerade einen konkreten und überzeugenden Vorschlag für ein Pflege-Tariftreue-Gesetz vorgelegt. Danach sollen Pflegeeinrichtungen künftig nur dann einen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen schließen können, wenn ihre Beschäftigten tariflich entlohnt werden. Können wir nun auf die Unterstützung der gesamten Bundesregierung zählen, damit wir noch in dieser Wahlperiode einen wichtigen Schritt für bessere Löhne in der Pflege vorankommen?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Das Anliegen teilen wir in der Bundesregierung ausdrücklich. Das merkt man auch daran, dass nicht nur ein Vorschlag von Hubertus Heil und Olaf Scholz, sondern auch einer von Jens Spahn vorliegt, um genau das Thema zu adressieren. Wir haben auch eine Vorlage vom Bundesgesundheitsminister, was die Finanzierung angeht. Es ist sehr klar, dass in dieser Zeit sowohl die Krankenversicherung als auch die Pflegeversicherung sehr stark unter Druck geraten sind. Deshalb setzen solche Maßnahmen voraus, dass wir aus Steuermitteln unsere Sozialversicherungssysteme entsprechend stabilisieren. Das ist mit Beitragseinnahmen nicht zu realisieren. Deshalb redet die Bundesregierung in diesen Tagen darüber und nimmt natürlich auch Kontakt mit dem Parlament auf, um zu klären, ob wir dieses wichtige Anliegen gesetzlich und dann auch haushalterisch noch in dieser Wahlperiode abbilden können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin Baehrens?

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne, Herr Präsident. – Gesundheitsminister Spahn hat ja seine Reformvorschläge schon im November der „Bild am Sonntag“ übermittelt. Aber bis heute liegt eben kein Gesetzentwurf vor, obwohl es dringend notwendig ist, endlich die Bezahlung nach Tarif in der Pflege zum Standard zu machen, und obwohl es auch, wie Sie eben zu Recht angesprochen haben, wichtig ist, dass auch die pflegebedürftigen Menschen finanziell entlastet werden und dass vor allem die Arbeitsbedingungen in der Pflege weiter verbessert werden. Wie stellt jetzt die Regierung sicher, dass hier schnell und gemeinsam wirklich noch in dieser Legislaturperiode gehandelt wird?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Das eine, was wir eben besprochen haben, ist die Tariffrage. Die zweite Frage ist die einer grundlegenden Pflegereform, die die Systematik betrifft, wer in Abhängigkeit von langjähriger Pflegebedürftigkeit oder kurzzeitiger Pflegebedürftigkeit welche Leistung erhält. So eine grundsätzliche Pflegereform hat erstens ein ganz anderes Finanzvolumen, was noch zusätzlich in Rede steht, und muss zweitens auch gründlicher diskutiert werden. Deshalb rechne ich im Augenblick mit so einer grundsätzlichen Pflegereform in dieser Legislaturperiode nicht mehr.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Dr. Kraft möchte dazu eine Nachfrage stellen.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Stichworte „Gesundheitsminister Spahn“ und „Pflegekräfte“. Vor zwei Jahren gab es den Plan, Pflegekräfte unter anderem in Mexiko anzuwerben. Nun haben wir die Coronasituation. Inwiefern sind diese Anwerbeversuche davon betroffen? Wie groß ist dann die Minderversorgung und personelle Unterversorgung durch das Fehlen angeworbener Pflegekräfte in Deutschland, in diesem Fall durch Corona verursacht?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Also, ich kann Ihnen jetzt keine konkreten Zahlen zu angeworbenen Pflegekräften nennen. Ich glaube, dass diese Bundesregierung nicht nur mit ihrer Bereitschaft, die Anwerbung zu unterstützen, sondern auch durch die bessere Bezahlung von Pflegekräften und die Schaffung von Stellen in den Krankenhäusern sehr viel unternommen hat, um dem Pflegenotstand entgegenzuwirken. Ich glaube, auch nach der Pandemie ist die Aufgabe, zum Beispiel durch die Pflegeuntergrenzen und anderes dafür zu sorgen, dass das ein attraktiver Beruf ist, den man gerne macht. Denn wenn wir nämlich gerade in der Pandemie das Signal senden, dass wir im Zweifel nicht auf die Entlastung des Gesundheitssystems setzen, weil wir den Eindruck haben: „Die werden das schon schaffen“, und uns ansonsten eher auf die Freiheiten in anderen Bereichen konzentrieren, dann habe ich die große Sorge – das sieht man momentan auch –, dass die Bereitschaft, gerade in diesen wichtigen Bereichen der Intensivmedizin zu arbeiten, leidet. Das ist ja auch ein Teil dessen, was die Intensivmediziner uns gerade sagen. Deshalb, glaube ich, ist die große Aufgabe, zu sagen: Wir wollen nicht nur eine bessere Bezahlung, sondern wir wollen vor allen Dingen attraktive und verlässliche Arbeitsbedingungen auch für diejenigen, die sich um Menschen kümmern, gerade in solchen Zeiten wie einer Pandemie.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, stellt die nächste Frage.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, es werden immer mehr jüngere Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen behandelt, darunter auch immer mehr Schwangere. In anderen Ländern wie zum Beispiel Israel, Österreich oder auch Frankreich wird eine Covid-19-Impfung für Schwangere empfohlen. Wann ist in Deutschlang mit einer Impfempfehlung für diese hochsensible Gruppe zu rechnen, zumal ja die Forschungsergebnisse aus den genannten Ländern vorliegen und es in diesen Ländern anscheinend Evidenz für die Empfehlung zur Covid-19-Impfung gibt? – Vielen Dank.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Das ist in der Tat ein sehr, sehr sensibles Thema. Deshalb ist das Erste, worum wir uns, glaube ich, alle gemeinsam mühen müssen, dass wir mit denjenigen, für die eine Impfmöglichkeit besteht, in unserer Gesellschaft eine ganz, ganz hohe Impfquote erreichen. Denn das schützt am Ende nämlich nicht nur denjenigen, der sich impfen lässt, sondern es schützt auch diejenigen, die sich nicht impfen lassen können. Das sind im Augenblick Schwangere; das sind im Augenblick aber auch noch Kinder. Umso höher muss unser Anspruch sein, dass die impffähige erwachsene Bevölkerung jetzt auch das Impfangebot wahrnimmt. Dann gehen die Infektionszahlen runter, und wir haben einen Gesamtschutz in der Bevölkerung erreicht. Bei der konkreten Frage, ob man einen Impfstoff und welchen Impfstoff man für Schwangere bereitstellen kann, muss man sich aus meiner Sicht politisch zurückhalten. Das müssen die Zulassungsbehörden, die Hersteller, die letzten Endes auch die Haftung für entsprechende Zulassungen für Personengruppen haben, und am Ende auch Institutionen wie die STIKO entscheiden. Unser Wunsch ist natürlich, dass wir breite Gesellschaftsgruppen impfen können. Aber es wird immer einen Rest an Personen geben, für die eine Impfung nicht zur Verfügung steht, und dann ist sozusagen die Impfsolidarität der andere, der beste Schutz für diese Bevölkerungsgruppen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin?

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. – Eine Nachfrage vor dem Hintergrund Ihrer Antwort, dass es im Moment keine Empfehlung gibt und die Verunsicherung sehr groß ist. Schwangere und kleine Kinder können nicht geimpft werden. Wie sieht es denn aus, wenn die zum Beispiel im Sommer gemeinsam mit dem geimpften Ehemann/Vater verreisen möchten? Wie möchten Sie sicherstellen, dass Schwangere und negativ Getestete den gleichen Status wie Inhaber eines EU-Impfpasses erhalten? – Danke schön.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Die Grundfrage, die sich in den nächsten Monaten stellen wird, ist: Schaffen wir es, die Pandemie wirklich zu besiegen? Und wenn wir das schaffen, dann brauchen wir überhaupt nicht zwischen solchen und solchen in der Gesellschaft zu unterscheiden. Wenn wir uns natürlich in einer Situation mit einem fortgesetzten hohen Infektionsgeschehen befinden, dann kommen wir immer wieder in dieses Dilemma, das Sie schildern, dass wir sagen: Die Geimpften haben ein deutlich reduziertes Risiko, wenn sie in einer solchen Situation Kontakte haben; aber es gibt eine andere Gruppe, die ein sehr hohes Risiko hat. Deshalb ist meine klare Antwort auf diese Frage: Wir sollten in den nächsten Wochen eine so klare Politik machen und die Infektionszahlen so stark reduzieren, dass es sowohl für Kinder als auch für Schwangere, nämlich für die Gesamtbevölkerung als solche, wenn sie Kontakte haben, kein großes Ansteckungsrisiko mehr gibt, und das erreichen wir bei sehr, sehr niedrigen Infektionszahlen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ich will auf Ihr Eingangsstatement in der Regierungsbefragung zurückkommen, nämlich auf die Digitalpolitik. Sie sind Digitalminister. Sie haben die neue Struktur im Kanzleramt mit der neuen Einheit Tech4Germany und den Hackathon mit 140 oder 120 Projekten ein bisschen beschrieben. Wie ist das organisiert? Wie ist abgesichert, dass die Projekte des ersten Hackathons umgesetzt werden? Und wie sieht es bei den Projekten des zweiten Hackathons, des UpdateDeutschland, aus?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Sehr erfreulich ist, dass eigentlich die ganze Bundesregierung mitmacht. Besonders erwähnen muss man das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das in der Umsetzung des damaligen #WirVsVirus-Hackathon Geld für die Umsetzung einer ganzen Reihe von Projekten zur Verfügung gestellt hat, aber sachlich bezogen auch viele andere. Das BMAS hat zum Beispiel ein Projekt gefördert, das daraus hervorging und über das sich nie einer beschwert hat, nämlich das schnelle Bearbeiten von Kurzarbeitergeld. Das wurde schnell umgesetzt und hat uns in der Pandemie sehr geholfen. Also, da haben wir sehr viel Unterstützung gehabt. Jetzt ist es so, dass wir nicht nur viele Ressorts in der Bundesregierung begeistern konnten, bei UpdateDeutschland mitzumachen, sondern wir haben auch mehrere Bundesländer und auch einige große Kommunen, die direkt mitmachen. Wenn es sich um eine Problematik handelt, bei der die Umsetzung auf der Landes- oder auf der kommunalen Ebene angesiedelt ist, dann gibt es jeweils direkt Ansprechpartner, mit denen man verknüpft werden kann, damit dann solche Digitalprojekte auch direkt vor Ort umgesetzt werden können.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kann ich eine Nachfrage dazu stellen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben vorhin den DigitalService4Germany beschrieben, der jetzt in eine GmbH umstrukturiert wurde. Inwieweit ist diese agile Einheit eingebunden in die Umsetzung des Hackathons, oder läuft das völlig parallel nebeneinander? Vielleicht könnten Sie auch zwei, drei Beispiele nennen, was diese neue agile Einheit in der Bundesregierung schon geleistet hat.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Grundsätzlich ist es so, dass es für die Umsetzung der Projekte aus dem Hackathon meistens schon ein Umsetzungsteam gibt, das dann Kontakt mit dem Ministerium hat. Der typische Weg beim Digital Service ist so, dass wir dort mehrere Projektteams haben. Die bestehen zum Teil aus den festangestellten Mitarbeitern von Digital Service, aber auch aus sogenannten Fellows, die nur eine vorübergehende Zeit dort arbeiten und sagen: Ich möchte mal für mein Land arbeiten, und ich möchte mal gerne ein Digitalprojekt so umsetzen, wie ich es in der Digitalwirtschaft gelernt habe. Da ist es so, dass sich die Bundesministerien bewerben. Am Anfang bin ich rumgelaufen und habe Kollegen gesucht, die bereit sind, mal so ein Projekt umzusetzen. Inzwischen ist es andersherum: Die Ministerien bewerben sich beim Digital Service für die Umsetzung, und die entscheiden, welche dieser Projekte im Hinblick auf ihre Arbeitsweise die besten Umsetzungschancen haben. Dann arbeiten sie mit den entsprechenden Häusern zusammen, und es entstehen Dinge wie zum Beispiel eine massive Entbürokratisierung des ganzen Umzugswesens für die Mitarbeiter im Auswärtigen Amt oder eine deutliche Verbesserung der Versteigerungsplattform vom Zoll. Ein Projekt, das mir besonders gut gefallen hat: Der Bund verpflichtet ja jetzt zur E‑Rechnungsstellung; das war sehr kompliziert. Dort haben wir für jeden, der beim Bund eine Rechnung stellt, die Umsetzungsgeschwindigkeit um mehr als den Faktor 10 verbessert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Kollegin Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen, möchte eine Nachfrage stellen.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Minister, für die Ausführungen zu UpdateGermany und anderen Aktivitäten. – Jetzt würde ich gerne noch mal nachfragen, inwiefern Sie denn wirklich glauben, dass das ausreicht, um die Bedarfe in der Digitalisierung, die ja da sind und die wir bei der Bekämpfung der Pandemie gesehen haben, wirklich umzusetzen. Bei all den Themen, die wir hatten – digitale Kontaktnachverfolgung, Gesundheitsämter, jetzt der digitale Impfpass –, haben wir gesehen, dass wir mindestens zwei Schritte hintendran sind statt davor. Jetzt ist es zwar zu begrüßen, dass da einzelne Aktivitäten stattfinden; aber das scheint mir doch noch nicht der grundlegende Wandel der Verwaltungskultur hin zu einer wirklich schnelleren digitalen Agilität zu sein, den wir doch sehr dringend benötigen. Es war auch interessant zu sehen, dass Sie in Ihrem Eingangsstatement die Staatsministerin für Digitalisierung auch gar nicht erwähnt hatten. Wir glauben, dass noch eine sehr viel breitere, neue Verwaltungskultur notwendig wäre, auch mit einem neuen Digitalbudget, das dann auch wirklich für die Umsetzung zur Verfügung steht. Glauben Sie nicht auch, dass Sie da insgesamt noch viel zu kurz springen und da mehr notwendig wäre?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Ich würde nie sagen, dass nicht noch mehr möglich wäre, sondern das ist natürlich immer richtig. Über so große Projekte, wie sie in der Pandemie erforderlich sind, haben wir sehr viel diskutiert. Die typische Art und Weise, wie ein Start-up ein Problem löst, ist, dass es sehr klein anfängt. Wenn man aber für ganz Deutschland eine Corona-Warn-App machen möchte, dann ist das ein Projekt, mit dem man nicht erst mal klein anfangen kann, sondern das muss von Anfang an eine gewisse Dimension haben. Mit Blick auf die Geschichte war ich ja auch ein bisschen traurig. Denn wir haben am Anfang gesagt, dass wir auf ein Konsortium bauen, das sich aus Wissenschaft und Szene zusammensetzt, und die das mal machen lassen. Das endete im Streit und hat nicht funktioniert. – Also, das gibt es auch, und dann sind etwas klassischere Methoden wieder erforderlich. Aber im Kern brauchen wir in der Verwaltung – man kann Leute von draußen reinholen – deutlich mehr Digitalkompetenz. Deshalb haben wir zum Beispiel Workshops für Staatssekretäre mit dem Digitalrat veranstaltet; auch etwas ganz Praktisches. Wir haben mit Work4Germany jetzt Fellowships, wo Digitalexperten auch in die Verwaltung kommen. Und wir verändern unser ganzes Fortbildungssystem, auch in der Verwaltung, sodass der, der dort schon eine ganze Weile arbeitet, auch Digital Skills bekommt. Das, glaube ich, ist etwas, das angeschoben ist und das sich verändert. Dann braucht man natürlich immer Einheiten, die bei der Umsetzung von Projekten wie dem Digital Service helfen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister, eigentlich ist die Zeit für die Beantwortung von Fragen auf 60 Sekunden begrenzt. Nach 30 Sekunden leuchtet die Ampel gelb und nach 60 Sekunden rot. ({0}) Jetzt hat der Kollege Martin Neumann, FDP, noch eine Nachfrage.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Wenn er eine Ja/Nein-Nachfrage stellt, fiele es mir vielleicht leichter mit der Zeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, es hilft alles nichts. Sie können jede Frage beantworten; aber immer im Rahmen der Redezeiten wobei ich bei Regierungsmitgliedern – ich kenne ja das Grundgesetz – versuche, mit Räuspern und mit freundlichen Ermahnungen darauf aufmerksam zu machen. Nach dem Kollegen Neumann hat der Kollege Kraft noch eine Nachfrage. – Aber jetzt der Kollege Neumann.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident, für die Zulassung dieser Nachfrage. Ich habe auch eine ganz kurze Nachfrage. – Herr Staatsminister, Sie haben gerade davon gesprochen, dass – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bundesminister.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Was habe ich gesagt?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie haben „Staatsminister“ gesagt.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entschuldigung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Da lege ich Wert auf die Unterscheidung.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Okay. – Sie haben gesagt, dass die Ministerien auf die Organisation zukommen. Gibt es Ministerien, wo man sagen kann: „Da ist noch Nachholbedarf“? Ich denke zum Beispiel an verschiedene Bereiche in der Wirtschaft. Wie ist der Stand einer sogenannten Erfolgskontrolle? Wie kontrollieren Sie, wo wir da ganz konkret stehen?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

In der Tat kommt aus den Ministerien, die viele Förderprogramme haben, die viele Kontakte in die Wirtschaft haben, sehr viel Interesse. Es ist eher so, dass wir nicht alles befriedigen können, weil wir momentan noch im Aufbau der Struktur sind. Wir haben jetzt 30 Mitarbeiter beim Digital Service. Deshalb ist es nicht so, dass wir die Ministerien noch schubsen müssen, sondern wir müssen sehen, dass wir Leute finden, die die Nachfrage bedienen können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die letzte Nachfrage zu dieser Frage stellt der Kollege Dr. Kraft, AfD.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Eine Ja/Nein-Frage. Das teuerste Arbeitspferd in den Behörden und auch hier im Bundestag ist nach wie vor das Telefax. Also Ja/Nein-Frage: Wird Ihre Digitalisierungsoffensive innerhalb von 24 Monaten dazu führen, dass das Faxzeitalter in den deutschen Behörden beendet ist?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Aus meiner Sicht: Ich brauche schon heute kein Fax mehr. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. Das war jetzt vorbildlich kurz in Frage und Antwort. – Die nächste Frage stellt der Kollege Thomas Lutze, Die Linke.

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für die Möglichkeit, die Frage zu stellen. – Es ist ja in den letzten Wochen festzustellen, dass wir in den Bundesländern – überall fast gleich – mit den Impfungen deutlich vorankommen und dass dadurch letztendlich eine höhere Schutzwirkung gegen mögliche Ansteckungen entsteht. Vor zwei, drei Wochen ist Ihr Gesundheitsminister damit in Erscheinung getreten, dass er davor gewarnt hat, dass eine Mutation auftreten kann, gegen die die aktuell im Einsatz befindlichen Impfstoffe keine oder keine ausreichende Wirksamkeit haben. Meine Frage ist jetzt: Gibt es seitens der Bundesregierung in irgendeiner Form einen Plan B oder einen Ablauf, was passiert, wenn so ein Virus auftaucht, gegen das die jetzt erfolgreich im Einsatz befindlichen Impfstoffe nicht oder nicht ausreichend wirken?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

In der Tat warnt uns die Wissenschaft davor, dass es sogenannte Escape-Mutationen gegeben kann, also Virusvarianten, wo der Impfstoff schlechter oder im schlimmsten Fall gar nicht mehr wirken würde – wobei die Wissenschaft auch sagt: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr skalierbar, also die Wahrscheinlichkeit, dass es gar nicht mehr wirkt, ist eher gering. – Dass es eine geringere Wirkung gibt, sehen wir ja jetzt schon bei manchen Mutationen. Deshalb kann es sein, dass im Laufe der Zeit die Impfstoffe angepasst werden müssen und dass dann Nachimpfungen erforderlich werden. Deshalb haben wir auch einen Stab Impfproduktion aufgebaut. Nachdem jetzt klar ist, dass wir in den nächsten zwei Monaten sehr viel Impfstoff haben werden, um die aktuelle Impfkampagne abzuschließen, werden wir nicht mit dem Produktionsaufbau aufhören, sondern wir steigern die Produktionskapazität, insbesondere für mRNA-Impfstoffe, auch noch mit Produktionsbeginn viertes Quartal dieses Jahres, erstes Quartal des nächsten Jahres. Wir sichern uns entsprechende Produktionskapazitäten, damit wir – falls eine solche Situation eintritt und Nachimpfungen erforderlich werden – dann zu einer deutlich schnelleren Verfügbarkeit von Impfstoff kommen als in dieser ersten Kampagne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Lutze?

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In diesem Zusammenhang gab es schon relativ viele Medienberichte, auch über die sogenannte britische Variante. Mein subjektiver Eindruck – ich bin kein Virologe oder dergleichen; ich kriege das nur so mit wie alle anderen auch – ist, dass es doch sehr lange gedauert hat, nämlich mehrere Tage, bis Grenzkontrollen oder Grenzschließungen – wie auch immer man das nennen kann – zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa eingerichtet waren. Für meine Begriffe – ich sage ja: als Laie – hat sich nachträglich herausgestellt, dass das zu lange gedauert hat. Heute gibt es fast nur noch die britische Variante hier in Deutschland als Virustyp. Völlig vorwurfsfrei will ich sagen: Hat die Bundesregierung aus dieser Erfahrung mit Großbritannien und dieser Mutation die nötigen Rückschlüsse gezogen, was mögliche Grenzschließungen angeht? Es will niemand in Europa irgendwelche Grenzen schließen; aber manchmal macht der Virus keinen Unterschied. Und wenn man es macht, dann muss es schneller gehen. Mein, wie gesagt, subjektiver Eindruck in der Vergangenheit war, dass das immer zu lange gedauert hat. Was macht die Bundesregierung möglicherweise in Zukunft anders?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Im geänderten Infektionsschutzgesetz im November ist festgelegt worden, dass eine Grenzschließung oder ein Beförderungsverbot etwas ist – das war der Wunsch des Deutschen Bundestages –, was nicht der Gesundheitsminister alleine entscheiden kann, sondern was einen Kabinettsbeschluss voraussetzt. Das finde ich auch angemessen. Das hat im Dezember zu Folgendem geführt: Nachdem klar war, dass man bezüglich der britischen Mutation zumindest Sorgen haben muss, haben wir am Wochenende vor Weihnachten entschieden, dass wir einen solchen Kabinettsbeschluss brauchen. Den haben wir am Wochenende gefällt, und wir haben auch eine Sonderveröffentlichung über den Bundesanzeiger gemacht. Also beim Beförderungsverbot betreffend Großbritannien, um die Mutation nicht zu uns zu bringen, waren wir relativ schnell. Ein Problem, das ich sehe, ist, dass die WHO sagt: Die Europäische Union ist eigentlich ein einheitlicher Raum, auch wenn man es epidemiologisch betrachtet. – Deshalb ist das Grundproblem, dass solche Entscheidungen, wenn sie national gefällt werden, natürlich eine begrenzte Wirksamkeit haben. So was müsste man im europäischen Kontext eigentlich sehr schnell gemeinsam entscheiden. Die komplette Schließung von europäischen Binnengrenzen ist einfach nicht praktikabel. Das war auch der Grund, warum sich B.1.1.7 in Kontinentaleuropa dann so stark verbreitet hat.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Dr. Schinnenburg, FDP, hat noch eine Nachfrage.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, Stichwort „Escape-Mutationen“. Die Hersteller sagen uns ja, sie könnten innerhalb von wenigen Wochen ihren Impfstoff so umstellen, dass er auch vor Mutationen schützt. Das Problem scheinen nicht die wenigen Wochen Entwicklungszeit bei den Herstellern zu sein, sondern mehr die Genehmigungen durch die EMA oder andere Behörden. Deshalb habe ich die Bundesregierung mehrfach gefragt, was sie zu tun gedenkt, damit gegebenenfalls sehr schnell eine Genehmigung für die geänderten Impfstoffe vorliegt. Jedes Mal war die Antwort: Wir arbeiten daran; wir wissen es nicht so genau. – Deshalb meine Frage: Werden Sie dafür sorgen und können Sie versprechen, dass das Genehmigungsverfahren für geänderte Impfstoffe nicht länger dauert als die Entwicklungszeit?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Also, nach meinem Kenntnisstand ist es so, dass es zunächst mal auf den Impfstoff ankommt. Die mRNA-Impfstoffe können relativ schnell produziert werden, innerhalb weniger Wochen; das ist auch ein großer Vorteil. Die Produktion von Vektorimpfstoffen ist deutlich aufwendiger, weil sie in einem Bioreaktor entstehen; deshalb braucht deren Fertigstellung länger, das heißt, man muss entsprechend mehr Zeit einräumen. Natürlich muss ein solcher veränderter Impfstoff bis zur Zulassung auch wieder Studien durchlaufen; wenn diese erfolgreich abgeschlossen sind, kommt am Ende die Zulassung. Mein Eindruck ist nicht, dass die Zulassung, also das administrative Verfahren am Schluss, sozusagen der zeitliche Bottleneck ist; vielmehr hängt es mit der Mindestlaufzeit der Studien zusammen. Nachdem die Studienteilnehmer den Impfstoff bekommen haben, braucht es eine gewisse Beobachtungszeit; da verlieren wir sozusagen in notwendiger und nicht veränderbarer Weise die meiste Zeit. Nach Vorliegen der Erkenntnisse rechnet man mit vier bis fünf Monaten bis zur Zulassung; das benötigt in dem Ablauf die längste Zeit. Wir haben, glaube ich, was diese administrativen Dinge angeht, im Dezember, als es um die BioNTech-Zulassung ging, gezeigt, dass die EMA und das Paul-Ehrlich-Institut das ordentliche Verfahren sehr, sehr schnell durchführen können. Und in einer ganz schwierigen Situation steht auch immer noch eine Notzulassung als Möglichkeit im Raum. Das ist die schlechtere Variante; aber auch die kann man erwägen, wenn es die Situation erfordert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, Wechsel zum Thema Klimaschutz und zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes. Ich frage Sie: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus und welche Maßnahmen folgen daraus, insbesondere für den Bereich „Agrar und Ernährung“? Wissenschaftler/‑innen sagen ja ganz klar, dass wir auf den Pfad von 1,5 Grad nicht kommen werden, wenn es nicht auch einen massiven Umbau im Agrarbereich gibt. Ich nenne Ihnen fünf konkreten Maßnahmen und frage, ob Sie die noch in dieser Legislaturperiode anschieben werden: Erstens: ein Programm zur Reduktion der Zahl der Nutztiere. Zweitens: Wiedervernässung von Mooren und Feuchtgebieten. Drittens: eine Bioinitiative – die ist auch unter CO2-Gesichtspunkten besser –, gerade auch für Gemeinschaftsverpflegung. Viertens: Beginnen Sie damit bei den Bundeskantinen, damit sie CO2 einsparen? Und fünftens: Gibt es eine Anpassung des nationalen Strategieplans zur Umsetzung der europäischen Agrarpolitik, damit CO2 und Methan massiv eingespart werden? ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Die Bundesregierung hat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ihre Beratungen aufgenommen und strebt an, im Kabinett bis zur nächsten Woche eine Änderung des Klimaschutzgesetzes zu erarbeiten. Welche Maßnahmen im Detail dazugehören, ist noch Gegenstand der Beratungen der Bundesregierung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin Künast?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. – Kurze Nachfrage: Ich möchte wissen, ob Sie am Ende nur die Prozentzahlen für irgendwann reduzieren und dann vielleicht im Energiebereich oder in einem anderen Bereich Maßnahmen ergreifen. Ich möchte wissen, ob Sie dafür stehen und das auch angehen, dass im Landwirtschafts- und Ernährungsbereich evidente Einsparungen vorgenommen werden, bei denen man auch nachvollziehen kann, dass sie in den nächsten fünf bis zehn Jahren wirken, und ob zum Beispiel bei der Umsetzung der europäischen Agrarreform alle Spielräume genutzt werden? Das hat ja auch mit der Frage zu tun, ob man den Bauern reinen Wein einschenkt oder ob man ihnen etwas vormacht, was in wenigen Jahren doch wieder geändert wird. Also, gehen Sie diesen Themenblock an? Fragezeichen!

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Die Bundesregierung schaut sich alle Sektoren an, die einen Beitrag zu CO2-Emissionen leisten. Wir müssen bei dem was wir jetzt tun, natürlich auch beachten, dass wir in wenigen Wochen erste Vorschläge von der europäischen Ebene bekommen. Die Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, müssen mit den europäischen Maßnahmen, die demnächst kommen, harmonisch zusammenpassen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, hat dazu eine Nachfrage.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, habe ich die Antwort auf die erste Frage von Frau Künast richtig verstanden, dass Sie nächste Woche im Kabinett auch Maßnahmen verabschieden werden? Sie hatten ausgeführt – das läuft ja auch bereits über die Agenturen –, dass Sie die Reduktionsziele verschärfen; das begrüße ich. Aber zuallererst ist das eine Zahl auf dem Papier. Die Frage ist: Wird das Kabinett nur die Reduktionsziele verschärfen oder auch Maßnahmen beschließen, wie das dann konkret in der Praxis umgesetzt wird?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Da müssen Sie sich noch ein bisschen gedulden. ({0}) Während wir hier in der Regierungsbefragung sind, wird in der Bundesregierung gerade an der Umsetzung dieses Verfassungsgerichtsurteils gearbeitet. Insofern kann ich Ihnen den letzten Stand gar nicht sagen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau von Storch hat noch eine Nachfrage.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Angenommen, wir erreichen Klimaneutralität bis 2045, was auch immer das heißt: Um wie viel Grad reduziert sich die Temperatur, wenn Deutschland dieses Ziel erreicht? Ich weise darauf hin, dass es große Industriestaaten gibt, die bei dieser Geschichte nicht mitmachen. Unter Berücksichtigung des Anteils von Deutschland an den Treibhausgasen: Um wie viel Grad wird die Temperatur gesenkt, wenn wir, Deutschland, unsere ehrgeizigsten Klimaschutzziele erreichen? Welche Gradzahl können Sie nennen? Und können Sie mir sagen, auf welcher wiederum wissenschaftlichen Grundlage Sie das beweisen können? Ich frage das, damit wir sehen, dass sich das lohnt, was wir machen; gerade habe ich gehört: keine Tierzucht mehr, kein Fleisch mehr essen – und was auch sonst noch alles an Restriktionen kommen soll. ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Ich bin tief davon überzeugt, dass, wenn die Klimafolgen absehbar werden, die Zahl der Länder, die sich aus den Klimaschutzmaßnahmen ausklinken, in den nächsten Jahren dramatisch schrumpfen wird. Das Zweite ist, dass ich überzeugt bin, dass der Beitrag, den Deutschland zum Klimaschutz leistet, am geringsten aus dem eigenen eingesparten CO2 besteht; vielmehr ist der große Beitrag, den wir als Technologienation leisten, dass wir technische Lösungen bereitstellen, dass wir Produkte bereitstellen, die es auch Industrienationen ermöglichen, bei wirtschaftlichem Wachstum effektiven Klimaschutz zu betreiben. Wenn wir das weltweit umsetzen, dann leisten wir einen Beitrag, der weit, weit höher ist als unsere eigene Einsparung im engeren Sinne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lisa Badum, Bündnis 90/Die Grünen, hat noch eine Nachfrage.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie hatten auf die europäische Ebene verwiesen, darauf, dass man Vorschläge von dort abwarten müsse. Sie haben gesagt: Nächste Woche ist noch Zeit. – Ist Ihnen bewusst, dass wir in dieser Legislaturperiode noch vier Sitzungswochen haben und dass es das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht erlaubt, das weiter auszusitzen? ({0}) Sie haben ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet; Sie müssen jetzt dringend Maßnahmen verabschieden, wenn Sie dieses Urteil ernst nehmen.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Also, wir warten nicht ab. Wir haben vorige Woche ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis genommen und kündigen an, dass wir jetzt unter Hochdruck daran arbeiten, nächste Woche dazu Kabinettsbeschlüsse zu fassen. Das ist, glaube ich, eine ziemlich einmalig schnelle Umsetzung eines Verfassungsgerichtsurteils, ({0}) zumal uns bis Ende 2022 dafür Zeit gegeben worden ist.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt habe ich noch eine Nachfrage von Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen. – Danach kommt der Kollege Brandner mit der nächsten Frage.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte Sie auch zu diesem Thema etwas fragen, und zwar: Schon bei dem Klimaschutzgesetz, das wir jetzt als verfassungswidrig serviert bekommen haben, gab es im Vorfeld Debatten bezüglich der Zahlen, insbesondere zwischen dem Umwelt- und dem Verkehrsministerium. Das Verkehrsministerium hat gesagt: „Ja, wir machen eine Reduktion mit“, und hat irgendwas vorgelegt. Das Umweltministerium hat gesagt: Das reicht gar nicht. Wir können noch nicht mal nachvollziehen, wie ihr zu diesen Zahlen gekommen seid. – Wenn Sie jetzt das Ziel auf 65 Prozent erhöhen, dann ist das ja, wie schon gesagt wurde, erst mal nur eine Zahl auf dem Papier. Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass diesmal nicht nur etwas aufgeschrieben wird, bei dem kein Mensch nachvollziehen kann, ob es hilft oder nicht hilft oder ob es einfach nur Zahlen sind? Also, wie kriegen Sie Herrn Scheuer dazu, dass er an einer belastbaren Reduktion mitarbeitet, was bisher nicht passiert ist?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Ich glaube, da tun Sie unserem Klimaschutzgesetz in seiner jetzigen Fassung unrecht; denn es sieht nicht nur Ziele, sondern auch Jahresscheiben und Sektorziele vor. Damit ist auch der Beitrag des Verkehrs im derzeitigen Klimaschutzgesetz sehr, sehr präzise definiert, und das muss auch eingehalten werden. Das ist natürlich auch die Herausforderung für die Zukunft, wenn man die Klimaschutzziele entsprechend anpasst.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Brandner, AfD, hat die nächste Frage.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, vielen Dank. – Herr Braun, im Rahmen des Formats „Die Bundeskanzlerin im Gespräch“ – das ist noch abrufbar über die Webseite des Bundeskanzleramtes – beantwortete Ihre Chefin am 27. April 2021 eine Frage zum vierten Bevölkerungsschutzgesetz, also zur sogenannten Bundesnotbremse, wie folgt – Zitat – : Dadurch, dass wir jetzt ein Bundesgesetz gemacht haben, kann das nur durch das Bundesverfassungsgericht noch überprüft werden. Das heißt also, man hat nicht die verschiedenen Verwaltungsgerichtsentscheidungen … Und was hat die Sache noch mal erschwert? Dass verschiedene Gerichtsentscheidungen immer nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz gehen … und schwups ist man in einer Bahn, wo dann alle Geschäfte auf sind. Zitat Ende. – Frau Merkel brüstete sich also mit Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz, Artikel 3 Grundgesetz, und mit der von ihrer Koalition verursachten massiven Rechtswegbeschränkung, also einem Verstoß gegen Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz, die Rechtsschutzgarantie. Frau Merkel war froh, dass es keine verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der Coronamaßnahmen mehr gibt. Ich habe seit Jahren den Eindruck, dass Frau Merkel auf Kriegsfuß mit unserer Verfassung steht und teilweise deren Vorgaben missachtet ({0}) oder auch verachtet – Stichworte: Asylrecht, Struktur der Europäischen Union, Parallelstrukturen, Ministerpräsidentenkonferenz und so etwas.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brandner, kommen Sie bitte zum Schluss.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Zudem meine ich auch seit Jahren zu bemerken, dass Frau Merkel einen Hang zur Beratungsresistenz –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– und zu absolutistischen Zügen entwickelt hat. ({0}) Jetzt stelle ich meine Ja-oder-Nein-Frage: Teilen Sie die Auffassung, und, wenn nein, warum nicht?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Nein, diese Auffassung teile ich ausdrücklich nicht, weise sie sogar mit großem Elan zurück, weil sich nämlich die Bundeskanzlerin gerade in dieser Pandemie um die Frage der Grundrechte und um die Situation der Bürgerinnen und Bürger sehr, sehr, sehr, sehr sorgt und deshalb sich die Menschen bei ihr in der Pandemie sehr gut aufgehoben fühlen. ({0}) Die Aufgabe, vor der wir jetzt hinsichtlich des Gleichheitsgrundsatzes stehen, ist nicht, Rechtswege zu beschneiden. Alle Rechtswege sind, wie es bei jedem Bundesgesetz der Fall ist, auch vorhanden. Die letztliche Überprüfung eines Bundesgesetzes und seiner Regelungen liegt beim Verfassungsgericht; das ist auch nichts Neues. Aber die Grundfrage, vor der wir in den letzten Monaten standen, war, dass viele Bürger, die sich in der Pandemie an unsere Gebote und Verbote halten mussten, auch ein ganzes Stück durch die Verschiedenartigkeit der Regelungen irritiert waren. Und deshalb ist das, was wir gemacht haben, glaube ich, richtig, und das sieht man auch: Die Bundesnotbremse wirkt gut, weil sie für eine gewisse Einheitlichkeit sorgt und weil sie auch anhand der Werte deutlich macht, dass man, wenn man die Inzidenz von 100 überschreitet, in eine wirklich ernste Situation kommt. Das ist auch nichts, was sich die Bundeskanzlerin ausgedacht hat, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

– sondern dieses Gesetz hat die Mehrheit im Deutschen Bundestag bekommen. Deshalb, glaube ich, gibt es überhaupt keinen Zweifel an den demokratischen Grundfesten der Kanzlerin.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brandner, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte schön. Aber nur 30 Sekunden!

