Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Haushaltsfeststellungsrecht nach Artikel 110 Grundgesetz ist bekanntlich das Königsrecht des Parlaments. Es gibt kaum ein Vorhaben der Regierung, das nicht mit Budget unterlegt werden muss. Reguläre Haushaltsdebatten im Bundestag wurden darum praktisch immer über zwei Wochen mit etwa 40 Stunden Debattenzeit geführt.
Und ja, es ist schon der siebte Haushalt dieser Legislaturperiode. Schlimm genug! Zudem werden wir heute auch noch aufgefordert, die verfassungsrechtliche Notsituation gemäß Artikel 115 Grundgesetz auszurufen und milliardenschwer auszuweiten.
Und ja, es ist „nur“ ein Nachtragshaushalt. Doch selbst nur der Nachtrag umfasst 60 Milliarden Euro! In diesem Haus werden oftmals schon Anträge und Gesetze mit unter einem Tausendstel dieses Volumens in 60 Minuten endberaten.
Den 2021er-Haushalt schrauben wir heute mit der Schlussabstimmung auf ein Volumen von 547 Milliarden Euro bei 240 Milliarden Euro Neuverschuldung – beides die größten Werte in der deutschen Geschichte. Die Altparteien haben sich diese Woche trotzdem und für uns völlig überraschend und natürlich auch gegen die Stimmen der AfD auf eine Debattenzeit für die heutige zweite und dritte Haushaltsberatung von nur 30 Minuten verständigt. Irgendwie soll damit wohl eine Art „Routine“ suggeriert werden trotz der genannten Rekordwerte. Es sei irgendwie alles gesagt, alles solide, alles normal; das ist die Botschaft, die mit diesem zeitlichen Minimalansatz verbreitet werden soll. Wir können Haushaltsdebatten aber nicht zur unbedeutenden 30‑Minuten-„Routine“ herabwürdigen. Bei Nachträgen dieser Größenordnung ist das noch nie zuvor auch nur vorgeschlagen worden.
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Und auch die Aussprachen im nichtöffentlichen Ausschuss können die streitbaren Diskussionen hier im Plenum nicht ersetzen. Die Halbierung von 60 auf 30 Minuten hätte nicht nur die zwingende praktische Folge einer schlicht unzureichenden Debatte, sondern wäre auch symbolisch ein fatales Signal, dass ein zu 44 Prozent auf Schulden aufgebauter Haushalt irgendwie „normal“ sei und ohne weitere Worte passieren könne. Die Koalitionsfraktionen selbst hatten noch vor wenigen Tagen 60 Minuten für den heutigen Tagesordnungspunkt vorgesehen, entsprechend dem langjährigen Usus eben. Und wie ich gestern aus dem Ältestenrat gehört habe, sieht auch der Bundestagspräsident Debatten von nur 30 Minuten in der Kernzeit kritisch.
Die AfD-Fraktion beantragt darum, die heutige wichtige Debatte wieder auf die absolute Minimumzeit von 60 Minuten hochzustufen. Ich werbe dafür um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
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Vielen Dank, Peter Boehringer. – Das Wort zur Gegenrede hat Carsten Schneider.
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Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Freitagmorgen 9 Uhr. Wir sind in der Kernzeit. Der Bundesfinanzminister ist da. Wir beraten den Nachtragshaushalt des Bundes, der ein ganz substanzieller und wichtiger Beitrag zur Stabilisierung unserer Volkswirtschaft ist.
Jetzt geht es um 30 Minuten Debattenzeit mehr oder weniger. Sie insinuieren ja, Herr Boehringer, dass wir hier unsere Arbeit nicht machen würden. Wir haben am Mittwoch lange getagt, wir haben gestern bis um Mitternacht getagt, wir werden hier heute bis um 18 Uhr tagen. Wir haben sehr, sehr viele Gesetze, über die wir in den nächsten Wochen im Bundestag noch debattieren und die wir beschließen wollen. Wir tun das in klarer demokratischer Manier und Aussprache.
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Sie hatten Gelegenheit, im Haushaltsausschuss alle Fragen zu stellen, die notwendig waren,
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um auf Ihre Fragen, die Sie eventuell haben, Antworten zu bekommen. Sie hätten auch die Möglichkeit gehabt, weiteren Ministerien als nur denen, deren Einzelpläne beraten wurden, also „Gesundheit“ und „Wirtschaft und Energie“, Fragen zu stellen oder diese anzuhören. Das haben Sie nicht getan.
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Es gab eine Sondersitzung, in der der Bundesfinanzminister vorgetragen hat. Der Bundesfinanzminister hat den Gesetzentwurf hier eingebracht. Er wird gleich auch wieder sprechen. Mehr Transparenz geht einfach nicht.
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Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Wir wollen entscheiden. Wir wollen nicht verhindern. Wir wollen nicht Sand im Getriebe sein wie die AfD, sondern wir wollen, dass es in Deutschland läuft. Dafür brauchen wir diesen Bundeshaushalt. Insbesondere bei Hilfen für junge Familien, für Schülerinnen und Schüler, die unter Corona leiden, weil sie schlechte Lernbedingungen haben, haben wir Veränderungen gemacht. Dazu keine Vorschläge von Ihnen, reine Obstruktion! Der Bundestag ist Kern der Debatte – das machen wir –, aber auch der Entscheidung; das wollen wir.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carsten Schneider. – Damit kommen wir zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag der AfD-Fraktion. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Enthaltungen gibt es nicht. Der Geschäftsordnungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die AfD-Fraktion. Abgelehnt wurde er von allen anderen Fraktionen des Hauses. Damit bleibt es also bei der beschlossenen Debattendauer von 30 Minuten.
Ich eröffne jetzt die Debatte und gebe als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz für die Bundesregierung.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Mittwoch haben wir die Bundesnotbremse hier im Deutschen Bundestag beschlossen. Der Bundesrat hat unterdessen zugestimmt, und das Gesetz ist so weit, dass es nun in Kraft treten kann. Das alles ist gemacht worden, damit wir die dritte Welle der Pandemie brechen können. Es zeigt: Die Lage ist ernst. Wir müssen etwas tun, und wir handeln auch.
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Was wir heute tun, ist, dass wir einen ergänzenden Baustein diskutieren. Auch damit sorgen wir dafür, dass wir diese Pandemie überwinden und eine bessere Zeit erreichen. Dazu dient der Nachtragshaushalt. Es geht darum, nach vorne zu kommen, die Pandemie zu überwinden. Es geht um Mittel für den Gesundheitsschutz, und es geht um finanzielle Unterstützung wie die Überbrückungshilfe III und sehr viel weitere Unterstützung für Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Da der Bundestag die pandemische Notlage bis zum 30. Juni festgestellt hat, haben wir auch die Unterstützungsleistungen verlängert und ausgebaut. Zusätzliche Unternehmenshilfen sind bewilligt worden. Die Impfstoffbeschaffung wird besser unterstützt, und die Impf- und Testkampagnen sowie der Kinderbonus sind für 2021 vorgesehen. Das ist massive finanzielle Unterstützung für die ganze Gesellschaft.
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Die Hilfen kommen auch an, zum Beispiel die Unternehmenshilfen.
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Auf Bundesebene sind bereits fast 95 Milliarden Euro abgeflossen,
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und das ohne die Mittel für Kurzarbeit und die steuerrechtlichen Maßnahmen. All das sichert die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. All das ist die Grundlage dafür, dass Deutschland wirtschaftlich besser durch die Krise gekommen ist als viele, viele andere Länder. Wir sagen heute: Wir werden das bis zum Ende der ganzen Zeit durchhalten. Wir stehen bei den Bürgerinnen und Bürgern, bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und bei den Unternehmern.
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Nach der Pandemie wollen wir durchstarten. Wir werden wieder miteinander und nicht zu Hause auf Abstand sein, das gesellschaftliche Leben wird wieder voll da sein, die Kinder werden in ihren Schulen und Kitas sein, und wir werden im Spätsommer hoffentlich wieder in einem Biergarten sitzen können.
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Wir werden auch wirtschaftlich wieder durchstarten können. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Kurzarbeit sind, werden an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. Die vielen Selbstständigen und Künstlerinnen und Künstler werden wieder ihrer Tätigkeit nachgehen können. Damit das möglich sein wird, müssen wir jetzt planen. Dafür tragen wir Vorsorge mit diesem Nachtragshaushalt. Es geht um Geld, aber es geht auch noch um viel mehr: Es geht um die Zukunft und den Wiederaufstieg in unserem Land.
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Das ist ein Teil der Hoffnung, die mir sehr wichtig ist. Durchstarten heißt auch: Erst recht nach der Pandemie haben wir unsere Zukunftsaufgaben zu lösen. Sie müssen unsere ganze Aufmerksamkeit haben. Es geht um unsere wirtschaftliche Stärke in den 20er-Jahren, um sichere Arbeitsplätze, den Klimaschutz und die moderne digitale Infrastruktur; um nur ein paar sehr wichtige Aufgaben zu nennen.
Wir brauchen ein hohes Niveau an Investitionen in den Klimaschutz, in den digitalen Wandel und in die Mobilitäts- und Energiewende.
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Damit die Innovationen gelingen, müssen wir aber auch hohe Investitionen im Bundeshaushalt absichern,
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und das geschieht mit dem, was wir hier tun: 59 Milliarden in diesem Jahr, 50 Milliarden in all den Folgejahren – das ist ein Rekordniveau, ein notwendiges, aber ein richtiges Rekordniveau für Investitionen in die Zukunft.
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Der Bundeshaushalt besteht aber nicht nur aus Ausgaben, sondern auch aus Einnahmen. Deshalb ist es mir ganz wichtig, dass wir gerade dabei sind, Fortschritte mühselig Stück für Stück voranzubringen. Diese sind notwendig. Wir kämpfen für eine faire Steuerpolitik, indem wir uns dafür einsetzen, der Steuervermeidung und der internationalen Steuerverlagerung entgegenzutreten.
Herr Kollege Scholz, sind Sie offen für eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Kollegen Fricke aus der FDP?
Och ja.
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Ich danke für diese Großzügigkeit, Herr Minister. – Herr Minister, da Sie ja, nachdem Sie ganz am Anfang kurz den Haushalt vorgestellt haben, keine einzige Minute während der Haushaltsberatungen im Haushaltsausschuss anwesend waren und jetzt hier gesagt haben, dass Sie die Investitionen hochgefahren haben, möchte ich Sie fragen, ob es stimmt, dass Sie als Koalition in den Haushaltsberatungen die Investitionen um Milliardenbeträge wieder runtergefahren haben.
Danke schön, Herr Fricke.
Schönen Dank für Ihre Frage. – Wir haben hier eine sehr langfristige Investitionspolitik.
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Ich sage noch mal: Jedes Jahr in den künftigen Jahren werden es 50 Milliarden Euro sein, und es werden in diesem Jahr 59 Milliarden Euro sein. Ich habe es bereits berichtet.
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Es ist eine ganz starke Investitionspolitik.
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Das ist etwas, was man, glaube ich, nicht in jeder Koalition zustande bekommt. Aber in dieser haben wir es geschafft, und das ist ein guter Fortschritt.
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Ich will zu dem zurückkommen, auf das ich eben – ich hatte gerade angefangen, etwas dazu zu sagen – hingewiesen habe: Man darf nicht nur über das Geld, das man ausgibt, reden, sondern man muss auch darüber reden, wie wir die richtigen Einnahmen haben, nämlich indem wir uns für faire Steuern und gegen Steuervermeidung und Steuerverlagerung einsetzen. Deshalb hier der Hinweis auf eine ganze Reihe von Vorhaben, die gegenwärtig im Gange sind: zum Beispiel der Entwurf eines Steueroasen-Abwehrgesetzes, zum Beispiel die Regelung zu den Share Deals, die nun was geworden ist, zum Beispiel die Beratung über die Umsetzung der Anti-Steuervermeidungsrichtlinie. All das gehört zu dem Gefüge unserer Haushaltspolitik, weil es dazu beiträgt, dass eine Krise, die in dieser Art und Weise stattfindet, auch von den Nationalstaaten bekämpft werden kann, weil es keine Verlagerung gibt.
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Deshalb auch das noch zum Schluss: Wir haben einen großen Aufschlag gemacht, der jetzt möglich wird – auch in der Verbindung mit der neuen amerikanischen Regierung – sodass wir eine effektive globale Mindestbesteuerung in der Welt durchsetzen. Wenn das jetzt eine der Folgen Pandemie ist, dann ist das etwas, was uns weiterhelfen wird, weit nach der Zeit, wenn die Pandemie vielleicht nur noch eine Erinnerung ist.
Schönen Dank.
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Vielen Dank, Olaf Scholz. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Volker Münz.
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Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Nachtragshaushalt sollen noch einmal 60 Milliarden Euro mehr Schulden aufgenommen werden als geplant. Damit wird für das laufende Jahr eine Neuverschuldung von gigantischen 240 Milliarden Euro veranschlagt. Fast die Hälfte des Bundeshaushalts wird über Neuverschuldung finanziert. So etwas hat es noch nie gegeben, meine Damen und Herren.
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Dies funktioniert nur, weil wieder einmal die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse durch Feststellung einer Notsituation aufgehoben werden soll. Dem werden wir nicht zustimmen, meine Damen und Herren.
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Diese Schuldenorgie ist unverantwortlich und geschieht auf Kosten der nachkommenden Generationen. Hinzu kommen ja auch noch die Mithaftung Deutschlands für die Schuldenaufnahme der EU und für die Euro-Rettung.
Auch der Bundesrechnungshof kritisiert die Haushaltsplanung deutlich. Die Haushaltslage sei besorgniserregend wegen der Schuldenlawine, Zitat Bundesrechnungshof. Es werden insbesondere zusätzliche Coronaunternehmenshilfen veranschlagt. Ja, diese Zahlungen an die Unternehmen sind notwendig. Es sind auch keine Hilfen, sondern de facto Teilentschädigungen für monatelange Umsatzausfälle und Berufsverbote aufgrund staatlicher Anordnung, meine Damen und Herren.
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Statt immer hemmungsloser Schulden zu machen, gehört die gesamte Ausgabenseite auf den Prüfstand. Strukturelle Änderungen sind notwendig. In der aktuellen Lage müssen dann eben Mittel für Bereiche, die mit Corona nichts zu tun haben, gekürzt werden, statt immer mehr aufgestockt zu werden.
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Die gigantischen Ausgaben und die Vernichtung von volkswirtschaftlichem Vermögen durch die Energiewende sollten wenigstens in der jetzigen Situation drastisch zurückgefahren und Maßnahmen wie das Abschalten von Kraftwerken sollten zumindest ausgesetzt werden.
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Dieser Bundeshaushalt ist unsolide. Die Neuverschuldung in dieser Höhe ist unverantwortlich. Die AfD wird dem Nachtragshaushalt nicht zustimmen. Wir werden ihn ablehnen, meine Damen und Herren.
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Danke schön, Herr Münz. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Eckhardt Rehberg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zum Haushalt komme, ein Wort zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigenmittelbeschluss. Es ist sehr zu begrüßen, dass die einstweilige Anordnung abgelehnt worden ist und der Bundespräsident unterzeichnen kann. Aber: Ich rate jedem – auch Ihnen, Herr Finanzminister Scholz, und Ihnen, Herr Staatsminister Roth –, sich die 49 Seiten gründlich durchzulesen.
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Hier hat Karlsruhe sehr deutlich gemacht, dass es einmalig ist, temporär und kein Einstieg in eine Fiskal-/Schuldenunion sein kann.
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Deswegen warte ich in aller Ruhe und Gelassenheit die Entscheidung in der Hauptsache ab. Ich gehe davon aus, dass Karlsruhe hier schon ein paar Leitplanken einziehen wird, die die Rechtsauffassung der Unionsfraktion, die wir gemeinsam mit der SPD in unserem Antrag zum Ausdruck gebracht haben, noch einmal unterstützen und untersetzen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Haushalt 2021 und der Nachtrag müssen – in Anführungsstrichen – reichen bis ins nächste Jahr. Deswegen ist es richtig, dass wir Vorsorge getroffen haben, ja. Wir haben eine Bundestagswahl vor uns. Wir haben das Ende der Legislaturperiode vor uns. Wir haben vor uns eine Zeit, in der eine Bundesregierung nur amtiert. Deshalb, glaube ich, war es klug, die Unternehmenshilfen und gerade auch die Mittel für die Pandemievorsorge noch mal aufgestockt zu haben.
Übrigens: Wir haben in diesem Jahr schon 25 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben: fürs Testen, für Impfstoffe, für die Krankenhausfinanzierung. Deswegen ist es klug, auch mit Blick auf die vorläufige Haushaltsführung, es so zu machen, wie wir es getan haben.
Ja, Herr Kollege Dürr, die korrekten Zahlen bei den Unternehmenshilfen sind folgende: Beantragt worden sind insgesamt rund 21 Milliarden Euro. Davon sind bei den November- und Dezemberhilfen – deswegen, glaube ich, tun wir uns alle keinen Gefallen, ständig zu lamentieren, dass hier nicht ausgezahlt wird – in Deutschland im Schnitt 85 Prozent ausgezahlt worden,
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von Mitte 60 Prozent bis über 90 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, übrigens steigt auch bei der Überbrückungshilfe III das Antragsvolumen stetig. Es sind fast 50 Prozent der beantragten Mittel ausgereicht worden. Deswegen glaube ich, dass das System jetzt funktioniert. Und dass wir hier noch einmal erweitert haben, ist auch richtig, Stichwort: noch mal eine Verbesserung beim Eigenkapitalzuschuss.
Ich will noch einen Satz zur Pandemievorsorge sagen. Wir haben jetzt 10 Milliarden Euro bei den Verpflichtungsermächtigungen draufgepackt. Ich halte das für richtig. Niemand weiß, ob wir eine Auffrischungsimpfung vornehmen müssen. Niemand weiß, ob die Impfstoffe, die heute verimpft werden, wirklich für eine Dauerimmunität sorgen. Deswegen, glaube ich, ist das richtig. Auch kann niemand eine Prognose wagen, wie die Situation in den Krankenhäusern sein wird.
Wir haben in dem Nachtragshaushalt noch mal dafür gesorgt – ein ganz wichtiges Zukunftsthema –, dass Deutschland sich heute schon Wasserstoff weltweit beschaffen kann mit Verträgen für die nächsten zehn Jahre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird weltweit ein Run auf Grünen Wasserstoff und auch auf Derivate losgehen. Deswegen haben wir durch Umschichtung dafür gesorgt, dass das Bundeswirtschaftsministeriums hier handlungsfähig ist.
Ich weise darauf hin, dass es sich bei der Deutschen Bahn noch nicht um einen Schadensausgleich handelt, sondern es ist der Ausgleich für die Dividende, die in die LuFV geht, damit weiter instand gehalten werden kann. Es sind zwei Teilmodule: Die Reduzierung der Trassenpreise beim Schienenpersonenfernverkehr und beim Schienengüterverkehr sind Branchenlösungen. Diese Lösungen gelten nicht nur für die Deutsche Bahn. Der Schadensausgleich kommt erst später. Nur in einem Nebensatz: Die Koalition hat den Vorstand der Bahn AG und deren Töchter – die sind genau benannt – aufgefordert, dass sie auf variable Vergütungen verzichten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zinsausgaben steigen um 4,5 Milliarden Euro. Es gibt dazu eine Kleine Anfrage der FDP. Wir haben – Stand heute – als Bund 1 230 Milliarden Euro Schulden. In diesem Jahr sollen 240 Milliarden Euro hinzukommen. Das wird wahrscheinlich nicht ganz so sein.
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Aber ich rechne Ende 2022 mit vielleicht 1 500 Milliarden Euro Schulden. Wenn nur die Zinsen um 10 Basispunkte steigen, dann sind das 1,5 Milliarden Euro.
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Wenn Sie um 40 Basispunkte steigen, sind es 6 Milliarden Euro. Und das kumuliert sich dann: 6 und 6 und 6 und 6.
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Das muss man nicht beschreien. Aber allein dieses Jahr haben wir rund 300 Milliarden Euro an dieser Stelle umzuwälzen. Wie gesagt, man hat nur noch die 10‑jährigen Bundesanleihen im leichten Minus, die 30‑jährigen nicht mehr.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir wirklich – da hat unser Generalsekretär Paul Ziemiak recht – schnellstmöglich wieder zur Schuldenbremse zurückkommen.
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Wir sollten wirklich alles dafür tun, an dieser Stelle zu sagen: Zur Nachhaltigkeit gehört Klimaschutz. Zur Nachhaltigkeit gehört Digitalisierung in Deutschland. Aber Deutschland hat starkgemacht, gerade auch im letzten Jahrzehnt, dass wir zwei Dinge miteinander verbunden haben: solide Haushaltspolitik und Wachstumspolitik. Nur deswegen, Herr Bundesfinanzminister Scholz, sind wir so gut in die Krise reingekommen. Ich hoffe, dass wir die Lösungen, die wir nach der letzten Finanzkrise gefunden haben, wieder nehmen.
Noch eine letzte Bemerkung. Nicht die Staatsquote ist die entscheidende Quote, um aus Schulden herauszukommen, sondern die Kreditfinanzierungsquote des Bundeshaushaltes.
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Und die liegt in diesem Jahr leider bei 44 Prozent; 2010 lag sie bei nur 15 Prozent.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Eckhardt Rehberg. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Christian Dürr.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Scholz, dieser Nachtragshaushalt ist das haushalterische Gegenstück zum Infektionsschutzgesetz von Mittwoch. Die Öffentlichkeit fragt sich verwundert und reibt sich die Augen, wo eigentlich die Zahlen herkommen und was dieser Haushalt konkret gegen die Bekämpfung der Pandemie ausrichten soll.
Beispiel Unternehmenshilfen. Da mangelt es ja nicht an Haushaltsmitteln, Herr Kollege Rehberg. Es ist ja nicht so, dass der Haushalt leergelaufen sei – allein die Reste aus dem Jahr 2020 –, sondern es mangelt an der Umsetzung. Man hat den Eindruck, Sie stellen die Gießkanne neben die Pflanze, ohne zu gießen, wundern sich, dass die vertrocknet, und die Antwort der Großen Koalition lautet dann: Lasst uns mehr Wasser in die Gießkanne tun! Das hat mit vernünftiger Haushaltspolitik und Unternehmenshilfen überhaupt nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Erstens. Wie viel besser wäre es gewesen – ich sage das in Richtung der Kollegen der CDU/CSU, Herr Kollege Brinkhaus, Herr Fraktionsvorsitzender –, spätestens jetzt unseren Vorschlag einer negativen Gewinnsteuer, das, was alle Ökonomen in Deutschland fordern, nämlich endlich den steuerlichen Verlustrücktrag deutlich auszuweiten, hier jetzt umzusetzen! Das wären Unternehmenshilfen für den Mittelstand in Deutschland gewesen.
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Herr Brinkhaus, Sie haben außer moralischen Reden wie der vom Mittwoch nichts dazu beigetragen; um das in aller Klarheit zu sagen.
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Zweitens. Es gibt auch keinerlei Anstrengung, überflüssige, unnötige Ausgaben einmal zu überprüfen. Stattdessen arbeiten Sie mit dem schönen Kürzel „GMA“. Leider bedeutet das nicht „globale Minderausgabe“, sondern „globale Mehrausgabe“. Die globale Mehrausgabe ist nichts anderes, als zu sagen: Wir haben keinen blassen Schimmer, was wir mit dem Geld machen wollen; aber wir stellen es ins Schaufenster, um dem Kanzlerkandidaten der SPD seinen Wahlkampf zu versüßen. – Das hat mit Coronapandemiebekämpfung nichts zu tun, liebe Kollegen. Deswegen ist dieser Haushalt überflüssig.
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Und das, Herr Scholz, bei einer Rücklage von 50 Milliarden Euro! Da liegen 50 Milliarden Euro in der Rücklage, und es werden 60 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. An dieser Stelle will ich unterstreichen: Das funktioniert so nicht, auch nicht bei den Unternehmenshilfen. Das sage ich, weil Sie das gerade hier noch mal behauptet haben; Ihr Kollege Herr Altmaier benutzt ja diese Zahlen auch.
Sie haben gesagt: Wir haben 95 Milliarden Euro Unternehmenshilfen ausgegeben. – Ich bin dankbar, Herr Rehberg, dass Sie das gerade klargestellt haben. Die Wahrheit ist: Es sind nicht 95 Milliarden Euro. Der Großteil davon sind Kredite, die der deutsche Mittelstand Cent für Cent zurückzahlen muss. Die Unternehmenshilfen umfassen gerade mal 22 Milliarden Euro. So etwas zu erzählen und dann zu behaupten, die Unternehmer sollten nicht meckern, ist ein Skandal.
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Es geht vielen Mittelständlern schlecht in Deutschland, und Sie tun nichts, um ihnen zu helfen. Dass die Investitionsquote zurückgeht, hat der Kollege Fricke in seiner Nachfrage noch mal unterstrichen, und Sie mussten es ja zugeben.
Ich will zum Schluss sagen: Dieser Bundeshaushalt trägt nicht dazu bei, dass zügiger geimpft wird. Es wird nicht mehr getestet in Deutschland, und die Coronahilfen werden nicht schneller ausgezahlt. Trotzdem machen Sie 60 Milliarden Euro zusätzlich Schulden. Noch nie war dieser Satz über Gesetze so richtig: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, liebe Kollegen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. – Das gilt auch für diesen Nachtragshaushalt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Christian Dürr. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Gesine Lötzsch.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt nachweislich Gewinner und Verlierer der Pandemie, aber das ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen. Hier muss sich grundlegend etwas ändern.
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Darum stellen wir zwei Fragen an den Nachtragshaushalt. Erstens. Zieht er die Gewinner zur Finanzierung des Gemeinwesens heran? Zweitens. Unterstützt er die Verlierer wirkungsvoll? Beide Fragen muss ich mit Nein beantworten, und das ist wirklich fatal.
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Nehmen wir das Beispiel der Selbstständigen: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat eine Studie vorgelegt, aus der hervorgeht, dass Frauen, die selbstständig sind, mit einer 60 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit härter von der Pandemie betroffen sind als selbstständige Männer. Diese Ungleichheit können wir nicht akzeptieren. Hier muss gegengesteuert werden, meine Damen und Herren.
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Die Pandemierechnung verschicken Sie schon jetzt an alle Privathaushalte. Doch was ist mit der Wirtschaft? Die Produktion läuft in vielen Bereichen einfach so weiter, als ob es keine Pandemie gäbe. Wir fordern, dass die Menschen in der Produktion effektiv geschützt werden, aber das ist Ihnen zu anstrengend. Sie wollen der Wirtschaft nicht zu nahe treten. Hier brauchen wir endlich einen effektiven Schutz der Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten.
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Wir müssen auch die Frage stellen: Zählen denn die Freiheitsrechte der Wirtschaft mehr als die Rechte von einzelnen Menschen? Ich sage: Wenn wir die nicht systemrelevante Produktion, zum Beispiel die der Rüstungsindustrie, reduzieren, dann wäre das eine wirksame Maßnahme. Damit wäre allen geholfen, und die Gesundheit würde geschützt.
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Im Nachtragshaushalt steht immer noch nicht, wer die Coronarechnung bezahlen soll. Die Vermögenden sind in der Krise noch reicher geworden. Die zunehmende Ungleichverteilung zwischen oben und unten ist eine Gefahr für unsere Demokratie. Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert jetzt eine Vermögensteuer. Das ist gut. Unter der Überschrift: „Steuergerechtigkeit herstellen, Staatsfinanzen stärken“ schlägt der Deutsche Gewerkschaftsbund nicht nur die Wiedereinführung einer Vermögensteuer vor, sondern plädiert auch für höhere Erbschaft-, Einkommen- und Körperschaftsteuern. Wir als Linke sagen: Das ist der richtige Weg.
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Nun ist ja die Schuldenbremse hier wieder gelobt worden und die Behauptung aufgestellt worden, die Schuldenbremse stehe für Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Das Gegenteil ist der Fall. Die Schuldenbremse steht Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit entgegen. Die Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Darum gehört sie abgeschafft, meine Damen und Herren.
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Wir sind in Westeuropa Investitionsschlusslicht. Das muss sich ändern. Wir lehnen den Nachtragshaushalt ab. Ein gerechter Haushalt sieht anders aus.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Gesine Lötzsch. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Anja Hajduk.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Nachtragshaushalt ist notwendig. Wir haben das auch im letzten Jahr schon festgestellt: Wir müssen auf die Krise mit schnellen und wirksamen und ausreichenden Hilfen reagieren. Ausdrückliche Unterstützung auch von unserer Grünenfraktion!
Man kann das Ganze auch so beschreiben: Wir haben von der Krediterlaubnis im Jahr 2020 in Höhe von über 80 Milliarden Euro nicht Gebrauch gemacht, und jetzt, im Jahr 2021, beantragt die Regierung 60 Milliarden Euro mehr. „Nicht Gebrauch gemacht haben“ heißt auch, dass die Hilfen teilweise nicht gut umgesetzt wurden. Das haben wir mit Blick auf die Wirtschaftshilfen auch kritisiert. Faktisch bedeutet die Kreditaufnahmeerlaubnis, über die wir heute abstimmen, im Prinzip eine Verschiebung von 2020 auf 2021. In der Gesamtsumme ist der Betrag zur Krisenbekämpfung fast gleich hoch; das mal zur Einordnung in Richtung FDP und AfD. Wenn Sie das für überflüssig und für falsch halten und wenn Sie das geißeln,
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dann bedeutet das auch, dass Sie die notwendigen Ausgaben für die Krankenhäuser, für die Wirtschaftshilfen, für die Unterstützung von Soloselbstständigen und für das Kurzarbeitergeld anscheinend gar nicht mittragen wollen. Das müssen Sie dann aber auch ehrlich zugeben.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der FDP-Fraktion?
Ja, natürlich.
Sehr geehrte Frau Kollegin Hajduk, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich möchte Sie zu den von Ihnen getroffenen Aussagen befragen. Für Wirtschaftshilfen standen im Haushalt 2021 39,5 Milliarden Euro bereit. Bis jetzt sind circa 15 Milliarden Euro abgeflossen.
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Die Große Koalition möchte jetzt 25,5 Milliarden Euro zusätzlich obendrauf setzen, damit es 65 Milliarden Euro werden – bei 15 Milliarden Euro Mittelabfluss. Für die Pandemiebekämpfung stehen 35 Milliarden Euro bereit. Bisher gebunden: je nach Rechnung; letztens im Haushaltsausschuss hieß es: 17 Milliarden Euro.
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Ich glaube, beides zeigt sehr deutlich, dass noch Milliarden in diesem Haushalt stecken, die nicht gebunden und auch nicht verausgabt sind und die zur Pandemiebekämpfung und für Wirtschaftshilfen zur Verfügung stehen.
Unser Vorschlag war, dass wir die Steuerschätzung im Mai abwarten, um den Haushalt auch bei den Einnahmen nachjustieren zu können; denn auch da werden große Veränderungen eintreten. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob es wirklich solide Haushaltspolitik ist, jetzt im April hopplahopp einen Nachtragshaushalt zu beschließen, wenn im Mai – in nicht mal einem halben Monat – die Steuerschätzung kommt? Dann könnte auf solider Basis, wie es sich für den Deutschen Bundestag gehört, ein Nachtragshaushalt beschlossen werden. Das ist das Anliegen der Freien Demokraten. Ich finde, jeder solide Haushälter, Frau Kollegin Hajduk, sollte sich dieser Sache anschließen. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie da eine andere Auffassung haben.
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Danke schön, Herr Klein. – Frau Hajduk.
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, ich gehe erst mal davon aus, dass Sie die Verschiebung der Gesamtkreditaufnahme, die ich gekennzeichnet habe, anerkennen. Ich will aber sagen: Sie haben mit Ihrer Frage im Grunde ein Argument dafür geliefert, warum wir in diesem Jahr für die Wirtschaftshilfen mehr Geld brauchen. Ich habe nämlich wie Sie die kritische Meinung, dass es nicht in Ordnung war, dass die Wirtschaftshilfen im letzten Jahr schlecht umgesetzt wurden. Das Verfahren war zu kompliziert. Das hat viele Unternehmerinnen und Unternehmer in die Krise gestürzt. Dass das Geld jetzt fließt, wie Eckhardt Rehberg gesagt hat, ist schön; aber nach unserer Einschätzung hätte das schneller gehen müssen. Das heißt dann aber auch, dass wir dieses Jahr größere Summen brauchen.
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Außerdem haben wir den Lockdown verlängern müssen. Sie wissen auch: Als wir den Haushalt beschlossen haben, hatten wir die Hoffnung, dass nach dem ersten Quartal vielleicht Besserung eintritt. Wir laufen nun in ein zweites Quartal ein, das schwierig ist. Meine Fraktion erkennt an, dass wir Vorsorge treffen müssen für Hilfen für Unternehmerinnen und Unternehmer und Hilfen für mehr Kurzarbeitergeld. Wir brauchen auch einen Aufschlag für Hartz‑IV-Bezieher. Wir verstehen es überhaupt nicht, dass die Bundesregierung das nicht macht. Das kritisieren wir.
Wir glauben, dass es richtig ist, mit diesem Nachtragshaushalt Vorsorge zu treffen. Am Ende ist das nur eine Ausgabeermächtigung. Mit Blick auf das Wahljahr, wo wir noch viel Parteienwettbewerb haben werden, ist das eine wichtige Sicherheit und Garantie und Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger.
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Deswegen muss ich dabei bleiben: Sie sorgen nicht für eine sichere Finanzierung fürs Impfen, fürs Testen, für Krankenhäuser und anderes.
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Deswegen ist Ihre Ablehnung dieses Nachtragshaushalts zu kritisieren.
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Vielen Dank. – Danke schön, Herr Klein.
Ich fahre in meiner Rede fort. – Ich und wir haben auch Kritik an diesem Haushalt, und deswegen – das wurde gefragt – werden wir uns enthalten.
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Ich habe es gesagt: Wir finden, dass die Hilfen nicht ausreichen,
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bezogen auf Menschen, die Grundsicherung beziehen, und wir kritisieren auch, dass die Tilgungsfrist für dieses Programm zu knapp bemessen ist. Es ist schon interessant, dass der Kanzlerkandidat der CDU aus Nordrhein-Westfalen die Tilgungsfrist für diese große Kreditaufnahme in seinem Land zusammen mit der FDP auf 50 Jahre festsetzt, während Sie das hier auf 20 Jahre befristen wollen. Wir Grünen finden, das ist nicht nötig. Und wir sind da in guter Gesellschaft: Auch Ökonomen wie der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft Hüther sprechen davon, dass es wahrscheinlich viel vernünftiger wäre, eine Tilgungsfrist von 40 Jahren vorzusehen.
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Ich komme zu meinem letzten Punkt. Was ist die große Linie der Finanzpolitik der Zukunft? Wir brauchen ab dem Jahr 2023 wieder eine Konsolidierung bei den laufenden Ausgaben. Aber wir brauchen gleichzeitig, Herr Scholz, ein glaubwürdiges, großes, zuverlässiges Investitionsprogramm.
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Und von wegen Rekordniveau! Deutschland steht im internationalen Vergleich hinsichtlich der Investitionsquote bei ungefähr 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die USA bei 3,5 Prozent; das sind die Zahlen vor Biden. Wenn wir uns an Biden und den USA mit Blick auf die Klimapolitik – endlich sind sie wieder dabei! –, mit Blick auf ein Investitionsprogramm ein Beispiel nehmen wollen, dann brauchen wir ein Investitionsaufholprogramm, genau so, wie wir Grünen es darlegen, nämlich einen Investitionsfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre.
Frau Kollegin, und ich brauche jetzt das Ende Ihrer Rede.
Und das gelingt uns – allerletzte Worte – mit einer Investitionsregel, die die Schuldenbremse ergänzt. Ich hoffe, dass wir Sie davon auch überzeugen können.
Schönen Dank.
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Ihre Maske, Frau Kollegin!
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Danke schön, Anja Hajduk. – Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Svenja Stadler.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Mehr als ein Jahr Corona hat uns allen doch verdammt viel abverlangt, und viele sind auch an die Belastungsgrenze gestoßen. Eine Studie sagt, dass Kinder und Jugendliche genauso unter dieser Situation leiden wie wir Erwachsenen. Besonders für diejenigen, die viel getragen haben, aber wenig aufgefangen wurden, werden wir insgesamt 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen: 1 Milliarde Euro für Bildung und 1 Milliarde Euro für Familien.
Machen wir uns doch nichts vor: Wir haben alle gedacht, dass die Familie uns auffängt, dass sie funktioniert. Und gleichzeitig haben wir in dieser Coronapandemie gemerkt, dass wir gerade den Nahestehenden, denjenigen, die uns am nächsten sind, gar nicht so nahe kommen durften. Auf der anderen Seite gab es wiederum Menschen, die diese erzwungene und familiäre Enge kaum ertragen konnten.
Aus diesem Grund wollen wir die frühkindliche Bildung fördern. Wir wollen Kinder und Jugendliche bei Freizeit-, Ferien- und Sportaktivitäten unterstützen, und wir wollen sie im Alltag unterstützen und begleiten. Damit wollen wir auch deutlich machen, dass es neben der Familie, den Freunden und dem sozialen Umfeld so etwas gibt wie eine Solidargemeinschaft, in der es nicht darum geht, in der größten Not den größten Nutzen aus etwas zu ziehen, sondern darum, zu schauen: Wie geht es den anderen, den Kleinen, den Jungen, den Familien?
1 Milliarde Euro für Kinder und Jugendliche, die durch die Schließung von Kitas und Schulen ihren Halt verloren haben. Sie sollen davor geschützt werden, isoliert den Sommer verbringen zu müssen.
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Kinder, die in ihren Familien kein Deutsch lernen, müssen wir dazu befähigen und sie dabei unterstützen, sich zu artikulieren; denn sonst sind sie diejenigen, die sozial isoliert werden. 1 Milliarde Euro für all diejenigen, die durch Corona in eine soziale Notlage geraten sind, besonders für Kinder und Jugendliche, die selbst am wenigsten dafür können. 1 Milliarde Euro für Familien, die diese Belastungsgrenzen schon längst überschritten haben. 1 Milliarde Euro für Kinder, Jugendliche und Familien, damit sie sich bewegen, damit sie Sport treiben können, damit sie Lust haben, wieder zusammenzukommen. Denn – und das ist bei alldem doch das Entscheidende – wir hier im Hause wissen doch – einige auch nicht –, dass Kinder den persönlichen Kontakt brauchen; er muss erhalten bleiben. Kinder brauchen Kinder, um sich zu entwickeln, um zu leben, um zu toben, um zu lachen.
Die tatsächliche Verwendung dieser 1 Milliarde Euro liegt vertrauensvoll in vielen Händen. Diese Hände können über ganz Deutschland ausgebreitet ein Netz darstellen, um die Schwächsten unter uns aufzufangen und ihnen zu zeigen, dass sie Teil dieser Gemeinschaft sind.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie es uns gemeinsam anpacken! Lassen Sie uns gemeinsam Kinder, Jugendliche und Familien in dieser Situation unterstützen! Das können Sie alle, indem Sie dem Nachtragshaushalt einfach zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Svenja Stadler. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Marcus Bühl.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit zahlreichen Lockdowns und immer neuen Begriffen für diese ist die Bundesregierung unter immenser Schuldenmacherei durch die letzten Monate geschlingert. Mit der Geldnot nun der nächste Nachtragshaushalt! In diesem sind Mittel für Wirtschaftshilfen vorgesehen, die auch bitter nötig sind, weil ganze Branchen zur Schließung gezwungen wurden. Bei den Betroffenen kommen diese Entschädigungen viel zu langsam an. Schuld daran ist eine Bundesregierung, die Bürokratie ganz groß schreibt und wie gelähmt wirkt vor Mut- und Ideenlosigkeit.
In diesem Bundeshaushalt werden 44 Prozent über Kredite finanziert. In den Jahren 2020 und 2021 beträgt die Schuldenermächtigung 370 Milliarden Euro, also mehr als ein normaler Jahreshaushalt der Bundesrepublik. Eine Antwort darauf, wie diese Schulden zurückbezahlt werden, liefert diese Regierung dagegen nicht. Warum wohl? Die Regierung plant mit neuen Schulden soziale Ruhe bis zur Bundestagswahl. Die bittere Wahrheit – wer soll das bezahlen? – wird ganz kleingespielt.
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Und damit es weniger Kritik im Bundestag gibt, halbieren die Regierungsfraktionen einfach die Debattenzeit. Und während sich draußen gerade entscheidet, was mit Ihrer Politik des Versagens von unseren Innenstädten, von Hunderttausenden Arbeitsplätzen und von unserem sozialen Gefüge übrig bleibt, wollen Sie hier den abzuzahlenden Schuldenberg in ein paar Minuten abhandeln.
Wenn in diesem Land Schulden gemacht werden, muss alles auf den Prüfstand, auch eine Asylrücklage. Das haben wir bereits beim Nachtragshaushalt 2020 scharf kritisiert. Die schwarze Null als Ziel solider Haushaltspolitik, das war einmal bei Ihnen. Innerhalb eines Jahres hat diese Regierung mehr Schulden gemacht als in den letzten 20 Jahren zusammen. Wer da noch von „gut durchgekommen“ spricht, hat die Lebenswirklichkeit nicht verstanden.
Herzlichen Dank.
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Danke schön. – Ich gebe das Wort dem letzten Redner in dieser Debatte: Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Nachtragshaushalt hat zwei Seiten. Die Vorderseite ist die Seite des Mutes und der Entschlossenheit – der Entschlossenheit, dass wir die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land erfolgreich bewältigen. Mit diesem Nachtragshaushalt stellen wir das notwendige Geld zur Verfügung, um Impfstoffe zu beschaffen, um Schnelltests zu finanzieren, um die Krankenhäuser zu unterstützen. Wir finanzieren damit praktisch den Weg aus der Krise heraus.
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Mit diesem Nachtragshaushalt unterstützen wir auch die Unternehmen. Wir stellen das Geld für die Überbrückungshilfe III zur Verfügung. Das Geld wird gut angenommen; die Hilfen fließen. Und es ist gut angelegt; denn wir helfen damit Unternehmen, durch diese Krise zu kommen, und retten Arbeitsplätze, die wir nach dieser Krise dringend brauchen, um einen neuen Aufschwung für Deutschland zu erreichen.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen mit diesem Nachtragshaushalt gezielt auch die Familien. Es gibt einen Kinderbonus von 150 Euro pro Kind, der damit finanziert wird. Wir alle wissen doch aus unserem eigenen Erleben, was es für Familien bedeutet, wenn ein Kind plötzlich in Quarantäne geschickt wird, wenn kurzfristig Betreuungsmöglichkeiten organisiert werden müssen, wenn Homeschooling ansteht. Wir helfen damit den Familien, die das Geld dringend brauchen.
Und: Wir legen uns eine Vorsorge an.
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Wir gehen dieses Jahr in den Bundestagswahlkampf. Ich werbe dafür, dass CDU und CSU stark herauskommen. Sie werben für Ihre Parteien. Aber auf jeden Fall will ich, dass Deutschland auch in einem Wahljahr zu jeder Zeit handlungsfähig ist. Wir wissen nicht, was die Pandemie uns noch bringen wird, welche zusätzlichen Impfungen noch erforderlich sein werden. Mit diesem Geld stellen wir eine Pandemievorsorge bereit, um in jeder Situation auch das Notwendige tun zu können. Und deswegen ist es richtig, dass wir heute diesem Nachtragshaushalt zustimmen.
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Aber, meine Damen und Herren, der Nachtragshaushalt hat auch eine zweite Seite: die Seite der Sorgen oder – anders ausgedrückt – die Seite der Schulden. Wir erhöhen damit die Nettokreditaufnahme um weitere 60 Milliarden Euro auf 240 Milliarden Euro. Das heißt: Während wir in den letzten sechs Jahren in Folge keinen einzigen Euro neue Schulden gemacht haben, sind wir jetzt, im Jahr 2021, innerhalb von ganz kurzer Zeit, so weit, dass wir 40 Prozent unserer Ausgaben mit Schulden finanzieren müssen.
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Und mit jedem Tag, mit jeder Woche, mit jedem Monat im Lockdown in der Pandemie kommen wir tiefer in diesen Schuldenstrudel hinein, und es wird immer schwieriger, herauszukommen.
Deswegen brauchen wir die gleiche Entschlossenheit, mit der wir jetzt die Pandemie bekämpfen, in den nächsten Jahren, um unseren Haushalt wieder in Ordnung zu bringen.
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Meine Damen und Herren, das wird schwieriger, das wird härter; aber es ist notwendig. Und wer jetzt, in dieser Situation, fordert, die Schuldenbremse abzuschaffen, der kapituliert. Das Signal wäre fatal – auch in Richtung Europa.
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Die letzte Krise war eine Staatsschuldenkrise. Wir müssen verhindern, dass die nächste Krise wieder eine Staatsschuldenkrise wird. Wir müssen in Deutschland, in Europa so schnell wie möglich zurückkommen
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zu stabilen Finanzen, zu konsolidierten Haushalten, um auch langfristig unsere Zukunftsfähigkeit zu erhalten.
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Deswegen sage ich von der CDU/CSU: Wir unternehmen alles, um die Pandemie zu bekämpfen. Wir stellen das notwendige Geld für Impfstoffe, für Krankenhäuser, für Teststrategien bereit. Aber wir wissen auch, dass die Rechnung dafür noch kommt, und wir sind auch bereit, in einer nächsten Regierung die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und – im wahrsten Sinne des Wortes – auch die Rechnung zu bezahlen. Wir stehen für eine solide Finanzpolitik.
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke schön, Dr. Brandl. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen prägen das Leben der meisten Menschen auf dieser Erde. Sie stiften Lebenssinn, sie prägen das eigene Selbstverständnis und motivieren häufig zum Einsatz für andere und für das Gemeinwesen.
Über 80 Prozent der Weltbevölkerung werden einer Religionsgemeinschaft zugerechnet. Zugleich leben 75 Prozent der Menschen in Ländern, in denen die Religionsfreiheit in gewisser Weise zum Teil brutal eingeschränkt ist. Deswegen war es wichtig und ein Herzensanliegen der Unionsfraktion, das Thema Religionsfreiheit fest auf der politischen Agenda zu verankern.
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Ich möchte mich bei Markus Grübel, dem Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, herzlich bedanken. Sein Bericht zeigt, dass dies gelungen ist. Ich danke auch unserem langjährigen Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, der ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass diese Verankerung gelungen ist. Vielen Dank, lieber Volker Kauder.
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Schließlich ist es mir auch ein Anliegen, Professor Heiner Bielefeldt zu nennen, der als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zum Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit maßgeblich dazu beigetragen hat, diesem Thema auch in der wissenschaftlichen Diskussion, auch in der Menschenrechtsdiskussion in unserem Land einen stärkeren Platz einzuräumen.
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Meine Damen, meine Herren, das zivilgesellschaftliche Engagement für Religionsfreiheit in unserem Land ist häufig geprägt von der Solidarität christlicher Kirchen und Gemeinschaften mit verfolgten Christinnen und Christen in aller Welt. Das ist richtig. Gleichzeitig gilt: Unsere Solidarität gilt allen Menschen jedweder religiösen und weltanschaulichen Überzeugung. Wir stehen an ihrer Seite, wenn es um Religions- und Weltanschauungsfreiheit geht, meine Damen, meine Herren. Das meint die Freiheit des Einzelnen, die Freiheit der Religionsgemeinschaft, das meint die Freiheit, öffentlich einladend über den eigenen Glauben zu reden, das meint das Recht, eine religiöse Überzeugung abzulegen oder zu wechseln und schließlich natürlich auch die Freiheit zur Religionskritik. Aber all dies wird mal als strafwürdige Mission, mal als Glaubensabfall, mal als Blasphemie in vielen Ländern unter Strafe gestellt, staatlichem oder nichtstaatlichem Druck ausgesetzt. Daran wird immer wieder deutlich, dass solche Einschränkungen auch andere Grundrechte, Menschenrechte tangieren: die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, mitunter die Kunstfreiheit, die Pressefreiheit und vieles andere mehr.
Meine Damen, meine Herren, deswegen bin ich dankbar, dass der zweite Bericht etwa in Hinblick auf die Lage in 70 Ländern, in denen sogenannte Blasphemiegesetze bestehen, einen starken Akzent auf diese rechtlichen Fragen der Diskriminierung religiöser Freiheit lenkt.
Ich will einen weiteren Punkt nennen und bewusst unterstreichen. Das ist das Thema Bildung. Ja, Bildung ist ein Bereich, in dem es darum geht, allen Menschen Zugang zur Bildung zu eröffnen, religiöse Minderheiten und andere nicht auszuschließen, auch ethnische Minderheiten nicht, in anderen Ländern Mädchen und junge Frauen nicht auszuschließen. Bildung ist ein Grundrecht aller Menschen. Wir sehen, dass in Schulen religiöser Hass gelehrt wird. Aber ich will auch einmal bewusst den Blick darauf lenken, welche Chancen in religiöser Toleranzerziehung liegen. Ich habe vor zwei Jahren im Senegal, in einem mit überwältigender Mehrheit muslimischen Land, ein Projekt besucht, in dem muslimische und kirchliche Einrichtungen, unterstützt und begleitet von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Unterrichtsmaterialien erstellen für die Bildung religiöser Toleranz in den Schulen dieses Landes, einem Nachbarland des so arg gebeutelten Mali. Es gibt diese guten Beispiele; und wir sollten auch über sie reden.
Und wenn wir über religiöse Toleranz reden, dann will ich auch sehr deutlich sagen: Der Einsatz für Religionsfreiheit und religiöse Feindbilder passen nicht zusammen. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass es natürlich so ist – wir kritisieren das –, dass in vielen muslimisch geprägten Ländern die Freiheit religiöser Minderheiten eingeschränkt ist, dass sich islamistischer Terror gegen angebliche Ungläubige, aber häufig auch gegen angeblich zu Liberale in der eigenen Religionsgemeinschaft, nicht zuletzt gegen Frauen, richtet. Aber angesichts von muslimischen Rohingya, muslimischen Uiguren, die bittere Verfolgung erfahren, sage ich auch sehr deutlich: Für ein islamophobes Feindbild ist in der Debatte um Religionsfreiheit kein Platz, meine Damen, meine Herren!
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Deswegen ist es mir ein Anliegen, zu sagen: Diese Arbeit wollen wir verstetigen, auch die Arbeit in der Bundesregierung und das Amt des Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit. Wir wollen das auch tun im Bereich der Europäischen Union, wo das Amt des Sonderbeauftragten für die Förderung von Religions- und Weltanschauungsfreiheit wieder besetzt und ausgestattet werden muss. Diese wichtige Debatte bleibt auf der Tagesordnung. Das ist uns ein Herzensanliegen.
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Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Braun.