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, gerne. – Dass die Kanzlerin sich sorgt, das mag so sein; davon kommt draußen nichts an. Und dass sich viele Menschen bei ihr gut aufgehoben fühlen: Ich kenne keinen, der sich da gut aufgehoben fühlt. – Egal. ({0}) Am 25. März hat „Die Zeit“ getitelt „Ab in die Präsidialrepublik“ und deutlich gemacht, dass der Neubau von Teilen des Bundeskanzleramtes den Anschein erwecke, als wenn sich Deutschland in ein neues Regierungssystem, nämlich eine Präsidialrepublik, entwickeln würde. Wörtlich heißt es: Mit seinem ständigen Mitarbeiterwachstum verschiebt das Bundeskanzleramt die fein austarierten Gewichte des parlamentarischen Regierungssystems … Nun wissen wir alle: Das Bundeskanzleramt soll für 600 Millionen Euro umgebaut werden: mehretagige Luxuswintergärten, Promi-Kindergarten, Hubschrauberlandeplatz in luftiger Höhe, Baukosten von 20 000 Euro pro Quadratmeter. Herr Braun, ich frage Sie: Finden Sie das in dieser tiefen Krise, in der sich unser Land befindet, aber auch ansonsten angemessen?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Zum einen ist die Entscheidung für den Erweiterungsneubau bereits deutlich vor dieser Pandemie getroffen worden. Die Baukosten sind auch nicht deshalb hoch, weil wir besonders luxuriöse Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter dort schaffen, sondern das liegt an ganz vielen Anforderungen, die für ein Kanzleramt gelten, ganz zuvorderst daran, dass aufgrund der baulichen Verhältnisse hier in Berlin-Mitte gefordert war, dass das Gebäude selber sozusagen auf der Grundstücksgrenze steht, das heißt, der öffentliche Publikumsverkehr sich quasi bis an die Außenwand des Kanzleramts begeben kann; es gibt keine Umzäunung dort. Deshalb fließen neben den eigentlichen Dingen, die die Baukosten ausmachen, auch die Sicherheitsbedingungen, die sozusagen in der Bausubstanz verwirklicht werden müssen, um so etwas möglich zu machen, mit ein. Es ist auch nicht so, dass es dort Luxuswintergärten geben wird. Vielmehr handelt es sich dabei einfach um eine architektonische Fortsetzung der Wintergärten, die es im Kanzleramtsbestandsbau schon gibt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Dass sich ein Kanzleramt architektonisch in das Band des Bundes einfügt, ist, glaube ich, auch richtig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Schinnenburg, FDP-Fraktion.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Bundesminister, Sie sagten gerade in Ihrer Antwort auf die Frage von Herrn Brandner: Ja, die Bundesnotbremse habe sich bewährt; das würde man jetzt schon sehen. – Da muss ich Sie mit einer Aussage des Ministers Spahn im Gesundheitsausschuss konfrontieren. Als wir ihn in der vorletzten Sitzung gefragt haben, wann er denn Ergebnisse der Bundesnotbremse erwarte, war seine Antwort: In zwei bis drei Wochen. – Diese Zeit ist noch lange nicht abgelaufen. Meinen Sie ernsthaft, dass man jetzt schon beurteilen kann, ob die Bundesnotbremse – insbesondere die Ausgangssperren – funktioniert, gerade vor dem Hintergrund, dass in sehr vielen Fällen völlig unabhängig davon, ob ein Staat oder ein Land eine Ausgangssperre hat oder nicht, die Inzidenzen gestiegen oder gesunken sind? Bleiben Sie ernsthaft dabei, dass man jetzt schon beurteilen kann, ob sich Ausgangssperren in Deutschland bewährt haben?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Zum einen bin ich dieser Auffassung, weil man eine deutliche Reduktion von Kontakten feststellen kann; das sehen wir ja noch früher als den Einfluss auf Neuinfektionen. Das Zweite ist: Mit der klaren Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern sehen wir, dass wir im Zusammenspiel zwischen den staatlichen Ebenen jetzt sehr viel mehr Klarheit haben. Insofern hat sie sich bewährt. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Eine weitere Nachfrage hat der Kollege Kraft, AfD-Fraktion.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Zurück zum Neubau Bundeskanzleramt. Die Investitionskosten sind ja nur die eine Seite der Medaille. In diesen Büroräumen werden ja dann auch Personen angestellt sein und arbeiten. Mit welchem Aufwuchs an Personal im Bundeskanzleramt können wir denn rechnen bzw. wie viele von den dann dort eingesetzten Angestellten werden von außen hereingeholt?

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Momentan ist es so, dass wir außerhalb des Kanzleramts Mitarbeiter schon an drei großen und einigen kleineren Standorten verteilt haben, was auch hohe Kosten verursacht; denn dadurch, dass wir Akten mit Sicherheitsbedarf haben und unsere Pforte natürlich höhere Sicherheitsanforderungen hat, haben wir in jeder dieser Außenstellen, die wir momentan in anderen Bürogebäuden haben, aber auch für den Botendienst zwischen den Häusern Kosten. Der Erweiterungsbau ist zudem nicht so groß geplant, dass wir nach dem Einzug so viel Platz hätten, dass wir ganz viele zusätzliche Mitarbeiter einstellen können. Im Kern geht es darum, diejenigen, die heute schon für das Kanzleramt arbeiten, auf dem Gelände des Kanzleramts in einem baulichen Zusammenhang unterbringen zu können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Ich lasse hierzu eine letzte Nachfrage zu. Es fragt der Kollege Christian Dürr, FDP-Fraktion.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, da Sie das Thema Stellen angesprochen haben, will ich darauf hinweisen, dass es zurzeit eine breite Berichterstattung in den Medien über die sogenannte Aktion Abendsonne gibt. Es geht darum, dass die Bundesregierung kurz vor Ende ihrer Amtszeit noch massiv Stellen ausweist. Da werden Hunderte neue Stellen geschaffen und so viele Beförderungen wie noch nie in dieser Legislaturperiode bewilligt. Ich frage Sie: Wie erklären Sie all den Arbeitnehmern, die in Kurzarbeit sind oder ihre Jobs verloren haben, den Selbstständigen, den Unternehmern, die immer noch auf die Coronahilfen warten, den Pflegekräften, denen kein Pflegebonus zusteht, wie erklären Sie all denen, dass sie den Gürtel enger schnallen müssen, während diese Bundesregierung einen Stellenaufwuchs und eine Beförderungswelle macht, die ihresgleichen sucht? Ich glaube, das ist nicht zu erklären, aber ich bin gespannt auf Ihre Antwort. ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Ich glaube zunächst einmal, dass es so ist: Jedes einzelne Ressort muss sich für die Stellenaufwüchse, diese zusätzlichen Stellen, nicht nur beim Finanzminister, sondern auch beim Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages rechtfertigen. Deshalb kann es eigentlich gar keinen Zweifel geben, dass es für die jeweils zusätzlichen Stellen auch entsprechende Begründungen gibt, die aus einem Aufgabenzuwachs resultieren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Wir kommen zur letzten Frage in dieser Fragestunde. Es fragt die Kollegin Nezahat Baradori, SPD-Fraktion.

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. Baradari ist allerdings mein Nachname. – Sehr geehrter Chef des Bundeskanzleramts, sehr geehrter Herr Bundesminister und ärztlicher Kollege, Herr Dr. Braun! Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und ich habe sowohl im Impfzentrum als auch in der Arztpraxis schon zig Menschen gegen Corona geimpft. Was mir dabei aufgefallen ist, ist, dass sich darunter wirklich nur sehr wenige Menschen mit Migrationsbiografie befunden haben. Daher ist meine Frage an Sie: Inwiefern plant die Bundesregierung, ihre Kommunikation und ihre Kampagnen endlich entsprechend vielseitig, barrierefrei und vor allen Dingen vielsprachig zu gestalten, damit wir auch die Zielgruppen, die nicht deutscher Herkunft sind, sprachlich erreichen? Ich bin mir sicher: Wenn wir denen eine höchstmögliche Information zukommen lassen, dann steigt auch deren Impfbereitschaft.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Da sprechen Sie, Frau Kollegin, ein sehr, sehr wichtiges Thema an, das auch heute im Bundeskabinett am Rande Thema war. Wir spüren natürlich, dass wir in wenigen Wochen in eine Phase kommen können, in der es nicht mehr darum geht, dass Impfstoff knapp ist, sondern dass wir gezielt darum werben müssen, dass sich noch mehr Menschen in Deutschland impfen lassen. Manche gesellschaftlichen Gruppen sind sehr, sehr impffern, vielleicht auch nicht gut informiert. Deshalb hat der Bundesgesundheitsminister noch einmal darauf hingewiesen, dass es solche mehrsprachigen Angebote gibt, dass sie auch in sozialen Medien gezielt beworben werden. Wir haben auch noch einmal darüber gesprochen. Auch die Bundeskanzlerin hat in verschiedenen Gruppen und in Interviews mit entsprechenden Zeitungen gezielt migrantische Gruppen angesprochen. Der Arbeitsminister und der Bundesgesundheitsminister wollen noch einmal gemeinsam auf die kommunalen Spitzenverbände zugehen und mit ihnen reden; denn die Umsetzung geschieht ganz praktisch vor Ort, auch mit entsprechenden Kampagnen. Wenn also diejenigen, die sich impfen lassen wollen, nicht mehr von alleine kommen, müssen wir zu denen gehen, damit wir wirklich ein niedrigschwelliges Angebot haben, um eine möglichst hohe Impfquote auch in solchen Milieus zu erreichen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Baradari, ich darf mich gleich entschuldigen: In meinem hohen Alter bin ich auf die Schriftführer angewiesen. Hier steht bei mir tatsächlich hinten ein O und kein A; aber das werden wir korrigieren. Vielen Dank, Sie haben die Gelegenheit zur Nachfrage.

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident, auch für die Korrektur. – Ja, ich habe eine Nachfrage, und zwar möchte ich ganz gerne wissen: Die Bundesregierung weist auf ihrer Webseite auf die Homepage 116117.de hin. Auch hier sind leider die zur Verfügung gestellten Informationen nur in deutscher Sprache. Sie haben eben auf die kommunalen Spitzenverbände hingewiesen. Inwiefern planen Sie noch Gespräche mit weiteren Partnern, wie zum Beispiel der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, damit auch hier die sprachlichen Barrieren gesenkt werden? – Danke schön.

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Im Hinblick auf die jeweiligen Impfportale kann ich nur sagen, dass in mehreren Ländern die Angebote auch mehrsprachig sind. Wir bieten über 116117.de eigentlich nur das Zugangsportal der KBV an. Ich nehme die Anregung, wenn das nicht mehrsprachig ist, gerne mit und gucke mir das noch einmal an, damit wir das dann durchgängig gestalten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Angesichts der Tatsache, dass die Zeit für die Befragung der Bundesregierung bereits abgelaufen ist, lasse ich keine weiteren Nachfragen zu. Ich beende die Befragung und bedanke mich bei Ihnen, Herr Minister Braun, für die Beantwortung der Fragen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es heute? Ein privater Krankenhauskonzern, nämlich die Sana Kliniken AG, hat allein 2019 66 Millionen Euro Gewinn gemacht. Was ist daraus die Conclusio? Sie schmeißt 1 000 Beschäftigte raus. Dazu schreibt der Konzernbetriebsrat an die Bosse des Vorstandes – ich zitiere –: Ohne die Kolleginnen und Kollegen an den Patienteninformationen, der Bettenreinigung, des Lagers und der Versorgungsdienste ständen viele unserer Klinken vor der Kapitulation. Wie wäre die Pflege und die medizinische Betreuung, die eh schon kaum zu leisten sind, möglich ohne Stationshilfen und Patientenbegleitdienst? Daraus kann es für den Deutschen Bundestag nur eine Schlussfolgerung geben: Diese Kündigungen müssen sofort vom Tisch, und der Grundsatz „Ein Betrieb, eine Belegschaft“ muss gelten – auch in diesem Konzern. ({0}) Die zweite Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen müssen – und das ist eigentlich nichts Neues; es ist erschreckend, dass man das hier anhand von solch unfassbaren Vorgängen immer wieder aufrufen muss –, ist, dass der Irrweg der Privatisierung der Krankenhäuser sofort gestoppt werden muss. ({1}) Um das einmal für all diejenigen, die das erleiden müssen – Patienten, Beschäftigte und andere – und für all die Menschen da draußen übersetzt zu sagen: Krankenhäuser müssen Menschen bestmöglich gesund machen und keinen Profit abwerfen. – Das muss die Maxime der Politik sein. ({2}) Diese Vorgänge führen uns zu einer sehr grundsätzlichen Frage: In was für einer Gesellschaft und was für einem Land wollen wir eigentlich leben? Deswegen müssen wir uns grundsätzlich fragen: Was bedeutet Privatisierung? Privatisierung von öffentlichem Eigentum bedeutet nichts anderes als Raub und Enteignung der Bevölkerung. So einfach ist das. ({3}) Das hatte seinen guten Grund mit dem Beginn der Bundesrepublik Deutschland und übrigens auch in der DDR, wo es, um das hier auch mal klar zu sagen, auch einen vorbildlich organisierten Gesundheitsbereich gab. Es hatte schon einen Sinn, warum die Gesundheit in staatlicher Hand gewesen ist. Das war eine sehr sinnvolle Sache, weil Krankenhäuser und Gesundheitsversorgung Kerne des Sozialstaates sind. ({4}) – Die Grünen können sich ja gleich an die Seite von Jens Spahn werfen; dazu haben Sie gleich die Gelegenheit. ({5}) Ich will sagen – das ist der zweite Punkt zur Privatisierung –: Privatisierung geht grundsätzlich immer auf Kosten der Beschäftigten. Bei mir in Sachsen-Anhalt, in meinem Wahlkreis, treibt ein besonders übler Krankenhauskonzern sein Unwesen, nämlich Ameos. Eine Beschäftigte hat Folgendes dazu gesagt, was Privatisierung für die Mitarbeiter dort bedeutet – das sollte man sich mal sehr gut anhören; ich zitiere –: Vor sechs Jahren wurden wir an Ameos verkauft. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als wir übernommen wurden, hatten wir eine gut laufende Einrichtung, wo verschiedene medizinische Bereiche Hand in Hand miteinander gearbeitet haben. Heute sieht man frustrierte, gestresste Mitarbeiter, traurige Patienten und genervte Angehörige. Wie konnte es so weit kommen? Geld wurde über Leben gestellt. Das ist der Kern, über den wir hier heute reden, und deswegen will ich Folgendes sagen, was ganz interessant ist – vielleicht als kleiner Servicehinweis an die spärlich besetzten Reihen der CDU/CSU; das müssen Sie alle, die zuhören, wissen –: 2018 haben die Anteilseigner von Sana der CDU/CSU 85 000 Euro gespendet; das ist zumindest der Betrag, der offiziell angegeben wurde. Das beantwortet immerhin die Frage, wie es so weit kommen konnte: Sie sind nämlich geschmiert worden von dem privaten Krankenhauskonzern – so einfach ist das. ({6}) Eines ist doch wirklich irre: In den Zeiten der Pandemie überhaupt Pflegepersonal und ‑kräfte in den Krankenhäusern zu feuern, ist ja schon völlig bekloppt. Aber es geht noch deutlich bekloppter: Im Jahr der Pandemie, im Jahr 2020, wurden in der Bundesrepublik allen Ernstes 21 Kliniken dichtgemacht. Das sind doch kaputte Zustände! Wo leben wir hier eigentlich? 1991 gab es in der Bundesrepublik – gerade vereinigt – 2 411 Kliniken, und 2019 gab es gerade noch 1 914 Krankenhäuser. Und warum ist das so? Das ist so, weil es dazu politische Entscheidungen gegeben hat, die das so vorgesehen haben. Noch vor anderthalb Jahren hat Jens Spahn – keine Ahnung, wo der Gesundheitsminister überhaupt ist; das ist auch eine gute Frage – gefordert: Wir brauchen mehr Mut bei Krankenhausschließungen. – Was ist das für eine zynische Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({7}) Das waren seinerzeit die politischen Entscheidungen, und deswegen – das hat die Pandemie doch auf erschreckende Weise gezeigt – brauchen wir jetzt andere politische Entscheidungen. Das kann doch nur die einzige logische Schlussfolgerung sein. Was also tun? Erstens. Ein sofortiger Stopp aller Privatisierungen. ({8}) Zweitens. Ein sofortiger Stopp aller Krankenhausschließungen. Drittens. Wir brauchen sofortige umfangreiche Hilfe für die Kommunen, in denen es noch kommunale Krankenhäuser gibt, ({9}) die aufgrund der pandemiebedingten Ausfälle vor der Pleite stehen. Denen muss sofort geholfen werden. Viertens. Es muss eine ganz neue Regel geben, und die kann man einfach beschließen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und zwar die Regel: Die privaten Krankenhauskonzerne, die Dividenden auszahlen, bekommen keinen Cent Steuergeld mehr. So einfach ist das! Das könnten wir hier beschließen. Last, but not least, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– es muss endlich darum gehen, eine anständige, würdige und respektvolle Bezahlung der Pflegekräfte, der Reinigungskräfte und all der anderen zu gewährleisten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das kann politisch entschieden werden. Da haben Sie so versagt! Und das ganze Sonntagsredengeschwätz, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Korte, kommen Sie bitte zum Schluss!

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– das wir seit einem Jahr hören – – Da müsste man echt noch was zu sagen! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Korte, kommen Sie bitte zum Schluss!

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dieses ganze Gerede kann man sich sparen, ({0}) wenn man hier nicht – – ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Sie als Parlamentarischer Geschäftsführer müssen das wissen: Wir haben eine Aktuelle Stunde, und wir haben fünf Minuten Redezeit vereinbart. Sie waren 40 Sekunden drüber. Ich bitte alle Beteiligten, wenn ich sie auffordere, meiner Bitte künftig auch nachzukommen, sonst werde ich das Wort entziehen. Alle anderen Redner haben auch nur fünf Minuten. Nächster Redner ist der Kollege Lothar Riebsamen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jede Meldung, dass irgendwo, in irgendeiner Branche – vielleicht im eigenen Wahlkreis –, Mitarbeiter einer Firma entlassen werden, macht zunächst betroffen. Die schlechte Nachricht betrifft natürlich in erster Linie diejenigen, die die Kündigung bekommen, und deren Familien. Als Zweites muss man dann die Frage stellen: Was ist denn der Grund für diese Kündigung? ({0}) Herr Korte, Sie haben in Ihrer Rede nicht einen einzigen Satz dazu gesagt, warum Sana diese Änderungskündigungen ausspricht – nicht einen Satz! ({1}) Stattdessen haben Sie nur gewettert. Ich weise entschieden zurück, dass die CDU von Sana geschmiert wurde. Das ist kompletter Unsinn. Sie haben nur polemisiert. Sie haben nur Wahlkampf gemacht, und Sie haben keinen einzigen sachlichen Satz zu diesem Thema gesprochen. ({2}) Sie haben skandalisiert. Sie haben sogar den Gewinn von Sana skandalisiert. Sana ist ein Konzern, der 2,8 Milliarden Umsatz macht und 68 Millionen Gewinn. Das sind 2,4 Prozent Gewinn, und das skandalisieren Sie. ({3}) Ich sage Ihnen mal was: 2,4 Prozent Gewinn sind zu wenig, egal ob es ein privater Konzern ist, ob es ein gemeinnütziges Haus oder ein kommunales Haus ist. Mit 2 Prozent kann man keine Innovationen und keine Digitalisierung voranbringen, und schon gar nicht kann man das auffangen, was die Länder nicht an Investitionskosten bezahlen, obwohl sie eigentlich zahlen müssten. ({4}) Der Gewinn müsste jedenfalls deutlich höher als 2 Prozent sein. Diese 2 Prozent Gewinn sind weit entfernt von dem, was Sie hier sonst immer erzählen. 20 Prozent Umsatzrendite, das prangern Sie doch immer an. Jetzt kommt der Sana-Konzern – 2019 wohlgemerkt – auf mickrige 2 Prozent, und das wird auch noch skandalisiert von Ihnen. Wissen Sie, das ist einfach nur daneben! ({5}) Ich weiß nicht: Verstehen Sie von der Sache nichts, oder geht es Ihnen einfach nur um Polemik? ({6}) Jetzt kommen wir doch mal zu den Gründen. Wir haben einen Pflegepersonalmangel, und darauf hat diese Regierung reagiert. Wenn ich mich richtig entsinne, hat die Fraktion Die Linke es sogar positiv aufgenommen, dass man die Pflegekosten aus dem Fallpauschalenbudget herausgenommen hat. Es war völlig klar, dass dies zu sehr schwierigen Umstrukturierungsprozessen führt, weil Servicekräfte – und um die geht es hier – Teil der Pflege und mit ihr eng verzahnt sind. Beim Sana-Konzern gehören sie zu einer separaten Servicegesellschaft wie in vielen anderen Krankenhäusern auch. Die Folge des Pflegebudgets ist, dass umstrukturiert werden muss: Die Pflege- und Servicekräfte müssen also aus der Servicegesellschaft, die Sie so verdammen, herausgenommen und in das normale Pflegebudget des Krankenhauses überführt werden. Es muss also umstrukturiert werden. Aus diesem Grunde sind die Kündigungen ausgesprochen worden. Das ist doch die Wahrheit! Wenn wir hier Gesetze machen, dann sollten wir eigentlich froh sein, wenn sie auch umgesetzt werden. Natürlich bin ich auch der Meinung, dass wir genau hinsehen müssen, dass hier nicht unterm Strich Stellen abgebaut wurden. Es stellt sich schon die Frage: Wer macht zukünftig die Arbeit? Wie man den Verlautbarungen von Sana entnehmen kann, sollen dieselben Leute, die bisher im Servicebereich tätig waren, zukünftig in die Pflege integriert werden. Wenn Sie in den letzten Monaten ein bisschen Zeitung gelesen haben, vor allem die Fachzeitungen, dann wissen Sie ganz genau, dass es einen sehr intensiven Prozess mit vielen Verhandlungen zwischen den Krankenhäusern und den Kassen darüber gegeben hat, welche Servicebereiche, welche Hol- und Bringdienste, welche Funktionsbereiche man nun in das Budget hineinnimmt und welche nicht. Genau um die Umsetzung dieses Prozesses geht es jetzt bei diesen Kündigungen. Wir können daher nicht dem Sana-Konzern oder welchem Konzern auch immer irgendeinen Vorwurf machen, wenn er genau das tut, was wir im Sinne der Pflege in dieser Legislaturperiode Gutes vorgegeben haben. Und das lassen wir uns auch von Ihnen nicht madig machen! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Riebsamen. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An den Sana-Kliniken sieht man wunderbar, was alles schiefläuft im deutschen Gesundheitssystem, und dass der Staat nicht die Lösung ist, sondern die Ursache des Problems. ({0}) Während zu normalen Zeiten maximal ein paar Hundert Krankenhausbeschäftigte in Kurzarbeit sind, sind es in diesem Lockdown 10 000; im ersten Lockdown waren es gar 60 000. ({1}) Das liegt schlicht daran, dass die Regierung das ganze Gesundheitssystem hysterisch auf die Bekämpfung einer einzigen Krankheit ausrichtet, obwohl viel mehr Menschen an anderen Krankheiten sterben. Ganze Abteilungen oder gar Kliniken werden geschlossen, Reha- und Vorsorgetermine verschoben und Behandlungen gestrichen oder gekürzt. Service und Patientennähe sind gerade nicht gefragt. Die passen nicht in die Hysterie. Da ist es nur konsequent, dass die Sana-Kliniken über 1 000 Stellen im Servicebereich streichen. Liebe Sana-Mitarbeiter, Sie werden arbeitslos, weil die Bundesregierung Ihre Arbeit nicht wertschätzt. ({2}) Die Fokussierung der Regierung nur auf Corona kostet nicht nur Tausende Arbeitsplätze, sondern sie schädigt auch die Gesundheit von Millionen Menschen. ({3}) Unzählige Menschen erkranken psychisch schwer durch den Lockdown, und die Entwicklungsschäden bei Millionen Kindern durch Panikmache und soziale Isolation sind katastrophal. Experten sagen uns, dass 20 000 Menschen zusätzlich an Krebs sterben werden, weil durch den Lockdown Vorsorgeuntersuchungen verschoben wurden. 240 000 Menschen, also die Einwohnerzahl eines kompletten Bundestagswahlkreises, sterben jedes Jahr an Krebs. Wo ist das konsequente politische Vorgehen gegen Krebs? Wo sind die Politiker, die eine Kerze für diese vielen Toten anzünden? Es gibt sie nicht, weil Sie nur dann Trauer heucheln, wenn es Ihnen politisch nutzt. ({4}) Ihre Politik hat dafür gesorgt, dass in großen Teilen des medizinischen Bereichs nicht die Gesundheit der Patienten im Vordergrund steht. Sie machen Deutschland zur gesundheitspolitischen Servicewüste. Ein Beispiel: Obwohl sich die Zahl der Geburten in Deutschland in den letzten 30 Jahren kaum geändert hat, wurde die Zahl der Geburtskliniken halbiert. Selbst in der angeblichen Pandemiebekämpfung stellen Sie völlig falsche Weichen. Seit März letzten Jahres wissen wir aus China, dass zu frühe invasive Beatmung für Coronapatienten tödlich ist. Darauf weist auch der oberste deutsche Lungenfacharzt Thomas Voshaar hin. Und die Daten aus Krankenhäusern zeigen uns auch schon lange: Dort, wo frühzeitig invasiv beatmet wird, ist die Todesrate um ein Vielfaches höher als dort, wo nur im äußersten Notfall invasiv beatmet wird. Und was machen Sie? Sie setzen einen fetten fünfstelligen Betrag pro Patient als Anreiz für die Krankenhäuser, frühzeitig invasiv zu beatmen. Ihre Politik tötet Menschen. Ihre Politik macht Menschen arbeitslos, und sie schürt Hysterie. Seit Juli letzten Jahres gibt es keinen Anstieg bei den Intensivpatienten. ({5}) Die Zahl ist über die ganzen Monate hinweg konstant. Das Bundesgesundheitsministerium selbst sagte wortwörtlich: Im Jahresdurchschnitt waren 4 Prozent aller Intensivbetten mit Coronapatientinnen und ‑patienten belegt. – Da die Auslastung der Betten übers Jahr hinweg konstant ist, Sie aber Hysterie schüren wollen, sorgen Sie für eine Abnahme der Zahl der freien Betten. Mit dem § 21 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes bekommen Krankenhäuser deutlich mehr Geld, wenn sie zumindest zu 75 Prozent oder 85 Prozent ausgelastet sind. Sie haben einen finanziellen Anreiz dafür geschaffen, dass Krankenhäuser freie Kapazitäten abbauen. Die Sana Kliniken suchen übrigens trotzdem händeringend Personal, nämlich als Pflegekräfte. Und obwohl der Pflegemangel seit Jahren bekannt ist, versagt die Politik auch hier. Wo bleiben denn die Maßnahmen, um Pfleger und Intensivpfleger zu gewinnen und langfristig zu halten? Wo bleibt die Aufstockung der Kapazitäten? Wo bleibt die Rettung von Menschenleben, indem man Krankenhäusern Anreize schafft, erst dann invasiv zu beatmen, wenn es gar keine andere Möglichkeit mehr gibt? ({6}) All diese Maßnahmen gibt es nicht, und ich kann Ihnen auch sagen, warum es sie nicht gibt: weil für Sie nicht die Gesundheit der Menschen im Vordergrund steht, sondern nur die eigene Profit- und Machtgier. ({7}) Wir müssen diesen gesundheitspolitischen Irrweg beenden. Es muss endlich wieder das Wohl der Patienten im Vordergrund stehen. ({8}) Dann ist auch wieder Platz für ausreichend Servicemitarbeiter im Gesundheitswesen. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Stamm-Fibich, SPD-Fraktion. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! An negativen Nachrichten herrscht in diesen Tagen wirklich kein Mangel. Aber selbst inmitten dieser Pandemie sind die angekündigten Entlassungen durch die Sana Kliniken AG ein absolutes Negativ-Highlight. Bis Ende des Jahres 2021 will Sana rund 1 000 Beschäftigte auf die Straße setzen, und das betrifft insbesondere Stationsassistenzen, Hol- und Bringdienste sowie die Beschäftigten an den Pforten und im Sicherheitsdienst. Was mich besonders wütend macht: Der Grund für die angekündigten Restrukturierungsmaßnahmen liegt nicht etwa in der unverschuldeten wirtschaftlichen Schieflage. Nein, hier geht es lediglich um die knallharte Durchsetzung von Kapitalinteressen auf dem Rücken der Beschäftigten durch einen äußerst profitablen Klinikkonzern, und das inmitten der dritten Pandemiewelle. Das schlägt dem Fass den Boden aus. ({0}) Das ist eine offene Provokation und Egoismus in Reinform. Man kann sich nur wundern: Anscheinend war es dem Sana-Vorstand ein großes Anliegen, bestmöglich zu beweisen, dass die häufig geübte Kritik an der Renditeorientierung im deutschen Gesundheitswesen absolut gerechtfertigt ist. ({1}) Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Ziel erreicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Weil wir hier kein substanzloses Bashing betreiben wollen, will ich das Ganze in den richtigen Kontext setzen. Laut den Geschäftsberichten der Jahre 2015 bis 2019 hat der Konzern allein in diesem Zeitraum einen Reingewinn von circa 423 Millionen Euro nach Steuern erwirtschaftet. Zur Erinnerung: Das sind Gelder aus der Solidargemeinschaft! ({2}) In der Pandemie hat die Gemeinschaft die Krankenhäuser des Landes, unter anderem auch die Sana, mit Milliarden an Steuergeldern gestützt. Das war eine gute und richtige Entscheidung. Der Bundestag hat damit Verantwortung für den Erhalt der Krankenhausstrukturen und damit auch für die Versorgung der Bevölkerung übernommen. Dass dann aber im Gegenzug ein privater Klinikkonzern, der durch die Maßnahmen stark profitiert hat, selbst jegliches Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Belegschaft vermissen lässt und die Zukunft der Beschäftigten auf dem Altar der eigenen Profitorientierung opfert, ist für uns nicht akzeptabel. ({3}) Und anders kann man das auch nicht sagen. Es bleibt nämlich festzuhalten: Profitgier – eins, gesellschaftliches und soziales Verantwortungsbewusstsein – null. Jetzt gibt es aber auch diejenigen, die auf die Ankündigung des Vorstandes verweisen, dass es zeitnah Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan geben soll. – Das ist keine Großtat; das ist betriebliche Mitbestimmung. ({4}) Und noch einmal zur Erinnerung: Es ist nicht das erste Mal, dass Sana beim Umgang mit den Arbeitnehmerrechten negativ auffällt. Viele der Kolleginnen und Kollegen, die jetzt entlassen werden sollen, waren bis zur Ausgliederung in die jetzt betroffenen Tochtergesellschaften festangestellte Mitarbeiter. Sie haben bereits damals empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Und als ehemalige Betriebsrätin wünsche ich dem Gesamtbetriebsrat und den Beschäftigten aus ganzem, vollem Herzen, dass bei den anstehenden Verhandlungen doch noch etwas Ordentliches herauskommt. ({5}) Lassen Sie mich zum Ende einen Ausblick wagen: Welche Lehren können wir aus dem vorliegenden Fall ziehen? Erstens. In der Coronakrise wurde einmal mehr überaus deutlich, dass Gewinnmaximierung und Kostenminimierung in der Gesundheitsversorgung nicht das Maß aller Dinge sein dürfen. Wenn einige Akteure im System aber partout nicht verstehen wollen, dass das deutsche Gesundheitssystem kein Selbstbedienungsladen ist, sondern auf dem Prinzip „Geben und Nehmen“ beruht, werden wir uns als SPD in der nächsten Legislaturperiode dafür einsetzen, dass die Spielräume für solche Player deutlich enger werden. ({6}) Zweitens. Die Tendenz zur Filetierung von Unternehmen und Ausgliederung von ganzen Geschäftsbereichen in Tochtergesellschaften, was wir seit den 80er-Jahren in jedem Jahrzehnt mehr und mehr erleben, hat in vielen Bereichen zu erheblich schlechteren Arbeitsbedingungen und niedriger Bezahlung beigetragen. Das ist auch ein Teil der Wahrheit, dem wir uns stellen müssen, wenn wir beklagen, dass viele Menschen zu wenig verdienen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, da helfen keine Krokodilstränen. Damit muss Schluss sein. Danke. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Stamm-Fibich. Punktgenaue Landung. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie beantragen eine Aktuelle Stunde zu den geplanten Umstrukturierungen beim Klinikkonzern Sana, ({0}) bei dem laut Nachrichten bis zu 1 000 Arbeitsplätze gefährdet sein könnten. Aber wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie zugeben, dass im Moment noch überhaupt gar nichts entschieden ist. Und wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie zugeben, dass sich die Konzernleitung ja öffentlich verpflichtet hat, den engen Schulterschluss mit dem Betriebsrat zu suchen und tatsächlich einen sozialverträglichen Plan aufzulegen. ({1}) Und da frage ich mich, warum ausgerechnet Sie von den Linken dem Betriebsrat so wenig zutrauen. ({2}) Da würde ich doch erst einmal ein Stück weit abwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. ({3}) Aber klar ist auch, dass jeder Arbeitsplatzverlust in einer sozialen Marktwirtschaft einer zu viel ist. Er ist nicht auszuschließen in einer Dynamik, die die soziale Marktwirtschaft mit Veränderung, mit dem Neugründen von Unternehmen und mit dem Einstellen von Geschäftsbereichen ausmacht. Aber klar ist auch, dass jeder Arbeitsplatzverlust natürlich überwunden werden muss; denn jeder Arbeitsplatzverlust ist eine individuelle Härte. Er ist eine Tragödie für eine Person, für eine Familie, für ihr Umfeld. ({4}) Deshalb müssen alle Anstrengungen unternommen werden, dass die Arbeitslosigkeit nicht ein Dauerzustand wird, sondern dass schnell neue Arbeitsplätze entstehen und die Vermittlung in neue Arbeitsplätze gelingt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich muss Ihnen jetzt schon sagen, dass ich ein bisschen Zweifel habe, worum es Ihnen denn eigentlich geht. ({6}) Denn wenn es Ihnen um das Schicksal von Arbeitslosen ginge, dann würden Sie vielleicht einmal Ihren Blick ins Land schweifen lassen und über die vielen Tausend Arbeitsplätze reden, die jetzt aufgrund einer verfehlten Coronapolitik zur Disposition stehen. ({7}) Da reden Experten von der Schließung von 35 000 Betrieben. Da stehen 30 000 Arbeitsplätze im Handel und im Verkehr zur Disposition. 90 000 Arbeitsplätze im gewerblichen Bereich sind gefährdet. ({8}) Das IAB befürchtet, dass 150 000 Selbstständige ihre Selbstständigkeit einstellen müssen und arbeitslos werden. Der Hotel- und Gaststättenverband berichtet, dass jeder vierte Betrieb vor dem Aus stehen könnte, was den Verlust von 500 000 Arbeitsplätzen bedeuten könnte, und nicht zu vergessen die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler, von denen ein Drittel im Moment sagen muss, dass sie ihre Geschäftstätigkeit aufgeben werden. ({9}) Da muss ich sagen: Ich blicke in die Regierungskoalition und frage: Was haben Sie alles versäumt? Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Novemberhilfen erst im Januar kamen, dass die Dezemberhilfen erst im Februar kamen und dass die Überbrückungshilfe III erst im März kam. Aber auch das ist natürlich verschüttete Milch. Wir sollten jetzt vor allen Dingen in die Zukunft schauen. Was ist für die Zukunft gefordert? Für die Zukunft gefordert ist, dass wir jetzt alles dafür tun, dass die Unternehmen möglichst gut aus der Krise kommen. Dazu müssen wir sie beispielsweise entlasten. Allein wenn wir die Aufbewahrungsfristen von steuerrelevanten Unterlagen von zehn auf fünf Jahre verkürzen würden, könnten wir die Unternehmen um Bürokratiekosten von in Summe 1,7 Milliarden Euro entlasten. ({10}) Würden wir die Grenze zur Buchführungspflicht von 600 000 auf 1 Million Euro anheben, dann könnten die Kosten von 48 300 Arbeitsjahren eingespart werden. Dieses Geld könnte in Innovation und neue Arbeitsplätze in den Unternehmen fließen. Das könnten wir als Gesetzgeber hier einfach einmal beschließen. Unsere Unternehmen kämen aus dieser Krise heraus, wenn wir sie entlasten würden. ({11}) Reden wir über die öffentliche Verwaltung. Hätten wir das Niveau der Digitalisierung wie Estland, dann würden wir Kosten in unserer Volkswirtschaft von 78 Milliarden Euro sparen. Das ist Geld, das wir in der Zukunft für Innovationen in den Unternehmen und für neue Arbeitsplätze brauchen. Da kann ich nur sagen: Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Wir müssen jetzt schon die richtigen Weichen stellen, aber vor allen Dingen mit der richtigen Regierung ab dem September für die nächsten vier Jahre. ({12}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Vertrauen Sie mal der Kraft des Betriebsrates der Sana AG! Jetzt warten wir doch mal ab, was der zu leisten in der Lage ist, wenn er sich mit der Geschäftsleitung zusammensetzt und einen Sozialplan erstellt! Vielleicht kommt ja alles gar nicht so schlimm. Das jedenfalls ist den Beschäftigten zu wünschen. Vielen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Kollege Korte, dass Sie erst jetzt wissen, wofür die FDP steht, das erstaunt mich. ({0}) – Gut, sehr schön. Die Fronten sind klar. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink vom Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier eigentlich nicht darum, ob die Fronten klar sind oder nicht; vielmehr sollte es darum gehen, ob eine gute Versorgung im Krankenhausbereich gesichert ist. Das ist die Aufgabe, die wir hier zu lösen haben. Unsere Aufgabe ist es nicht, hinter Fronten miteinander zu diskutieren. ({0}) Da muss ich ganz klar meinem Vorredner von der FDP, aber auch Richtung CDU sagen: Natürlich ist Kritik an diesem Verhalten angemessen und richtig. ({1}) Was für eine Situation haben wir denn? Wir haben auf der einen Seite die Beschäftigten in den Krankenhäusern, die mehr als ein Jahr lang unter ganz großen Mühen, großen Belastungen und großen Risiken versucht haben, die Versorgung so gut wie möglich sicherzustellen. Auf der anderen Seite hat es natürlich auch kleinere Häuser gegeben, die so gut wie kaum Patientinnen und Patienten versorgen konnten, einfach weil die Situation durch Corona so war, wie sie war. Das ist doch die Situation, mit der wir umgehen müssen. Da muss man in Richtung Bundesregierung sagen: Es war richtig, Freihaltepauschalen auszukehren und sicherzustellen, dass diese so notwendige Krankenhausversorgungsstruktur nicht baden geht, sondern gesichert bleibt und aufrechterhalten wird. ({2}) Das war richtig. Das war zum Teil nachsteuerungsbedürftig, aber es war richtig. Als privater Klinikkonzern eine solche Situation auszunutzen, auch gesetzliche Regelungen zur Stärkung der Pflege in den Krankenhäusern so auszunutzen, dass man andere Funktionsbereiche wiederum outsourct oder deren Mitarbeiter entlässt, ist kein Beitrag zur Sicherstellung der Krankenhausversorgung. Das muss an dieser Stelle glasklar benannt sein. ({3}) Ich muss auch sagen: Wir reden immer von der Vielfalt der Krankenhausversorgung sowie der Versorger und Träger. Dazu stehen wir als Grüne im Prinzip auch. Aber es ist auch ganz klar: Wir müssen sicherstellen, dass diese Träger auch wirklich der Gemeinwohlorientierung und der Daseinsvorsorge verpflichtet bleiben. ({4}) Es kann nicht sein, dass wir Gelder der Versichertengemeinschaft dafür auskehren, dass überhöhte Gewinnausschüttungen möglich werden, und das auch noch in einer Krisensituation, in der wir erhebliche gesellschaftliche Aufwendungen geleistet haben, um diese Bereiche zu sichern. Es kann nicht deren Umkehreffekt sein, dass gleichzeitig Menschen freigestellt werden und rechtliche Regelungen ausgenutzt werden. Das darf nicht passieren! ({5}) Ich möchte von diesem Klinikträger auch wissen: Was passiert denn dann? Wie wird denn nachher der Sicherstellungsauftrag wirklich eingelöst? Denn natürlich brauchen wir Botendienste. Natürlich brauchen wir Bringdienste. Natürlich brauchen wir Infopoints und alle diese Funktionsberufe, die in den Krankenhäusern zu finden sind. Es kann nicht sein – darüber hätte man ja sprechen können –, dass es keine Wiedereingliederung in den Konzern, in die örtlichen Krankenhäuser geben wird. Das ist nach dem Schreiben, das wir erhalten haben, nicht sichergestellt. Es geht erst einmal um eine Entlassung aus der Service GmbH. Wir wissen noch nicht, was folgen wird. Es wird ein großzügiges Angebot an den Betriebsrat gemacht. Doch über Sozialpläne zu reden, das heißt noch lange nicht, dass diese Menschen hinterher in den Krankenhäusern zu bestimmten Bedingungen wiedereingestellt sind. Das muss man ganz glasklar kritisieren, und das kann so nicht gehen. ({6}) Deshalb ist es so wichtig, dass wir eine Krankenhausreform mit drei großen Elementen machen. Wir brauchen eine vernünftige Entgeltstruktur, die Vorhaltekosten auch tatsächlich absichert. Wir brauchen eine Krankenhausplanung, die am tatsächlichen Bedarf ausgerichtet ist. Und wir brauchen eine Krankenhausinvestitionskostenfinanzierung, die dem entspricht, was tatsächlich gebraucht wird, damit nicht länger Mittel, die eigentlich für die Behandlung vorgesehen sind, in Investitionsmittel umgemünzt werden. Das müssen wir sicherstellen. ({7}) Herr Korte, das geht auch an die Adresse der öffentlichen Träger. Das geht nicht nur an die Privaten; das geht an die frei Gemeinnützigen, das geht an die Kommunalen genauso wie an die Privaten. Da ist es zu gewährleisten, dass wir vernünftige, gute Richtlinien, Leitplanken haben, die für alle Trägerbereiche sicherstellen, dass wir mit unseren öffentlichen Mitteln eine gute Patientenversorgung bereitstellen. Das muss gewährleistet sein. Sie sind herzlich eingeladen, an dieser Krankenhausreform mitzuwirken. Drei Anträge liegen vor. Wir werden demnächst eine Anhörung haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gespannt, was die FDP sagt; ich bin gespannt, was die Union sagt. Dann werden wir mal schauen, wohin wir kommen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe es mir eigentlich zur Angewohnheit gemacht, dass, bevor ich mich aufrege, ich mich erst mal gründlich informiere. Das habe ich in dem Fall jetzt auch gemacht. ({0}) Aber zunächst einmal vielleicht zwei Worte zu dem Redebeitrag meines Kollegen Pascal Kober. Ich glaube, es ist nicht hilfreich, den Menschen, die jetzt von der Kündigung bedroht sind, das Argument vorzuhalten, das hänge ja alles mit viel Bürokratisierung zusammen – das tut es an der Stelle nicht –, und in Estland sei das alles besser – nach dem Motto: Dann geht doch nach Estland! ({1}) Das war kein guter Beitrag für diese Menschen, lieber Pascal Kober.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Zimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kober?