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Verehrtes Präsidium! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Die Erstellung eines Berichts über die weltweite Lage der Religionsfreiheit ist wichtig und begrüßenswert. Allein über 300 Millionen Christen werden massiv bedrängt oder getötet – allein in den 50 Ländern, in denen die Verfolgung aus religiösen Gründen am schlimmsten ist, fast ausschließlich in islamischen und in kommunistischen Ländern, kommunistisch wie Nordkorea und China. Die Verfolgung gläubiger Christen in China findet Raum in diesem Bericht – immerhin.
Erika Steinbach, viele Jahre lang die ausgewiesene Expertin der Unionsfraktion für Fragen der Menschenrechte, sagt zur Christenverfolgung:
Am beunruhigendsten ist generell nach wie vor die Entwicklung in nahezu allen muslimisch geprägten Ländern. Es zeichnet sich kaum eine Verbesserung ab.
Was läge da näher, als die Christenverfolgung zum dominierenden Thema eines Berichts zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit zu machen? Die von einer CDU-Kanzlerin geführte Bundesregierung hat diese Chance verspielt. Die einst Christlich Demokratische Union sagt es einfach nicht: Christen werden in fast allen islamischen Ländern systematisch verfolgt.
Das I‑Wort vermeiden die Koalitionsfraktionen: I wie Islam. Aber wir von der AfD-Fraktion sprechen es aus. Es sind die islamischen Länder, in denen die allermeisten der über 300 Millionen verfolgten Christen bangen: um ihr Hab und Gut, um ihre Familien, um ihr nacktes Leben.
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Zwar bringt dieser Bericht Einzelbeispiele von verfolgten Christen. Diese wichtigen Beispiele werden aber in den Einzelkapiteln versteckt: homöopathisch verteilte Christenverfolgung, bloß nicht zu viel davon. Islamische Machthaber weltweit und eine wachsende radikal islamisierte Minderheit hierzulande könnten verärgert sein.
Der neue Antisemitismus in Deutschland – auch ein Thema – kommt nicht vor in diesem Bericht. Islamischer Antisemitismus – ein wachsender Antisemitismus. Die „Jüdische Allgemeine“ hat es klar herausgearbeitet – Zitat –:
„Sieg Heil“-Rufe von Arabern werden in Berlin als politisch motivierte Kriminalität mit rechtsextremem Hintergrund gewertet.
Islamische Gewalt ist es, derentwegen viele jüdische Familien aktuell überlegen, aus Deutschland auszuwandern – Zitat, ebenfalls aus der „Jüdischen Allgemeinen“ –:
Betroffene Juden geben an, dass 81 Prozent der körperlichen Angriffe auf Muslime zurückgehen.
81 Prozent! Diese erschreckende Entwicklung in Deutschland fehlt im Bericht der Bundesregierung.
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Im Bericht fehlt auch, dass der Exodus der französischen Juden sehr wohl ein großes Thema in Frankreich ist.
Es sind die islamischen Länder, in denen Christen besonders verfolgt werden. Menschenschlächter wie Boko Haram in Nigeria und in Pakistan, die eigenen Nachbarn als Mörder aus religiösen Motiven, nur weil eine Familie christlich ist – das ist die Realität, die in einem neuen Bericht zur weltweiten Religionsfreiheit dringend in den Mittelpunkt gehört.
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Herr Grübel, ich spreche Ihnen meine persönliche Hochachtung für Ihre sorgfältige Arbeit im Detail und Ihren Einsatz aus.
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Sie haben Ihr Mandat durch die Bundeskanzlerin erhalten. In dieser Bundesregierung, bei dieser Kanzlerin haben verfolgte Christen aber keine Lobby. Das kalte Herz einer ehemaligen DDR-Funktionärin,
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es schlägt nicht für die vielen Millionen Christen, die weltweit in Not sind.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Aydan Özoğuz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht nur vorweg: Der größte Teil dieses Hauses beschäftigt sich mit jedem Extremismus in diesem Land und findet auch jeden Extremismus furchtbar und auch verfolgenswert. Aber solange die AfD es nicht schafft, über Rechtsextremismus zu sprechen, bleibt sie unglaubwürdig – auch wieder bei dieser Rede, Herr Braun.
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Mit dem Bericht, der vorgelegt wurde, schauen wir erneut auf den weltweiten Zustand des Grundrechts Religionsfreiheit. Es geht um das Recht jedes Individuums, selbst zu entscheiden, einer Religion oder einer Weltanschauung zu folgen oder eben auch nicht und – besonders wichtig; dies wird in diesem Bericht ja auch untersucht – einer Religion nicht mehr zugehörig sein zu wollen oder einer anderen zu folgen, ohne dadurch Unterdrückung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Auch das gehört eben zum Recht Religionsfreiheit.
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Laut Bericht fühlen sich rund 6 Milliarden Menschen auf dieser Welt offenbar einer Religion zugehörig; das ist eine hohe Zahl. Bei der Anhörung im Menschenrechtsausschuss letzte Woche beschrieb der Pfarrer und Kirchenrechtler Dr. Patrick Roger Schnabel zu Recht, dass der Religionsfreiheit historisch eine Schlüsselstellung für die Entwicklung von Grund- und Menschenrechten zukomme. Bis heute sei sie ein – Zitat – „Gradmesser für die Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesens“.
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Aber – und das macht diesen Bericht und die Arbeit von Herrn Grübel und auch unserer Menschenrechtsbeauftragten Frau Kofler so wichtig –: Ein großer Teil der Menschen, die sich einer Religion oder Weltanschauung zugehörig fühlen, ist im Recht auf freie Religionswahl oder ‑ausübung eingeschränkt. Ein Beispiel ist eben – das hat Herr Gröhe angesprochen –, dass der Bericht untersucht, dass es Blasphemie- und Antikonversionsgesetze gibt, die eine freie Religionswahl oder ‑ausübung gar nicht erst möglich machen. Sich mit diesen zu befassen, ist ein wichtiger Bestandteil der Menschenrechtspolitik.
Gesetze, die eine Abkehr von Religion unter Strafe stellen, bewirken ja hauptsächlich eins: dass Menschen so tun müssen, als wären sie Teil einer Religionsgemeinschaft, der sie sich faktisch aber gar nicht zugehörig fühlen. Deshalb möchte ich hier unterstreichen: Zwang im Glauben oder Zwang zum Glauben widerspricht dem Recht auf Religionsfreiheit in höchstem Maße.
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Eine Kritik, die von mehreren Experten in der Anhörung genannt wurde und die ich teile, möchte ich hier auch nennen: Es wäre wichtig, die Religionsfreiheit auch bei uns in Deutschland und in europäischen Ländern zu betrachten und zu beschreiben. Denn zwei Themen, die im Bericht exemplarisch behandelt werden, dürften ja mittlerweile auch bei uns durchaus eine größere Rolle spielen, und zwar religions- und gruppenbezogene Onlinehassrede in sozialen Medien und die Diskussion um staatliche Bildungssektoren, wobei es sowohl um den Zugang als auch die Qualität und Inhalte von Bildungsangeboten geht.
Beim Punkt der antireligiösen Hassrede im Netz sollte jeder und jede, die mal einen Fuß in diese politischen Bereiche sozialer Medien gesetzt hat, die Relevanz für Deutschland eigentlich auch nachvollziehen können. Das dürfte wohl auch für unsere europäischen Nachbarländer gelten. Besonders häufig scheint dies Frauen zu treffen, die Einwanderungsgeschichten haben, mit Bezug eben zu solchen Ländern, die mehrheitlich mit dem Islam assoziiert werden. Unabhängig davon, wie religiös sie selbst überhaupt sind oder sein wollen, werden ihnen alle möglichen vulgären Ausdrücke und frauenverachtenden Begriffe in Kombination mit Verweisen auf ihre vermeintliche Religion zugeschickt. Das wird insbesondere damit gerechtfertigt, dass Muslime anderswo auf der Welt schließlich auch brutal mit Gläubigen anderer Religionen umgingen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geht überhaupt nicht.
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Hier wird das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit sehr perfide unterlaufen. Denn es wird eine Unterteilung zwischen per se guten und bösen Religionen konstruiert, und es werden dem Einzelnen alle Missbräuche und Taten anderer zugeschrieben, die sich ebenfalls als Anhänger dieser Religion ausgeben.
Ich möchte hier nicht missverstanden werden: Jede Religion kann kritisiert werden, kann abgelehnt werden; das ist ja selbstverständlich. Aber es darf eben keine Sippenhaft geben für Morde, Gräueltaten oder sonstige Taten eines anderen Individuums mit der vermeintlich gleichen Religion. Genau das ist das Recht, für sich selbst eine Religion auszuwählen, die man friedlich und im Einklang mit dem Grundgesetz leben möchte.
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Und es ist ein wichtiges Menschenrecht, eben nicht dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn andere im Namen einer Religion gegen Gesetze verstoßen oder Gräueltaten begehen. Das ist nun leider in vielen Ländern – und auch zunehmend bei uns – vor allem in sozialen Netzwerken inzwischen keine Selbstverständlichkeit.
Damit komme ich noch mal zu einem Land, das uns große Sorgen machen muss und das wir meines Erachtens leider gar nicht überschätzen können in seiner Bereitschaft, Menschenrechte komplett zu ignorieren. Die Entwicklungen in China sind dramatisch. Nicht ohne Grund haben wir diesem Beispiel auch in unserer Entschließung sehr viel Raum eingeräumt. Es geht um mannigfaltige Formen religiöser Diskriminierung und Verfolgung, darunter übrigens auch 80 Millionen Christen gegenüber, die in China leben. Wir haben furchtbare, erschütternde Berichte über die dramatische Situation der Uiguren im Menschenrechtsausschuss gehört und werden uns in Kürze auch in Form einer Anhörung damit befassen. Umerziehungslager im 21. Jahrhundert für Minderheitengruppen, deren Religion man keinen Raum lassen möchte, sind eine dramatische menschenfeindliche Entwicklung und sollten eine größere Beachtung erhalten, als dies zurzeit der Fall ist.
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Zu guter Letzt noch ein letzter Satz: Mit den deutlichen Worten, die unsere Entschließung zum Bericht beinhaltet, hoffe ich, dass Veränderungen auch in der Außenpolitik und in der Menschenrechtspolitik erzielt werden können. Jeder noch so schwierige Fall von Verletzung der Religionsfreiheit ist es wert, beachtet, benannt und, wenn irgendwie möglich, auch behoben zu werden. Der Bericht der Bundesregierung liefert hierfür einen wichtigen Beitrag. Herzlichen Dank dafür.
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Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Peter Heidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Religiös beeinflusste, häufig gewaltsame Auseinandersetzungen prägen das Bild unserer Tage – Tendenz steigend. Die engmaschige Taktung, mit der der Bericht zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit von der Bundesregierung herausgegeben wird – alle zwei Jahre –, ist leider auch ein trauriger Indikator dafür, wie sehr weltweit das Recht auf Religionsfreiheit unter Druck geraten ist.
Ich begrüße als Oppositionspolitiker ausdrücklich die Arbeit des Kollegen Markus Grübel, den wir von der FDP sehr schätzen.
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Und ich begrüße den Bericht ausdrücklich; denn er zeigt die Komplexität dieses Themas, und er zeigt, dass die Christenverfolgung eben nicht, wie Herr Braun wieder behauptet hat, das größte Problem ist.
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– Nein, ist sie nicht. Sie müssen das mal lesen, dann würden Sie auch was verstehen.
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Die Verletzung von Religionsfreiheit hat nämlich sehr viele Konstellationen: China, Nordkorea, die mehr oder weniger gar keine Religion dulden, Iran, wo der fundamentalistische Glaube als identitätsstiftend missbraucht wird, wo Christen, Bahai, Sunniten unter regelmäßiger Verfolgung leiden. Zu den Repressionsmaßnahmen gehören die Beschlagnahmung des Besitzes, Schändungen, Inhaftierungen, zahlreiche gegen sie gerichtete Gewaltakte. Auch in großen Demokratien wie Indien gerät die Religionsfreiheit unter Druck, wo die hindu-nationalistische Regierung die Religion als Deckmantel benutzt und missbraucht. Aber nicht nur Staaten unterdrücken die Religionsfreiheit. In politisch instabilen Ländern wie Pakistan oder Bangladesch stoßen radikale Fundamentalisten in das Vakuum. Leidtragende sind zum Beispiel die Ahmadiyya, die dort massiv verfolgt werden.
Menschen, die die radikale Einstellung nicht uneingeschränkt teilen, und Menschen, die keinem Glauben anhängen, wie Atheisten, werden der Blasphemie bezichtigt. Dabei gehört zur Religionsfreiheit auch das Recht, nicht zu glauben. Ich wünsche mir, dass in zukünftigen Berichten die Belange nichtgläubiger Menschen stärker Berücksichtigung finden; denn diese stellen eine kontinuierlich wachsende Minderheit dar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass das Recht auf Religionsfreiheit das grundlegende Recht eines Menschen ist, nicht nur das Recht eines Staates, auch nicht das Recht einer vermeintlichen Mehrheit. Dort, wo Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit nicht gleichwertig nebeneinanderstehen, braucht es einen lauten und deutlichen Widerspruch. Deshalb muss sich Deutschland gegen jede Verfolgung von Gläubigen, egal welcher Konfession, Religionsgemeinschaften, religiösen Minderheiten, Konvertiten und Konfessionslosen einsetzen,
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international, aber auch national. Denn Anschläge wie in Halle oder in Hanau zeigen, dass auch hierzulande insbesondere Juden und Muslime verfolgt werden.
Die Koalition hat einen Entschließungsantrag vorgelegt. Die Freien Demokraten werden sich enthalten. Der Antrag liest sich nett, wie es oft bei Ihren Anträgen ist; aber es fehlen auch wieder wichtige Forderungen, zum Beispiel die Einbeziehung europäischer Staaten in den Bericht. Glaubwürdig ist nur der, der vor der eigenen Haustür kehrt.
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Zum Schluss. Manchmal wünsche ich mir, dass der Kollege Michael Brand der zukünftige Außenminister ist. Ich schätze seine Reden. Denn wenn die Reden, die der Kollege Brand hält, auch wirklich der Maßstab der Koalition wären, auch des Außenministers, dann wäre den Menschenrechten und der Religionsfreiheit sehr geholfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Peter Heidt. – Ich will Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch darauf hinweisen, dass ich gleich, und zwar nach der nächsten Rednerin, die Abstimmung schließe. Wer also noch nicht abgestimmt hat, soll das bitte tun.
Ich gebe jetzt das Wort an Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für uns als Linke ist es selbstverständlich: Wir setzen uns für die Religionsfreiheit aller Menschen ein, und zwar egal, welcher Religion sie angehören oder eben nicht angehören.
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Es ist leider auffällig, dass in diesem Bericht kein einziger westlicher Industriestaat enthalten ist, auch nicht die EU oder Deutschland, obwohl in Deutschland im Jahre 2019 die Zahl antisemitischer Straftaten um ganze 13 Prozent gestiegen ist und die der islamfeindlichen Straftaten um 4,4 Prozent. Wohin das führen kann, haben wir doch auf schreckliche, grausame Art und Weise in Hanau gesehen, wo neun junge Menschen aufgrund ihres Aussehens und des vermuteten Migrationshintergrundes bestialisch von einem islamophoben Faschisten ermordet wurden, oder in meiner Heimatstadt Hamburg, wo ein junger Mann vor einer Synagoge brutalst niedergeschlagen wurde. Meine Damen und Herren, auch in Sachen Religionsfreiheit und Antirassismus gibt es hierzulande viel zu tun.
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Auch im Bereich der Hassrede – es wurde schon angesprochen – gibt es einiges zu tun. Wir haben solche Hassprediger von rechts, die es sich noch nicht mal nehmen lassen, an diesem Pult hier weiterhin gegen religiöse Glaubensgemeinschaften zu hetzen. Wir finden, damit muss endlich Schluss sein.
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Es geht auch nicht, dass ein Innenminister sich öffentlich darüber freut, dass zu seinem 69. Geburtstag 69 Afghanen abgeschoben werden. Auch das ist Hass und Ressentiments schüren gegen religiöse Minderheiten. Damit wollen wir uns als Linke nicht abfinden, insbesondere nicht, wenn es von der Regierungsbank kommt.
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Herr Grübel, nehmen Sie als Religionsbeauftragter bitte auch die Hinweise der Expertinnen und Experten aus dem Ausschuss ernst, dass in einen Bericht über Religionsfreiheit auch die westlichen Industriestaaten gehören. Wir sehen das doch an dem Beispiel unseres Nachbarlandes Polen, meiner Heimat, wo sich ein Bündnis aus strikt konservativen Katholiken, Evangelikalen und der rechtsradikalen, nationalistischen PiS-Partei mittlerweile nicht nur offen gegen LGBTIQ ausspricht, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht von ungewollt Schwangeren abgeschafft hat.
In Polen ist Hass gegen Muslime und Zeugen Jehovas, aber auch Antisemitismus mittlerweile weit verbreitet. Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski lässt es sich noch nicht mal nehmen, zu sagen, Embryonen müssten getauft und beerdigt werden. Da spielt die Glaubenszugehörigkeit überhaupt keine Rolle mehr. Die katholische Kirche übt eine massive soziale Kontrolle aus. Es wird Menschen verweigert, wenn sie nicht nach einem bestimmten Weltbild leben, Taufen oder Eheschließungen zu vollziehen.
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Das alles findet leider keinerlei Erwähnung bei Ihnen.
Wir als Linke sagen ganz klar: Religions- und Weltanschauungsfreiheit muss auch hier in Deutschland und in der EU gewahrt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Zaklin Nastic. – Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich frage jetzt zum allerletzten Mal: Ist noch ein Mitglied hier im Haus, das noch nicht abgestimmt hat? – Ja, dann warte ich, bis er an der Urne ist.
Ich gehe jetzt davon aus, dass alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben haben. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen zeitnah bekannt gegeben.
Ich rufe auf den nächsten Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Kai Gehring.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen uns gemeinsam gegen jede Form von Diskriminierung und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaften, religiösen Minderheiten, Konvertiten und Konfessionslosen wenden – egal von wem und egal wo!
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Wer die Religionsfreiheit wirklich verteidigt, muss sich auch selbstbewusst und selbstverständlich hinter alle anderen Menschen- und Freiheitsrechte stellen: vom Schutz der Kinderrechte, Frauenrechte, LGBTIQ-Rechte über Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit bis zur Wissenschafts- und Kunstfreiheit; denn die Verletzung der Religionsfreiheit geht häufig einher mit der Verletzung anderer Freiheitsrechte. Und: Wer bei den Menschenrechten Rosinen pickt, verspielt Glaubwürdigkeit.
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Für uns Grüne im Bundestag ist die zentrale Forderung deshalb nach wie vor, das Amt der oder des Menschenrechtsbeauftragten klar zu stärken und aufzuwerten. Das ist der logische und konsequente Schritt für eine kohärente und wirksame Menschenrechtspolitik und damit auch für den Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit.
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Wenn Juden hier in Deutschland Angst vor antisemitischen Angriffen haben, wenn Muslime rassistisch beleidigt werden, zeigt das: Es reicht nicht, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen. Darum ist es so wichtig, im Religionsfreiheitsbericht ganz selbstverständlich und endlich auch Deutschland und Europa systematisch zu untersuchen.
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Diesen Monat jährte sich der Anschlag auf den Sikh-Tempel in meiner Heimatstadt Essen zum fünften Mal. Tatmotiv: Hass auf andere Religionen. Als einer der ersten islamistischen Anschläge in Deutschland zeigte uns diese Tat, welche Gefahr von religiös-fundamentalistischem Extremismus für unsere plurale und vielfältige Gesellschaft ausgeht. Zugleich erleben wir täglich, auch in diesem Parlament, wie rechtsnationalistische Parteien das Thema Religionsfreiheit für ihre Zwecke instrumentalisieren. Inner- und außerparlamentarische Extremisten aller Couleur arbeiten so Hand in Hand und säen Misstrauen in unserer Gesellschaft.
Man kann nicht religiöse Toleranz einfordern und gleichzeitig Muslime als Feindbilder predigen – das ist obszön.
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Hierzulande ist es das Programm der AfD, in Ungarn Fidesz, in Italien die Lega Nord. Darum erinnere ich gern an den Satz des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters Heiner Bielefeldt aus unserer Anhörung: „Nicht überall, wo Religionsfreiheit drauf steht, ist auch Religionsfreiheit drin“. – Und da hat er völlig recht.
Machen wir also eine Menschenrechtspolitik, in der tatsächlich Religions- und Weltanschauungsfreiheit drin ist, dieses Menschenrecht aber nicht derart priorisiert wird, dass andere Menschenrechte an Sichtbarkeit einbüßen, sondern jedes Menschenrecht für sich und die Menschenrechte in ihrer Verknüpfung gleichermaßen verteidigt werden – weltweit und hier bei uns in Europa.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Brand.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist an Religion und Freiheit eigentlich so wichtig, dass wir uns – und das nicht nur in unserem Land – mit deren Verhältnis zueinander und ihrer Verteidigung so ernsthaft auseinandersetzen? Als Christ, als Demokrat, als vehementer Verfechter von Menschenrechten und Freiheit ist mir in der Befassung mit diesem Thema über Jahrzehnte eins völlig klar geworden: Der Grad der Religionsfreiheit in einem Land ist ein Gradmesser für innere Freiheit und für Toleranz eines Staates und einer Gesellschaft.
Überall dort, wo – aus welchen Gründen auch immer – Religion generell, die Glaubensüberzeugung der anderen, ganz besonders der von Minderheiten, infrage gestellt, missachtet oder mit Füßen getreten wird, da ist es um die Freiheit und die Menschenrechte nicht nur nicht gut, sondern verdammt schlecht bestellt. Umso mehr müssen diejenigen Länder und Gesellschaften auf dieser Erde, die ein ganz natürliches Verhältnis zur Religionsfreiheit und damit auch zur Toleranz gegenüber den Intoleranten im Inland wie im Ausland haben, den Regimen, den Diktaturen, den gewaltsamen Terrorgruppen und allen, die andere aufgrund ihrer religiösen Überzeugung diskriminieren, ausgrenzen oder zu Opfern von willkürlicher Gewalt machen, nichts weniger als den Kampf ansagen.
Die heutige Debatte ist ein weiterer Beleg und Anlass dafür, dass wir in diesem Parlament als Volksvertretung einer christlich-abendländisch geprägten Gesellschaft und Demokratie genau dieses Verständnis und diese Entschlossenheit dokumentieren. Das dokumentieren wir auch mit diesem Bericht. Der Bericht ist auch eine Aufforderung, aktiv mit den Verbündeten für den Kampf der Verteidigung der Religionsfreiheit einzutreten.
Wir alle wissen, dass Christen inzwischen weltweit die größte Gruppe an Verfolgten ausmachen. Wir wissen aber auch, dass es nicht die Religionen als solche sind, die zu Exzessen gegenüber anderen oder Andersgläubigen führen. Wir wissen, dass es nicht um den Unterschied zwischen den Religionen geht, sondern um die Unterscheidung zwischen Moderaten und Extremisten; das ist der Unterschied. Gefährdet wird Religionsfreiheit – und damit die Freiheit – durch den Missbrauch durch diejenigen, die als Vertreter von Religion nicht das Gute der Religionen, sondern deren Instrumentalisierung für eigene Macht dokumentieren.
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Dazu zählen mittelalterliche Regime wie das in Saudi-Arabien, das im Iran und andere, die von der zivilisatorischen Bedeutung von Religion weniger halten als von Machtmissbrauch und blankem Hass. Dies alles wollen – und das müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen – als ein Land der Freiheit und der Religionsfreiheit dokumentieren und die Religionsfreiheit verteidigen. Damit erinnern wir uns und andere daran, dass die Religionsfreiheit ebendieser Indikator für Freiheit und Menschenrechte ist.
Abschließend möchte ich meinem Kollegen Markus Grübel für seinen starken Einsatz für die Religionsfreiheit – bei uns und weltweit – der Bundesregierung, den zahlreichen Verteidigern von Menschenrechten und Religionsfreiheit dafür danken, dass sie, oft unter großen Gefahren, diese Freiheiten und dieses zentrale Menschenrecht verteidigen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Brand. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 80 Prozent der Weltbevölkerung fühlen sich einer Religion zugehörig; das geht aus dem Zweiten Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit für 2018 und 2019 hervor. Religionsfreiheit – dazu gehört aber auch, eben keiner Religion anzugehören oder die Religion zu wechseln – ist das Kernelement, das zentrale Menschenrecht; das wurde ja in der Debatte schon angesprochen. Ist die Religionsfreiheit in Gefahr, sind alle weiteren Menschenrechte auch in Gefahr, ob Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Leben oder das Recht auf Freiheit oder Unversehrtheit.
Die Feststellungen im vorliegenden Bericht sind mehr als besorgniserregend. Die Gefährdung der Religionsfreiheit nimmt weltweit erneut erschreckend zu. Deswegen ist es richtig, in dem Bericht auf drei Schwerpunkte zu setzen, nämlich die Blasphemie- und Antikonversionsgesetze, die religionsbezogenen Onlinehassreden und die Einschränkung des Zugangs zu Bildung. In über 70 Ländern der Erde ist der Wechsel einer Religion eine strafbare Handlung. In zwölf Ländern kann der Wechsel einer Religion oder der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft sogar mit dem Tod bestraft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein untragbarer Zustand. Nahezu alle Glaubensgemeinschaften werden verfolgt, ob das Juden, Muslime, Jesiden, Buddhisten oder Christen sind. Die Christen sind dabei die größte Glaubensgemeinschaft und müssen gerade die schlimmste Christenverfolgung aller Zeiten hinnehmen. Die Zahlen sind erschreckend gestiegen: Über 300 Millionen Christen in über 50 Ländern werden körperlich, seelisch und zum Teil mit dem Tod bedroht. Die Situation der in ihre Heimat zurückgekehrten Christen im Irak ist dramatisch. In China leben 80 Millionen Christen, deren Religionsfreiheit brutal eingeschränkt wird. Frau Kollegin Nastic, es wäre schön gewesen, wenn Sie dazu einmal Stellung bezogen hätten.
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Man könnte die Liste der Länder leider endlos fortsetzen, ob Somalia, Libyen, Pakistan, aber auch Indien.
300 Millionen ist nicht nur eine Zahl, sondern das sind 300 Millionen individuelle Schicksale, 300 Millionen Namen und 300 Millionen Gesichter. Wir dürfen nicht wegsehen, und wir müssen in unserer Arbeit – in der Wirtschaftspolitik, aber zum Beispiel auch in der Außenpolitik – dranbleiben und das Thema immer wieder ansprechen; denn wir dürfen diesen dramatischen Anstieg nicht weiter so hinnehmen.
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Deswegen ein Dank an den Beauftragten der Bundesregierung Markus Grübel, auch an Volker Kauder, der dieses Thema in seiner Arbeit vorangebracht hat, an Michael Brand und viele andere, die Mitstreiter sind bei diesem Thema. Wir dürfen hier nicht lockerlassen, sondern wir müssen uns um dieses Thema zentral weiter kümmern.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Debatte am Mittwoch zum Infektionsschutzgesetz hat die AfD dokumentiert, dass wir die einzige Fraktion sind, die für Freiheit und Eigenverantwortung der Menschen in Deutschland steht.
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Wir sind die Einzigen, die unsere Kinder vor Zwangstestungen und Maskenpflicht schützen wollen. Wir sind auch die einzige Partei, die zur traditionellen Familie aus Vater, Mutter und Kindern steht. Das ist nicht rückwärtsgewandt, wie wir das kürzlich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hören konnten, sondern zutiefst modern und ein Bekenntnis zur Zukunft Deutschlands.
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Die AfD will einen wirklichen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik.
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Wir wollen Familien in den Mittelpunkt stellen. Familien in Deutschland müssen wieder wertgeschätzt werden; denn sie sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Sie erziehen mit den Kindern die Zukunft Deutschlands. Sie gehen jeden Morgen zur Arbeit; dafür zahlen sie überproportional Steuern und Abgaben. Diesen Vätern und Müttern müssen wir sagen: Ihr seid das Fundament unseres Staatswesens.
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Die Folgen der demografischen Katastrophe werden immer offensichtlicher. Seit einem halben Jahrhundert leistet sich Deutschland eine der weltweit niedrigsten Geburtenraten. Anstatt eine aktivierende Familienpolitik zu betreiben, setzt die Regierung auf Masseneinwanderung. 2 Millionen Menschen sind in den letzten sechs Jahren über das Asylsystem eingewandert. Milliarden Euro hat diese verfehlte Demografiepolitik unserer Regierung gekostet – Geld, das für unsere Familien fehlt; Geld, das in der Familienförderung nachhaltig angelegt wäre.
Deshalb fordert die AfD die Bundesregierung auf, ein Familiensplitting einzuführen: ein Splitting, bei dem die Anzahl der Kinder in der Einkommensteuer gewichtet wird und auch Alleinerziehende entlastet werden; ein Splitting, bei dem eine durchschnittliche Familie mit drei Kindern eben keine entsprechenden Steuern mehr zahlt. Denn wir brauchen auch eine starke Mittelschicht und Mittelschichtfamilien, die sich wieder trauen, Ja zu Kindern und Familie zu sagen.
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Auch Familien mit einem oder zwei Kindern sollen profitieren, und deshalb wollen wir ein Familiensplitting und Kindergeld.
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Wir brauchen starke Mittelschichtfamilien, die sich wieder ihre eigenen vier Wände leisten können. Bei 30- bis 40‑Jährigen wohnt nur jeder Vierte im eigenen Wohnraum.
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Und warum? Weil der nimmersatte Staat diesen Menschen tief in die Tasche greift. Die Familien sind die Melkkuh der Nation.
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Familien finanzieren einen großen Teil der hinterher als Almosen an sie zurückgegebenen Leistungen der Regierungen durch ihr Steueraufkommen selbst, meine Damen und Herren.
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Wir als AfD wollten in dieser Legislaturperiode darüber hinaus die Familien auch im Gesamten entlasten, indem wir eine Mehrwertsteuerprivilegierung auf Kinderprodukte von 7 Prozent gefordert haben. Auch das ist hier von allen Fraktionen abgelehnt worden.
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1988 forderte der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen ein Familiensplitting. Er forderte Familiengründungsdarlehen, damit sich Familien in der Frühphase besser bewähren können und unterstützt werden. Keine dieser Forderungen ist in den letzten 30 Jahren umgesetzt worden. Gleichbleibend ist nur die strukturelle Rücksichtslosigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland gegenüber Familien, und das ist traurig.
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Mit unseren Anträgen zur Einführung eines Baby-Willkommensdarlehens und eines zinsfreien Kinderkredites und zu dem Familiensplitting wollen wir diese strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien mindern. Familien waren und sind die Stütze unserer Gesellschaft. Sie sollten im Mittelpunkt allen politischen Handelns stehen. Ich freue mich auf familienfreundliche Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank.
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Danke schön.
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– So, jetzt kommen wir mal wieder runter.
Nächste Rednerin: Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seitdem ich die Rede von Herrn Reichardt gehört habe, bin ich dankbar für die Kollegen der AfD im Finanzausschuss. Das ist ja eine wahre Wohltat. Herzlichen Dank, dass Sie, Herr Reichardt, uns erspart geblieben sind.
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Auch zeigt sich leider, dass Sie zu einem Thema gesprochen haben, von dem Sie offensichtlich überhaupt keine Ahnung haben; denn ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie sich im Finanzausschuss jemals zum Steuerrecht geäußert hätten. Sie sind dort ja noch nicht mal Mitglied. Ich nutze aber gerne die Gelegenheit, Sie aufzuklären über das, was wir gemacht haben.
Tatsächlich ist diese Legislaturperiode eine Periode der Familienentlastung gewesen, und zwar natürlich für die Familien, bestehend aus Mutter, Vater und Kind, aber auch für alle anderen Familien. Familie ist für uns dort, wo Kinder für ihre Eltern und Eltern für ihre Kinder Verantwortung übernehmen.
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Damit sind wir gut gefahren, und die Lebenswirklichkeit zeigt ganz deutlich, dass auch andere Familienkonstruktionen funktionieren können. Ich selber bin alleinerziehend, und glauben Sie mir: Ich gehöre zu einer Familie.
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Mit zwei Familienentlastungsgesetzen haben wir ab diesem Jahr Familien und Bürgerinnen und Bürger um 22 Milliarden Euro jährlich entlastet. Der größte Anteil davon entfällt auf das Kindergeld. Familien erhalten 25 Euro mehr Kindergeld, für das erste Kind sind das 219 Euro, ab dem vierten sogar 250 Euro, und gleichzeitig haben wir den Kinderfreibetrag auf über 8 000 Euro gesteigert. Die Alleinerziehenden haben wir entlastet, indem wir den Freibetrag auf 4 008 Euro verdoppelt haben. Auch das ist eine Entlastung von insgesamt 500 Millionen Euro. Wir werden im Mai dieses Jahres – –
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– Haben Sie nicht schon genug geschrien?
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So, jetzt ist Ruhe! Jetzt ist Frau Tillmann dran.
Im Mai dieses Jahres werden wir einen Kinderbonus von 450 Euro ausgezahlt haben; auch das sind 8 Milliarden Euro zusätzliches Geld in den Taschen von Familien. Mit dem Starke-Familien-Gesetz haben wir den Kinderzuschlag wesentlich attraktiver gemacht. Sehr viel mehr Familien kommen in den Genuss, dieses Geld in Anspruch nehmen zu können. Wir haben auch auf den Weg gebracht, dass 55 Prozent von dem Einkommen, das Kinder zum Beispiel in den Sommerferien verdienen, nicht mehr angerechnet werden.
Das Bildungspaket haben wir in jedem einzelnen Punkt verbessert. Der Betrag für den Schulbedarf ist auf 150 Euro, der Betrag für die Teilnahme an Kultur- und Sportveranstaltungen auf 15 Euro monatlich erhöht worden. Den Eigenanteil für Mittagsverpflegung und Beförderung von Schul- und Kindergartenkindern haben wir gestrichen,
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und die Lernförderung setzt auch wesentlich früher ein.
Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie es für die nächste Legislaturperiode auch schon mal gehört haben: Ich glaube, dass wir gerade an der Stelle erheblichen Nachholbedarf haben; denn auch Kinder und Familien, die nicht im Sozialhilfebezug sind, haben Probleme, zum Beispiel zum Schulstart im August die Schulausstattung zu bezahlen. Oder wenn sie drei Kinder haben, die gleichzeitig auf Klassenfahrt fahren, dann ist das auch bei Familien, die nicht im Sozialhilfebezug sind, eine Herausforderung. Ich glaube, dass wir hier bei den Familien ansetzen sollten, die für die Inanspruchnahme der Förderprogramme immer den typischen Euro zu viel haben. Das wird für uns ein Schwerpunkt der nächsten Legislaturperiode sein.
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Alle weiteren wichtigen Familienleistungen haben wir in dieser Legislaturperiode verbessert. Ich nenne nur stichwortartig das Elterngeld, die frühkindliche Sprachförderung,
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die Gebührenfreiheit der Kindergartenplätze, Mutterschaftsgeld, die Hilfen für die Bundesstiftung Mutter und Kind – alle Familienmaßnahmen sind in dieser Legislaturperiode von uns in Angriff genommen worden. Ich danke auch den Familienpolitikern aller Fraktionen, die das ja außerhalb des Finanzausschusses auch getan haben.
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Und jetzt zum Familiensplitting; jetzt kommt der steuerrechtliche Teil, den ich Ihnen gerne hier darlegen kann. Steuersystematisch ist die Familie eine GbR. Deshalb sage ich als Finanzbeamtin und Steuerberaterin, dass die klassische Besteuerungsform einer Familie selbstverständlich das Familiensplitting wäre. Das ist so. Alles Einkommen der GbR durch Anzahl der Köpfe der GbR: So würden wir jede private Gesellschaft besteuern. Warum nicht auch die Familie?
Wenn wir von null anfangen würden, hielte ich das sogar für ein gutes Besteuerungskonzept. Aber Sie schreiben ja selber in Ihrem Antrag, dass das 56 Milliarden Euro kosten würde – 56 Milliarden Euro, wovon alle Eltern in diesem Haus profitieren würden. Ich selber würde ein Familiensplitting mit meiner Tochter haben; das würde mir wahrscheinlich mehrere Tausend Euro im Monat sparen. Ich gönne es jedem; aber sozial ausgewogen ist das nicht.
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– Ja, das rechne ich Ihnen gerne vor, angesichts der Steuersätze, die wir haben.
Jedenfalls kommen die 56 Milliarden Euro eben nicht bei den Familien an, die sie am dringendsten brauchen, sondern bei Gutverdienern, denen ich es zwar auch gönne. Natürlich gönne ich auch Gutverdienern, dass sie Freibeträge haben. Aber in einer Situation, wo wir auf jeden Euro achten müssen, müssen diese 56 Milliarden Euro sehr sozial ausgewogen ausgegeben werden.
Da zeigt ein Blick nach Frankreich, dem einzigen Land, wo es ein Familiensplitting gibt, dass dort diese Problematik erkannt wurde; denn auch die Franzosen haben das Familiensplitting gedeckelt und reduzieren sogar jedes Jahr die Freibeträge, weil sie die Finanzierbarkeit nicht erkennen können.
Deshalb ist unser Konzept ein völlig anderes. Wir wollen die schrittweise Erhöhung des Kinderfreibetrags auf den Erwachsenenfreibetrag.
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Damit unterstützen wir gerade Familien mit vielen Kindern. In dieser Legislaturperiode haben wir einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Wir werden das fortsetzen, sodass wir an die gewünschte steuerliche Entlastung der Familien herankommen, aber das ganz klar finanzierbar. Denn wenn ich mir Ihren Antrag weiter angucke: Sie kippen die 56 Milliarden Euro ohne Gegenfinanzierungsvorschlag den Ministerien hin und sagen, die Ministerien sollten doch bitte mal gucken, woher das Geld kommt.
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Das finde ich ausgesprochen unseriös.
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Einen letzten Satz zu den Familienkrediten. Das ist ein zynischer Antrag Ihrerseits; denn die Familienkredite sollen nur denjenigen gewährt werden, die einen festen Arbeitsplatz haben und die seit zwölf Monaten in Beschäftigung sind. Sie haben sich an der Stelle nicht mal getraut, zu sagen, Ausländer dürfen die aber auf gar keinen Fall bekommen. Sie haben da gleich sämtliche Sozialhilfeempfänger in Deutschland mit dazu genommen.
Eine solche Politik ist nicht unsere. Wir wollen, dass Familien von uns unterstützt werden, egal welcher Einkommensgruppe sie angehören. Das werden wir auch in Zukunft in unserer Politik beachten und Ihre Anträge deshalb ablehnen.
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Vielen Dank, Antje Tillmann. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Markus Herbrand.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich mir gestern diesen Antrag ausdrucken wollte, da streikte mein Drucker.
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Und ich dachte, vielleicht ein Zeichen, und sah mich dann später nach der Lektüre tatsächlich ein bisschen bestätigt, und dies nicht etwa wegen des grundsätzlichen Anliegens.
Man kann politisch darüber streiten, ob man ein Familiensplitting haben möchte oder nicht; man kann das gut oder schlecht finden. Darüber haben wir schon mehrere Debatten geführt, darüber werden wir auch noch mehrere Debatten führen. Aber die Art und Weise, wie hier ein hochkomplexes Thema mit einem Finanzvolumen, Frau Tillmann, bis zu 67 Milliarden Euro debattiert werden soll, das ist, ehrlich gesagt, schon unterkomplex.
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Sie fordern ein Familiensplitting neben dem Ehegattensplitting. Sie wollen, dass die Vorteile des Familiensplittings auch Alleinerziehenden zugutekommen.
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Sie wollen, dass neben den Vorteilen des Familiensplittings auch bestehende Leistungen im Rahmen des Familienleistungsausgleichs, also das Kindergeld und der Kinderzuschlag, weiter gewährt werden. Das ist ein großes Füllhorn an Forderungen, ohne dass Sie einen nennenswerten Beitrag zu der Frage leisten, wie das finanziell darstellbar sein soll.
Sie ignorieren nach meinem Dafürhalten auch wissentlich – Sie wissen es besser –, dass das Familiensplitting in der Tat auch inhaltlich große Fragen aufwirft: Wie geht man zum Beispiel damit um, dass das Familiensplitting grundsätzlich nur besserverdienenden Familien dient? Das versuchen Sie über das Kindergeld irgendwie glattzubügeln. Aber da stellen sich wirklich noch mehrere Fragen. Diese und andere Hürden sind seit ganz vielen Jahren bekannt und schon Gegenstand zahlreicher Debatten gewesen.
Die Krönung aber sind Ihre Vorstellungen darüber, wie die Finanzierung erfolgen soll. Das muss ich jetzt zitieren:
Zur Gegenfinanzierung muss der gesamte Bundeshaushalt auf steuerverschwendende Ausgaben geprüft werden. Zu diesem Zwecke ist durch sämtliche Ministerien eine Prioritätenliste ihrer Ausgaben zu erstellen, anhand derer der Deutsche Bundestag entscheiden kann, welche Ausgaben zu reduzieren oder zu beenden sind.
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Also, liebe Kollegen der AfD, das nennen wir hier im Hause Haushaltsausschuss,
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und der ist keine neue Institution. Neu wäre allerdings, dass Sie innerhalb dieses Ausschusses schon mal zu Einsparvorschlägen irgendwie Stellung genommen hätten.
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Ihre Finanzierungsüberlegungen sind daher in meinen Augen irgendwo zwischen abenteuerlich und naiv anzusiedeln.
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Dann abschließend auch noch einige Bemerkungen zu Ihrer Begründung. Wir teilen ja die Auffassung, dass es in unserem System Nachholbedarf im Hinblick auf Steuer- und Leistungsgerechtigkeit gibt. Deshalb fordern wir schon seit Ewigkeiten, dringend diesen leistungsfeindlichen Tarif unseres Steuersystems abzuflachen. Zuletzt haben wir das noch beim Corona-Steuerhilfegesetz als Alternative zu der temporären Umsatzsteuersenkung gefordert.
Die Abflachung des progressiven Steuertarifs ist die zentrale steuerpolitische Baustelle. Hierdurch ergibt sich eine Entlastung in der breiten Mitte der Gesellschaft, und dazu zählen selbstverständlich auch Familien. In diesem bestehenden System gibt es bereits umfangreiche Begünstigungen, auch für Familien im Familienlastenausgleich. Dass darin einige ganz speziell auf Familien zielende Freibeträge dringend an die Inflationsentwicklung angepasst werden müssen, haben wir schon häufiger beantragt. Langfristig können wir uns auch die Anhebung der Freibeträge für Kinder auf das Niveau der Erwachsenen im Einklang mit unserem Haushaltsrecht sehr wohl vorstellen.
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Also, wir sehen einiges anders als Sie. Insbesondere die Finanzierung ist abenteuerlich.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Markus Herbrand. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Michael Schrodi.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die AfD fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zum Familiensplitting vorzulegen. Die AfD ist also nicht einmal selbst in der Lage, den Quatsch, den sie fordert, in einem Gesetzentwurf niederzuschreiben. – So viel zur Inkompetenz der AfD-Fraktion an dieser Stelle, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Sie wollen zurück zu einer überkommenen völkischen Gesellschaftsordnung aus dem letzten Jahrtausend.
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Das sieht man auch in Ihrem Grundsatzprogramm, in dem Sie von einer „Schrumpfung unserer angestammten Bevölkerung“ und einem „Trend zur Selbstabschaffung“ Deutschlands fabulieren. Deshalb sei, so steht es bei Ihnen, der „Erhalt des eigenen Staatsvolks … vorrangige Aufgabe der Politik“.
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Es geht Ihnen also nicht um Familienpolitik, um das Wohl der Kinder; es geht Ihnen um Ihre krude Ideologie, um Ihre krude Bevölkerungspolitik. Deshalb lehnen wir die Anträge natürlich ab.
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Darin geht auch um die Rolle der Frau. Sie soll möglichst viele Kinder kriegen und so für hohe Reproduktionszahlen sorgen. Es fehlt nur noch die Forderung nach dem Mutterkreuz. Vor diesem Ihrem ideologischen Hintergrund sind die Anträge zu betrachten.
Die Anträge bedeuten übrigens auch eine massive Umverteilung von unten nach oben. Sie schreiben, Sie wollen das Ehegattensplitting beibehalten, und fordern eine Erweiterung um ein Familiensplitting. Der Effekt bleibt gleich: Gefördert wird die Rollenverteilung mit der Frau, die als Mutter zu Hause bleibt, und dem Vater als Alleinverdiener.
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Das führt zu einer Verstärkung der Ungleichheit, schafft falsche Anreize, bedeutet beispielsweise auch geringere Nettoansprüche für die Frauen in der Rente. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden wir natürlich nicht mitmachen. Wir brauchen dieses Familiensplitting nicht, und wir müssen natürlich auch an das Ehegattensplitting in der jetzigen Form ran.
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Wer profitiert eigentlich von Ihren Plänen? Sie schreiben und haben vorhin gesagt, sie wollen die Mittelschicht entlasten. Das ist falsch, das tun Sie nicht. Sie schreiben, dass „Familien ab dem dritten Kind bis zu einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro keine oder nur noch eine geringe Einkommensteuer zahlen“ sollen. Wenn man Ihrem Familienmodell folgt, bleibt die Frau zu Hause und verdient nichts, und der Vater geht zur Arbeit.
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Sie nennen ein Jahreseinkommen von 100 000 Euro. Das heißt, Sie wollen die absoluten Spitzenverdiener, die 5 Prozent mit dem höchsten Einkommen in unserem Land, vollständig von der Einkommensteuer entlasten, während Sie die 20 Prozent Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den niedrigsten Einkommen überhaupt nicht entlasten; denn die zahlen gar keine Steuern. Das ist eine massive Umverteilung von unten nach oben. Sie haben ein großes Herz für Spitzenverdiener, aber nicht für die Mitte der Gesellschaft, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Diese Umverteilung würde – das steht in der Begründung des Antrags, Frau Tillmann – sogar bis zu 67 Milliarden Euro jährlich kosten. Das ist ein hoher Anteil eines Bundeshaushalts in normalen Zeiten, 15 bis 20 Prozent davon, allein für diese Maßnahme.
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Was gibt es an Vorschlägen zur Gegenfinanzierung? Nichts! Im Gegenteil: Sie stellen sich hier noch hin und fordern, dass wir dies und jenes auch noch abschaffen müssen, zum Beispiel den Soli für alle. 10 Milliarden Euro noch mal für die absoluten Spitzenverdiener! Auch das zeigt deutlich, auf wessen Seite Sie tatsächlich stehen.
Bei allen Ihren Streichorgien und bei allen Kosten, die Sie verursachen, beantworten Sie übrigens keine der Fragen, wer dann die Kindergärten zahlt, die Schulen, Straße und Schiene, Krankenhäuser, bezahlbare Wohnungen. Darauf geben Sie keine Antwort. Sie sind politische Geisterfahrer und mit den Forderungen, die Sie hier stellen, nicht ernst zu nehmen.
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Wie sieht dann gute, moderne, gerechte Familienpolitik aus? Ziel unserer Politik ist es, allen Menschen ein freies, ein gutes, ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, auch den Familien in ihrer Vielfalt ein gutes Leben zu ermöglichen. Dazu haben wir einiges auf den Weg gebracht, das Gute-KiTa-Gesetz zum Beispiel, das gute, kostenlose Kitaplätze vorsieht, die die Familien brauchen. Wir brauchen auch für die Menschen mehr Tarifbindung und ordentliche Löhne. Das brauchen wir für Familien.
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Wir brauchen auch das Kindergeld, und das haben wir erhöht.
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Wir haben übrigens jetzt zweimal in der Pandemie einen Kinderbonus auf den Weg gebracht, von dem genau bei den Bezieher der unteren und mittleren Einkommen am meisten ankommt.
Aber wir brauchen auch – das sage ich deutlich, und das wollen wir auch – eine Kindergrundsicherung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. Denn bisher ist es so, dass über den Kinderfreibetrag diejenigen mit den höchsten Einkommen bis zu 100 Euro mehr im Monat zur Verfügung haben als diejenigen, die nur Kindergeld erhalten. Wir wollen das umdrehen.
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Wir wollen, dass das Geld bei denen ankommt, die es wirklich brauchen: bei den Beziehern der unteren und mittleren Einkommen. Das ist über den Kinderfreibetrag nicht gewährleistet, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– sondern nur über eine Kindergrundsicherung. Die wollen wir in der nächsten Legislaturperiode. Das ist gute Familienpolitik, und die werden wir auch in Zukunft machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schrodi. – Nächster Redner ist der Kollege Norbert Müller, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD beschäftigt das Parlament mal wieder mit dem, was sie für Familienpolitik hält oder zumindest so nennt.
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Im Grunde, Frau von Storch, ist Ihre Familienpolitik oder Ihre Grundannahme: Die Deutschen sterben aus – das hat Herr Reichardt gesagt –, es werden viel zu wenig Kinder geboren, die Regierung – da gehören wir nicht dazu – schleust in Horden Ausländer ein, die das deutsche Volk umvolken, und der Great Reset droht.
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– Das haben Sie alles in Ihrer Rede gebracht. – Meine Damen und Herren, das ist im besten Fall deutschtümelnde Bevölkerungspolitik, im allerschlechtesten Fall ist es einfach nur Verschwörungsquatsch, den Sie hier offenbart haben. Darauf bauen Sie eine ganze Familienpolitik auf. Das kann man doch hier nicht anbieten!
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Dazu sage ich Ihnen – das habe ich Ihnen schon mehrmals gesagt, auch hier an dieser Stelle –: Die Geburtenzahlen sind so hoch wie seit Mitte der 80er-Jahre nicht mehr.
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Was erzählen Sie hier denn überhaupt? Es werden überall mehr Kinder geboren. Es fehlen über 300 000 Kitaplätze.
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Die fehlen nicht, weil Familien zugewandert sind; die fehlen, weil in Deutschland mehr Kinder geboren werden. Darüber kann man sich ja mal freuen, anstatt zu behaupten, dass die Deutschen umgevolkt werden. Was für ein Schwachsinn!
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Aber das sind ja nicht die richtigen Kinder, die hier geboren werden. Nein, für die AfD – das hat der Kollege Schrodi gerade deutlich dargestellt, herzlichen Dank für diese Rede – sind Kinder, die geboren werden, dann die richtigen Kinder, wenn sie eine deutsche Mutter und einen deutschen Vater haben; die deutsche Mutter bleibt am besten zu Hause, spätestens ab der Geburt des ersten Kindes. Es sind auch nur dann die richtigen Kinder, wenn die Familie ein hohes Einkommen hat. Das sind die Kinder, die Sie gerne hätten. Für alle anderen interessieren Sie sich nicht. Das machen Ihre Anträge deutlich. Regenbogenfamilien tauchen bei Ihnen nicht auf. Zu Alleinerziehenden haben Sie gerade was gesagt, ja; aber da haben Sie ein Hintertürchen eingebaut. Ich zitiere mal aus Ihrem Wahlprogramm von 2017 – das gilt ja möglicherweise noch –:
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Der Vorteil einer besonderen Unterstützung durch die Solidargemeinschaft sollte nur denjenigen Alleinerziehenden gewährt werden, die den anderen Elternteil nicht aus der Teilhabe an der Erziehungsverantwortung und praktischen Erziehungsleistung hinausdrängen.