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, in Aktuellen Stunden gibt es keine Zwischenfragen, Herr Präsident. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Entschuldigung! – Gott, dass mir das passiert; unglaublich.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist jetzt ein Traum für mich in Erfüllung gegangen, dass ich den Präsidenten mal korrigieren durfte. Vielen Dank! ({0}) Und dann ein zweiter Gedanke, lieber Pascal Kober, zum Vertrauen in die Betriebsräte. Also, die Betriebsräte zu erwähnen, ist ja völlig in Ordnung, aber die werden natürlich erst dann tätig, wenn die Birne bereits gegessen ist. Ich habe da sehr viel mehr Vertrauen in die Kraft der Gewerkschaften, ({1}) und ich will auch sagen, warum. Wir haben einen ähnlichen Fall in Hessen gehabt, wo ein großer Anbieter – Continental – mehrere Firmen dichtmachen und die Produktionskapazitäten nach Ungarn verlegen wollte, und dagegen hat vor allen Dingen die IG Metall einen ganz massiven Widerstand organisiert. Ich bin selbst IG-Metall-Mitglied. ({2}) Das Ergebnis ist gewesen, dass wir am Ende des Tages die Arbeitsplätze haben retten können. Ich glaube, das ist der richtige Weg: Dass man um die Arbeitsplätze kämpft ({3}) und nicht sagt, wir machen jetzt erst einen Sozialplan, und die ganze Sache ist dann schon vorbei. ({4}) Meine Damen und Herren, die Firma Sana begründet ihre Kündigungen mit – ich zitiere – „neuen Anforderungen, die eine deutlich höhere fachliche Führung, Prozessbegleitung und Prozessüberwachung“ erfordern. Das ist in Ordnung; das habe ich erst mal so zur Kenntnis genommen. Dann habe ich wie andere auch hier im Plenum die Geschäftsberichte der Sana durchgeschaut, und da bin ich über eine Formulierung gestolpert, die mich hat hellhörig werden lassen. Da steht nämlich drin, die „Sana legt Wert auf eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung“ ihrer Mitarbeiter. Da stehen jetzt auf der einen Seite die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter, auf der anderen Seite die neuen Anforderungen, die dazu geführt haben, dass die Kündigungen ausgesprochen werden. Da frage ich mich: Ja, warum hat dann die Sana nicht die Möglichkeiten genutzt, die wir beispielsweise mit dem Qualifizierungschancengesetz geboten haben, um Mitarbeiter weiterzuqualifizieren und in den Jobs zu halten? ({5}) Das ist doch eigentlich der Königsweg aus einer solchen Krise, den wir als Gesetzgeber zur Verfügung gestellt haben. ({6}) Im Geschäftsbericht steht auch etwas von dem Ziel der „langfristigen Bindung“ der Mitarbeiter. Das finde ich ein gutes Ziel. Denn wir wollen keine hohe Fluktuation haben, sondern uns liegt daran, dass Menschen möglichst lange an ihrem Arbeitsplatz bleiben können, dass sie lange an ihren Arbeitsplatz gebunden werden und dass das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein kollegiales ist, dass man miteinander vernünftig umgeht. Ja, aber dann frage ich mich angesichts eines solchen Verhaltens: Müssen dann die Ärzte, die Krankenschwestern, die Pfleger nicht glauben, dass sie jetzt die nächsten sind? Müssen sie jetzt nicht in der Angst leben, dass gegebenenfalls sie die nächsten sind, die daran glauben müssen, wenn Profitinteressen wieder über das Gemeinwohl und über die langfristige Bindung der Mitarbeiter gestellt werden? Ich glaube, da sind wir in einem äußerst schwierigen Bereich. Das ist ein Bereich, meine Damen und Herren, der aus meiner Sicht vor allen Dingen die Eigentümer fordert. Ja, wer sind denn die Eigentümer von Sana? Die Eigentümer sind ja an das Gemeinwohl gebunden. Die Eigentümer sind private Krankenversicherer: die DKV AG mit 22,4 Prozent, die Signal Iduna, die Allianz Private, der Debeka Krankenversicherungsverein und die Continentale Krankenversicherung. Der Aufsichtsratsvorsitzende ist gleichzeitig der CEO von Signal Iduna. ({7}) Diesen Aufsichtsratsvorsitzenden Herrn Leitermann würde ich hier an dieser Stelle gerne fragen: Ist es Ihre Auffassung von gesellschaftlicher Verantwortung, Schmiere zu stehen, wenn 1 000 Menschen entlassen werden? ({8}) Ist diese Maßnahme geeignet, Vertrauen in private Strukturen im Gesundheitswesen zu stärken? Müssen Patienten jetzt Angst haben, dass sie nicht mehr angemessen versorgt werden? Ich glaube, es liegt auch nicht im Interesse dieser Krankenversicherer, dass diese Fragen gestellt werden. ({9}) Wir sind ja daran interessiert, dass es eine Vielfalt von Krankenversicherungen gibt, dass es eine Vielfalt von Versorgungszentren gibt. Deswegen ist mein Appell an die Sana: Überlegt euch das noch mal! Nehmt diese Sache zurück! Ich glaube, sie schadet mehr, als sie nutzt. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Zimmer – auch für den zutreffenden Hinweis zur Geschäftsordnung; ich muss das zugeben. ({0}) – Herr Kollege Korte, Sie müssen mir jetzt nicht den ganzen Abend versauen, um es freundlich zu formulieren. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion. ({1})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Manches, was sich in unser Gesichtsfeld drängt und gerade sichtbar wird, hat die Wurzeln im Tiefgehenden. – Wenn man die Nachrichten der letzten Monate hört und selbst Aufsichtsrat eines kommunalen Krankenhauses ist, dann wundert man sich, ehrlich gesagt, nicht über die aktuelle Situation in den Sana Kliniken. Denn was dort passiert, meine Damen und Herren, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrelanger und monatelanger Fehlpolitik im Gesundheitswesen. ({0}) Die Leidtragenden sind auch nicht die Politiker – also wir, die hier sitzen –, sondern eben die Bürger unseres Landes. Die wirtschaftliche Situation vieler deutscher Krankenhäuser, insbesondere der kommunalen, ist einfach nur noch katastrophal. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern das prognostizierten die Gesundheitsökonomen Augurzky und Schmidt vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in einem veröffentlichten Positionspapier. Bereits im Jahr 2018 lagen 13 Prozent der Krankenhäuser im Bereich erhöhter Insolvenzgefahr, und zu dieser Zeit gab es noch gar keine Coronapandemie. Ein wachsender Ärzte- und Pflegekräftemangel belastet die Situation zusätzlich, und private Krankenhauskonzerne betreiben mit hochspezialisierten medizinischen Filetstückchen eine Gewinnmaximierung unter Dumping des Humankapitals, das heißt der gesamten medizinischen Arbeitskräfte, meine Damen und Herren. ({1}) Genau das sehen wir jetzt bei den Sana Kliniken: Gewinn und Profit stehen vor sozialer Verantwortung. Wo sind wir denn da hingekommen, meine Damen und Herren? Wo sind wir da hingekommen in Deutschland? – Gleichzeitig aber kämpfen die kommunalen Krankenhäuser ums Überleben und schließen beispielsweise Geburtenstationen und andere lokal wichtige Fachabteilungen. Besonders jetzt in den Pandemiezeiten zeigen sich die gravierenden strukturellen Mängel in einem massiven Investitionsstau, der letztendlich das Desaster des gesamten Pandemiemanagements offenbart. Bei einer Bezahlung der Krankenkassen nur nach Zahl belegter Betten und leistungsbezogenen Fallpauschalen gleicht dies einem Offenbarungseid der deutschen Gesundheitspolitik der letzten 17 Jahre. ({2}) Deshalb fordert die AfD schon seit Langem die Abschaffung des völlig unnützen DRG-Systems und eine komplette Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft mit einem vorausbezahlten Pro-Kopf-Vergütungssystem mit Regionalkomponente, die umgehend zum Beispiel auch an sogenannte pandemische Lagen angepasst werden kann. Diese von uns geforderten Vorhaltepauschalen sichern eine Daseinsvorsorge der Krankenhäuser, insbesondere der ländlich und kommunal geprägten. Deshalb meine dringende Bitte ans Gesundheitsministerium: Nehmen Sie sich bitte dieser Problematik an, und befassen Sie sich mit der flächendeckenden, regionalgesteuerten, patientenorientierten Versorgung! Denn Sie sehen ja selbst, dass Sie anscheinend mit den privaten Konzernen wie zum Beispiel den Sana Kliniken einfach nicht zurechtkommen. Gesundheit ist ein hohes und allgemeines Gut, und hier hat der Staat vor allem dem Bürger gegenüber eine wichtige und soziale Verantwortung, und da ist der Staat natürlich auch in der Pflicht, die fortschreitende Kapitalisierung und Kommerzialisierung im Gesundheitsbereich kleinzuhalten und das Wohl des Bürgers tatsächlich in den Vordergrund zu stellen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schlund. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Moll, SPD-Fraktion. ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haben Sie sich kürzlich mal mit Pflegekräften unterhalten? Wer es, wie ich, getan hat, wird wissen, dass von den Kolleginnen und Kollegen auf Station nicht nur über das ärztliche und über das pflegerische Personal, sondern auch über die Reinigungskräfte, über das Servicepersonal und über Mitarbeiter aus der Wäscherei gesprochen wird. Man kennt sich. Man schätzt sich. Man kann sich aufeinander verlassen. Diese Mitarbeiter sind nicht nur mitgemeint, sie sind Teil des Teams. Sie arbeiten in der gleichen Vollausrüstung seit über einem Jahr, auch an ihrer Belastungsgrenze. Und auch nicht zu vergessen: Gleichzeitig wird unten an der Pforte das Personal von verzweifelten Familien beschimpft, die nicht zu ihren Angehörigen auf den Coronastationen konnten. Wenn wir von Coronaheldinnen und ‑helden sprechen, müssen wir auch von den ungesehenen sprechen, von denjenigen, die den Laden am Laufen halten: Hauswirtschaftskräfte, Soziale Dienste, Krankenfahrdienste, Hilfsdienste, Reinigungskräfte, Mitarbeiter aus der Wäscherei. Sie machen überhaupt erst möglich, dass Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte sich voll und ganz um die Patienten kümmern können, ({0}) dass Bettwäsche und Kittel gewaschen werden, dass Angehörige nicht durch Quarantänestationen laufen und Material dort ist, wo es gebraucht wird. ({1}) Auch sie haben die schlimmsten Seiten der Pandemie hautnah miterlebt und über ihre körperlichen und psychischen Belastungsgrenzen hinaus gearbeitet. ({2}) Und genau jetzt, mitten in der dritten Welle, geben die Sana Kliniken bekannt, 1 000 dieser Menschen zu entlassen. ({3}) Noch ist nicht klar, wer diese Arbeit übernehmen soll. Es würde sondiert, sodass die Arbeit nicht zulasten der Pflegekräfte geht. Aber ich weiß es besser. ({4}) Ich weiß, wie es am Ende praktisch aussehen wird, auf wessen Rücken diese Entlassungen getragen werden: auf denen des ausgebrannten Pflegepersonals. ({5}) Gucken wir mal! Ist ja nicht lange. Warten wir mal ab! Genau so wird es laufen. Lassen Sie mich klar sagen: Wer bei 66 Millionen Euro Gewinn 2019 aus Kostenkalkül denkt, ausgerechnet beim Personal einzusparen, der sollte sich schämen; ({6}) nicht nur, aber erst recht in einer weltweiten Pandemie. Die deutschen Kliniken wurden zur Versorgung der Patientinnen und Patienten während der Coronapandemie massiv mit Steuergeldern unterstützt. Und jetzt werden die entlassen und für verzichtbar erklärt, die genauso systemrelevant sind wie jede einzelne Krankenpflegerin oder Ärztin. Das sind auch diejenigen, die kein Homeoffice machen konnten, Belastungen und Infektionsrisiko ausgesetzt waren. Die Sana Kliniken haben von öffentlichen Mitteln profitiert. Damit sind sie in der Pflicht, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden – ({7}) für Patientinnen und Patienten und für die Belegschaft. Steuermittel sind kein Selbstbedienungsladen, wo man mal eben so zugreift, wenn es einem passt. Diese Rosinenpickerei gehört unterbunden und verurteilt. Wir als SPD-Fraktion stehen an der Seite der Gewerkschaften und der Betriebsräte, die sich entschlossen dagegen wehren. ({8}) Für uns als SPD ist das Gesundheitssystem Krankenhaus eine Teamaufgabe, bei der Ärzte, Pflegepersonal sowie Service- und Logistikpersonal nur zusammen arbeiten können und gleich viel Respekt verdienen. 1 000 Menschen in einer Gesundheitskrise zu entlassen und ihre Aufgaben früher oder später aufs Pflegepersonal abzuschieben, ist unmöglich und gilt es, entschlossen zu verhindern. ({9}) Jetzt dazu noch ein Satz von mir zum Schluss. Ich bin mal gespannt, ob demnächst Ärzte, Ärztinnen, Pflegepersonal in ungebügelten OP-Hemdchen rumlaufen müssen. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt kommt für die Fraktion Die Linke der Kollege Harald Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als Allererstes mal anregen, dass sich vielleicht der Herr Zimmer und der Herr Riebsamen austauschen mögen; denn es waren ja nun sehr unterschiedliche Positionen, die sie da vertreten haben, ({0}) sehr, sehr unterschiedliche Positionen. Was wir hier insgesamt haben – der faktische Rausschmiss von über 1 000 Beschäftigten einer ausgegliederten Tochter einer Tochter des Klinikkonzerns Sana AG –, ist nicht nur ein Skandal sondergleichen, sondern auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen falschen Krankenhauspolitik der diversen Regierungen in nahezu allen Farbkombinationen: Rot-Grün, Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot. Für die Ausgliederung von Arbeitsbereichen in Krankenhäusern – Reinigung, Küche, Wäscherei, Labor, Hol- und Bringdienste usw. usf. – liegt der alleinige Antrieb in dem Kostendruck durch die Fallpauschalen. Er zwingt die Krankenhäuser dazu, ihre Kosten, insbesondere die Personalkosten, so weit wie möglich zu senken – ohne Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und die Versorgung der Patientinnen und Patienten. Genau damit haben wir es auch bei Sana zu tun. Wer sich darüber empört, aber die Fallpauschalen weiter für ein sinnvolles System hält, betreibt Heuchelei. ({1}) Outsourcing ist ein wirksames Instrument für Tarifflucht, Lohndumping und die Spaltung von Belegschaften. Es herrscht ein unüberschaubarer Wildwuchs an Tochtergesellschaften und Töchtern der Tochtergesellschaften. Deshalb haben wir Ende März eine Kleine Anfrage zum Outsourcing in den Krankenhäusern gestellt. Da schrieb die Bundesregierung: Outsourcing dient insbesondere dazu, den Fokus der Unternehmenstätigkeit auf seine Kernkompetenzen zu legen und effiziente Organisationsstrukturen zu schaffen. Damit zielt Outsourcing vielfach auf eine Reduktion von Fixkosten, eine Steigerung der Flexibilität und der Qualität der Leistungserbringung und einen geringeren Verwaltungsaufwand ab. … Das DRG-Fallpauschalensystem setzt einen Anreiz zu einem wirtschaftlichen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen … ({2}) Besser könnte es in den Vorstandsetagen der Klinikkonzerne kaum formuliert werden. ({3}) Und das zeigt doch, wie sehr dieses verrückte Denken der Profitorientierung – dass Krankenhäuser in erster Linie Unternehmen seien – inzwischen verinnerlicht worden ist, auch von dieser Bundesregierung. ({4}) Wir wollten weiter wissen: Wie viele Tochtergesellschaften gibt es? Wie sind die Arbeitsverhältnisse? Wie sind die Geschlechterverhältnisse? – Die Antwort der Bundesregierung immer: Dazu liegen uns keine Erkenntnisse vor. Die einzige Zahl, die Sie als Antwort geliefert haben, ist der Anteil der ausgelagerten Personalkosten, also für Beschäftigte der Tochtergesellschaften. Und die hat es immerhin in sich; denn 2018 haben die Krankenhäuser dafür 4 Milliarden Euro ausgegeben. Wenn man das umrechnet in Stellen und dabei berücksichtigt, dass es eine relativ hohe Teilzeitquote gibt, dann stellt man fest, dass wir hier über 150 000 bis 200 000 Menschen reden. Die werden abgespalten von den Stammbelegschaften, haben oft keine gemeinsame Interessensvertretung, die Solidarität untereinander wird dadurch stark erschwert. Aber noch mal: Diese Menschen sind der Bundesregierung vollkommen egal. Sie haben diese Spaltungen bewusst politisch herbeigeführt. Sie sind dafür politisch verantwortlich. ({5}) Was macht nun Sana? Sana hat sich überlegt, dass sie Patientenbegleitung, Hol- und Bringdienste, Pforte usw. usf. nicht mehr benötigen. Das hat auch etwas mit den gesetzgeberischen Maßnahmen zu tun; da hat Herr Riebsamen ja durchaus recht. Nur, das Problem ist: Es war nie so gedacht, dass das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz jetzt dazu führen soll, dass die Pflegekräfte diese Hilfsdienste machen und dass diese Leute rausgeschmissen werden. Das war nie so gedacht. ({6}) Wenn am Ende doch etwas zusätzliches Personal benötigt wird, dann wird es jetzt unter noch schlechteren Bedingungen wieder eingestellt. Das ist die Situation, die wir da insgesamt haben. ({7}) Deswegen müssen alle Personalkosten im Krankenhaus kostendeckend erstattet werden. ({8}) Die Wirtschaftlichkeit würde garantiert, wenn für alle Berufsgruppen eine bedarfsgerechte Personalbemessung entwickelt und eingeführt wird. Das würde die Qualität erhöhen und das Unwesen des Outsourcings wirksam beenden. ({9}) Meine Damen und Herren, ich möchte am Ende auch noch auf ein paar Lichtblicke zu sprechen kommen, die es hier gibt. Sie kommen allerdings nicht aus diesem Haus und nicht von der Politik. Sie kommen von den Beschäftigten in den Tochtergesellschaften selber, die den Mut haben, sich in Verdi zu organisieren, aktiv zu werden und für ihre Interessen – die Wiedereingliederung in die Krankenhäuser – zu kämpfen. Das sind oft harte Auseinandersetzungen, in denen Unternehmen erbitterten Widerstand leisten – so wie Sana wahrscheinlich jetzt auch –, Kolleginnen und Kollegen einschüchtern und bisweilen sogar kündigen. Trotzdem gibt es hier Erfolge: Am Klinikum Ingolstadt ist es gelungen, ein Insourcing hinzubekommen. ({10}) Bei der Charité CFM Facility Management in Berlin ist es gelungen, einen Tarifvertrag entsprechend dem TVöD durchzusetzen. ({11}) Am Klinikum Ernst von Bergmann in Potsdam ist Ähnliches gelungen. Und morgen findet ein Warnstreik bei der Klinikum Nürnberg Service-Gesellschaft in meinem Heimatort Nürnberg statt, der zum Ziel hat, dort wieder den TVöD einzusetzen. ({12}) Den Beschäftigten, die sich unter diesen widrigen Bedingungen auf den Weg machen, gelten unser großer Respekt und unsere volle Solidarität. Den Mut, sich gegen die Schließungen zur Wehr zu setzen, sollten wir den betroffenen Beschäftigten am Klinikum Offenbach, in Schleswig-Holstein, in Hoyerswerda und an all den anderen Standorten von Sana mitgeben. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, die Zeit ist vorbei.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz. – Wer eine ernsthafte Umkehr in der Krankenhauspolitik in Richtung Gemeinwohl statt Profitlogik will, der kommt an der Linken nicht vorbei. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Weinberg. – Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Abgeordnete Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pandemie hat uns noch einmal deutlich gezeigt, welche Bedeutung die Kliniken für unser Gesundheitssystem haben. Die Beschäftigten vor Ort, seien es die Ärzte, Pflegekräfte, aber auch alle anderen Mitarbeiter, geben vollen Einsatz und leisten jeden Tag aufs Neue Enormes. Die Realität in unseren Krankenhäusern sieht dieser Tage vielerorts dramatisch aus. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind durch zahlreiche Krankheitsfälle am Kapazitätslimit, und das nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Aber nicht nur die Ärzte und das Pflegepersonal sind es, die das Gesundheitswesen dieser Tage aufrechterhalten; es sind auch die Beschäftigten im Hintergrund, all jene, die für die Logistik, den Service und die Reinigung zuständig sind. Die Krankenhäuser stehen jetzt vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung: Einerseits ist ihr klarer Auftrag, das Leben von Menschen zu retten, derzeit mit überfüllten Infektionsstationen und Intensivbetten. Aber andererseits sind sie eben auch Unternehmen. In einer sozialen Marktwirtschaft, die wir in Deutschland glücklicherweise haben, treffen Unternehmen nun mal auch ihre eigenen Entscheidungen. Aus verschiedensten Gründen müssen dabei häufig Maßnahmen durchgesetzt werden, die schwerfallen, und sicherlich haben sich die Verantwortlichen der Sana Kliniken diese schwierige Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber solche Entscheidungen basieren nun einmal auf wirtschaftlichen Faktoren, und das müssen wir respektieren. Wenn die Sana Kliniken bekräftigen, dass ihre Tochtergesellschaft nicht mehr ausreichend auf die gegenwärtigen Herausforderungen vorbereitet ist, dann müssen wir das nun zuerst einmal akzeptieren; ({0}) aber wir müssen es auch mit einem wachsamen Auge im Blick behalten. Denn eines ist völlig klar: Die Lösung kann nicht sein, dass sich der Staat alle Gesundheitsunternehmen einverleibt. Die Lösung kann aber auch nicht sein, dass der Staat private Unternehmen stützt und diese ihre eigenen Beschäftigten in der Folge schlecht behandeln. ({1}) Durch umfangreiche Rettungsschirme hat der Bund dafür gesorgt, dass die besonders von der Krise betroffenen Kliniken finanziell unterstützt werden; denn kein Krankenhaus soll wegen des Wegfalls von planbaren Eingriffen ({2}) und Untersuchungen während der Coronakrise schließen müssen. Zudem haben wir mit dem Krankenhauszukunftsgesetz ein beispielloses Investitionsprogramm auf den Weg gebracht. Der Bund hat also seine Aufgaben mehr als wahrgenommen. ({3}) Wir können daher jetzt nur eindringlich an die Verantwortlichen appellieren, eine tragbare Lösung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Servicegesellschaft zu finden. Ich glaube, dass die Gewerkschaften in diesen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen, damit ein gutes Ergebnis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sana Kliniken erreicht werden kann. ({4}) Ich appelliere an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich an die Verantwortlichen der Sana Kliniken: Die Aufgaben und Tätigkeiten der durch den Abbau von Stellen weggefallenen Mitarbeiter dürfen auf gar keinen Fall auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege abgewälzt werden. Das würde ohne Zweifel zu einer untragbaren Belastung führen, und das wäre fatal. In dieser kritischen Phase der Pandemie ist es umso entscheidender, den Pflegenden eine Last abzunehmen. Ich bitte Sie: Finden Sie umgehend eine akzeptable Lösung mit allen Beteiligten. Ich glaube, dass es wichtig ist, in dieser schwierigen Zeit zusammenzustehen und nicht eine soziale Spaltung durch solche Entscheidungen in Kauf zu nehmen. ({5}) Nur mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann eine gute Lösung gefunden werden. Auch mit den Pflegekräften, den Ärzten und vor allem mit den Patienten in den betroffenen Regionen muss gesprochen werden. Ich bitte die Verantwortlichen der Sana Kliniken darum, noch mal gut darüber nachzudenken, wie eine sozial tragbare Entscheidung aussehen kann. Die CDU/CSU-Fraktion steht für die soziale Marktwirtschaft, für Verantwortung der Unternehmen, aber auch für gute Arbeitsbedingungen ({6}) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Johannes Schraps. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es jetzt in der Debatte schon mehrfach gehört: Die angekündigte Massenentlassung in der Tochterfirma der Sana Kliniken AG, der DGS pro.service GmbH, hat vollkommen zu Recht einen großen Aufschrei mit sich gebracht. Mehr als 1 000 Beschäftigte sollen bis Ende des Jahres deutschlandweit entlassen werden, und deshalb ist es wichtig, dass wir diese Thematik hier heute diskutieren und dass sie aufgesetzt worden ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die Sana AG ist ein profitabler Klinikkonzern mit mehr als 50 Standorten in Deutschland, einem Umsatz von 2,8 Milliarden Euro und einem Gewinn von 67 Millionen Euro in 2019. Die Sana DGS pro.service ist als 100-prozentige Tochtergesellschaft der Sana Immobilien Service GmbH Teil der Sana Kliniken AG und an jedem einzelnen Standort der Sana AG tätig. Einer dieser Standorte befindet sich bei mir im Wahlkreis, im Weserbergland. Das ist das Sana Klinikum Hameln-Pyrmont, direkt an der Weser in der Rattenfängerstadt Hameln. Wir hören ja häufig davon in den Nachrichten, wenn sich große Konzerne, aus welchen Gründen auch immer, dazu entschließen, Entlassungen durchzuführen. Für die meisten Beobachter ist das dann sehr weit weg, weil es ja viele Standorte betrifft und weil sich die große Zahl der Entlassungen meist aus vielen kleinen Zahlen zusammensetzt. Aber wie auch in vielen anderen Fällen lohnt sich ein Blick darauf, was das eigentlich vor Ort bedeutet. Auch in Hameln wird es bis Ende dieses Jahres mindestens 36 Beschäftigte treffen. Das ist jetzt vielleicht eine kleine Zahl; an anderen Standorten werden es ähnliche Zahlen, an wiederum anderen vielleicht auch höhere sein. Und überall ist es schlimm; denn für jeden einzelnen Betroffenen und jede einzelne Betroffene ist es schlimm, zu den Entlassenen zu gehören, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich bin in den letzten Jahren und Monaten mehrfach in diesem Klinikum gewesen, um mit der Geschäftsführung zu sprechen, um mir von den Ärzten das Coronaprozedere erläutern und zeigen zu lassen und um zu hören, wie es dem Pflegepersonal mit der Belastung in der Coronasituation geht – auch um hier in Berlin dann anschaulich weiterleiten zu können, dass die Belastung am Limit ist, vor und während der Coronapandemie. Mit Manuel Strohdeicher ist übrigens einer der Pfleger aus diesem Hamelner Sana Klinikum von den Patientinnen und Patienten zum beliebtesten Pfleger des Jahres 2019 in Deutschland gewählt worden. Er hat diesen Preis damals, Ende 2019, hier im Reichstagsgebäude in einer Feierstunde übergeben bekommen. Manuel Strohdeicher steht aber für ganz viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im gesamten Klinikum; denn so ein Klinikum – das hat Manuel Strohdeicher damals in seiner Dankesrede auch deutlich gemacht – ist ein sensibles Gebilde, in dem viele Rädchen richtig ineinandergreifen müssen, damit das große Ganze funktioniert. ({2}) Es ist knapp sechs Monate her, da konnte ich mich ganz persönlich – mitten in der Coronazeit – davon überzeugen, dass genau diese Rädchen trotz der extrem schwierigen Situation ineinandergreifen: Am 1. November letzten Jahres wurde ich in ebendiesem Sana Klinikum an der Achillessehne operiert, die ich mir einige Tage zuvor beim Fußballspielen gerissen hatte, nicht beim FC Bundestag. Ich darf an dieser Stelle deshalb nicht nur dem operierenden Arzt, nämlich Professor Dr. Hankemeier, dafür danken, dass ich heute, ein halbes Jahr später, hier stehen kann und mich auf sportliche Betätigung wieder freuen kann, wenn das bald wieder möglich ist. Aber ich kann mich genauso beim Team der Notaufnahme, der Anästhesie, der Radiologie, bei den Stationspflegerinnen und Stationspflegern, bei der Physiotherapie, beim Narkoseteam, bei den Auszubildenden, beim Nachtdienst, bei den Reinigungskräften, bei allen bedanken, die ich vielleicht persönlich gar nicht gesehen habe, die aber mit ihrem Wirken im Hintergrund zum Funktionieren dieses Krankenhauses beigetragen haben. ({3}) Ich hatte die Tochterfirma der Tochterfirma der Sana Kliniken AG, die DGS pro.service, ja gerade bereits genannt. Neben der Unterhaltsreinigung der Sana Kliniken gehören auch die Stationsassistenz, die Hol- und Bringedienste, die Pforten- und Sicherheitsdienste – das ist gerade schon genannt worden – zum Portfolio dieser Firma. 3 000 Beschäftigte, viele davon in Teilzeit, sind Teil dieses Krankenhaussystems, wo ein Rädchen in ein anderes greifen muss. Sie werden zum größten Teil von diesen Entlassungen betroffen sein; 1 000 von ihnen sollen jetzt entlassen werden. Und wenn der Vorstand der Sana Kliniken AG gestern dem Gesundheitsausschuss schreibt, dass die „Teilbetriebsschließung“ – also alles außer Reinigung ist eben auch nur ein Teil, wenn auch ein großer – für die Beschäftigten keine tarifabsenkende Wirkung haben soll, dann frage ich mich: Warum macht man das denn dann überhaupt, verehrte Kolleginnen und Kollegen? ({4}) Man kann ja übrigens auch weiter dasselbe verdienen, aber im Endeffekt deutlich mehr zu tun haben, wenn einem die entlassenen Kolleginnen und Kollegen an der Seite fehlen. Mit erhöhtem Arbeitsaufwand und schlechterer Versorgungsqualität werden damit auf dem Rücken von Patientinnen und Patienten und auf Kosten der Beschäftigten massive Einsparungen vollzogen, um die Profite der Anteilseigner zu steigern. Über ihre Werte und Verlässlichkeit – das ist mein abschließender Satz, Herr Präsident – schreibt Sana übrigens auf der eigenen Homepage: Unsere Mitarbeiter sind unser höchstes Gut, all unser Tun ist geprägt durch den respektvollen Umgang untereinander. Liebe Sana Kliniken Aktiengesellschaft, dies ist die falsche Entscheidung zum noch falscheren Zeitpunkt. Überdenken Sie noch einmal genau, was Sie da entschieden haben! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schraps. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Roy Kühne. ({0})