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Was aus Ihrem Wahlprogramm spricht, ist ein massives Misstrauen gegenüber Alleinerziehenden. Die Kollegin Tillmann hat es gerade deutlich gesagt: Was wollen Sie hier überhaupt? Sie sagen: Ja, Sie haben jetzt ein Herz für die Alleinerziehenden entdeckt. – Das einzige Herz, das Sie für die Alleinerziehenden entdeckt haben, ist Misstrauen, Misstrauen, Misstrauen!
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Sie wollen überhaupt nichts für die tun. Die tauchen bei Ihnen gar nicht auf und ihre Kinder auch nicht.
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Nachdem alles zu Ihren Anträgen gesagt ist, schließe ich mich dem Kollegen Schrodi an und sage, was für eine fortschrittliche Familienpolitik wir eigentlich bräuchten. Die Kollegin Tillmann von der CDU/CSU hat es gesagt: Familie ist da, wo Menschen füreinander sorgen. – Es ist übrigens völlig egal, ob die verheiratet sind, es ist völlig egal, ob ein Kind zwei Mütter oder zwei Väter hat. Es spielt überhaupt gar keine Rolle, ob das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil oder bei den Großeltern aufwächst. Das ist völlig wurscht. Familie ist da, wo füreinander Verantwortung übernommen wird.
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Deswegen müssen wir darüber reden, wie wir es schaffen, dass der Gesellschaft alle Kinder gleich viel wert sind. In dem Zusammenhang müssen wir über Kinderarmut reden. Frau Tillmann, da kann ich Ihnen eines nicht ersparen: Sie haben wundervoll die ganzen Maßnahmen der Regierung aus den letzten drei Jahren aufgezählt; die haben wir ja alle hier mit beschlossen. Wir waren häufig dagegen.
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Aber Sie müssen doch sagen, dass am Anfang der Wahlperiode 1,9 Millionen Kinder in der Grundsicherung gelebt haben, und am Ende der Wahlperiode leben immer noch 1,9 Millionen Kinder in der Grundsicherung. Es ist völlig egal, was Sie hier gemacht haben, weil Ihre Maßnahmen überhaupt nichts genützt haben, um Kinderarmut effektiv zu beseitigen.
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Weder die verdeckte Kinderarmut ist zurückgegangen noch die reale der Kinder, die in Grundsicherungs- und Hartz-IV-Haushalten leben. Die sind genauso arm wie vor drei Jahren.
Um das zu ändern, haben wir eine Kindergrundsicherung, die aus vier Säulen besteht, beschrieben. Wir schlagen eine Kindergrundsicherung vor, die erstens sicherstellt, dass jedes Kind der Gesellschaft gleich viel wert ist. Dass bei der SPD das Missverhältnis zwischen dem Kindergeld und dem Kinderfreibetrag jetzt auch angekommen ist, finde ich wunderbar, weil die Realität ist, dass ich als Bundestagsabgeordneter – wir gehören genau zu diesen Spitzenverdienern – mit drei Kindern vom Kinderfreibetrag über die Maßen profitiere. Das Kindergeld spielt ja bei uns gar keine Rolle mehr. Über 100 Euro bringt jedes meiner Kinder an geringerer Steuerlast. Wir haben ein Auseinanderfallen zwischen dem Kindergeld, das für die meisten normal Beschäftigten gilt, und der maximalen steuerlichen Entlastungswirkung aus dem Kinderfreibetrag, die stets um die 100 Euro über dem Kindergeld liegt. Ich finde – das ist die eine Säule –, das muss aufhören. Jedes Kind muss gleich viel wert sein.
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Das Kindergeld muss mindestens so hoch sein wie die maximale steuerliche Entlastung aus dem Kinderfreibetrag.
Zweitens. Dann geht es um die richtig armen Familien, um die Geringverdiener, um die, die heute in der Grundsicherung sind und gerade so durchs Leben kommen, und häufig um die Kinder von Alleinerziehenden. Wir brauchen einen Zuschlag zu diesem Kindergeld. Der muss altersabhängig sein, weil natürlich die Bedarfe eines Kindergartenkindes geringer sind als die eines Grundschulkindes und noch mal geringer sind als diejenigen eines Kindes oder eines Jugendlichen, der kurz vor der Verselbstständigung steht.
Wir müssen drittens die tatsächlichen Unterkunftskosten berücksichtigen; auch das ist überhaupt nicht abgebildet. Wo finden denn gerade bei jungen Menschen die meisten Coronainfektionen statt? Bei denjenigen, die in schlechten Wohnverhältnissen leben, gerade weil die Kosten der Unterkunft nicht vernünftig gedeckt sind.
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Also müssen wir auch die tatsächlichen Unterkunftskosten abbilden. Und wir müssen über einmalige Bedarfe und Sonderbedarfe reden.
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– Also wirklich, dieser Geräuschpegel ist unglaublich nervtötend.
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Wenn Sie wenigstens was Sinnvolles beizutragen hätten! Lesen Sie doch mal Ihre Anträge, was für einen Schrott Sie hier aufschreiben! Die würde ich nehmen, rausgehen und noch mal überarbeiten. Das haben die Kollegen ja schon ausreichend dargestellt.
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Wir wollen viertens, dass auch einmalige Bedarfe und Sonderbedarfe über eine Kindergrundsicherung gedeckt werden; denn wenn die Kinder auf Klassenfahrt fahren und das Einkommen der Eltern nur knapp über dem Existenzminimum liegt, dann muss man natürlich helfen, oder wenn die Jugendweihe oder Konfirmation ansteht, muss man möglicherweise helfen. Und Kinder brauchen durchaus vielleicht auch mal ein größeres Kinderzimmer; auch darüber muss man reden.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das, was wir vorschlagen, ist sozial gerecht, weil wir alle Kinder in den Mittelpunkt stellen. Das, was die AfD vorschlägt, ist das komplette Gegenteil. Das ist NS-Volksgemeinschaftsfamilienpolitik,
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und die braucht in Deutschland nun wirklich kein Mensch mehr.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Ich will darauf hinweisen, dass Zwischenrufe nicht das Privileg der AfD-Fraktion sind, sondern aus meiner sitzungsleitenden Funktion heraus weiß ich, dass Zwischenrufe aus allen Fraktionen gelegentlich auch einen Geräuschpegel erreichen, der darüber nachdenken lässt, ob die einzelnen Zwischenrufe überhaupt noch erkannt werden können.
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Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich sollten wir jetzt vier Anträge der AfD diskutieren; es ist schon gut, dass es nur zwei sind. Das heißt, wir müssen uns nur mit 50 Prozent des Schrotts beschäftigen,
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der vielleicht auf der Tagesordnung gestanden hätte. Wenn es nicht so traurig wäre, wären diese Anträge fast zum Lachen.
Besonders krude ist der Antrag, der mit „Kinderkredit“ überschrieben ist. Das klingt erst mal nach DDR – normalerweise werfen Sie das immer den Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion vor –: In der DDR gab es ja den Ehekredit; es fehlt nur noch das Abkindern, das haben Sie in dem Antrag noch vergessen. Aber dieser Kinderkredit – die Kollegin Tillmann hat es schon gesagt – wird an Bedingungen geknüpft. Das heißt, ein großer Teil der Menschen, die einen solchen Kinderkredit vielleicht wirklich brauchen könnten, sind da außen vor. Besonders krass ist dann eine Bedingung, die heißt – das muss ich tatsächlich vorlesen, weil ich mir das so schwer merken kann –: „Die Vergabe des Kredites ist daran zu knüpfen, dass eine Vaterschaftsanerkennung vorliegt.“
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Also, ganz offensichtlich können Sie sich in der AfD nicht vorstellen, dass Kinder auch nur von Müttern erzogen werden. Kollegin Tillmann hat darüber gesprochen; sie ist selber Alleinerziehende. Es gibt alleinerziehende Mütter, die ihre Kinder ohne Vater erziehen, und das geht auch gut.
({2})
Aber offenbar können sich die Herren in der AfD – es sind ja überwiegend Herren bei Ihnen – nicht vorstellen, dass Kinder ohne Vater groß werden. Das ist auch klar; es passt ja auch zu dem Familienbild: Der Vater muss das Geld ranschaffen, und die Mutter bleibt zu Hause. Das ist das alte Familienbild der AfD.
({3})
Ich habe mich über noch eines gewundert; denn Sie machen eine Ausnahme davon. Sie schreiben: „Bei verheirateten Paaren entfällt diese Voraussetzung.“ Das heißt also, wenn zwei Frauen verheiratet sind, kriegen sie auch den Kinderkredit, obwohl kein Vater vorhanden ist.
({4})
Also dass es den Kredit ohne Ausnahmen für schwule oder lesbische Ehepaare gibt – als so fortschrittlich hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt! Herzlichen Glückwunsch! Aber wahrscheinlich ist Ihnen das nur nicht aufgefallen, weil Sie immer noch in den Gedanken der 50er-Jahre verhaftet sind, oder manche von Ihnen sind ja in den Gedanken der 30er-Jahre verhaftet. – Dieser Antrag ist völliger Schrott.
({5})
Zum Thema Familiensplitting haben die Kolleginnen und Kollegen von den demokratischen Parteien bzw. Fraktionen schon ganz viel gesagt. Auch diese Vorschläge sind rein inhaltlich schon unterirdisch, aber von den Verteilungswirkungen fatal und überhaupt nicht gegenfinanziert.
({6})
Das Familiensplitting – Kollege Schrodi hat es angedeutet – schafft genauso wie das Ehegattensplitting Anreize für geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Das wollen Sie natürlich; aber wir wollen weg von diesen geschlechtsspezifischen ökonomischen Anreizen.
({7})
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Sie sollen die Wahlfreiheit haben, wie ihre Kinder erzogen werden. Die Welt der Familien ist viel bunter, als Sie sich das überhaupt vorstellen können.
({8})
Es gibt eben nicht nur Vater, Mutter, Kind; vielmehr gibt es zwei Mütter, zwei Väter, eine Mutter, einen Vater; es gibt auch eine Mutter und einen Vater.
({9})
Es gibt diese vielfältige Welt der Familien, und die wollen wir Grünen stärken.
({10})
Ich habe noch Gelegenheit – ich habe noch zwei Minuten –, zu verdeutlichen, was bei der Familienförderung wirklich wichtig wäre. Wir Grünen wollen die Familienförderung endlich vom Kopf auf die Füße stellen, und zwar insbesondere dadurch, dass wir jedes Kind fördern wollen. Sie wollen nur einen Teil der Kinder fördern. Wir wollen jedes Kind fördern, unabhängig davon, welches Einkommen die Eltern haben, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind, ob es ein oder zwei Elternteile gibt. Das machen wir mit einer Kindergrundsicherung; wir haben dazu ein konkretes Konzept vorgelegt, das wir nach der Bundestagswahl auch umsetzen wollen.
({11})
Wir sagen: Jedes Kind soll gleich viel bekommen; wir nennen das Garantiebetrag. Und zwar – ähnlich wie es der Kollege Müller von der Linken und der Kollege Schrodi beschrieben haben – sollen nicht wir, die ein hohes Einkommen zur Verfügung haben, noch mehr profitieren als diejenigen mit mittlerem Einkommen. Viele wissen nicht, dass über die Kinderfreibeträge die Reichen in diesem Land mehr für ihre Kinder bekommen als Menschen mit mittlerem Einkommen.
({12})
Das ist ungerecht, und das wollen wir verändern.
({13})
Diese Seite des Hauses ist sich über das Ziel einig. Die Union hat gesagt, sie wolle die Kinderfreibeträge sogar noch erhöhen, das heißt, dieser Effekt würde sogar noch verstärkt. Das macht noch mal deutlich, worum es bei der nächsten Bundestagswahl geht, nämlich um Grün oder Schwarz. Wir werden dann fundiert, auf Fakten basierend, und mit vernünftigen Konzepten darüber streiten können. Das, was die AfD vorlegt, kann man ja vergessen.
Wir wollen die Kindergrundsicherung, und zweitens wollen wir endlich weg von diesem bekloppten Ehegattensplitting; wir wollen weg von diesen Anreizen, wir wollen weg von der Förderung, die an die Ehe geknüpft ist; wir wollen die Kinder fördern, und wir wollen hin zu einer Individualbesteuerung.
({14})
Diese Individualbesteuerung wollen wir mit einem doppelten, übertragbaren Grundfreibetrag versehen. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir wollen das für die Neuehen einführen; aber damit kommen wir endlich weg von dem alten Modell aus den 50er-Jahren hin zu einer modernen Familien- und Kinderförderung, die wirklich notwendig ist, ohne Ehegattensplitting und mit einer Kindergrundsicherung.
({15})
Das ist der Weg, den wir gehen müssen, und nicht der Schrott, den die AfD vorlegt.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege Strengmann-Kuhn.
({0})
– Herr Müller, diese strategischen Grundfragen sollten Sie vielleicht später klären.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat keinen Bock auf Politik. Wenn man die Anträge, die Sie hier vorgelegt haben, durchliest, dann muss man diesen Eindruck erhalten.
({0})
Sie haben keinerlei Lust, hier in diesem Parlament mitzuarbeiten. Sie kündigen zu Beginn der Woche an, dass Sie vier Anträge einbringen, mittlerweile – es wurde gerade darauf hingewiesen – sind zwei hier angekommen. Ich weiß nicht, ob Sie es zeitmäßig nicht mehr geschafft haben. Es ist ein Stück weit Ausdruck einer Arbeitsverweigerung, die Sie hier in diesem Parlament auch wieder zeigen.
({1})
Wenn man sich dann mal anschaut, was Sie vorlegen, dann stellt man fest: Das ist schon ziemlich dünn, zwei Anträge, jeweils eine DIN‑A4-Seite, irgendwie vier, fünf Stichpunkte draufgeschrieben. Wenn Sie mit dem großen Impetus hier antreten, Sie machen etwas für die Familien in Deutschland, Sie wollen sich engagieren für die Familien in Deutschland, dann würde ich schon erwarten, dass Sie sich ein bisschen Mühe geben, sich ein bisschen mehr Arbeit machen und mehr Zeit als eine halbe Stunde aufbringen, um die Punkte aufzuschreiben.
({2})
Zur Sache können wir gerne sprechen: Thema Familiensplitting. Zum steuerrechtlichen Teil wurde einiges gesagt; ich möchte etwas zur Finanzierung sagen. Das Ganze würde zwischen 56 und 67 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Ministerien eine Prioritätenliste ihrer Ausgaben erstellen sollten, anhand derer wir hier im Deutschen Bundestag irgendwie eine Gegenfinanzierung hinbekommen, indem wir Ausgaben entsprechend zusammenstreichen oder reduzieren. Da machen Sie es sich natürlich ziemlich einfach. Sie sind doch auch im Haushaltsausschuss vertreten, ja Sie stellen sogar den Vorsitzenden dieses Gremiums. Ich hätte mir schon gewünscht, dass die Familienpolitiker Ihrer Fraktion mit den Finanzpolitikern und Haushaltspolitikern darüber sprechen, welche konkreten Vorschläge sie denn haben, wie man dieses Geld zusammenbekommen kann, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Das zeigt aber vielleicht auch ein Stück weit die Stimmungslage in Ihrer Fraktion. Man liest ja das eine oder andere, dass sie nicht unbedingt die beste sein soll. Es scheint also so zu sein, dass Sie nicht miteinander arbeiten wollen und nicht miteinander reden.
Eines muss man auch einmal sagen: Der Deutsche Bundestag ist kein Parlament, dessen Mitglieder nur im Plenum herumsitzen, der Deutsche Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Deswegen erwarten wir von Ihnen, wenn Sie hier schon solche Anträge vorlegen, dass Sie ein bisschen mehr Mühe und Arbeit hineinstecken.
({4})
Zum Thema Kinderkredit. Glauben Sie denn ernsthaft, dass wenn es einen zinslosen Kredit gibt, dadurch auch mehr Kinder zur Welt kommen? Das ist doch so was von unterkomplex! Das ist doch viel zu eindimensional! Es sind doch ganz andere Dinge, die zu einer höheren Geburtenrate in Deutschland führen:
({5})
Das sind Dinge wie gesellschaftliches Klima, Betreuungssituation und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jedenfalls in meiner Generation ist es so, dass der Kinderwunsch sich daran entsprechend orientiert. Deswegen lehnen wir die Anträge ab.
({6})
Anders als die von der AfD sitzen die restlichen Abgeordneten nicht nur hier im Raum herum, sondern wir arbeiten. Wir haben Lust am Gestalten. Gerade für die Familien hat diese Bundesregierung in den letzten dreieinhalb Jahren unglaublich viel erreicht.
({7})
Wenn wir einen Strich unter diese Legislaturperiode machen, dann können wir sagen: Die Familien haben im Mittelpunkt unserer Politik gestanden. Familien sind uns wichtig. Wir machen entsprechende Gesetze, die zu Entlastungen führen. Ich möchte es Ihnen im Einzelnen noch einmal sagen: Wir haben zwei Familienentlastungsgesetze gemacht. Mit dem ersten Familienentlastungsgesetz haben wir 2019 das Kindergeld erhöht.
({8})
Wir haben den Kinderfreibetrag erhöht. Wir haben im Übrigen auch die kalte Progression ausgeglichen und dadurch eine enorm hohe Entlastungswirkung bei Familien erzielt. Und nein, die Kindergelderhöhung hat nicht 5 Euro betragen, wir haben das Kindergeld insgesamt um 300 Euro pro Jahr und pro Kind angehoben. Da muss man doch sagen: Es ist doch eine riesengroße Leistung dieses Parlaments, dass wir das geschafft haben.
({9})
Wir haben das Baukindergeld auf den Weg gebracht, pro Kind 12 000 Euro. Das ist ein riesengroßer Erfolg. 3 Milliarden Euro wurden ausgeschüttet, 300 000 Familien haben von diesem Instrument profitiert. Denn wir wollen kein verfassungswidriges Antiwohnbaugesetz wie Rot-Rot-Grün machen, sondern wir sagen: Nur Bauen hilft dagegen, dass die Preise für Wohnraum ins Extreme steigen.
({10})
Das Gute-KiTa-Gesetz wurde heute, glaube ich, noch nicht erwähnt. Auch das haben wir gemacht.
Wenn man einen Strich zieht, kann man insgesamt sagen: Wir als Unionsfraktion liefern in dieser Legislaturperiode im Bereich der Familienpolitik ab, beim Thema finanzielle Entlastung, beim Thema Hilfen beim Wohnungsbau, bei Verbesserungen bei Kita und Bildung und auch bei der Unterstützung der Familien während der Pandemie. Das ist aus meiner Sicht eine umfassende Familienunterstützung. Überlassen Sie uns die Arbeit und die Politik, Sie können weiter hier herumsitzen.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege Steiniger.
({0})
– Die Spannung steigt. Drei Tage Sitzung im Deutschen Bundestag scheint dazu beizutragen, dass die Spannungen steigen. Aber es macht vielleicht Sinn, nicht jeden Satz zu kommentieren. Zwischenrufe sind erwünscht und beleben die Debatte, aber jeden Satz zu kommentieren, ist vielleicht nicht ganz so angemessen.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Mariana Harder-Kühnel, AfD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Deutschen werden zur Minderheit im eigenen Land.
({0})
Das ist keine Verschwörungstheorie, Herr Müller, sondern simple Mathematik.
({1})
Es hängt mit der demografischen Katastrophe zusammen, in der sich unser Land seit Jahrzehnten befindet. Führende Demografieforscher machen seit Langem darauf aufmerksam: Die Deutschen bekommen zu wenige Kinder. Die Bevölkerung wird immer älter. Die Sozialsysteme kollabieren.
Von der Politik wurde nie wirksam gegengesteuert. Viele Linke, die mit Familie und Vaterland ohnehin noch nie etwas anfangen konnten, sahen in dieser demografischen Katastrophe sogar eine große Chance. Denn die Kinderarmut der Deutschen diente ihnen als wunderbare Rechtfertigung für Masseneinwanderung und eine Politik der offenen Grenzen.
({2})
Auch so kann man Deutschland abschaffen. Wir wollen das nicht.
({3})
Anspruch von Politik muss es sein, die Interessen des eigenen Volkes im Allgemeinen und der Familien im Besonderen zu vertreten.
({4})
Denn die Familie aus Mann, Frau und Kindern ist der Grundbaustein jeder Gesellschaftsordnung. Es wird Zeit, dies anzuerkennen, entsprechend zu würdigen und durch eine aktivierende Familienpolitik zu fördern.
Das Familiensplitting ist ein Mittel, dies zu tun, ein Mittel, die Lebensbedingungen von Familien zu verbessern und Anreize dafür zu schaffen, Kinderwünsche in die Tat umzusetzen. Familien mit einem Jahreseinkommen von bis zu 100 000 Euro sollten daher künftig ab dem dritten Kind keine oder nur noch geringe Einkommensteuer zahlen müssen.
({5})
Auch Familien mit weniger als drei Kindern sind steuerlich deutlich stärker zu entlasten. Das gilt natürlich auch für Alleinerziehende.
({6})
Damit werden diejenigen gefördert, die Steuern zahlen – und damit die Mitte der Gesellschaft. Das mag kurzfristig zu steuerlichen Mindereinnahmen führen, aber auf lange Sicht zahlt sich das aus.
Zudem fordern wir die Einführung eines zinsfreien Kinderkredits in Höhe von 10 000 Euro. Dieser soll schon ab der zwölften Schwangerschaftswoche vergeben werden können und die Entscheidung zur Familiengründung erleichtern.
({7})
Fakt ist, dass sich 90 Prozent aller jungen Deutschen Kinder wünschen. Die Politik ist verpflichtet, die finanziellen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich ein vorhandener Kinderwunsch umsetzen lässt. Denn Deutschland darf sich nicht abschaffen. Es muss wieder normal sein, Kinder zu bekommen in Deutschland. Normal!
({8})
Machen wir mit den vorliegenden Anträgen Politik für Deutschland.
({9})
Wir wollen Kinder willkommen heißen und Familien entlasten. Das ist Politik für unsere Zukunft.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Harder-Kühnel. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion.
({0})
Ich muss mich bei einer Vorrede in der Form von der AfD immer schütteln.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Mit ihrem Antrag zum Familiensplitting und so, wie er eingebracht wurde, nimmt uns die AfD eigentlich mit auf Zeitreise. Sie versetzt uns um mehr als 60 Jahre zurück in eine Zeit, als Frauen und Männer noch nicht gleichberechtigt waren. Dass wir uns aber im Jahr 2021 befinden und das Bild der Frau hinterm Herd nicht mehr das aktuelle Bild in der Gesellschaft ist, hat die AfD entweder verpasst oder sie wünscht es sich anders.
({1})
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es dank zweier Sozialdemokratinnen seit 1949 in unserem Grundgesetz. Eine der vier Mütter des Grundgesetzes war Frieda Nadig, eine meiner Vorgängerinnen im damaligen Wahlkreis Bielefeld-Stadt. Ich kann ehrlich sagen: Ich bin stolz darauf, dass sich die SPD seit jeher für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzt.
({2})
Gleichstellung ist eine Querschnittsaufgabe. Darum muss sie auch in der Finanzpolitik Berücksichtigung finden. Das geltende Steuerrecht bildet die gesellschaftliche Realität in dieser Hinsicht leider immer noch nicht ganz ab, sondern hinkt hinterher. Wir als SPD wollen dem männlichen, ungerechten, aber auch volkswirtschaftlich nachteiligen Einverdienermodell den Rücken kehren und machen uns darum stark für eine progressive Steuerpolitik mit einem Familientarif, der eine steuerliche Besserstellung für die allermeisten Familien garantiert, aber eben ohne alte Rollenbilder zu verfestigen.
({3})
Die AfD hingegen – das sehen wir in den Reden, das finden wir auf der Homepage, das sehen wir in diesen Anträgen – zeigt wieder einmal, dass sie ausgrenzende, diskriminierende und frauenfeindliche Politik machen will mit ebendiesem längst überholten Familienbild. Sie vertritt einen veralteten und diskriminierenden Familienbegriff. Auf der Homepage beispielsweise fordern Sie dazu auf, dass sich die Familienpolitik am Bild der Vater-Mutter-Kind-Konstellation orientieren soll. Diese Forderung schließt nicht nur Ihre eigene Fraktionsvorsitzende aus, sondern diskriminiert auch mehr als 50 000 Menschen, die allein 2019 in einer gleichgeschlechtlichen Ehe gelebt haben.
({4})
Ihre Politik ist darum auch an dieser Stelle hochgradig diskriminierend.
({5})
Was zudem unbeachtet bleibt, ist der Zugang von Frauen zur sozialen Absicherung. Nach Ihrer Vorstellung sollen die Frauen den Tag über zu Hause bleiben, sich um die Kinder kümmern, am Herd bleiben, und der Mann verdient das große Geld.
({6})
Laut dem Bild in Ihren Köpfen stand in den 1950er-Jahren ein Großteil der Frauen stumm in der Küche, aber ich muss Sie enttäuschen: Unsere Stimmen sind laut. Wir Frauen haben uns die Gleichberechtigung erkämpft und werden kein einziges winziges Stück davon wieder abgeben.
({7})
Beim altmodischen Familienbild der AfD und auch beim Familiensplitting, wie Sie es vorschlagen, fehlt die partnerschaftliche Arbeitsteilung auf ganzer Linie. Die SPD aber steht für ein auf Partnerschaftlichkeit ausgerichtetes Steuerrecht. Familie ist dort – das haben zum Glück auch einige Vorrednerinnen und Vorredner schon gesagt –, wo Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen.
({8})
Wir wollen einen Familientarif für neu geschlossene Ehen einführen. Wir wollen damit ermöglichen, dass es einen Übertrag von Einkommensanteilen an die Ehepartner untereinander gibt. Durch die Kindergrundsicherung werden die Familien wesentlich besser gestellt.
({9})
Für bereits geschlossene Ehen wollen wir die Wahl zwischen der derzeitigen Regelung und dem neuen System ermöglichen. Es ist an der Zeit, es ist notwendig, das Ehegattensplitting abzulösen, damit wir zu einer gleichberechtigten Familienpolitik kommen, damit wir eine zeitgemäße, progressive Steuerpolitik haben.
({10})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich möchte mich aber auch bei Madita Lachetta bedanken, die gerade bei mir ein FSJ absolviert und die mich tatkräftig bei der Vorbereitung dieser Rede unterstützt hat. Ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren: Wir haben junge starke Frauen, die uns nachfolgen.
({11})
Darum müssen wir überhaupt nicht bangen, dass dieser Schwachsinn, der von der AfD kommt, irgendwann umgesetzt wird.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Esdar. – Als Nächster ergreift das Wort der Kollege Grigorios Aggelidis, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu den Anträgen der AfD nur so viel: Aus meiner Sicht, aus unserer Überzeugung sind sie unseriös, dilettantisch und zeigen ein Familienbild, das eher aus der Kaiserzeit als aus dem aktuellen Jahrhundert stammt. Alleine die Überlegung, Kredite an Familien zu geben, aber nur, wenn eine Vaterschaftsanerkennung vorliegt oder die Eltern nicht arbeitslos sind, zeigt, wie reaktionär und rückwärtsgewandt Sie sind. Statt Kredite zu gewähren, brauchen wir vor allem eine bessere Infrastruktur für Familien und mehr Investitionen in die Bildung unserer Kinder.
({0})
Meine Damen und Herren, was ich hier höre – ich wende mich jetzt ganz gezielt an die Koalition; dafür möchte ich meine Rede nutzen –, finde ich schon ein bisschen heuchlerisch, wenn ich mir Ihre Politik in den letzten Tagen ansehe. Denn wenn es um die wirkliche Politik von SPD und CDU/CSU geht, bleibt von „Familien entlasten“ und „Familien sind wichtig“ nicht viel übrig. Da wird wie auf dem Basar um die Zukunft und die Bildungschancen der Kinder verhandelt. Ich nenne Ihnen ein Zitat Ihres Rechtsexperten Luczak aus der Presse, der die Schulschließungen so kommentiert:
Bei den Ausgangsbeschränkungen
– Shopping –
haben wir leicht modifiziert. Da musste an anderer Stelle
– Schulen –
nachgezogen werden.
Die SPD macht dieses Schauspiel mit und verschachert das Recht der Kinder für die Testpflicht in Betrieben.
({1})
So geht Politik nicht. Deswegen fordern wir eine massive Anstrengung, damit Schulen und Kitas weiterhin offen bleiben, meine Damen und Herren.
({2})
– Wissen Sie, es ist schon ein bisschen erbärmlich, da „AfD“ dazwischenzurufen. – Was wir vor allem brauchen, ist eine krisenfeste Infrastruktur für Familien und Unterstützung in der Not. Vor über zwei Monaten haben Sie, die CDU und die SPD, hier versprochen, dass Sie die Lücke bei den Kinderkrankentagen schließen werden, also bei der entsprechenden Entschädigung für privat und freiwillig Versicherte. Seitdem haben Sie hier nichts vorgelegt. Aber um Ihren Kanzlerkandidaten, darum haben Sie sich gekümmert.
Darüber hinaus brauchen die Kinder in diesem Land weniger „einfach mehr Geld“, sondern sie brauchen ein Kinderchancengeld und ein Chancenpaket, was ihnen den Zugang zu Bildung und zu Teilhabe wirklich ermöglicht, so wie wir es vorgeschlagen haben. Wir brauchen Schulen und Kitas, die offen sind. Wir brauchen direkte Angebote zu Sport, Kultur, Musik sowie Teilhabeangebote, die bei den Kindern auch wirklich ankommen, meine Damen und Herren.
({3})
Vor einiger Zeit habe ich hier gesagt: Wer gute Familienpolitik will, muss Freie Demokraten wählen, weil wir die besten Lösungen haben. Darüber hat die CDU/CSU einen Scherz gemacht. Ich glaube, dass die Politik, die Sie die letzten Tage gegenüber den Familien gemacht haben, eher ein bitterer Scherz ist. Sie haben bewiesen, dass wir recht haben.
Lassen Sie mich mit folgendem Satz schließen: Für uns sind Familien zentral und die Basis unserer Gesellschaft. Für uns entstehen Familie und ein schützenswertes Miteinander überall dort, wo Menschen nachhaltig und verbindlich Verantwortung füreinander übernehmen. Das wollen wir schützen, das wollen wir stärken.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank Herr Kollege Aggelidis. – Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förderung von Familien, Alleinerziehenden und Kindern ist einer der zentralen Punkte dieser Legislaturperiode. Ich will jetzt erst mal Folgendes sagen, weil hier heute vielleicht ein falscher Eindruck entstanden ist: Wenn sich Familien dafür entscheiden, dass einer zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, ist das noch lange keine Diskriminierung. Vielmehr haben Familien ein Recht darauf, frei und selbst zu entscheiden, wie man sich persönlich organisiert.
({0})
Wir wollen hier nichts gesetzlich festlegen; ich glaube, das wäre auch falsch.
Wir haben in dieser Legislaturperiode enorm viel getan. Es wurde ja schon aufgezählt, aber vielleicht kommt, wenn man es mehrmals aufzählt, ein gewisser Lerneffekt dazu: Zweites Familienentlastungsgesetz, Kindergelderhöhung – Sie schreien immer rein, es seien 5 Euro; das ist falsch; es ist um 25 Euro pro Monat erhöht worden –,
({1})
Aufstockung des Kinderfreibetrages, Starke-Familien-Gesetz mit Erhöhung des Kinderzuschlags für Bezieher kleinerer Einkommen. Übrigens wurde auch im Rahmen der Coronahilfen viel getan: die Verdoppelung des Freibetrags für Alleinerziehende auf 4 008 Euro, Lohnfortzahlung wegen Schul- und Kitaschließung, Anpassung des Elterngeldes, Kinderbonus in Höhe von 300 Euro im letzten Jahr, Kinderbonus in Höhe von 150 Euro in diesem Jahr. Seit 2018 – Kollege Johannes Steiniger hat es angesprochen – gibt es auch das Baukindergeld. Dies ist ein wirkliches Erfolgsmodell: 12 000 Euro pro Kind, über 270 000 Anträge sind gestellt worden, und die Gelder sind ausbezahlt worden.
Schauen wir uns einmal an, wie Sie abgestimmt haben. Sie fordern heute, für die Kinder alles zu tun. Jetzt schauen wir mal auf die Abstimmungen zu den einzelnen Gesetzen, insbesondere auch gerade vor einer Stunde hier auf die Abstimmung über den Nachtragshaushalt; dort waren nämlich die ganzen Kinderleistungen coronabedingt auch enthalten. Was haben Sie gemacht? Sie haben ihn abgelehnt. In mehreren Reden haben Sie von Geldverschwendung gesprochen und gesagt: Das kann ja nicht sein. Man kann ja die Gelder nicht ausgeben. Wenn es vor einer Stunde für Sie falsch war, warum ist es jetzt richtig? Das ist für mich nicht verständlich.
({2})
Übrigens betrifft das auch – das ist keine Polemik – die Unternehmerhilfen. Ich will es bloß mal gesagt haben. Auch diese sind im Nachtragshaushalt enthalten. Wenn Sie Unternehmen in der Pandemie fördern wollen – ich weiß, für Sie gibt es keine Pandemie –, dann hätten Sie auch dem Nachtragshaushalt zustimmen müssen. Wir müssen den Unternehmerinnen und Unternehmern draußen sagen: Sie wollen keine Auszahlungen an Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie lehnen das ab.
Sie haben heute zwei von ursprünglich vier Anträgen gestellt; vier wären vielleicht auch nicht viel besser gewesen vom Inhalt. Im ersten fordern Sie die Einführung eines Kindersplittings. Natürlich kann man über das Kindersplitting reden. Das ist immer ein interessanter Vorschlag, über den wir ja schon mehrmals in der Legislaturperiode aufgrund unterschiedlicher Anträge gesprochen haben. Sie sagen, eine Familie mit einem Einkommen von bis zu 100 000 Euro soll komplett oder zumindest zum Teil entlastet werden. 67 Milliarden Euro kostet das. Ich habe heute übrigens noch mal durchgerechnet: Für eine normale Familie – drei Kinder, 100 000 Euro Einkommen, beide angestellt – ergibt sich eine Steuerlast von ungefähr 14 000 Euro. Wenn wir diese noch weiter senken wollen – ich kann da durchaus mitgehen, dass wir diese Familien auch weiter entlasten –, dann müssen Sie es bitte seriös machen, und dann müssen Sie es bitte auch so machen, dass erstens das Gesetz für alle gilt und zweitens es auch durchfinanziert ist; Sie haben da eine krude Finanzierung vorgelegt.
Sie haben eine ganz präzise Formulierung: Alle Ministerien legen eine Liste vor, und der Deutsche Bundestag entscheidet dann. – Der Kollege Herbrand hat es gesagt: „Der Deutsche Bundestag entscheidet dann“ bedeutet in diesem Fall „der Haushaltsausschuss“, und der Vorsitzende des Haushaltsausschusses ist von der AfD. Während der ganzen Haushaltsberatungen und das ganze Jahr über im Haushaltsausschuss ist keine einzige Liste mit Einsparungsmöglichkeiten von Ihnen eingebracht worden – keine einzige Liste!
({3})
Also, wenn Sie was wollen, dann machen Sie bitte seriöse Anträge mit richtigen Vorschlägen, die dann auch gegenfinanziert sind.
({4})
Vielleicht noch abschließend – auch das ist eigentlich eine bittere Geschichte –: Sie wollen jungen Familien Darlehen geben. Die sind zwar zinslos – na ja, das heutige Zinsniveau ist nicht so hoch –, aber die jungen Familien müssen das Geld doch irgendwann zurückzahlen. Dazu schreiben Sie gar nichts.
Wir wollen keine Verschuldung der Familien durch den Staat, sondern wir wollen direkt helfen, zum Beispiel mit dem Baukindergeld in Höhe von 12 000 Euro und mit den entsprechenden Hilfen, die wir leisten. Da muss niemand was zurückzahlen. Insofern: Bitte auch da seriöse Politik machen. Wir wollen keine Verschuldung der Familien durch Entscheidungen des Deutschen Bundestages.
Also, ich bin wirklich ein bisschen fassungslos. Daher will ich darum bitten: Wenn wir die Kernzeit des Deutschen Bundestages benutzen – es schauen ja ganz viele Menschen zu –, dann sollten wir auch wirklich seriöse Anträge besprechen
({5})
mit seriösen Themen, sorgfältig ausgearbeitet und inhaltlich ausgewogen. Dann können wir über die Inhalte streiten, aber nicht so in dieser schlampigen Art und Weise.
Herr Brehm, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Herzlichen Dank.
Oh, vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Hat gepasst, meine Mahnung und Ihr Ende, also, nicht Ihr Ende, sondern das Ende Ihrer Rede, um das klarzustellen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD versucht, sich mit ihren Anträgen wieder einmal als die Familienversteherpartei darzustellen. Der Kinderwunsch der 20- bis 24‑jährigen Frauen, so stellen sie fest, liegt im Schnitt bei 1,83 Kindern.
({0})
Den Kinderwunsch von jungen Männern haben Sie wohl gar nicht erst ermittelt. Sie stellen dann fest, dass die Geburtenrate schlussendlich aber bei 1,53 Kindern liegt. Daraus leiten sie messerscharf eine Wunsch-Realitäts-Lücke von 0,3 Kindern ab.
({1})
Der zuletzt ermittelte Hauptgrund, keine Kinder zu bekommen, ist bei uns in Deutschland, dass schlicht der richtige Partner fehlt. Freilich kann es auch medizinische Gründe geben, oder andere Lebensumstände zwingen dazu, Pläne zu ändern.
Sie wollen die von Ihnen ermittelte Wunsch-Realitäts-Lücke nun schon wieder mit 10 000 Euro Kredit schließen. Selbstredend bleiben Sie in Ihrem Vorschlag Ihrem verstaubten Familienbild treu.
({2})
Bei nichtverheirateten Paaren schwebt Ihnen als Bedingung eine Vaterschaftsanerkennung vor. Klar, gleichgeschlechtliche nichtverheiratete Paare, die ein Kind bekommen, sind nicht unterstützenswert. Und der Samenspender feiert jedes Mal eine fette Party, wenn er nach jeder erfolgreichen Befruchtung in der zwölften Woche, wie Sie fordern, eine Vaterschaftsanerkennung abliefern darf.
({3})
Was wir brauchen, sind verlässliche Rahmenbedingungen. Sie ignorieren hartnäckig, was es an familienpolitischen Leistungen alles gibt und was insbesondere in der Pandemie alles geleistet wurde; Kollege Schrodi und Wiebke Esdar haben bereits darauf hingewiesen. Ich ergänze noch: Wir haben 2 Milliarden Euro für das Corona-Aufholpaket auf den Weg gebracht.
Was will die SPD? Wir wollen eine Vaterschaftszeit direkt nach der Geburt, eine Familienarbeitszeit, mehr Kinderkrankentage und eine Kindergrundsicherung.
({4})
Was die SPD nicht will, sind beim Staat verschuldete Familien.
({5})
Natürlich müssen Familien gestärkt und unterstützt werden. Aber rettet sie vor dieser AfD! Denn die will unter dem Stichwort „normal“ zurück in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts: Deutscher Papa arbeitet, und Mama ist maximal Zuverdienerin. Denn sie kümmert sich um Heim und Herd und die Kinderschar und macht es dem erschöpft vom Tagwerk aufs Sofa sinkenden Gatten fein.
({6})
Die Mechanismen dieses Konzepts wirken leider heute noch in unserer Steuergesetzgebung. Zu Beginn einer Eheschließung wählen beide für sich die Steuerklasse IV. Sobald das erste Kind da ist, wird das geändert. Er nimmt die Steuerklasse III, und sie landet in Steuerklasse V. Steigt sie nach der Elternzeit wieder in den Beruf ein, geht die Rechnerei los. Für Vollzeit rechnet sich die Kinderbetreuung nicht, also wird es Teilzeit. Wenn dann noch vom niedrigeren Einkommen die Steuern aus Steuerklasse V abgehen, bleibt arg wenig. Dann weiß er vorzurechnen, welche Kosten von dem niedrigeren Einkommen noch abgehen: die Fahrtkosten von und zur Arbeit, ordentliche Garderobe, Essen in der Kantine, Kosten für Kinderbetreuung. Dann sagt er gerne: Also, den Stress musst du dir doch für das bisschen Geld nicht geben, Schatz! Da hast du doch genauso viel, wenn du einen Minijob annimmst! – Und zack schlägt die Falle zu, mit allen Auswirkungen auf Aufstieg, Altersversorgung usw.
Steuern steuern. Natürlich muss man an das Ehegattensplitting ran, auch an die Steuerklassen III und V. Dafür brauchen wir hier im Parlament andere Mehrheiten.
({7})
Familien brauchen unsere Unterstützung, aber ganz sicher nicht die Vorschläge und das Weltbild der AfD.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Das letzte Wort hat jetzt der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus vier Anträgen der AfD wurden dann plötzlich zwei. Da hat die AfD wohl selbst eingelenkt und gemerkt, dass das wieder mal nichts war. Das soll uns aber gar nicht weiter stören.
({0})
Ich finde nämlich, wir alle hier im Hohen Haus können sehr stolz darauf sein, was wir mittlerweile alles für unsere Familien in Deutschland leisten. Darauf gehe ich gleich ein.
Ich will aber nur kurz darauf hinweisen, dass im langfristigen Vergleich die Geburtenrate in Deutschland, die seitens der AfD ja auch kritisiert wurde, steigt. Das ist ein Erfolg gegen den demografischen Wandel, und das hat auch etwas mit einer guten, verlässlichen und zukunftsorientierten Familienpolitik zu tun, liebe Damen und Herren.
({1})
Das sollten Sie von der AfD vielleicht einfach mal zur Kenntnis nehmen.
Zu Ihrem Vorschlag eines zinsfreien Kinderkredits – der Kollege Brehm ist gerade schon darauf eingegangen – kann ich nur sagen: Es ist mir schleierhaft, warum Sie junge Familien in die Verschuldung verleiten wollen. Außerdem gibt es bereits unterstützende familienpolitische Maßnahmen wie beispielsweise das Baukindergeld, das gezielt auf den Erwerb von Grundbesitz für Familien einwirkt.
Ich möchte hier viel lieber noch einmal klarstellen, was dieser Staat für Familien tut. Er unterstützt sie nämlich jährlich mit über 120 Milliarden Euro.
Herr Reichardt hat Familien als die „Melkkuh“ der Regierenden bezeichnet. Dieser Vergleich ist bei der Zahl, die ich gerade erwähnt habe, lächerlich.
({2})
Diese Leistungen kommen in Teilen in finanzieller Form, aber auch teilweise in Form von Infrastrukturangeboten. Das kann sich meiner Meinung nach sehen lassen, gerade auch international. Ich will einige nennen.
Man hat schon in der Schule gelernt: Man lernt vom Wiederholen. Das möchte ich an der Stelle gern einfach mal tun:
Wir haben für dieses Jahr erneut das Kindergeld erhöht. Es beträgt bei einem Kind auf fünf Jahre gerechnet 13 000 Euro, bei zwei Kindern 26 000 Euro, bei drei Kindern fast 40 000 Euro, und von diesem Geld fordert der Staat kein bisschen zurück.
Ich nenne das Elterngeld. Das ist mittlerweile die zentrale Familienleistung und ein unerlässlicher Baustein für eine moderne Familienpolitik. Wir haben es in dieser Legislatur sogar noch mal verbessert, und zwar aus eigenem Antrieb; davon stand nichts im Koalitionsvertrag. Wir haben das gemacht, weil die Situation einfach so war und wir aufgrund der Pandemie Veränderungen vornehmen mussten.
Nach dem Ausbau der Kinderbetreuung im Krippen- und Kitabereich nehmen wir uns auch den Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter vor. Das ist ein starkes Bekenntnis des Bundes zu Familien, zu Kindern und vor allen Dingen auch zu Alleinerziehenden. Warum? Weil die Sollbruchstelle, die mit der Kinderbetreuung im Ü3‑Bereich durch den Eintritt in das Grundschulalter entsteht, gekittet werden muss. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt, den wir gehen wollen.
({3})
Darüber hinaus kümmern wir uns auch um die Digitalisierung von Familienleistungen. Wir entlasten frischgebackene Eltern von Bürokratie. Denn die aktuell sowieso schon knappe Zeit, die Eltern mit ihren Kindern haben, soll eben den Kindern zugutekommen und nicht der Bürokratie.
Natürlich haben Familien Anspruch auf Unterstützung in Notlagen. Auch in der Pandemie haben wir zahlreiche Initiativen ergriffen: Wir haben den Zugang zum Kinderzuschlag stark vereinfacht; Kollegin Tillmann ist eingangs darauf eingegangen. Analog zum erhöhten Kindergeld wurde ein Kinderbonus gezahlt. Alleinerziehende werden steuerlich entlastet. Antje Tillmann hat bereits etwas zur Angleichung des Kinderfreibetrages an den Grundfreibeitrag gesagt. Wir sollten uns aber auch überlegen, eine Grunderwerbsteuerbefreiung für Familien beim Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum einzuführen oder wenigstens eine Möglichkeit zu schaffen, dass die Bundesländer, die das wollen, das auch umsetzen können.
({4})
Ich glaube, dass auch das ein wichtiger Schritt ist, um Familien beim Ersterwerb zu entlasten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen ist bei dieser Debatte vielleicht etwas aufgefallen. Eindrucksvoll wurden die Anträge der AfD von vielen Kolleginnen und Kollegen auseinandergenommen, mit Fakten und auch mit Zahlen. Dass es nicht eine einzige Zwischenfrage der AfD zu diesen Themen gab, scheint ein Beleg für den deutlichen Lernprozess der Kolleginnen und Kollegen der AfD zu sein,
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dass die Anträge, über die wir heute diskutieren, das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Die Beurteilung dessen, was es mit den Anträgen der AfD auf sich hat und wie wir damit umgehen wollen, überlasse ich jedem Einzelnen von Ihnen selbst.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Beermann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Demokratie ist kein Geschenk, sondern eine Errungenschaft. Demokratie ist kein Besitz, sondern stetes Bemühen. Sie zehrt davon, dass sie gelebt und gestaltet, wenn nötig, eben auch erstritten und erkämpft wird. Vorbilder dafür finden wir in unserer Geschichte – nicht zuletzt an Orten, die an die Wegbereiterinnen und Wegbereiter eines demokratischen Deutschlands erinnern.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, ist, wie auch das vorgelegte Rahmenkonzept, Teil der im Koalitionsvertrag vereinbarten und 2019 vom Deutschen Bundestag angeforderten Konzeption zur Förderung der Orte der deutschen Demokratiegeschichte.
Die neu zu errichtende Stiftung mit Sitz in Frankfurt am Main soll bundesweit das Engagement des Bundes koordinieren und bündeln. Sie soll sowohl Projekte Dritter fördern als auch mit eigenen oder mit Kooperationsveranstaltungen demokratiegeschichtliche Meilensteine in ihrem historischen Kontext würdigen. Damit entsteht eine kompetente Anlaufstelle für die Beratung bestehender und neu aufzubauender Erinnerungsorte. So können wir in allen Regionen Deutschlands Einrichtungen stärken, die Zeugnis vom Ringen um Freiheit und Demokratie ablegen: von den Anfängen über die Paulskirche und die Weimarer Verfassung bis hin zur Bonner Republik, zur Friedlichen Revolution in der DDR und zum wiedervereinten Deutschland.
Ergänzend und vertiefend veranschaulicht das Rahmenkonzept anhand der zahlreichen – auch kleinen übrigens – demokratiegeschichtlich bedeutsamen Orte in Deutschland, an welche Traditionen das Eintreten für demokratische Werte anzuknüpfen hat. Zu Recht sind wir in Deutschland vorsichtig, wenn es darum geht, stolz und selbstbewusst auf die eigene Geschichte zu blicken. Die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts mit zwei Diktaturen bleibt eine immerwährende Mahnung zu erinnerungskultureller Bescheidenheit.
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Doch ich bin überzeugt: Die Rückschau auf demokratische Sternstunden ist auch eine Schule der Demokratie. Die Erinnerung an Momente, in denen demokratische Werte den Sieg davongetragen haben, und an die Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht genau diese Siege möglich gemacht haben, hilft dabei, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden. Das stärkt die Kräfte der Zivilgesellschaft und natürlich auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. In diesem Sinne soll das Rahmenkonzept in historisch ausgewogener Weise Anregungen geben, wie Menschen sich für das Engagement als Fürsprecherinnen und Fürsprecher, als Verteidigerinnen und Verteidiger der Demokratie begeistern lassen. Damit leistet es auch – da bin ich ganz sicher – einen herausragenden Beitrag zur Extremismusbekämpfung. Wie bitter notwendig das ist, zeigen nicht zuletzt die entsetzlichen antisemitisch und rassistisch motivierten Gewalttaten der jüngeren Vergangenheit und, ja, leider auch der Gegenwart.
Gerade weil unsere Demokratie auf den Trümmern der nationalsozialistischen Diktatur gebaut ist, gerade weil wir aus dem Gedenken an den Holocaust und an die Opfer totalitärer Regime Lehren für die Zukunft ziehen, sollten wir mehr Demokratiegeschichte wagen. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Lassen Sie uns mit der Errichtung einer Stiftung und mit der Weiterentwicklung demokratiegeschichtlich bedeutsamer Orte auf der Basis eines Rahmenkonzepts dazu beitragen, dass Demokratie gelebt und gestaltet, wenn notwendig, auch erstritten und erkämpft wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters, wissen Sie eigentlich, wie viele Bundesstiftungen es gibt, also Stiftungen, die der Bund entweder komplett selbst finanziert oder zu denen er zumindest einen erheblichen Anteil gibt? Machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie es nicht wissen. Sie sind in guter Gesellschaft. Nicht einmal das Bundesfinanzministerium weiß das so genau, wie aus der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorging. Es gibt schlichtweg kein Zentralregister, in dem die Bundesstiftungen aufgeschlüsselt werden. Wir können lediglich schätzen. Diese Schätzungen ergeben, dass es fast 60 Bundesstiftungen gibt, die jährlich mit fast 600 Millionen Euro gefördert werden. Hinzu kommen noch die parteinahen Stiftungen, die mit ebenfalls round about 600 Millionen Euro gefördert werden.
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Meine Damen und Herren, der Bundesrechnungshof hat 2018 in einem Bericht an das Bundesfinanzministerium zu Recht angemahnt, endlich ein Zentralregister zu erstellen. Wir als AfD-Fraktion schließen uns dieser Forderung an. Bringen Sie endlich Licht in das Dunkel des Stiftungswesens!