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Korte, ich bin ein bisschen überrascht, mit welcher Emotionalität Sie in Ihrer Rede de facto ein sozialistisches Gesundheitssystem beschrieben haben. ({0}) Mit einem solchen System bin ich groß geworden und kann genau beurteilen, was man machen musste, um nach einer Sportverletzung oder nach einem Alltagsunfall zeitnah einen Arzttermin oder einen Röntgentermin beim Hausarzt oder beim Facharzt zu bekommen. Glauben Sie mir: Das möchte ich nicht noch mal erleben. ({1}) Ich wehre mich – das sage ich Ihnen auch ganz offen – im Namen vieler Leistungserbringer in diesem wirklich funktionierenden, durchaus an der einen oder anderen Stelle besser zu machenden Gesundheitssystem gegen den Generalverdacht, dass es einfach immer nur um Gewinnmaximierung geht. Ich kenne viele, viele Leistungsanbieter, auch Krankenhäuser, Pflegedienste, niedergelassene Ärzte, ({2}) die gut zahlen, die gute Arbeitsbedingungen bieten und sich respektvoll um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern. Ich kann nicht verstehen, dass Sie immer dieses Pauschalurteil aussprechen. Das sind Menschen; diese Menschen schaffen Umsatz; sie sind da; sie schaffen Zukunft, und sie schaffen Perspektive. ({3}) Ich lehne Ihren Generalverdacht ab; das sage ich ganz offen. ({4}) Und ich kann Ihnen Weiteres sagen, Herr Korte. In meinem Wahlkreis hat es die Möglichkeit gegeben, ein Krankenhaus zu rekommunalisieren. Ich habe mit dem Landrat und mit Politikern vor Ort darüber geredet. Ich sage Ihnen ganz offen: Die Antwort war: Nein, das wollen wir nicht. ({5}) – Weil die Bedingungen so sind, wie sie sind. Weil man teilweise auch unter Druck steht ({6}) und es gar nicht so einfach ist, einen solchen Betrieb am Laufen zu halten. ({7}) Da kommen Sie mit dem Schönreden nicht weiter. Das war übrigens nicht ein Parteigenosse von mir, sondern einer von Ihnen, der sagte: Nein, Roy, ({8}) das ist unternehmerisches Tun. Damit will ich nichts zu tun haben. ({9}) Und ich sage Ihnen: Ich bin dankbar, dass wir Menschen in diesem Staat haben, die Verantwortung übernehmen, auch unternehmerische Verantwortung. ({10}) Kommen wir doch mal zum Punkt. ({11}) Was Sie wollen, ist ja, dass wir uns hier generell mit den Bedingungen auseinandersetzen sollen. Sie fordern eine Aktuelle Stunde, und wir reden über Leistungsanreize. Der Kollege hat es vorhin gesagt: Was wollen Sie einem Unternehmer im Gesundheitssystem, der eine Leistung erbringt, an Gewinn zubilligen, damit er Risiko eingehen kann, ({12}) damit er Rücklagen bilden kann, damit er vielleicht sogar investieren kann? Was billigen Sie ihm zu, damit er mit seinem Arbeitsplatz nicht nur seine Familie ernähren kann, sondern auch die seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen kann? Ich glaube, auch diese Diskussion müssen wir zulassen und über Leistungsanreize reden. Sicherlich, es gibt auch Diskussionen über Fehlanreize; ({13}) daraus machen wir auch gar keinen Hehl. Ich möchte nur nicht, dass das auf dem Rücken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Sana ausgetragen wird. Ich glaube, wir alle in diesem Raum sind uns einig, dass das, was Sana momentan macht, auf Kosten der Menschen geht. Ich sage Ihnen ganz offen: Das lehne auch ich ab. Wir haben sicherlich – das ist die Frage, die man stellen muss – in den letzten anderthalb Jahren viel für die Stärkung der Krankenhäuser getan, gerade um diese Coronakrise zu überwinden. Ich äußere hier auch ganz klar mein Unverständnis darüber: erst Geld zu kassieren von Bund und Land und jetzt mit einer Umstrukturierung zu beginnen, bei der man – das sage ich auch ganz offen – völlig unsensibel mit dem Thema umgeht. Umstrukturierungen in Firmen sind ganz normal, um neue Wege zu gehen. Es wurde auch gesagt: Die Mitarbeiter müssen einbezogen werden. Wir sind ja noch gar nicht in dem Prozess, um sagen zu können, wie es weitergeht. Vielmehr müssen wir gucken: Wie kann ein Betrieb so funktionieren, dass die Arbeitsplätze nachhaltig erhalten bleiben? Ich missbillige ganz klar, was Sana dort aktuell tut. Aber ich billige, dass Firmen in Deutschland in und nach einer Krise überlegen: Wie geht es weiter? Wir wollen sie danach weiterhin als Arbeitgeber haben mit fleißigen Arbeitnehmern und Leuten vor Ort, die den Betrieb aufrechterhalten. Letztendlich – muss man ganz klar sagen –: Auch aus meiner Sicht kein Verständnis für das Verhalten von Sana. Ich hinterfrage auch ganz bewusst die Personalentwicklung; denn wir haben ja im Pflegestärkungsgesetz dafür gesorgt, dass 100 Prozent Refinanzierung erfolgt. Deshalb gibt es aus meiner Sicht dafür Unverständnis, dass Sana in der Richtung jetzt so arbeitet, wie sie arbeiten. Noch einmal, um die Sache zum Schluss auf den Punkt zu bringen. Das ist für mich kein Thema von Wahlkampf oder Nicht-Wahlkampf, sondern es geht darum – das wurde hier mehrfach gesagt, auch von den Grünen –, zu hinterfragen: Welchen Systemregeln wollen wir folgen? Was wollen wir? Wir wollen eine Gesundheitsversorgung vor Ort. Wir wollen motivierte Kräfte, angefangen von der Pflegekraft bis zum Arzt, die mit Freude jeden Morgen zur Arbeit gehen und sagen: Jawohl, wir arbeiten in einer ganz bestimmten Arbeitszeit, ({14}) ab und zu auch mal mit Überstunden – das gehört zum Alltag dazu –, ({15}) aber wir fühlen uns wohl. Letztendlich müssen wir die Diskussion zulassen – das ist für die kommende Legislatur wichtig –: Welche Anreize setzen wir? Denn wir haben auch Leistungserbringer – das müssen Sie auch ganz klar zugeben – in mehreren Bereichen – da rede ich aber nicht über den Bereich Krankenhaus –, die momentan den Betrieb aufgeben, die sagen: Es lohnt sich nicht, im Gesundheitssystem tätig zu werden. ({16}) Das darf nicht passieren. Das sind wertvolle Menschen, die für die Versorgung gerade auch in ländlichen Regionen wichtig sind. Deshalb meine Bitte – ich bin gleich fertig, Herr Präsident –, meine Forderung an Sana: Redet mit den Menschen! Denn diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt entlassen werden sollen, haben in den letzten 15 Monaten ihrem Betrieb wirklich den Rücken freigehalten, es sind loyale Mitarbeiter, und sie haben Respekt und mehr Anerkennung verdient. Danke. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Roy Kühne. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz, das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz, hat einen sperrigen Namen, ist aber ein ganz wesentlicher und wichtiger Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit. Die Menschen haben oftmals den gegenteiligen Eindruck, nämlich: Die Kleinen zahlen brav die Steuern, die Großen lässt man mit manchen Ungereimtheiten durchkommen. – Das Steuerrecht ist auch anfällig für manche Ungleichheiten. Die mit hohen Einkommen, mit Vermögen und große Konzerne können dank professioneller Beratung und ganzer Steuerabteilungen bei den Steuern gestalten, manchmal ein bisschen tricksen, und manchmal ist das auch illegal. Mit diesem Gesetz machen wir klar: Wie wollen mehr Steuergerechtigkeit und sagen dem Betrug ganz klar den Kampf an. ({0}) Wenn man über den Betrug mit der Bescheinigung und der Rückerstattung von Kapitalertragsteuern spricht, dann wissen die wenigsten, was damit gemeint ist. Die Begriffe Cum/Ex, Cum/Cum, Cum/Fake sind den Leuten da schon mehr ein Begriff. Es geht darum, dass Aktienpakete um den Dividendenstichtag herum hin- und hergeschoben wurden und so Steuern gespart respektive für eine Aktie die Kapitalertragsteuer sogar mehrfach rückerstattet wurde. Wir haben dem nicht erst jetzt den Kampf angesagt. Es sind zum Teil hochkriminelle Machenschaften gewesen. Im Jahr 2012 wurden die letzten Cum/Ex-Praktiken unterbunden. Es gibt eine juristische Aufarbeitung und erste Verurteilungen. Bereits 1,1 Milliarden Euro dieser Betrügereien wurden zurückgeholt. Auch das ist ein gutes Zeichen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Mit diesem Gesetz wollen wir vor die Welle kommen. Wir wollen Steuerbetrug wie Cum/Ex, Cum/Cum, Cum/Fake frühzeitig erkennen. Wir wollen Lücken, wenn es welche geben sollte, schnell schließen und nicht hinterherlaufen. Jetzt geht es darum, hier in die Vorhand zu kommen. Deswegen ist das Gesetz so wichtig. ({1}) Was machen wir? Wir vereinfachen und digitalisieren das Verfahren der Rückerstattung der Kapitalertragsteuer und konzentrieren das beim Bundeszentralamt für Steuern. Das ist ein erster wesentlicher Teil. Zweitens möchte ich Herrn Eigenthaler von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft aus der Anhörung zitieren. Er hat gesagt, dass wir als Politiker natürlich in der Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler und der Steuerzahlerin stehen, dass aber auch die Banken die Verantwortung haben, die hohen finanziellen Schäden, die diese Praktiken auch in der Kreditwirtschaft verursacht haben, zu verhindern. In den Tiefen und Verzweigungen des Wertpapierhandels und der Verwahrketten boten sich immer wieder Möglichkeiten der Steuergestaltung. Wir schaffen jetzt eine Kapitalertragsteuerdatenbank. Wir bringen Licht ins Dunkel. Diejenigen, die eine Bescheinigung der Kapitalertragsteuer ausstellen, müssen umfangreiche Informationen über die Gläubiger, die Kapitalerträge, die Wertpapiere und auch die Verwahrkette liefern, damit klar ist, wer eigentlich der Eigentümer dieser Aktie ist, wer berechtigt ist, eine solche Bescheinigung zu bekommen, damit es solche Betrügereien nicht mehr geben kann. Neben dieser erweiterten Informationspflicht wird drittens die Haftung für fehlerhafte Steuerbescheinigungen verschärft. Die Aussteller von Steuerbescheinigungen haften verschuldensunabhängig für falsche Angaben. Es geht also darum, Informationen zu beschaffen und zu gewährleisten, dass die Angaben richtig sind, damit Betrügereien nicht mehr stattfinden können. Das ist auch möglich. Natürlich gab es Anmerkungen, es sei schwierig, diese Informationen zu beschaffen, das sei ein hoher Aufwand. Nein, die Anhörung hat gezeigt: Das ist möglich. Es ist auch im Interesse der ausstellenden Stelle; denn sie wollen ja keine fehlerhaften Bescheinigungen mehr ausstellen. Und es ist auch im Interesse desjenigen, der seine Kapitalertragsteuer rückerstattet bekommen möchte. Es ist also möglich und richtig, und es ist ein richtiger und wichtiger Schritt, um solche Betrugspraktiken in Zukunft auszuschließen. Es ist also ein wichtiges, gutes und wegweisendes Gesetz, das heute mit breiter Zustimmung hier verabschiedet werden kann. Danke schön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Michael Schrodi. – Der nächste Redner für die Fraktion der AfD ist der Abgeordnete Albrecht Glaser. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz. Mit diesem Artikelgesetz sollen Änderungen an zahlreichen Gesetzen vorgenommen werden, alle mit dem Ziel, die Erstattung von Abzugsteuern zu regeln. Abzugsteuern sind Steuern, die an der Einkunftsquelle einbehalten werden. Das ist beispielsweise der Fall bei Dividenden, bei denen das auszahlende Unternehmen die Kapitalertragsteuer einbehält und direkt an den Fiskus abführt. Deutschland hat mit zahlreichen Ländern Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen, die regeln, dass beispielsweise der ausländische Wohnsitzstaat des Dividendenempfängers das Anrecht auf Besteuerung hat und insofern Deutschland kein Besteuerungsrecht mehr hat. In diesem Fall darf der Empfänger einer Dividende abgeführte Kapitalertragsteuer zurückfordern. In der Vergangenheit haben sich Banken und Großanleger durch Ausnutzung von Verfahrensmängeln und Gesetzeslücken die Kapitalertragsteuer zu Unrecht erstatten lassen. Diese Betrügereien sind als Cum/Ex-Geschäfte bekannt geworden und haben den deutschen Staat um zweistellige Milliardenbeträge geschädigt. Erste Warnungen gab es bereits 1992. Wirklich aufgedeckt aber wurde dieser Steuerbetrug erst nach und nach ab dem Jahr 2010. Die politische Befassung mit dem Problem erfolgte erst 2016/2017 im Rahmen eines Untersuchungsausschusses. Die rechtliche Aufarbeitung dauert bis heute an. Der Finanzminister ist vor einigen Tagen selbst als Zeuge in einem Verfahren der Hamburger Variante des Cum/Ex-Geschäftes vernommen worden. Aber nicht nur der gegenwärtige Finanzminister, nein, auch die anderen Finanzminister der Merkel-Regierung, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble, haben diesen Steuerbetrug nicht wirksam bekämpft. ({0}) Dieser Gesetzentwurf soll es nun richten. Trotz der nun sehr langen Arbeit von vielen Jahren ist der heute vorgelegte Entwurf leider nicht ausgereift; das zeigen schon die 26 Änderungsanträge der Koalition zum eigenen Gesetzentwurf. Die Sachverständigen, die sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung äußerten, waren ebenfalls enttäuscht. Von einer „Reform aufs Geratewohl“ war die Rede. Besonders stechen Haftungsanforderungen ins Auge – es war gerade die Rede davon, wenn auch mit anderer Prononcierung –, bei denen Banken für Angaben von Dritten einstehen sollen, selbst wenn sie kein Verschulden trifft oder sie die Informationen auf legalem Wege gar nicht beschaffen können. Von einigen Sachverständigen wurde diese Regelung als verfassungswidrig angesehen. Es spricht vieles dafür, dass das auch so ist. Auch die neu eingeführte Verpflichtung von Aktiengesellschaften, vor jeder Hauptversammlung die Identität aller Aktionäre festzustellen – bei einem Unternehmen wie Siemens sind das etwa 850 000 –, ist für die Beteiligten unzumutbar, und – was viel entscheidender ist – es bringt überhaupt keinen Nutzen, um das Problem, um das es geht, zu lösen. Hier gilt leider also erneut, meine sehr verehrten Damen und Herren: schlechtes Handwerk und maximale Schikane für die Steuerpflichtigen. ({1}) Bei so viel Schatten gibt es auch Licht: Die Übertragung der Zuständigkeit und damit Zentralisierung des Erstattungsverfahrens an das Bundeszentralamt für Steuern begrüßen wir ebenso wie die Digitalisierung der Antragsbearbeitung, die leider erst ab 2024 zu erwarten ist. Insgesamt werden wir uns enthalten, obwohl wir einer qualitätsvollen Legislation sehr gerne zugestimmt hätten. Die hastig eingereichten Änderungs- und Entschließungsanträge der Grünen fügen den Mängeln des Gesetzentwurfs noch weitere Mängel hinzu. Die FDP stellt ganz andere Themen ins Schaufenster, die mit dem Gesetzentwurf nichts zu tun haben. Aber auch das ist business as usual. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Glaser. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Fritz Güntzler. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Entlastung von Abzugsteuern und der Bescheinigung der Kapitalertragsteuer, also ein schönes Gesetz, das man kurz Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz nennen kann; das ist ein schöner Begriff. Es ist ein technisches Gesetz, aber – Herr Kollege Schrodi hat schon darauf hingewiesen – ein Gesetz mit großer Wirkung. Herr Kollege Glaser, ich wundere mich schon, dass Sie kritisieren, dass es 26 Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen gibt. Für mich ist das ein Beweis dafür, dass die Koalitionsfraktionen ihre Arbeit machen. ({0}) Ich hätte mir gewünscht, dass auch Sie Änderungsanträge eingebracht und somit dazu beigetragen hätten, den Gesetzentwurf noch ein bisschen besser zu machen, anstatt nur kluge Reden zu halten. ({1}) Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Es wäre schön, wenn Sie mal einen Antrag eingebracht hätten. Dann hätten Sie den Gesetzentwurf mit verbessern können. ({2}) Das bestehende Kapitalertragsteuerentlastungsverfahren wird durch dieses Gesetz verbessert. Es gibt eine Reduzierung und Verschlankung des gesamten Verfahrens. Die Digitalisierung des Entlastungsverfahrens ist angesprochen worden. Wir haben den Aufbau einer Kapitalertragsteuerdatenbank geplant, und es gibt eine Haftungsverschärfung für die Aussteller von Kapitalertragsteuerbescheinigungen, und dies verschuldungsunabhängig. Was ist die Kapitalertragsteuer? In Deutschland liegt sie bei 25 Prozent. Es handelt sich um eine besondere Erhebungsform zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer. Sie fällt auf inländische Erträge an, unabhängig davon, ob sie von In- oder Ausländern erzielt werden, und wird an der Quelle erhoben. Aber es besteht die Möglichkeit, sich diese Quellensteuer unter besonderen Umständen erstatten oder anrechnen zu lassen; das ist durch die Doppelbesteuerungsabkommen geregelt. Dadurch gibt es eine Entlastungswirkung von bis zu 100 Prozent. Die Kapitalertragsteuerbescheinigung ist also von hohem Wert, weil man durch sie letztlich den Anspruch hat, Geld wiederzubekommen. Wir haben aber erleben müssen, dass es bei Geschäften um den Dividendenstichtag herum – Cum/Cum, Cum/Ex – sogar die Möglichkeit gab, zwei Kapitalertragsteuerbescheinigungen zu bekommen. Das heißt, obwohl nur einmal eine Dividende gezahlt wurde, wurde zweimal Kapitalertragsteuer erstattet. Von daher ist es wichtig, dass wir diese Punkte nacharbeiten, die neuen Formen der Digitalisierung nutzen, aber eben auch die Verantwortlichkeiten schärfen. Es wird im Bereich der Kapitalertragsteuerbescheinigung zusätzliche Informationen für die Finanzverwaltung geben. Diese werden komplexer und auch schwieriger zu lesen sein, weil viel mehr Informationen vorhanden sind. Aber diese Informationen geben der Finanzverwaltung eben die Möglichkeit, entsprechend zu handeln. Wir haben in der Diskussion über diesen Gesetzentwurf natürlich abwägen müssen, ob dieser erhebliche Verwaltungsmehraufwand bei den Ausstellern, bei den Banken und bei den Verwahrstellen gerechtfertigt ist. Natürlich befinden wir uns im Gesetzgebungsverfahren ständig in einem Abwägungsprozess. Aber hier mussten wir abwägen zwischen dem Bürokratiemehraufwand für die Aussteller auf der einen Seite und der Steuergerechtigkeit auf der anderen Seite, um Steuerbetrug gezielt zu verhindern. Das Ergebnis unserer Abwägung ist eindeutig ausgefallen. Deshalb meinen wir, dass dies ein guter Entwurf für ein Gesetz ist, das gegen Steuerbetrug wirken wird. ({3}) Wir haben in diesem Gesetzentwurf – das ahnt man bei der Überschrift nicht unbedingt – noch eine andere wichtige Sache geregelt, nämlich die Änderung der Biersteuermengenstaffel; denn das Brauwesen spielt in Deutschland eine ganz besondere Rolle. Auch die Biersteuer als Landessteuer, als indirekte Verbrauchsteuer mit einem Aufkommen von knapp unter 600 Millionen Euro, hat eine besondere Bedeutung. Die Biertrinker hier wissen vielleicht gar nicht, dass auf einen Hektoliter übliches Vollbier 9,44 Euro an Biersteuer anfallen. Wenn Sie das auf ein 0,2-Liter-Bier umrechnen, sind das ungefähr 1,9 Cent. Wir haben ungefähr 1 500 Braustätten in Deutschland – übrigens die Hälfte davon in Bayern, die meisten als mittelständische Unternehmen und Kleinunternehmen geführt –, die in dieser pandemischen Lage natürlich erhebliche Probleme haben. Sie sind indirekt davon betroffen, dass gastronomische Betriebe und Hotels geschlossen sind. Der Umsatz aus dem Fassbierverkauf ist erheblich zurückgegangen und kann durch den zusätzlichen Verkauf von Flaschenbier kaum ersetzt werden. Es ist daher richtig, dass wir neben den Coronawirtschaftshilfen, die wir leisten, nun auch etwas für die Brauereigaststätten tun, indem wir uns um die Biersteuer kümmern. Es gab schon eine Herabsetzung der Biersteuer für Brauereien mit einem Ausstoß bis zu 200 000 Hektoliter. Diese Sätze, die zuletzt 2004 erhöht worden sind, haben wir noch einmal herunterfahren können. Damit erreichen wir 95 Prozent aller Brauereien. Das sind immerhin Entlastungen im Umfang von 7 Millionen Euro. Auch wenn das nicht ganz so viel Geld ist wie vielleicht bei der Kapitalertragsteuer, ist das, glaube ich, ein wichtiges Signal, das wir senden. Die UNESCO hat unser traditionelles Brauhandwerk als immaterielles Kulturerbe anerkannt, und das sollten wir nicht nur als Biertrinker, sondern auch als Gesetzgeber ein wenig unterstützen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Prost, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Hessel von der FDP-Fraktion.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Cum/Ex und Biersteuer, das sind zwei echte Kracherthemen. So etwas bespricht man normalerweise in der Kernzeit. ({0}) Cum/Ex war der größte Steuerraub der Geschichte. Durch Cum/Ex- und Cum/Cum-Gestaltungen gingen Deutschland ungefähr 30 Milliarden Euro durch die Lappen. Es geht bei Cum/Ex um das Hin- und Herschieben von Aktien rund um den Dividendenstichtag, sodass man sich Kapitalertragsteuer erstatten lässt, die man nicht gezahlt hat. Die Finanzaufsicht BaFin hat – das haben wir heute Morgen im Finanzausschuss besprochen – 2007 den ersten Hinweis darauf bekommen. Jetzt, 14 Jahre später, sprechen wir immer noch über dieses Thema. Das straft all jene Lügen, die sagen, das Thema sei geregelt; denn sonst müssten wir uns hier und heute nicht treffen und das Thema besprechen. ({1}) Es ist wichtig, dass wir endlich mit dieser Praxis aufräumen. Cum/Ex erscheint vielen Menschen erst mal kompliziert, aber eigentlich ist das Prinzip gar nicht so kompliziert. Man kann sich das so vorstellen: Ich kopiere mir zu Hause einen Pfandbon, gehe direkt an die Supermarktkasse und löse den Bon ein, obwohl ich keine Flaschen abgeben habe. – Es ist gut, wenn jetzt auch die Banken für den entstandenen Steuerschaden stärker in die Haftung genommen werden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Allerdings ist es fragwürdig, ob die Finanzinstitute überhaupt in der Lage sind, die Korrektheit ihrer Steuerbescheinigungen sicherzustellen; denn offenbar – das zeigt ja das ganze Meldewesen – gibt es keine hinreichende Klarheit darüber, wer die Steuer tatsächlich gezahlt und daher einen Erstattungsanspruch hat. Das soll jetzt durch umfangreiche Meldepflichten aufgewogen werden, aber insbesondere bei ausländischen Instituten und Verwahrstellen ist das kaum zu prüfen und zu überwachen. Es gäbe eine viel einfachere Möglichkeit – Die Linke hat das vorgeschlagen –, nämlich einen datenbankgestützten Abgleich, ({2}) um zu prüfen, ob diejenigen, die eine Steuererstattung beantragen, auch tatsächlich Kapitalertragsteuer gezahlt haben. ({3}) In diesem Zusammenhang will ich Herrn Professor Jarass zitieren, ({4}) der im „Handelsblatt“ unter der Überschrift: „Der Gesetzentwurf der Regierung gegen den Cum-Ex-Betrug ist untauglich“ geschrieben hat – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: In der Tat kann Cum-Ex-Betrug durch ein elektronisches Meldeverfahren für die Steuerbescheinigungen einfach verhindert werden, nämlich durch einen datenbankgestützten Abgleich aller Erstattungsanträge mit korrespondierenden Kapitalertragsteuerzahlungen. Dieser Abgleich wird durch den Gesetzentwurf aber nicht ermöglicht, Cum-Ex-Betrug wird deshalb durch den Gesetzentwurf nicht verhindert. Die Linke hat deswegen hier einen Antrag gestellt, der mit diesem Problem ein für alle Mal aufräumen würde. ({5}) Leider habe ich nur noch 15 Sekunden Redezeit. Daher kann ich das Thema Biersteuer nicht in angemessener Tiefe behandeln, Stichwort „UNESCO-Weltkulturerbe“. Nur so viel: Wir glauben, dass ein Steuerwettlauf der Länder um die niedrigste Biersteuer den kleinen Craft-Brauereien nicht helfen würde. Wir brauchen gezielte Finanzhilfen und Steuerstundung. In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch ein erfolgreichen Abend. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege De Masi. – Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Lisa Paus. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe sehr wohl, warum CDU/CSU und SPD das Gesetz hinter dem Namen „Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz“ verstecken. Eigentlich geht es hier – es wurde erwähnt – um Cum/Ex und Cum/Cum, und Cum/Ex steht nun mal für den größten und infamsten Steuerbetrug der deutschen Nachkriegsgeschichte. Finanzämter haben Steuern erstattet, die niemals gezahlt wurden. Valide Schätzungen beziffern den Schaden für Deutschland auf 30 Milliarden Euro, in Europa auf über 50 Milliarden Euro. Die Hochzeit dieses Steuerraubs war vor 10 bis 15 Jahren. Schon vor 5 Jahren gab es in diesem Hohen Hause auf Initiative der Grünen einen Untersuchungsausschuss zu diesem Thema. Seitdem läuft auch die strafrechtliche Aufarbeitung gegen diese Wirtschaftskriminellen. Das Who’s who der deutschen Banken ist daran beteiligt, auch die Hamburger Warburg Bank. Deswegen wurde in Hamburg jüngst ein Untersuchungsausschuss eingerichtet. Dabei geht es auch um die Rolle, die der jetzt stellvertretende Kanzler, damals Erste Bürgermeister von Hamburg, in dieser Angelegenheit gespielt hat. Was hat das alles mit diesem Gesetz zu tun? Seit fast zehn Jahren erzählen Sie von Union und SPD uns, Cum/Ex wäre ganz schlimm gewesen, aber das sei Geschichte. Die Gesetzeslücke, die Cum/Ex und illegale Tricksereien mit der Kapitalertragsteuer rund um den Dividendenstichtag möglich gemacht habe, sei 2012 geschlossen worden, das müsse jetzt noch aufgearbeitet werden, aber damit sei es eigentlich getan. – Richtig ist: Eine Ursache wurde abgestellt, und zwar die Gesetzeslücke. Aber eine andere Ursache, nämlich das nach wie vor herrschende Chaos bei den Steuerbescheinigungen, die Grundlage für eine Steuererstattung sind, besteht unverändert weiter. Damit besteht die andauernde Möglichkeit, mit diesen Bescheinigungen Erstattungen von Steuern zu erschleichen, die man nie gezahlt hat. Wir haben vielfach entsprechende Hinweise erhalten. Aber Sie haben über all die Jahre agiert wie die drei Affen: Ich kann nichts hören, ich kann nichts sehen, ich kann nichts sagen. – Das ist fahrlässig, meine Damen und Herren von Union und SPD! ({0}) Jetzt wollen Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den letzten Metern doch noch etwas ändern. Das plötzliche Problembewusstsein für diese Angelegenheit begrüßen wir ausdrücklich, aber besser wäre es, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Problem auch löst, und das tun Sie eben wieder nicht, noch nicht einmal nach zehn Jahren. So wird Cum/Ex in der Verantwortung von Union und Finanzminister Scholz offenbar zu einer unendlichen Geschichte. Dabei ist es doch eigentlich nicht so schwer; wir haben es schon gehört. Wir schlagen statt Ihrem unübersichtlichen und bürokratischen Monster mit nach wie vor nichtpersonalisierten Sammelbescheinigungen vor, dass die Ausstellung der Bescheinigungen nur noch durch eine Stelle erfolgt, nämlich das Bundeszentralamt für Steuern, das schon jetzt für sämtliche Steuerausländer zuständig ist. Wir sagen: Die Ausstellung erfolgt nur noch dann, wenn die Steuer durch den oder die Begünstigten nachweislich wirklich gezahlt wurde. Außerdem gibt es einen automatischen Datenbankabgleich zwischen Steuerpflichtigem und abgeführter Kapitalertragsteuer. So einfach, so simpel – man sollte meinen, das hätte man schon längst machen können; das ist aber bisher nicht passiert – könnte man den Betrug effektiv eindämmen. So werden wir jedenfalls vorgehen, wenn man uns lässt. ({1}) Darüber hinaus –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin!