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Nach diesen mahnenden, aber notwendigen Vorworten möchte ich Ihnen mitteilen, dass die AfD-Fraktion der Errichtung einer „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ grundsätzlich positiv gegenübersteht.
Ich möchte eingangs den Politikwissenschaftler Michael Dreyer – mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident – zitieren:
Wir alle wissen von den dunklen Seiten der deutschen Geschichte, und das ist auch richtig und wichtig. Aber demgegenüber ist der nicht minder wichtige Gedanke, dass es immer auch deutsche demokratische Bestrebungen gegeben hat, deutlich weniger im generellen Bewusstsein verankert.
Das, meine Damen und Herren, sollten wir ändern. Ich finde, Professor Dreyer hat hier ganz recht. Er ist übrigens einer der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte“ und gehört mit zu den Initiatoren dieser Stiftungsidee.
Das deckt sich im Übrigen auch mit der Aussage im Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland.
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Auch dort fordern wir sinngemäß: Wir wollen eine Erinnerungskultur, „die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“ Und falls Sie es schon wieder überhört haben: Da steht „auch“ und nicht „nur“, meine Damen und Herren.
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Dazu rechnen wir selbstverständlich die Freiheitskriege, das Wartburg- und das Hambacher Fest und natürlich auch die Nationalversammlung in der Paulskirche. Da sehen Sie schon, dass Demokratie und Nation historisch gesehen eng verwachsen sind und auch zusammengehören.
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Meine Damen und Herren, deshalb hat sich die AfD-Bundestagsfraktion, als es darum ging, wie wir unseren bisher namenlosen Fraktionssaal nennen sollen, ganz bewusst entschieden, ihn „Saal Paulskirche“ zu nennen, und so nennen wir ihn intern auch heute noch.
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Wir haben die Bundestagsverwaltung gefragt, ob wir wenigstens ein kleines Schild mit der Aufschrift „Saal Paulskirche“ draußen anbringen dürfen. Das ist uns verwehrt worden
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mit dem Hinweis, die anderen demokratischen bzw. sich selbst so nennenden Fraktionen hätten ein Problem damit.
Meine Damen und Herren, was wollen Sie denn eigentlich? Ständig insinuieren Sie, so in der heutigen und auch in der gestrigen Debatte, hier seien die geistigen Wiedergänger eines Joseph Goebbels oder sonst was am Werk. Aber wenn wir uns bewusst in eine demokratische Tradition – die beste, die wir haben – stellen wollen, dann ist es Ihnen auch wieder nicht recht.
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Meine Damen und Herren, wir müssen das Unvermögen überwinden, den „freudigen und hoffnungsvollen, im positiven Sinne prägenden historischen Ereignissen in Deutschland ein Denkmal zu setzen“. Das schrieben Sie, sehr geehrte Frau Staatsministerin, in einem Beitrag für die „FAZ“. Und weiter heißt es: „Glücklich, ja vielleicht sogar stolz und selbstbewusst“ sollen wir „zurückschauen auf die eigene Freiheits- und Demokratiegeschichte“. Frau Staatsministerin, das unterschreibe ich gerne, mit einer kleinen Änderung: Das Wort „vielleicht“ können wir, glaube ich, streichen.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Meine Damen und Herren, grundsätzlich werden wir die Vorbereitung dieser Stiftung positiv begleiten. Aber bitte denken Sie noch mal darüber nach, ob tatsächlich nur vier Vertreter aus dem Deutschen Bundestag –
Herr Kollege.
– im Stiftungsgremium sitzen sollen. Wir befürchten, dass Sie einmal mehr die Vertreter der AfD hierbei ausgrenzen wollen. Das wäre im Sinne –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– der Pluralität und der Demokratie kein gutes Zeichen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Frömming. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Schieder, SPD-Fraktion.
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Warum tut unser Land nicht mehr für die Erinnerung an seine demokratische Tradition?“ Mit dieser Frage hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2019 einen Gastbeitrag in der „Zeit“ überschrieben. Mit der „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ tragen wir jetzt auch seinem Auftrag Rechnung. Dort, wo die deutsche Demokratie erstritten und erkämpft worden ist, soll die Auseinandersetzung mit ihrer wechselvollen Geschichte vorangebracht werden. Ich meine, es ist heute mehr denn je an der Zeit, wie es unter „Stiftungszweck“ heißt, „den Wert einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung für ein funktionierendes stabiles und gerechtes Gemeinwesen aufzuzeigen sowie breitenwirksam zu vermitteln.“
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gott sei Dank – oder: glücklicherweise – dürfen wir in unserem Land in Frieden und Freiheit leben, auf einen funktionierenden Rechtsstaat vertrauen, einen erheblichen Wohlstand genießen und sind Teil eines vereinten Europas. Das alles – wir wissen es – verdanken wir unserer Demokratie. Ich würde sagen: Sie ist gefestigt, unsere Demokratie. Und dennoch weiß ich: Sie ist zerbrechlich, und sie muss immer wieder neu verteidigt werden.
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Selbstverständlich ist sie nicht. Sie war es nie, und sie darf auch nie zu einer Selbstverständlichkeit werden. Unsere Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Ich habe es gesagt: Sie ist hart erkämpft und hart errungen worden. Es gab immer wieder Versuche, neue Anläufe, auch große Rückschläge. All diese Versuche, diese Anläufe, aber auch die Rückschläge sollten uns heute Vorbild, Beispiel und Auftrag sein.
Es gibt viele Orte in unserem Land, die nicht nur Ereignisorte sein sollten, sondern zu Lernorten der Demokratie werden müssen: das Hambacher Schloss – es ist schon genannt worden –, wo für nationale Einheit, Freiheit und Demokratie gekämpft wurde und die schwarz-rot-goldene Flagge mitgeführt worden ist, der Friedhof der Märzgefallenen in Friedrichshain, die Paulskirche – der dort niedergeschriebene Grundwertekanon findet sich in unserem Grundgesetz wieder –, die Erinnerungsstätte in Rastatt, das Weimarer Nationaltheater, Herrenchiemsee, die Nikolaikirche in Leipzig und viele Orte mehr.
An vielen dieser Orte wird ein überragendes, oft auch ehrenamtliches Engagement geleistet. Dafür möchte ich heute von ganzem Herzen danken.
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2017 schlossen sich viele dieser Einrichtungen im Netzwerk „Orte der Demokratiegeschichte“ zusammen, und auch dort wird großartige Arbeit geleistet. Auch dafür ganz, ganz herzlichen Dank!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stiftung mit dem zugehörigen Rahmenkonzept hat die Aufgabe der finanziellen Förderung, der Beratung und Unterstützung von bestehenden und noch aufzubauenden Erinnerungsorten und bundesweit agierenden Netzwerken, aber auch die Aufgabe der Kooperation mit thematisch einschlägigen nationalen, europäischen und internationalen Organisationen und Einrichtungen. Vieles ist möglich, und vieles wird erst noch entstehen aus dem, was wir heute hier auf den Weg bringen.
Seinen Beitrag in der „Zeit“ schloss Frank-Walter Steinmeier mit folgenden Worten:
Wer sich mit unserem langen und verschlungenen Weg zur Demokratie, mit ihren vergessenen Heldinnen und Helden ebenso wie mit den Irr- und Abwegen beschäftigt, der wird sehen: Die Demokratie ist uns Deutschen wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Wir müssen, immer aufs Neue, für sie arbeiten, für sie streiten. Deshalb verdient unsere Demokratiegeschichte mehr als freundliches Desinteresse. Sie braucht Neugier, Herzblut und, ja, auch finanzielle Mittel.
Das bringen wir heute auf den Weg. Herzlichen Dank, lieber Herr Kollege Kauder, lieber Carsten Schneider, für die gute Zusammenarbeit und für das konstruktive Miteinander.
Frau Kollegin.
Und jetzt: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schieder. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Hacker, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an dieser Stelle um das richtige Erinnern ringen, darum, historische Verantwortung zu benennen und die richtigen Lehren für unsere Zukunft zu ziehen, befassen wir uns oft mit den dunklen Kapiteln unserer Geschichte. Wie jede und jeder von uns in unserem eigenen Leben kennt auch die Geschichte unseres Landes die glücklichen wie die traurigen Momente.
Die Friedliche Revolution, der Fall der Mauer, die Vollendung der deutschen Einheit – die allermeisten von uns haben ihre persönliche Erinnerung an diese umwälzenden Tage. Wir bewundern den Mut der Bürgerinnen und Bürger der DDR, die unter Gefahr für ihr eigenes Leben die Freiheit erkämpften. Wir tragen die Bilder aus der Botschaft in Prag mit uns, als Hans-Dietrich Genschers erlösende Worte im Jubeltaumel untergingen. Es sind Momente wie diese, die Zusammenhalt stiften. Sie haben unser Land zum Guten verändert. Und es waren die Menschen, die diese Veränderung erkämpft haben. Ihr Streben nach Freiheit, nach Einheit, nach Demokratie hat unser Land verändert. Sie haben Demokratiegeschichte geschrieben.
Wenn wir heute die „Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ auf den Weg bringen, fallen uns die großen Orte sofort ein: Leipzig, das Hambacher Schloss, die Paulskirche, der Reichstag. Aber was ist mit der Schwarzburg, mit Coburg und dem fränkischen Flecken Gaibach? Viele von Ihnen kennen diese Orte, doch um ihre Bedeutung für unsere Demokratiegeschichte wissen nur die wenigsten.
Unter der Gaibacher Konstitutionssäule demonstrierten 1832 mehrere Tausend Menschen für Freiheit und Demokratie. Auf Schloss Schwarzburg unterschrieb Reichspräsident Ebert die erste demokratische, die Weimarer Verfassung. In Coburg entschieden Bürgerinnen und Bürger 1920 über eine territoriale Neugliederung durch eine Volksbefragung. Die Entscheidung für Bayern und gegen Thüringen hatte 30 Jahre später dramatische Folgen, nämlich dafür, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs Coburg blieb.
Diese bedeutenden Demokratieorte sind bunt über unser Land verteilt – von Kiel bis Lörrach, von Düsseldorf bis Bad Freienwalde. Unsere Aufgabe ist es, sie von der Landkarte wieder ins Bewusstsein der Menschen zu heben. Mit der Stiftung und dem entsprechenden Rahmenkonzept wird die deutsche Demokratiegeschichte als dritte Säule der Erinnerungskultur einen zentralen Platz erhalten. Diesen Ansatz begrüßen und unterstützen wir Freie Demokraten ausdrücklich.
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Und doch bleibt die überfällige Novellierung des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes von 2008 weiterhin aus. Fragen zur zeitgemäßen Forschung, Archivierung und Digitalisierung bleiben unbeantwortet.
Mit der neuen Stiftung wird ein Anfang gemacht. Jetzt gilt es, das Rahmenkonzept voranzubringen. Es braucht ein Bekenntnis zu mutiger und innovativer, auch digitaler Vermittlungsarbeit. Nur wenn das gelingt, erreichen wir die Menschen.
Wir alle wissen, wie wichtig es ist, vor allem der jungen Generation das richtige Rüstzeug mit auf den Weg zu geben: das Bekenntnis zu Freiheit und Toleranz, zur Zusammenarbeit, zur parlamentarischen Demokratie. Wenn uns das gelingt, können wir die deutsche Demokratiegeschichte fortschreiben und um ein erfolgreiches Kapitel reicher machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Und nun erhält das Wort die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Hacker hat schon ein paar andere Beispiele für Orte in den Raum geworfen, um das Thema breiter zu fassen. Das möchte auch ich tun; denn Orte deutscher Demokratiegeschichte sind eben nicht nur die genannten und skizzierten. Ich finde, zum Beispiel gehört auch die Münchner Theresienwiese dazu – ein wichtiger Ort für die Geschichte um Kurt Eisner und die Geburt der Demokratie in Bayern. Das darf nicht vergessen werden.
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Ein zweiter ganz wichtiger und vielleicht völlig anderer Vorschlag: das Frankfurter Landgericht; denn entscheidend für die Weiterentwicklung der Demokratie waren auch die Auschwitz-Prozesse ab 1963, die der Staatsanwalt Fritz Bauer gegen massiven Widerstand erkämpft hat, und zwar gegen den Staat, für die Demokratie. Diese Frankfurter Auschwitz-Prozesse waren erschütternd, nicht nur wegen der dort angeklagten Verbrechen, sondern auch weil sich die Bundesrepublik so sehr gegen die Aufklärung wehrte. Dass Fritz Bauer innerhalb der deutschen Justiz so umstritten war, hatte ja genau damit zu tun, dass das Justizsystem durchsetzt war mit alten Nazis. Die Auseinandersetzung damit war ein Meilenstein, finde ich, auf dem Weg in eine wirkliche Demokratie.
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Einen weiteren Vorschlag habe ich, und zwar das Gelände der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau; denn auch Bürgerrechtsbewegungen waren entscheidend für die Demokratieentwicklung. Hier traten am 4. April 1980 zwölf Sinti in den Hungerstreik, unter ihnen Überlebende des Völkermordes an den Sinti und Roma durch die Nazis. Sie waren eben nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass ihnen in dieser Demokratie Bürgerrechte verweigert wurden. Erst durch den Hungerstreik erzwangen sie die offizielle Anerkennung des NS-Völkermordes und – das ist wichtig – die sofortige Beendigung ihrer polizeilichen Sondererfassung; denn so war das noch 1980, vor 40 Jahren. Nicht als Bittsteller und Opfer standen sie da und forderten ihre Rechte ein; nein, da standen selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger zornig und entschlossen; denn die demokratischen Verhältnisse galten für sie nicht. „Demokratie“, heißt es, „muss gestaltet, gelebt und weiterentwickelt werden.“ Dem stimmen wir zu. Aber sie muss eben auch da erkämpft werden, wo sie nicht für alle gilt. Und dafür steht diese Initiative, dieser Hungerstreik exemplarisch.
Man kann das noch ausweiten. Es gab auch in der DDR Demokratiebewegung. Man muss da nicht erst bei 1989 beginnen, sondern es gab dort auch die Umweltbibliothek, Kirche von Unten und solche Geschichten. Vielleicht meinen Sie ja – – Das meinen Sie nicht, aber es wäre schön, wenn die Stiftung nach Frankfurt/Oder statt nach Frankfurt am Main käme. Dann hätten wir nicht immer nur Diktatur, sondern auch mal Demokratie. Das täte der ostdeutschen Seele wirklich gut.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin Grütters! Meine Damen und Herren! Seit Gil Scott-Heron wissen wir: Demokratie ist nichts, was im Fernsehen gemacht wird. – Sie wird auch nicht in den sozialen Medien errungen. Demokratie muss immer wieder bestätigt, gefestigt, verteidigt, ja, errungen werden. In Myanmar, Hongkong, Russland, Belarus und anderswo muss sie derzeit gegen staatlichen und militärischen Widerstand mit Mut und Gefahr für Leben und Freiheit erkämpft werden.
Ich möchte es nicht verpassen, von dieser Stelle aus Tsimur Pipiya, einem jungen Mann, einem Fußballfan aus Belarus, der seit 25. September in Minsk als politischer Gefangener inhaftiert ist und für den ich eine Patenschaft übernehmen durfte, im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen hier zu sagen: We stand by you!
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Demokratie bezieht ihre Legitimation und ihre Kraft nicht aus Gehorsam, sondern aus der Urteilskraft mündiger Bürger/‑innen. In einer Zeit, die – wie Heinrich August Winkler schreibt – von der „Krise der liberalen Demokratie“ geprägt ist, könnten wir gerade in Deutschland historische Orte der Demokratiegeschichte als Orientierungspunkte gut brauchen.
Doch man erfährt im Gesetzentwurf nichts über die Dringlichkeit dieses Vorhabens, nichts davon, auf welche aktuellen Herausforderungen wir reagieren. Mit dürren Worten wird die inhaltliche Grundlage für die Stiftung skizziert. Das Ganze ist leider von einer geradezu besorgniserregenden Lieblosigkeit geprägt. Nichts in Ihrem Konzept klingt so, als würden Sie junge Menschen adressieren. Dabei gäbe es viele interessante zivilgesellschaftliche Projekte zur demokratischen Bildung. Wohl hätte man mit denen mehr im Austausch sein müssen, anstatt zur Erarbeitung des Gesetzentwurfs einen Ministerialbeamten einsam an den Schreibtisch zu setzen. Sie adressieren anscheinend die klassischen Bildungsbürger als Zielgruppe, genauer gesagt: die guten alten BRD-Bildungsbürger; denn die ostdeutsche Demokratiegeschichte bleibt völlig unterbelichtet.
Dabei gibt es natürlich keine deutsche Demokratiegeschichte ohne die Friedliche Revolution von 1989/90 und ohne die ostdeutschen Orte der Demokratie, Orte wie die Nikolaikirche in Leipzig. Durch den Fokus auf die Orte der Repression wie die verschiedenen Stasizentralen wird zudem die Gelegenheit verpasst, die Orte der Opposition, der Bewegung der Gewaltfreiheit und Solidarität angemessen einzubinden.
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Die Friedliche Revolution war für viele Menschen in unserem Land die prägendste, die zentrale Demokratieerfahrung. Es muss Aufgabe dieser Stiftung sein, sicherzustellen, dass diese Demokratieerfahrung entsprechend gewürdigt wird.
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Es ist traurig, was Sie aus diesem so wichtigen und großen Thema gemacht haben:
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eine schläfrige Veranstaltung.
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Wenn von dieser Stiftung positive Impulse ausgehen sollen, reicht es nicht, Ereignisse und Orte aufzuzählen. Es braucht eine Idee, und die fehlt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir bringen heute etwas auf den Weg, das zwar etwas Neues bringt – eine Stiftung –, aber wir fangen nicht bei null an, mit einer ganz neuen Initiative. Es gibt vielmehr schon jetzt eine Fülle von kleineren, über das ganze Land verstreuten Einrichtungen, die sich der Demokratiegeschichte verschrieben haben. Es gibt größere Einrichtungen, wie beispielsweise das Haus der Weimarer Republik – dazu wird Carsten Schneider sicher sprechen –, oder Einrichtungen in Museen – beispielsweise das Haus der Geschichte in Bonn –, auch solche in anderen Bundesländern. Deswegen können wir auf dieser Entwicklung aufbauen.
Was wollen wir erreichen? Wir wollen zum einen diejenigen unterstützen, die sich erst vor Kurzem zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben, um durchschlagskräftiger zu werden und um gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Wir haben zum anderen einige große Projekte – diese hat Staatsministerin Grütters angesprochen – genannt, die bisher nicht so repräsentiert wurden, wie es notwendig ist. Ich nenne beispielsweise die Paulskirche in Frankfurt. Wer dort an Veranstaltungen teilgenommen hat, der spürt – Herr Kollege Grundl, das ist so – die Lieblosigkeit dieses großen Saales und spürt nicht die Atmosphäre der Geschichte, die dort stattgefunden hat. Das wollen wir ändern. Deswegen ist die Paulskirche neben Weimar auch ein besonderer Ort. Wir wollen in der Paulskirche ein Zentrum errichten, um vor allem für junge Menschen eine didaktische Aufbereitung und Präsentation zu leisten.
Es ist nicht so, dass das in der Konzeption nicht angesprochen worden sei. In der Konzeption der Regierung, die wir in den Koalitionsfraktionen noch einmal intensiv überarbeitet haben – da sage ich herzlichen Dank an Frau Kollegin Schieder und Carsten Schneider –, erwähnen wir ganz konkret, dass etwas getan werden muss, damit junge Menschen mit dem Thema etwas anfangen können. Es kommt doch nicht darauf an, dass wir oder ich, der ich 1949 geboren wurde, noch einmal mit der Geschichte konfrontiert werden soll, sondern dass junge Menschen verstehen, dass Demokratie nicht nur eine theoretische Einrichtung ist, sondern dass Demokratie an vielen Orten in unserem Land erkämpft worden ist. Das wollen wir den jungen Menschen zeigen. Das bedeutet auch: Demokratie findet nicht nur in Berlin statt, sondern Demokratie hat in der Geschichte schon an vielen Orten unseres Landes stattgefunden. Das wollen wir zeigen und mit dieser Stiftung nach vorne bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders bemerkenswert finde ich – ich bin jetzt schon länger dabei und habe eine ganze Reihe von Stiftungen und Stiftungsgründungen erlebt –: Bevor wir diesen Gesetzesantrag und die Konzeption auf den Weg gebracht haben, haben wir ohne lautstarkes Getöse, Herr Kollege Carsten Schneider, erreichen können, dass der Deutsche Bundestag beschlossen hat, dass diese Stiftung jährlich mit 10 Millionen Euro ausgestattet werden soll, dass sie nicht nur ein Papiertiger bleibt, sondern dass sie tatsächlich arbeiten kann.
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Bis jetzt sind wir in diesem Jahr bei 3 Millionen Euro angelangt. Ich kann nur hoffen, dass der Haushaltsausschuss in den nächsten Jahren auch versteht, dass es der Deutsche Bundestag war, der diesen Beschluss gefasst hat, und das ein bisschen gewichtiger ist, als wenn – wie normalerweise – nur der Haushaltsausschuss beschließt, und dass deswegen die 10 Millionen Euro auch fließen müssen.
Lassen Sie mich einen letzten Hinweis geben. Diese Stiftung und ihre Konzeption sind nicht blutleer, sondern wir haben etwas gemacht, was ich für völlig richtig halte. Wir haben gesagt: Diese Stiftung soll den Weg aufzeigen, wie wir mit dem Thema umgehen. Nicht wir sagen hier: „Das und das und das hat stattzufinden“, sondern die Stiftung wird das machen. Es gibt keine Bevormundung von hier aus, sondern wir schaffen die Möglichkeit, dass diese Stiftung das erreichen kann, was sie leisten soll: zu zeigen, dass Demokratie überall in unserem Land stattfindet.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kauder. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Carsten Schneider, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Beginn: Vielen Dank auch an Sie, Herr Kollege Kauder, und an Marianne Schieder für die Erarbeitung dieses Antrags, dieses Stiftungsentwurfes, vor allen Dingen aber auch für die gemeinsame Überzeugungsarbeit innerhalb unserer Fraktionen. Ich freue mich, dass auch von anderen Fraktionen signalisiert wurde, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir haben geworben und schon vor zwei Jahren einen Beschluss gefasst, diese Stiftung zu gründen, um die Orte der Demokratiegeschichte – sie und ihre Aktivitäten – in Deutschland in einem neuen Licht zu zeigen und bundesweit zu bündeln.
Warum ist das wichtig? Klar, die Demokratie in Deutschland geht vom Volk aus, sie ist vom Volk immer wieder hart erkämpft worden. Es waren die Liberalen, es waren Sozialdemokraten, es waren Kommunisten, es waren auch viele andere in diesem Land, die in verschiedenen Epochen ihr Leben gelassen haben: das war die Kaiserzeit, der Nationalsozialismus, aber auch die DDR.
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– Auch in der Bundesrepublik, Frau Barrientos, aber unter ganz anderen Bedingungen. – Dass das nicht von selbst kommt, sondern dass wir alle als Gemeinschaft, die in diesem Land leben, diese Demokratie tragen, sie erkämpfen und verteidigen müssen, ist nicht eine Binsenweisheit, sondern etwas, was man sich tagtäglich in Erinnerung rufen muss, um zu wissen, woher man kommt, und vor allen Dingen auch auf seine Geschichte zurückblicken zu können.
Beim Blick zurück gibt es die negativen Seiten der Erinnerungskultur. Mit unserer Verantwortung dabei sind wir in Deutschland – es ist vom Kollegen von der FDP das Gedenkstättenkonzept angesprochen worden – in einer Weise umgegangen, wie es kaum ein anderes Land der Welt tut. Ich glaube, auch zu Recht, weil kaum ein anderes Volk in den vergangenen Jahrhunderten so viel Leid über die Welt gebracht hat wie wir.
Aber es gibt auch Sternstunden. Wir haben sie mit der Nationalversammlung in Weimar gehabt – 1919; Sie haben es angesprochen-, wir hatten sie in der Paulskirche. Wir haben das Hambacher Fest, wir haben die Wartburg. Wir haben die Zentren der Arbeiterbewegung etc. etc., die Widerstandsbewegung in der DDR, für die viele Kollegen, die hier dabei sind, ihr Leben riskiert haben, zumindest ihr soziales.
Das alles hätte schon längst einer bundespolitischen Bündelung bedurft. Dem kommen wir jetzt nach, indem wir diese einzelnen Orte, die es gibt und die genannt wurden – auch die kleineren, zum Beispiel Herrenchiemsee etc., die in weiten Teilen auf lokalem Engagement beruhen –, die Bedeutung geben, die sie verdienen. Das ist eine bundespolitische Verantwortung. Wir als Bundestag und wir als Bundestagsabgeordnete haben die Verantwortung, diese Orte zu markieren, sie zu unterstützen und den Menschen, die dort tätig sind, die notwendige Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung zu geben.
Von daher, Herr Grundl, vielleicht schauen Sie sich den Gesetzentwurf einfach noch mal an. Die Förderkonzeption ist offen, sie ist nicht abschließend, sie lebt. Die Orte der Demokratiegeschichte haben sich zusammengetan und gehen gemeinsam nach vorn. Es geht gerade darum, Jüngere und diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit Demokratie beschäftigen, zu erreichen. Dafür sind wir absolut offen. Diese Stiftung ist nur eine Hülle, der Rahmen, um diese Orte zu unterstützen.
Von daher: Vielen Dank für Ihre bisherige Unterstützung und alles Gute.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die ich letzte Woche vorgestellt habe, weist eindeutig aus: Die Gefährdungslage im Cyberraum ist sehr hoch.
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Die technische Entwicklung ist rasant, die Cyberangriffe werden immer intelligenter, und der Schaden wird immer größer. Daher brauchen wir nicht nur eine ständige Wachsamkeit, sondern wir müssen auch unsere Schutzmechanismen anpassen. Das derzeit gültige IT‑Sicherheitsgesetz stammt aus dem Jahre 2015. Das Upgrade auf das IT‑Sicherheitsgesetz 2.0, das heute verabschiedet werden soll, ist daher dringend geboten.
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Mit dem Gesetz stärken wir die Cybersicherheit in Deutschland in drei zentralen Bereichen: Wirtschaft, Verbraucherschutz und IT des Bundes.
Erstens: Wirtschaft. Wir sorgen für die Cybersicherheit in den 5‑G-Mobilfunknetzen. Die Netzbetreiber müssen vorgegebene hohe Sicherheitsanforderungen erfüllen. Kritische Komponenten müssen zertifiziert werden. Der Einsatz von kritischen Komponenten kann untersagt werden, wenn ein Hersteller nicht die erforderliche Vertrauenswürdigkeit besitzt.
Zweitens: das BSI. Das BSI ist die Sicherheitsbehörde des Bundes auf dem Gebiet der Cybersicherheit und genießt, wie ich immer wieder feststellen darf, nicht nur national, sondern auch international höchste Anerkennung. Das BSI erhält künftig auch die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz, das heißt für die allgemeine Bevölkerung. Hier besonders zu erwähnen ist, dass wir ein IT-Sicherheitskennzeichen bei IT-Produkten einführen, was für die Bevölkerung eine wichtige Hilfe sein wird.
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Drittens: Der Bund muss seine eigene IT schützen. Das BSI wird daher künftig Mindeststandards für die Bundesbehörden verbindlich festlegen und effektiver kontrollieren. Nachdem es da immer wieder Diskussionen gibt, möchte ich auch heute wieder anbieten: Wenn denn der Deutsche Bundestag zu der Auffassung kommen sollte, dass wir für ihn bei der IT-Sicherheit noch einen Beitrag leisten sollen und können, dann wären wir jederzeit dazu bereit.
Das Gesetz macht das Netz in Deutschland sicherer und widerstandsfähiger gegen Betrug und Erpressung, gegen Wirtschaftsspionage, gegen Destabilisierung, zum Beispiel gegen blinde Zerstörungslust. Wir schützen mit diesem Gesetz den einzelnen Nutzer sowie die Allgemeinheit, und wir schützen die Privatsphäre sowie die Wirtschaft.
Ich bedanke mich nach einem langen, viel Geduld erfordernden Gesetzgebungsverfahren vor allem bei den Regierungsfraktionen für die gute Zusammenarbeit und nicht zuletzt auch für die zum Schluss vorgenommenen Änderungen am Gesetzentwurf. Er war schon eine gute Vorlage, ist aber durch diese Änderungen noch besser geworden.
Ich danke.
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Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Joana Cotar, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Völlig ungenügend, bereits im jetzigen Stand überholt, falscher Fokus, strategielos, schlechte Einbindung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft, ein Bürokratiemonster, ein Unsicherheitsgesetz – das sind nicht meine Worte; das sind Zitate aus den Stellungnahmen der Sachverständigen zum IT‑Sicherheitsgesetz 2.0, das heute hier und jetzt im Bundestag beschlossen werden soll.
Selten wurde ein Gesetz in einer öffentlichen Anhörung so zerrissen wie dieses. Selbst die Sachverständigen der CDU/CSU und der SPD ließen kein gutes Haar an den Vorschlägen. Das muss man sich mal vorstellen: Da doktern Fachleute über zwei Jahre an einem Gesetz herum, und heraus kommt ein Entwurf, bei dem die eigenen Sachverständigen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, meine Damen und Herren.
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Natürlich kamen auch verfassungsrechtliche Bedenken auf. Das ist ja ein trauriger Trend bei dieser Regierung. Mit dem Grundgesetz hat sie es nicht so; das haben wir auch am Mittwoch bei der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes gesehen.
Aber zurück zum sogenannten Sicherheitsgesetz. Dieses Gesetz wird alles erreichen, nur keine konsequente Erhöhung des Sicherheitsniveaus der IT‑Systeme. Die Vorschläge der Interessenvertreter wurden kaum und wenn, nur in abgeschwächter Form übernommen. Diese Regierung ist in dieser Sache schlichtweg beratungsresistent, und das kann auch in diesem Fall die Sicherheit unseres Landes gefährden.
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Dabei hätte man es von Anfang an besser machen können und müssen. Das erste IT‑Sicherheitsgesetz schreibt eine Evaluierung fest vor. Die AfD hat genau dies auch in ihrem Antrag gefordert. Aber Sie, werte Bundesregierung, haben es unterlassen, aus Erfahrung zu lernen, anhand des Vorgängergesetzes zu analysieren, was funktioniert und was nicht, was Sinn gemacht hat und was nicht. Das Resultat ist nun ein Gesetz, das dem digitalen Verbraucherschutz in keiner Weise gerecht wird, weil das Fundament fehlt.
Da wir von der AfD aber nicht nur kritisieren, sondern natürlich auch gestalten wollen, haben wir, wie angekündigt, zahlreiche Anträge und Änderungsanträge eingebracht – im Gegensatz zu den Grünen, die zwar viel gemeckert, aber zum Schluss nicht geliefert haben.
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Sie stellen hier tatsächlich einen alten Antrag aus dem Jahr 2018 bei; zu mehr hat es nicht gereicht. Und in diesem Antrag fordern Sie die Regierung auf, ein neues IT‑Sicherheitsgesetz vorzulegen, also genau das, was wir hier gerade beschließen. Das ist nicht nur ein bisschen peinlich, werte Kollegen, das ist richtig peinlich.
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Aber wo Grün ist, ist eben viel Show, viel Schein und wenig echte, verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren.
Verantwortungslos ist übrigens auch das Wegducken der Regierung in Sachen Netzausbau. Sie hat es unterlassen, in diesem Gesetzentwurf eine eindeutige politische Entscheidung zu treffen, ob staatsnahe Netzwerksausrüster aus undemokratischen Ländern am Ausbau unserer kritischen 5‑G-Infrastruktur beteiligt werden dürfen.
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Genau diese Entscheidung verlangen wir aber von Ihnen, im Sinne unserer digitalen Souveränität.
Des Weiteren fordern wir unter anderem eine präzisere Definition „kritischer Komponenten“ durch Verweis auf das TKG. Der Stand der Technik soll nicht nur vom BSI, sondern gemeinsam mit DIN, ISO, ETSI etc. entwickelt werden.
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Das BMI muss kritische Komponenten untersagen, wenn ein Hersteller nicht vertrauenswürdig ist. Ein „kann“ reicht an dieser Stelle nicht aus, Herr Seehofer. Das BSI muss zu einer starken Verbraucherschutzbehörde ausgebaut werden und soll Krisenreaktionspläne für IT‑Katastrophen ausarbeiten. Wir wollen eine Konsolidierung der mittlerweile sehr zahlreichen IT‑Sicherheitsgesetze, da deren Wechselwirkungen mittlerweile zu komplex werden und das wiederum die IT‑Sicherheit und die Wirtschaftlichkeit bedroht.
Zum Schluss möchten wir sicherstellen, dass für das IT‑Sicherheitsgesetz 3.0, zu dem ja jetzt schon Gespräche laufen, möglichst frühzeitig und umfänglich alle interessierten Kreise mit einbezogen werden und die Gestaltung des Ordnungsrahmens für die IT‑Sicherheit in Zukunft einem verantwortlichen Bundesministerium für Digitalisierung und Cybersicherheit übertragen wird.
Interessant ist Ihr Entschließungsantrag, liebe Regierungsparteien, der sich in Teilen so liest, als ob Sie es tatsächlich verstanden hätten. Aber eine Absichtserklärung, es in Zukunft besser zu machen, reicht eben nicht. Das hätte in diesem Gesetz passieren müssen, und das ist es nicht. Daher kann ich leider nur sagen: Chance verschenkt, liebe Regierung. Mit diesem Gesetz werden Sie der IT‑Sicherheit in Deutschland nicht gerecht. Im Gegenteil: An manchen Stellen gefährden Sie sie sogar. Daher werden wir von der AfD diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Sebastian Hartmann, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frage der IT‑Sicherheit ist die Frage der nationalen Souveränität. Das Voranschreiten der Digitalisierung macht deutlich, dass wir als Regierung, aber auch als Parlament gefragt sind, zu handeln. Dem, meine Damen und Herren, sind wir nachgekommen.
Herr Minister, ein offenes Wort: Es hat Ewigkeiten gebraucht zwischen dem zweiten und dem dritten Referentenentwurf. Ein Jahr ist ins Land gegangen, und tatsächlich sind in der öffentlichen Anhörung deutliche Kritikpunkte genannt worden. Wir, die Regierungsfraktionen, haben genau zugehört, und so ist dieser Gesetzentwurf im Wesentlichen auch verändert worden. Ich kann für die SPD-Bundestagsfraktion erklären: Wir haben an wesentlichen Punkten unsere Auffassung durchgesetzt.
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Ich danke dem Koalitionspartner, dass er dem gefolgt ist.
Im Mittelpunkt steht ein gestärktes Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, personell und finanziell gestärkt. Aber das BSI braucht auf der anderen Seite auch eine klare Aufgabenbeschreibung, damit es seiner neuen Rolle, insbesondere mit Blick auf den Verbraucherinnen- und Verbraucherschutz nachkommen kann.
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Wenn jetzt Schwachstellen genannt werden, dann ist die Öffentlichkeit zu informieren, auch ohne sich mit anderen Sicherheitsbehörden ins Benehmen zu setzen. Es geht darum, insgesamt die Sicherheit in der Informationstechnik durchzusetzen – das ist keine Frage des Ob, sondern das muss gemacht werden –, und damit ist die Öffentlichkeit zu informieren. Das Bundesamt wird damit in seiner Unabhängigkeit als selbstständige Behörde gestärkt. Das ist ein wesentliches Ziel gewesen.
Andere Mängel im Regierungsentwurf hätten zu wesentlich mehr Verwerfungen geführt. Schauen wir uns das Thema „kritische Komponenten in kritischen Infrastrukturen“ an. Wir haben uns durchgesetzt, als es darum ging, Fragen der Sicherheitstechnik, nämlich die Zertifizierung entsprechender Komponenten, von der sehr entscheidenden Frage der politischen Vertrauenswürdigkeit von Herstellern zu trennen, damit die Wirtschaft die Rahmenbedingungen kennt, an denen wir das messen. Wir als Parlament geben die Ordnung vor, der die Behörden dann folgen. Es wird geschaut: Wie schaut es mit dem Herstellerland aus? Wie schaut es mit dem Beherrschungsverhältnis bei entsprechenden Produzenten aus?
Wir haben noch etwas Wesentliches geregelt, was im Regierungsentwurf überhaupt nicht ausreichend geregelt wurde. Es geht nämlich nicht nur um die Frage: Was ist vor der Entscheidung über den Einbau einer kritischen Komponente? Jetzt regeln wir auch den Fall: Was ist, wenn diese kritischen Komponenten in den kritischen Infrastrukturen verbaut worden sind und ein Hersteller seinen Pflichten nicht mehr nachkommt, zum Beispiel seiner Pflicht, Updates zur Verfügung zu stellen? Wir haben auch eindeutig in das Gesetz geschrieben, was ist, wenn er den Schutzzielen in der IT‑Sicherheit nicht Rechnung trägt,
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Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität.
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Meine Damen und Herren, wir kommen damit unserer Verantwortung als Parlament nach. Natürlich hätte man sich mehr vorstellen können. Und es sind von der demokratischen Opposition tatsächlich noch einige Vorschläge eingebracht worden. Ein offenes Wort: Wir hätten uns eine noch stärkere Unabhängigkeit vorstellen können. Aber wir haben in das Gesetz etwas eingebaut, das deutlich über die Entgegennahme eines Berichtes zur Lage der IT‑Sicherheit in den nächsten Jahren hinausgeht. Zukünftig wird es nicht nur alle paar Jahre irgendeine Evaluierung geben; wir beschließen dieses IT‑Sicherheitsgesetz 2.0 schließlich lange vor dem Zeitpunkt, zu dem es diese Evaluierung hätte geben sollen. Zukünftig wird an den Ausschuss für Inneres und Heimat nicht nur dieser Bericht übergeben, sondern es wird auch automatisch über die Fortentwicklung des Rechts berichtet, und wir als Gesetzgeber werden darüber informiert, wie – und darauf haben Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verbände einen klaren Anspruch – mit den neuen Befugnissen umgegangen wird, die wir als Parlament der Regierung gegeben haben, damit wir auch unterjährig, lange vor dem Ablauf einer solchen Evaluierung, unserer Verantwortung nachkommen können, bestmögliche Gesetze zur Verbesserung der IT‑Sicherheit zu schreiben.
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Natürlich werden sich dem neuen Gesetzgeber Fragen stellen, wenn es um Entschädigungen geht, wenn die Anwendung kritischer Komponenten zukünftig untersagt wird. Das werden wir genau betrachten müssen. Wir werden auch betrachten müssen, was sich auf europäischer Ebene tut; aber hier haben wir dem BSI klare Vorgaben gemacht, was die Definition des Standes der Technik oder die Fortentwicklung angeht.
Meine Damen und Herren, wir laden Sie herzlich ein, das Gesetz zu beschließen und sind froh, dass wir uns in wesentlichen Punkten durchsetzen konnten.
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Vielen Dank, lieber Kollege Hartmann. – Das Wort hat nun der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion.
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Guter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die IT‑Sicherheit ist die Achillesferse unserer modernen Gesellschaft; ich habe das schon an vielen Stellen gesagt. Man könnte erwarten, dass nach zwei Jahren Beratung ein Gesetz herauskommt, das den Namen „IT-Sicherheitsgesetz“ auch verdient. Da Sie sich aber erst in den letzten Tagen in der Koalition geeinigt haben – mal wieder auf den letzten Metern – und uns im Ausschuss das auf den letzten Drücker vorgelegt wurde, müsste man eigentlich etwas spöttisch sagen: Das ist eher ein Gutes-Internet-Gesetz 2.0. Das würde es am trefflichsten beschreiben. Leider! Das ist bedauerlich.
Es gibt eine große Diskrepanz
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zwischen dem, was Sie in den zwei Jahren in diesen Entwurf eines Sicherheitsgesetzes hineingeschrieben haben, und dem, was Sie als Regierungsfraktionen auf den letzten Drücker in einen Entschließungsantrag gegossen haben. Dieser Entschließungsantrag ist ein Auftrag an die nächste Bundesregierung, wie IT‑Cybersicherheit in Deutschland gestaltet werden soll. Das ist allerdings nicht Ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe ist es, Gesetze zu machen und sie mit Mehrheit zu beschließen, aber nicht, Aufträge an irgendeine zukünftige Bundesregierung aufzuschreiben, meine Damen und Herren.
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So bleibt das IT‑Sicherheitsgesetz leider ein Flickenteppich. Eine wirkliche Strategie, wie Cybersicherheit konsequent zu Ende gedacht werden soll, ist das nicht. Deswegen haben wir im Ausschuss zahlreiche Änderungsanträge eingebracht – ich habe das in der ersten Lesung angekündigt – und auch einen Entschließungsantrag dazu geschrieben. Wohlgemerkt, in Ihrem Entschließungsantrag stehen einige Dinge drin, die deckungsgleich sind, weswegen wir uns zum Entschließungsantrag auch enthalten werden.
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Es fehlen zum Beispiel agile Sicherheitsmaßnahmen, es fehlt zum Beispiel transparente Kommunikation.
Ich will nur stichpunktartig sagen, was ich auch in der Vergangenheit immer wieder gesagt habe: Wir brauchen die konsequente Offenlegung von Sicherheitslücken. Alle Bundesbehörden müssen Sicherheitslücken dem BSI melden, und die müssen konsequent verantwortlich geschlossen werden, damit sie nicht offenbleiben, damit sie auch im Innenministerium nachher nicht für andere Zwecke genutzt werden können, weil das die Cybersicherheit schädigt. Das ist in diesem Gesetz nicht drin. Es gibt immer noch Ausnahmen von Meldepflichten. Und es gibt – das ist für die Wirtschaft echt ein Problem – immer noch keinen qualitativen Rückkanal, der der Wirtschaft einen Nutzen hinsichtlich der Cybersicherheit bringt. Es gibt jede Menge Meldepflichten, jede Menge Bürokratie, aber eben keinen direkten Nutzen für die Unternehmen. Das habe ich beim IT‑Sicherheitsgesetz 1.0 schon kritisiert. Es bleibt leider weiter dabei.
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Hätte, hätte – das hilft uns nicht weiter. Wie gesagt, Ihr Entschließungsantrag nimmt einige Dinge ins Visier. Statt diesen Aufkleber, Ihr Sicherheitskennzeichen, auf der Software anzubringen, hätten Sie besser mal über die Haftung von Herstellern nachgedacht. Das ist das Relevante. Was machen wir denn in Zukunft, wenn Boxen ohne Bildschirm, ohne Tastatur rauskommen, aber keine Sicherheitsupdates eingespielt werden? Das merkt man ja erst später. Wir haben mal gesagt: Haften statt heften! Machen Sie keinen Aufkleber drauf, sondern nehmen Sie die Unternehmen in die Haftung! Dann wird das auch besser.
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Ja, meine Damen und Herren, das alles ist nicht überzeugend. Wir werden das ablehnen müssen. Es gibt einen Silberstreif am Horizont: Bald sind Bundestagswahlen, dann kann sich das ändern.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Vizepräsidentin Petra Pau aus der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über das zweite IT‑Sicherheitsgesetz, also ein Gesetz zur Informationstechnik, um das zu übersetzen, mit seinen vielfältigen Hardware- und Softwareoptionen. Die digitale Entwicklung rast. Das erste IT‑Sicherheitsgesetz hat zwei Jahre auf dem Buckel und galt bei Expertinnen und Experten übrigens eher als Unsicherheitsgesetz. Um das den Bürgerinnen und Bürger zu erklären: Wir reden hier nicht über irgendwelche Spezialthemen. Zum Beispiel die allgemeine Energie- und Wasserversorgung basiert längst auf IT‑Systemen. Das heißt, alle Bürgerinnen und Bürger sind von den Dingen, über die wir heute reden, betroffen. Insofern ist ein zweites Gesetz überfällig. Oder anders gesagt: Die Fraktion Die Linke hält es für notwendig.
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Das sagt wiederum nichts darüber aus, ob wir dem Gesetz auch zustimmen. Wir werden es nicht tun; denn die Mängel überdecken das Nötige. Sie haben mit Ihrem Entschließungsantrag übrigens gleich einen Großteil der Mängelliste mitgeliefert, was in diesem zweiten IT‑Sicherheitsgesetz hätte geregelt werden müssen.
Das beginnt damit, dass nicht evaluiert, also geprüft wurde, wie wirksam, aber möglicherweise auch fehlerhaft das erste IT‑Sicherheitsgesetz war. Beim nunmehr zweiten beklagen IT‑Experten, dass sie und ihr Wissen nicht gefragt waren. Das finde ich, freundlich formuliert, politisch fatal. Herr Minister, es fiel überhaupt eine eklatante Strategie- und Ziellosigkeit auf bei dem Entwurf, der uns auf den Tisch gelegt wurde. Insofern: Ja, die Fraktionen haben daran gearbeitet, aber aus meiner Sicht nicht genug.
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Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, soll mit diesem Gesetz weitere Befugnisse erhalten. So weit, so gut. Allerdings muss es Informationen über erkannte Sicherheitslücken mitnichten vollständig öffentlich machen. Das ist intransparent, wenig vertrauenswürdig und übrigens eine Gefahr sowohl für die kritische Infrastruktur als auch für die persönliche IT‑Sicherheit jedes einzelnen Bürgers, jeder einzelnen Bürgerin. Schließlich bleibt das BSI dem BMI, dem Bundesinnenministerium, nachgeordnet. Die Linke fordert mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Fazit: Die Linke lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
Herr Bundesinnenminister – ich spreche jetzt nicht für meine Fraktion, sondern in meinem anderen Amt –, ich habe Ihr Angebot sehr wohl gehört. Wir als Deutscher Bundestag arbeiten sehr gut mit dem BSI zusammen, und wir sind dankbar für diese Zusammenarbeit, im Interesse sowohl des Parlaments als auch natürlich des Vertrauens und der Transparenz. Aber es bleibt dabei: Wir sind Angehörige unterschiedlicher Verfassungsorgane.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Minister hat es gesagt: Die IT‑Sicherheit ist das zentrale sicherheitspolitische Thema unserer Zeit. In diesem Bereich brennt die Hütte lichterloh. Umso unverständlicher ist es, dass in den letzten Jahren so wenig passiert ist.
Frau Kollegin Cotar, Sie haben vollkommen recht: Wir fordern seit vielen Jahren all die guten Dinge, die endlich kommen müssten. Ich zähle sie mal auf: klare Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung, neue Strukturen zur Erkennung hybrider Bedrohungslagen, gute Rechtsgrundlagen, zum Beispiel für die Zusammenarbeit im Cyber-Abwehrzentrum, Meldepflicht für Sicherheitslücken, durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, neue Haftungsregelungen, weniger Massenüberwachung, mehr freie und offene Software, Resilienz und Redundanz usw. usf. Das alles ist in den Anträgen zu finden, die wir hier geliefert haben.
({0})
Die GroKo hat es nicht gemacht. Deswegen waren die letzten vier Jahre schlechte Jahre für die IT‑Sicherheit, meine Damen und Herren.
({1})
Das Ganze sollte – es ist hier gesagt worden – am Anfang der Legislatur kommen, weil die Hütte lichterloh brennt, weil wir praktisch jede Woche solche Fälle hier im Parlament haben und wir von brennender Hütte zu brennender Hütte laufen. Aber statt sozusagen über eine Brandschutzmauer zu reden, haben wir uns bzw. hat sich die Große Koalition in irgendwelchen Huawei-Debatten verfangen. Das alles ist sehr unproduktiv.
Jetzt kommen Sie hier in der letzten Kurve der Legislatur mal wieder um die Ecke mit 500 Seiten und 48 Stunden Frist für alle beteiligten Verbände und die NGOs. Kein Wunder, dass Sie mit dem Verfahren praktisch alle Verbände gegen sich aufgebracht haben.
({2})
Harsche Kritik kommt von den Sachverständigen, und zwar nicht nur von denen der Opposition, sondern auch von denen der Großen Koalition.
({3})
Der Sachverständige Professor Gärditz, ein ausgewiesener Fachmann in vielen Bereichen, spricht von einem „Anti-Sicherheitsgesetz“. Die Familienunternehmen sprechen von einem Unsicherheitsgesetz. Genauso ist es, meine Damen und Herren.
Auf keine der zentralen Fragen, die im Raum stehen, gibt es Antworten. Das betrifft die Vorratsdatenspeicherung. Es gibt keine Lösungen und Ansätze für rechtliche oder tatsächliche Onlinedurchsuchungen, noch immer Handel mit Sicherheitslücken, noch immer eine völlig ungeklärte Haltung zur Verschlüsselung. Ja, an dem in den Koalitionsvertrag gegossenen Widerspruch – Sicherheit mit Verschlüsselung und Sicherheit trotz Verschlüsselung – erkennt man: So ambivalent ist die Bundesregierung bei diesem ganz zentralen Sicherheitsthema. Das ist einfach zu wenig. So etwas können Sie am Ende der Legislatur eigentlich nicht abliefern.
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Es ist gesagt worden: Die Berichterstatter der Großen Koalition reden schon davon, was man in der nächsten Legislatur machen muss. Mich erinnert das an ein Schild in der Küche meines Onkels, auf dem stand: Ab morgen wird gespart. – Da stand es 30 Jahre lang.
({5})
Genauso ist Ihre Sicherheitspolitik im IT‑Bereich. So wird das nichts, meine Damen und Herren.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Drei Jahre harte Arbeit voller Widerstände, voller Widersprüche und auch voller neuer Erkenntnisse in drei Minuten Redezeit zu packen, ist gar nicht so einfach. Die Vorredner haben einige Punkte angesprochen, die ich natürlich alle gern aufarbeiten würde; aber dafür fehlt mir schlichtweg die Zeit.
Wir als Parlament haben – das hat Horst Seehofer bereits gesagt – diesen Gesetzentwurf des Kabinetts noch mal erheblich nachgeschärft. Wir können heute wirklich selbstbewusst sagen: Das ist eine Sternstunde des Parlaments; denn wir haben jetzt ein IT‑Sicherheitsgesetz, das diesen Namen auch verdient. Darüber kann man sich wirklich mal freuen.
({0})
Dies alles wäre ohne die Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen, vieler Experten innerhalb und außerhalb des Parlaments nicht möglich gewesen. Bei ihnen allen möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken. Ich möchte namentlich herausgreifen – auch das gehört an so einem Tag dazu – Norbert Röttgen, Philipp Amthor, Michael Brand und auch Sebastian Hartmann von der Koalitionsfraktion, mit dem wir sehr gut zusammengearbeitet haben. Ich denke, dafür kann man sich wirklich mal bedanken.