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– ich komme zum Schluss, Herr Präsident –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– haben wir weitere drei Änderungsanträge zum Gesetzentwurf eingebracht. Wir wollen mögliche Cum/Cum-Geschäfte zusätzlich erschweren. Wir wollen die Steuervermeidung internationaler Konzerne durch interne Darlehen deutlich erschweren. Und wir wollen die Anzeigepflicht auch für nationale Steuergestaltungen einführen, damit bei Share Deals, Erbschaftsteuer und anderen aggressiven Gestaltungen in Deutschland schneller korrigiert werden kann. Stimmen Sie unseren Änderungsanträgen zu! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Abgeordnete Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gehört: Ziel des Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes ist es, Steuerbetrug zu bekämpfen und Steuergestaltungen unmöglich zu machen oder zumindest sehr zu erschweren, insbesondere bei grenzüberschreitenden Dividendenzahlungen. Michael Schrodi und Fritz Güntzler haben es schon gesagt: Es geht auch um Cum/Ex – was es schon lange nicht mehr gibt, Lisa Paus –, es geht auch um Cum/Fake – das ist ein Zwischending; das gab es vielleicht, aber in Deutschland noch nicht –, und es geht auch um Cum/Cum, eine Steuergestaltung, die erst mal möglich war; aber zumindest war es kein Betrug, soweit wir wissen. Was beschließen wir heute? Wir beschließen ein digitalisiertes Erstattungsverfahren; eine entsprechende Forderung wurde heute formuliert. Die Anzahl der Erstattungsverfahren wird reduziert; da besteht ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Damit erreichen wir sehr viel, indem dieses sogenannte Durcheinander sortiert, reguliert und reduziert wird. Die Finanzinstitute müssen mehr Mitteilungspflichten erfüllen. Ja, das erschwert die Arbeit, aber es ist klar, dass man für Gerechtigkeit und Regulierung auch Mitteilungspflichten braucht. Und das Bundeszentralamt für Steuern wird eine Kapitalertragsteuerdatenbank aufbauen. Genau das, eine solche Datenbank aufzubauen, hat Lisa Paus eben vorgeschlagen; und das passiert jetzt. Natürlich wird auch die Haftung der Aussteller solcher Bescheinigungen verschärft. Katja Hessel hat etwas Gutes gesagt: Bei der Gerechtigkeit gibt es keine Diskussionen. – Ehrlicherweise muss man aber sagen: Bei der Gerechtigkeit kann man gar nicht über das Ziel hinausgehen. Dass die Banken die Daten vorhalten müssen, das hast du heute, an deinem Geburtstag – herzlichen Glückwunsch! – noch mal kritisiert. Aber in Wahrheit ist es klug, die verschuldensunabhängige Haftung zu verbessern; denn die Banken haften für die Richtigkeit ihrer Daten. Ja, was sonst? Die Banken machen Geschäfte mit Leuten; dann müssen sie doch wissen, welche Geschäfte sie mit welchen Beträgen, mit welchen Absendern, in welchem Zusammenhang machen. Natürlich geht das auch im Ausland, und zwar ganz einfach: Man schließt Verträge mit seinen Kunden. Und das heißt auch, dass die Daten aus Verwahrketten – dabei muss es nicht immer um natürliche Personen gehen; es gilt auch für Körperschaftsteuererstattungsstellen – beantragt werden können. Diese Banken müssen Verträge mit den entsprechenden Stellen in den Verwahrketten schließen. Hätten wir das schon früher gehabt – ich sage mal, seit 30 Jahren –, dann hätte es keine Probleme mit Cum/Ex gegeben, dann hätte es keine Probleme mit Cum/Cum gegeben, sondern dann hätten wir das Problem prophylaktisch gelöst. Aber das war damals nicht bekannt – übrigens war es keinem bekannt. Jetzt kann man das leicht kritisieren, aber man hätte das ja auch vor 30 Jahren beantragen können. Das hat aber keiner gemacht. All die Schlaumeier, die zwischendurch gesagt haben: „Das hätte man sehen müssen!“, die hätten es damals ja auch selbst sehen können, statt nur zu sagen, andere hätten es sehen müssen. ({0}) Ich will ein weiteres Beispiel nennen – es geht nämlich nicht nur um Cum/Ex, es geht auch um andere komplizierte Sachen –: Im Umwandlungssteuerrecht gibt es zum Beispiel Gestaltungen, die darauf abzielen, einem Dritten im steuerlichen Rückwirkungszeitraum Verlustpotenzial – das sind sozusagen nicht realisierte stille Lasten – zur Verrechnung mit positiven Einkünften, also Gewinnen, nach einer Umwandlung zur Verfügung zu stellen. – Das ist ein sehr komplizierter Satz. Aber das machen Leute, um Steuern zu sparen. Wenn ich solch komplizierte Gestaltungen habe, dann kann ich nicht nur einfache Gesetze erwarten. Wir brauchen eine Abwehrgesetzgebung gegen solche Gestaltungen. Das ist auch richtig; denn das, was hier passiert, widerspricht erstens dem Subjektsteuerprinzip, zweitens der Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit und auch dem Ziel der Umwandlungsteuergesetzgebung. Die ist ja eigentlich dafür gedacht, dass wir Umwandlungen nicht steuerlich erschweren oder behindern. Insofern wird hier ein gutes und sozusagen bürgerfreundliches Gesetz missbraucht, um die gleichen Leute, die das Gesetz bürgerfreundlich gemacht haben, zu betrügen. Deshalb ist das Gesetz, um das es heute geht, notwendig und sinnvoll. Wir glauben, dass wir damit einen großen Schritt in Richtung Steuergerechtigkeit und Steuerehrlichkeit gehen. Deshalb ist es klug, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Lothar Binding. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz wird der Missbrauch bei der Entlastung von Abzugsteuern klar und deutlich bekämpft. Unberechtigte Entlastungen und Betrug werden in der Zukunft ausgeschlossen. Das Gesetz leistet wichtige Beiträge zur Verhinderung missbräuchlicher Steuergestaltungen. Ich nenne als Beispiele die Digitalisierung des Entlastungsverfahrens beim Bundeszentralamt für Steuern, eine Haftungsverschärfung für die Aussteller von Kapitalertragsteuerbescheinigungen und den Aufbau einer Kapitalertragsteuerdatenbank mit umfassenden Steuerbescheinigungs- und weiteren Daten. Meine Damen und Herren, das alles erleichtert es den Finanzbehörden, illegaler Steuergestaltung auf die Schliche zu kommen. Das ist die Leistung dieses Gesetzes. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({0}) Und das ist gut so; es darf keine Nachsicht mit denen geben, die sich auf Kosten der Allgemeinheit durch illegale Steuertricks Vorteile verschaffen. Damit komme ich zu den Cum/Ex-Anträgen der grünen und der linken Kolleginnen und Kollegen. Darin lese ich, der Staat müsse endlich den Cum/Ex-Steuerskandal beenden bzw. Cum/Ex verhindern. Eigentlich müssten also Linke und Grüne in Jubelstürme über den vorliegenden Gesetzentwurf ausbrechen; denn wir schaffen ja mehr Transparenz und legen illegalen Steuergestaltern das Handwerk. Cum/Ex-Geschäfte – auch das ist die Wahrheit; das steht außer Frage – waren immer illegal; sie waren von vornherein illegal. Wenn Sie jetzt so tun, als sei das irgendwann mal legal gewesen, dann ist das ein politischer Popanz. Das entspricht nicht der Wahrheit und nicht der gesetzlichen Grundlage, meine Damen und Herren. ({1}) Damit die Cum/Ex-Betrüger der Vergangenheit nicht mit ihrer Beute davonkommen, haben wir die Verjährungsfrist für diese Taten mit dem Jahressteuergesetz 2020 von 10 auf 15 Jahre verlängert. Das war die CDU/CSU, das waren insbesondere die Kollegen Güntzler und Brehm. ({2}) Wir als CDU/CSU-Fraktion haben massiv darauf gedrängt. Was zu tun war, wurde getan. Deshalb lehnen wir die Anträge der Linken und der Grünen ab. Wenn die Grünen aber tatsächlich ein so großes Interesse an der weiteren Aufklärung der Cum/Ex-Deals haben, dann sollten sie in Hamburg die parlamentarische Aufklärung der dortigen Vorgänge vorantreiben. ({3}) Ich höre aber, da ist in Hamburg wenig Ehrgeiz vorhanden. In der Hansestadt wurde der Vorstandssprecher einer tief in Cum/Ex verwickelten Privatbank vom Ersten Bürgermeister empfangen, und wenig später wurde eine Steuernachforderung gegen ebendiese Bank niedergeschlagen, meine Damen und Herren. Dafür sollten Sie sich einmal sensibilisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. So viel zur Ehrlichkeit der Grünen. ({4}) Meine Damen und Herren, all dies sind die schlimmen Seiten von Steuerbetrug. Aber, Herr Präsident, es gibt heute auch eine gute Nachricht für einen Präsidenten, der seine Heimat in Oberfranken hat. Oberfranken hat die größte Brauereidichte der Welt. Für diese Brauereien leisten wir etwas, indem wir eine Senkung der Biersteuer vornehmen; denn diese kleinen Brauereien sehen sich im Wettbewerb mit den ganz großen Brauereien massiven Wettbewerbsverzerrungen ausgesetzt. Wir wollen, dass diese kleinen, unabhängigen Brauereien auch in der Coronakrise überleben. Darum geht es, meine Damen und Herren. ({5}) Die kleinen und unabhängigen Brauereien sind die besondere Würze eines Bierangebots. Wir in Oberfranken wissen das zu schätzen. Wir in Oberfranken haben die höchste Brauereidichte der Welt. Diese Brauereien bilden regionale und lokale Identitäten ab. Wir tragen zur großen Vielfalt des Bierangebots in unserem Land bei. Das ist eine gezielte Förderung, eine gezielte Hilfe für kleine und mittelständische Unternehmen wie diese Brauereien. Ich denke, wir haben bewiesen, dass in der Coronakrise gezielte Hilfen – auch für die Brauereigaststätten – ganz hervorragend wirken. Diesen Unternehmen, diesen Brauereien, diesen Gaststätten eine Chance zu geben, die Krise zu überleben: Darum geht es. Es geht um zielgenaue Hilfen für die Coronageschädigten in der Coronakrise. Ich hoffe, dass wir mit dieser Steuererleichterungspolitik den richtigen Weg beschritten haben, so wie bei der Verlustverrechnung und allen anderen Maßnahmen. Jetzt gilt es, das zu gewichten. In den Wahlprogrammen sehen wir nur Steuererhöhungen. Die linke Seite will sogar die Vermögensteuer einführen. Steuererhöhungen auf breiter Front sind der falsche Weg, um die Wirtschaft aus der Krise herauszuführen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Hans Michelbach, auch für dein Bekenntnis zu unseren Brauereien. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Alle Jahre wieder missbrauchen Linksextremisten das Demonstrationsrecht, um am 1. Mai ihre staatsfeindlichen Gewaltexzesse in unseren Städten zu zelebrieren. Die Bilanz: Allein in Berlin 93 verletzte Polizisten – attackiert mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern –, über 350 Festnahmen. Immer wieder verwandeln gewalttätige Linksextremisten unsere Straßen in ein Schlachtfeld, und unser Staat ist nicht in der Lage, das effektiv zu unterbinden. Der 1. Mai ist der Beweis des Versagens dieser Regierung bei der Bekämpfung des Linksextremismus. ({0}) Und anstatt endlich effektive Maßnahmen gegen diese Gewaltverbrecher zu ergreifen, vermengen Sie extremistische Krawalle vom 1. Mai mit den Coronademonstrationen und erwecken so den Eindruck, dass nicht der Linksextremismus, sondern das Demonstrationsrecht unser Problem sei. Thorsten Frei von der Union fordert, die Demonstrationsfreiheit einzuschränken, wenn Coronaauflagen nicht eingehalten werden, und Dirk Wiese von der SPD fordert für diesen Fall sogar die volle Härte des Gesetzes. Wenn es also gegen regierungskritische Bürger geht, dann wollen Sie richtig aufräumen. Aber islamistischen Terroristen, Linksextremisten, Clankriminellen und sonstigen Gewaltverbrechern steht der Staat nahezu hilflos gegenüber. Das ist eine Politik, die sich gegen die eigenen Bürger richtet, und damit der völlig falsche Weg. ({1}) Hören Sie auf, Extremisten und friedliche Bürger in einen Topf zu werfen! Die Demonstrationsfreiheit ist ein hohes Rechtsgut – das wissen Sie alle –, und wenn friedliche Bürger für ihre verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf die Straße gehen wollen, dann müssen sie in einer Demokratie aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dies auch bei Auflageverstößen tun können; sie müssen das Recht und die Möglichkeit dazu haben. ({2}) Wenn aber gewalttätige Extremisten dieses Recht als Freifahrtschein für schwere Gewalttaten missbrauchen, dann hat der Staat hart und konsequent zu reagieren. Sie wollen null Toleranz für Regierungskritiker, aber Deeskalation bei Linksextremisten. Wir fordern das genaue Gegenteil: ({3}) Deeskalation bei bürgerlichen Protesten, aber null Toleranz mit niedriger Einschreitschwelle und robustem Zwangsmitteleinsatz, wenn Feinde unserer Demokratie den Staat herausfordern und massive Gewalttaten begehen. Linksextremisten tanzen unserem Staat und unserer Gesellschaft schon viel zu lange auf der Nase herum; damit muss endlich Schluss sein. ({4}) Linksextremismus wirksam bekämpfen bedeutet: die gewalttätige Antifa und das Terrorportal Indymedia endlich verbieten und alle von Extremisten besetzten Häuser umgehend und dauerhaft räumen. Die Antifa und linksextremistische No-go-Areas dürfen wir nicht länger akzeptieren. ({5}) Denn Linksextremismus eskaliert immer mehr zum Linksterrorismus. 2020 ist die Anzahl politisch motivierter Gewalttaten von links erneut um über 45 Prozent gestiegen, linke Gewalttaten gegen Polizeibeamte sogar um 79 Prozent. Und auch 2020 sind wieder über 80 Prozent der politisch motivierten Brandanschläge von Linksextremisten verübt worden. Das ist nichts anderes als systematischer Terror, und dieser darf nicht länger hingenommen werden. ({6}) Aber was tun Sie, anstatt diese Eskalation klar zu benennen und zu stoppen? Sie konzentrieren sich nahezu ausschließlich auf den Rechtsextremismus und fächern in den Sicherheitsberichten die Hasskriminalität immer weiter auf. Das Lagebild, das Sie erzeugen, ist dadurch stark verzerrt. Wenn Sie ein realistisches Bild vermitteln würden, dann müssten Sie zugeben, dass Sie bei der Bekämpfung des Linksextremismus kolossal versagen. ({7}) Wenn wir den Linksextremismus in seine Schranken weisen wollen, dann müssen wir auch die gesetzlichen Grundlagen zur Terrorbekämpfung anpassen. Dazu muss die Gesetzesänderung des § 129a StGB aus dem Jahr 2003 – also unter Rot-Grün beschlossen – wieder zurückgenommen werden; denn die Folgen sind fatal. Linksterroristische Brandstifter haben heute beinahe Narrenfreiheit, und das müssen wir unverzüglich korrigieren. Wer mittels Brandstiftung Terror verbreitet, der muss auch als Terrorist verfolgt und bestraft werden. ({8}) Ich gehe davon aus, dass das die Kollegen von der Union genauso sehen. Oder haben Sie gegebenenfalls Angst davor, sich bei Ihrem Koalitionspartner in spe, den Grünen, unbeliebt zu machen? Wenn Ihnen der Machterhalt wirklich wichtiger sein sollte als der Schutz der Bürger, dann verraten Sie deren vitale Sicherheitsinteressen und werden bei der Bundestagswahl Ihr blaues Wunder erleben. ({9}) Tatsache ist: Die Grünen relativieren und verharmlosen den Linksextremismus nicht nur, nein, Sie fördern und unterstützen ihn. Wer mit diesen Grünen eine Koalition eingeht, der nimmt eine weitere Ausbreitung des Linksextremismus und damit eine weitere Erosion der inneren Sicherheit nicht nur in Kauf, sondern er wirkt aktiv daran mit. Sie machen sich damit zu Handlangern von Staatsfeinden. Tiefer – das sage ich Ihnen ganz deutlich – kann man nicht mehr sinken. ({10}) Linksextremismus bekämpft man nicht mit Worten, sondern mit Taten. Unsere Anträge zeigen die hierfür notwendigen Maßnahmen auf. Beweisen Sie den Bürgern, dass Sie nicht nur Sonntagsreden halten, sondern auch entschlossen handeln können! Stimmen Sie unseren Anträgen zu! ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Abgeordnete Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der es sehen möchte, wird feststellen, dass unser Land langsam politisch nach links driftet. ({0}) Meine Partei und auch die CSU werden alles dafür tun, dass wir im September kein Kanzleramt haben, das zum rot-rot-grünen Wunschlabor umfunktioniert wird. Das ist politischer Wettstreit, der legitim ist. Nicht legitim und sogar problematisch wird es, wenn dieser politische Wettstreit zu linksextremistischer, rechtsextremistischer Gewalt ausartet. ({1}) Und, meine Damen und Herren, wir haben tatsächlich ein Problem: Innenminister Horst Seehofer und BKA-Chef Münch haben erst vorgestern die aktuelle Statistik der Politisch motivierten Kriminalität vorgestellt. Wir müssen traurig feststellen, dass sich diese mit 44 500 Straftaten auf dem höchsten Stand seit Bestehen dieser Statistik befindet. Besonders problematisch in diesem Zusammenhang ist, dass die Zahl der rechtsmotivierten Gewalttaten um 10,8 Prozent gestiegen ist – auf 1 092 Taten – und die Zahl der linksmotivierten Gewalttaten um 45,1 Prozent, und zwar auf 1 500 Taten. Das muss uns in der Tat beunruhigen, und das gehört zum Gesamtlagebericht dazu. Bevor sich die AfD jetzt wieder freut und das Martyrium bedient, dass der Linksextremismus die größte Gefahr ist, muss ich sie enttäuschen; denn nach wie vor ist es der Rechtsextremismus. ({2}) Jede zweite von diesen 44 500 Straftaten geht auf das Konto von Rechtsextremisten; das muss in diesem Zusammenhang auch noch mal erwähnt werden. ({3}) Wir haben ja eine ganze Reihe von AfD-Anträgen, die immer wieder das gleiche Klischee bedienen wollen: Die AfD kämpft als Einzige gegen den Linksextremismus, und die Linken kämpfen als Einzige gegen den Rechtsextremismus. Das schaukelt sich immer weiter hoch, und ich frage mich langsam wirklich: Wo soll das noch hinführen? In meiner letzten Rede hatte ich es bereits gesagt: Diese politisch motivierten Straftaten gehen immer einem gesellschaftlichen Klima voraus. Um dieses Klima mache ich mir echt Sorgen, und ich mache mir richtig Sorgen, wenn ich auf unseren öffentlich-rechtlichen Rundfunk schaue. Ich möchte mit Erlaubnis des Präsidenten einen Tweet des ZDF vom 1. Mai 2021 zitieren: Brennende Baumaschinen, Angriffe auf Wohnungsunternehmen. Und warum? Weil Wohnraum immer knapper und teurer wird. Angesichts der Tricks von Wohnungsbesitzern platzt manchen Mietenden der Kragen. Das tweetet das ZDF. ({4}) Kurz darauf, nach heftigem Protest, wird dieser Tweet gelöscht, und das ZDF sagt: Wir haben den Tweet zur Wohnraum-Doku gelöscht, er war ungünstig und missverständlich formuliert. Meine Damen und Herren, ich finde das nicht ungünstig und missverständlich, ich finde das sogar eine Sauerei, wenn 93 Polizisten allein in Berlin am 1. Mai bei diesen Anschlägen verletzt wurden. ({5}) Es ist leider auch kein Einzelfall mehr, dass unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk dazu beiträgt, Gewalt, die von linker Seite kommt, zu relativieren. Das muss aufhören, meine Damen und Herren. ({6}) Ich bitte das ZDF – Herr Präsident, ich komme zum Schluss –: Wenn es Ihnen schon schwerfällt, zu Ihrer politischen Neutralität zurückzufinden, dann tun Sie uns doch wenigstens den Gefallen und stellen sich geschlossen hinter unsere Polizistinnen und Polizisten. Denn das haben sie tatsächlich verdient. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Linda Teuteberg von der FDP-Fraktion hat das Wort. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde hier schon erwähnt: 93 zum Teil schwerverletzte Polizisten, 354 Festnahmen – das ist wahrlich eine bittere Bilanz dieses 1. Mai in Berlin. Ich glaube, nicht nur der Regierende Bürgermeister findet die bitter, und sie macht ihn wütend. Wir bräuchten aber nicht diesen Antrag, der heute hier vorliegt, um zu sehen, dass die politische Debatte über Linksextremismus wichtig ist, der nicht verharmlost werden darf. Denn die Polizistinnen und Polizisten und die anderen Beamtinnen und Beamten in unseren Sicherheitsbehörden verrichten ihre Arbeit in einem Klima, das Menschen mit politischer Verantwortung und medialer Reichweite schaffen. Da verbietet es sich, von Linksextremismus als aufgebauschtem Problem zu sprechen oder nach Gewaltkrawallen in erster Linie zu fragen, ob die Polizei verhältnismäßig gehandelt hat, anstatt die Krawallmacher zu bestrafen. ({0}) Wir müssen bei unseren Worten genau deshalb achtgeben, nicht ein Klima zu schaffen, das es den Beamtinnen und Beamten, die für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen und die für uns die Knochen hinhalten, schwer macht, gegen jeden Extremismus vorzugehen. Nun ist es klar: So eine Kanzlerkandidatur verpflichtet. Deshalb war von der Kollegin Baerbock auch ein staatstragendes Statement zu diesem 1. Mai zu erwarten. Aber wer mal hinschaut – hinter die Potemkin’schen Dörfer, hinter die Firnis bürgerlicher Fassade –, der entdeckt bei den Grünen auch viel Verharmlosung linker Gewalt. ({1}) Da braucht man nur zur grünen Fraktionsvorsitzenden in Hamburg zu schauen, die nach den Bildern in Hamburg auch nur nach der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf die Polizei fragt. Da gibt es Bezirksbürgermeister und Baustadträte, die sich zur Schutzmacht von militanten Hausbesetzern machen. Und leider gibt es selbst hier im Haus Kollegen wie Canan Bayram, die keinen Abstand zu denen halten, die zu Gewalt bei Demonstrationen aufrufen, wie hier in Berlin zum Thema Mietendeckel. Da ist es gut, dass der Innensenator in Berlin sehr deutlich macht: Wir brauchen das staatliche Gewaltmonopol gegen jeden Extremismus. Das ist wichtig. Aber auch er lässt Zweifel aufkommen, indem er die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht als Ansprechpartner für den Unmut gewaltbereiter Demonstranten gegen den Mietdeckel benennt. Unser System, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, braucht Vertrauen, gerade in der Pandemie. Wir dürfen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir es uns schwer machen und dass die Grundrechte nur so weit wie nötig und keinesfalls mehr als nötig eingeschränkt werden. Genau dafür tragen alle Verantwortung. Deshalb darf Gewalt nicht verharmlost werden, egal von welcher Seite. ({2}) Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die wir verteidigen wollen und müssen, setzt auf die Kraft der Argumente, nicht auf Gewalt, Einschüchterung oder Lautstärke. Deshalb ist das eine Daueraufgabe für uns. Dafür brauchen wir nicht diesen Antrag, aber den dauerhaften 360-Grad-Blick gegen jeden Extremismus. Das wird uns auch im Innenausschuss weiter beschäftigen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Der nächste Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede sagen: Für die AfD wird es langsam eng. Vorgestern war zu lesen, dass der Berliner Verfassungsschutz den Berliner Landesverband der AfD als Verdachtsfall für eine extremistische Bestrebung führt. Zuvor hatten bereits die Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen die AfD-Landesverbände als Verdachtsfälle eingestuft. ({0}) Der als rechtsextremistisch eingestufte und daher offiziell aufgelöste „Flügel“ setzt sich in Gremienwahlen meiner Wahrnehmung nach intern bei Ihnen ständig durch. Die Parteimitglieder wollen, meiner Interpretation nach, eine rechte Partei bleiben. Ihre Parteikollegin Brinker in Berlin sagt, die AfD – Sie haben das eben auch noch mal betont, Herr Hess – sei der parlamentarische Arm der Coronaprotestbewegung. Ich sage: Das passt ja wunderbar; denn auch die Querdenker sind vom Bundesamt für Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft und werden beobachtet. Für die AfD sind die Tage gezählt. ({1}) Dennoch lässt sie aus purer Verzweiflung keine Gelegenheit aus, um von sich abzulenken: Heute, wie auch schon im letzten Jahr, will sie über den 1. Mai und über Ausschreitungen am 1. Mai reden. Können wir gerne machen. Gewalt gegen Einsatzkräfte, Brandanschläge und kriminelle Ausschreitungen, die den 1. Mai und die vielen friedlichen Kundgebungen – gerade meiner Partei und der Gewerkschaften – diskreditieren, dulden wir nicht. Das verurteilen wir. Für uns ist der 1. Mai ein Fest der Arbeit und Ausdruck unseres Respektes für alle Arbeiterinnen und Arbeiter. ({2}) Das Gesagte gilt jedoch auch für die Anticoronademos. In der letzten Sitzungswoche wurden während der Proteste gegen das Vierte Infektionsschutzgesetz Beamte mit Steinen und Flaschen beworfen. Es gab über 230 Festnahmen, fast 400 Ermittlungsverfahren, knapp 100 Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstößen gegen die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und 30 verletzte Polizeibeamte. Noch nie hat die AfD hier im Bundestag einen Antrag gestellt, um über diese gewalttätigen Ausschreitungen auf den Anticoronademos zu reden. Noch nie hat sie über die Gewalt der Querdenker und Coronaleugner gegen unsere Polizeibeamten auf den Demonstrationen sprechen wollen. Sie werden angespuckt, beleidigt und angegriffen. Die, die jeden Tag für uns den Kopf hinhalten, werden von den Coronaleugnern, deren politischer Arm Sie ja sein wollen – das haben Sie eben noch mal gesagt –, angegriffen. Noch nie! ({3}) Noch nie hat die AfD den Rechtsextremismus in ihren eigenen Reihen hier thematisiert, geschweige denn einen Aktionsplan vorgelegt, wie sie den für den Linksextremismus vorlegt. Sprechen Sie doch lieber über die Extremismusform, von der Sie etwas verstehen. Da gibt es nämlich eine Menge zu tun, wie die aktuellen Zahlen der politisch motivierten Kriminalität zeigen. ({4}) Rechte Straftaten machen über die Hälfte aller Delikte aus. 60 Straftaten von rechts täglich, über 10 Prozent mehr rechte Gewaltdelikte in 2020 als im Vorjahr, über 500 Gewalttaten im Zusammenhang mit Corona! Besonders gefährdet sind übrigens Journalistinnen und Journalisten sowie Polizeibeamte. Sowohl die AfD als auch die Querdenker sind ein Sicherheitsrisiko für unsere Demokratie. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen – besonders an die Adresse unseres Koalitionspartners –, müssen wir jetzt schnell unser Wehrhafte-Demokratie-Gesetz in das parlamentarische Verfahren einbringen und abschließen, um auch nach Corona die Demokratiefeinde nachhaltig zu bekämpfen; denn wir alle wissen, dass die Coronaleugner nicht einfach verschwinden, wenn wir Corona in den Griff kriegen. Sie werden sich ein anderes Ventil suchen, und darauf sollten wir vorbereitet sein. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Abgeordnete Dr. André Hahn. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der AfD über Extremismus zu diskutieren, ist genauso sinnlos, als wenn man versucht, eine braune Wand mit Argumenten buntzufärben. ({0}) Das wird nicht gelingen. Die Wand bleibt ebenso braun wie die AfD, auch wenn sie sich selbst als blau präsentiert. ({1}) Ich finde, es gehört schon ein ganzes Stück an Dreistigkeit dazu, einen Tag, nachdem Innenminister Seehofer auf der Bundespressekonferenz ({2}) die historisch höchsten Zahlen von rechtsextremen Straf- und Gewalttaten in diesem Land verkünden musste ({3}) und den Rechtsextremismus völlig zu Recht als größte Gefahr für die innere Sicherheit einstufte, seitens der AfD jetzt hier eine Debatte über das Thema Linksextremismus führen zu wollen. Sie greifen hier den Linksextremismus auf, um von sich selbst abzulenken. Kollege Grötsch hat es gesagt: Zu den Taten in Halle und Hanau sowie anderen rechten Gewalttaten hat die AfD hier noch nie einen Antrag eingebracht. ({4}) Ich habe es hier schon mehrfach erklärt und wiederhole es auch heute für meine Fraktion: Gewalt darf nie ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein, ({5}) und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, vom welchem politischen Spektrum diese Gewalt ausgeht. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kollegen, bitte!

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es gibt nichts zu relativieren, und tätliche Angriffe auf Polizeibeamte sind nicht zu rechtfertigen. ({0}) Wenn die AfD den 1. Mai schon zum Anlass für diese Debatte nimmt, dann möchte ich doch einfach mal den SPD-Innensenator Geisel zitieren. Er hat seine Bilanz des Tages wie folgt gezogen: Die hässlichen Bilder aus Neukölln dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen in Berlin insgesamt friedlich und verantwortungsbewusst demonstriert haben. Noch mal: Das ist nicht meine Einschätzung, sondern die von Innensenator Geisel. ({1}) Die in der Tat nicht tolerierbaren Vorfälle in Neukölln waren insbesondere Gewalttaten von selbsternannten Autonomen, die sich als völlig unabhängig und ausdrücklich nicht links verstehen. Das ist seit Langem bekannt – im Übrigen auch dem Verfassungsschutz –; aber mindestens die Union will ja unbedingt ihre absurde Extremismustheorie und die damit verbundene weitgehende Gleichsetzung von rechts und links aufrechterhalten, selbst wenn die Fakten seit Langem eine andere Sprache sprechen. ({2}) Erst gestern wurde ein Rechtsextremist verhaftet, der für weit über 100 Schreiben mit Gewalt- und Mordandrohungen gegen Politikerinnen, Anwälte, Flüchtlingshelfer mit dem Absender „NSU 2.0“ verantwortlich sein soll. Kennen Sie irgendeinen halbwegs vergleichbaren Fall von linker Seite? Ich kann deshalb nur an alle Demokraten appellieren, sich von der AfD nicht hinter die Fichte führen zu lassen. Abgesehen davon sind die beiden Anträge der AfD auch handwerklich sehr schlampig gemacht; ich habe nicht die Zeit, um das jetzt im Einzelnen auseinanderzunehmen. ({3}) Sie fordern einen Aktionsplan 2020, obwohl wir bald Mitte 2021 haben. Der andere Antrag kam irgendwann gestern Abend, sodass eine halbwegs seriöse Vorbereitung überhaupt nicht möglich war. Deshalb nur eine letzte Anmerkung, und zwar zur Überschrift des Antrages.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kurz!

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dort fordert die AfD: „Linksextremistische Brandanschläge und Gewaltexzesse am 1. Mai stoppen". – Dazu sage ich für die Linke: Wir wollen Brandanschläge und Gewaltexzesse – egal von wem – nicht nur am 1. Mai, sondern auch an allen anderen 364 Tagen des Jahres verhindern. ({0}) Die AfD ist also eine Eintagsfliege. Wir sind das ganze Jahr für die Bürger da. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt kommt die nächste Rednerin. Das ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über den Antrag der AfD, in welchem sie sich gegen Deeskalation ausspricht, haben wir hier ja schon einmal diskutiert. Den zweiten Antrag gibt es erst seit wenigen Stunden. Okay, man muss AfD-Anträge nicht unbedingt gelesen haben, um zu wissen, was drinsteht. ({0}) Das gilt gerade für innenpolitische Anträge, in denen Sie ihr nationalistisches, rassistisches und demokratievergessenes Grundkonzept immer wieder ausbreiten. ({1}) Zunächst mal muss ich auch mit Blick auf den Titel Ihres Antrags sagen: Wir können hier im Deutschen Bundestag eine ganze Menge beschließen, aber ganz sicher keine Zeitreisen. – Ihrer Forderung „Linksextremistische Brandanschläge und Gewaltexzesse am 1. Mai stoppen“ kann man heute, am 5. Mai, ganz sicher nicht mehr nachkommen. ({2}) Daran sieht man einfach, dass Sie Ihren Antrag mit heißer Nadel gestrickt und quasi eine Pressemitteilung mit Drucksachennummer veröffentlicht haben. Dabei würde man sich wirklich wünschen, man könnte die Zeit noch einmal zurückdrehen – insbesondere mit Blick auf die Ereignisse vom 1. Mai –, und man wird die Vorgänge natürlich auch genau aufzuklären haben. Fest steht, dass die Gewalt vom 1. Mai scharf zu verurteilen ist. Viele Tausende haben an diesem Wochenende friedlich für ihre Anliegen demonstriert. Doch wer stattdessen Körperverletzungen und Sachbeschädigungen begeht, diskreditiert sich und seine vorgeblichen Anliegen. ({3}) Nun sind Sie von der AfD aber sicherlich kein guter Leumund für eine gewaltfreie Agenda – ganz im Gegenteil. ({4}) Nicht umsonst bezeichnen Sie sich ja sogar selbst als „parlamentarischer Arm“ von Coronaleugnern und Querdenkern. Seit Monaten wird aus dieser Bewegung heraus die Gewalt auf unsere Straßen getragen, ({5}) und sie richtet sich vor allem gegen Journalisten und Polizisten. Die offene Unterstützung der AfD für diese Angriffe ist einfach unsäglich. ({6}) Die Statistiken – die jetzt veröffentlichten Zahlen der politisch motivierten Kriminalität – zeigen es ganz deutlich: Wir haben ein Problem mit dem gewaltbereiten Linksextremismus. ({7}) Die Zunahme der Gewalttaten ist wirklich erschreckend, und daraus müssen selbstverständlich auch sicherheitspolitische Konsequenzen gezogen werden. Doch in Bezug auf den Rechtsextremismus sprechen die Zahlen eine noch viel deutlichere Sprache – alleine wenn man sich die große Zahl der Körperverletzungen im letzten Jahr anschaut, und da sind die Querdenker und Reichsbürger noch nicht einmal mitgezählt. Wenn die AfD jetzt also mal wieder versucht, ein großes Bedrohungsszenario von links an die Wand zu malen, dann kann ich nur sagen, dass ich hier nicht Ihnen, sondern unseren Sicherheitsbehörden in der Bewertung vollkommen zustimme; denn die derzeit größte Bedrohung für die innere Sicherheit unseres Landes geht vom Rechtsextremismus aus, und da ist die AfD mit ihrer sicherheitsgefährdenden Politik voll mit drin. Also, hören Sie damit auf, unsere Zeit mit Ihren Schaufensteranträgen zu verschwenden! ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch wenn es hier um Anträge der AfD geht, ist es richtig, die Krawalle und die Ausschreitungen vom 1. Mai zu problematisieren und zum Gegenstand der Auseinandersetzung hier im Plenum zu machen. Denn Demonstrieren ist okay, und es ist auch okay, wenn man die Wohnungsbau- oder die Mietenpolitik kritisiert. Wer dabei allerdings Gewalt anwendet, diskreditiert sein Tun. ({0}) Die Kriminalität in diesem Zusammenhang ist – das sage ich ganz deutlich – strengstens zu verfolgen. Die AfD versucht, mit ihrem Antrag – ich hatte noch das zweifelhafte Vergnügen, ihn wenigstens überschlägig lesen zu können – eine Parallele zum Antiterrorparagrafen in unserem Strafgesetzbuch zu stricken. Diese Parallele halte ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht für angebracht; das sage ich Ihnen ganz deutlich. Das haben die anderen Kollegen auch zu Recht angesprochen: Terrorgefahren gehen in diesem Land im Moment von anderen Richtungen aus. Sie kommen von rechts, und sie kommen aus der islamistischen Ecke. Stichworte wie „Halle“, „Hanau“, die Anschläge in Wien oder auch in Dresden sind dafür Beleg, im Übrigen auch die Gefährderzahlen, wie ein genauer Blick darauf zeigt. Gleichwohl – ich begrüße das ausdrücklich, was Frau Mihalic dazu eben gesagt hat – stellen wir fest, dass wir eine Veränderung auch im linksextremistischen Spektrum haben. Die Gewaltbereitschaft von links nimmt ganz offensichtlich und deutlich spürbar zu. Auch der Kollege Bernstiel hat es erwähnt: 45 Prozent mehr Gewalttaten von links sind ein wirklich ernster Befund. Die linksmotivierten Straftaten gegen unsere Polizeibeamten haben sich mit einem Anstieg um 100 Prozent im letzten Jahr sogar verdoppelt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir werden uns mit den Fragen „Was hat sich beim Linksextremismus in den letzten Jahren getan, und was tut sich jetzt? Wie können wir dieser Entwicklung begegnen?“ strategisch und analytisch auseinanderzusetzen haben. ({1}) Noch eine Sache war richtig, und da bin ich der Kollegin Teuteberg sehr dankbar, die das, wie ich finde, zu Recht deutlich angesprochen hat. Ich habe jetzt von Ihnen, Herr Hahn, von Frau Mihalic und auch von ihrer Kanzlerkandidatin klare Distanzierungen und Bekenntnisse wahrgenommen, staatsmännische Äußerungen, wie weit man sich von Gewalt und anderen Dingen lossagt und sich davon deutlich distanziert. Ich sage aber auch ganz klar: Wenn wir uns hier im Parlament über ganz konkrete gesetzgeberische Maßnahmen unterhalten, wie wir dem Extremismus begegnen können – indem wir beispielsweise die Kompetenzen unserer Sicherheitsbehörden stärken; wir werden hier am Freitag über das Verfassungsschutzgesetz diskutieren –, dann würde ich Ihnen empfehlen, dem auch zuzustimmen ({2}) und zu sagen: Wir brauchen so was wie die Quellen-TKÜ. Wir brauchen auch eine Onlinedurchsuchung – das sage ich ganz offen –; denn nur dann wird unser Verfassungsschutz wirksam gegen Extremisten vorgehen können. ({3}) Sie können extremistische Netzwerke und deren Kommunikation nur erfassen, wenn Sie nicht mehr, wie noch vor 20, 30 Jahren, lediglich Telefone abhören dürfen, ({4}) sondern wenn Sie auch auf die Kommunikation zugreifen können, so wie heute Kommunikation stattfindet. Und die findet nun mal über Messengerdienste statt; die findet in verschlüsselter Form statt. Wenn Sie sich jedoch, so wie Sie das tun, generell einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung verweigern, dann machen Sie am Ende unseren Verfassungsschutz und unsere Sicherheitsbehörden wehrlos bei der Bekämpfung des Extremismus. ({5}) Da kann ich Ihnen als letzten Gedanken sagen: Die Äußerungen Ihrer Kanzlerkandidatin hören sich wohlfeil an. Am Ende aber wird dieses Land unsicherer werden, wenn die Grünen an der Regierung beteiligt sind. Es wird nicht sicherer, sondern unsicherer werden. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Ute Vogt. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wenn mehr Denken unter den Menschen sein wird, dann wird auch mehr Liebe in der Welt sein“, so der fromme Wunsch von Albert Schweitzer, der bis heute leider nicht in Erfüllung gegangen ist. Wir erleben gerade nicht mehr Denken und damit auch nicht mehr Liebe und Zuneigung zueinander, sondern wir erleben in unserer Demokratie völlig überflüssigerweise ein Ansteigen der Gewalt, ein Ansteigen von politisch motivierten Straftaten. Nicht nur, dass das einer Demokratie unwürdig ist; vielmehr bedarf eine Demokratie überhaupt nicht der Gewalt. Denn unsere Demokratie ist die Staatsform, die ausdrücklich darauf setzt, gewaltfrei – in starken Auseinandersetzungen, mit spannenden Diskussionen, mit hartem Schlagabtausch, aber immer in der Sache und ohne Gewalt – ein Land zu führen und zu regieren. Das ist der Maßstab, an den wir uns halten wollen. ({0}) Deshalb ist für uns, für die Sozialdemokratie, sicher aber auch für die meisten hier im Hause, vollkommen klar, dass Gewalt niemals ein Mittel sein kann, um Politik und politische Argumente durchzusetzen. Wir erleben eine Gewaltspirale, und wir müssen schauen, wo diese Spirale der Gewalt herkommt. Mein Eindruck ist: Die Zahlen auf der linksextremen Seite steigen parallel zum dramatischen und doppelt so starken Anwachsen auf der rechtsextremen Seite. Das ist eine Gewaltspirale, die sich hochspielt – rechts immer doppelt so stark wie links. Aber es ist in der Tat eine Gewaltspirale, die auch hervorgerufen wird durch rechtsextremistisches Handeln und rechtsextremistisches Auftreten. ({1}) Ich finde, dass Sie diese Gelegenheit durchaus wahrnehmen sollten, mal innezuhalten und zu überlegen: Was sind denn die Ursachen von Gewalt? Die Gewalt beginnt auch bei der Sprache. Die Gewalt beginnt in der Art der Auseinandersetzung. Wir haben in den letzten vier Jahren einen Bundestag erlebt, wo Pöbeleien, Drohungen und gegenseitige Anfeindungen in einer Art und Weise Platz gegriffen haben, wie ich sie in meinen vielen Jahrzehnten parlamentarischer Arbeit nie kennengelernt habe. Daher muss ich Ihnen sagen: Sie legen mit die Ursache für die Gewalt, sowohl rechts- als auch linksextrem, weil Sie diese Gewalt begonnen haben und sie mit Ihren Worten und der Brutalität, mit der Sie Auseinandersetzungen führen, schüren. Das geschieht auf dem Rücken der Menschen und auf Kosten der Menschlichkeit. ({2}) Weil in der Tat die Worte der Beginn sind, will ich Ihnen und uns allen eine interessante Dokumentation der Initiative der Deutschlandstiftung Integration ans Herz legen, die dieser Tage in unsere Büros kam. Sie heißt „Schweigen müssen schon die Toten“. In dieser Schrift wird eindrucksvoll gezeigt, wohin Worte führen, nämlich zum Tod von Menschen, zu brutalen Morden. Für uns ist das ein Aufruf: Wenn die Toten schweigen müssen, sollen wir unsere Stimme erheben gegen Gewalt, aber auch gegen Unterdrückung, gegen Verleumdung, gegen Hass, gegen Diskriminierung und dafür, dass wir auf eine sachbezogene und anständige, vor allem aber respektvolle Weise miteinander diskutieren und uns auseinandersetzen. Das ist das, was einer Demokratie würdig ist.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, die Zeit ist um.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einer Demokratie nicht würdig ist das, was wir zum Teil an gewalttätiger Sprache erleben müssen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider ist es zur traurigen Übung geworden, dass wir Jahr für Jahr nach dem 1. Mai die Opferzahlen von verletzten Polizisten und das Ausmaß hemmungsloser Gewalt und brachialer Zerstörungswut beklagen müssen. Allein in Berlin haben wir – es ist heute mehrfach angesprochen worden – fast 100 verletzte Polizistinnen und Polizisten zu beklagen, manche mit teils schwersten Verletzungen und Knochenbrüchen. Und deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle noch mal ganz deutlich: Als CDU/CSU-Fraktion weigern wir uns, dies als Tradition zu akzeptieren, ({0}) und dies – ich muss es leider hinzufügen – insoweit offensichtlich anders als der rot-grüne Berliner Senat, zumindest in Gänze. Es ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, an Hohn kaum noch zu überbieten, wenn der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus der Polizei vorwirft, ihre Taktik sei nicht gelungen gewesen und das Einkesseln gewaltbereiter Demonstranten vertrage sich nicht mit dem Infektionsschutz. Sie halten damit Horden von Gewalttätern offensichtlich immer noch für eine Partyszene. Mit dieser verantwortungslosen Bagatellisierung gefährden Sie weiterhin die Sicherheit. ({1}) Wissen Sie, Berlin ist ja nicht die einzige Stadt, die solche Gewalterfahrungen macht. Die Gewalt ist kein exklusives Berliner Problem; aber die politische Haltung dazu ist in Berlin einzigartig. Deshalb werden wir mit aller Entschiedenheit dafür kämpfen, dass Ihre Politik nicht auch noch zur Gefahr für ganz Deutschland wird. Sie wissen, dass wir uns als CSU im Bundestag bereits im letzten Jahr klar positioniert haben, um eine entschiedene Antwort gegen Übergriffe und Gewalt gegen unsere Sicherheitskräfte zu geben, gegen die Verwüstung von Innenstädten und gegen die Bedrohung gegen Recht und Ordnung. Ich habe es an dieser Stelle auch schon mehrfach gesagt: Wer sich die Polizei zum Feind macht, kann niemals unser Freund sein. Ich will Ihnen im Hinblick auf die unerträgliche Relativierung dieser Taten auch sagen: Wer einen Stein auf einen Polizisten wirft, der trifft damit uns alle. ({2}) Deshalb treten wir dafür ein, Angriffe gegen Polizisten härter zu bestrafen, aber auch dafür, den Tatbestand gemäß §§ 113 und 114 StGB dahin gehend auszuweiten, dass nicht nur Angriffe bei einer Diensthandlung, sondern eben auch Racheakte und Angriffe wegen einer Diensthandlung unter Strafe gestellt werden. Wir wollen das Errichten von Barrikaden und Blockaden als gefährliche Form des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte einstufen, und wir wollen den Landfriedensbruch ausweiten, und wir wollen mit dem § 305 StGB eine Ausweitung bei Angriffen und Beschädigungen von Einsatzmitteln der Polizei, der Feuerwehr und des Rettungsdienstes schaffen. Deshalb sage ich Ihnen – das soll auch von dieser Stelle noch mal das ganz klare Zeichen an unsere Polizei sein –: Wir stärken denjenigen den Rücken, die für uns täglich den Kopf hinhalten. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Kuffer. – Ich schließe die Aussprache.

Astrid Grotelüschen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004046, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! „Kein Handwerk ohne Lehrzeit“, dieses Zitat von Jean de La Bruyère bringt es auf den Punkt. Ich füge hinzu: Begleitet man die Lehrzeit, hilft man Gesellen und hilft man Meisterinnen und Meistern; dann unterstützt man das Handwerk. Genau diese Unterstützung haben wir als CDU/CSU-Fraktion in dieser Legislaturperiode bereits mehrfach unter Beweis gestellt, und damit haben wir zahlreiche Verbesserungen für unsere mittelständischen Betriebe im Handwerk erzielt. Ich erinnere nur kurz an das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, mit dem wir die finanzielle Ungleichheit bei der beruflichen Weiterbildung abgebaut haben, oder auch an das Berufsbildungsgesetz – kurz: BBiG –, wo wir mit dem Meisterbonus unser bewährtes duales System gestärkt haben. Die umfassendste Weichenstellung war sicherlich die Wiedereinführung der Meisterpflicht für zwölf Gewerke zu Januar 2020. Alle Maßnahmen zusammengefasst, meine Damen und Herren, sind für unsere Fraktion wichtige und notwendige Impulse – pro Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung, pro Meisterabschluss, pro Handwerk –, und das trägt nach unserem Wunsch hoffentlich dazu bei, dass es insgesamt zu einer Aufwertung der beruflichen Karriere im Handwerk und auch zu einer höheren öffentlichen Wertschätzung der Ausbildungsleistung der Meisterinnen und Meister in unserer Gesellschaft kommt. ({0}) Meine Damen und Herren, die gerade genannten Änderungen erfordern nun weitere Anpassungen in der Handwerksordnung, und nichts anderes umfasst der uns vorliegende Gesetzentwurf. So passen wir zum Beispiel die Berufsbezeichnungen an: Aus dem „Landmaschinenmechaniker“ wird der „Land- und Baumaschinenmechatroniker“ oder aus dem „Betonstein- und Terrazzohersteller“ der „Werksteinhersteller“. Aber das ist natürlich nicht die Hauptintention dieser fünften Novelle. Es geht zum Abschluss dieser Legislaturperiode vor allem darum, Entwicklungen aus der Praxis aufzunehmen und die Handwerksordnung zu aktualisieren, insgesamt ein moderneres und ein mit wenig Bürokratie gefülltes Handwerksrecht zu schaffen. Das möchte ich ganz kurz mit wenigen Punkten ansprechen. Erstens: das Meisterprüfungsverfahren. Für die Meisterprüfungen werden eine Vielzahl an ehrenamtlichen Prüferinnen und Prüfern benötigt, die zu finden nicht einfacher wird. Zudem sind die Prüfungen komplexer geworden, und das bedeutet natürlich auch oft ein noch größeres zeitliches Engagement derer, die sich eh hier zur Verfügung stellen – ein Grund, Danke zu sagen, aber gleichzeitig natürlich auch, politisch Abhilfe zu schaffen. Wir erreichen dies mit einer Reduzierung in der Besetzung des Meisterprüfungsausschusses von fünf auf vier Mitglieder. Das ist sinnvoll, das ist sachgerecht und faktisch auch, sage ich mal, ein Minus um 20 Prozent. Bei 22 000 Meisterprüfungen im Jahr, die bei uns abgenommen werden, bedeutet dies ein beträchtliches Plus an gewonnener Zeit und damit eine große Entlastung dieser ehrenamtlich tätigen Prüfenden. ({1}) Zudem führen wir ein neues Gremium ein: die Prüfungskommission. Diese kann in Zukunft einzelne Prüfungsleistungen abnehmen und bewerten. Ein solches Gremium haben wir bereits letztes Jahr mit dem BBiG für die Gesellenprüfung geschaffen. Das hat sich einfach in der Praxis bewährt, sodass wir diese Strukturen jetzt auf die Meisterprüfung übertragen. An den genannten Beispielen erkennen Sie: Wir bauen mit dieser Novelle Bürokratie ab, wir stärken Ehrenamt, und wir schaffen auch Freiräume. Von diesen Freiräumen sollen auch die Geprüften profitieren, indem sie nämlich zukünftig ihre Ergebnisse schneller erfahren. Bei uns im Handwerkskammerbereich Oldenburg geht das in kürzester Zeit. Aber ich war erstaunt: Es gibt auch Beispiele, wo Prüflinge zehn oder gar zwölf Wochen auf ihre Ergebnisse warten. Das sorgt natürlich für Frust. Deshalb verkürzen wir mit diesem Gesetz die Frist bis zur Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse auf maximal einen Monat. Es gibt eine weitere Maßnahme, mit der wir auf mehr Sicherheit auf Baustellen, nämlich im Bereich des Gerüstbaus, zielen. Dazu wird mein Kollege Jens Koeppen nachher noch etwas ausführen. Ich will zum Schluss noch auf die genannten Verbesserungen zu sprechen kommen, die zur Stärkung der Tarifbindung führen. Wir führen mit einer Sollbestimmung ein Vorschlagsrecht der Arbeitnehmerseite für alle handwerklichen Prüfungsausschüsse ein. Es gab tatsächlich in Bezug auf die Tarifbindung von den Innungsverbänden im Vorfeld weiter reichende Forderungen, die aber dann von den Arbeitnehmervertretungen selber zurückgezogen worden sind. Dadurch werden auch die noch im Wirtschaftsausschuss diskutierten Punkte der Kollegen der Fraktion der Grünen hinfällig. Auch die Forderung danach, die Übergangsfrist zum Nachweis der Meisterprüfung für zukünftige Eigentümer von Handwerksbetrieben von sechs Monaten auf fünf Jahre zu erhöhen, halten wir als Union für kontraproduktiv, und wir lehnen diese ab. Wir wollen, dass diese Regelungen schnell greifen. Denn es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als um das, was einen Meister oder eine Meisterin auszeichnet, nämlich das Abliefern einer qualitativ hochwertigen Arbeit unter dem Anspruch eines hohen Verbraucherschutzes bei fortlaufender Innovation und zudem die Rolle als Garant für die Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Das müssen wir unterstützen. Da gehen wir mit dieser Novelle mit Erleichterungen ran. ({2}) Meine Damen und Herren, zum Schluss: Ich bin mir sicher, dass dieses Gesetz ein Stück weit dazu beiträgt, dass wir Erleichterungen für das Handwerk umsetzen können. Es ein gutes Gesetz. Es ist notwendig. Deshalb würde ich mich über Ihre Zustimmung freuen. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Grotelüschen. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Hansjörg Müller. ({0})

Hansjörg Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004831, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Abgesehen vom neuen Wahlrecht zu den Bilanzierungsvorschriften ist dieses x‑te Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung ebenso überflüssig wie lebensfremd – passend zu dieser Bundesregierung. Das Fünfte Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften überregelt, was überhaupt keiner Regelung bedarf, und mischt sich wieder einmal dort ein, wo sich Politik heraushalten sollte, nämlich aus der Wirtschaft, mit folgenden bahnbrechenden Geistesblitzen: Einmischung in die Organisationsautonomie der Innungen und praxisferne Regularien zum Gerüstbau. Letzteres kann wohl nur ein Lobbyismusprodukt sein; denn ich erinnere mich an keine einzige Meldung von einstürzenden Gerüsten. Das stand noch nicht mal in der „Bild“-Zeitung. ({0}) – Doch, schon. Lesen Sie auch die „Bild“-Zeitung! Ebenso soll durch Gesetz geregelt werden, wie die Meisterprüfung zu laufen hat. Klingt nett; aber das kann das Handwerk alleine in Selbstorganisation besser, und das macht es auch aus Gründen einer eigenen Qualitätssicherung. Das Handwerk braucht keine Anleitung aus diesem Elfenbeinturm Bundestag. Das können die besser. ({1}) „Never change a running system“, das weiß auch jeder Anfänger. Doch das schreckt unsere Regierung nicht ab. Nichts entkommt ihrem Regelungswahn. Gerüste, Bienen, das Weltklima und Schnullerketten – alles dabei. Jetzt hätte es die Möglichkeit gegeben, den bestehenden Gesetzesverhau rund um die Handwerksordnung endlich zu verschlanken; denn es gibt zwei Übergangsgesetze, eines von 1998 und ein anderes von 2000, die immer noch mitgeschleppt werden. Übergangsgesetze! Die hätte man, wenn jetzt schon etwas Neues gemacht wird, gleich mit einarbeiten und damit auch streichen können. Aber nix da! Denn der Entschließungsantrag dazu, der sehr sinnvoll ist, kommt ja von uns, von der AfD. Deshalb wird er von allen fünf Linksfraktionen hier wahrscheinlich wegen angeblicher rechtsextremistischer Tendenzen abgelehnt werden. ({2}) Dabei könnte die Bundesregierung ja auch mal versuchen, etwas Nützliches für das Handwerk zu leisten, indem Sie sich gegen die absurde EU-Bürokratie einsetzen. Aber was machen Sie? Die Brüsseler Erdrosselung deutscher Handwerker wird auch von Ihnen, der Bundesregierung, noch wilder umgesetzt, als von Brüssel erträumt. Und wie machen Sie das? Zum Beispiel über die Umsetzung der EU-Verbraucherrechterichtlinie, weil die in erster Linie wieder das Handwerk und Dienstleister betrifft, die ihre Dienstleistungen außerhalb der Geschäftsräume erbringen! Besonders problematisch ist hierbei die Widerrufsregelung. Sie ist unzweckdienlich und praxisfern. Sie fordern nämlich eine prozessionsartige Litanei gegenseitiger Belehrungen zwischen dem Erbringer, also dem Dienstleister, dem Handwerker, und dem Kunden. Wenn diese Aufführung vom Dienstleister in der exakt vorgegebenen Manier nicht umgesetzt wird, dann verliert er seinen Rechtsschutz. Weil was passiert? Wenn der Handwerker diesen Papierwust der Belehrungen nicht so erbringt, kann der Kunde die Zahlung der gesamten Leistung durch Widerruf verweigern. Nur, was macht man dann, wenn das Dach schon eingedeckt ist oder die Steckdosen schon einmontiert sind? Wollen Sie das Dach wieder abdecken oder die Steckdosen herausreißen? Und kann sich dann der Handwerker ein teures Anwaltsharakiri erlauben, um zu seinem Recht zu kommen? Nein, diese EU-Regeln sind praxisfern und wirtschaftsfeindlich, und sie unterminieren die Rechtssicherheit nicht nur für den Unternehmer, sondern auch für den Kunden. ({3}) Wer, um Himmels willen, denkt sich so einen wirtschaftsfernen Blödsinn aus? Das kommt von der EU. Aber das Schlimme ist, lieber Herr Wirtschaftsminister, dass die Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie die Regeln auch noch verschärft. Ich könnte der Bundesregierung glatt unterstellen, man wolle der deutschen Wirtschaft absichtlich schaden. Aber wenn ich mir die ganzen Coronamaßnahmen ansehe, ist mir dieser Gedanke auch schon öfter gekommen. Ich bedanke mich. Auf Wiedersehen! ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort hat Sabine Poschmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Entschließungsantrag der AfD lehnen wir nicht ab, weil er rechtsextremistisch ist, diesmal ausnahmsweise nicht, sondern weil er einfach inhaltsleer ist. Vielleicht sollten Sie von der rechten Seite mal was anderes lesen als die „Bild“-Zeitung; dann wüssten Sie, warum das so ist. Die FDP hat schon versucht, es Ihnen im Wirtschaftsausschuss zu erklären, aber leider hat das wohl nicht gefruchtet. Aber so ist das bei der AfD. Kommen wir zum Gesetz, zum Fünften Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung. Die Anpassung an bisherige Beschlüsse ist richtig; Frau Grotelüschen hat es gerade auch schon erklärt. Wir passen damit die Handwerksordnung an, vor allen Dingen an die Rückvermeisterung, die ja ab 2020 gilt. Dazu nehmen wir Entwicklungen auf; denn auch im Handwerk hat es mit der Zeit natürlich wesentliche Entwicklungen gegeben, um das Prüfungswesen zum Beispiel anzupassen. Wir könnten an dieser Stelle sagen: „Okay, ist alles klar, winken wir durch“, aber ich möchte dennoch auf zwei Punkte zurückkommen. Das Erste ist die ehrenamtliche Prüftätigkeit. Die Prüfungsinhalte haben an Qualität gewonnen, auch wegen der zusätzlichen Vermeisterung in unterschiedlichen Gewerken. Die Herausforderung ist beim Handwerk nicht nur für die Prüflinge, sondern auch für die Prüfenden größer geworden, und sie müssen qualitativ aufrüsten. Hierbei wollen wir ihnen behilflich sein. Ich habe einmal nachgeschaut, wie viel Prüfende wir denn in Deutschland haben. Es sind über 300 000, die im Ehrenamt diese Prüfungen abnehmen. Deshalb an dieser Stelle einen herzlichen Dank, dass Sie dieses Engagement zeigen – und das auch noch in Ihrer Freizeit! ({0}) Wir wollen Ihnen mit diesem Gesetz, mit dieser Anpassung Ihre Tätigkeit erleichtern. Wir wollen Flexibilität in Ihre Tätigkeit bringen. Zudem wollen wir es auf breitere Füße stellen; denn jetzt sollen auch mehr Gewerkschaftsvertreter dazukommen. Ich denke, für die Zukunft sind wir hier gut gewappnet. Ein zweiter Punkt. Eine Herzensangelegenheit nicht nur von mir, sondern auch von meiner Fraktion – Sie wissen, was jetzt kommt – ist die Tarifbindung. Wir haben es geschafft, dass als Aufgabe der Innung explizit, und zwar in besonderem Maße, der Abschluss von Tarifverträgen genannt wird. ({1}) Warum ist das so wichtig, meine Damen und Herren? Wir alle wissen es – die AfD hat es gerade nicht gewusst –: Die Tarifbindung im Handwerk beträgt nur 30 Prozent. Und während das Ausland neidvoll zu uns nach Deutschland schaut, weil wir hier aufgrund der Tarifpartnerschaft eine gewisse Ordnung haben, weil wir aber auch das Miteinander pflegen und eine Friedenspflicht haben, das Wirtschaften durch die Tarifbindung also planbarer ist, findet im Inland eine Tarifflucht statt – und das nicht nur im Handwerk, sondern auch im Einzelhandel und in der Pflege. Wozu führt das, sehr geehrte Damen und Herren? Das führt dazu, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. Das führt dazu, dass Arbeitnehmer mehrere Arbeitsverhältnisse haben, weil sie ihre Familie nicht mehr ernähren können. Das führt dazu, dass der Staat zufinanzieren muss, weil es sonst nicht mehr zum Leben reicht. Und das führt dazu, dass die Rente nicht reicht. Deshalb muss es unser aller Bestreben sein, für gute Löhne in diesem Land zu sorgen. ({2}) Deshalb müssen wir alle ein Interesse daran haben, die Tarifbindung nach vorne zu bringen. Wir wollen keine Mindestlöhne in diesem Land. Wir wollen eine Tarifbindung, damit die Menschen ordentlich leben können. ({3}) Die AfD hat gerade so schön gesagt: Das regelt doch der Markt! Lassen wir es doch alles so! – Nein, es ist leider nicht so; es regelt nicht der Markt. Die Löhne im Handwerk liegen unter dem Durchschnitt. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – hört! hört! – ist nach einer Studie unzufrieden; neueste Ergebnisse. Auf der anderen Seite bleibt der Fachkräftemangel doch die große Herausforderung im Handwerk, und die Coronakrise verschärft diese Situation noch einmal. Wir wissen, dass zwei von drei Fachkräften, im Handwerk gut ausgebildet, in die Industrie wandern. Sie folgen also dem Geld. Wen wundert das? Daher brauchen wir einen Anschluss an Industrielöhne, auch im Handwerk. Wir müssen die Lücke schließen. Denn wir brauchen gute Handwerker, um die Zukunftsaufgaben, die wir gerade alle diskutieren, zum Beispiel beim Thema Umwelt, zu bewältigen. Wir brauchen Handwerker, um die Zukunft zu bauen. ({4}) Diese Novelle, meine Damen und Herren, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, ein erster Schritt in die Tarifbindung. Lassen Sie uns stärker weiter daran arbeiten, und lassen Sie uns zusammen solidarisch in die Zukunft gehen, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das ist in unser aller Interesse. Herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Poschmann. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion, an den Kollegen Manfred Todtenhausen. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon vor eineinhalb Jahren, bei der letzten Handwerksnovelle, war die jetzige Gesetzesänderung angekündigt worden. Damals ging es darum, den Gefahren- und Verbraucherschutz zu stärken. Gleichzeitig haben wir den Meisterbrief und damit die höhere Berufsbildung im Handwerk gestärkt. Das hat der Bundestag mit Wirkung vom Januar 2020 einmütig beschlossen; wir haben es schön gehört. Es ist ein Zeichen, welche Wertschätzung das Handwerk genießt. Wir Freien Demokraten unterstützen daher das sogenannte Bereinigungsgesetz, das nach der letzten Novelle quasi notwendig geworden war. Wie letztes Mal ist die Änderung zusammen mit dem Handwerk und nicht gegen das Handwerk vorgenommen worden. Kleinere Differenzen zwischen den einzelnen Gewerken wurden einvernehmlich aus der Welt geschafft und im Sinne eines fairen Wettbewerbs und der Sicherheit der Menschen umgesetzt. Hier kann man wirklich nur sagen – und das sage ich nicht oft –: Gut gemacht! Meine Damen und Herren, ich will aber an dieser Stelle nicht verhehlen, dass wir bei der letzten Novelle Bedenken bei der Auswahl der Gewerke hatten. Einiges erschien uns unlogisch. Ein Beispiel dafür: Warum fallen Drechsler unter die Meisterpflicht, aber keine Goldschmiede? Hier scheinen sich gerade die bayerischen Kollegen in der Union durchgesetzt zu haben. Was wir aber wirklich brauchen, ist weiterhin eine regelmäßige Überprüfung der Handwerksordnung, um in Zukunft Korrekturen in die eine oder andere Richtung möglich zu machen. Eine Frist von fünf Jahren scheint uns hier angemessen zu sein. Meine Damen und Herren, wir sind uns hier einig: Das Wichtigste, was das Handwerk braucht, sind mehr qualifizierte Fachkräfte, Nachfolger und Gründer. ({0}) Der Fachkräftemangel ist schlecht für die Kunden, und er führt – wir merken es gerade ganz besonders – zu langen Wartezeiten, bis der Handwerker endlich kommt. Fachkräftemangel ist nach dem Bürokratieabbau und vor der Abgabenbelastung immer noch das drängendste Thema im Handwerk. Um das Handwerk für junge Menschen attraktiver zu halten, müssen wir aber auch endlich die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung herstellen. Konkret: Wir müssen die Meisterausbildung genauso wie die akademische Bildung fördern – und das auch finanziell. ({1}) Sprich: Wer den Ehrgeiz, das Wissen und die handwerkliche Fertigkeit hat, dem müssen wir seine Ausbildungskosten erstatten. Denn nur so werden berufliche und akademische Bildung endgültig gleichgestellt. Schauen wir also nach vorn; schauen wir nicht zurück, wie das die AfD immer gerne macht. Das heißt für mich: Geben wir den Schülern schnell wieder Chancen zur Berufsorientierung – das ist dringend notwendig – und den Auszubildenden Perspektiven für praktisches Handeln, für Berufsschulunterricht und ihre Übernahme in eine Beschäftigung. Ich glaube, das wollen wir alle. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Todtenhausen. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke, an Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Es gab hier im Bundestag einmal eine parlamentarische Mehrheit, die der Meinung war, dass viele Meisterprüfungen überflüssig und lästig seien. „Bürokratieabbau“ war das große Modewort. Daraufhin wurden zahlreiche Verpflichtungen – umgangssprachlich „Meisterzwang“ – abgeschafft. Wir hatten das damals abgelehnt. ({0}) Vollkommen überraschend stellte bald darauf wieder eine Mehrheit in diesem Haus fest, dass das doch nicht der große Wurf war. Der Schuss ging also nach hinten los. Zahlreiche Meisterregelungen wurden wieder eingeführt, und das vollkommen zu Recht. ({1}) Heute werden wir im Gesetzgebungsverfahren zahlreiche, meist sehr formale Sachen anpassen, die rechtlich absolut notwendig sind. Allein aus diesem Grund wird auch die Linksfraktion dem Vorhaben zustimmen. Wir machen aber auch kein Geheimnis daraus, dass uns diese kleine Lösung zu wenig ist. Das Handwerk ist ein wesentlicher Wirtschaftszweig mit vielen kleinen Unternehmen und mit noch mehr Beschäftigten in diesen Unternehmen. Das Handwerk ist das Rückgrat der beruflichen Ausbildung. Und genau dafür ist auch der sogenannte Meisterzwang eine wesentliche Säule. Für dieses Qualitätszeugnis werden wir weltweit beneidet, und „Qualität“ bezieht sich hier sowohl auf die Qualität der Dienstleistungen als auch auf die Qualität der Berufsausbildung. ({2}) Trotzdem ist eine umfassende Modernisierung der Handwerksordnung dringend erforderlich. Wir müssen noch mehr auf das Tarifrecht schauen. Wettbewerb ist wichtig und gehört zur Marktwirtschaft. Er darf aber nicht auf dem Rücken der Beschäftigten bzw. auf Kosten der Löhne ausgetragen werden. Hier ist jetzt die Arbeitgeberseite, sind die Innungen, die Handwerkskammern gefragt, endlich Vorschläge zu machen, wie wir hier zu Lösungen kommen, damit Lohndumping kein Wettbewerbsfaktor bleibt. ({3}) Die Linksfraktion fordert also eine grundsätzliche Überarbeitung der Handwerksordnung. Vielleicht wird das in den nächsten Monaten nicht das große Wahlkampfthema. Aber spätestens in der neuen Wahlperiode sollte hier im Bundestag und dort speziell im Wirtschaftsausschuss an die Arbeit gegangen werden, egal wer an der Regierung ist und wer in der Opposition. Hier ist auch nicht die Frage „Pro oder kontra Meisterpflicht?“ die spannendste Frage oder die Frage „Liberalisierung oder Regulierung von Angeboten und Märkten?“. Die Stärke des Handwerks sind gesunde und profitable Unternehmen, motivierte und ordentlich entlohnte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und maximale Qualität der Produkte und Dienstleistungen, vor allen Dingen durch ein hohes Ausbildungsniveau. Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Lutze. – Das Wort geht an Claudia Müller von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Handwerkerinnen sind unsere Partnerinnen für den Klimaschutz: Sie bauen und sanieren Gebäude, auch energetisch. Sie installieren Solarzellen und Windräder. Sie reparieren und warten Fahrräder, Pkws, Lkws. Sie verwerten und veredeln regionale Produkte der Landwirtschaft. Kurz: Regionale Wertschöpfung ist ihre Stärke. Sie sind damit für unsere Zukunft unersetzlich und unverzichtbar. ({0}) Trotz all der großen Worte, die wir eben gehört haben, muss man sagen, dass auch diese Novelle dieser Bedeutung nicht gerecht wird. Ja, der Gesetzentwurf nimmt viele kleine und wichtige Änderungen vor; aber die Attraktivität des Handwerks wird mit dieser Novelle nicht genügend gestärkt. Die wichtigen Zukunftsfragen – die Frage, wie wir die Fachkräfteabwanderung tatsächlich stoppen, die Frage, wie wir Ausbildung und Weiterbildung und auch die Tarifbindung stärken – werden hier nicht genügend angegangen. ({1}) Die Bundesregierung will zum Beispiel keine sektorübergreifende Analyse durchführen, wo Fachkräfte für die Bewältigung der Klimakrise in Zukunft verstärkt gebraucht werden und was dafür getan werden müsste. Das finde ich wirklich fahrlässig, liebe Kolleginnen von Union und SPD. Im Handwerk und auch in vielen kleinen Unternehmen steht eine Nachfolgewelle bevor. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, und es fehlt der Nachwuchs. Schon seit Jahren spürt man das insbesondere in den ehrenamtlichen Organisationen des Handwerks, in den Kammern und in den Innungen. Die Herausforderungen dieser Zukunft können wir jedoch nicht tatenlos lösen. Deswegen wäre es höchste Zeit, dass sich Arbeitnehmer/‑innen, Arbeitgeber/‑innen, Bildung und Forschung zu diesem Thema gemeinsam an einen Tisch setzen und Lösungen für diese Probleme suchen. ({2}) Das heißt auch gewerkeübergreifende Zusammenarbeit, auch mit der Industrie. Denn teilweise existieren schon jetzt ähnliche Berufsbilder in beiden Bereichen, und wir sehen – es ist mehrfach angesprochen worden – die Abwanderung von Fachkräften aus dem Handwerk in die Industrie. Sie folgen den besseren Löhnen, sie folgen häufig den besseren Arbeitsbedingungen, den besseren Aufstiegschancen, ja, der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das sind schlagende Argumente dafür, wo Fachkräfte hingehen, und das müssen wir auch im Handwerk deutlich verbessern. ({3}) Auch wurde versäumt, die Frage der kostenfreien Meisterausbildung bzw. der Weiterentwicklung des Meister-BAföGs anzugehen. Wir brauchen hier einen individuellen Mix aus Darlehen und Zuschuss, sodass Maßnahmekosten und Lebensunterhalt sozial gestaffelt tatsächlich auch denjenigen zur Verfügung gestellt werden. Hier wurde wirklich eine Chance vertan. Für die Zukunft: Wir kommen jetzt aus der Coronakrise heraus. Gleichzeitig ist die Herausforderung der Klimakrise nicht kleiner geworden. Wir müssen jetzt kleine Unternehmen und insbesondere das Handwerk unterstützen und auf diese Zukunft vorbereiten. Wir brauchen zuverlässige Hilfsangebote. Wir brauchen Beratung, Beratungsinfrastruktur, eine Veränderung der Ausbildung, eine Verbesserung von Chancen für Quereinsteigerinnen und auch eine realistische und klischeefreie Berufsorientierung an allen Schulen. Das sind die Baustellen, um die wir uns jetzt kümmern müssen. Dafür reicht die Novelle nicht aus. Sie ist ein erster Schritt, aber der nächste muss folgen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Müller. – Zum Abschluss der Debatte geht das Wort an Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Schluss der Debatte die Gelegenheit nutzen, mich bei allen zu bedanken, die sich fürs deutsche Handwerk einsetzen, insbesondere beim Ehrenamt im deutschen Handwerk, die das ganze Kammersystem mit Leben erfüllen, bei den Ehrenamtlern in den Prüfungsausschüssen, aber auch bei denjenigen, die dafür gesorgt haben, dass dieses Gesetz so bürokratiefrei wie möglich geworden ist. Insbesondere möchte ich mich bei meinen beiden Berichterstatterkollegen aus der Koalition, Astrid Grotelüschen und Sabine Poschmann, bedanken. Ich glaube, wir haben sehr gute Gespräche geführt. Die waren ergebnisorientiert, wie das beim Handwerk so üblich ist. Ich habe mich in unserer Mädchengruppe sehr wohlgefühlt. Das kann auch so weitergehen. Wir hatten zwei große Blöcke aus dem Weg zu räumen. Herr Müller, es ist anders, als Sie gesagt haben, nämlich dass man ein Gesetz macht, um ein Gesetz zu machen; denn es war notwendig. In der vergangenen Legislaturperiode hatten wir die Rückvermeisterung, sozusagen die Eintragung in die Anlage A. Da sind schlicht und ergreifend einige Nachträge notwendig geworden. Wir alle haben begrüßt, dass diese Rückvermeisterung stattfindet, egal ob wir damals der Auffassung waren, dass das sinnvoll ist oder nicht. Aber diese Rückvermeisterung war sinnvoll. Insbesondere auf dem Gebiet der Gefahrgeneigtheit gab es einige Dinge, die wir regeln mussten. Der erste Schwerpunkt war ein umfangreicher Katalog, insbesondere mit Gewerkschaftsforderungen. Die Kollegin Poschmann hat es angesprochen: Die Tarifbindung im deutschen Handwerk ist verbesserungswürdig. – Das ist völlig klar. Unsere Frage war: Können wir Tarifbindung gesetzlich regeln? Wir haben lange darüber nachgedacht, wie das ginge. Wir sind dann zur Meinung gekommen, dass Tarifautonomie und Tarifpartnerschaft ein hohes Gut sind. ({0}) – Sicherlich. – Aber wenn wir das vermeintlich über das Gesetz regeln wollen, kann es sein, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten. Da müssen wir natürlich vorsichtig sein. Tarifautonomie bleibt ein hohes Gut. Deswegen haben wir das so geregelt, wie es jetzt ist. Ein zweiter großer Schwerpunkt – darauf will ich noch mal eingehen – war das Thema Gerüstbau. Herr Müller hat es angesprochen und es stark kritisiert. Aber das war notwendig; denn die Gefahrgeneigtheit war da. Insbesondere die Stuckateure, aber auch der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes haben sich dafür starkgemacht. Was ist das Problem? Das Problem ist, dass es Gerüstbauer gibt, die das hauptberuflich machen, und welche, die das im Nebenerwerb oder im Nebenbaugewerk tun und es dann für sich selbst nutzen. Das war bisher die gängige Praxis. Das geht wegen der Gefahrgeneigtheit und der Rückvermeisterung – Eintragung in die Anlage A – so nun nicht mehr. Jetzt haben wir versucht, das so minimalinvasiv wie möglich zu regeln. Das ist uns, glaube ich, auch gelungen. Es ist uns gelungen, auch unbürokratisch, mit den wenigsten Eingriffen. Wir haben es so vorgesehen, dass das am Ende in der guten Zusammenarbeit zwischen Zentralverband des Deutschen Handwerks und Zentralverband des Deutschen Baugewerbes untergesetzlich geregelt wird. Der ZDH wird also bundeseinheitliche Leitlinien auf den Weg bringen, die für alle Handwerkskammern gültig sind. Danach sollen Meisterbetriebe, die im Gerüstbau praktisch tätig sind und nur für Dritte, also ohne für eigene Arbeiten, Gerüste aufstellen, eine Ausübungsberechtigung bekommen – in der Regel ohne Prüfung und so schnell und wohlwollend wie möglich. Das soll untergesetzlich geregelt werden. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Bürokratie meint. Wenn der Kompromiss wirklich greift, würde die Rechtslage für die betroffenen Baugewerke nach Ablauf einer dreijährigen Übergangsfrist wie folgt aussehen: Arbeits- und Schutzgerüste für die eigenen Arbeiten aufzustellen, ist nach wie vor erlaubt. Auch das Überlassen dieser eigenen Einrüstung vom Elektriker, vom Maler, vom Stuckateur für die anderen ist erlaubt. Und – jetzt kommt es – das Aufstellen von Arbeits- und Schutzgerüsten nur für Dritte – Klammer auf: die Gerüstbauer; Klammer zu – soll gemäß dieser Arbeitsberechtigung erfolgen und zulässig sein. Ich glaube, das ist eine Regelung, die praktikabel ist. Damit haben wir auch alle, die daran beteiligt waren, im Großen und Ganzen versöhnt; es gibt hier und da noch ein paar Unzufriedene. Aber, ich glaube, das ist ganz gut gelungen. Wir hätte sagen können: Entweder wir lassen es so, oder wir machen eine komplett andere Regelung. – Aber, ich glaube, das ist lösungsorientiert und unkompliziert. Ein herzlicher Dank noch mal an alle, die an dieser Novelle mitgearbeitet haben! Ich glaube, wir haben eine gute Novelle auf den Weg gebracht. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Koeppen. – Ich schließe die Aussprache.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, ein wichtiger Aktionstag, um für die Menschen gesetzliche Grundlagen für mehr Selbstbestimmtheit und Barrierefreiheit zu schaffen. Es geht hier insgesamt und immerhin um 10,5 Millionen Menschen in unserem Land, und so vielfältig die Bedürfnisse und Bedarfe dieser Gruppe sind, so vielfältig müssen auch die gesetzgeberischen Grundlagen sein, die wir schaffen. Wir haben vor wenigen Wochen das Teilhabestärkungsgesetz auf den Weg gebracht, mit vielen Verbesserungen. Ich will an der Stelle exemplarisch auf das ausgeweitete Budget für Ausbildung hinweisen, das just in meinem Wahlkreis direkt dazu geführt hat, dass eine junge Frau mit einer Behinderung eine Perspektive erhält. ({0}) Es ist immer wieder schön, zu sehen, wenn unsere Gesetze wirken. Es geht aber auch darum, dass wir weitere Gesetze auf den Weg bringen wollen. Wir haben ja heute wieder viele Anträge von der FDP-Fraktion vorliegen, über die wir auch beraten. Wir sollen darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir mehr tun müssen. Und hier, Kolleginnen und Kollegen, will ich Ihnen aber auch mal entgegenhalten: Wir haben viel getan, und wir tun nach wie vor sehr viel. Ich habe eben vom Teilhabestärkungsgesetz gesprochen, und ich will in diesem Zusammenhang auch noch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das wir jetzt im parlamentarischen Verfahren haben, aufzählen, das dazu führen wird, dass wir viele europaweite Standards schaffen, um Barrieren für bestimmte Produkte und Dienstleistungen abzubauen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. ({1}) Konkret – das will ich in diesem Zusammenhang erwähnen – geht es um Ticket‑, Kassen‑, Bankautomaten. Es geht um Personenbeförderung, die barrierefreier gestaltet werden soll. Es geht im Zeitalter der Digitalisierung natürlich auch um Apps, die ohne fremde Hilfe angewandt werden müssen. Und es geht auch um den Computer oder um die Fernbedienung zu Hause am Fernseher. All das muss barrierefrei werden, ({2}) und damit werden wir in diesem Fall einen weiteren Schritt nach vorne kommen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Liebe Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von der Kollegin Rüffer von Bündnis 90/Die Grünen?