({1})
Es gibt wesentliche Merkmale in diesem Gesetz, die ich herausgreifen möchte; einige wurden schon genannt. Es ist die Stärkung des BSI zu einer echten nationalen Cybersicherheitsbehörde, die zukünftig auch noch die Aufgaben des Verbraucherschutzes übernehmen wird. Es ist das IT‑Sicherheitskennzeichen, was angesprochen wurde, und es ist natürlich auch die Klärung – endlich! – der 5‑G-Frage.
Hier haben wir wirklich etwas geschaffen, was so in Europa einmalig ist; denn die Sicherheitsüberprüfung wird zukünftig zwei Stufen enthalten: eine technische Überprüfung und die lang ersehnte politische Überprüfung. Einige haben im Vorfeld gesagt: Das ist kein Lex Huawei. – Das ist richtig; denn die Sicherheitsanforderungen gelten für alle Unternehmen, die sich zukünftig am 5‑G-Netz-Ausbau beteiligen wollen. Richtig ist aber auch, dass Unternehmen, die zum Beispiel unter der Kontrolle von autoritären Staaten stehen oder die sich der Kontrolle von autoritären Staaten nicht entziehen können, weil es dort kein funktionierendes Rechtssystem gibt, als nicht vertrauenswürdig eingestuft werden können. Diese Unternehmen können in Zukunft vom Netzausbau ausgeschlossen werden. Das ist ein deutlicher Sicherheitsgewinn für die Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren.
({2})
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang auch sagen, weil es diese Debatte teilweise stark überlagert hat: Natürlich ist es ein Unterschied, ob wir Hersteller aus Europa, aus den Vereinigten Staaten, aus Südkorea oder aus China zum Netzausbau zulassen. Wenn die Kommunistische Partei in China weiterhin so agiert, wie sie es momentan in Hongkong, beim Umgang mit den Uiguren, im Verhältnis zu Taiwan oder mit den zunehmend aggressiven Expansionsversuchen im Ostchinesischen Meer tut, dann habe ich große Zweifel daran, ob Hersteller, die aus diesem Land kommen und zum großen Teil auch von der Kommunistischen Partei Chinas kontrolliert werden, zukünftig vertrauenswürdige Hersteller sein können, die wir in Deutschland zulassen.
({3})
Deshalb gibt es jetzt die Möglichkeit – ich komme zum Schluss –, die Vertrauenswürdigkeit solcher Hersteller im Nachgang zu überprüfen und im schlimmsten Fall auch zu entziehen.
Heute ist ein guter Tag für die IT‑Sicherheit in Deutschland. Ich kann nur dafür werben, diesem Gesetz zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christoph Matschie, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Informationstechnologie spielt nicht nur für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle – das haben wir heute mehrfach gehört –, sie ist auch ein wichtiger Baustein im geopolitischen Wettbewerb. Deshalb müssen wir erstens dafür sorgen, dass Infrastruktur technisch sicher funktioniert und dass die Daten sicher sind, und zweitens dafür sorgen, dass wir selbst in der Lage sind, solche Infrastrukturen zu bauen und zu betreiben, ohne in problematische Abhängigkeiten zu kommen; denn Abhängigkeit heißt immer auch Erpressbarkeit.
({0})
Es geht also einerseits um unsere technologische und politische Souveränität und zum anderen um die Sicherheit unserer Daten.
Wir haben diese Debatte am Beispiel des Ausbaus der 5‑G-Netze intensiv geführt über die letzten Jahre, und zwar unter zwei Fragestellungen: Wie verhindern wir, dass Daten abgegriffen werden oder dass das Netz durch Angriffe kompromittiert wird? Wie verhindern wir, dass sich Europa immer stärker abhängig macht, zum Beispiel von Anbietern aus China?
Mit dem IT‑Sicherheitsgesetz geben wir – nach zugegeben ziemlich langer und intensiver Debatte – heute eine klare Antwort. Die Bundesregierung kann zukünftig den Einsatz von Komponenten untersagen, wenn der Hersteller dieser Technik unmittelbar oder mittelbar von der Regierung oder sonstigen staatlichen Stellen eines Drittstaates abhängt. Und in der Begründung ist noch mal klargestellt, dass es sich dabei nicht nur um eine gesellschaftsrechtliche oder finanzielle Kontrolle, sondern auch um sonstige Möglichkeiten der Einflussnahme auf Unternehmen handelt. Solche Unternehmen wollen wir in unseren Netzen zukünftig nicht.
({1})
Der Einsatz kann auch untersagt werden, wenn er nicht mit den sicherheitspolitischen Zielen der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union oder der NATO im Einklang steht. Zudem – das hat der Kollege Bernstiel eben noch mal deutlich gemacht, Sebastian Hartmann vorhin auch; beiden möchte ich in ihrer Funktion als Berichterstatter danken – können auch Komponenten verboten werden, die schon eingebaut sind, wenn ein Hersteller nicht vertrauenswürdig ist.
Mit den Regelungen im IT‑Sicherheitsgesetz folgen wir einem europäischen Weg, den Vorschlägen der 5‑G-Toolbox der Europäischen Union. Wir geben ein klares Signal an Wirtschaft und Verbraucher: Wir stärken die Datensicherheit. In Zukunft sollen bei kritischer Infrastruktur nur vertrauenswürdige Hersteller zum Zuge kommen.
({2})
Gleichzeitig stärken wir die digitale Souveränität Europas, indem wir vor allem auf europäische Anbieter von IT‑Infrastruktur setzen. Das sichert unsere Handlungsfähigkeit und unsere Jobs. Dieses Gesetz ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu besserer Datensicherheit und zu einem starken und handlungsfähigen Europa. Und deshalb bitte ich Sie um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab viele Wortbeiträge in dieser Debatte zur IT‑Sicherheit – wir haben es gehört –; daher auch die Federführung beim Innenausschuss. An diesem Gesetz haben aber auch viele Kollegen anderer Arbeitsbereiche mitgewirkt; Christoph Bernstiel hat sie schon erwähnt. Ich möchte mich ausdrücklich noch mal bei den Digitalpolitikern und den Wirtschaftspolitikern bedanken. Aus deren Blickwinkel will ich in dieser Debatte betonen, wie wichtig Telekommunikationsnetze sind. Das Internet, die mobile Nutzung und die mannigfachen Weiterentwicklungen sind aus unserem Alltag gar nicht mehr wegzudenken.
Es geht bei dieser Debatte eben nicht nur um Verbrechen, Angst und Hacker. Es geht vielmehr um konkreten Nutzen, um Wohlstand und um Innovation. Daher vereinen wir in diesem Gesetz die sicherheitspolitischen Interessen und die wirtschaftspolitischen Interessen. Und, lieber Manuel Höferlin, deswegen ist es ein gutes Gesetz für das Internet.
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Für die Digitalpolitiker stand dabei immer das Thema 5‑G-Ausbau ganz stark im Mittelpunkt; das ist angeklungen. Sicherheit ist wichtig, es darf aber nicht zu einem Ausbaustopp unserer TK‑Infrastruktur führen. Gerade China mit seinen Playern ZTE und Huawei stand dabei immer wieder im Blickfeld dieser Diskussion. Viele haben ein Verbotsgesetz für chinesische Technologie befürchtet, sogar von einer Lex Huawei war die Rede. Ich möchte hier ganz klar feststellen, dass wir diesen Weg mit diesem Gesetz ausdrücklich nicht gehen.
Richtig ist, dass wir als Parlament den ausschlaggebenden § 9b BSI-Gesetz deutlich umgestaltet haben. Wir haben es in dieser Debatte gehört: Wir haben § 9b rechtsklarer gefasst, mit klaren Zuständigkeiten, klaren Zeitabläufen und klaren Abwägungskriterien. Wichtig war mir aber immer, dass wir als Parlament nicht entscheiden, ob eine bestimmte Komponente im 5‑G-Netz technischen Anforderungen genügt; das ist Sache der Experten des BSI. Wichtig war mir zudem, dass wir im Parlament nicht mit wechselnden Mehrheiten entscheiden, bei welchem Hersteller bzw. welchem Land man Komponenten kaufen kann, und dass wir unseren Telekommunikationsunternehmen da nichts vorschreiben; damit wären wir fachlich schlichtweg überfordert gewesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben als Gesetzgeber lediglich klare Kriterien vor, die die Exekutive bei der sogenannten Vertrauenswürdigkeitsprüfung zu beachten hat. Wir greifen keinem Abwägungsergebnis vor, wir geben nur einen klaren Rahmen vor. Und als Parlament bewerten wir somit chinesische oder amerikanische Anbieter nicht. Wir bevorzugen auch keine europäischen Anbieter. Das ist ein wichtiger Faktor für gleiche Wettbewerbsbedingungen.
Der Innenausschuss macht in seinem Entschließungsantrag nochmals deutlich, dass wir die Praktikabilität des § 9b BSI-Gesetzes evaluieren müssen. Es ist wichtig, dabei auch zu prüfen, ob Entschädigungsregeln für TK‑Unternehmen notwendig wären, sollte es zu Rückbauforderungen kommen; das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich festhalten. Der Innenausschuss betont in seinem Antrag außerdem nochmals die europäische Einbettung der Gesamtproblematik. Nationale Sonderwege sind mit diesem Gesetz nicht unser Ziel.
Was lange währt, wird endlich gut. Ich bitte somit herzlich um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland arbeiten im Jahr fast acht Tage länger als die Beschäftigten in den alten Ländern und erhalten durchschnittlich 6 000 Euro weniger brutto im Jahr. Meine Fraktion findet das inakzeptabel.
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Und ich hoffe, wir sind uns alle hier im Parlament einig, dass diese Schieflage 30 Jahre nach der deutschen Einheit beendet werden muss.
Manche sagen jetzt: Na ja, es gibt auch Unterschiede zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land. – Natürlich weiß ich auch, dass in Ingolstadt besser verdient wird als in Gelsenkirchen. Aber, meine Damen und Herren, die größten Unterschiede bestehen immer noch zwischen Ost und West.
In keinem westdeutschen Bundesland wird länger gearbeitet als in irgendeinem ostdeutschen Bundesland, und gleichzeitig gilt: In keinem ostdeutschen Bundesland wird mehr verdient als in irgendeinem westdeutschen Bundesland. Spitzenreiter oder besser Schlusslicht bei der Arbeitszeit ist im Übrigen Sachsen-Anhalt.
Weniger verdienen und dafür mehr arbeiten: So sieht es aus im Osten. Das frustriert viele Menschen, meine Damen und Herren; denn es verstößt gegen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit.
({1})
Leistung lohnt sich für Ostdeutsche weniger als für Westdeutsche, und damit muss Schluss sein, weil es ein wesentlicher Grund dafür ist, dass dann natürlich viele Menschen abwandern.
Sie, meine Damen und Herren von der Union, stellen mit Frau Merkel seit bald 16 Jahren eine Ostdeutsche als Kanzlerin. Was haben wir denn nun in vier Legislaturperioden erreicht? Wenn man sich den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit anschaut, erfährt man: Ostdeutschland hat inzwischen 85 Prozent des westdeutschen Lohnniveaus erreicht, und denkt erst mal: Na ja.
Aber wenn man das mit der Zeit vergleicht, als die Kanzlerin im Jahre 2005 Kanzlerin wurde, sieht man, dass es damals 80 Prozent des Westniveaus waren. Nun muss man sich mal überlegen: In 16 Jahren 5 Prozentpunkte – das heißt, die Angleichung wird, wenn es so weitergeht, im Jahre 2070 erreicht. Da ist nicht mehr jeder von Ihnen im Parlament; ich bin dann auch nicht mehr hier.
Das ist eine miese Bilanz und eine große Enttäuschung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland, und die Folge ist vor allen Dingen eine Lawine aus Altersarmut, die in den nächsten Jahren auf das gesamte Land, aber eben besonders auf den Osten zurollt.
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Da dürfen wir nicht zuschauen, meine Damen und Herren.
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Ich will Ihnen zumindest einige Gründe für die Lohnlücke sagen: Das ist erstens Ihre Politik, die einen riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland geschaffen hat, und der Osten ist davon noch viel mehr betroffen – leider. Fast jeder dritte Vollzeitbeschäftigte im Osten arbeitet im Niedriglohnbereich. Im Westen sind es 16 Prozent. Das ist auch viel zu viel, aber es ist ein riesiger Unterschied.
Der zweite Grund ist die rückläufige Tarifbindung. Nur 53 Prozent der Jobs im Westen sind noch tarifgebunden, auch schon ein Skandal. Und, meine lieben Sozialdemokraten, 1998 waren das im Westen übrigens noch 76 Prozent, und dann kamt ihr; da ist das richtig bergab gegangen. Was für ein Absturz! Das ist ein Ergebnis politischer Fehlentscheidungen, meine Damen und Herren. – Im Osten liegt die Tarifbindung bei 45 Prozent. Das müssen wir dringend verändern.
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Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen deutlich erleichtert werden muss. Ich weiß doch, dass das Parlament da nicht überall eingreifen soll, aber wir müssen die Gewerkschaften stärken, damit wir die Lohnlücke zwischen Ost und West endlich schließen können.
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Deswegen im Übrigen unterstützen wir auch die aktuellen Warnstreiks der IG Metall. Einen solidarischen Gruß – ich hoffe, aus dem ganzen Haus – an die Streikenden der IG Metall!
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Also Daumen drücken! Es wird höchste Zeit: gleicher Lohn in gleicher Arbeitszeit in Ost und West im 31. Jahr der Einheit.
Ein Punkt noch. Was macht eigentlich der Bund, meine Damen und Herren, wo er unmittelbar in Verantwortung ist? Warum hat allein Nordrhein-Westfalen doppelt so viele Bundesbehörden wie alle neuen Ländern zusammen, und warum haben nur 5 von 106 Unternehmen, an denen der Bund direkt beteiligt ist, ihren Sitz in Ostdeutschland?
Da müssen Sie etwas tun, auch in Ostdeutschland: aktive Ansiedlungspolitik, Mindestlohn, Tarifjobs, Strukturpolitik! Schluss mit dem Sonderarbeitsmarkt Ost! Leistung muss sich auch für Ostdeutsche lohnen.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter Weiß das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Frage beantworten will, wenn die Regierungszeit von Angela Merkel im Herbst dieses Jahres zu Ende geht, was sich denn in unserem wiedervereinigten Land verändert hat, dann schlage ich vor, doch einfach darauf zu schauen: Wie reagieren unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger?
({0})
Das ist die entscheidende Frage, nicht irgendwelche Zahlen.
Und der Punkt ist: Seit der Wiedervereinigung haben wir erlebt, dass eine große Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus den neuen Bundesländern in die westlichen Bundesländer abgewandert ist, auch wegen guter Löhne und guter Arbeit.
Die jüngste Nachricht ist: Diese Wanderungsbewegung ist zum Stillstand gekommen. Ja, in den Jahren 2017 bis 2019 hatten erstmals die östlichen Bundesländer sogar einen Wanderungsgewinn. Es sind also mehr Bürgerinnen und Bürger aus dem Westen Richtung Osten als aus Richtung Osten nach Westen gewandert. Ich finde, es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass die neuen Bundesländer attraktive Bundesländer sind. Die Menschen stimmen mit den Füßen ab, und sie zeigen: Abwanderung von Ost nach West gibt es nicht mehr. Nein, vielmehr ist es mittlerweile umgekehrt, eher geht es von West nach Ost.
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Und vor allem beobachte ich es auch bei jungen Leuten. Ich kann es nur aus dem persönlichen Umfeld sagen: Für viele junge Leute ist Studieren an einer der Universitäten und Hochschulen der neuen Bundesländer attraktiver als im Westen. Auch das ist ein toller Ausweis für den hohen Stand der Wissenschaft in den neuen Bundesländern.
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Nun beschäftigen uns in diesen Tagen ganz besonders die Herausforderungen durch die Coronapandemie und die Auswirkungen der starken Einschnitte, die wir vornehmen mussten, um diese Pandemie einzudämmen. Ein Thema, das mich besonders beschäftigt, ist: Werden wir es schaffen, dass die jungen Leute, die in diesem Jahr einen Schulabschluss machen, tatsächlich im Herbst dieses Jahres in einer Ausbildung landen? Ein schwieriges Thema.
Leider beobachten wir, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen coronabedingt bundesweit zurückgeht. Es gibt zwei Bundesländer, die eine Ausnahme bilden. Diese beiden Bundesländer heißen Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Dort steigt das Angebot an Ausbildungsplätzen – also nicht im Westen, sondern, in alter Sprache, im Osten.
Wenn man danach fragt, ob sich eigentlich ein ostdeutsches Bundesland unter den Ländern mit dem höchsten Rückgang an Ausbildungsplätzen befindet, stellt man fest, dass man darunter nur westdeutsche Bundesländer und kein einziges ostdeutsches findet. Auch das ist ein untrügliches Zeichen: Ja, die Coronapandemie macht uns zu schaffen; aber offensichtlich gibt es Bundesländer wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt, wo es umgekehrt läuft.
Ein weiteres Thema ist die Kurzarbeit, die wir Gott sei Dank einsetzen können. Wir haben den höchsten Stand an Kurzarbeit in den beiden Stadtstaaten Bremen und Hamburg. Wir haben den geringsten Stand an Kurzarbeit wiederum in Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Auch bei der Nutzung von Kurzarbeit sieht man: Nicht im Osten,
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sondern im Westen gibt es gravierende Auswirkungen. Es ist so. Deswegen muss ich es Ihnen vortragen. Man muss alle Zahlen angucken.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit war für die neuen Bundesländer lange ein Topthema wegen des Strukturwandels und der Veränderungen.
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Welches sind heute die fünf Arbeitsamtsbezirke mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Deutschland? Ich lese sie Ihnen vor:
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Es sind Gelsenkirchen, Bremerhaven, Duisburg, Wilhelmshaven und Hagen. Das sind die fünf.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Erdkundeunterricht in der Schule ist schon lange her, das gebe ich gerne zu. Aber meines Erachtens liegen diese fünf Arbeitsamtsbezirke nicht in den neuen Bundesländern, sondern irgendwo anders. Das zeigt: Das Thema Arbeitslosigkeit ist heute kein Ost-West-Thema mehr; es ist ein Thema, das uns überall in Deutschland beschäftigt. Leider liegen alle fünf Topbezirke bei der Arbeitslosigkeit im Westen und nicht im Osten.
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Das zeigt, was sich in unserem Land verändert hat.
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Kollege Weiß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. Zuerst einmal muss ich Ihnen Folgendes erklären: Wenn wir im industriellen Bereich Kurzarbeit und eine hohe Zahl an Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeitern haben, dann zeigt das, dass wir in den Regionen ein hohes industrielles Potenzial haben. Für die Regionen, wo keine Kurzarbeit stattfindet, kann man schon ableiten, dass dort kein hohes industrielles Potenzial ist.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wenn Sie das an der Arbeitslosigkeit festmachen, dann schauen Sie sich bitte die Zahlen zur Langzeitarbeitslosigkeit an! Die Langzeitarbeitslosigkeit ist im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Das ist ein Indiz dafür, dass dort viele Menschen schon Jahrzehnte langzeitarbeitslos sind. Das haben Sie in den letzten Jahren komplett ignoriert.
Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, es ist natürlich richtig, dass im industriellen Bereich Kurzarbeit stärker genutzt wird als im Dienstleistungsgewerbe. Es ist nur in dieser Krise anders. Die Hauptbetroffenen von Kurzarbeit sind derzeit der Einzelhandel und die Gastronomie
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und nicht das produzierende Gewerbe; das haben Sie leider übersehen. Das ist so.
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Frau Zimmermann, nicht mit alten Thesen kommen, sondern sich die Realität heute anschauen! Das würde ich Ihnen dringend raten.
Jetzt zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit. Ja, wir haben leider immer noch einen hohen Bestand an Langzeitarbeitslosen. Deswegen hat diese Koalition mit Milliarden, die wir zusätzlich in den Haushalt eingestellt haben, mit den beiden Instrumenten in §§ 16i und 16e SGB II, also mit längerfristigen, mehrere Jahre laufenden Lohnkostenzuschüssen für Langzeitarbeitslose, begonnen, deren Chancen auf Arbeitsmarktintegration zu erhöhen. Ich freue mich, dass die Jobcenter in den neuen Bundesländern diese Möglichkeit auch intensiv nutzen. Ja, wir haben endlich mal angefangen, auch für die, die sehr lange Zeit arbeitslos sind, Instrumentarien zu entwickeln, die helfen. Gott sei Dank helfen sie. Ich freue mich, wenn wir im Osten wie in allen Bundesländern Langzeitarbeitslosen eine neue Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben geben.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man sich die Entwicklungen in unserem Land anschaut, dann kann man, glaube ich, Folgendes sagen. Wir haben heute nicht mehr das Thema „Bist du Ost oder West?“, sondern wir haben unterschiedliche Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung und des Strukturwandels in unterschiedlichen Regionen unseres Landes. Diejenigen, die den Strukturwandel durch Innovation, durch neue Technologien und dadurch, dass sie auch die Digitalisierung nutzen, nach vorne bringen, werden die Gewinner der Zukunft sein.
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist die eigentlich zentrale Frage, vor der wir politisch stehen: Wie wollen wir aus dem wirtschaftlichen Einbruch infolge der Coronapandemie herauskommen? Das geht nur durch eine gemeinsame Politik in Ost und West, in Nord und Süd in unserem Land, die auf wirtschaftlichen Wiederaufschwung setzt, die dafür sorgt, dass die neuen Technologien, die neuen Möglichkeiten der Arbeitswelt für die Zukunft genutzt werden, damit die Mitbürgerinnen und Mitbürger, damit vor allen Dingen junge Leute überall in Deutschland eine berufliche Zukunft und eine Chance haben. Die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen uns: Ja, diese Möglichkeit haben wir. – Wir müssen sie nur zielgerichtet nutzen, statt Reden aus alten Zeiten zu halten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete René Springer für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegen von den Linken, Sie spielen hier heute die Karte des sozialen Gewissens und klagen die Bundesregierung dafür an, dass auch 30 Jahre nach der Wende in vielen sozialen Bereichen der Osten dem Westen hinterherhinkt. Aber damit machen Sie es sich zu einfach. Ja, die Bundesregierung trägt Verantwortung. Aber Sie tragen eine Mitverantwortung.
Sie beklagen in Ihrem Antrag die hohen Hartz‑IV-Quoten in Ostdeutschland, aber kaum irgendwo sind die Hartz-IV-Quoten höher als in Berlin. Da haben Sie 14 Jahre mitregiert.
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Sie beklagen niedrige Löhne in Ostdeutschland. Mecklenburg-Vorpommern ist mit 2 608 Euro mittlerem Einkommen mit Abstand Schlusslicht. Da haben Sie acht Jahre mitregiert.
Sie beklagen die gescheiterte Förder- und Ansiedelungspolitik und bemängeln, dass sie nicht von Nachhaltigkeit geprägt sei. Brandenburg, mein Heimatland, ist Schlusslicht bei allen Wachstumsprognosen. Da haben Sie zehn Jahre mitregiert.
Sie beklagen in Ihrem Antrag einen großen Niedriglohnsektor. In Thüringen arbeitet ein Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Da regieren Sie seit 2014.
Was Sie beklagen, haben Sie selber mit zu verantworten.
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Sie haben kein Recht, sich hier als soziales Gewissen aufzuspielen.
Fahren wir fort mit Ihrem Antrag, der in gewisser Weise auch skurril ist. Er ist aufgewärmt; er kommt eigentlich aus dem März 2017. Und Sie schaffen es tatsächlich, mit keinem einzigen Wort die Folgen der Coronamaßnahmen zu erwähnen. Deswegen möchte ich sie hier mal kurz aufführen: 500 000 Arbeitslose, 2,8 Millionen in Kurzarbeit, 300 000 Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten, Wirtschaftseinbruch um 5 Prozent, Einbruch der Steuereinnahmen um 7 Prozent, coronabedingte Neuverschuldung von 480 Milliarden Euro. Die OECD sagt, dass die Schulschließungen für die Kinder zu lebenslangen negativen Auswirkungen und deutlichen Einkommensverlusten führen werden. Fast jedes dritte Kind zeigt psychische Auffälligkeiten. In Ihrem Antrag fehlt, dass die Arbeitsmarkterfolge der letzten zehn Jahre schon nach dem ersten Lockdown ausradiert waren.
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Ich sage Ihnen noch was. Sie hätten in Ihrem Antrag erwähnen müssen, dass das, was hier seit einem Jahr passiert, die Kluft zwischen oben und unten vergrößern wird und die Umstände, die wir mit Blick auf Ost und West haben, über Jahrzehnte zementieren wird.
Das alles erwähnen Sie nicht, weil Sie auch hier eine Mitverantwortung tragen.
Ihr Ministerpräsident Bodo Ramelow aus Thüringen war Teil von Merkels Hinterzimmerklüngelrunde. Dort hätte er kritische Fragen stellen können. Er hätte Haltung zeigen können, diese Haltung, die Sie sonst vermeintlich gegen rechts zeigen; er hat aber stattdessen nach ihrer Pfeife getanzt.
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Dabei wäre es seine Pflicht gewesen, zu fragen, wie es sein kann, dass man ein ganzes Volk mit Zwangsmaßnahmen überzieht, anstatt die Risikogruppen zu schützen.
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Er hätte fragen sollen, wie es möglich sein kann, dass man ohne Test nach Deutschland einreisen kann, aber nicht an die Ostsee fahren darf. Er hätte fragen müssen, warum die Inzidenz als alleiniger Maßstab für massive Grundrechtseinschränkungen herhalten muss. Er hätte fragen müssen, warum es keine Obduktion gibt, um festzustellen, ob die Toten an oder mit Corona gestorben sind.
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Er hätte fragen müssen, warum das Bundesinnenministerium Wissenschaftler beauftragt, Panikszenarien zu entwickeln, mit denen das Bundesinnenministerium dann Strategiepapiere entwickelt, um Angst und Panik zu machen. Er hätte fragen müssen, warum die Experten, die eine andere Meinung als Merkel haben, nicht angehört werden.
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Ihr Ministerpräsident aus Thüringen, ein linker Ministerpräsident, hätte einen Unterschied machen können. Er hat keinen Unterschied gemacht. Stattdessen hat er sich in den Klüngelrunden nach hinten gelehnt, Candy Crush gespielt und danach das Land mit ins Chaos gestürzt.
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Sie spielen sich hier als Opposition auf. Sie sind schon lange Teil des Altparteienkartells, und Sie wundern sich, dass Ihre Wähler zur AfD wandern. Ich sage Ihnen eins: Sie wandern ab, weil Sie Teil des Problems sind und nicht die Lösung.
Danke schön.
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Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Minister Heil, ich finde, es ist ein gutes Signal, dass sich der Bundesminister die Debatte hier anschaut. Es geht um den Arbeitsmarkt Ost. Und auch wenn uns der Antrag bekannt vorkam, liefert er doch eine wichtige Erkenntnis, nämlich dass die ostdeutschen Beschäftigten im Durchschnitt tatsächlich deutlich weniger verdienen und auch deutlich länger arbeiten als Beschäftigte in Westdeutschland und dass ein Drittel der ostdeutschen Beschäftigten im Niedriglohnsektor arbeitet.
Sie benennen auch die geringe Tarifbindung als zentrales Problem, und in der Sache, stimme ich, stimmt die SPD Ihnen natürlich absolut zu. Wir müssen die Tarifbindung unbedingt stärken; wobei sich die SPD noch bisschen mehr vorstellen kann als das, was in Ihrem nicht so ausführlichen Antrag steht. Sie finden vieles dazu in unserem Wahlprogramm. Hubertus Heil spricht wirklich bei jeder Gelegenheit die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes als notwendige Maßnahme an, und wir als SPD sehen das ganz genauso.
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Und ja, wir müssen aufpassen, dass in westdeutschen Konzernzentralen nicht wieder vermehrt Entscheidungen gegen ostdeutsche Standorte getroffen werden. Wir erwarten – das hat der Arbeitsminister von Sachsen, Martin Dulig, formuliert –, dass man auch in schwierigen Zeiten zur Verantwortung für alle Standorte steht. Wir müssen noch selbstbewusster artikulieren: Der Osten ist nicht der Reservekanister des Westens. Es kann nicht sein, dass, wenn es wirtschaftlich eng wird, eine Konzentration auf Westdeutschland stattfindet, um dort die Standorte zu sichern.
Allerdings stört mich an Ihrem Antrag das leider ein bisschen typische Schwarz-Weiß-Denken; das werden Sie vielleicht auch noch von anderen Rednern aus anderen politischen Ecken hören. Ja, wir haben einen Mangel an Mitbestimmung; aber die Behauptung, dass durch die Wiedervereinigung gute, also demokratische Mitbestimmungsstrukturen aus der DDR verschwunden wären, ist doch ziemlich verwegen.
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Und: Ja, die Treuhand hat sehr viele Fehler gemacht, und es ist unbedingt notwendig, dass wir das kritisch aufarbeiten und dass wir über die Politik und auch die Interessen, die da zum Zuge gekommen sind, sprechen. Aber dass viele DDR-Unternehmen auch einfach nicht überlebensfähig waren, das sollte man vielleicht auch nicht komplett ausblenden.
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Ich finde es aber vor allen Dingen schade und auch irgendwie total erstaunlich, dass in Ihrem Antrag von den Beschäftigten als Akteure so gar nichts zu spüren und zu lesen ist. Dabei ist es doch eigentlich bemerkenswert und richtig toll, dass gerade im Schatten der Pandemie so viele Beschäftigte, gerade in Ostdeutschland, für höhere Löhne, für mehr Rechte und für ihren Standort gekämpft haben.
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Es gab 80 Streiks im Osten. Heute findet ein NGG-Aktionstag in Weißenfels zum Thema „Fleischindustrie bei Tönnies“ statt; die IG Metall streitet für gleiche Arbeitszeiten in Ost und West und fordert ein Anpassungsgeld. Hier entsteht eine neue gesellschaftliche Bewegung; ich würde es fast einen neuen Arbeitnehmerfrühling nennen.
Der Osten ist selbstbewusster geworden. Es wird, glaube ich, in der Rückschau ganz stark unterschätzt, was die Massenarbeitslosigkeit und die einseitige Macht der Unternehmer in den letzten 30 Jahren mit den Beschäftigten im Osten gemacht haben. In den 90er-Jahren waren alle einfach nur froh, wenn sie ihren Job behalten konnten. Sie haben eine Art Verzichtsbündnis mit ihren Chefs geschlossen: Ich behalte meinen Job, und ich fordere auch nichts – nicht höhere Löhne, keine besseren Arbeitsbedingungen; keinen Betriebsrat. – De facto ist vielen Beschäftigten damals der Zahn gezogen worden. Viele haben ihr Selbstbewusstsein verloren und manche auch ihren Stolz. Das hat konkrete Folgen. Viele verdienen deswegen weniger. Dass jeder dritte Ostdeutsche im Niedriglohnbereich arbeitet, ist eine Folge genau dessen. Manche kommen mit ihrem Einkommen nur gerade so über die Runden; im Alter droht Altersarmut. Genau für diese Menschen, für diese Aufbaugeneration, haben wir die Grundrente durchgesetzt.
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Jetzt kommt eine neue Generation nach, die diese Ungerechtigkeit, die unterschiedlichen Löhne, nicht mehr duldet. Viele davon sind junge Frauen, und sie sagen: Wir streiken, wir streiten für höhere Arbeitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen. – Das ist der richtige Weg. Das ist auch viel effektiver, als mit Pegida um den Block zu rennen und so den Frust über die Politik zu artikulieren; denn für die Höhe der Löhne sind die Beschäftigten selbst verantwortlich.
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Wir als SPD stehen an der Seite dieser mutigen Beschäftigten. Wir flankieren, indem wir die Fleischindustrie reguliert haben – Grüße noch mal nach Weißenfels!, –
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indem wir einen Mindestlohn eingeführt haben – ja, er muss steigen; aber es ist gut, dass wir ihn haben –, indem wir für mehr Tariftreue kämpfen werden, indem wir Menschen unterstützen, die Betriebsräte gründen wollen. Dafür bringen wir noch in dieser Legislatur das Betriebsrätemodernisierungsgesetz auf den Weg.
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Insofern: Daumen hoch für alle mutigen Beschäftigten in Ost und in West, die sich für ihre Arbeitsbedingungen einsetzen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Matthias Nölke das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gleichwertige Lebensbedingungen sind ein wichtiges Ziel; daran arbeiten wir alle. Was in vier Jahrzehnten runtergewirtschaftet wurde, wird seit drei Jahrzehnten mühsam wieder aufgebaut. Natürlich ist bei der Treuhand einiges schiefgelaufen; aber zu sagen, dass die Ursache für die Probleme im Wesentlichen die Treuhand ist, ist weder korrekt noch anständig. Zu sagen, dass es eine gezielte Deindustrialisierung gab, wie Sie es tun, ist eine falsche Unterstellung. Das Problem war und ist ein strukturelles; es sind auch nicht die Menschen, weder Arbeitnehmer noch Unternehmer.
Schlechte Infrastrukturen, marode Planwirtschaft waren die Ursachen für den Arbeitsplatzverlust vieler Menschen. Ihre Maßnahmen greifen das Problem der fehlenden Arbeitsplätze aber nicht mal auf. Keiner Ihre Vorschläge schafft einen zusätzlichen Arbeitsplatz. Im Gegenteil: Fördermittelrückzahlungspflichten schaffen eine Unsicherheit, die Investitionen hemmt, mal ganz unabhängig von der Frage, was eigentlich nachhaltige Arbeit aus Ihrer Sicht sein soll. Die Antwort bleiben Sie leider schuldig.
Was wir brauchen, ist eine Wachstumspolitik, die den Mut, die Gestaltungskraft und Innovationen in den neuen Bundesländern aufgreift,
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beispielsweise durch die Schaffung wirtschaftlicher Freizonen in den ostdeutschen Bundesländern.
({1})
Wir brauchen eine moderne Infrastruktur als Standortfaktor im ganzen Land. Wir brauchen eine gute Verkehrsinfrastruktur, einen guten Personennahverkehr und eine gute digitale Anbindung, und übrigens – ganz entgegen Ihren Vorstellungen – braucht es weniger Bürokratie und mehr Flexibilität. Wenn es endlich keine Funklöcher mehr gibt, Menschen und Waren gut überall hinkommen und zeitgemäßes digitales Arbeiten möglich ist, werden sich mehr Unternehmen ansiedeln oder neu gründen, und es werden mehr Arbeitsplätze mit Zukunft geschaffen, im Übrigen auch mehr Arztpraxen, deren Fehlen ja ein Teil des Infrastrukturproblems ist.
Denn gleichwertige Lebensverhältnisse setzen zunächst einmal vergleichbare Rahmenbedingungen voraus. Ob junge Köpfe, die gut ausgebildet von ostdeutschen Universitäten kommen, vor Ort bleiben oder in den Westen gehen, hängt nicht von den Forderungen in Ihrem Antrag ab, sondern davon, ob es attraktive Lebensbedingungen, eine vitale Wirtschaft und vielleicht auch gute Voraussetzungen für die Gründung eines eigenen Start-ups gibt.
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Der Antrag hätte also besser die Frage verfolgt, wie wirtschaftliches Wachstum und mehr Innovationen in den neuen Ländern gefördert und auf ein besseres Fundament gestellt werden können.
Doch in Wahrheit geht es Ihnen mit diesem Antrag ja auch gar nicht um die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland. Über den Mindestlohn haben wir erst kürzlich wieder gesprochen. Wir können auch gerne über Tarifrecht reden. Wir können über die Fördermittelvergabe reden. Aber dann seien Sie doch so ehrlich und nehmen Ostdeutschland nicht als Vorwand für ihre üblichen gesamtgesellschaftspolitischen Wunschvorstellungen. Dann können wir reden: gerne auch über eine Erhöhung der Minijobgrenze und eine Kopplung an den Mindestlohn. Das wäre einer unserer Vorschläge. Denn wir Freie Demokraten sind immer dabei, wenn es darum geht, den Einzelnen zu stärken und ihn in seinem Vorankommen zu unterstützen.
Ihr Antrag ist aber in sich nicht stimmig. Er schafft keine neuen Arbeitsplätze und hilft dem Einzelnen letztendlich nicht weiter. Wer wirtschaftlichen Aufschwung will, wird bei Ihnen keine Lösung finden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Claudia Müller das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartsch, Sie haben mit Ihrem Antrag und der Rede eigentlich alle meine Erwartungen erfüllt. Ich habe, als ich den Antrag gelesen habe, gedacht: Das wird mit Sicherheit eine Wahlkampfdebatte. – Es ist genau so gekommen.
Ehrlich gesagt, hat das Thema Arbeitsmarkt Ostdeutschland ein bisschen mehr Inhalt und weniger Verpackung verdient.
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Sie schreiben viel von Ostdeutschland. Dabei ist Ihnen, uns und allen anderen – das ist auch in den Reden rausgekommen – ganz klar: Die Lösungen für diese Probleme sind keine regionalspezifischen, sondern es sind immer gesamtdeutsche Lösungen. So muss es an dieser Stelle auch sein.
Ja, wir brauchen eine Verbesserung der Tarifbindung, gerade in Ostdeutschland, aber, ehrlich gesagt, auch – das wurde dargestellt – in Gesamtdeutschland.
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– Ich habe zugehört. Ich habe das zur Kenntnis genommen. – Bei diesem Thema könnten zum Beispiel die Länder und der Bund besser zusammenarbeiten, um eben auch bei Kommunal- und Landeseinrichtungen des öffentlichen Dienstes endlich die Angleichung der Löhne zu erreichen.
Frau Kolbe, Sie haben das Thema „Verdienstverzicht in den 90er-Jahren“ angesprochen. Diese Verdienstverzichte gab es im Übrigen auch im öffentlichen Dienst, ausgehandelt etwa von Gewerkschaften mit Landesregierungen. Ein Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern: Da gab es eine entsprechende Einigung zwischen der Lehrergewerkschaft, der GEW, und der Landesregierung mit heute teils katastrophalen Auswirkungen auf diejenigen, die jetzt in Rente gehen. Dabei sind auch Lehrer von Altersarmut bedroht, weil sie mit ihrer Stundenzahl ohne Verdienstausgleich extrem runtergehen mussten. Das hat auch das Vertrauen in die Gewerkschaften geschwächt; das muss man an dieser Stelle ganz offen und ehrlich sagen. Ja, da haben wir wirklich Verbesserungsbedarf.
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Wir könnten – auch das ist von den Vorrednern angesprochen worden – gezielter die Bundesbehörden, Forschungseinrichtungen und Stiftungen in strukturschwachen Regionen ansiedeln. Auch das hätte Signalwirkung.
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Wir haben vor einem guten halben Jahr dazu einen Antrag vorgelegt. Er hieß: „Vielfältig, offen, gerecht – Eine gemeinsame Geschichte und Vision für Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung“. Darin hatten wir jede Menge konkrete, wirkungsvolle Vorschläge allein zum Thema Wirtschaftsförderung. Stärkung in strukturschwachen Regionen war bei uns ein Punkt mit allein neun Unterpunkten, einer davon noch mal mit zwei Unterpunkten. Dieser Unterpunkt alleine war also komplexer als der gesamte Antrag der Linken zu diesem Punkt.
Ich habe, ehrlich gesagt, nicht den Eindruck, dass Sie wirklich an die Ursachen wollen. Sie analysieren in dem Antrag viel; aber dann, wenn es tatsächlich an die konkreten Forderungen geht, bleibt es sehr vage. Es sind gesamtdeutsche Forderungen; das ist gut. Diese sind auch nicht falsch; aber sie sind wirklich unterkomplex. Wenn wir uns angucken wollen, wie wir den Arbeitsmarkt stärken, dann müssen wir uns die Wirtschaftsstruktur angucken. Sie ist deutlich kleinteiliger strukturiert. Die Regionen sind nicht so großstädtisch strukturiert. Es gibt sehr viele kleine und mittelgroße Städte. Dann müssen wir uns doch fragen, wie wir dort die Wirtschaftsstruktur entsprechend nach vorne bringen.
Auch dazu haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht, zum Beispiel, nicht mehr so sehr auf die Neuansiedlungen von Großunternehmen zu gucken – also auf den Abzug von Unternehmen aus anderen Regionen –, sondern auf die Stärkung des Vorhandenen, das heißt die Unterstützung der regionalen Wirtschaftsstruktur, der vorhandenen Unternehmen. Es gilt, sie zu unterstützen bei Wachstum, bei Neustrukturierung, bei Umbau, bei Übernahmen von Unternehmen. Gründungen von Unternehmen vor Ort müssen deutlich stärker unterstützt werden. Zudem müssen regionale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden, damit die Gewinne auch in den Regionen bleiben.
Um es kurzzumachen: Im Prinzip gilt es, das, was zum Beispiel Baden-Württemberg nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark gemacht hat, vorzunehmen; denn das ist nachhaltige Wirtschaftsförderung und Unterstützung. Das wären auch Ideen für Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern; denn wir haben eine sehr kleinteilige Wirtschaftsstruktur in den neuen Bundesländern. Diese zu unterstützen und zum Wachstum zu bringen, das dauert lange, ja. Aber das ist nachhaltig erfolgreich.
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Was in diesen Debatten gerne kommt – ich habe es jetzt nur vom Kollegen der FDP gehört –, ist der Verweis auf die 40 Jahre davor. Ja, die DDR-Wirtschaft war marode und nicht wettbewerbsfähig. Aber wir sind jetzt im Jahr 31 nach der Wiedervereinigung. 30 Jahre sind eine sehr lange Zeit, hier Veränderungen herbeizuführen. Spätestens Anfang der 2000er-Jahre war doch klar und deutlich, dass die Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer gescheitert war; sie führte eben nicht dazu, dass wir gleiche Bedingungen hatten. Spätestens hier hätte man umsteuern können und müssen. Das ist nicht geschehen. Das muss man sich jetzt angucken, und man muss auch ehrlich sagen: Ja, da sind Fehler passiert.
Aber es ist nie zu spät, umzusteuern. Sinnvoll wäre jetzt, darauf zu setzen, das Vorhandene zu stärken und traditionelle Wirtschaftszweige und Betriebe mit zukunftsorientierten Technologien zu verbinden. Dafür bieten die erneuerbaren Energien, dafür bietet das Thema Wasserstoff einen Anknüpfungspunkt.
Kollegin Müller, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin und Frau Kollegin. – Sie haben gesagt: Ab dem Jahr 2000 hätte man umsteuern müssen.
2000er.
2000er, ja. – Nun kann ich mich daran erinnern, dass Gerhard Schröder als damaliger SPD-Kanzlerkandidat 1998 im Wahlkampf erklärt hat, das Thema „Aufbau Ost und Aufschwung“ zur Chefsache machen zu wollen. Er war ja dann bis 2005 Bundeskanzler. Wie bewerten Sie denn die Bilanz Ihres SPD-Kanzlers Schröder in dieser Sache?
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Soweit ich weiß, war das immer noch ein Kanzler der SPD. Wir alle wissen, dass wir gerade in dieser Phase nach 1998 gesamtdeutsch – gesamtdeutsch! – vor großen Schwierigkeiten standen. Wir hatten hohe Arbeitslosenzahlen in Gesamtdeutschland. Wir haben mit der Agenda 2010 – man mag dazu stehen, wie man will – ja auch große Reformen angestoßen. Die waren nicht immer positiv, sie waren auch negativ.
({0})
– Da höre ich Stimmen aus der Linken. Dazu muss ich Ihnen ganz kurz sagen: Zeitgleich gab es übrigens in Mecklenburg-Vorpommern eine rot-rote Regierung – von 1998 bis 2006 – mit einem Arbeitsminister Helmut Holter von den – jetzt – Linken. Das erste Bundesland, das die Durchführungsgesetze zu den Hartz-IV-Reformen umgesetzt hat, war übrigens Mecklenburg-Vorpommern mit einer Vorlage aus genau diesem Hause. – So viel zu den Zwischenrufen aus der Richtung.
Um es deutlich zu machen: Es sind Probleme angegangen worden, ja. Ich hätte mir an dieser Stelle mehr gewünscht, einen stärkeren Fokus und auch ein Umsteuern, indem der Blick mehr auf kleine und mittelständische Unternehmen gerichtet wird. Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, das gilt für Gesamtdeutschland. Wir hatten zu lange den Fokus auf der Großindustrie. Unsere Stärke ist der Mittelstand, unsere Stärke sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Es wäre wichtig, hierauf jetzt einen stärken Fokus zu legen im Sinne der gesamtdeutschen wirtschaftlichen Stärke.
({1})
Um es deutlich zu machen: Um den ostdeutschen Arbeitsmarkt wirklich zu stärken, wäre es wichtig, Ausbildungen zu stärken. Das heißt vor allen Dingen, dort die Berufsschulstruktur zu stärken. Es bedeutet aber auch, dafür zu sorgen, dass sich Wirtschaft tatsächlich entwickeln kann, sodass wir dann gute Löhne zahlen. Und, ja – da bin ich übrigens ganz bei Ihnen –, es gilt, das Thema Tarifbindung deutlich stärker anzugehen, die Gewerkschaften zu stärken, Tarifbindung zu stärken, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu unterstützen. Wir haben das Thema gerade im Pflegebereich.
Das sind wichtige Themen. Sie sind aber eben nicht nur wichtig für Ostdeutschland, sie sind wichtig für die gesamtdeutsche Wirtschaftsentwicklung.
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Das Wort hat die Kollegin Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute wieder über eines meiner Lieblingsthemen, nämlich ob das Glas halb voll oder halb leer ist im Osten.
Bedauerlicherweise geht es wieder einmal um einen Antrag der Linken, die immer noch dem Glauben folgt, dass man wirtschaftlichen Erfolg per Gesetz verordnen kann. Sie fordern, im Osten die Tarifbindung zu erhöhen, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo soll es denn herkommen?
Natürlich ist es so, dass wir in den alten Bundesländern eine stärkere Tarifbindung haben. Doch dahinter steht eine Industrie, die sehr finanzstark ist, sodass man sich das auch leisten kann, diese Löhne und Gehälter, sodass man sich das auch leisten kann, diese arbeitsrechtlichen Bestimmungen, diese Urlaubsbestimmungen, alle Regelungen, die so ein Tarifvertrag heute auch noch abzudecken hat.
Und da wundern Sie sich, dass immer mehr Betriebe in diesem Land, gerade aus dem Bereich kleiner und mittelständischer Unternehmer, sagen: „Das tue ich mir nicht an; das kann ich mir nicht leisten; das funktioniert nicht“, und dass sogar große Unternehmen aus dem industriellen Bereich sagen: Das machen wir nicht. Das nimmt uns Flexibilität.
Ich glaube, Sie sollten sich einmal darüber Gedanken machen, wie Sie als Gewerkschaftsvertreter in den Verhandlungen auftreten, wie Sie als Sozialpartner in den Verhandlungen auftreten. Was tun Sie eigentlich dafür, dass die Tarifbindung gestärkt wird, außer sich hierhinzustellen und Gesetze zu fordern und Bestimmungen zu fordern und Verpflichtungen zu fordern? So funktioniert doch keine soziale Marktwirtschaft. Aber in der leben wir heutzutage nun einmal.
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Meine Damen und Herren, Sie fordern einen Mindestlohn von 12 Euro. Haben Sie einmal aus dem Fenster geschaut? Wir leben in einer Coronakrise. Die Wirtschaft, unser Land stehen seit über einem Jahr nahezu still. Als wir 2015 den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland eingeführt haben, war das eine völlig andere Zeit; da haben wir in einem wirtschaftlichen Aufschwung gelebt. Wir brauchen ganz andere Antworten in dieser Zeit.
Kollegin Schimke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?
Sehr gerne.
Danke, dass Sie die Frage zulassen, Frau Schimke. – Also, ich habe ehrlich den Eindruck, Sie sind noch nicht im Westen angekommen. Denn das Modell Deutschland, von dem jetzt auch der Osten profitiert, bedeutet ja, dass wir über Tarifverträge bestimmte Dinge aus der Konkurrenz der Betriebe untereinander herausgenommen haben, zum Beispiel den Lohn. Wir haben gesagt: Über Tarifverträge machen wir einen Mindestlohn, und wenn Unternehmen erfolgreich sein wollen, müssen sie dies durch Innovation, durch Technik machen, aber nicht durch Lohnsenkungen.
Dasselbe mit der Arbeitszeit, die in Tarifverträgen geregelt ist. Da haben wir gesagt: Wir nehmen Arbeitszeit aus der Konkurrenz der Betriebe untereinander heraus. Nicht der ist erfolgreicher, der länger arbeiten lässt, sondern erfolgreicher ist der mit den besten Beschäftigten, der gut zahlt – vielleicht sogar über den Tarif hinaus –, und der innovativ ist. Das, Frau Schimke, das war ein Erfolg, den wir damals im Westen über Tarifvertragssysteme hatten. Da hatten Sie im Osten tatsächlich einen Nachteil.
Wenn Sie jetzt aber nicht mit dazu beitragen, dass wir durch mehr Tarifbindung die Konkurrenz über Lohn- und Arbeitszeitdumping verringern, wenn Sie nicht dazu beitragen, dass wir das auch im Osten hinkriegen, dann tragen Sie die Verantwortung dafür, dass sich der Osten eben nicht dem Modell Deutschland angleicht, sondern weiter unter diesen schlechteren Bedingungen arbeitet und damit eher zu einem Modell für niedrige Löhne und schlechte Arbeitszeiten wird, so wie wir es jetzt noch im Osten haben.
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Lieber Herr Kollege Ernst, meine Damen und Herren von der Linken, anders als Sie sehe ich im Unternehmer nicht den Feind, sondern den Partner.
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Das sind Menschen in unserem Land, die schaffen Arbeitsplätze, die sorgen für unseren Wohlstand.
Sie haben keine Ahnung von Wirtschaft; das darf ich an der Stelle auch einmal sagen. Sie schaffen nur eine gesunde Wirtschaft, wenn Sie diese Menschen mit ins Boot holen, wenn Sie ihnen die Möglichkeiten, wenn Sie ihnen den Freiraum schaffen, zu arbeiten und zu leben. – Sie tun nichts anderes, als sich auf dem Erfolg anderer auszuruhen. So funktioniert das nicht, meine Damen und Herren.
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Aber es geht ja leider noch weiter – ich bin ja leider noch nicht am Ende –: Jetzt soll auch die Vergabepolitik, jetzt soll auch die Förderpolitik an das Konzert des „Wünsch dir was“ angeglichen werden. Unternehmen sollen nach Auffassung der Linken nur noch Förderung bekommen, wenn sie sich an bestimmte Standards halten.
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Ich sage Ihnen einmal was: Träger der Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern sind kleine und mittelständische Unternehmen. Die haben nicht viel Kapazität, die haben nicht viel Spielraum. Was Sie machen, ist, die Möglichkeit, Förderung in Anspruch zu nehmen, deutlich zu erschweren, deutlich zu bürokratisieren, und vor allen Dingen machen Sie es unattraktiv. Das ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen, dass Staatsgelder, dass Steuergelder allen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, und zwar möglichst leicht und möglichst niedrigschwellig, sodass jeder davon profitieren kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will vielleicht auch noch einmal etwas Positives zu dieser Debatte beitragen.