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dafür bedanke ich mich sehr, dass ich die Möglichkeit habe, die Zwischenfrage zu stellen. – Ich würde gerne zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz etwas sagen und Ihnen eine Frage stellen. Auch Sie wissen ja: Es geht da um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Da kommen wir gar nicht drumherum; das ist jetzt keine Wohltat der Großen Koalition, sondern das müssen wir tun. Und wir hätten ja die Möglichkeit gehabt, diese Richtlinie nicht nur so umzusetzen, dass eins zu eins das übernommen wird, was vorgeschrieben ist, sondern mal richtig was für die Barrierefreiheit in diesem Land zu machen. Was jetzt dabei rauskommt, ist, dass bei Geldautomaten die Übergangsfrist erst 2040 endet und die Treppenstufen vor dem Geldautomaten trotzdem weiter da sein werden. Vielleicht haben wir zu diesem Zeitpunkt in diesem Sinne gar keine Geldautomaten mehr, vielleicht gibt es auch gar kein Bargeld mehr – das weiß ich nicht so genau. Aber finden Sie, dass man sich auf die Schulter klopfen kann, wenn dies das Ergebnis eines Gesetzes ist, das Sie als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bezeichnen? Ich habe Sie heute am Brandenburger Tor nicht gesehen; aber die Leute, die da waren, um zu protestieren, waren nicht begeistert. Das will ich Ihnen ausrichten. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Rüffer, Sie zielen darauf ab, dass zwar der Bankautomat ausgetauscht und barrierefrei ist, aber die Stufen davor weiter existieren. Es gibt ja Bilder, die zeigen – und ich stehe natürlich auch mit den Menschen in engem Kontakt –, dass Menschen davorstehen und die Stufen nicht hinaufkommen. Das ist in der Tat ein Problem. Aber Sie sind ja auch schon ein paar Tage länger hier im Parlament, und Sie wissen sehr wohl, dass das Bauordnungsrecht nun mal nicht in der Hand des Bundes liegt, sondern Aufgabe der Länder ist. Ich will gleichwohl darauf hinweisen, dass wir die Hebel, die wir auf Bundesebene bewegen können, tatsächlich nutzen müssen. Sie werden auch genutzt. Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen: Das Kommunalinvestitionsförderungsgesetz sieht vor, dass finanzschwache Kommunen gefördert werden können. ({0}) – Ich würde gerne noch ausführen. ({1}) Die Schaffung von Barrierefreiheit ist hier eine wichtige Voraussetzung. Ich will Ihnen einen weiteren Aspekt nennen, der in fast all Ihren Anträgen und Vorträgen aus meiner Sicht definitiv zu kurz kommt: Es geht bei allen Veränderungen, die wir wirksam umsetzen wollen, auch immer darum, dass wir die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit mitnehmen. ({2}) Ich betrachte das im Gegensatz zu vielen anderen als einen wichtigen Prozess, den wir nicht in einer Hauruckaktion umsetzen können. Vielmehr müssen wir – um noch mal das Beispiel des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes zu nehmen – einfach darauf hinwirken, dass wir die Menschen mit Behinderungen mitnehmen, dass wir die Verbraucherinnen und Verbraucher mitnehmen, dass wir die Betriebe mitnehmen, die umstellen müssen. Und wer in Regierungsverantwortung ist und darauf hinwirken will, dass ein Gesetz auch wirkt, der kann nicht eine so enge Sichtweise haben, wie Sie sie immer hier vortragen. ({3}) Wir haben die Gesellschaft als Ganze im Blick, und das ist erfolgversprechend. ({4}) Ich will auch sagen: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist auch deswegen ein Erfolg, weil es einfach europäische Standards setzt. Es wirkt darauf hin, dass Menschen in Europa Produkte kaufen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, die nach gleichen Maßstäben produziert bzw. erbracht werden. Sie haben ein größeres Angebot, auf das sie zugreifen können, und sind eben nicht auf teure Einzelprodukte angewiesen. Und ja, wir schaffen mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auch eine Kontrollinstanz, damit Barrierefreiheit Stück um Stück umgesetzt wird. Es gibt ein Beschwerderecht. Wir werden Verbraucher auch dadurch stärken, dass sie Rechtsmittel einlegen können, sogar in Form eines Verbandsklagerechts. Und es gibt auch ein Schlichtungsverfahren für all diejenigen, die den Gerichtsweg nicht gehen wollen. Ich will einfach noch mal festhalten: Das sind wichtige Punkte. Was die FDP-Anträge, über die wir heute hier beraten und in denen Sie teilweise Vorschläge zu Inklusion und Barrierefreiheit gemacht haben, betrifft, will ich Ihnen zum einen sagen: Wir waren bei der Umsetzung der Ideen einfach schneller. Und zum anderen lassen Ihre Anträge auch Fragen offen. Was bringt es beispielsweise mit Blick auf Barrierefreiheit, wenn jemand einen Chip in einer Gesundheitskarte austauscht oder ein Schwerbehindertenausweis nun Teilhabeausweis genannt wird? Ihre Anträge werden wir daher ablehnen. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Glöckner. – Das Wort geht an Uwe Witt von der AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Frau Glöckner, ich bin etwas verwundert. Haben Sie Ihr Redemanuskript von heute Morgen aus dem Ausschuss versehentlich hier zur Verfügung gehabt? Denn zu den Anträgen der Kollegen haben Sie gar nichts gesagt. Traurig! Gut, die Kollegen der FDP legen heute eine Fülle von Anträgen zur Verbesserung der Lebenssituation von behinderten Menschen vor. Bei diesen Anträgen finden wir vom kleinen zielgerichteten bis zum großen, alles umfassenden Antrag die komplette Palette parlamentarischer Möglichkeiten vor. Den Antrag „Umfassende Teilhabe und Inklusion für Deutschland“ müssen wir leider ablehnen. ({0}) Die FDP fordert insbesondere im Bereich der Barrierefreiheit starke staatliche Eingriffe in private Bereiche, die wir in dieser Form leider nicht mittragen können. In ihrem Antrag zu einem Assistenzhundegesetz fordert die FDP genau das, was auch unsere Auffassung zu diesem Thema ist, daher volle Zustimmung. Den Antrag zur Digitalisierung des jetzigen Schwerbehindertenausweises und zur sprachlichen Umwandlung in einen Teilhabeausweis unterstützen wir Alternativen vollumfänglich. Hier wird eine sprachliche Benachteiligung unserer Bürger mit Behinderung aufgehoben. Mir persönlich sind Fälle bekannt, in denen Eltern tatsächlich hadern, für ihr Kind den Status der Schwerbehinderung zu beantragen, weil sie negative Konsequenzen durch diese Bezeichnung für ihr Kind fürchten. Mit ihrem Antrag „Menschenwürdige und inklusive Arbeitswelt voranbringen“ legt die FDP einen Omnibus vor, der gut gemeint ist, aber durch den berühmten Teufel im Detail leider nur auf unsere Enthaltung stößt. Die Ausgleichsabgabe für ein Unternehmen zu reduzieren, das wiederum selber Aufträge an Inklusionsbetriebe vergibt, kann nicht im Sinne des SGB IX sein. Wir Alternativen können einem Plan, der quasi einem Ablasshandel entspricht, nicht zustimmen. ({1}) Dass wir im Jahre 2021 überhaupt noch über Gebärdendolmetscher reden müssen, ist traurig. Gebärdendolmetschung ist einfach selbstverständlich. Natürlich stimmen wir dem Antrag der FDP auch in dem Fall zu. Beim Antrag zur steuerlichen Behandlung von Inklusions- und Zweckbetrieben möchten wir uns enthalten; denn die aktuelle Regelung des ermäßigten Steuersatzes für Produkte und Dienstleistungen für diese Betriebe führt bereits jetzt zu einer Wettbewerbsverzerrung, die wir Alternativen in der vorliegenden Form nicht mittragen können. Der letzte Antrag der FDP ist inhaltlich identisch zu unserem Antrag auf einen Schutzschirm für Leistungserbringer der Eingliederungshilfe im Zuge der Coronapandemie, den wir Alternativen im Rahmen des Sozialschutz-Paketes I bereits 2020 gestellt haben. Übrigens zur Erinnerung: Der Antrag wurde auch von der FDP abgelehnt. Wir Alternativen sind aber natürlich nicht nachtragend, sondern freuen uns, dass unsere Arbeit die Kollegen inspiriert, und stimmen natürlich für ihre Nachahmung unseres Antrags. ({2}) Die Kolleginnen und Kollegen der Grünen wollen mit ihrem Antrag das endgültige Aus der deutschen Tourismusbranche einläuten. ({3}) Nicht jedes Hotel, nicht jede Gaststätte und nicht jede Pension in Deutschland darf gesetzlich zur Barrierefreiheit verpflichtet werden; denn gerade das Gastgewerbe bietet jetzt bereits viele Möglichkeiten auf freiwilliger Basis für behinderte Menschen. Mit einer pauschalen Zwangseinführung der Barrierefreiheit explodieren die Kosten für die deutschen Tourismusunternehmen. ({4}) Betroffen sind in dem Fall aber auch Privatpersonen, die durch Ferienvermietung von Zimmern dem auch unterliegen würden. ({5}) Wollen Sie allen Ernstes eine Branche, die dank der Coronamaßnahmen am Boden liegt, zu Investitionen in ungeahnter Höhe zwingen? Daher lehnen wir diesen Antrag natürlich ab. Vielen Dank. ({6}) – Was möchten Sie? Möchten Sie eine Kurzintervention machen? ({7}) – Schade!

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollege Witt. ({0}) Es geht das Wort an die CDU/CSU-Fraktion mit Wilfried Oellers. ({1})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung passt es eigentlich ganz gut, über Anträge zu diesem Thema heute hier im Deutschen Bundestag zu debattieren. Es ist ja eine Fülle von Anträgen, die wir jetzt vorliegen haben: ein Antrag der Grünen und eine Reihe von Anträgen der FDP. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass dies ein Thema ist, das man bitte schön nicht nur an besonderen Tagen debattieren, sondern eigentlich über einen längeren Zeitraum bearbeiten sollte, ({0}) um so Lösungen für mehr Barrierefreiheit, Teilhabe und Inklusion in der Gesellschaft zu finden. Ich will das aufnehmen, was die Kollegin Glöckner schon gesagt hat. Viele Anträge, die seitens der FDP eingebracht worden sind, könnte man eigentlich schon mit dem Vermerk „erledigt“ versehen. ({1}) Ich denke da zum Beispiel an Ihre Forderung nach einem Assistenzhundegesetz; dazu haben Sie ja auch einen Antrag eingebracht. Da haben wir schon in der letzten Sitzungswoche im Rahmen des Teilhabestärkungsgesetzes Abhilfe geleistet. Die Ausbildung und Zertifizierung von Assistenzhunden ist geregelt wie auch das Zutrittsrecht in öffentliche und private Räumlichkeiten. Das schafft tatsächlich eine Verbesserung hin zu mehr Teilhabe. Ein weiteres Beispiel: Einer Ihrer Anträge beinhaltet die Thematik „inklusive Arbeitswelt“, ein Thema, was uns als Unionsfraktion auch sehr am Herzen liegt. Dazu haben wir im Teilhabestärkungsgesetz auch entsprechende Verbesserungen vorgenommen. Ich nenne hier mal die Ansprechstellen für die Arbeitgeber, die als trägerübergreifende Lotsen fungieren, über Fördermöglichkeiten informieren, die Antragstellung für Fördermöglichkeiten unterstützen und vor allem – das ist auch ganz wichtig – gerade auch auf Unternehmen, die noch keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen, zugehen, sie sensibilisieren, aufklären und sie hoffentlich dann auch für eine Beschäftigung von behinderten Menschen gewinnen können. ({2}) Darüber hinaus haben wir auch andere Themen, die ich einmal schlagwortartig nennen möchte, wie die Verdopplung des Steuerpauschbetrages – ein Thema, das schon jahrzehntealt ist und überfällig war –, in dieser Legislaturperiode hinbekommen, die finanzielle Unterstützung für die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung entfristet und auch die Erhöhung von Berufsausbildungsbeihilfe und Ausbildungsgeld vorgenommen. Da bin ich auch schon beim nächsten Thema: Budget für Ausbildung. Nachdem wir in der letzten Periode das Budget für Arbeit eingeführt haben, haben wir jetzt auch – denklogisch – das Budget für Ausbildung eingeführt und im Teilhabestärkungsgesetz noch mal erweitert für den Arbeitsbereich in Werkstätten und auch für Inklusionsunternehmen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, im Rahmen der anderen Anbieter ein lebenslanges Lernen zu fördern und zu ermöglichen. Zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz hat Frau Kollegin Glöckner schon eine Reihe gesagt; wir haben es heute auch im Ausschuss behandelt. Dienstleistungen und Produkte sollen barrierefrei gestaltet werden. Ich glaube, es ist wichtig, an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Ja, das ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie; das ist richtig. Aber ich glaube auch, dass es wichtig ist, gerade auch die Thematik Barrierefreiheit in der Tat europaweit zu denken. Damit bin ich bei der Frage, ob ein entsprechender Ausweis europäischer Schwerbehindertenausweis oder Teilhabeausweis genannt werden soll. Es ist wichtig, dass wir auch da EU-einheitliche Standards hinbekommen. ({3}) Deswegen ist es, glaube ich, nicht verkehrt, wenn man EU-Richtlinien umsetzt. Dabei aber bitte nicht gleich behaupten: Ja, als nationaler Gesetzgeber würde man die Fragen sonst nicht bearbeiten. ({4}) Es wäre besser, anzuerkennen, dass wir eigentlich europaweit unterwegs sind. Es ist mir ganz besonders wichtig, dies zu betonen. ({5}) Als Letztes will ich nur noch die Coronazeit ansprechen. Wir haben die ganzen Einrichtungen – Werkstätten, Sozialeinrichtungen – mit Zuschüssen nach dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, mit KfW-Mitteln, mit KfW-Programmen usw. unterstützt. Ich glaube, das kann sich im Ergebnis sehen lassen. Deswegen vielen Dank für die Anträge, aber ich glaube, wir haben schon einiges erreicht, und wir können an vieles das Prädikat „erledigt“ heften. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Oellers. – Das Wort geht an Jens Beeck von der FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um beim letzten Redner anzufangen: Kollege Oellers, Sie wissen genau, wenn Sie die Anträge durchgehen, dass Sie keine 10 Prozent, im Grunde nicht einmal 8 Prozent davon abgearbeitet haben. ({0}) Wenn Sie sich die Drucksachen anschauen, stellen Sie fest, dass dort Dinge stehen, die Sie vorher zum Teil abgelehnt haben, weil wir sie nämlich vor Ihnen eingebracht haben. ({1}) Aber das nur als Vorbemerkung. ({2}) Es gibt eine Reihe von Gründen für diese Debatte heute. Der augenfälligste ist, dass der heutige Tag der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist. Weitere sind natürlich die systematische Vernachlässigung von Menschen mit Behinderung im Rahmen der Coronapandemie, die wir aufzuarbeiten noch Jahre brauchen werden, und die permanente Untätigkeit dieser Bundesregierung, aus eigenem Anlass und aus eigenem Antrieb deutliche Verbesserungen in der Teilhabepolitik zu schaffen. Zu Ihrer Bemerkung hierzu, Frau Glöckner, komme ich gleich noch. Auch ist es angemessen, an die Opfer der Gewalttaten im Oberlinhaus in Potsdam heute hier in diesem Hause zu erinnern, einmal deswegen, weil es schreckliche Taten waren, aber auch deswegen, weil im Rahmen der Berichterstattung – möglicherweise gar nicht böse gemeint – ein völlig verzerrtes Bild entstanden ist. Menschen mit Trisomie 21 leiden nicht an dieser Krankheit. ({3}) Menschen im Rollstuhl sind nicht an diesen gefesselt, und ganz sicher müssen diese Menschen nicht erlöst werden. Wenn das das Bild ist, das heute noch transportiert wird, wird umso deutlicher, dass wir hier diese Debatte stärker und intensiver führen müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Dazu brauchen wir einen Plan, dazu brauchen wir einen Marshallplan, der uns zu den Zielen führt, zu denen wir lange verpflichtet sind. Ausgerechnet der Americans with Disabilities Act aus dem Jahre 1990 der Vereinigten Staaten zeigt, dass das geht und dass man das wesentlich konsequenter machen kann als wir und dass es nicht zu irgendwelchen Verwerfungen im Bereich der Privatwirtschaft und an sonstigen Stellen führt, sondern dort hat man ein Beispiel dafür, dass der gesetzte Standard automatisch auch der Preiswerteste wird und nur immer die Abweichungen vom Standard teurer werden. Hier können wir wesentlich mutiger sein, und wir können den gesellschaftlichen Wandel, der dadurch beispielsweise in den Vereinigten Staaten von Amerika hervorgerufen wurde und der übrigens ganz viele unserer multinationalen Unternehmen schon trifft, weil sie auch auf dem Markt Zugang dort haben und deswegen ganz vieles schon getan haben, was dort gesetzlich vorgeschrieben ist und wo wir noch nicht sind, durchaus einmal als Vorbild nehmen und ein ähnliches Tempo vorlegen. ({5}) Lassen Sie mich in dem Zusammenhang sagen: Wir haben das im Grunde in unserer Rechtsordnung. Und Frau Glöckner, wenn Sie sagen, man muss die Gesellschaft mitnehmen und wir brauchen noch ein bisschen Zeit: Wir stellen hier häufig ab auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die auch ein wichtiger und richtiger Schritt ist, aber es war der 15. November 1994, als die Vorgänger von uns in diesem Hause in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz Satz 2 „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ eingefügt haben. Das ist 27 Jahre her. Es gibt dazu umfassende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die uns verfassungsrechtlich bindet. Deswegen ist nicht mehr die Zeit, irgendwen mitzunehmen, es ist die Zeit, voranzukommen, Frau Kollegin Glöckner! ({6}) Wir haben deswegen umfassende Anträge vorgelegt, von denen Sie zum Teil schon welche abgelehnt haben, andere könnten Sie heute noch annehmen. Der Appell bleibt: Nutzen wir den heutigen Tag, nutzen wir übrigens auch die Dinge, mit denen wir uns leider befassen müssen. Es war nicht nur Potsdam, es war vorher auch NRW. Kollege Oellers, Sie haben darauf hingewiesen, wir haben im Teilhabestärkungsgesetz immer kleine Schritte gemacht. Aber Sie sagen ja selbst – so Frau Glöckner heute Morgen im Ausschuss für Arbeit und Soziales bei der Beratung der Umsetzung der Europarichtlinie –: Wir machen wieder einen Schritt. Und Sie sagen selbst: Es müssen weitere folgen. – Das ist im Grunde nichts anderes als das Eingeständnis, dass das, wozu wir verfassungsrechtlich verpflichtet sind, wozu wir bundesgesetzlich verpflichtet sind, mit dem, was Sie derzeit tun, nicht erreicht wird. Es ist Zeit, dass wir etwas mehr tun. Dazu haben Sie heute die Gelegenheit, wenn Sie unseren Anträgen zustimmen. Das wäre auch für den heutigen Tag eine gute Gelegenheit. Ich ermuntere Sie: Lassen Sie es uns gemeinsam angehen! ({7}) Alle Vorlagen dafür haben wir Ihnen gegeben. Vielen Dank, Frau Präsidentin. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Beeck. – Das Wort geht an Sören Pellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Glöckner und Herr Oellers, ein Satz: Wenn Sie es mit dem Barrierefreiheitsgesetz so ernst meinen, ist meine Frage: Warum gab es keine erste Lesung hier im Parlament, und warum wird die zweite Lesung in der nächsten Sitzungswoche um Mitternacht stattfinden? Das hat mit Transparenz herzlich wenig zu tun. ({0}) Aber zum heutigen Thema. Zum heutigen Protesttag hätte ich mir unter dem Zeichen, unter dem nämlich dieser Protesttag steht: „Meine Stimme für Inklusion!“, eine deutlich stärkere und deutlich lautere Stimme gewünscht. Denn wie steht es um Inklusion in Deutschland? Eine Befragung des Mitteldeutschen Rundfunks aus dem März dieses Jahres hat ergeben: Von 20 000 befragten Leute haben 16 Prozent ausgeführt, es werde nicht genug für Menschen mit Behinderung getan. Zweite Zahl aus dieser Umfrage: 80 Prozent der Befragten sagen, es gebe keine Chancengleichheit auf Teilhabe. Das ist erschreckend! ({1}) Wo liegen denn aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme? Schauen wir doch einmal in die UN-Behindertenrechtskonvention hinein. In der Originalfassung steht „Inclusion“. Übersetzt heißt das eigentlich Inklusion. In der amtlichen Übersetzung steht aber anstelle von Inklusion nur Integration. Ein vermeintlich kleiner Fehler, aber er macht das Ausmaß sehr deutlich. Integration ist eben nicht Inklusion. ({2}) Bereits während meines Studiums haben wir den Unterschied sehr bildhaft herausgearbeitet. Aus meinen damaligen Mitschriften kann ich der Bundesregierung gern, auch in leichter Sprache, entsprechende Mitschriften zur Verfügung stellen. ({3}) Auch der fehlende Wille der Großen Koalition in der letzten Legislaturperiode, mehr zum Abbau für Barriere zu tun, ist ein Grund für die Probleme. Die Anzahl der Anträge aus den demokratischen Oppositionsfraktionen der letzten Wochen und Monate zeigt deutlich, wo weiterhin Defizite bestehen. Nur war Ihnen offensichtlich, insbesondere liebe Sozialdemokraten, der Koalitionsfriede deutlich wichtiger als der Einsatz für Menschen mit Behinderung. ({4}) In der heutigen Debatte unterstützen wir, lieber Jens Beeck, euren Antrag zur Gebärdensprachdolmetschung. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass alle Pressestatements aus den Ministerien barrierefrei übertragen werden müssen. ({5}) Ein zweiter spannender Antrag ist der zur Umsatzsteuer für Inklusionsunternehmen; auch den unterstützen wir ausdrücklich. Es versteht doch draußen kein Mensch mehr, dass dort produzierte Waren mit 7 Prozent Mehrwertsteuer besteuert werden, aber die an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verkaufte Bockwurst mit 19 Prozent. Das ist nicht gerecht. ({6}) Für die Linke bleibt daher wichtig: Das Wunsch- und Wahlrecht auf Leistungen zur Teilhabe darf nicht am Kostenvorbehalt scheitern; denn Teilhabe, Inklusion und Menschenrechte gibt es nicht zum Nulltarif, und der Markt regelt es, wie so oft, eben nicht. Die Linke ist der Überzeugung: Auf dem Arbeitsmarkt wird es keine Veränderung ohne schärfere Sanktionen geben. Zur Ausgleichsabgabe habe ich mich bereits geäußert. Ich will zum Schluss kommen und noch zwei weitere Zahlen aus der von mir zitierten Umfrage nennen. Erstens. 86 Prozent der Interessierten zeigen sich für Belange von Menschen mit Behinderung offen. Zweitens. 93 Prozent der Befragten wünschen sich einen inklusiven Arbeitsmarkt, auf dem sie mitwirken. Daher meine abschließende Bitte: Unterstützen wir besonders am heutigen Tag die Initiative zum europäischen Tag der Menschen mit Behinderung. Unsere Stimme für Inklusion! Machen Sie mit! Gemeinsam können wir die Systemschwächen überwinden und die Gesellschaft deutlich inklusiver gestalten. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollege Pellmann. – Das Wort geht an Bündnis 90/Die Grünen mit Corinna Rüffer. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Am vergangenen Samstag war der 1. Mai, der Tag der Arbeit. ({0}) Trotz Pandemie waren viele Menschen auf den Straßen und haben für die Rechte von Menschen, die in diesem Land arbeiten und vieles aufrechterhalten, gestritten. Ich freue mich darüber, dass sie das getan haben. Aber was mich nicht freut, ist, dass wieder einmal eine Gruppe von Menschen überhaupt nicht im Blick gestanden hat, und das sind Menschen mit Behinderung. Das ist in der Tat wirklich schade. Das ist deshalb schade, weil das Thema „Inklusion am Arbeitsmarkt“ in einer Gesellschaft, die altert und sich im demografischen Wandel befindet, richtig wichtig und zunehmend von zentraler Bedeutung ist. Es ist auch bedauernswert, weil immer mehr Menschen, die arbeiten, aufgrund dieser Arbeit krank werden und weil es trotz rechtlicher Verpflichtung viel zu viele Menschen gibt, die in Sondersystemen gefangen sind und das Gefühl haben, dass sie nicht wahrgenommen werden – meines Erachtens völlig zu Recht. Ich möchte deshalb am heutigen Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen tatsächlich die Gelegenheit nutzen, diese vielen Menschen, die Millionen von Menschen, für einen kurzen Moment einmal in den Mittelpunkt dieser Debatte zu stellen. ({1}) Die Gelegenheit hat mir in der Tat die FDP gegeben, die hier eine Reihe von Anträgen zu diesem Thema vorgelegt hat, über die wir eigentlich viel umfänglicher diskutieren müssten. Ich kann Ihnen sagen: Wir teilen viele der Punkte, die Sie auf Papier gebracht haben. Die Deckelung des Budgets für Arbeit muss weg, damit das Angebot für die Menschen attraktiv wird. ({2}) Die Bürokratie muss abgebaut werden; das ist völlig richtig. Inklusionsbetriebe dürfen steuerlich nicht benachteiligt werden, weil es wirklich Innovationsboten sind in diesem Bereich. Die müssen wir stärken; das ist völlig richtig. ({3}) Wir brauchen eine echte Entschleunigung der Bürokratie in diesem Land, damit Menschen auch im Bereich des inklusiven Arbeitens ihre Leistungen erbringen können. Das ist wirklich überfällig. ({4}) Wir sehen natürlich – wir sind bei den Grünen, Sie bei der FDP – viele Dinge auch unterschiedlich; die Ausgleichsabgabe und die Beschäftigungsquote sind da nur zwei Stichworte. Aber eigentlich möchte ich über die Hundertausenden von Menschen reden, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten. Ich habe einen Mitarbeiter, Lukas Krämer, der in meinem Wahlkreisbüro arbeitet. Er hat zuvor fünf Jahre lang in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Er weiß ganz genau, worum es geht. Er hat sich mit einer Petition auf den Weg gemacht, die so erfolgreich ist, wie es keiner geglaubt hätte. Fast 90 000 Menschen – und es werden jeden Tag mehr – unterstützen diese Petition, weil die Menschen in diesen Werkstätten endlich einen Mindestlohn haben möchten. ({5}) Diese Menschen arbeiten Vollzeit für ein Taschengeld von 1,35 Euro pro Stunde.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das sind doch die Themen. Es versteht doch auch der Letzte, dass wir hier mit dem Argument des Schonraums nicht mehr kommen können, sondern in der Lebensrealität dieser Menschen endlich substanziell etwas verändern müssen, und dazu wäre jetzt endlich auch mal Gelegenheit. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollegin Rüffer. – Das Wort geht an Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vergangene Sitzungswoche haben wir hier das Teilhabestärkungsgesetz verabschiedet. Viele der FDP-Anträge, die heute auf der Agenda stehen, waren Teil unserer Ausschussberatungen. Es ist aber trotzdem schön und gut, dass wir mit den Anträgen heute, am Protesttag zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung, noch einmal die Inklusion debattieren können. Denn nach wie vor gilt: Wir brauchen einen Bewusstseinswandel. Fast 10 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung, und nur bei jedem Dreißigsten ist die Behinderung angeboren. Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens durch Unfälle oder chronische Erkrankungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist absurd. Es gibt Beratungen, es gibt Förderungen, es gibt Geld, und trotzdem gibt es zu viele Menschen mit Schwerbehinderung, die arbeitslos sind – das Ganze bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen bekanntlich eine Schwerbehindertenbeschäftigungsquote von 5 Prozent erfüllen. Bei jedem Viertem dieser beschäftigungspflichtigen Unternehmen ist es so, dass die ihre Quote nicht nur nicht erfüllen, nein, sie beschäftigen überhaupt keine Menschen mit Schwerbehinderung – Beschäftigungsquote: null. Für diese Totalverweigerer hat Hubertus Heil eine zusätzliche Stufe für die Ausgleichsabgabe vorgeschlagen. Die Ausgleichsabgabe in dieser Stufe sollte wesentlich höher sein. Das ist eine deutliche Maßnahme und ein deutliches Signal an die Totalverweigerer. ({0}) Aber das Kanzleramt hat das gestoppt – wieder einmal. Ich finde, es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass dort ein Personalwechsel stattfindet, ({1}) und der nächste Bewohner sollte einer aus Hamburg sein. ({2}) Ein anderes und wichtiges Thema ist die Gebärdensprachdolmetschung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie sprechen es mit Ihrem Antrag an: Nicht nur in der Pandemie sind unsere Gehörlosen und die schwerhörigen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf schnelle und zuverlässige Information angewiesen. Ich bin daher froh, dass es gelungen ist, endlich mehr Debatten in diesem Hohen Haus barrierefrei zu übertragen. Es war nicht in Ordnung, dass gehörlose Menschen bisher nur einen Bruchteil der Bundestagsdebatten direkt verstehen konnten. Daher habe ich mich als Ausschussvorsitzender in dieser Wahlperiode massiv für eine Ausweitung der barrierefreien Übertragung der Debatten eingesetzt, und es ist mir gelungen. ({3}) Alle Debatten am Donnerstag- und Freitagvormittag sowie ausgewählte weitere Diskussionen werden seit Februar in deutscher Gebärdensprache verdolmetscht. Es ist großartig, dass nun alle Bewegtbilder, die der Bundestag sendet, untertitelt werden. Das entspricht mehr als dem Dreifachen der vorherigen Untertitelung. Davon profitieren die Menschen, die nicht hören können, aber auch alle anderen, die die Debatten ohne Ton verfolgen wollen, zum Beispiel wenn sie unterwegs auf ihren Smartphones die Videos schauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind kleine und große Veränderungen, die uns zu einer inklusiven Gesellschaft werden lassen. Wir sind dabei noch lange nicht am Ende. Deswegen sage ich: Inklusiv denken muss das neue Normal werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Bartke. – Zum Abschluss der Debatte hören wir Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für eine inklusive Gesellschaft braucht es ganzheitliche Ansätze, die der Lebenswirklichkeit und der Vielfalt von Menschen mit Behinderung gerecht werden. Unser ehemaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat diesen Anspruch wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es ist normal, verschieden zu sein.“ Aus meiner Sicht ist noch der folgende Zusatz wichtig: Es gibt keine Norm für das Menschsein. Genau dieses Verständnis von Teilhabe ist unser gemeinsamer politischer Auftrag in diesem Haus. Deshalb ist es gut, dass wir heute am Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung hier im Bundestag über dieses wichtige Thema diskutieren, ganz nach dem diesjährigen Motto: „Deine Stimme für Inklusion – mach mit!“. ({0}) Viele Menschen in unserem Land verleihen dieser Stimme Ausdruck und machen heute darauf aufmerksam, dass Inklusion und Teilhabe eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe sind. Egal ob angeborene oder durch eine Krankheit verursachte Behinderung: Unser politisch-gesellschaftliches Ziel muss die gelebte Inklusion und Teilhabe aller sein. Wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben mit dem Teilhabestärkungsgesetz – es ist schon öfter angesprochen worden – in der letzten Sitzungswoche eine Verbesserung für die Teilhabe auf den Weg gebracht. Es ist vorher gesagt worden, dass das Kabinett heute einen Entwurf für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auf den Weg gebracht hat. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt für gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser gemeinsames Ziel ist es, den Alltag und die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung zu erleichtern. Der dritte Teilhabebericht der Bundesregierung zeigt die bisherigen Erfolge und Weiterentwicklungen in diesem Bereich; aber er offenbart auch noch bestehende Schwachstellen. Ein zentrales Themenfeld, bei dem sich zeigt, wie ernst es uns mit gelebter Inklusion ist, ist der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Hier zeigt der Bericht Fortschritte und positive Entwicklungen. So ist die Arbeitslosenquote bei Menschen mit einer schweren Behinderung seit 2015 kontinuierlich gesunken. Eine Arbeitslosenquote von derzeit rund 11 Prozent zeigt aber auch, dass es weiterer Anstrengungen bedarf, um hier zu gleichen Chancen von Menschen mit und ohne Behinderung zu kommen. Es zeigt sich, dass die momentanen beruflichen Nachteile von Menschen mit Behinderung bereits in der Ausbildung gelegt werden. So haben derzeit 27 Prozent der Menschen mit Behinderung im Alter von 30 bis 44 Jahren keinen Berufsabschluss. Bei den Menschen ohne Behinderung sind es 14 Prozent. Auch wenn in meinen Augen beide Werte für die zukünftigen Entwicklungen unserer Volkswirtschaft deutlich zu hoch sind, zeigen sie doch die bestehenden teils gravierenden Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung im Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Genau dieses Thema haben wir angepackt. Wir haben das Budget für Ausbildung eingeführt; Kollege Oellers hat es vorhin angesprochen. Wir haben es jetzt noch einmal ausgeweitet. Genau das zeigt, dass uns das Thema Arbeitsmarkt wichtig ist. Sehr geehrter Herr Kollege Pellmann, es ist schon schade, wenn man immer nur die negativen Punkte aufzeigt. Ich glaube, was wir in dieser Legislaturperiode und in den letzten Jahren beim Thema Inklusion gemacht haben, ist der Anerkennung wert. ({1}) Es hat große Anstrengungen erfordert, die entsprechenden Maßnahmen auf den Weg zu bringen. ({2}) – Ich rede auch mit Betroffenen in meinem Wahlkreis; das machen nicht nur Sie. Ich bin oft bei der Lebenshilfe. – Kollegin Rüffer hat es gesagt: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das umzusetzen. ({3}) Wir müssen schauen, dass wir die Dinge, die wir hier beschließen, gemeinsam umsetzen. Lieber Kollege von der FDP, ihr wollt immer so realitätsnah sein. Manchmal muss man zwischen Anspruch und Machbarkeit abwägen. Man kann nicht nur Forderungen in den Raum stellen, deren Umsetzung man so schnell nicht schultern kann. Wir haben gemeinsame Ziele, die man nach und nach umsetzen muss. Die EUTB zum Beispiel ist ein wichtiger Punkt. Diese unabhängige Teilhabeberatung gibt es in meinem Wahlkreis. Sie ist wichtig und ein guter Ansatz – Stichwort „Peer-Ansatz“ –, dass Menschen mit Behinderungen Menschen mit Behinderungen beraten. Das ist, glaube ich, der richtige Weg. Liebe Frau Kollegin Rüffer, ein Punkt noch zum Schluss. Sie haben die Reform des Werkstattentgelts angesprochen. Wir sind ja dabei. Wir als Koalition haben der Bundesregierung den Auftrag gegeben, das zu prüfen. ({4}) Wir müssen schauen, dass wir uns gemeinschaftlich auf den Weg machen. Ein Besuch bei der Lebenshilfe zeigt mir: Wir müssen auch schauen, dass die Werkstätten Aufträge bekommen, damit die Menschen in den Werkstätten Arbeit haben. Es ist immer sehr einfach gesagt, dass man für Gleichheit sorgen muss. Es ist in der Realität gar nicht so einfach, das umzusetzen. Wir lehnen die vorliegenden Anträge ab, nicht in der Sache, sondern weil die enthaltenen Forderungen so schnell nicht umsetzbar sind. Aber wir sind auf einem guten Weg, nach dem Motto „Deine Stimme für Inklusion – macht mit!“. Unsere Stimme für Inklusion haben wir heute abgegeben. Wir machen mit. Wenn wir das gemeinschaftlich hinbekommen, dann machen wir einen großen Schritt für die Menschen mit Behinderungen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Steffen Bilger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004011

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat unsere Nationale Verkehrssicherheitskonferenz stattgefunden. Dabei ging es auch um die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr. Ich musste daran denken, wie das damals bei mir als Kind war, wie ich den Verkehr damals wahrgenommen habe und wo die Unterschiede liegen, wenn ich heute mit meinen Kindern im Straßenverkehr unterwegs bin. Ich glaube, wir alle können feststellen, dass sich vieles zum Besseren entwickelt hat. Eine Kindheitserinnerung von mir sind stinkende Lkws und Busse. Laute, stinkende Fahrzeuge mit wahren Emissionswolken waren früher ganz normal, heute sind sie aus dem Straßenbild verschwunden. 1970 gab es die ersten einheitlichen Abgasvorschriften für Pkw in der Europäischen Gemeinschaft. Seitdem hat sich sehr viel getan. Wir alle haben sicherlich noch die Diskussion der vergangenen Jahre über Luftreinhaltung und Fahrverbote in Erinnerung. Die Grenzwerte wurden ja im Laufe der Jahre immer weiter verschärft. Entsprechend waren auch mehr Anstrengungen erforderlich. Heute blicken wir zurück auf eine sehr positive Entwicklung. Waren es 2016 noch 90 Städte, die die Grenzwerte für die Luftreinhaltung nicht eingehalten hatten, sind es heute weniger als 10. Das haben wir im Wesentlichen ohne Fahrverbote geschafft; vielmehr mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen, mit denen wir die betroffenen Kommunen unterstützen. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Wirkung neuer Fahrzeuge, die ältere ersetzen, die nicht so umweltfreundlich sind. Hier machen sich die europaweit geltenden Standards ganz konkret bemerkbar. Zu unserem Bündel an Maßnahmen für die Luftreinhaltung hat immer die Förderung des Umstiegs auf alternative Antriebe bei Bussen und Lkws gehört. 1 100 gasbetriebene Busse und fast 900 elektrisch oder mit Wasserstoff angetriebene Busse sind bereits in Deutschland unterwegs, die meisten davon vom Bund gefördert. Und jetzt, meine Damen und Herren, geht es darum, die nächste Stufe zu zünden. Wir brauchen den Hochlauf von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben auch im Bereich Busse und Lkw; denn diese sind elementare Bestandteile unseres Klimakonzepts. Bei den alternativen Antrieben wird Förderung noch einige Zeit nötig sein. Dazu sind wir als Bundesregierung bereit. Es darf aber keine Dauersubventionierung geben. Umso wichtiger ist die Regulierung. Auf der europäischen Ebene folgt jetzt der nächste Schritt, die Clean Vehicles Directive, die wir in nationales Recht umsetzen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Beschaffung sauberer Straßenfahrzeuge setzen wir die EU-Richtlinie um. Erstmals werden bei der öffentlichen Auftragsvergabe verbindliche Mindestquoten für die Beschaffung von emissionsarmen und emissionsfreien Straßenfahrzeugen vorgegeben. ({0}) Wir setzen die EU-Richtlinie eins zu eins in deutsches Recht um. Der Gesetzentwurf legt verpflichtende Mindestziele für die öffentliche Auftragsvergabe bei der Beschaffung bestimmter Straßenfahrzeuge fest. Es geht dabei nicht nur um Busse, sondern beispielsweise auch um Nutzfahrzeuge. Das Gesetz wird jedenfalls helfen, die Luftqualität in Stadt und Land weiter zu verbessern und die Emissionen im Verkehrsbereich zu reduzieren. In diesem Zusammenhang leistet öffentliche Beschaffung einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der CO2– und Luftschadstoffemissionen im Verkehr. Die öffentliche Hand nimmt hier eine Vorbildfunktion wahr. Sie stärkt die Nachfrage nach sauberen Fahrzeugen und damit auch die Marktentwicklung in diesem Segment. Eines will ich aber auch deutlich sagen: Die Hersteller, insbesondere die Bushersteller, müssen jetzt im wahrsten Sinne des Wortes liefern; denn wenn der Hochlauf wie erforderlich funktionieren soll, dann brauchen wir jetzt diese Fahrzeuge im Markt. Klimaschutz ist schließlich auch im Verkehr kein Projekt der Zukunft, sondern wird hier und jetzt ganz entschlossen angegangen. ({1}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist dafür der beste Beweis. Dabei begegnen wir dieser Herausforderung mit einem technologieoffenen Ansatz für alternative Antriebe. So sind beispielsweise die Mindestziele für emissionsfreie Busse nicht begrenzt auf eine Antriebsform, sondern umfassen batterieelektrische Busse genauso wie Busse mit Brennstoffzellenantrieb oder Oberleitungsfahrzeuge. Eines ist uns sehr bewusst: Die Umsetzung der europäischen Richtlinie und ihrer Beschaffungsquoten zugunsten sauberer Fahrzeuge bedeutet auch Kosten für die Kommunen, für die Länder und auch für den Bund. Wir haben im Klimaschutzprogramm 2030 angekündigt, dass bis 2030 bis zu 50 Prozent der Stadtbusse elektrisch fahren sollen. Eine dazu passende Förderrichtlinie für Busse mit alternativen Antrieben liegt der EU-Kommission bereits zur beihilferechtlichen Genehmigung vor. Insgesamt stehen nach derzeitiger Finanzplanung etwa 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung, sowohl für die technologieneutrale Beschaffung der Fahrzeuge als auch für die für den Betrieb notwendige Infrastruktur. ({2}) Jetzt kommt es mal wieder auf die Rückmeldung aus Brüssel an; die erwarten wir. Auch Brüssel hat ambitionierte Klimaziele. Deswegen hoffen wir, dass es schnell geht. Auf jeden Fall rechnen wir damit, dass wir in der zweiten Jahreshälfte dann auch tatsächlich eine konkrete Fördergrundlage haben. Ähnliches gilt auch für den Straßengüterverkehr. Da erwarten wir bis 2030 ein Drittel der Fahrleistung elektrisch oder auf Basis strombasierter Kraftstoffe. Und auch hier stehen bis 2024 für die Anschaffung von Nutzfahrzeugen mit alternativen Antrieben 1,6 Milliarden Euro Fördermittel zur Verfügung. Ach da warten wir noch auf die Notifizierung durch die EU-Kommission – noch in diesem Quartal. Ja, meine Damen und Herren, die Beschaffung der Fahrzeuge und die Flottenumstellung ist das eine, das andere ist natürlich die Infrastruktur. Wir brauchen die entsprechende Tank- und Ladeinfrastruktur. Auch dafür haben wir die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt, insgesamt rund 7 Milliarden Euro für den Ausbau der Tank- und Ladeinfrastruktur für Pkw und Nutzfahrzeuge mit alternativen Antrieben. Also, wir haben alle Möglichkeiten. Die Beschaffungsquoten für emissionsarme und emissionsfreie Fahrzeuge sind ehrgeizig, aber sie helfen uns dabei, den Verkehrssektor nachhaltiger und umweltfreundlicher zu entwickeln. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung jetzt auch bei diesem Gesetzesvorhaben. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Eine herzliche Bitte an die eine Fraktion, wo von zehn Reihen acht Reihen in stetigem Gespräch miteinander sind: Bitte entscheiden Sie sich, ob Sie hier im Plenum sein wollen oder woanders. Das Wort geht an Dr. Dirk Spaniel von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Ja, dieser Gesetzentwurf könnte auch in einem Volkskammerparlament vorliegen. Es muss ja jedem Sozialisten das Herz aufgehen bei der Quotenregelung und der dirigistischen Art, wie hier Politik gemacht wird. Wieder einmal setzt sich die Bundesregierung über das Föderalismusprinzip hinweg und ordnet für öffentliche Auftragsvergaben Quoten an, diesmal für emissionsfreie Fahrzeuge. Damit bestimmt die Bundesregierung wesentlich über die Beschaffung von Arbeitsmitteln in den Kommunen. Selbst privatrechtliche Akteure erhalten hier Vorschriften für den Betrieb ihrer Fahrzeugflotte. Das muss man sich mal vorstellen! In Summe kann es genau dazu kommen, was Sie gesagt haben, dass große Anteile an Elektrofahrzeugen realisiert werden müssen. Was passiert, wenn utopische Visionen von Politikern über technische Machbarkeit hinweggehen, das kann man in der Zeitung nachlesen. Erlauben Sie mir, dass ich hier ein Zeitungszitat aus dem Frühjahr vorlese: „Welt“ vom 10. Februar: Berliner Busse haben ein Kälteproblem. „Laut Informationen der Zeitung fallen die Elektrobusse der Berliner Verkehrsbetriebe … derzeit im Dutzend aus.“ In dem Bericht ist die Rede von allein 23 Ausfällen an einem Tag. Die Sprecherin der Berliner Verkehrsbehörde spricht von einem guten Dutzend, was immerhin einen Ausfall von ungefähr 10 Prozent bedeuten würde. Lange Schlangen vor Ladestationen, Busse, die nicht fahren – da kann ich mir bestens vorstellen, wie gerade bei den Linken das Herz aufgeht in Erinnerung an ihre gute alte Zeit voller Mangel und starker Planwirtschaft. ({0}) Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit Ihrer Planwirtschaft, kommen Sie raus aus der Mottenkiste und Ihrem real existierenden Sozialismus. Ihre Forderungen sind weder ökonomisch sinnvoll, da die entsprechenden Fahrzeuge das Zwei- oder Dreifache eines konventionell angetriebenen Fahrzeugs kosten, noch sind diese Fahrzeuge überhaupt produktiv für die Minderung des CO2-Ausstoßes bei dem real existierenden Strommix hier in Deutschland. Sie werden den CO2-Ausstoß nicht mindern durch dieses Gesetz. ({1}) Es ist unfassbarer Blödsinn, für teures Geld Elektrobusse mit Kohlestrom zu betreiben, um Dieselbusse zu ersetzen. ({2}) Aber: Das einzig Gute an diesem Gesetzentwurf ist, dass Sie damit endlich zugeben, dass auch synthetische Kraftstoffe und Biokraftstoffe in Verbindung mit Verbrennungsmotoren klimaneutral sein können. ({3}) – Ja, ich habe es ja verstanden. – Sehr interessant, dass ein Dieselmotor im Nutzfahrzeug als emissionsfrei eingestuft wird, und ein Pkw mit dem gleichen Antrieb Emissionen erzeugt. Das haben Sie gar nicht korrigiert in diesem Gesetzentwurf. ({4}) Die Erkenntnis der Klimaneutralität von synthetischen Kraftstoffen ist ja inzwischen auch bei der Fraktion angekommen, die eben dauernd geredet hat. Auch wenn Sie verzweifelt versuchen, das als Ihre eigene Idee zu verkaufen – das ist sie nicht –, freue ich mich hier über die Nachahmereffekte bei der FDP. Wenn Sie das nicht zugeben, ist das Ihre Sache. Aber dass synthetische Kraftstoffe jetzt auch von der Bundesregierung angenommen werden, ist eine positive Sache. ({5}) Wir sehen hier auch die konstruktive Seite des Parlamentarismus: Offensichtlich ist es auch aus der Opposition heraus möglich, Entscheidungsprozesse auf der Regierungsbank zu beeinflussen. Speziell die Anerkennung synthetischer Kraftstoffe, um Verbrennungsmotoren eine Zukunft zu ermöglichen, ist ein Vorhaben, das auch wir als AfD-Fraktion als sinnvoll erachten. ({6}) Allerdings ist der Rest Ihres Gesetzentwurfs gespickt mit sozialistischen Zwangsmaßnahmen. Deshalb müssen wir ihn leider ablehnen. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion. Arno Klare hat das Wort. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es würde mich ja reizen, auf das einzugehen, was gerade gesagt worden ist; aber ich lasse es. Ich könnte Ihnen natürlich schon vorrechnen, dass die Klimabilanz eines batterieelektrisch betriebenen Fahrzeuges deutlich besser ist als die eines Dieselfahrzeugs. Das müssten Sie als Techniker im Grunde viel besser können als ich. Jetzt zur Sache selbst. Manche Gesetze, so wie dieses, erscheinen auf den ersten Blick wenig spektakulär: Umsetzung der Clean Vehicles Directive. Was ist das? Aber solche Gesetze sind ein notwendiger Baustein, sie sind unverzichtbar; denn das Klimaneutralitätshaus, das wir gemeinsam – zumindest von der Linken bis zur FDP in diesem Haus – bauen wollen – die AfD nicht –, das braucht solche Bausteine und besteht aus solchen Bausteinen. ({0}) Worum geht es? Nehmen wir als Beispiel nur die Busflotte heraus. In Deutschland fahren im ÖPNV 35 600 Busse; das ist aus der Statistik des VDV. Sie fahren im Jahr 1,581 Milliarden Kilometer, also rund 1,6 Milliarden Kilometer; das ist 40 000-mal um die Erde. Sie verbrauchen im Moment ungefähr – das ist sehr gelinde gerechnet – 30 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Das ergibt rund 1,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Gemessen an den 150 Millionen Tonnen CO2, die pro Jahr im Verkehrssektor anfallen, ist das wenig. Aber es ist ein Baustein, der unverzichtbar ist, und wir müssen auch die kleinen Bausteine setzen. ({1}) Auf die alternativen Antriebe hat Steffen Bilger gerade schon hingewiesen. Aber wir beide wissen auch: Das ist eben nicht die Masse dieser 35 600 Busse, das ist ein kleiner Anteil. Ein beachtlicher Anteil davon fährt mit CH4, sprich: es sind Erdgasbusse, die natürlich 25 Prozent weniger CO2-Emissionen verursachen, allerdings nicht klimaneutral sind. Insofern bedarf es hier dieses Anreizes, den wir setzen. Auch auf die Beschaffungsregeln hat Steffen Bilger gerade hingewiesen. Die Bausteine, die wir setzen – von denen ich gerade gesprochen habe –, müssen aber auch nach einem Plan verbaut werden, einem vernünftigen Bauplan folgen. ({2}) Jeder Baustein muss in ein großes Ganzes passen. Deshalb erinnere ich an etwas – das mag einigen jetzt vielleicht ein wenig abwegig erscheinen –: Wir haben in Deutschland relativ viele Kraftwerke, die Siedlungs- und Gewerbemüll thermisch behandeln, also verbrennen. ({3}) Wenn man den Strom, der dabei erzeugt wird – nicht die Abwärme; die geht in Fernwärmenetze –, über Elektrolyseure zu Wasserstoff machen würde ({4}) – über Elektrolyseure; das ist ein Gerät, das durch Strom aus Wasser Wasserstoff und Sauerstoff macht; den Sauerstoff kann man auch noch verwenden –, wenn man auf diese Weise Wasserstoff gewinnen würde und wenn dann die Stadt, der dieses Müllheizkraftwerk eventuell auch gehört, für ihren ÖPNV-Betrieb Busse mit Brennstoffzellen anschafft, dann kann aus genau diesem Wasserstoff die Antriebsenergie für die öffentlichen Busse gewonnen werden. Klingt das vernünftig? ({5}) Also, von der Linken bis zur FDP in diesem Haus habe ich jetzt wahrscheinlich die Zustimmung; von der AfD will ich sie auch gar nicht haben. ({6}) Deshalb müssen wir zum Beispiel in der Umsetzung der RED II, der Renewable Energy Directive, genau diese Variante auf die THG-Quote anrechenbar machen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege, haben Sie Lust auf eine Frage von Dr. Spaniel? Sie haben ihn herausgefordert.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, habe ich nicht; solange ich in diesem Parlament bin, habe ich keine Lust auf Fragen aus diesem Sektor. ({0}) Kann ich das jetzt zu Protokoll geben für immer? Wahrscheinlich nicht. Deshalb müssen wir – ich wiederhole es – diese Variante in der Umsetzung der RED II auch verankern, damit es zu diesem Energiekreislauf auch kommen kann. Wenn wir das machen, dann wird dieses Klimaneutralitätshaus – aus vielen Steinen bestehend – auch wirklich bis 2045 gebaut sein. Danke. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Jetzt geht das Wort an die aufgeregte FDP-Fraktion mit Dr. Christopher Gohl. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Als ich mich heute zum ersten Mal in die Anwesenheitsliste eintragen wollte, habe ich statt meines Namens noch den meines Vorgängers, Dr. Christian Jung, darin gefunden; ich danke deshalb meiner Fraktion besonders, dass sie mir die Chance gibt, meine Anwesenheit heute wenigstens mit dieser Rede zu dokumentieren. ({0}) Kurz vor der Wahl wird Bilanz gezogen, und ganz aktuell hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung für ihr Klimaschutzgesetz ein glattes „ungenügend“ ins Zeugnis geschrieben; denn das Klimaschutzgesetz sorgt nicht für effizienten Klimaschutz, sondern verschiebt die Lasten in die Zukunft, vor allem an die Generation meiner drei Kinder. Leider ist auch der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Beispiel für ineffiziente und kontraproduktive Klimaschutzpolitik. ({1}) Die Fahrzeuge der öffentlichen Hand sollen sauberer und energieeffizienter werden. Dafür werden sie dann doppelt und dreifach reguliert, was dazu führt, dass sich Regelungen widersprechen, gegenseitig aufheben oder ihre Befolgung extrem teuer wird – obwohl Luftschadstoffe schon mit Euro-Schadstoffklassen reguliert werden und obwohl CO2 durch die Energiebesteuerung bepreist wird. Wirklich effizient sind stattdessen faire Wettbewerbsbedingungen, und zwar für alle Technologien vom E-Auto bis zum E-Fuel. Dazu muss der Verkehr endlich in den EU-Emissionshandel integriert werden, wo wir mit einem Deckel dafür sorgen können, dass es eine effektive Begrenzung des CO2-Ausstoßes gibt. ({2}) Lassen Sie mich dazu noch eine grundsätzliche Bemerkung machen. Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik mit dem Urteil zum Klimaschutzgesetz den Schutz der Freiheiten der nachfolgenden Generationen aufgegeben. Freiheit, so sagt es auch der Tübinger Philosoph Claus Dierksmeier, ist uns nicht einfach nur gegeben, sondern sie ist uns aufgegeben. ({3}) Das heißt in unserer liberalen Tradition, dass wir die Freiheit der einen und die Freiheit der anderen immer wieder neu ausbalancieren müssen. In diesem Sinne gilt nach dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts erst recht: Alle Politik ist Freiheitspolitik. ({4}) Freiheitspolitik heißt, Politik hat die Aufgabe, unsere gesellschaftliche Freiheitsbilanz zu optimieren, Freiheiten zu schützen einerseits – über gleiche Freiheitsrechte für alle – und konkrete Freiheiten zu schaffen als Lebenschancen für jeden. Und so wie man mit blauen Stiften die besten blauen Bilder malt, so gilt seit Immanuel Kant, dass Zwecke der Freiheit am besten nur mit freiheitlichen Mitteln erreicht werden. ({5}) Wir Liberalen wollen deshalb die Freiheiten von heute nutzen, um die Freiheiten von morgen zu schützen. Wirksamer Klimaschutz braucht Offenheit für vielfältige Ideen, Initiativen und Innovationen. Vor diesem Hintergrund ist das Bild von Bausteinen, mit denen die Mauer eines Hauses gebaut werden soll, ein ganz anderes als das liberale Bild dieser Such- und Lernprozesse, für die wir Rahmenordnungen brauchen, freiheitliche Such- und Lernprozesse auf allen Ebenen, am Markt, aber nicht nur am Markt, auch in der Wissenschaft und auch in der Demokratie. ({6}) Kurz: Es braucht Vernunft und Verantwortung, nicht Verbote und Verzichte. Herzlichen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Dr. Gohl, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg. ({0}) Sie bringen ja eine tolle Grundvoraussetzung mit als Mediator. Das Wort geht an Sabine Leidig von der Fraktion Die Linke. ({1})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen: Die Linke fordert mehr Geld und bundesweite Verantwortung für saubere Fahrzeuge in öffentlichen Fuhrparks. ({0}) Worum geht es in diesem Gesetz hier? Mit dem vorliegenden Gesetz folgt die Bundesregierung bzw. die Koalition einer europäischen Richtlinie, die besagt, dass bis 2025 45 Prozent und bis 2030 mindestens 65 Prozent der Busse mit emissionsarmen Kraftstoffen oder, vor allem, mit Strom fahren sollen. Für die Nutzfahrzeuge in den öffentlichen Fuhrparks, also Müllwagen und Ähnliches, gelten niedrigere Quoten. Aber der ÖPNV hat natürlich mit Abstand die größte Bedeutung. So weit, so gut. Wir unterstützen diese planmäßige Umstellung. Allerdings müssten die Quoten auch für die privaten Anbieter gelten, die sogenannten eigenwirtschaftlichen Verkehre; das, finden wir, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber das Hauptproblem ist, dass Sie nur einen Teil der zusätzlichen Kosten vom Bund her abdecken; damit halsen Sie den Kommunen vor allem die höheren Kosten auf, und Sie bringen damit die ÖPNV-Angebote in Gefahr. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat in seiner Stellungnahme ziemlich plastisch beschrieben, dass es nicht nur darum geht, dass die Fahrzeuge teurer sind, sondern dass auch die Infrastruktur verändert werden muss, Ladestellen usw., dass die Werkstätten umgebaut, dass Leute anders qualifiziert werden müssen. Wir halten diese zusätzlichen Ausgaben auch für völlig richtig und notwendig; denn volkswirtschaftlich lohnt es sich allemal, wenn der fossile Verkehr, vor allem der Autoverkehr, weniger wird und wenn es besseren ÖPNV gibt. Aber wenn es nicht mehr öffentliche Mittel für die Umstellung gibt, dann werden vielleicht die Fahrpreise erhöht, oder es werden Buslinien gestrichen. Das darf nicht passieren. ({1}) Im Gegenteil: Damit die Verkehrswende sozial und ökologisch gerecht wird, muss der ÖPNV doch viel stärker ausgebaut werden. Wenn Sie endlich aufhören würden, gleichzeitig Flugverkehr und Lkws zu subventionieren und immer neue Autoinfrastruktur zu bauen, dann hätten wir das Geld. Wir wollen es umverteilen: 10 Milliarden Euro jährlich mehr für Bus und Bahn mitsamt guten Arbeitsbedingungen und sauberen Fahrzeugen. ({2}) Damit könnten wir übrigens wirklich etwas für die Zukunft der Fahrzeugindustrie in Deutschland tun. Es ist doch total verrückt, dass es keine Serienfertigung von Elektrobussen gibt in unseren hochgepriesenen Flaggschiffen der Industrie. ({3}) Die Kommunen klagen über Lieferzeiten, die viel zu lang sind. Sie klagen darüber, dass die Angebote, die sie brauchen, fehlen. Sie klagen darüber, dass die Preise horrend sind; derzeit kostet ein sauberer Bus dreimal mehr als ein Dieselbus. ({4}) Wir wollen, dass es eine systematische Umstellung gibt, dass die Bundesregierung das auch als eine sozialökologische Umbaustrategie für die Industrie begreift und damit einen zukunftsfähigen Weg einschlägt. Es könnte wirklich ein Baustein sein; aber dafür müssten Sie entschlossener handeln. Danke. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Stefan Gelbhaar von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es um Klimaschutz im Verkehrsbereich geht, dann bin ich ehrlich dankbar für jeden Impuls seitens der EU. Dadurch wird künftig ein größerer Teil der öffentlichen Fahrzeuge emissionsfrei unterwegs sein; das begrüßen wir. ({0}) Emissionsfreie Busse sind eine rollende Werbung für die Antriebswende, ein Aushängeschild. Die Novelle bringt jetzt Mindestquoten für die Beschaffung. Das wird zum Beispiel Busherstellern helfen, ein Geschäftsmodell zu etablieren. Die beständige Nachfrage schafft Planungssicherheit. Das wird die Preise senken. Der Dank für diese Initiative geht allerdings nur und ausschließlich in Richtung EU. Diese gute Vorlage war eine Einladung, sogar eine Chance für mehr. Diese Einladung hat die Koalition allerdings ausgeschlagen. Warum muss man das so sehen? Drei Gründe. Erstens. Der Umstieg auf emissionsfreie Antriebe muss für die Verkehrsunternehmen bezahlbar sein; das ist schon gesagt worden. Strom ist zwar günstiger als Kraftstoff, aber das Investment ist immer noch hoch. Das Förderprogramm für Elektrobusse läuft demnächst aber aus, und ein neues ist eben noch nicht bei der EU notifiziert; das hat Herr Bilger gerade bestätigt. Letztes Jahr hatte die Regierung auch die Kaufprämien für E-Autos nicht rechtzeitig bei der EU angemeldet. Das muss für die neue E-Bus-Förderung jetzt rasch geklärt werden. ({1}) Zweitens. Die Bundesregierung bremst den Elektroantrieb auch bei den Bussen aus. Das ist gefährlich für die Industrie. Noch gefährlicher ist es für Umwelt- und Klimaschutz. Wie komme ich darauf? Die Koalition hat – sehr intransparent im Übrigen – den paraffinischen Dieselkraftstoff in den Gesetzentwurf hineingeschmuggelt. Dieser Kraftstoff ist aber noch nicht mal zugelassen, und zwar zu Recht, weil mit ihm sogar höhere CO2-Emissionen möglich sind. Das wäre dann sogar klimafeindlich. Drittens. Die Koalition hat in das Gesetz hineinformuliert, dass Selbstverpflichtungen der Branche gegenüber den Ländern ausreichen können. Damit ist eine klare nationale Vorgabe für jeden Beschaffungsvorgang vom Tisch. Das verwässert die Ziele dieser Novelle erheblich. ({2}) Damit bleibt als Fazit: Dank der EU können wir in der Antriebswende einen guten Schritt voranmachen. Ehrlich gesagt: Viel Raum fürs Falschmachen gab es eigentlich nicht. Die Regierungskoalition hat das bisschen Raum jedoch vollständig genutzt, und das widerspricht geradezu vehement dem jüngsten Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutz. ({3}) Um es mal klar zu sagen: Ohne die Änderungen der Koalition hätten wir dem Gesetz frohen Herzens zugestimmt. Mit diesen Änderungen werden wir uns nur enthalten können. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Felix Schreiner. ({0})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben vor wenigen Tagen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur konkreten Ausgestaltung der Reduktion von Treibhausgasemissionen zur Kenntnis genommen, und schon zeigen CDU/CSU und SPD, dass sie bereits deutlich vor 2030 die Rahmenbedingungen für die Verringerung der CO2– und der Luftschadstoffemissionen im Verkehrsbereich ein weiteres Mal verbessern. ({0}) Aber wir sind als Deutscher Bundestag auch in der Pflicht, eine EU-Richtlinie umzusetzen. Staatssekretär Steffen Bilger hat es bereits gesagt: Unser Ziel ist dabei klar definiert. Wir bringen energieeffiziente Fahrzeuge auf die Straße, wir sorgen für eine praktische Umsetzung in nationales Recht. Dabei haben wir alles im Blick: die Verkehrsdienstleister, die familiengeführten Unternehmer, die flexible Mobilität in den Ballungszentren, aber genauso auch die Verlässlichkeit des ÖPNV in den ländlichen Räumen. Für uns als Union war deshalb in den Beratungen wichtig: Für eine sinnvolle Klimapolitik sind umweltfreundliche Verkehrsträger notwendig. Wir werden, ja wir müssen die Emissionen durch klimafreundliche, alternative Antriebe senken. Egal ob Lkw, Pkw oder Busse: Sie werden zukünftig mit umwelt- und vor allem klimafreundlichen Motoren vorankommen. Wir setzen bei allem immer auf Technologieoffenheit, auf Bezahlbarkeit und auf Leistbarkeit, weil gerade die Wirtschaft und auch die Verbraucher das zu Recht von uns erwarten. Vom Grundsatz her gilt für uns: Wir setzen nicht einfach noch irgendwas obendrauf; aber wir setzen etwas um, und wir orientieren uns am Machbaren. Ich würde mir einfach wünschen, dass man das auch in diesem Hohen Hause mal zur Kenntnis nimmt und positiv bewertet; man kann auch mal positiv in die Zukunft blicken. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Gesetz legen wir den Fokus auf die Beschaffung von emissionsarmen und emissionsfreien Fahrzeugen. Diese Intention begrüßt unsere Fraktion ausdrücklich, weil sich dadurch natürlich auch die Nachfrage nach solchen Fahrzeugen deutlich erhöhen wird. Das führt auch zu Folgeeffekten, da die Nachfrage von Privatnutzern nach diesen Fahrzeugen steigen wird. Die Vorbildfunktion gerade der öffentlichen Hand hat einen großen Einfluss auf das Beschaffungsverhalten anderer Besteller – von Straßenfahrzeugen und von ganzen Fahrzeugflotten. Auch das ist ein positiver Aspekt. Die Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Digitalisierung, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs hin zu einer sauberen, intelligent vernetzten und sicheren Mobilität wollen wir ermöglichen. Aber als Schwarzwälder sage ich dazu auch: Wir können nicht nur darüber diskutieren, was wir in Berlin-Mitte machen, hier in der Blase, wo sich mancher ganz besonders wohlfühlt. Wir müssen auch darüber diskutieren, wie sich das in den ländlichen Räumen auswirkt. Auch dort muss Mobilität verlässlich und bezahlbar bleiben. Auch das ist ein Versprechen, was wir heute geben. ({2}) Ich erinnere an dieser Stelle einfach mal an die Zahlen. Die Bundesregierung stellt für die Länder bis 2031 zusätzliche Regionalisierungsmittel in Höhe von 5,2 Milliarden Euro bereit, allein für die mit alternativen Antrieben betriebenen Busse bis 2024 eine Förderung von 1,3 Milliarden Euro. Lieber Steffen Bilger, ich glaube, dass Herr Gelbhaar gerade in seiner Rede für die Grünen eines vergessen hat: Ich bin mir sicher, dass Winfried Hermann in Baden-Württemberg dieses Geld sehr gerne nehmen wird und sich vermutlich sogar mal beim Bundeshaushalt dafür bedankt. ({3}) Natürlich kann der Deutsche Bundestag heute auch deshalb so selbstbewusst auf dieses Gesetz blicken, weil wir damit nicht blind irgendetwas aus der Europäischen Union umsetzen. Arno Klare hat es zu Recht gesagt – ich bedanke mich an der Stelle ausdrücklich für die Zusammenarbeit –: Das Gegenteil ist der Fall. Wir saßen mit dem Bundesverkehrsministerium, mit Steffen Bilger, in Dutzenden Runden zusammen am Tisch. Wir haben in Verhandlungsrunden mit Unternehmen, mit Verbänden und mit den Ländern – auch die waren eingebunden – gemeinsam versucht, etwas Gutes auf den Weg zu bekommen. Und ich bin mir sicher, dass uns das gelungen ist. Mir ist auch bewusst, dass einige Akteure sich bundesweite Branchenvereinbarungen gewünscht hätten. Dem stehen aber auch rechtliche Bedenken entgegen. Deshalb schaffen wir Flexibilität und Rechtsklarheit. Die Länder können länderübergreifend Vereinbarungen umsetzen; und auch das ist heute ein gutes Signal. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Wir haben sicherlich auch ambitionierte Ziele, aber wir orientieren uns heute vor allem an realistischen Zielen. Ich glaube, wenn wir heute die CVD in diesem Sinne beschließen, dann sagen wir auch ein klares Ja zu alternativen und synthetischen Kraftstoffen, zu Zukunftsinvestitionen in diese Kraftstoffe, zu GtL-Diesel. Das ist eine Brücke für die Umrüstung – auch des ÖPNV.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege, Schluss ist Schluss.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn Sie heute diesem Gesetzentwurf auch zustimmen. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Schreiner. – Das Wort geht an Kirsten Lühmann von der SPD-Fraktion als letzte Rednerin der Debatte. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wie viele von uns bin ich auch noch kommunalpolitisch aktiv. Als wir vor einigen Jahren den Nahverkehrsplan neu aufgelegt haben, wollten einige von uns neben der besseren Bedienqualität und besseren Sozialstandards für die Beschäftigten auch Klimaaspekte dort hineinschreiben, nämlich die Festschreibung der Nutzung CO2-ärmerer Busse. Trotz eines positiven Kreishaushaltes hat die Mehrheit gesagt: Dafür haben wir kein Geld. – Diese Aussage war nicht nur nicht richtig, sondern ab dem heutigen Tag ist sie glücklicherweise auch nicht mehr möglich. ({0}) Diese Aussage mache ich aus folgenden Gründen: Zum einen haben wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil, das hier schon angesprochen wurde und klar festlegt, dass das Verschieben von Verantwortung in die Zukunft oder auf den anderen weder zulässig noch möglich ist. Zum anderen setzen wir heute hier die europäische Direktive für saubere Fahrzeuge um, und diese schreibt verpflichtende Quoten vor. Sie schreibt vor, dass der öffentliche Dienst mit gutem Beispiel vorangeht, nicht nur bei den oft erwähnten Bussen, sondern auch bei anderen Straßenfahrzeugen, und das ist gut so. ({1}) Die Bundesregierung hat vorausschauend – nicht nur, um die Kommunen zu entlasten, sondern auch, um die privaten Unternehmer zu entlasten – Förderprogramme aufgelegt, zum Beispiel für Elektrobusse, für Erdgas-Lkw. Wir haben für strukturelle Erleichterungen bei der Kfz-Steuer gesorgt und die Lade- und Tankinfrastruktur verbessert. Jetzt ist es aber gemeinsame Sache von Bund, Ländern und Kommunen, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Keiner kann sich jetzt mehr wegducken. Der ernsthafte Einwand, den ich immer wieder höre: „Ja, wir haben die Fahrzeuge bestellt, aber sie werden nicht geliefert“, ist richtig. Die Industrie hat uns immer wieder gesagt: Wir haben keine klaren Perspektiven; darum werden wir die Produktion nicht erhöhen. – Ich sage hier klar und deutlich: Dieses Argument gilt ab dem heutigen Tag nicht mehr. Wir schaffen klare Perspektiven. Wir verbinden damit auch klare Erwartungen, damit nicht nur der ÖD, der öffentliche Dienst, sondern auch die Privatwirtschaft profitiert. Heute haben wir ein weiteres Puzzleteil für eine zukunftsfeste Wirtschaft in unserem Land geschaffen, und darum bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, liebe Kollegin Lühmann. – Ich schließe die Aussprache.