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Ich frage mich ja manchmal bei Ihnen, ob Sie eigentlich noch fröhlich durchs Leben gehen können. Denn die Situation in den neuen Bundesländern ist doch eine ganz andere: Wir haben im Osten seit der Wende eine Abwanderung von 3,7 Millionen Menschen verzeichnet. Wir haben einen Einbruch der Geburtenrate gehabt. Wir haben einen Niedergang der Industrie erlebt; natürlich haben wir das. Aber das können wir heute nicht einfach per Gesetz rückgängig machen, das funktioniert nicht. Nein, wir brauchen kluge Entscheidungen.
Die Trendwende, meine Damen und Herren, die erleben wir bereits seit 2014. Wir haben allein im Bundesland Brandenburg, in meiner Heimat, eine Nettozuwanderung von 15 000 Menschen jährlich. Wir haben 600 000 neue Industriearbeitsplätze in den neuen Bundesländern geschaffen.
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Wir haben eine Angleichung bei den Arbeitslosenzahlen, mehr und mehr, zwischen Ost und West erreicht. Wir haben einen massiven Abbau von Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern bewerkstelligen können, durch die gute Arbeit unserer Bundesagenturen vor Ort, Herr Minister Heil. Das machen die wunderbar, unsere Jobcenter: Sie holen die Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit.
Worauf kommt es an, liebe Kolleginnen und Kollegen? Es kommt darauf an, die Steuerung gut und richtig vorzunehmen. Es reicht natürlich nicht, Bundesbehörden in den neuen Bundesländern anzusiedeln. Nein, wir brauchen natürlich auch eine kluge Ansiedlungspolitik durch Gewerbesteuerförderung, durch allgemeine Bundesförderung.
Wir müssen ein besonderes Augenmerk auf Existenzgründungen in den neuen Bundesländern legen. Lassen Sie uns etwas dafür tun, dass Menschen sich wieder selbstständig machen wollen! Lassen Sie uns etwas dafür tun, damit Menschen ins unternehmerische Risiko gehen und bereit sind, persönlich zu haften! Lassen Sie uns einen guten Umgang pflegen mit unserem Handwerk, mit unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen, die eine besondere Betreuung brauchen, die besonders viel Verständnis brauchen, die besonders viel Unterstützung brauchen! Lassen Sie uns die Digitalisierung, den Ausbau unserer sozialen und unserer wirtschaftlichen Infrastruktur in den neuen Bundesländern weiter vorantreiben! Da sind wir nämlich richtig stark. Wir haben Rückholprogramme, wir haben Menschen, die aus den alten Bundesländern zurückkehren in die neuen Bundesländer, in ihre Heimat, die dort leben wollen, die dort eine Familie gründen wollen, die da ein Unternehmen gründen wollen.
Mit diesem Gedanken, mit dieser Einstellung, mit diesem Geist, wenn Sie so wollen, würde ich hier in diesem Hause gerne weiter Politik machen – aber ganz gewiss nicht mit Ihnen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion.
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Die saßen da drüben, glaube ich, die Arbeiterverräter. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen! Werte Zuschauer in Ost- und Mitteldeutschland! Unser Land ist vielfach gespalten. Dies zeigt sich nirgendwo so klar wie in den Lohn- und Rentenunterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland. Noch immer verdienen die Menschen in den alten Bundesländern für die gleiche Arbeit im Monatsdurchschnitt 15 Prozent mehr als ihre Kollegen in Ostdeutschland; das möge bei den Diskussionen hier, Frau Kollegin Schimke, bitte nicht untergehen.
Auch die Tariflandschaft in den neuen Bundesländern gleicht einer Ödnis: Für ganze 55 Prozent der Arbeitnehmer im Osten gab es schlichtweg keinen Tarifvertrag. Angesichts dieser Entwicklung, wonach sich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine gravierende Ost-West-Lücke in den Lohn- und Lebensverhältnissen manifestiert hat, muss Sozial- und Arbeitsmarktpolitik völlig neu gedacht werden. Ich sage Ihnen: Ostdeutsche sind keine Deutschen zweiter Klasse, viel mehr Ostdeutsche haben gearbeitet und gekämpft für Deutschland und für die Einheit.
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Die kopflose, wirtschaftsschädliche Coronabewältigungspolitik der Bundesregierung mit ihren dramatischen Folgen für den Arbeitsmarkt hat unserer Region im Osten den Rest gegeben. Viele geringfügige wie auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wurden im Rahmen der Maßnahmen vernichtet; den hiervon betroffenen Arbeitnehmern fehlt es nunmehr an existenzsicherndem Einkommen und an Perspektiven.
Fakt ist: Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands beträgt nur 73 Prozent des bundesweiten Durchschnitts. Viele Betriebe in Ostdeutschland haben kaum finanzielle Rücklagen. Sie sind kleiner als vergleichbare Unternehmen im Westen. Ihre Lieferbeziehungen sind nicht stabil. Zudem hat die Außenwirtschaft nur einen vergleichsweise geringen Anteil am gesamten Wirtschaftsaufkommen in unserer Region.
Um weiteren Schaden vom deutschen Volke abzuwenden – und das ist unsere vornehmste Pflicht als gewählte Volksvertreter –, gilt es, wie vom Bundessprecher der AfD und Mittelstandsexperten Tino Chrupalla wiederholt gefordert, unverzüglich eine umfassende Politikwende einzuleiten, deren Kernelement die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone Ost ist. Nur so gelingt es, den Unternehmen Investitionsanreize zu geben, die Binnennachfrage zu stärken und einen Aufschwung zu initiieren, an dem alle durch Wohlstandslöhne teilhaben, und da reden wir nicht von 12 Euro, liebe Linken.
Ihr Antrag verweigert alternative Denkansätze. Er springt viel zu kurz. Er wurde gewogen und für zu leicht befunden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als einer der westdeutschen Redner in dieser Debatte will ich zuerst einmal den Ostdeutschen meinen Respekt bekunden, Respekt vor der Leistung der Ostdeutschen, die Demokratie und Freiheit selbst erkämpft haben und die damit die Voraussetzung dafür geschaffen haben, dass zusammengewachsen ist, was zusammengehört.
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Meine Damen und Herren, ich denke, wir können heute alle sagen: Die deutsche Einheit ist und war ein Gewinn für Ossis und Wessis, für alle Deutschen und für ganz Europa.
({1})
Ich will auch sagen: Respekt,
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Respekt für die Art und Weise, wie die Ostdeutschen den Strukturwandel gemeistert haben, mit vielen Opfern und Brüchen in den Biografien, aber am Ende doch weitgehend erfolgreich. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken. Das Lohngefälle ist vor allem deutlich zurückgegangen. Das hat sehr viel mit der Kraftanstrengung der Ostdeutschen selbst zu tun. Aber es hat auch was mit erfolgreicher Politik zu tun.
Ich muss schon sagen: Ich finde es schade, dass die Kollegin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Müller, wenn sie hier über die Vergangenheit spricht, vergisst, dass gerade unter Rot-Grün – es war ja unser gemeinsamer Bundeskanzler, unsere gemeinsame Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 – so viel in Ostdeutschland passiert ist, gerade in den Bereichen Wissenschaft und Forschungsinfrastruktur. Ich finde es schon schade, dass Sie das hier vergessen haben.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Strukturwandel ist heute ein gesamtdeutsches Thema. Es betrifft die Braunkohleregion in der Lausitz genauso wie die Kohleregion in Nordrhein-Westfalen, die Stahlstandorte in NRW und im Saarland, aber auch die Autoländer Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Die Transformation unserer Industrie, die Transformation unserer Wirtschaft in eine CO2-neutrale Wirtschaft ist eine Herausforderung für unser ganzes Land. Sie ist notwendig dafür, dass wir die Arbeitsplätze der Zukunft am Standort Deutschland sichern.
Dieser Strukturwandel, meine Damen und Herren, kann am Ende nur erfolgreich bewältigt werden, wenn wir ihn als eine gemeinsame Aufgabe unseres ganzen Landes, der gesamten Gesellschaft begreifen, als eine Aufgabe, die wir nur solidarisch bewältigen können, als eine Aufgabe, die wir nur bewältigen können, wenn wir alle dabei mitnehmen und wenn wir diesen Strukturwandel aktiv und gemeinsam gestalten: Unternehmen, Beschäftigte, Gewerkschaften und Politik auf Augenhöhe.
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Dafür brauchen wir eine aktive Industriepolitik, Investitionen in eine nachhaltige Infrastruktur, Innovationen und Gründungen und den Sozialstaat als Partner, der jede und jeden individuell in diesem Wandel unterstützt und Sicherheit und Perspektiven für alle schafft.
Meine Damen und Herren, strukturschwächere Regionen haben wir heute in Ost- und Westdeutschland. Aber als Bundespolitiker haben wir die Verantwortung für gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, und wir haben die Verantwortung für gute Arbeitsbedingungen überall in Deutschland – in jeder Branche, in jeder Region, für Männer und für Frauen.
Wir haben als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit der Einführung des Mindestlohns einen wichtigen Schritt gemacht. Heute müssen wir aber sagen: Die Höhe des Mindestlohns ist unzureichend. – Deswegen bin ich sehr froh, dass Olaf Scholz und Hubertus Heil einen Vorschlag gemacht haben, wie wir dazu kommen, dass der Mindestlohn auf eine Höhe von 12 Euro ansteigt.
Am Ende ist aber Tarifbindung die wesentliche Voraussetzung für gute Arbeit und gute Löhne. Deshalb kämpfen wir auch für allgemeinverbindliche Tarifverträge. Ich sage an dieser Stelle auch: Wir kämpfen weiterhin dafür, dass es in Deutschland einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag auch in der Altenpflege gibt.
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Denn: Funktionierende Tarifpartnerschaft, Frau Schimke – funktionierende Tarifpartnerschaft! –, ist die zentrale Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist es die wichtigste gemeinsame Aufgabe, für eine starke Tarifbindung zu kämpfen – in West, in Ost, in ganz Deutschland.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Hagen Reinhold das Wort.
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Meine sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bartsch, was mich am meisten an solchen Debatten ankotzt: Statt über die größte Chipfabrik Europas in Dresden zu reden, die Produktion von Elektroautos in Leipzig, bald in Brandenburg, statt mal den Vergleich anzustellen, wer tatsächlich zweitklassig ist, Leipzig oder Gelsenkirchen, kommen immer wieder Reden, die den Osten nur schlechtmachen, die Arbeitsverhältnisse im Osten nur schlechtmachen.
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Sie wähnen sich ja in guter Gesellschaft: Die Ministerpräsidentin der SPD in Mecklenburg-Vorpommern macht seit Jahren nichts anderes, als den Leuten zu erklären, dass wir im Osten Niedriglohn und prekäre Arbeitsverhältnisse haben. Das ist zum Kotzen!
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Und ich sage Ihnen, warum: Ich bin Unternehmer in Ostdeutschland. Ich zahle anständige Löhne, wie viele meiner Kollegen. Ich schaffe es gar nicht, mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu mir ins Bundesland zu kriegen, weil die den völlig falschen Eindruck von meinem Bundesland haben. Das ist die Wahrheit!
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Wer die ganze Zeit erzählt: „Da werden keine guten Löhne gezahlt“, der sollte mal in mein Bundesland gehen.
Ganz abgesehen davon: Gucken Sie sich die hundert größten Arbeitgeber in Ostdeutschland doch mal an! Alles meist öffentliche Arbeitgeber! Was für prekäre Arbeitsverhältnisse meinen Sie eigentlich? Den Schulsozialarbeiter, der sechs Wochen arbeitslos ist in den Sommerferien, weil er jedes Jahr nur projektbezogen bezahlt wird? Oder meinen Sie tatsächlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den privaten Firmen in Ostdeutschland? Die können Sie gar nicht meinen; die Firmen zahlen nämlich anständig.
Ich habe gerade wieder einen aus Rheinland-Pfalz eingestellt. Der kam zu mir und hat gesagt: Mensch, ist ja ein Ding, was Sie hier bezahlen! Habe ich gar nicht geahnt! – Der kam nur, weil er, wie viele andere auch, die Ostsee so schön findet, zu mir ins Bundesland. Und dann stellt er nach Monaten auf einmal fest: Das ist ja genial! In Mecklenburg-Vorpommern kostet das Haus nur ein Viertel so viel wie in Stuttgart, München oder Hamburg!
Wer hier offeriert, er wolle Lohnlücken in Regionen schließen, der muss die Wahrheit sagen und sagen, er wolle Mietlücken schließen zwischen Hamburg, Gelsenkirchen, Stralsund und Rostock. Ich will nicht, dass in Stralsund und Rostock die gleiche Miete wie in Hamburg, Berlin und München gezahlt wird; will ich nicht.
Es gibt Unterschiede in diesem Land, und die sind richtig und wichtig so. Deshalb gibt es ein föderales System.
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Aber wer glaubt denn noch, mit schlechten Arbeitsbedingungen könnte er Leute locken? Das ist doch völliger Blödsinn!
Bei mir haben gerade die Hoteliers und Gastronomen viele ihrer Leute verloren. Die sitzen nämlich schon ein halbes Jahr in Kurzarbeit. Die sind jetzt alle in den Lebensmitteleinzelhandel, in die Pflege abgewandert. Das gönne ich ihnen, weil sie im Übrigen nämlich Lust haben, zu arbeiten. Denen geht es gar nicht ums Geld. Die wollen sinnstiftende Arbeit haben. Die wollen einen Auftrag für sich jeden Tag haben. Und die Hoteliers und Gastronomen müssen jetzt die Leute zurückholen. Glauben Sie, das schaffen sie, indem sie denen erzählen, sie zahlen 3,80 Euro? Die zahlen nämlich anständige Löhne. Die werden Riesenprobleme haben, Leute zu finden, wenn dieses Land wieder anfährt.
Wenn solche Leute wie Sie – und dort drüben sitzen noch welche, die erzählen, im Osten ist es so – die ganze Zeit erzählen: „Hier werden nur schlechte Löhne gezahlt“, dann wird man sehen, was das mit der Dienstleistung, mit der Hotellerie und mit der Gastronomie in Ostdeutschland macht. Das ist der Todesstoß. Solche dummen Reden brauchen wir hier nicht.
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Was wir brauchen, das sage ich Ihnen: Handlungskonzepte zur Verbesserung der Arbeitsmarktstrukturen – da bin ich bei Ihnen. Aber ob die Rezepte, die dabei rauskommen, die sind, die Sie mit mir teilen, weiß ich nicht.
Flexiblere Arbeitszeiten. Meine Leute haben Bock, sonntags eine Mail zu schreiben und mittwochs mit ihren Mädels zum Fußball zu gehen;
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dürfen sie aber nicht, weil Leute wie Sie dagegen sind.
Arbeitsstättenverordnung ändern. Jahrelang wehren Sie sich gegen das Homeoffice, obwohl wir gesagt haben: Das ist eine gute Sache. – Jetzt scheuchen Sie per Pflicht die Leute auf den wackeligen Küchenstuhl in der 50‑Quadratmeter-Wohnung, in der man zu viert wohnt, statt auf einen ergonomisch guten Arbeitsstuhl im Großraumbüro, das fast leer steht.
Das sind die Schwächen, die dieser Arbeitsmarkt hat, und zwar überall in Deutschland. Das gilt es abzubauen. Es gilt nicht, solche Reden zu halten wie Sie.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Peter Aumer das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der Linken gelesen habe, dachte ich, es gäbe mal ein Ziel, das uns verbindet. Sie schreiben, Sie wollen die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West, in Nord und Süd. Das ist ein Ziel, das uns eint.
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Aber wenn man dann die Rede von Herrn Bartsch hört, dann merkt man, dass er das nicht meint. Es ist nur ein kleines Wort, aber dieses kleine Wort macht einen großen Unterschied: Da geht es nicht um gleichwertige, sondern um gleiche Lebensverhältnisse. Aber genau das wollen wir nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken; denn das ist der Unterschied zwischen sozialistischer Politik und sozialer Marktwirtschaft, lieber Herr Bartsch. Darüber müssen wir heute reden. Denn gute Arbeit und einen funktionierenden Arbeitsmarkt, das wollen wir alle, egal ob im Westen oder im Osten.
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Ihre Antworten, sehr geehrter Herr Bartsch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, greifen viel zu kurz. Für einen Wessi ist es sicherlich nicht ganz so einfach, die Situation im Osten zu beurteilen.
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– Bitte?
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Wenn man Ihre Rede anhört, ist das fast traurig – die Kollegen vor mir haben es schon gesagt –, dass man den Osten unseres Landes so schlechtredet. Was mich besonders geärgert hat, Herr Bartsch, war der Vergleich mit der DDR. Wenn man Ihren Antrag sehr genau liest, dann – –
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– Ich habe nicht Ihre Rede angesprochen, sondern den Antrag, den Sie geschrieben haben.
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– Ich habe das so gesagt. Sie müssen bitte aufpassen.
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Wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben: „Früher war mal alles besser“, dann ist das für mich ein Vergleich mit der DDR. Diese Devise in Ihrem Antrag teilen wir nicht. Wir wollen ausdrücklich nicht zur Wirtschaftspolitik der DDR zurück,
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sondern wir wollen das weiterführen, was in den letzten Jahrzehnten positiv aufgebaut worden ist.
Herr Bartsch, Sie haben aus dem Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2020 zitiert. Auch ich habe ihn mir zur Vorbereitung dieser Rede sehr gut angeschaut. Wenn man ihn sehr genau liest, dann kann man zu einem anderen Schluss kommen, als Sie das getan haben.
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Nur ein paar Punkte, die ich ansprechen möchte: Der Strukturwandel, meine sehr geehrten Damen und Herren, verlangt den Menschen natürlich sehr viel ab, auch der Politik. Das Umwandeln von staatseigenen Betrieben in privatrechtlich organisierte Unternehmensformen ist sicherlich eine Herausforderung, die wir in diesem Land in den letzten Jahrzehnten hatten. Wenn man sich das Ergebnis anschaut, dann ist es durchaus positiv.
Heute zeigt sich gerade im Osten unseres Landes ein sehr differenziertes Bild der Unternehmerlandschaft: viele engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, eine große Anzahl von kleinen und mittleren Unternehmen; pro Kopf gibt es dort ungefähr genauso viele wie im Westen. Das Problem – darüber werde ich nachher noch reden – ist der Mangel an großen Unternehmen im Osten. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist sicherlich ein Punkt, über den man reden muss; denn hier muss eine positive Wirtschaftspolitik betrieben werden.
Aber der Arbeitsmarkt an sich ist nicht so schlecht, wie Sie ihn darstellen. Nur ein paar Zahlen dazu. Die Arbeitslosenquote im Osten ist seit 2006 rückläufig: 1994 14,8 Prozent, 2005 18,7 Prozent – ein kurzer Anstieg –, 2019 6,4 Prozent. Meine Damen und Herren, ich glaube, das sind Zahlen, die für sich sprechen und die man nicht vergessen darf. Frau Zimmermann redet ja nach mir. Sie hat vorhin in ihrer Zwischenfrage auf die Langzeitarbeitslosigkeit im Osten Bezug genommen. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist gesunken: von 41,1 Prozent im Jahr 2008 auf 31,9 Prozent im Jahr 2019.
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– Das ist noch viel, aber wir sind ja da, um das zu verbessern. Wenn man sich den Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit anschaut: Das waren im Osten 9,5 Prozentpunkte Rückgang, im Westen nur 8,3 Prozentpunkte. Es ist also nicht so, dass man im Osten keine gute Arbeit leisten würde.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf Ihren Punkt „Lohnlücke schließen“ eingehen, Herrn Bartsch. Ich habe Ihnen gut zugehört, aber Antworten haben Sie auch nicht wirklich gegeben. Sie sagen: Wir müssen die Tarifbindung stärken. – Doch die Tarifbindung ist nicht ein Problem zwischen Ost und West, sondern die Tarifbindung ist ein Problem zwischen kleinen und großen und mittleren Unternehmen. Hierzu sehe ich in Ihrem Antrag nichts, sehr geehrter Herr Bartsch.
Ich komme aus einem Wahlkreis, der sehr wirtschaftsstark ist, der sehr viele große Unternehmen hat. Das Problem in meinem Wahlkreis sind die fehlenden Fachkräfte. Sie fehlen den kleinen Mittelständlern und den Handwerkern, weil aufgrund der hohen Tarifbindung sehr hohe Gehälter gezahlt werden. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist auch ein Punkt, über den wir reden müssen. Ich habe vorher mit einer Kollegin geredet, die gesagt hat, dass im Osten im Moment Werbekampagnen dafür gemacht werden, dass Fachkräfte wieder in den Osten zurückkommen, weil sie dort fehlen.
Ihr Antrag beweist mal wieder, meine sehr geehrten Damen und Herren, wie kurzsichtig die Linken-Politik ist. Es ist schade, dass Substanz fehlt und dass man gerade den Osten in dieser Debatte schlechtgemacht hat. Ich sehe schon wieder Ihre Bildchen auf Facebook, Herr Bartsch. Das ist aber leider keine verantwortungsvolle Politik für unser Land, keine verantwortungsvolle Perspektive für den Osten Deutschlands. Wir müssen Perspektiven geben. Wir müssen den Menschen aufzeigen, wie verantwortungsvolle Politik funktioniert. Sie zeigen das leider nicht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über 30 Jahre nach der Wende gibt es für Beschäftigte im Osten immer noch 20 Prozent weniger Lohn als im Westen. Wir dachten, niedrige Löhne wird es vielleicht für eine begrenzte Übergangszeit geben, doch es ist ein Dauerzustand geworden. Damit findet sich Die Linke nicht ab.
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Es geht hierbei nicht um das Schlechtreden des Ostens, sondern es geht darum, hier die Realität aufzuzeigen. Dafür sind Politiker da. Darüber müssen wir hier in unserem Hohen Hause diskutieren.
Die extremste Spitze, meine Damen und Herren, bildet die Bekleidungsindustrie, in der westdeutsche Beschäftigte – Frau Schimke, hören Sie zu! – 70 Prozent mehr als die ostdeutschen Beschäftigten erhalten. Bei der Herstellung von Kfz und bei Zulieferern sind es 45 Prozent. Das nagt an den Menschen im Osten, meine Damen und Herren. Jede Bundesregierung hat das ignoriert. Nehmen Sie das endlich ernst!
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Zwar gibt es auch im Westen Niedriglohnregionen; aber flächendeckend sind niedrige Löhne ein Merkmal der ostdeutschen Bundesländer. Den Menschen im Osten wurde eingeredet: Die Jobs kommen nur, wenn die Löhne niedrig sind. – Wenn das so wäre, dann müssten in Mecklenburg-Vorpommern oder im Erzgebirge die Arbeitsplätze wie Pilze aus dem Boden schießen. Das tun sie aber nicht. Und der Einkauf im Supermarkt oder das Auto sind im Erzgebirgskreis auch nicht 70 Prozent billiger als in Hamburg. Es muss endlich Schluss damit sein, dass die Menschen in Ostdeutschland für dumm verkauft werden.
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Im Osten sind statt dem großen Jobboom, der den Menschen versprochen worden ist, seit Mitte der 90er-Jahre rund eine halbe Million Arbeitsplätze verloren gegangen. Noch immer schließen Betriebe, die nur als verlängerte Werkbänke da sind und von den Zentralen im Westen geleitet werden. Ich sage nur: Haribo. Öffentliche Mittel werden abgegriffen, niedrige Löhne werden gezahlt, die Gewinne werden abgeschöpft, und im Endeffekt werden die Beschäftigten vor die Tür gesetzt. Sie nennen das „soziale Marktwirtschaft“. Wir sagen: Das ist Ausbeutung pur. Sie pressen so den Osten aus.
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Aktuell kämpft die IG Metall für die Angleichung von Ost an West. Wir stehen an der Seite der Beschäftigten; denn sie wollen nicht noch mal 30 Jahre warten. Wir fordern die Bundesregierung auf: Schaffen Sie endlich gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost wie in West!
Danke schön.
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Budde für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation ist in dem Antrag ja richtig beschrieben. Es ist gar nicht gut, dass 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung in den meisten Bereichen Ostdeutschlands immer noch diese dramatischen Lohnunterschiede bestehen.
Warum ist das aber so? Die Antwort darauf ist so klar wie einfach: Wir hatten keinen Strukturwandel – den hatten wir nur in ganz, ganz wenigen Bereichen –, sondern wir hatten Strukturbrüche. Auf Basis von Strukturbrüchen und einer weitgehenden Deindustrialisierung hat sich ein Arbeitsmarkt entwickelt, der von der Basis her schon sehr viel schlechter war. Das hat sich durch die 30 Jahre gezogen. Man sieht ganz klar heute: schwache Basis, schwächeres Ergebnis.
In der Zeit zwischen 2018 und 2020 sind die Westlöhne im Durchschnitt um 20 bis 30 Prozent gestiegen, die Ostlöhne im Durchschnitt um 20 bis 25 Prozent. Das Problem ist die schwache Basis. Wenn man von einer niedrigen Lohnsumme ausgeht, erreicht man am Ende natürlich auch niedrigere Löhne im Heute und Jetzt. – Das ist das erste Problem.
Das zweite Problem ist, dass wir einen ganz schwierigen Branchenmix in Ostdeutschland haben. Was heißt überhaupt „Mix“? Wir werden dominiert von Dienstleistungsbereichen und von zum Teil verlängerten, wenn auch industriellen Werkbänken; trotzdem sind es Zuarbeiten. Wir haben keine Zentralen, und wir haben nur in ganz wenigen Bereichen richtig starke industrielle Standorte. Man sieht auch, wenn man sich die Branchen mal bundesweit anguckt: Es gibt eine Differenz im jährlichen Durchschnittslohn von 56 000 Euro – 80 000 Euro bei den Finanzdienstleistungen und den Versicherungsdienstleistungen, 26 000 Euro im Gastgewerbe. Da sehen wir, warum sich das im Osten so verschärft: weil wir eine ganz schwierige Wirtschaftsstruktur dort haben.
Das dritte Problem – es ist richtig beschrieben – ist die fehlende Tarifbindung. Die ist im Westen schon mies und auch sehr viel schlechter geworden. Das ist nicht gut für das Aushandlungssystem, das wir in der Bundesrepublik haben, das eigentlich ein sehr vernünftiges Aushandlungssystem ist. Und im Osten ist es noch viel schlimmer. Meine Kollegin Daniela Kolbe hat sehr genau beschrieben, woraus das im Osten resultiert.
Aber man sieht an Inseln auch, dass es anders geht. Wenn ich mir zum Beispiel die ostdeutsche Chemieindustrie, die mitteldeutsche Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt ansehe, dann stelle ich fest: Das ist ein industrieller Strukturwandel, der dort stattgefunden hat. Dort sind leistungsfähige, international wettbewerbsfähige Industriestandorte der chemischen Industrie entstanden, die auch heute noch bestehen und sich gut weiterentwickeln werden, die im Strukturwandel auch einen Vorsprung vor dem Westen haben. Dort gibt es eine hohe Tarifbindung, und die Tarifabschlüsse, die dort vereinbart werden, sind inzwischen wegweisend für die gesamte Bundesrepublik, auch für den Westen, und zwar weil sie das Thema Bildung, das Thema Familienarbeit und vieles andere aus einer anderen Realsituation im Osten, auch was Familien angeht, mit einbeziehen.
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– Ich weiß, ich rede zu schnell. Entschuldigung. – Das heißt, es gibt wirklich gute Beispiele. Aber das Tarifsystem mit der Tarifbindung ist eine der wirklichen grundlegenden Voraussetzungen dafür, dass das funktioniert.
Deshalb ist es gut – Daniela Kolbe hat es vorhin gesagt –, dass es inzwischen eine jüngere Generation gibt, die das einfordert, die das selber macht. Wir sind doch zum Teil selber schuld. Wer ist denn hier noch in einer Gewerkschaft? Ich bin in der IG Metall geblieben. Meine Kinder haben zu ihrem 18. Geburtstag die Verdi-Mitgliedschaft geschenkt bekommen.
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Wir brauchen einfach mehr Mitglieder und gute Beispiele.
Im Übrigen muss ich sagen: Diese industriellen Standorte in Sachsen-Anhalt – um hier auch mal mit der Frage aufzuräumen, wer so etwas aufbaut – sind unter einer roten Minderheitsregierung und einer rot-grünen Minderheitsregierung, die von der PDS toleriert wurden, geschaffen worden.
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Hier stimmen also diese ganzen Allgemeinplätze wie „gut“ und „schlecht“ in der Beurteilung nicht immer.
Also: Was brauchen wir? Wir brauchen eine gute aktive Wirtschaftspolitik, eine aktive Industriepolitik; Strukturwandel hat bisher selten funktioniert. Wir brauchen ein Tariftreuegesetz auch auf Bundesebene – ja. Wir brauchen verbindliche Regelungen in den Förderrichtlinien des Bundes. Übrigens gab es die in Sachsen-Anhalt, bis die schwarz-gelben Brüder und Schwestern sie wieder rausgestrichen haben, nachdem sie die Wahl gewonnen hatten. Und wir brauchen natürlich auch die Erhöhung des Mindestlohnes. Aber die Voraussetzung dafür, das alles hinzukriegen, ist leider nicht die Annahme Ihres Antrags, sondern sind andere politische Mehrheiten. Wir werden sehen, ob das klappt.
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Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat nun der Kollege Albert H. Weiler das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Der deutsche Arbeitsmarkt befindet sich in einem Transformationsprozess. Insgesamt gesehen und aus heutiger Perspektive hat sich die Beschäftigung in ganz Deutschland aber positiv entwickelt. Im Zeitraum von 2005 bis 2019 hat sich die Anzahl der Arbeitslosen mehr als halbiert. Durch umfassende Arbeitsmarktreformen ist es uns gelungen, die Quote bis 2019, also noch vor der Pandemie, auf 6,4 Prozent zu senken. Das waren große Anstrengungen, aber wir haben es geschafft, meine Damen und Herren.
Fakt ist: Es gibt strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West. Aber Fakt ist auch: Es gibt strukturelle Unterschiede zwischen Nord und Süd. Das ist nun mal so in einem Staat. Uns fehlen nach wie vor die großen, umsatzstarken Mutterkonzerne. Aber wir haben einen sehr starken Mittelstand, und wir haben Leuchttürme, beispielsweise mit Carl Zeiss in Jena. In Jena wird mehr Geld verdient als in ganz Berlin. Dadurch sind natürlich auch die Mieten höher; das muss man auch betrachten.
Zahlreiche ostdeutsche Unternehmen haben sich eine führende Position in Deutschland und auf dem internationalen Markt erarbeitet, unter anderem in den Bereichen Maschinenbau, Mobilität, IT-, Digitalwirtschaft, aber auch in der Chemie- und der Kunststoffindustrie. Wir ermutigen die ostdeutschen Ministerpräsidenten, noch mehr auf den Bereich Innovation zu setzen und hier die Anreize für Unternehmen zu steigern. So sichern wir vor allen Dingen auch die gut bezahlten Arbeitsplätze. Jedoch von einem „Sonderarbeitsmarkt Ost“ zu sprechen, der getrennt vom übrigen Arbeitsmarkt existieren soll, ist aus meiner Sicht falsch. Ihre permanenten Spaltungsversuche, liebe Linke, zwischen Ost und West sind beschämend. Wir im Osten sind keine Sonderschüler. Laut der BA ist der Arbeitsmarkt in Ost und West auf Annäherungskurs.
Wenn die Linken in ihrem Antrag die Zahlen des IAB anführen, dann hätte ich mir an der Stelle etwas mehr Ehrlichkeit erwartet. Das IAB hat am 7. April 2021, also vor knapp zwei Wochen, eine interessante Statistik veröffentlicht. Diese prognostiziert, dass die Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern 2021 überdurchschnittlich stark sinken wird, und das trotz Corona, meine Damen und Herren. Im Laufe des Jahres soll die Arbeitslosenquote im Osten sogar stärker zurückgehen als in den westdeutschen Bundesländern.
Interessant ist, dass in Thüringen unter einer rot-rot-grünen Regierung die Prognose für die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse unterdurchschnittlich ausfällt. Hier wird mit einem Wachstum von 0,2 Prozent gerechnet. Im Vergleich dazu wird, wenn ich mir den Freistaat Sachsen anschaue, dort ein Wachstum von 0,5 Prozent erwartet. Das sind 150 Prozent mehr als in Thüringen. Sie sehen an diesen Zahlen, meine Damen und Herren, was passiert, was die Linken anrichten, wenn wir eine linke Regierung haben.
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Darüber hinaus fordern Sie ein arbeitsmarktpolitisches Monitoring, das es auch schon längst gibt. Die BA stellt monatlich die aktuellen Entwicklungen des Arbeitsmarktes zur Verfügung. Jährlich berichtet uns der Ostbeauftragte über den Stand der deutschen Einheit; ein ganzes Kapitel des Berichts beschäftigt sich alleine mit dem Arbeitsmarkt. Das BMI, das BMEL und das Bundesfamilienministerium haben den Deutschlandatlas veröffentlicht. Auch hier ist der gesamte deutsche Arbeitsmarkt ein Schwerpunkt.
Ihr Antrag ist ein Schaufensterantrag. Ihr Antrag nimmt keinerlei Bezug auf die aktuelle Lage. Sie blenden die Auswirkungen der Coronakrise vollständig aus,
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vermutlich weil es Ihnen hier an Lösungen fehlt. Aber das ist ja nicht anders zu erwarten; das sind wir gewohnt. Es gilt aber jetzt, Maßnahmen umzusetzen, die den Arbeitsmarkt stabilisieren, und zwar in Ost und West. Unser Instrument der Kurzarbeit – Peter Weiß hat es auch gesagt – wirkt. Es sichert derzeit eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, und zwar in ganz Deutschland.
Und noch etwas: Nie hatten wir in Ostdeutschland so viele Start-ups wie jetzt. Auch das ist doch ein Zeichen, dass wir im Osten nicht dümmer sind, dass wir die Dinge in die Hand nehmen und dass wir es schaffen.
Nochmals: Wir im Osten wollen keine Sonderzone sein, wir wollen eine gleiche Zone sein. Wir wollen keine Sonderschüler sein, und wir wollen auch nicht als Menschen zweiter Klasse tituliert werden. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir machen heute von unserem Recht Gebrauch, Stellung zu nehmen gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz. Wir fordern hier und heute die Bundesregierung auf, im Ministerrat dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zuzustimmen. So kommen wir – hoffentlich – zu einem Abschluss bis Ende dieses Monats. Und damit wäre dann der – vorerst – letzte Akt des Brexits vollzogen. Das Vereinigte Königreich ist ja bereits aus der Europäischen Union ausgeschieden. Mit diesem Handels- und Kooperationsvertrag wird dann auch die Grundlage für die künftigen Beziehungen festgelegt – nach fast fünf Jahren.
Das Abkommen, das nun vorliegt, ist im Großen und Ganzen ausgewogen. Ich glaube, dass wir damit gut leben können. Wichtig für uns heute ist, dass die ausreichende Beteiligung des Deutschen Bundestages bei wichtigen Entscheidungen gesichert bleibt. Das sage ich insbesondere mit Blick auf den Partnerschaftsrat – das gemeinsame Gremium des Abkommens.
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Kolleginnen und Kollegen, nach fünf Jahren ist dies ein Zeitpunkt, wo wir kurz innehalten sollten und vielleicht eine Art Zwischenbilanz ziehen können – oder uns überlegen sollten, was wir in den letzten fünf Jahren gelernt haben. Ich will hier drei Punkte nennen:
Erstens. Populismus ist nicht harmlos. Populismus ist keine Folklore. Was als Rivalität zweier politischer Kontrahenten – David Cameron und Boris Johnson – begann, hat am Ende zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geführt. Die Brexit-Kampagne hat gelogen, was das Zeug hält. Erinnert sei hier an den legendären NHS-Bus. Nach dem Austritt aus der Europäischen Union hat sich weder das britische Gesundheitswesen noch die britische Wirtschaft insgesamt in blühende Landschaften verwandelt. Ganz im Gegenteil: Das britische Pfund hat dauerhaft abgewertet. Gerade die Bezieher niedriger Einkommen mussten signifikante Kaufkraftverluste hinnehmen – ein hoher Preis für diejenigen, die es sich am allerwenigsten leisten konnten.
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Der Traum von einem Singapur an der Themse ist ausgeträumt. Falls er je real würde, dann nur auf Kosten von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards. Für Lieferketten europäischer Unternehmen spielt es eben doch eine Rolle, ob die Zulieferung aus dem Binnenmarkt erfolgt oder von einem Drittstaat.
Populismus ist nicht harmlos, und ich mache mir große Sorgen, dass dieser Populismus, gespickt mit Nationalismus, den Nordirland-Konflikt wieder aufflammen lässt.
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Wir haben zweitens gelernt: Der europäische Zusammenhalt ist stärker, als viele Beobachter anfangs dachten. Auch die Regierungen in London sind davon überrascht worden. Der britischen Führung ist es nicht gelungen, die Verhandlungen zu bilateralisieren. Michel Barnier und sein Team konnten sich auf den Rückhalt aller Mitgliedstaaten verlassen. Obwohl die zweitgrößte Volkswirtschaft die Union nun verlassen wird,
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ist die europäische Integration in strategischen Bereichen vorangekommen: Weil die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich gewachsen ist. Weil die Wirtschaftsunion weiter vertieft wurde. Weil wir gerade in der Coronakrise eine weltweit einmalige und beispiellose Solidarität unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union erleben.
Am Mittwoch dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen den Wiederaufbaufonds abgelehnt. Auch das Organstreitverfahren der AfD wird keinen Erfolg haben; das kann ich Ihnen hier jetzt schon sagen.
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Der Wiederaufbaufonds wird kommen.
Und drittens. Europa ist keine Insel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Während wir mit dem Brexit hier die letzten fünf Jahre beschäftigt waren, ist China zu einem geostrategischen Rivalen ausgewachsen. Die Auseinandersetzung mit China – hoffentlich öfter kooperativ als konfrontativ – wird das Thema der nächsten Jahre, vielleicht der nächsten Jahrzehnte sein.
Solche intensiven Phasen der Selbstbeschäftigung wie beim Brexit sollten wir uns nicht mehr leisten.
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Was wir jetzt brauchen, ist eine robuste, eine autonome Europäische Union. Sie bietet den Schutz, um uns sicher durch das raue geostrategische Fahrwasser der Zukunft zu bringen.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Mit dem Kapitän?
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Brexit war wahrlich ein Fest der Demokratie.
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– Das ist Ihnen fremd, Herr Kollege. Aber in freier Volksabstimmung haben sich die Briten entschieden, dieser übergriffigen Europäischen Union mit ihrem komplett perversen Demokratieverständnis,
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mit ihren ständigen Eingriffen in Angelegenheiten der Mitgliedstaaten, mit ihrer inkompetenten Kommission den Rücken zu kehren.
Ehrlich gesagt, hier können wir auch mal unseren britischen Freunden dazu gratulieren, meine Damen und Herren.
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Denn die Briten haben sich wahrlich viel erspart. Sie ersparen sich Quoten darüber, wie viele illegale Migranten sie in ihrem Land aufnehmen müssen. Sie sparen sich auch Zwangshaftungen für milliardenschwere Dauerförderprogramme für Länder wie Spanien, die nach dem Motto operieren: „Wir finanzieren aus EU-Geldern mal eben die Viertagewoche“, während in Deutschland mittlerweile manche schon sechs Tage arbeiten müssen, damit sie ihre Familie durchbringen können. Das ist keine Europäische Union, wie sie für uns gut wäre.
Wir als AfD stehen dafür, dass wir Deutschland auch aus dieser Europäischen Union hinausführen können in eine bessere und unabhängige Zukunft.
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Und das aus gutem Grund. Denn wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir sagen: Die EU kann es nicht. Wir haben es erst kürzlich wieder gesehen beim Impfstoffdebakel. Ursula von der Leyen kann offensichtlich nicht einmal Verträge gut verhandeln. Es ist einfach danebengegangen. Die Briten sind wesentlich weiter als wir. Ursula von der Leyen ist auch verantwortlich für unterbrochene Lieferketten; Herr Hakverdi hat es gesagt. Sie besteht nämlich auf dieser Anwendung des Protokolls über Irland, was mittlerweile schon der DIHK kritisiert und für absolut ungut befindet. Auch im Außenpolitischen ist Ursula von der Leyen absolut unfähig. Das hat ihr Türkei-Besuch gezeigt.
({4})
Im Übrigen – über das Sofa-Gate ist ja in den Medien rauf- und runterberichtet worden –: Ich glaube nicht, dass Präsident Erdogan, den ich persönlich extrem ablehne, frauenfeindlich ist.
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– Nein. – Er hat einfach Ursula von der Leyen ihren Fähigkeiten entsprechend platziert.
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Meine Damen und Herren, diese Übergriffigkeit, die ich erwähnte, zeigt sich insbesondere auch darin, wie dieses Handels- und Kooperationsabkommen jetzt verabschiedet werden soll. Es ist verhandelt worden zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Über das Wie breite ich jetzt mal den Mantel des Schweigens aus; das ist nämlich ebenfalls peinlich für Frau von der Leyen.
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Auf jeden Fall sind dort Inhalte verhandelt worden. Wir sind uns alle einig: Das ist eines der wichtigsten Abkommen überhaupt, weil Großbritannien ein wichtiger Partner für uns ist. Da sind viele Regelungen zu Wirtschaft und Handel drin, aber eben auch zu Dingen, die völlig in die nationale Souveränität fallen wie zum Beispiel die soziale Sicherheit. Und es ist üblich, dass solche Assoziationsabkommen in nationalen Parlamenten aller Mitgliedstaaten abgestimmt werden. Jetzt aber will das die EU-Kommission plötzlich nicht mehr, definiert es als „Nur-EU-Abkommen“ und erfindet fadenscheinige rechtliche Gründe, warum das möglich sei.
Ehrlich gesagt, was ich am Verwerflichsten finde, ist, dass Sie von CDU/CSU und SPD sich auch noch an die Spitze dieses Zuges setzen, statt dem zu widersprechen, weil Sie eben nicht wollen, dass dieses Abkommen in diesen Mauern verhandelt wird, weil Sie nicht wollen,
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dass das Parlament, das dem deutschen Volke verpflichtet ist, darüber entscheidet, weil Sie das alles nicht wollen; und das ist inakzeptabel.
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Das ist übrigens genauso inakzeptabel wie die angebliche rechtliche Begründung. Da wird ja ausgeführt, dass es eine konkurrierende Gesetzgebung gebe und dass die EU-Kommission, wenn sie mal Rechtsetzungsakte erlassen hat, dann quasi darüber verfügen könne und dann auch alleinig dafür zuständig sei, weil das eben das nationale Recht überforme; so haben Sie es in der Drucksache ausgedrückt. Mal ganz ehrlich? Genau da ist doch das Problem. Wir von der AfD wollen nicht, dass gesetztes, demokratisch gewähltes Recht von irgendwas überformt wird. Wir wollen, dass die Menschen demokratisch darüber entscheiden können, wie es in ihrer Zukunft weitergeht. Deswegen werden wir keine Stellungnahme akzeptieren, die mal eben EU-only durchwinkt, die durchwinkt, was diese Bundesregierung auch falsch eingefädelt hat.
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Erstens. Wir brauchen dieses Abkommen hier zur Entscheidung.
Zweitens. Wir brauchen bilaterale Verträge mit Großbritannien, damit wir zum Beispiel Jugend- und Studentenaustauschprojekte einsetzen können, die deutlich besser sind als Erasmus.
Drittens. Deutschland sollte auch diese Europäische Union zugunsten einer viel besseren Zukunft verlassen.
Haben Sie herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ursula Groden-Kranich das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens mit Blick auf die seit dem Brexit wieder aufflammenden Krawalle in Nordirland sollte es auch den letzten Brexiteern und den Rechtspopulisten der AfD und in Europa klarwerden: Der Brexit ist eben kein Gewinn. Für niemanden.
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Weder für die Fischer in Dover noch für die Spediteure aus Osteuropa oder den Mittelstand in Deutschland oder die Winzerinnen und Winzer meines Wahlkreises. Denn uns allen ist während der Brexit-Verhandlungen bewusst geworden: Die EU braucht Großbritannien, und Großbritannien braucht die EU.
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Nun gilt es für uns, nach vorne zu schauen, gemeinsam mit unseren Freundinnen und Freunden im Vereinigten Königreich. Aber wie? Wir brauchen eine Positivagenda. Ganz konkret:
Erstens: der Klimaschutz. Der Klimaschutz ist seit dem Brexit auf der anderen Seite des Ärmelkanals nicht weniger geworden. Hier können wir eng zusammenarbeiten. Wir in der Europäischen Union haben 2005 das weltweit erste und größte internationale Emissionshandelssystem eingeführt. Mehr als drei Viertel des internationalen Kohlenstoffhandels werden hier abgewickelt. Das ist eine Erfolgsstory made in Europa. Damit waren und sind wir international Vorreiter. Mit dem Brexit ist London aus diesem Geflecht herausgefallen. London möchte nun ein eigenes Emissionshandelssystem für die Industrie und die Energiewirtschaft etablieren.
Unseren Freunden auf der Insel rufe ich zu: Lasst uns beim Klimaschutz Hand in Hand zusammenarbeiten. Es gibt keinen britischen oder schottischen, keinen deutschen oder französischen, es gibt nur Klimaschutz mit und für alle.
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Wir benötigen unbedingt eine Verlinkung der beiden Systeme. Getrennte Systeme bedeuten unterschiedliche Anreizsysteme und unterschiedliche CO2-Preise mit all ihren Folgen. Wir wollen eine enge Partnerschaft mit fairem Wettbewerb.
Und diese Partnerschaft brauchen wir auch zweitens in der Außenpolitik. Das Vereinigte Königreich will „Global Britain“ werden. Das unterstreicht Premierminister Johnson bei jeder Gelegenheit. Aber was heißt das? Ziel ist wohl die selbstbewusste Durchsetzung der eigenen Interessen weltweit – wirtschaftlich, diplomatisch und sicherheitspolitisch.
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Die Briten haben dafür auch die Voraussetzungen: ihre Army, den UN-Sicherheitsratssitz und den Commonwealth. Johnson versucht, das Vereinigte Königreich als mutigen außenpolitischen Akteur mit Wertekompass zu positionieren, sei es durch das Immigrationsangebot an einen Teil der Hongkonger Bevölkerung oder die ganz aktive Anwendung von Menschenrechtssanktionen. Und hier könnten wir gemeinsam agieren; denn das Wichtige an Menschenrechtspolitik ist ja, dass sie umso besser funktioniert, je mehr mitmachen. Deshalb sollten wir einen engen außenpolitischen Abstimmungsprozess mit dem Vereinigten Königreich suchen, nicht nur bei Militäreinsätzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch etwas Grundsätzliches sagen: Mit dem Brexit sind viele formelle Foren der Zusammenarbeit und des Austauschs weggefallen. Das spüren wir alle. Dabei verbindet uns so viel: Geschichte, Demokratie. Was Generationen vor uns erst erringen mussten, ist heute eine Freundschaft, die für viele so selbstverständlich ist. Um dieser Fülle der Beziehungen zu London gerecht zu werden, plädiere ich für die Ernennung einer oder eines Großbritannienbeauftragten der Bundesregierung. Ob Klimaschutz oder Verteidigungspolitik, ob Verkehrs- oder Forschungspolitik – wir brauchen eine Ansprechpartnerin, die die Beziehungen zu Großbritannien pflegt und ausbaut und mögliche neue Strukturen mit den europäischen Partnern aufbaut, zum Beispiel in der Bildungsmobilität. Dafür setzen wir uns ein. Lassen Sie uns gemeinsam an den künftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich arbeiten!
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Hacker von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist der Brexit ernüchternde Realität in unserem vereinten Europa. Seit 112 Tagen spüren wir die klaffende Lücke, die der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union hinterlassen hat. An diese neue Realität in Europa müssen wir uns erst noch gewöhnen, und – anders als bei den Kollegen der AfD – uns fällt dies schwer.
Zäheste Verhandlungen, unzählige Abstimmungen und das notorische Überschreiten von Deadlines haben allzu oft Zweifel daran geweckt, ob der politische Wille zu diesem Abkommen auf der britischen Seite überhaupt vorhanden ist. Mit einer Last-Minute-Entscheidung pünktlich zum Heiligen Abend konnte das Schlimmste vielleicht noch verhindert werden. Das war die gute Nachricht am Ende des letzten Jahres. Trotzdem: Solche Brechstangenentscheidungen dürfen sich auf keinen Fall wiederholen.
Wir Freie Demokraten, liebe Mitglieder der Großen Koalition, missbilligen ausdrücklich die durch die Verhandlungsführung von Boris Johnson immer wieder erfolgte Brüskierung des Europäischen Parlaments.
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Jedem war doch klar, dass eine sorgfältige Prüfung und Befassung eines so folgenschweren 1 246 Seiten langen Vertrages durch das Europäische Parlament an den sieben Tagen zwischen Heiligabend und Silvester nicht möglich ist. Diese Klarstellung vermissen wir aber im Antrag der Koalition.
Die Anhörung im Europaausschuss hat die großen Defizite des Vertrags offengelegt. Das Fazit der Verfassungsrechtler? Fatal. Das Fazit der Wirtschaft: Naja, der Vertrag ist besser als gar kein Vertrag. – Ja, es gibt keine tarifären Hemmnisse beim Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich und das Level Playing Field bleibt gewahrt. Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger auf beiden Seiten des Kanals bleibt durch die Kooperation im Bereich der inneren Sicherheit gewährleistet. Die 2019 beschlossene Einigung zum Austrittsabkommen garantiert die Freiheiten und Sicherheiten der Menschen, die sich vor dem Brexit darauf verlassen haben. Aber: Das Abkommen entspricht mehr einer Minimallösung. Zu viel ist offengeblieben: Wie sieht es mit der zukünftigen Zusammenarbeit in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aus? Binationale Lösungen, die Herr Maas verhandelt, können die intensive Zusammenarbeit von EU und VK nicht ersetzen.
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Dass solche Verhandlungen offenbar schon begonnen hatten, als Michel Barnier noch für die gesamte EU verhandelt hat, empfinden wir als Skandal.
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Kaum hat das Vereinigte Königreich die EU verlassen, wallen die Spannungen in Nordirland wieder auf. Wir müssen alles tun, damit wir diesen, wenn auch fragilen Frieden wahren können und vernünftige Lösungen für Nordirland finden.
Und: Wie wollen wir auf beiden Seiten des Ärmelkanals im generationenübergreifenden Dialog bleiben, wenn die junge Generation von Britinnen und Briten durch den Austritt aus Erasmus+ zu den größten Verlierern des Brexit gehört?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem in den letzten Jahren in unseren Beziehungen zu Großbritannien vor allem das Trennende betont wurde, müssen wir in den nächsten Jahren das Verbindende herausarbeiten, das Gemeinsame herausstellen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die Menschen zueinander finden, dass die junge Generation den Wert des geeinten Europas erfährt und erkennt. Wenn uns das gelingt – letzter Satz, Frau Präsidentin –, können wir vielleicht eines fernen Tages wieder über das sprechen, was sich die meisten zumindest von uns wünschen: eine erneute Annährung des Vereinigten Königreichs an die Europäische Union, vielleicht auch über einen Beitritt.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ja, die Koalition hat, so wie die Grünen, in ihren Anträgen richtige Verweise auf klare Klima- und Sozialstandards im Abkommen gegeben. Aber natürlich hätte das Abkommen ins Parlament gehört, und zwar in alle Parlamente, auch hier in den Bundestag. Und es fehlt die Verbindlichkeit. Wenn man Klimaschutz wirklich mit den Menschen machen möchte – es geht nicht anders, es geht nicht über Eliten, und es geht nicht nur übers Schüren von schlechtem Gewissen –, dann muss man das verbindlich festschreiben. Klimaschutz geht nur sozial.
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Da sind wir beim zentralen Problem, wie es zum Brexit kam. Das geht leider die Bundesregierung in ihrem Antrag nicht an. Die Unzufriedenheit und der Zorn, die zum Brexit führten, gingen nicht nur auf ein Projekt der Ausschöpfung elitärer und chauvinistischer Potenziale von rechts zurück, sondern es gab dabei eben auch eine sehr große Beimischung von Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet hatten und sich dann einfach abgehängt und verachtet fühlten, Menschen, die weniger laut über das Ende der Welt klagen als über das Ende des Monats, weil sie nicht wissen, wie sie über die Runden kommen. Es ist die mangelnde Sozialstaatlichkeit, die den Gegnern jeglicher europäischer Integration die Hasen in die Küche treibt.
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Wenn ich etwas zur Sozialstaatlichkeit sage, spreche ich nicht nur über Beiwerk. Sie ist von den Müttern und Vätern der meisten Verfassungen in der EU als Replik auf den Faschismus in den 40er-Jahren in die Verfassungen – so auch ins Grundgesetz mit den Artikeln 14 und 15 – implantiert worden. Warum? Weil man eine Kapitalübermacht begrenzen wollte, die sich erstens einen Hitler finanziert, zweitens auf Fingerschnipp einen Weltkrieg initiiert – das sage ich im Jahr des 80. Jahrestages des Beginns des Überfalls auf die Sowjetunion –, und die drittens den Alltag der Menschen durch das Auspressen beim Lohn bis zur Zwangsarbeit, bis zur Sklavenarbeit geprägt hat. Deswegen findet sich die Sozialbindung des Eigentums im Grundgesetz und in vielen anderen Verfassungen. Das gehört in das Primärrecht der Europäischen Union, wenn Sie die Herzen der Menschen, und zwar der Menschen, die sich wirklich vor dem Brexit in Großbritannien ausgegrenzt fühlten, jetzt zurückerobern möchten.
Es ist also ein Gebot der Sozialstaatlichkeit und des Antifaschismus – das sage ich gerade in diesem Jahr –, dass das, was im Grundgesetz, in der italienischen Verfassung, der spanischen Verfassung, in anderen Verfassungen möglich ist, im Primärrecht der EU festgelegt wird.
Einige waren vielleicht schadenfroh, dass sich die Labour Party zerlegt hat, über das soziale Gefälle und über den Brexit. Aber allmählich zerlegt sich auch die ganze EU, wenn im Streitfall soziale Grundrechte, Löhne, Streikrecht, Kapitalsteuern immer hinter dem freien Kapital zurückbleiben. Schauen Sie sich doch das Impfchaos an: Das weckt nun wirklich kein Vertrauen in die EU.
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Kollege Dehm!
Der letzte Satz, liebe Frau Präsidentin: Deswegen lehnen wir in letzter Konsequenz den Antrag ab. Die Linke kämpft an der Seite der Gewerkschaften für die soziale Fortschrittsklausel, die die Gewerkschaften wollen, und an der Seite der Klimabewegung für Umweltstandards, die nicht mehr auf dem Altar des großen Kapitals und der Konzerne geopfert werden können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Franziska Brantner das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Wochen, Monaten, Jahren des Ringens, ja des Hängens und Würgens, haben wir ein Ergebnis. Dieses Ergebnis garantiert weitere Wochen, Monate und Jahre des Ringens, ja des Hängens und Würgens. Denn dieser Vertrag ist fragil. Er beinhaltet schwache Institutionen und sehr viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Es gibt keinerlei Rolle für den Europäischen Gerichtshof. Bei dem sehr, sehr wichtigen Level Playing Field, wo es darum geht, dass man gegenseitig kein Dumping betreibt, gibt es genau nur eine Instanz, ein Panel aus drei Personen. Das ist es. Und das muss urteilen mit unbestimmten Begriffen wie „signifikante Divergenz“ und „Material Impact“, die es sonst im Handelsrecht eigentlich gar nicht gibt.
Wir sehen ja schon, dass Boris Johnson sich einen feuchten Kehricht um die Verträge zum Nordirland-Protokoll kümmert.
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Das Europäische Parlament wird nächste Woche trotzdem abstimmen und zustimmen, weil die Kommission argumentiert, dass man mit dem Vertrag mehr Möglichkeiten habe, gegen die britische Regierung vorzugehen, als ohne, nämlich über den Streitbeilegungsmechanismus. Aber dann müssen wir auch alle jetzt gemeinsam erwarten, dass die Kommission einlenkt
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und diese Verfahren wirklich einleitet, damit wir klar zeigen können, dass Verträge dafür da sind, dass man sich daran hält.
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Das Gleiche gilt mit Blick auf die noch ausstehenden Äquivalenzen bei der Finanzmarktpolitik und beim Datenschutz. Es wird nicht nur darauf ankommen, sich die Regeln auf dem Papier anzuschauen – die werden wahrscheinlich okay sein –, sondern auch darauf, sich die Aufsicht und die Durchsetzung dieser Regeln anzuschauen; denn da geht es um die Stabilität unserer Finanzmärkte. Die dürfen wir nicht riskieren und in die Hände von Boris Johnson legen.
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Es wird auch darauf ankommen, das Europäische Parlament in der Umsetzung zu stärken. Das Europäische Parlament hat leider bis jetzt nur eine Deklaration der Kommission dazu bekommen. Aber eigentlich wäre eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Rat, Kommission und dem Europäischen Parlament richtig. Die Bundesregierung muss da jetzt von der Bremse und dem endlich zustimmen.
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Ich kann mich den Ausführungen des Kollegen Hacker nur anschließen: Ich fand es sehr enttäuschend, dass die deutsche Bundesregierung schon bilateral verhandelte, während die Europäische Kommission noch nicht fertig war. Ich kann wirklich von hier aus nur noch mal appellieren: Ergreifen Sie jetzt nicht weitere bilaterale Schritte! Solange die britische Regierung der Europäischen Kommission noch ein richtiges Büro in London verweigert, können wir nicht bilateral weiter vorangehen.
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Das müssen wir jetzt gemeinsam strategisch durchstehen. Das ist auch unsere gemeinsame Aufgabe.
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Ein letzter Punkt: Wir schließen uns dem Antrag der FDP zu Erasmus an. Auch wir sind der festen Überzeugung, dass wir diesen Austausch gemeinsam fördern müssen, und wir werden alles dafür tun, dass wir in Zukunft wieder Europäerinnen und Europäer sowohl auf dem Kontinent als auch auf der Insel haben werden, die sich an Verträge halten, damit wir dann wieder gemeinsam gestärkt arbeiten können. Das ist unsere Unterstützung, und wir würden uns freuen, wenn Sie auch unsere Stellungnahme unterstützen.
Danke schön.
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Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Katrin Staffler.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei allen unterschiedlichen Auffassungen, die es zu diesem Thema gibt und die ja auch in der Debatte jetzt wieder sehr deutlich geworden sind: Eins kann hier ja, glaube ich, niemand bestreiten – noch nicht mal Sie hier von der rechten Seite –: Deutschland, die Staaten der Europäischen Union und das Vereinigte Königreich haben eine historisch gewachsene und historisch auch immer eng gewesene Zusammenarbeit. Bei allen Unterschiedlichkeiten und auch bei allen Schwierigkeiten, die wir jetzt sehen, wiegen aus meiner Sicht diese gemeinsame Historie und die Errungenschaften aus der gemeinsamen Zusammenarbeit schwerer als die Herausforderungen, denen wir jetzt gerade gegenüberstehen. Deswegen müssen wir alles daransetzen, dass wir auch in Zukunft wieder vertrauensvoll und eng mit dem Vereinigten Königreich zusammenarbeiten können.
Leider erleben wir in diesen Wochen auch immer wieder – das erleben auch viele EU-Bürger –, wo die Probleme in der neuen Konstellation liegen. Viele von uns werden inzwischen bei dem einen oder anderen Thema am eigenen Leib erfahren haben – erfahren haben müssen –, dass Dinge, die vor dem Brexit reibungslos funktioniert haben, die teilweise wie selbstverständlich innerhalb der Europäischen Union gelaufen sind, heute eben einfach nicht mehr so einfach geregelt werden können. Manchmal sind es kleine Dinge, zum Beispiel die Onlinebestellung, die nicht mehr so einfach klappen wie früher; das ist ärgerlich, aber okay. Manchmal sind es aber auch essenzielle Sachen, die heute nur noch mit Schwierigkeiten oder eben gar nicht mehr funktionieren.
Eines dieser Beispiele erleben wir derzeit sehr leidvoll im Bereich Bildung und Forschung; der Kollege Hacker hat es angesprochen. Mit der Absage von Großbritannien an die künftige Teilhabe am Erasmus-Programm haben sich auch die Rahmenbedingungen für den internationalen Austausch grundlegend geändert. Fakt ist, dass das Vereinigte Königreich mit 30 000 Austauschstudierenden aus der EU pro Jahr das drittbeliebteste Zielland in Europa ist. Aus Deutschland sind 2017 3 500 Studierende im Rahmen von Erasmus nach Großbritannien gegangen; 12 000 Studierende absolvierten in den vergangenen Jahren sogar ihr gesamtes Studium im Vereinigten Königreich.
Ich habe letzte Woche einen Austausch mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst gehabt. Dort stellt man schon seit der Abstimmung über den Brexit fest, dass es einen Rückgang von längeren Aufenthalten in Großbritannien gibt. Gleichzeitig steigen allerdings die Anträge auf Stipendien dafür. Die Zahlen zeigen uns, dass das Interesse der Studierenden und der Forschenden an einem Aufenthalt im Vereinigten Königreich nach wie vor groß ist.
Von einem funktionierenden Austausch – das wissen wir – profitieren immer beide Seiten. Damit das auch in Zukunft so bleiben kann, müssen wir dringend eine Reihe von zentralen Problemen angehen, zum Beispiel das Thema Studiengebühren und die neuen Visabestimmungen, um nur ein paar zu nennen. Für die Zukunft müssen wir uns aber die Frage stellen, mit welchen Instrumenten der Austausch mit Großbritannien in Zukunft gestaltet werden kann – zum Wohle der jungen Menschen und zum Wohle der Europäischen Union, zu deren Erfolg die jungen Menschen mit ihren im Ausland gesammelten Erfahrungen beitragen werden. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollegin Staffler. – Das Wort geht an Markus Töns von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar nicht, wie häufig wir über Fragen des Brexits, des Austrittsabkommens und auch dieses Abkommens hier im Plenum und auch im Ausschuss debattiert haben. Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht.
Der Abschluss dieses Vertrages ist nicht das Ende der Beziehungen mit Großbritannien – das muss man, glaube ich, mal herausstellen –, sondern der Beginn neuer Beziehungen, die sich in den kommenden Jahren weiterentwickeln müssen. Dass das nicht das ist, was wir uns alle gewünscht haben, dass das nicht das ist, was wir erhofft hatten, bevor der Brexit zustande kam, wissen wir alle. Aber der Brexit führt dazu, dass wir die Beziehungen auf europäischer Ebene jetzt weiter vorantreiben müssen.
Ich kann das auch aus eigener Erfahrung sagen: Als Nordrhein-Westfale weiß man, dass es dieses Bundesland ohne die Briten so, wie es aussieht, gar nicht geben würde. Dieses Bindestrichland wäre ohne die Briten nie entstanden. Ich weiß von meiner Mutter, von meinen Eltern, dass die Beziehungen intensiv waren, auch in jener Zeit. Es ist, glaube ich, ganz wichtig, noch mal zu spiegeln, was das auch historisch bedeutet.
Ich will an dieser Stelle eines eindeutig klarstellen, weil das, glaube ich, an einigen Stellen hier etwas kritisch formuliert wurde: Das ist ein EU-only-Abkommen. Wir sollten endlich mal zur Kenntnis nehmen, dass es Verträge gibt, an die wir uns zu halten haben. Das sind die europäischen Verträge.
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Wir sind Teil Europas. Und das ist wichtig für uns, gerade für Deutschland ist das wichtig.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder Zwischenfrage vom Kollegen Kleinwächter von der AfD?
Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt. Also nein.
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Das EP ist zuständig, und es wird nächste Woche über diesen Vertrag entscheiden. Ich finde, es ist richtig, dass wir diese demokratische Stärke des Europäischen Parlaments auch noch mal herausstellen. Das will ich an dieser Stelle sagen.
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Dass das Abkommen nicht perfekt ist, das gebe ich gerne zu. Wir haben in unserem Antrag hier deutlich gemacht, wo noch nachgebessert werden muss. Wir reden hier nämlich unter anderem darüber, dass gerade das Nordirland-Abkommen, das Karfreitagsabkommen, stark gefährdet ist. In den letzten Wochen haben wir das gesehen. Wir müssen uns darum kümmern, dass es eben nicht infrage gestellt wird. Dazu muss auch die britische Regierung ihren Beitrag leisten.
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Wir müssen den Finanzmarkt ordentlich regeln; auch das ist noch nicht geregelt. Wir wollen kein Singapur vor der europäischen Haustür. Das muss garantiert werden.
Und wir brauchen auch eine stabile Außen- und Sicherheitspolitik; Kollege Hacker hat es ja schon gesagt. Sicherheitsfragen sind geklärt; aber Fragen der Sicherheitspolitik, die sich aus der Außenpolitik ergeben, sind nicht ganz geklärt. Hier brauchen wir eine Klärung. Das geht – auch das sage ich mit aller Deutlichkeit – nicht bilateral, das geht auf europäischer Ebene. Das muss durch die Europäische Union in den Verhandlungen mit Großbritannien gewährleistet werden. Das ist ganz wichtig an der Stelle.
Ich will am Ende noch etwas sagen, was aus meiner Sicht ganz wichtig ist. Der Kollege Hacker hat vorhin einen hoffnungsvollen Ausblick gegeben. Wir alle haben uns nicht träumen lassen, dass es zum Brexit kommt, aber er ist gekommen, und er ist wirklich das Schlechteste, was sich die Briten je haben einfallen lassen. Davon bin ich bis heute zutiefst überzeugt. Man sieht das übrigens auch, wenn man sich die Zahlen anguckt. Aber Kollege Hacker hat einen hoffnungsvollen Ausblick gemacht, den ich gerne teilen möchte. Thomas Hacker hat die Frage in den Raum gestellt, ob die Briten nicht irgendwann wieder zurückkommen in die Europäische Union, in die europäische Familie. Ich würde das sehr begrüßen. Sie haben es uns in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht immer leicht gemacht; aber sie haben auch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union geleistet. Deshalb würde ich mir das wünschen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Töns. – Zum Abschluss der Debatte redet Dr. Christoph Ploß von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was bedeutet der Brexit für unseren Wohlstand? Was bedeutet der Brexit für unsere Arbeitsplätze und für unsere Unternehmen? Das sind Fragen, die sich viele in unserem Land in den vergangenen Monaten immer wieder gestellt haben. Viele hatten Ängste, dass der Brexit negative Folgen auch für Deutschland hat. Daher ist es wichtig, dass wir jetzt ein solches Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien haben.
Aber dabei sollten wir es nicht bewenden lassen. Es gab schon einige Redner, die in der Debatte völlig zu Recht den Blick auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gelenkt haben; denn wenn wir uns die großen Herausforderungen unserer Zeit mal anschauen, wenn wir uns in der Welt umschauen und sehen, welche Konflikte es gibt, dann müssen wir feststellen, dass dort häufig Großmächte außerhalb des europäischen Kontinents dominieren: die Vereinigten Staaten von Amerika, China, Russland, manchmal auch andere Staaten.
Aber sowohl Deutschland als auch die Europäische Union insgesamt sind häufig nur Zaungast. Das konnte man in jüngster Zeit am Beispiel des Bergkarabach-Konflikts sehen. Da haben weder Deutschland noch Großbritannien noch irgendein anderes europäisches Land wirklich stattgefunden. Wir werden nur eine Chance haben, auch unsere europäischen Werte bei der Beilegung solcher Konflikte einzubringen und dafür zu sorgen, dass sich die europäischen Werte verbreiten, wenn wir uns gleichgesinnte Partner suchen. Ich glaube, da wird Großbritannien auch in Zukunft sehr, sehr wichtig sein.
Daher ist es auch so wichtig, dass wir als Deutscher Bundestag sagen, dass das, was mit dem Abkommen im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik beabsichtigt wird, noch nicht ausreichend ist; denn wir werden die Briten gerade auf diesem Feld sehr dringend brauchen. Ich bin der Überzeugung, dass wir als Deutsche da vorangehen müssen und in Zukunft aus der außenpolitischen Komfortzone rauskommen müssen; denn alleine werden wir es nicht schaffen, unsere Ideen in die Weltpolitik einzubringen. Wir brauchen andere Staaten, zum Beispiel Frankreich, auch Italien und osteuropäische Staaten, aber auch Großbritannien als neben Frankreich einzige Atommacht auf dem europäischen Kontinent und als wahrscheinlich sicherheits- und außenpolitisch erfahrenster Spieler westlich von Russland.
Daher möchte ich auch dafür plädieren, dass wir gerade in diesem Bereich weiter die enge Kooperation und auch Anbindung an Großbritannien suchen. Nur dann werden wir eine Chance haben, nicht nur BMW, Mercedes oder Chemieprodukte aus Deutschland, sondern auch unsere europäischen Werte zu exportieren; denn das wird angesichts der großen Herausforderungen in der Welt dringend nötig sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Ploß. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland kommt schlechter aus der Krise heraus als China oder die USA. Während die US-Wirtschaft 2021 voraussichtlich um 6,5 Prozent wachsen wird und die chinesische um etwa 7,8 Prozent, muss sich die deutsche Wirtschaft mit nur 3,1 Prozent begnügen. Entscheidende Ursachen dafür sind das langsame Impftempo, schlechte Investitionsbedingungen und die zunehmende Missachtung marktwirtschaftlicher Prinzipien hier in Deutschland. Dabei bleibt die ökonomische Katastrophe nur aus, weil unsere Exporte so stark sind. Damit profitieren wir vom Wirtschaftswachstum, allerdings auch nur von dem der anderen.
Meine Damen und Herren, die Nachfrage nach deutschen Produkten ist aber keine Selbstverständlichkeit. Internationale Wettbewerbsfähigkeit muss immer wieder neu errungen werden. Das ist der Bundesregierung offensichtlich nicht klar. Sie verschläft wichtige Weichenstellungen zur Förderung des Außenhandels. Das muss sich ändern.
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Dabei muss auch Ziel sein, dass sich die deutsche Exportwirtschaft, zusätzlich zu Europa, den USA und insbesondere China, verstärkt neue Märkte in Südostasien, Südamerika oder Afrika erschließt, weil wir sonst geradezu von den Entwicklungen vor allem in China abhängig werden.
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Deswegen fordern wir, die Exportförderung neu aufzustellen. Der Mittelstand braucht einen einfacheren Zugang zu Hermesbürgschaften. Die Außenwirtschaftsbürokratie muss verringert werden. Bei der Exportkontrolle müssen die zeitintensiven Doppelprüfungen durch BAFA und Zoll wegfallen. Auch ist es wichtig für unsere Exportwirtschaft, dass ausländische Unternehmen hier bei uns investieren und Beteiligungen an Unternehmen erwerben können.
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Deutschland muss ein attraktiver Investitionsstandort bleiben. Die Bundesregierung plant, dem Steine in den Weg zu legen. Durch die geplanten Verschärfungen der Außenwirtschaftsverordnung sollen Investitionen aus dem Ausland erschwert werden. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Bundesregierung endlich unmissverständlich zum Freihandel bekennt. Das Wirtschaftsministerium sollte in Bundesministerium für Wirtschaft, Freihandel und Energie umbenannt werden. Das Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs könnte auch zu dem eines Staatsministers für Außenhandel aufgewertet werden.
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Meine Damen und Herren, ich wiederhole mich gerne: Der Deutsche Bundestag muss endlich das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada ratifizieren.
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Dafür kämpfen wir seit 2018. Gerade letzte Woche haben die Koalitionsfraktionen erneut verhindert, dass sich der Wirtschaftsausschuss mit CETA befasst. Grund dafür ist, dass sich die Koalition offensichtlich in dieser Frage uneinig ist, im Gegensatz zu den Grünen – die wissen schon, was sie wollen –: Die lehnen nämlich CETA im Wahlprogramm ab. Deswegen ist es besonders wichtig, hierüber noch Klarheit in dieser Legislaturperiode zu schaffen.
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CETA und auch andere Handelsabkommen schaffen Wachstum und Arbeitsplätze, gerade in der Exportwirtschaft. Deswegen werden wir dem Wirtschaftsausschuss dieses Thema jetzt in jeder Sitzungswoche vorlegen. Mal sehen, wie Sie sich in dieser Frage verhalten.
Wir müssen auch den Freihandel mit den USA wieder auf die Tagesordnung setzen. Wir sind der Meinung, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist in dieser Frage in der Pflicht.
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Meine Damen und Herren, stärken wir den Freihandel! Stärken wir unsere Exportwirtschaft, anstatt sie zu schwächen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Houben. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Stefan Rouenhoff.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Exportwirtschaft ist eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft. Produkte made in Germany sind international stark nachgefragt – nach wie vor, und das trotz der Coronapandemie –; das zeigen die wirtschaftlichen Eckdaten. Deutschland hat seinen dritten Platz unter den größten Exportnationen der Welt auch im Krisenjahr 2020 verteidigt.
Das ist sicherlich kein Grund zum Ausruhen; denn richtig ist: Die deutsche Exportwirtschaft ist in den vergangenen Jahren unter Druck geraten. Aber was sind denn die eigentlichen Gründe dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP? Die Hauptgründe liegen doch nicht in einer sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft. Sie liegen vor allem in einer Veränderung des internationalen Umfelds. Der Protektionismus ist weltweit auf dem Vormarsch; daran hat auch der Wechsel der US-Administration nichts geändert. Das regelbasierte Handelssystem ist nicht mehr voll funktionsfähig, wenn Sie sich etwa die Streitbeilegung anschauen. Chinas staatskapitalistisches System stellt Deutschland und andere westlich geprägte Volkswirtschaften vor immer größere Herausforderungen. Gleichzeitig wird der Hegemonialkonflikt zwischen China und den USA immer offensichtlicher, mit wirtschaftlichen Kollateralschäden für Deutschland und die Europäische Union.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die Weltwirtschaftsordnung wandelt sich gerade grundlegend, und Sie sprechen über vereinfachte Planungs- und Genehmigungsverfahren,
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über Steuersenkungen, den Abbau von Bürokratie. So wichtig das auch ist – ja, das ist ein wichtiges Thema, und ich höre mir das auch gerne von Ihnen an –, aber das bringt doch alles nichts, wenn wir nicht neue Konzepte für die großen Herausforderungen unserer Zeit entwickeln.
Wie kann der multilaterale Ansatz, von dem Sie in Ihrem Papier schreiben, in der WTO fortbestehen, wenn völlig unterschiedliche Wirtschaftssysteme aufeinanderprallen? Wie offen dürfen Volkswirtschaften heute noch sein, ohne Gefahr zu laufen, dass ein Technologieausverkauf stattfindet? Welche handelspolitischen Instrumente braucht Europa, um ein Level Playing Field mit Drittstaaten zu erreichen?
Kommen wir aber mal zu den Punkten in Ihrem Antrag:
Erster Punkt. Sie fordern ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika. Schöner Vorschlag, aber aus meiner Sicht völlig unrealistisch. Wir sollten uns erst einmal darauf konzentrieren, die bestehenden Handelsstreitigkeiten mit den USA auszuräumen: ein Ende des Boeing-Airbus-Streites und die Aufhebung der Strafzölle auf Stahl und Aluminium. Damit wäre schon eine ganze Menge erreicht.
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Zweiter Punkt. Sie wollen die Investitionsprüfung in der Außenwirtschaftsverordnung nicht erweitern. Auf den ersten Blick könnte man ja sagen: Prima, da kann man Ihnen zustimmen – wenn denn ausländische Direktinvestitionen entlang marktwirtschaftlicher Prinzipien erfolgen würden. Aber wir alle sollten doch mittlerweile wissen: Gerade in strategisch wichtigen Bereichen ist das immer wieder nicht der Fall. Ausländische Direktinvestitionen werden immer häufiger staatlich gelenkt und auch subventioniert, etwa im Hochtechnologiebereich oder im Energiesektor. Wir haben die Beispiele: 50Hertz, Aixtron und Co. Dieser Entwicklung müssen wir einen Riegel vorschieben.
Dritter Punkt. Sie fordern eine umfassende WTO-Verhandlungsrunde, um die Interessen zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern auszugleichen. Da bin ich ein bisschen überrascht von der Forderung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP; denn genau dieser Ansatz hat ja in den letzten 20 Jahren gerade nicht zum Erfolg geführt. Die Doha-Runde ist krachend gescheitert. Erfolgversprechend aus meiner Sicht sind da vielmehr plurilaterale und, wenn es sehr gut läuft, auch multilaterale Übereinkommen in einzelnen Themenbereichen.
Vierter Punkt. Sie wollen eine zügige Ratifikation des EU-Mercosur-Abkommens. In dem Punkt stimme ich Ihnen absolut zu. Und da wünsche ich mir auch ein bisschen mehr Dynamik von unserer eigenen Bundesregierung; denn wir brauchen das Freihandelsabkommen auch zur Durchsetzung hoher Standards, etwa im Klima-, Umwelt- und Sozialbereich. Aber einige meinen ja immer noch – und da schaue ich mir insbesondere die linke Seite des Parlaments an –, ein solches Abkommen sei nur dann gut, wenn Maximalforderungen erfüllt sind. Da irren Sie sich gewaltig. Sollten Sie tatsächlich – und da spreche ich die Grünen an – in die nächste Regierung kommen und eine solche Politik verfolgen, dann werden Sie international jedenfalls auf keinen grünen Zweig kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen für die deutsche Exportwirtschaft haben sich fundamental geändert. Was wir brauchen, ist eine realistische und pragmatische Außenwirtschaftspolitik: eine Politik, die für eine Diversifizierung von Lieferketten und Handelsbeziehungen eintritt, und eine Politik, die die europäische Exportwirtschaft vor marktverzerrenden Handelspraktiken schützt und gleichzeitig für offene Märkte und freien Handel sorgt. Dafür setzen wir uns als Bundestagsfraktion ein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Rouenhoff. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Steffen Kotré.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nein, Herr Rouenhoff, Sie machen sich das zu einfach. Sie zeigen mit dem Finger auf andere Länder, auf die internationalen Gegebenheiten und sagen: Deswegen sind unsere Exporte jetzt so schlecht. – Wir waren doch mal Exportweltmeister, und wir müssen doch die Fehler bei uns suchen. Da brauchen wir leider nicht lange zu suchen. Wir haben die Wirtschaft einfach nicht in eine gute Verfassung gebracht, eben durch diese schlechten Rahmenbedingungen.
Ich erinnere daran, dass Energiekonzerne teilweise enteignet und in die Planwirtschaft gezwungen werden, dass wir mit die höchsten Strompreise haben,
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dass sich Leistung in unserem Land leider nicht mehr so lohnt, wie sie sich eigentlich lohnen müsste. Und da müssen wir doch ansetzen; das müssen wir überwinden.
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Oder nehmen wir die Autoindustrie, die hier totgeredet werden soll; diese Technologiefeindlichkeit gegenüber dem Verbrennungsmotor und viele, viele andere Dinge mehr. Wenn man das abstellen würde und die Unternehmen wieder Unternehmen sein lassen können, dann kommen wir auch wieder zu den guten Exporten.
In dem Antrag gibt es viele Details, die richtig sind, zum Beispiel die Kritik am Lieferkettengesetz. Da sind wir nämlich wieder an dem Punkt, dass der Unternehmer seine Zulieferer beaufsichtigen muss; aber das kann er eben nicht immer. Wenn er dann kriminalisiert wird, ist das ein ganz großes Problem. Dieses Instrument taugt nicht für das Ziel, das mal ausgegeben worden ist.
Die Gesamtsteuerbelastung für Unternehmen etwas zu mindern, ist natürlich auch ein richtiges Ziel. Aber ein wichtiger Aspekt ist in dem Antrag leider nicht drin, und das ist der Schutz der Unternehmen vor dem Ausverkauf von Unternehmen und Know-how. Sie kritisieren, dass die Bundesregierung jetzt ein bisschen – sozusagen millimeterweise – in die Richtung geht, deutsche Interessen wirklich wahrzunehmen, anstatt den Abfluss dieses Know-hows zu kritisieren. Da sagen wir: Nein, das ist keine gute Politik. Wir müssen hier als Politiker unsere Interessen wahrnehmen und nicht die der anderen. Insofern appelliere ich an Sie, vielleicht etwas weniger zu liberalisieren und entsprechend den Blickwinkel auch wieder auf unser Land zu richten, meine Damen und Herren.
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Wenn wir uns anschauen, was das Bundeswirtschaftsministerium macht, dann sehen wir: Da ist jetzt für eine halbe Million Euro ein Programm für das Mobiltelefon entwickelt worden, damit man sich im Gebäude des Bundesministeriums zurechtfindet. Eine halbe Million Euro als Ersatz für Wegweiser, die man vielleicht auch aufhängen könnte und müsste, damit man sich orientieren kann.
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Sie haben wahrscheinlich die Orientierung verloren im Ministerium; das ist augenscheinlich.
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Diese Dinge sind symbolisch. Sie geben Geld aus, verschwenden Steuergelder und konzentrieren sich auf Unwesentliches. Das ist leider der Befund, den wir hier haben und den im Antrag auch die FDP zu Recht kritisiert. Wir kritisieren das natürlich schon lange.
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Mit vielen anderen Dingen muss es in unserem Land einfach wieder vorangehen. Dem Aspekt, dass man sich geradezu religiös auf eine bestimmte Technologie kapriziert, gerade auch in der Energiepolitik, und andere Technologien einfach außen vor lässt, erteilen wir eine Absage. Wir wollen technologieoffen sein, wir wollen die Unternehmen unterstützen. Ich kann es nicht oft genug betonen: Leistung und Mut müssen sich wieder lohnen,
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und Unternehmer dürfen nicht an den Pranger gestellt werden. Und dann klappt es auch mit den Exporten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kotré. – Das Wort geht an Bernd Westphal von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass wir in diesem Haus über Wirtschaft sprechen, ist wichtig, und deshalb grüße ich auch die Unternehmerinnen und Unternehmer in meinem Wahlkreis, vor allen Dingen den Verein für Wirtschaft, Gewerbe und Handwerk, mit dem ich erst am Mittwoch noch telefoniert habe.
Wir diskutieren jetzt über die Situation der Exportwirtschaft. Das ist ein wichtiges Thema, weil Deutschland der drittgrößte Exporteur der Welt ist. Der Anteil am Welthandel beträgt 7,1 Prozent, und 28 Prozent der Arbeitsplätze sind in der exportorientierten Wirtschaft angesiedelt. Wenn man das verarbeitende Gewerbe betrachtet, sind es sogar 50 Prozent.
Es geht um wichtige Güter, wie zum Beispiel Fahrzeuge oder Fahrzeugteile. Herr Kotré, Sie sagen, das sei alles so schlecht und nicht wettbewerbsfähig und nicht innovativ. Wenn wir das für die Automobilindustrie mal genau betrachten, sehen wir: 70 Prozent der Pkws, die in Deutschland gebaut werden, werden exportiert. So schlecht können die ja wohl nicht sein.
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Daneben betrifft es natürlich auch den Maschinenbau, die chemische Industrie und den Bereich der Datenverarbeitung, aber auch elektronische und optische Erzeugnisse sowie Nahrungs- und Futtermittel und auch Produkte der Metall-, Gummi- und Kunststoffindustrie.
Natürlich muss man sich fragen, ob der Titel „Zurück zu alter Stärke“, den die FDP gewählt hat, stimmt. Wenn man sich mal die Zahlen des Statistischen Bundesamtes anguckt,
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dann kann man hier sehr deutlich sehen: Die Kurve der Exporte und Importe ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. In den letzten 20 Jahren haben sich die Exporte verdoppelt. – Herr Houben, ich kann Ihnen nur sagen: Das ist eine Erfolgsbilanz,
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und so schlecht kann die Wirtschaftspolitik der letzten Koalition nicht gewesen sein, wenn man so eine Erfolgsbilanz vorweisen kann.
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Wir haben – das zeigt die Exportstärke in vielen Bereichen – vor allen Dingen eine Wohlstandssicherung durch die Erschließung dieser Märkte erreicht.
Der Antrag der FDP zeigt sicherlich wichtige Aspekte auf – das will ich gar nicht leugnen –, und sicherlich müssen wir auch gemeinsam gucken, welche Veränderungen sich ergeben. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie nicht mit einem Satz in Ihrem Antrag die Leistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erwähnen, die in dieser Exportbranche arbeiten.
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Es sind die hochmotivierten und hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Drei-Schicht-Betrieben, die für diese Erfolgsbilanz sorgen. Diese Exportwirtschaft ist erfolgreich nicht trotz, sondern wegen der hohen Standards, die wir dort haben: bei der Tarifbindung, bei Arbeits- und Umweltschutz und natürlich auch in der Mitbestimmung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Innovationskraft führt zu dieser hohen Nachfrage, die ich eben mit der Grafik zeigen wollte. Die deutschen Produkte stehen für Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft. Die aktuellen Beispiele wie etwa im Bereich der Biochemie BioNTech mit modernen Impfstoffen zeigen aber auch, dass wir eine staatliche Forschungs- und Entwicklungspolitik brauchen, damit sich Innovationskraft letztendlich in Form von Produkten niederschlägt.
Mich hat schon erstaunt, dass Sie das Label „Grüne Transformation“ in dem Antrag etwas kritisch darstellen. Ich kann nur wahrnehmen, dass gerade beim Klimaschutz die globale Relevanz dieses Themas zunimmt. Daher ist es doch wichtig, dass wir in Deutschland Technologien gerade im Bereich der Umwelttechnik und des Klimaschutzes entwickeln, und zwar für klimaneutrale Antriebe, Wasserstofftechnologie, Elektrolysegeräte, Windenergieanlagen und Speichermöglichkeiten. Genau das sind doch die Dinge, die wir mit einer Programmierung, künstlicher Intelligenz und Digitalisierung global vermarkten können. Das ist ein Marktpotenzial, das zukünftige Exportmöglichkeiten erschließen soll.
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Industrie und Mittelstand stehen natürlich vor Herausforderungen, wenn sie auf globalen Märkten aktiv sind. Deshalb brauchen wir natürlich eine Absicherung in Bezug auf die Exporte. Es gibt dort Instrumente, zum Beispiel die AKA, die Ausfuhrkredit-Aktiengesellschaft, die gerade die Exportfinanzierung zusammen mit den Hausbanken unterstützt. Wir haben die DEG, die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft, wir haben die KfW IPEX-Bank, die mit internationaler Projekt- und Exportfinanzierung unterstützt, und natürlich das bewährte Instrument der Hermesbürgschaften, wenn es darum geht, gerade diese Exporte abzusichern.
Natürlich entstehen durch Corona neue Risiken, die wir neu betrachten und bewerten müssen. Der Antrag und das, was Sie dort aufzählen, zeigen, dass man sich diese Instrumente durchaus auch angucken muss.
Die Veränderungen auf den Märkten sind natürlich in vielen Bereichen durchaus bemerkenswert. Das sind neue Märkte, die wir erschließen wollen. Gerade im asiatischen Bereich ist eine Schärfung notwendig, da die klassischen Instrumente da nicht greifen.
Auch bei der sehr dynamischen Wirtschaft im Start-up-Bereich gibt es Branchen, die aufgrund ihrer sehr dynamischen Entwicklung ihrer Produkte sofort auf der internationalen Bühne sind und zu Beginn keine regionalen Märkte haben. Wegen der Hochskalierung ihrer Produkte brauchen diese dann eine spezifische Unterstützung von staatlicher Seite.
Was den Zugang zu Märkten angeht, sind von den Vorrednern Freihandelsabkommen genannt worden. Ja, wir als SPD sehen Freihandelsabkommen durchaus als politisches Gestaltungsinstrument, aber nicht nur dergestalt, dass man einfach Zölle abbaut. Vielmehr geht es darum, dass Handel eben nicht nur frei, sondern auch fair ist und dass wir mit den Nachhaltigkeitskapiteln in modernen Freihandelsabkommen bei sozialen Standards, bei Umweltstandards, bei fairen Handelspraktiken genau diese Standards setzen.
Was das CETA-Abkommen betrifft, kann ich nur sagen: Ja, wir sind dafür. Wir haben ein modernes Freihandelsabkommen auf dem Tisch liegen. Nur gibt es anhängige Klagen beim Bundesverfassungsgericht. Die Rechtsstaatspartei FDP – zumindest ist das bisher ihr Markenkern – sollte zumindest die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über diese Klagen beachten. Dann werden wir auch in diesem Parlament darüber entscheiden.
Letzter Punkt. Fachkräftemangel ist nicht nur etwas, was Unternehmen, die auf nationalen Märkten unterwegs sind, im Moment enorm beschäftigt; sondern gerade, wenn Unternehmen sich in ausländischen Märkten aktiv tummeln, ist das ein Problem. Hier müssen spezifische, bedarfsorientierte Aus- und Weiterbildungsangebote gemacht und weiterentwickelt werden. Die Außenhandelskammern sind da sicherlich Institutionen, die hierbei einen Beitrag zur Unterstützung leisten können.
Ich freue mich auf eine intensive Debatte im Ausschuss über diesen Antrag und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzliches Glückauf!
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Vielen Dank, Kollege Westphal. – Wir kommen zum Redebeitrag der Fraktion Die Linke mit Alexander Ulrich.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke streitet für fairen Handel und weniger um Freihandel. Das ist ein großer Unterschied zwischen uns und dem Antragsteller FDP.
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Eines sage ich an dieser Stelle ganz besonders: Bernd, du sagst, in dem ganzen Antrag der FDP kommen die Arbeitnehmer nicht vor. – Es kommt darauf an, wie man ihn liest. Der Dauerbrenner der FDP, dass man die Steuern senken will, dass man die Lohnnebenkosten oder die Sozialbeiträge einfrieren will, ist ein Angriff auf den Sozialstaat, ein Angriff auf die sozialen Leistungen oder auch ein Angriff auf das Renteneintrittsalter. Die FDP hat mit Arbeitnehmerrechten nichts zu tun, und das zeigen sie auch in dem Antrag, in dem sie ja auch das Lieferkettengesetz ablehnen.
Wir sind auch kein Befürworter dessen, was ihr jetzt vorgelegt habt. Das Lieferkettengesetz muss viel weiter gehen.
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Aber die FDP will ja überhaupt keine Arbeitnehmerrechte global umsetzen. Sie wollen ja überhaupt keine Umweltstandards setzen. Die wollen überhaupt nichts gegen den Klimawandel tun.
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Und sie wollen ja auch deshalb mit einem Verbrecher wie Bolsonaro in Brasilien ein Freihandelsabkommen abschließen.
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Das ist alles das, was wir als Linke nicht wollen. Das hat nichts mehr mit fairem Handel zu tun. Deshalb ist dieser Antrag auch nur abzulehnen.
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Und ich sage auch ganz deutlich: Viele Branchen in Deutschland wären froh, sie hätten nur die Probleme der Exportwirtschaft. – Sie müssten sich mal darum kümmern, wie es den Einzelhändlern geht, wie es den Gastronomen geht.
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Die Exportwirtschaft ist genau die Branche, die den geringsten Beitrag leisten muss, damit diese Ansteckungsraten verringert werden. Die arbeiten ganz normal weiter. Da gehen jeden Tag Zehntausende in die Firmen rein, ohne dass Schutzimpfungen erfolgen oder Tests gemacht werden. Die werden geschont. Andere müssen den Preis dafür bezahlen.
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Die Exportwirtschaft müsste mal einen Beitrag dafür leisten, dass sie keinen Beitrag für die Bekämpfung dieser Coronapandemie erbringt.
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Und wenn Sie auch zum wiederholten Male sagen, wir müssten die Steuern senken, sagen wir klipp und klar: Es ist toll, dass die neue amerikanische Administration jetzt sagt, wir brauchen endlich eine globale Mindestbesteuerung von Unternehmen; denn es kann nicht sein, dass sich Amazon, Google und andere permanent aus der Besteuerung herausziehen. Die müssen besteuert werden.
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Das ist genau das Gegenteil dessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
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Und wer in seinem Antrag auch noch schreibt, er wolle zurück zu diesem Exportwahn, dem sage ich: Wir in Deutschland haben doch auch unter der Euro-Krise gelitten und hatten diese riesigen Probleme mit unseren Außenhandelsüberschüssen. Dahin wollen wir nicht zurück.
Was wir brauchen, ist eine Unabhängigkeit von diesem globalisierten Tun. Wir haben doch in der Coronakrise gesehen, wie abhängig wir von Arzneimitteln waren, die irgendwo auf der Welt produziert worden und nicht in Deutschland angekommen sind. Wir bräuchten eine Stärkung der heimischen Wirtschaft, der Binnenkonjunktur und der kommunalen Wirtschaftskreisläufe.
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Das muss die Antwort auf diese Coronakrise sein. Und da ist die FDP leider eine Fehlbesetzung.
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Was wir brauchen, sind hohe Investitionen in den sozialökologischen Umbau. Wir brauchen eine höhere Besteuerung von Unternehmen.
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Wir brauchen auch mehr Tarifautonomie. Und wenn die FDP in ihrem Antrag sagt, wir müssen das Wirtschaftsministerium – das ist der letzte Satz, Frau Präsidentin – umbenennen in ein Freihandelsministerium, dann schlage ich Ihnen vor, dass Sie Ihr Parteihaus in „Haus der oberen Zehntausend und des Sozialabbaus“ umbenennen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Ulrich. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Katharina Dröge.
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Sie können auch erst zu Ende reden, dann spreche ich irgendwann.
Nein, da haben wir hier oben was dagegen. Bitte, Sie haben das Wort.
Okay. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP-Fraktion, „Zurück zu alter Stärke“, so haben Sie Ihren Antrag überschrieben. Tatsächlich finde ich diesen Titel ganz passend; denn „zurück“ und „alt“ waren die Worte, die auch mir in den Kopf gekommen sind, als ich das gelesen habe, was Sie hier vorgeschlagen haben.
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Herr Houben, Sie haben recht: Die Probleme und Herausforderungen gerade in der Außenwirtschaft sind gigantisch. Doch das, was Sie als Antworten geben, ist das, was die FDP seit den 80er- oder 90er-Jahren immer erzählt hat: Steuersenkung, Deregulierung, Privatisierung – alles Konzepte, die schon in dieser Zeit nicht die richtigen Antworten waren und die auch heute keine Antworten auf die Zukunftsfragen bieten.
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Ich will Ihnen das einmal erklären. Sie haben gerade so neidvoll in die USA und auch nach China geschaut und gesagt: Da funktioniert was, was hier nicht funktioniert. – Genau das findet sich in Ihrem Antrag nicht. Denn was die USA machen und auch China macht, ist, gigantische Infrastrukturprogramme aufzulegen. Dazu gibt es in Ihrem Antrag kein Wort. Richtig wäre gewesen, dass Sie, wenn Sie über eine zukunftsfähige Wirtschaft sprechen, sagen, dass wir ein Infrastrukturinvestitionsprogramm für dieses Land brauchen. Wir Grünen sagen: 500 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre sind notwendig für digitale Netze, für erneuerbare Energien, für den Bahnausbau, für die Elektromobilität.
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All das wäre notwendig; all das schlagen Sie nicht vor.
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Stattdessen schlagen Sie Steuersenkungen vor, ohne zu sagen, wo das Geld dafür herkommt; denn die Schuldenbremse wollen Sie auch nicht reformieren. Wenn wir doch eines in dieser Coronakrise gelernt haben, dann, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist. Wenn man zum Beispiel mit den Firmen spricht, die Impfstoffe herstellen, dann sagen die: Was in der Krise richtig gut funktioniert hat, war, wie schnell die Zulassungsprozesse funktioniert haben, wie effektiv der Staat mit ihnen zusammengearbeitet hat. Das funktioniert nur, wenn ein Staat auch personell ordentlich ausgestattet wird.
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Auch bei den erneuerbaren Energien, beim Thema Energiewende brauchen wir schnelle Planungsprozesse. Aber es gibt nicht genug Planer, weil die öffentliche Hand die Leute nicht einstellen kann, weil sie durch Ihre Politik kaputtgespart wird. Genau da fehlt eine zentrale Erkenntnis aus dieser Krise.
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Liebe Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder eine Frage von dem Kollegen der FDP?
Ja, klar, ich habe nur noch eine Minute.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben hier gerade von 500 Milliarden Euro gesprochen, die Sie ausgeben wollen. Wie wollen Sie denn das finanzieren?
Super, vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage stellen. Es wäre super, wenn die Uhr solange nicht weiterlaufen würde. – Vielen Dank.
Wir haben gerade gesagt, dass wir für ein solches Infrastrukturinvestitionsprogramm einen vernünftigen Vorschlag gemacht haben, die Schuldenbremse im Grundgesetz zu erweitern.
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Das heißt ganz explizit nicht, sie abzuschaffen, sondern sie um eine Infrastrukturinvestitionsergänzung zu erweitern. Das heißt: Nettoinvestitionen, die der Staat tätigt, um die Infrastruktur der Zukunft zu bauen, können über Kredite finanziert werden. Das ist haushaltspolitisch vernünftig. Das fordern nicht nur wir. Beispielsweise hat uns diese Woche auch Herr Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft auf Twitter dazu gratuliert und gesagt: Das, was die Grünen vorschlagen, muss man wirtschaftspolitisch machen.
Was Sie machen, ist eine falsch verstandene Haushaltspolitik. Sie sagen, Sie wollen einen Schuldenbremsenturbo, Sie stellen die schwarze Null als Symbol einer Haushaltspolitik über die wirtschaftspolitische Vernunft. Denn wie entsteht denn Wirtschaftswachstum? Wenn man eine Infrastruktur hat, die funktioniert; wenn auch im ländlichen Raum das Breitbandinternet da ist und nicht die Unternehmer sagen: Wir würden ja gerne digitale Geschäftsmodelle anbieten, aber das Internet kommt bei uns leider nicht an. – Wenn der Netzausbau beschleunigt wäre, dann hätten wir hier irgendwann auch eine funktionierende Energiewende. Dann könnten wir irgendwann auch sagen: Wir schaffen die Wasserstoffinfrastruktur, die die Industrie so dringend braucht, die Chemieindustrie, die Stahlindustrie.
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Für all das braucht man staatliche Infrastrukturinvestitionen.
Auf der einen Seite sagen Sie immer nur, 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes wollen Sie allein durch Steuersenkungen dem Bundeshaushalt entziehen.
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Ich gehe davon aus, die Frage ist jetzt beantwortet.
Auf der anderen Seite sagen Sie an keiner Stelle, wo das Geld herkommt. Das ist nicht nur haushaltspolitisch unsolide, das ist auch wirtschaftspolitisch kein Konzept für die Zukunft.
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– Genau, noch eine Frage, dann käme ich noch zur Handelspolitik. Vielleicht schaffe ich das noch ganz kurz.
Sie haben gesagt: Handelspolitik ist wichtig.
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Das sagen wir auch. Dann reden Sie über die Partnerschaft mit den USA, aber das Einzige, was Sie dazu sagen, ist: Sie wollen das Alte wie bisher. Wenn Sie sich aber anschauen, was Joe Biden macht, dann hätten Sie das Wort „Klimaschutz“ in Ihrem Antrag erwähnen müssen. Aktuell wäre mit den USA ein transatlantisches Abkommen realistisch, das Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt, das eine Antwort auf die Frage gibt, wie die Industrie zukunftsfähig ist. Das ginge zum Beispiel, indem man durch Grenzausgleichsmechanismen funktionierende Klimazölle schafft, um die Wettbewerbsfähigkeit einer klimaneutralen Industrie zu garantieren. Das ist etwas, was mit Joe Biden möglich ist. Mit Sicherheit gilt das nicht für die Ideen, –
Liebe Kollegin, kommen Sie zum Ende.
– die Sie vorschlagen. Deswegen sind Ihre Konzepte Konzepte der Vergangenheit.
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Vielen Dank, Kollegin Dröge. – Das Wort geht an Bernhard Loos von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP gibt sich in ihrem Antrag besorgt über die Zukunft der deutschen Exportwirtschaft.
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Aber ich kann Sie da beruhigen: Wir haben als Union die Belange der deutschen Exportwirtschaft gut und sicher im Blick, gerade jetzt in der Coronakrise, aber auch danach. Wir als Union haben in unserer Wirtschafts-DNA Freihandel, internationale Handelsabkommen, Investitionen im Ausland, ausländische Investitionen fest einprogrammiert.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP, bei vielen Ihrer Grundpositionen bin ich inhaltlich bei Ihnen. Aber wirklich überrascht haben mich zwei Ihrer zentralen Kernforderungen – Herr Houben hat sie ja selbst genannt –: erstens, das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie umzubenennen in „Bundesministerium für Wirtschaft, Freihandel und Energie“, und zweitens, einem Staatssekretär einen neuen schönen Titel „Staatsminister für Außenhandel“ umzuhängen. Für mich klingt das weniger nach Sorge um die deutsche Wirtschaft als vielmehr um die tätige Vorsorge für eine Postenverteilung nach der Bundestagswahl. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Zwei Seiten weiter fordern Sie Bürokratieabbau. Liebe FDP-Kollegen, dann schaffen Sie doch nicht vorher neue Bürokratien!
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Sie beklagen, dass wir aktuell schlechter als China oder die USA aus der Coronakrise kommen. China war früher betroffen und kommt daher auch früher aus der Krise. Die USA haben 2020 lange Zeit fahrlässig keine Schutzmaßnahmen getroffen und auch keine Einschnitte in der Wirtschaft gemacht.
85 Prozent des globalen Wachstums finden künftig außerhalb der EU statt. Die EU-Kommission hat vor diesem Hintergrund am 18. Februar 2021 die Handelsstrategie für die kommenden Jahre festgelegt. Ziele sind: Förderung des ökologischen und digitalen Wandels, Stärkung des Multilateralismus, umfassende Reform der Welthandelsorganisation, Wieder-in-Kraft-Setzen des Streitbeilegungsmechanismus, Forcierung der WTO-Richterberufungen.
Wir als Union wollen Freihandelsabkommen. Das EU‑China-Investitionsabkommen wurde Ende Dezember abgeschlossen; ein großer Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft. Für Deutschland ist China ein enorm wichtiger Exportpartner. Fortschritte wurden erreicht, insbesondere in Bezug auf das Verhalten von Staatsbetrieben, hinsichtlich der Transparenz von Subventionen und Regelungen, die erzwungenen Technologietransfer betreffen.
Nach der Abwahl von Trump wird der Freihandel wieder eine wichtige Rolle spielen. Wir dürfen keinesfalls die TTIP-Fehler wiederholen. Wir setzen auf einen Neuanfang mit den USA und auf Chancen für den deutschen Export in die USA.
CDU und CSU unterstützen das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada uneingeschränkt und respektieren es, die gegen CETA laufenden Verfassungsklagen abzuwarten. Da das Abkommen seit Herbst 2017 in wesentlichen Teilen vorläufig angewendet wird, gehen die positiven Effekte auch nicht verloren.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Houben?
Nein, ich würde es etwas kürzer machen, weil es heute doch schon lang geht.
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Wir in Deutschland stehen für einen internationalen Innovationswettstreit zwischen den Firmen auf dem Weltmarkt, nicht aber für eine Politik nach dem Motto „Wer hat den pralleren Geldbeutel im Ausland?“. Daher ist die Erwerbskontrolle im Außenwirtschaftsgesetz richtig. Falls Sie es nicht bemerkt haben sollten: Mit den gestern beschlossenen Änderungen im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaffenkontrollgesetz kommen wir der Außenwirtschaft im Rahmen des Covid-19-Belastungsmoratoriums entgegen. Für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen im Bereich der Außenwirtschaft werden Gebühren erst zum 1. Januar 2023 greifen. Weiter werden Dividendenausschüttungen während eines Prüfverfahrens wieder erlaubt, und trotz des laufenden Prüfverfahrens soll der Eigentumsübergang an Aktien gestattet werden. Davon profitieren die Investoren. Bei öffentlichen Übernahmeangeboten wird der Beginn der Prüffrist nach vorne verlagert. Das spart Zeit.
Leider haben Sie von der FDP all diesen Erleichterungen aber nicht zugestimmt. Stattdessen positionieren Sie sich gegen eine noch nicht erfolgte Novelle der Außenwirtschaftsverordnung, die letztlich nur eine EU-Verordnung umsetzt und durch klare Definitionen sogar einschränkt. Liebe FDP-Kollegen, Sie reden, wir handeln.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das war eine Punktlandung. – Vielen Dank, Kollege Loos. – Ich beende die Aussprache.
Frau Präsidentin! Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit wir zuletzt im Mai vergangenen Jahres im Deutschen Bundestag über die Ausbildungsmission EUTM Mali debattiert haben, sind die Instabilität in der Sahelregion und die davon ausgehenden Bedrohungen für die Region und für Europa zu Recht noch mehr ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt. Die Staaten der Region und ihre internationalen Partnerinnen und Partner, die sich in der Sahel-Koalition zusammengeschlossen haben, haben in der Folge die Strukturen ihrer Zusammenarbeit auf den Prüfstand gestellt und entsprechend angepasst.
Wir sind uns mit unseren Partnerinnen und Partnern einig: Die Krisen und Konflikte in der Region können nur dann nachhaltig bewältigt werden, wenn wir mithilfe zivilen Engagements die tiefer liegenden Konfliktursachen gezielt angehen. Im Kreis der Sahel-Koalition ist vereinbart, mit großer Kraft einen zivilen Schub zu bewirken.
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So wollen wir die staatliche Präsenz und die Daseinsvorsorge in der Fläche stärken sowie wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die Bevölkerung schaffen. Worum geht es? Ganz einfach: um Jobs, Wohnungen, sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung. Wir haben uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass dieses Leitbild zum Maßstab für das internationale Engagement im Sahel gemacht wird. Der zivile Schub ist deshalb ein zentraler Leitgedanke der neuen EU-Sahel-Strategie, die am Montag durch die Außenministerinnen und Außenminister der EU verabschiedet wurde. Und er ist selbstverständlich auch ein Leitmotiv des Strategiepapiers der Bundesregierung, das die vielfältigen zivilen Elemente unseres Engagements in der Sahelregion ausführlich darstellt. Menschen schützen, Staaten stärken und so vor Ort eine Entwicklungsperspektive für die Bevölkerung schaffen, das sind die Ziele unseres Engagements im Sahel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir ziemlich sicher, dass das wahrscheinlich von sehr vielen Fraktionen geteilt wird. Jetzt wird es schwieriger; jetzt kommen wir zu dem Punkt, in dem wir vermutlich nicht mehr übereinstimmen, der Frage des Einsatzes des Militärs. Entwicklung braucht Sicherheit. Ohne ein hinreichendes Maß an Sicherheit sind zivile Projekte gar nicht erst möglich. Militärisches und ziviles Engagement sind eben keine Gegensätze, sondern sie bedingen einander.
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Und genau deshalb wird die Bundeswehr in der Sahelregion weiterhin gebraucht.
Die Zahlen und die Ereignisse, gerade des vergangenen Jahres, sprechen leider für sich. Im vergangenen Jahr haben durch Überfälle und gewaltsame Angriffe von Dschihadisten und lokalen Milizen rund 2 400 Zivilisten im Sahel ihr Leben verloren. Ihre Staaten konnten sie nicht ausreichend schützen. Deshalb ist es nun wichtig, kompetente, gut ausgebildete lokale Sicherheitskräfte aufzubauen. Diese müssen politischer Kontrolle unterliegen, Menschenrechte und Demokratie achten und von der Bevölkerung anerkannt werden. Dabei spielt EUTM Mali eine entscheidende Rolle, damit die Sahel-Staaten mittelfristig wieder Sicherheit aus eigener Kraft schaffen können. Es geht hier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe.
Seit 2013 wurden im Rahmen der Ausbildungsmission inzwischen über 14 000 malische Soldatinnen und Soldaten ausgebildet und militärisch beraten. Diese Mission ist nun im vergangenen Jahr angepasst worden, damit sie noch effektiver, noch nachhaltiger und sicherlich auch noch sicherer wird. Sie ist seither darauf ausgerichtet, einsatznäher auszubilden und neben Mali auch in den Nachbarstaaten Niger und Burkina Faso tätig zu sein. Mit der einsatznäheren Ausbildung können die erzielten Fortschritte – auch im Bereich der Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts – besser nachverfolgt werden. Die Ausweitung der Mission auf benachbarte Staaten stellt sicher, dass grenzüberschreitenden Bedrohungen auch grenzüberschreitend begegnet wird.
Das vergangene Jahr – das wissen wir nun alle – war besonders schwierig, nicht nur für uns in Deutschland und in Europa, sondern vor allem auch für den afrikanischen Kontinent und für diese so geschundene Region. Die Covid-19-Pandemie und der Militärputsch in Mali im August vergangenen Jahres: Diese beiden dramatischen Ereignisse haben die Umsetzung der geplanten Projekte zunächst verzögert; das muss man unumwunden zugeben. Der Putsch war eine tiefe Zäsur. Zusammen mit der internationalen Gemeinschaft, besonders aber mit der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS haben wir ihn klar verurteilt. Wir haben unsere militärische Unterstützung ausgesetzt, bis eine Übergangsregierung unter ziviler Führung eingesetzt war.
Jüngst hat die Übergangsregierung die Perspektive für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung aufgezeigt. Am 15. April hat sie einen Fahrplan vorgestellt – endlich! – mit einem Verfassungsreferendum im Oktober 2021 sowie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Februar und im März nächsten Jahres. Damit zeigt sie, dass sie gewillt ist, wesentliche Forderungen der ECOWAS und der internationalen Gemeinschaft weiter zu erfüllen. Genau vor diesem Hintergrund unterstützen wir auch weiter die Übergangsregierung, besonders bei den sehr wichtigen, auch schmerzhaften Reformen, die nun vor ihr liegen.
Im kommenden Mandatszeitraum wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland bei EUTM Mali besondere Verantwortung übernehmen: mit der Leitung der Mission ab Juli 2021, der Integration der deutschen Spezialkräfteausbildungsmission Gazelle in Niger in EUTM Mali und mit der Planung und Begleitung des Aufbaus eines EU-Ausbildungszentrums im zentralmalischen Sévaré. Vor diesem Hintergrund werden wir die personelle Obergrenze von 450 auf 600 deutsche Soldatinnen und Soldaten ausweiten. Darüber hat es ja auch mit den Fraktionen Diskussionen gegeben; ich finde das mehr als legitim, da wir dies immer auch prüfen müssen. Es geht um Soldatinnen und Soldaten, es geht um riskante Einsätze, und ich finde, dass wir alle – Regierung und Parlament – der Verantwortung hier auch gerecht werden müssen.
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Mit unserem Beitrag zu EUTM Mali senden wir auch ein wichtiges Signal an unsere europäischen Partnerinnen und Partner – denn es ist eine europäische Mission –: an Frankreich, das ich hier deutlich hervorheben möchte, das mit 5 000 Soldatinnen und Soldaten militärisch die größte Last in der Region schultert,
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aber auch an andere aktive Partnerinnen und Partnern wie Spanien, Schweden und Tschechien. Auch in der Sahelregion erleben wir also gelebte europäische Teamarbeit.
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An der Seite unserer europäischen Partner leisten wir einen in der Region hochgeschätzten Beitrag zur Stabilisierung der Sahelregion und schaffen damit die Voraussetzungen dafür, dass die Ursachen von Konflikten nachhaltig und gezielt angegangen werden können. Hierfür bittet die Bundesregierung um Ihre Unterstützung.
Ein schönes Wochenende!
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Vielen Dank, Kollege Roth. – Das Wort geht an Professor Dr. Lothar Maier von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! EUTM Mali ist etikettiert als eine nicht exekutive Ausbildungs- und Beratungsmission. An Kampfmissionen soll da also nicht teilgenommen werden, sondern es soll nur malisches und inzwischen auch Personal aus anderen Sahelstaaten ausgebildet werden.
Das hat eine bemerkenswerte Entwicklung genommen; der Staatminister Roth hat die Zahlen eben ja schon genannt. Von ursprünglich 180 deutschen Dienstposten über jetzt 450 werden es in Kürze 600 sein. Die Zahl der deutschen Soldaten, die in dieser Mission eingesetzt sind, hat sich also verdreifacht.
Seit Beginn dieser Mission ist eine sehr große Zahl an malischen Soldaten ausgebildet worden. Die Zahlen, die man hört, gehen ein bisschen auseinander, aber alle, die ich kenne, liegen über 10 000. Wenn man so viele gut ausgebildete Soldaten hat, sollte man annehmen, dass ein durchschlagender Erfolg erzielt worden ist. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Sicherheitslage im Land verschlechtert sich kontinuierlich. Was ursprünglich an militärischen Auseinandersetzungen Scharmützel und Anschläge waren, sind inzwischen Gefechte geworden.
Was sind die Gründe dafür?
Es gibt eine sehr hohe Desertationsrate in der malischen Armee. Soldaten dieser Armee machen sich häufig davon, und zwar mitsamt ihren Waffen. Sie laufen zu den islamistischen Kräften über und sind dann besser ausgebildet als die vormals dort kämpfenden Islamisten.
Ein Teil der malischen Soldaten ist mit den Ausbildungsinhalten überfordert. Das ist eine Beobachtung, die man auch in Afghanistan schon gemacht hat.
Es gibt ein teils undiszipliniertes Auftreten der malischen Soldaten im eigenen Land und daher ein mangelndes Ansehen dieser Truppe in der Bevölkerung.
Und schließlich gibt es ein fehlendes Nationalbewusstsein. Mali ist ja kein ethnisch, sprachlich, kulturell einheitliches Land. Da sind Bevölkerungsgruppen wie die Bambara – die stammen ursprünglich aus dem Kongobecken und stellen die große Mehrheit der Bevölkerung – und andere, die eher arabisch-islamisch orientiert sind. Diese sind sich oftmals gegenseitig nicht grün.
Nehmen Sie einen Soldaten der Bambara in der malischen Armee: Diese Bevölkerungsgruppe hat in der Vergangenheit das Material für die Sklavenmärkte der Tuareg im Norden gestellt. Die haben noch eine Rechnung offen.
Deshalb sind sich eigentlich alle Experten darin einig: Hier ist Nation-Building gefragt, um Mali von einem kolonialen Konstrukt mit allen möglichen Völkerschaften in einen zwar Vielvölkerstaat, aber doch in eine Nation zu verwandeln.
Das steht eigenartigerweise in völligem Gegensatz dazu, was die Bundesregierung in Europa und in Deutschland macht.
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Hier soll der Nationalstaat abgebaut werden, hier wird er als obsolet betrachtet, und in Afrika soll er aufgebaut werden. Da ist sehr wohl ein Bruch in der Argumentation.
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Schließlich ist zu beobachten, dass auch die Angehörigen von EUTM Mali und nicht nur die von MINUSMA in der malischen Bevölkerung eher als Besatzer denn als Helfer aufgefasst bzw. angesehen werden.
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EUTM Mali kann nicht losgelöst von MINUSMA gesehen werden, und darüber werden wir uns ja gleich anschließend unterhalten können. Deswegen werden wir, weil wir ja auch MINUSMA ablehnen, zunächst auch EUTM Mali nicht akzeptieren können, auch wenn sich das nach einem Ende von MINUSMA vielleicht ändern kann.
Danke.
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Vielen Dank, Kollege Maier. – Wir hören noch einmal die Bundesregierung mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Silberhorn.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage im Sahel und insbesondere in Mali bleibt besorgniserregend. Die Gewalt nimmt tendenziell zu. Viele soziale und ethnische Konflikte bestehen fort. Und das alles führt zum Kernproblem bei der Stabilisierung Malis: Staatliche Organe, die Sicherheit wiederherstellen und garantieren müssten, sind in weiten Teilen des Landes kaum präsent. Die Coronapandemie erschwert diese Lage – im Übrigen auch für das internationale Engagement vor Ort.
Es besteht aber auch Zuversicht. Die internationale Gemeinschaft hat auf den Militärputsch vom August letzten Jahres entschlossen und gemeinsam reagiert, und sie hält den Druck auf die malische Übergangsregierung aufrecht. Der Bundesregierung kommt es mit dem vorgelegten Mandat darauf an, diese eingeleitete politische Transition fortzusetzen und mit Maßnahmen zur Stabilisierung des Landes zu begleiten.
Es besteht weiter die Gefahr, dass sich von Mali, aber auch von Burkina Faso und von Niger aus Terrorismus und Organisierte Kriminalität verbreiten und weite Teile des Sahels und Westafrikas destabilisieren. Das zeigt auch die aktuelle Entwicklung im Tschad. Hier kommen die engen Verflechtungen in Westafrika über Grenzen hinweg zum Ausdruck. Deshalb ist es nun wichtig, auch dort einen schnellen Übergang zu einer verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung zu ermöglichen.
Unser sicherheitspolitisches Engagement in der Sahelregion konzentriert sich auf den Aufbau effektiver und von der Bevölkerung anerkannter Sicherheitskräfte, die Menschenrechte und Demokratie achten und politischer Kontrolle unterliegen. Unser Ziel ist, dass unsere Partner im Sahel ihre Sicherheitsverantwortung gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern eigenständig wahrnehmen können.
Diese Anstrengungen wollen wir verstärken, und dafür sind drei Dinge im kommenden Mandatszeitraum wichtig: Erstens. Ab Juli 2021 übernehmen wir gemeinsam mit Österreich die Führung der EU-Trainingsmission Mali. Zweitens werden wir die bilaterale Mission Gazelle in die europäische Trainingsmission Mali überführen und die Begleitung der nigrischen Spezialkräfte an der neuen nigrischen Spezialkräfteschule in Tillia aufnehmen. Drittens wollen wir die Europäische Union dabei unterstützen, ein neues EU-Ausbildungszentrum in Sévaré in Zentralmali aufzubauen. Wir versprechen uns davon einen entscheidenden Schritt in Richtung einer selbstständigen und einsatznahen Regeneration der malischen Streitkräfte.
Meine Damen und Herren, für die Umsetzung dieser ambitionierten Ziele ist es notwendig, die Personalobergrenze des Mandats auf 600 zu erhöhen. Das dient unmittelbar dem Schutz unserer Soldaten und Soldatinnen. Ihnen, den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr, möchte ich an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank für ihren Einsatz für Frieden und Stabilität in Mali und in der Sahelregion sagen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen weiterhin die Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM Mali, um die Streitkräfte in Mali und die Streitkräfte der G‑5-Sahelstaaten in die Lage zu versetzen, so schnell wie möglich selbstständig für ihre Sicherheit sorgen zu können. Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten, und deshalb bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Fortsetzung dieses Mandats.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Das Wort geht an Dr. Christoph Hoffmann von der FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Luft flimmert, die Sonne brennt erbarmungslos, der Sand der Harmattanwinde knirscht zwischen den Zähnen, 50 Grad im Schatten und 50 Kilogramm Marschgepäck: Das sind die Arbeitsbedingungen für die Bundeswehr in Mali, darunter auch Leon Müller aus meiner Gemeinde, Schliengen, mit der Deutsch-Französischen Brigade aus Müllheim. Ihm und allen Angehörigen der Bundeswehr gilt der Dank, ich glaube, des gesamten Parlamentes hier für den harten und gefährlichen Einsatz in Mali.
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Im letzten September konnte ich mich in Mali von der guten Arbeit der Bundeswehr überzeugen; was da im Rahmen des Mandates geleistet wird, ist fundiert, zielgerichtet, lokal angepasst.
Die Lage in Mali hat sich politisch stabilisiert nach der Ablösung der Regierung Keïta im August 2020. Aber das Leben in einigen Landesteilen ist nach wie vor unsicher, Kinder können nicht zur Schule gehen, Felder können nicht bewirtschaftet werden; das bringt Hunger und Armut.
Und da leistet EUTM Mali einen Beitrag, die Sicherheitslage zu verbessern. Es ist ein Ausbildungsmandat, also Hilfe, sich verteidigen zu können gegen Barbaren, Banditen, Islamisten, die das Land terrorisieren. Das müssen wir fortsetzen, hier dürfen wir die Malier nicht alleinlassen; das ist zumindest die Meinung der Freien Demokraten.
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Die meisten Menschen in Mali haben keine Kriegstradition – bis 1960 gab es keine Armee –, es fällt ihnen schwer, sich zu wehren oder an der Waffe zu dienen; das ist heute noch deutlich zu spüren. Umso wichtiger ist die Ausbildung durch EUTM.
Es hat bei der Bundesregierung ein bisschen gedauert, aber jetzt ist die Regierung mit dem Mandatstext tatsächlich auf Stand und berücksichtigt die Lage nach der Ablösung der Regierung Keïta.
Und es gibt Fortschritte in Mali. Erstens, bei der Diplomatie: Der Friedensprozess von Algier wird fortgesetzt und umgesetzt. Wir haben es gehört, Wahlen sind geplant für Mali. Zweitens, bei Menschenrechten: Die Bereitschaft der neuen Führung der malischen Armee zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen ist jetzt da. Drittens, bei der Verteidigung: Hier geht es voran mit Ausbildung und Ausstattung. Die malischen Streitkräfte haben jetzt gepanzerte Fahrzeuge aus südafrikanischer Produktion, sodass die malische Armee nicht mehr schutzlos Sprengfallen ausgesetzt ist; es gibt Kampfhubschrauber für den schnellen Einsatz. Viertens, bei der Entwicklungszusammenarbeit – Staatsminister Roth hat den zivilen Schub erwähnt –: Es gibt Projekte zur Nahrungsmittelversorgung und – das ist wesentlich – verstärkt auch zur Bekämpfung der Korruption. Es ist gut, dass die Bundesregierung diese Idee der FDP in das Mandat mit aufgenommen hat oder zumindest beschrieben hat.
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Das Mandat der Trainingsmission wurde ausgeweitet auf Niger und Burkina Faso. Die Anzahl der Einsatzkräfte wurde erhöht, und das ist meiner Ansicht nach richtig so. Meine Damen und Herren, lassen wir die Malier nicht alleine! Befähigen wir sie, für Sicherheit zu sorgen in ihrem eigenen Land, und damit auch wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Die Freien Demokraten werden diesem Mandat mit Sicherheit zustimmen.
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Vielen Dank, Kollege Hoffmann. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke, mit Heike Hänsel.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In Afghanistan kapituliert die Bundeswehr an der Seite der USA nach 20 Jahren Kriegsbeteiligung und sieht sich jetzt zum hastigen Rückzug gezwungen. Das Datum wird immer weiter vorverlegt, sogar die Zurücklassung von Material wird erwogen. Es ist eine Niederlage ohne Wenn und Aber.
Das Schlimme ist, dass die Bundesregierung daraus für andere Auslandseinsätze immer noch keine Schlüsse zieht. Im Gegenteil, wie bei einem Déjà-vu sehen wir an dem Einsatz in Mali, wie der Öffentlichkeit dieselben Legenden zur Rechtfertigung der Kriegsbeteiligung der Bundeswehr erzählt werden.
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Sie, Herr Roth, haben das auch erneut gemacht.
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- „Entwicklung braucht Sicherheit“, hat er gesagt. In Afghanistan ist das eben genau gescheitert.
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Und während Sie aus Afghanistan gar nicht schnell genug abziehen können, wird jetzt die Bundeswehr in der Sahelregion massiv personell aufgestockt,
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auf 600 Soldaten und Soldatinnen. Ab Juli soll Deutschland sogar die Führung dieses EU-Einsatzes übernehmen. So wird der Einsatz in Mali von einem Hilfseinsatz für die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zu einem deutschen Militäreinsatz.
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Das ist unverantwortlich. Wir werden dieses Mandat ablehnen.
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Und was machen Sie denn dort in der Sahelregion? Herr Maas recycelt seine alten Presseerklärungen zu Afghanistan und erzählt, die Bundeswehr sei in der Sahelregion, damit die Bevölkerung mit Wasser, Strom und Bildung versorgt wird; das ist doch einfach nur noch dreist!
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Die Bundeswehr unterstützt in Mali die Armee einer aus einem Putsch hervorgegangenen sogenannten Übergangsregierung und ist neben den französischen Truppen dort in der Bevölkerung mittlerweile als Besatzer verhasst.
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Den malischen Sicherheitskräften werden brutale Übergriffe auf die Zivilbevölkerung sowie Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Ich frage Sie, ob dies dem grundsätzlichen Verteidigungsauftrag in irgendeiner Weise nahekommt. Wollen Sie uns jetzt erzählen, Deutschland wird statt am Hindukusch in der Sahara verteidigt? Das ist doch nur noch hanebüchen.
Der Einsatz in Mali gerät auch immer mehr zu einem sinnlosen Morden von Zivilistinnen und Zivilisten.
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Die UNO wirft der französischen Armee vor, Anfang Januar Bomben auf eine Hochzeitsgesellschaft abgeworfen zu haben und dabei 19 Zivilisten im Alter von 23 bis 71 Jahren getötet zu haben.
Liebe Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Brecht von der SPD-Fraktion?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Frau Hänsel. Ich wollte Sie fragen, woher Sie Ihr Wissen nehmen, dass die Deutschen dort verhasst sind. Wir haben eine Anhörung unter Teilnahme einer Ihrer Fraktionskolleginnen gehabt. Dort haben uns die Soldaten bestätigt, dass der deutsche Aufkleber eine Sicherheitsgarantie ist. Das heißt, im Gegensatz zu anderen haben die Deutschen einen sehr guten Ruf in der Bevölkerung.
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Lieber Kollege, es ist doch immer die Frage, wen Sie in Mali fragen. Es gibt viele in der Bevölkerung, die gar nicht mehr unterscheiden können, welche Soldaten ihnen überhaupt gegenüberstehen.
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Es ist ja ein brutaler Antiterroreinsatz der französischen Armee, die zum Teil brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgeht, wie wir es mit diesen Bombardierungen erlebt haben.
In Afghanistan war es genau dieselbe Situation:
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Wir erleben nur noch Militär. Die Bevölkerung lehnt die Präsenz ausländischer Truppen mehr und mehr ab,
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weil sie sich unterdrückt fühlt und weil sie die Folgen der Ausbildung der malischen Armee am eigenen Leibe spürt. Somit wird eben der Truppeneinsatz vor Ort eine Kollaboration mit der malischen Armee, die für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird,
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die Sie alle hier überhaupt nicht erwähnen. Genau deswegen ist es unverantwortlich, dass die Bundeswehr weiterhin in Mali ist.
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– Natürlich.
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Ich muss Ihnen dazusagen: Ich finde es auch skandalös, dass Herr Roth keinen Satz zu der Bombardierung durch die französische Armee gesagt hat.
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Warum wird es nicht einmal erwähnt? Die Bundesregierung schweigt in beschämender Weise zu diesem Massaker. Und da frage ich mich, wenn es nicht einmal erwähnt wird: Gilt eigentlich das Menschenleben von Maliern weniger als das von anderen?
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Kommen Sie bitte zum Ende.
Die Sicherheitslage in Mali ist genauso katastrophal wie in Afghanistan und wird immer schlechter, je mehr Militär vor Ort ist.
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Und genau deswegen ist es für uns der falsche Ansatz. Wir wollen, dass die Bundeswehr aus Mali abgezogen wird.
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Vielen Dank, Kollegin Hänsel. – Wir kommen zum Redebeitrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Agnieszka Brugger.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An so vielen Orten der Welt sehnen sich die Menschen nach Frieden, Menschenrechten und Sicherheit. An so vielen Orten hoffen Menschen auf ein Ende von Korruption und Kleptokratie, hoffen sie auf eine faire Verteilung von Wohlstand, Lebensperspektiven und Chancen. Und an so vielen Orten der Welt wünschen sich Menschen einfach einen guten Staat, ein Ende der Gewalt und eine gerechte Ordnung, zu der ein faires Justizsystem gehört, aber auch Sicherheitskräfte, die die Zivilbevölkerung schützen. Die Sahelzone ist einer dieser Orte, und die Menschen in Mali sehnen sich nach alldem.
Als Grüne wissen wir, dass die Hoffnung auf einen guten Staat und auf ein Ende von Gewalt sich nicht ohne verlässliche, politisch kontrollierte malische Sicherheitskräfte erfüllen wird. Das unterscheidet uns von den Linken, und deshalb halten wir die ursprüngliche Idee im Kern für richtig, im Rahmen einer Ausbildungsmission der Europäischen Union die Sicherheitssektorreform in Mali zu unterstützen.
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Aber ohne Menschenrechte, Mitbestimmung und einen echten politischen Prozess bleibt auch das beste Training von Militär und Polizei wirkungslos und – ja! – kann im schlimmsten Fall sogar gefährlich sein. Und an dieser Stelle unterscheiden wir uns von der Bundesregierung.
Die Sicherheitslage in Mali und der Sahelzone hat sich trotz allem Engagement verschlechtert. Neben der Zunahme des Terrors durch dschihadistische Gruppen häufen sich die Berichte auch über Menschenrechtsverletzungen der staatlichen Sicherheitskräfte. Nicht nur Frankreich, sondern auch die Bundesregierung beantworten all die dramatischen Entwicklungen jedes Jahr mit der gleichen Schlussfolgerung: Die militärischen Einsätze werden einfach ausgeweitet. Das ist nicht nur viel zu kurzsichtig, sondern auch hoch riskant.
({1})
Bereits seit dem letzten Mandat umfasst die Ausbildung nicht mehr allein Mali, sondern wurde auf vier weitere Staaten der Region ausgeweitet, unter ihnen der Tschad. Dort ist der Präsident gerade in einem Gefecht gestorben – ein Autokrat, der über Jahre mit Repression regiert hat und dessen Sicherheitskräfte für ihr brutales Vorgehen und ihre Menschenrechtsverletzungen berüchtigt sind.
Nun geht entgegen der Verfassung – man kann es auch Putsch nennen – die Macht an seinen Sohn über. Vor diesem Hintergrund frage ich die Bundesregierung: Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, diese Sicherheitskräfte zu unterstützen und auszubilden?
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Sie beteuern ja auch selbst, dass Sie eigentlich eher an die anderen Staaten der Sahelzone denken. Aber dann können wir Sie wirklich nur auffordern: Schaffen Sie Klarheit! Korrigieren Sie ihr Mandat, und streichen Sie die Möglichkeit, mit autoritären Regimen zu kooperieren!
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Viel deutlicher hätte man auch auf den Militärputsch in Mali regieren müssen: schnellere Rückkehr zu einer demokratisch legitimierten Ordnung, Einbindung der Zivilgesellschaft als Bedingung für die weitere Zusammenarbeit. Stattdessen gingen nach einer kurzen Aussetzung die Ausbildung und der militärische Einsatz einfach weiter. Wann erkennen Sie eigentlich, dass eine Strategie, die politische Probleme und Konfliktursachen vernachlässigt, nicht zum gewünschten Erfolg führen kann?
Es ist höchste Zeit, umzusteuern. Denn Menschenrechte, Frieden, Sicherheit, ein guter Staat und verlässliche Sicherheitskräfte, das muss man gerade in der Sahelregion zusammendenken. Es kann nicht das eine ohne das andere geben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Brugger. – Das Wort geht an Jürgen Hardt von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Wochen haben wir, die Sprecher der Fraktionen im Auswärtigen Ausschuss, gemeinsam mit dem Außenminister eine virtuelle Dienstreise in die Region durchgeführt. Es wäre gut und schön gewesen, wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten, dort persönlich hinzureisen; das ist natürlich wegen Corona im Augenblick äußerst schwierig. Aber wir haben es virtuell getan.
Wir haben zunächst in Bamako, in der Hauptstadt Malis, mit zivilen Vertretern und deutschen und malischen Wirtschafts- und Aufbauhelfern gesprochen. Wir haben uns dann virtuell mit unseren Soldaten in Koulikoro – das ist das Mandat EUTM Mali – und in Gao – das ist das Mandat MINUSMA – unterhalten.
Erstens. Übereinstimmend haben uns alle, sowohl die zivilen als auch die militärischen Vertreter, bestätigt, dass das ein wichtiger und richtiger Beitrag zur Stabilisierung des Landes ist. Wir sind vor neun Jahren als UN und EU in dieses Land gegangen, um zu verhindern, dass es abkippt, dass es ein neuer Hort für Terrorismus in der Region wird, der sich destabilisierend auf ganz Afrika ausgewirkt hätte.
Der Einsatz steht unter dem Ziel, zu verhindern, dass Mali ein Failed State wird, ein neuer sicherer Hafen für Terrorismus. Damit ist er Teil unserer Gesamtstrategie, internationalen Terror wirksam zu bekämpfen. Das geht nur, wenn man Länder ertüchtigt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, und dazu trägt das Mandat maßgeblich bei.
Zweitens war ich sehr beruhigt, zu hören, dass unsere militärischen Kommandeure gesagt haben, dass Covid in den Truppen der deutschen Bundeswehr vor Ort eine zunehmend geringere Rolle spielt, weil die Soldatinnen und Soldaten geimpft dorthin entsandt werden. Entsprechend wird die Zahl der geimpften Soldaten bald die 100 Prozent erreichen. Ich finde es richtig, dass wir unsere Soldaten im Auslandseinsatz in der Gruppe 2 bevorzugt behandeln.
Drittens möchte ich etwas zur Obergrenze sagen. Wir haben bereits beim letzten Mandat gesagt, dass die Ausbildungsmission Gazelle integriert werden soll. Dafür bauen wir das Ausbildungszentrum Sevaré. Damit wird es wohl in der zweiten Jahreshälfte etwas werden. Das wird eine großartige und vernünftige Sache.
Wir haben, wenn wir Gazelle mit reinrechnen und noch berücksichtigen, dass wir ab Juli die Führung in dem Einsatz haben, eigentlich wenig Luft zwischen 450 und 600. Ich hätte mir gewünscht, dass wir weniger über die Obergrenze als über die Ziele und den Auftrag des Einsatzes reden und dass wir es den Soldaten selbst, den Experten, wesentlich überlassen, zu beurteilen, wie viel Soldatinnen und Soldaten zum Einsatz kommen müssen. Ich hätte mir deshalb mehr Flexibilität bei der Obergrenze vorstellen können. Aber, ich glaube, mit 600 können wir jetzt zunächst einmal alle leben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Hardt. – Zum Abschluss der Debatte hören wir Henning Otte von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Sahelzone ist von elementarer Bedeutung, weil sie als Drehscheibe für Terror, Menschenhandel und Kriminalität missbraucht wird. Seit 2013 ist Deutschland mit Streitkräften an den Operationen EUTM Mali und MINUSMA beteiligt. Denn Deutschland und Frankreich haben erkannt, warum es auch für die Sicherheit Deutschlands wichtig ist, die Sahelzone zu stabilisieren: um Instabilität und Gewalt einzudämmen, einem Staatszerfall der G‑5-Sahel-Staaten vorzubeugen, strukturelle Ursachen und Krisen zu bekämpfen und Entwicklungsperspektiven für die Bevölkerung zu schaffen – so heißt es in der neuen Sahelstrategie der Bundesregierung.
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Dies ist Verantwortung.
Verantwortungslos dagegen ist nicht nur Ihr Reingequatsche, Frau Hänsel, sondern auch das, was Sie eben hier von sich gegeben haben.
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Sie verwechseln die Mandate. Sie haben offensichtlich nicht die Informationen bekommen, die Frau Buchholz gestern in der Unterrichtung bekommen hat und die wir bekommen haben. Offensichtlich sind Sie Beraterin der neuen Vorsitzenden der Linken, die alle Mandate durcheinanderbringt, die nicht weiß, wie viele Einsätze es gibt, und die vor allem nicht weiß, wie viele Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind. Sie sollten sich schämen, hier im Parlament solche Reden zu halten!
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Ihre Sprache ist Terrorsprache, verbale Terrorsprache. Sie suggerieren hier, es ginge um einen Krieg.
Die Mission EUTM Mali bildet malische Soldaten so aus, dass sie eines Tages selbst in der Lage sind, für Sicherheit zu sorgen. Dabei sind für uns die Grundbedürfnisse der Menschen von großer Bedeutung, nämlich Staatlichkeit, Grundversorgung mit Trinkwasser, Menschenwürde. Das ist Voraussetzung, damit die Menschen eine Perspektive haben, sich nicht auf den Weg nach Europa machen und nicht in die Teufelshände von al-Qaida oder vom IS kommen. Wir müssen ein Augenmerk auf diese Situation haben. Wir müssen die Europäische Union, die Europäische Kommission stärker auffordern, noch mehr Verantwortung zu übernehmen; denn dieser Einsatz ist auch für Europa von elementarer Bedeutung.
Es ist gut, dass wir, so wie Herr Staatssekretär Silberhorn es dargestellt hat, die Mission Gazelle jetzt unter den Schirm von EUTM Mali bringen. Damit ist Rechtssicherheit für die Soldatinnen und Soldaten erreicht. Wir müssen alles dafür tun, dass die Soldaten die Voraussetzungen bekommen, die sie brauchen. Es ist wichtig, einmal darauf hinzuweisen, dass in Koulikoro die Infrastruktur durchaus sehr angespannt ist, weil viele Soldatinnen und Soldaten dort untergebracht sind.
Es ist richtig, wenn der Kollege Hardt sagt, dass wir unsere Streitkräfte impfen müssen; denn sie stehen dort unter einer besonderen Herausforderung: tagsüber über 40 Grad, nachts nicht unter 25 Grad; die Sonne steht im Zenit. Deswegen danken wir unseren Soldatinnen und Soldaten dafür, dass sie die Missionen MINUSMA und EUTM stärken.
Die Sicherheit Deutschlands endet nicht am Mittelmehr. Deswegen fordern wir, dass diese beiden Missionen von der Mehrheit des Parlaments, und zwar von der verantwortungsvollen Mehrheit dieses Hauses, unterstützt werden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Otte. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sahelregion hat in den letzten Tagen einmal mehr beunruhigende Schlagzeilen gemacht. Es ist hier auch schon darüber gesprochen worden: Die jüngste Entwicklung im Tschad, die unklare Lage nach dem Tod von Präsident Déby bergen das Potenzial, noch mehr Unsicherheit und auch noch mehr Gewalt zu verbreiten. Das zeigt erneut, wie sehr die Staaten in der Konfliktregion insgesamt miteinander verbunden sind, wie die Grenzen in diesem Konflikt täglich überschritten werden. Das Beispiel der aus Libyen in den Tschad zurückgekehrten Kämpfer ist nur eines aus einer langen Reihe. Auch zwischen Mali – dem Land, über das wir heute miteinander diskutieren – und seinen Nachbarländern Algerien, Niger und Burkina Faso gibt es die Bewegung: Terroristen, Rebellen, Waffen, Drogen und Schmuggel.
Wir müssen also einmal mehr feststellen, wie instabil diese Nachbarregion – und es ist eine erweiterte Nachbarregion Europas – ist, mit allen Risiken, die rechtsfreie Räume auch für unsere Sicherheit in Europa bringen. Die Staaten der Sahelregion haben vor diesem Hintergrund erkannt, dass sie nur durch gemeinsames Wirken, durch gemeinsames Vorgehen Sicherheit, Stabilität und Prosperität erreichen können. Dafür stehen viele politische Initiativen der letzten Monate, Wochen und Tage, aber eben auch die militärische Zusammenarbeit im Bereich von G 5 Sahel. Zugleich ist klar: Alle zusammen sind sie auf die tatkräftige Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, eben auch auf uns, angewiesen.
Ein Schlüsselinstrument – jedenfalls, wenn wir über Mali sprechen, das Schlüsselinstrument – bleibt MINUSMA in Mali. Es ist diese Mission der Vereinten Nationen, die 2013 eingesetzt worden ist, um den Friedensprozess in Mali zu unterstützen und zu begleiten. Es muss hier noch einmal unterstrichen werden: Es ist ein Friedensprozess, der eine Grundlage bildet. Das unterscheidet Mali von vielen anderen Ländern der Region. Deswegen ergibt sich daraus eine ganz besondere Verantwortung für uns.
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Nach dem unblutigen Putsch vom August letzten Jahres hoffen die Menschen in Mali einmal mehr – wahrscheinlich mehr denn je – in dieser Phase der Transition auf einen Neuanfang, den sie so dringend für ein besseres Leben brauchen. Sie erhoffen sich ein Aufbrechen verkrusteter Strukturen in Politik und Gesellschaft, Fortschritte bei der innermalischen Perspektive der Versöhnung, die in den letzten Jahren nicht ausreichend vorangetrieben worden ist; das muss man ja klar benennen. Alle Seiten haben hier eine Verantwortung zu tragen. Wir brauchen aber genau diese Perspektive der Aussöhnung. Um das erreichen zu können, müssen wir einen Rahmen für Sicherheit und eine entsprechende Zukunftsperspektive für die Malierinnen und Malier bereitstellen, und das ist die Aufgabe von MINUSMA. MINUSMA unterstützt die laufende Transition mit – wie man so schön sagt – ihren guten Diensten. MINUSMA sorgt dafür, dass der innermalische Friedensprozess fortgesetzt werden kann. Die Mission bleibt mit ihren drei Komponenten gefordert, die ich hier noch einmal nennen will:
Erstens: die militärische Komponente. Sie schafft mit der Präsenz von über 12 000 Blauhelmen ein sicheres Umfeld für die Menschen. Sie sichert humanitäre Hilfe ab und ermöglicht Stabilisierungsmaßnahmen und Entwicklungsarbeit. Wie wir vor einigen Tagen gesehen haben: Sie ist mit der Infrastruktur vor Ort in der Lage, wichtige Treffen und Verhandlungen abzusichern, vor allem im Norden, wo es besonders schwierig ist.
Der zweite Punkt, den ich nennen möchte, ist die zivile Komponente. Der zivile Teil der Mission bleibt ebenso unerlässlich für die Unterstützung des innermalischen Friedensprozesses und die Befriedung Zentralmalis; auch darauf ist hingewiesen worden. Das Monitoring der Menschenrechtslage ist hier entscheidend, und wir sind stolz darauf, dass das Aufgabe von MINUSMA bleibt. Wir haben uns sehr starkgemacht, um diesen Teil nicht nur auf dem Papier stehen zu haben. Es geht um die Stärkung der Zivilgesellschaft und der innerstaatlichen Institutionen.
Auch die dritte Komponente will und muss ich hier erwähnen: Das ist die polizeiliche Komponente. Hier werden die malische Polizei und die malische Justiz im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität und bei der Strafverfolgung unterstützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich kann man mit Blick auf die Lage im Land und mit Blick auf die Lage in der Region – das habe ich am Anfang angesprochen – nicht zufrieden sein. Ich weiß sehr wohl, dass es auch in Mali selber eine Tendenz gibt, die sehr sichtbare Mission MINUSMA dafür verantwortlich zu machen. Das hängt mit der schwachen Staatlichkeit zusammen. Wenn man mit einer so großen Infrastruktur, mit einer so großen Präsenz in dem Land ist, dann weckt man manchmal Erwartungen, die vom Mandat der Vereinten Nationen allerdings nicht immer gedeckt sind und die auch nicht immer realistisch sind. Wir wissen das alles, trotzdem will ich hier noch darauf hinweisen.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen selbst, António Guterres, hat in seinem Bericht vom März dieses Jahres vor einem verfrühten Abzug ausdrücklich gewarnt. Das ist ein Reflex, den wir hier in diesen Debatten auch manchmal hören. Es gibt auch in Mali Unzufriedenheit – ja, natürlich gibt es die –, aber die Lösung ist nicht der Abzug von MINUSMA. Die Sicherheitsstrukturen – das besagt der Bericht des Generalsekretärs – seien noch nicht so gefestigt, dass sie ohne Unterstützung den Schutz der Zivilbevölkerung leisten können. Deswegen müssen wir an diesem Punkt miteinander weiter arbeiten; denn ohne Sicherheit und ohne Stabilität werden wir die Ziele – die Befriedung dieses innermalischen Prozesses, den wirtschaftlichen Aufbau, die wirtschaftliche Entwicklung und übrigens auch die dringend notwendige intraregionale Kooperation – nicht erreichen. Das ist hier auch zu erwähnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Otte hat in der vorangegangenen Debatte darüber gesprochen – vollkommen zu Recht –, wie schwer die Einsatzbedingungen der Bundeswehr in Mali aus klimatischen Gründen im Moment sind. Wer von Ihnen mal in Gao gewesen ist, der weiß: Das ist eine gefährliche Region. Die Bundeswehr leistet mit ihren Soldatinnen und Soldaten vor Ort einen wichtigen Beitrag, einen Beitrag zur nachhaltigen Stabilisierung. Deswegen will ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei unseren Soldatinnen und Soldaten und beim Zivilpersonal für ihre unerlässliche Arbeit bedanken.
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Wir bringen nicht nur das Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten mit ein, sondern auch Hochwertfähigkeiten, die dringend benötigt werden. Damit leistet die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit der malischen Bevölkerung und zur Umsetzung der Ziele von MINUSMA. Die logistische Hilfe durch den Betrieb des Camps Castor in Gao, die Sanitätsversorgung, die Transportkapazitäten: All das ermöglicht unseren Partnern, ihre Arbeit fortzusetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen, dass das alles nicht den Willen der malischen Akteure ersetzen kann, für diesen Frieden am Ende auch durch eigene Entscheidungen und durch eigenes Handeln zu sorgen; das ist richtig. Deswegen werden wir auch weiterhin sehr klar mit unseren Partnerinnen und Partnern vor Ort sprechen, unsere Erwartungen formulieren und uns abstimmen, sowohl mit unseren europäischen Partnern als auch mit Blick auf die gesamte Region; denn es wird uns nicht gelingen, erfolgreich zu sein, wenn wir nur isoliert auf ein Land, auf einen Sektor schauen.
Ich darf an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, Sie alle ganz herzlich um Unterstützung für diesen wichtigen Einsatz zu bitten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Als nächster Redner kommt Professor Dr. Lothar Maier von der AfD-Fraktion.
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Danke. – Frau Präsidentin! Mali, die Zweite, aber diesmal MINUSMA. Die Mission ist nun seit sieben Jahren in Gang – das verflixte siebte Jahr –, inzwischen – nach meinen Zahlen – mit ungefähr 13 000 Soldaten der verschiedenen truppenstellenden Länder. Davon wiederum gibt es – nach meinen Zahlen – gegenwärtig 1 100 deutsche Dienstposten.
Als Hauptaufgaben der MINUSMA-Operation hat die Bundesregierung erst kürzlich drei Faktoren benannt: Erstens. Die Regierungen der Sahelstaaten sollen die Sicherheit auf ihrem Staatsgebiet langfristig selbst garantieren können. Zweitens. Sie sollen die Grundversorgung mit staatlichen Dienstleistungen sicherstellen. Drittens. Sie sollen Vertrauen in staatliche Akteure wecken. – Dem ist zuzustimmen.
Aber wie ist die Realität? Die Sicherheit – das haben wir ja inzwischen in mehreren Reden gehört – wird immer schlechter. Immer größere Teile der Staatsgebiete im Sahel werden von islamistischen Rebellen kontrolliert. Terrorangriffe sind überall an der Tagesordnung. Die Terroristen sind seit einiger Zeit in der Lage zu grenzüberschreitenden Operationen, und zwar mit Einheiten fast in Bataillonsstärke. Es gibt verlustreiche Gefechte – verlustreich für beide Seiten –, zuletzt zum Beispiel im Grenzgebiet zwischen Mali und Niger. Die Grundversorgung existiert eigentlich nur noch in den Großstädten, in den Hauptstädten, in denen die wirtschaftliche Aktivität dieser Länder stattfindet. Auf dem flachen Land sind die Staaten abwesend.
Was ist die Folge davon? Die Bevölkerung wendet sich den Islamisten zu, weil sie die einzige Ordnungsmacht sind, die überhaupt existiert. Unter diesen Umständen kann der Rohstoffreichtum des Landes nicht genutzt werden. Dieses Land ist enorm reich an Bodenschätzen: an Eisenerz, Mangan, Uran, Ölschiefer. Weißer Wasserstoff ist jetzt entdeckt worden – ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass es das gibt –, hochkonzentriertes Wasserstoffgas, das aus dem Boden kommt und nicht durch Elektrolyse erzeugt wird. Von Vertrauen in den Staat kann unter diesen Umständen gar keine Rede sein. Deswegen meine ich auch: Eine solche Operation nach dem Prinzip „more of the same“ zu betreiben, kann keine Besserung bringen.
Es gibt kontraproduktive Folgen der militärischen Intervention. Die Staaten vertrauen zu sehr auf MINUSMA als Garanten der Sicherheit. In der Folge geben sie große Teile ihres Territoriums praktisch verloren, wie in Mali etwa die Hälfte des Territoriums im Norden Landes, wo die Regierung gar nicht mehr den Anspruch erhebt, dafür zuständig zu sein. Und – das ist für mich das Entscheidende –: Es gibt zu wenige Anstrengungen für eine Afrikanisierung dieser Konflikte. Dass dies möglich ist, auch mit deutscher diplomatischer Unterstützung, haben wir in den letzten Wochen in Libyen gesehen. Wir haben es auch in dem alten Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea gesehen. Ich finde: MINUSMA steht solchen Lösungen eher entgegen, als dass es sie fördert.
Und schließlich: die Entwicklungsleistungen. Da sind manche Defizite festzustellen. Die GIZ, die das für Deutschland betreibt, meidet zum Beispiel in ihrem aktuellen Programm vollkommen eines der Zentralthemen in allen diesen Ländern, nämlich die demografische Katastrophe; so wird sie dort ja genannt. Die Bevölkerung von Mali hat sich in zwei Generationen verfünffacht. Die französische Agentur, die Agence Française de Développement – passenderweise abgekürzt AFD –, hat das angepackt und zu einem ihrer Zentralthemen gemacht.
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Wenn wir den Anträgen, die jetzt vorliegen, nicht zustimmen, dann deshalb, weil wir den Druck zugunsten politischer Konfliktlösungen verstärken wollen, und auch, weil wir nicht immer mehr deutsche Soldaten verwundet oder gar in Särgen aus dem Sahel zurückkommen sehen wollen.
Ich danke Ihnen.
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Danke, Kollege Maier. – Wir kommen zum nächsten Redner: von der CDU/CSU-Fraktion Markus Koob.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Mali ist in der Debatte zu EUTM Mali zuvor schon hinreichend beschrieben worden, und diese Beschreibung trifft natürlich auch für diese Debatte zu.
Mali hat vor allem drei Probleme. Das erste ist die Situation in der Gesellschaft: bittere Armut, Bildungsprobleme, Klimaprobleme, Klimawandel, fehlender Klimaschutz – alles, was damit zusammenhängt –, die Coronapandemie, die jetzt auch keiner gebraucht hätte und die diese Situation noch weiter verschärfen wird, und der demografische Wandel. All dies hat enormes Sprengpotenzial vor Ort und sorgt für Probleme. Das zweite ist: Staatliche Strukturen sind in weiten Teilen Malis kaum vorhanden; das haben wir von mehreren Rednern in der Debatte heute schon gehört. Und das dritte ist die nach wie vor ausgesprochen dramatische Sicherheitslage.
Auch wenn wir uns in der Analyse dieser drei Punkte noch weitestgehend einig sind, kommen die Differenzen bei der Frage: Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Ich habe das letzte Mal, als wir zu Afrika debattiert haben, hier in die Runde gefragt: „War das eine Sternstunde des Parlaments?“ Diese Frage möchte ich heute in Teilen wiederholen, weil wir auch heute wieder in diesen Stereotypen unterwegs sind, in die wir immer verfallen, wenn wir über Afrika reden.
Ich möchte an dieser Stelle einmal ausdrücklich die Oppositionsparteien FDP und Grüne loben, weil sie sich inhaltlich sehr intensiv mit diesen Fragestellungen aller Art auseinandersetzen und auch logische und nachvollziehbare Argumente vorbringen.
Frau Hänsel – ich habe, ehrlich gesagt, eine Ahnung, Frau Buchholz, in welche Richtung auch Ihre Rede gleich gehen wird –, ich finde es langsam wirklich ermüdend, dass wir hier immer und immer und immer wieder die gleichen Diskussionen führen müssen.
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Ich habe gesagt, dass diese drei Probleme, die wir definiert haben – wir haben sie ja zum Teil sogar gemeinsam definiert –, einander bedingen. Sie können nicht einfach sagen: Wir nehmen dort einen Baustein raus, und das andere bleibt so, wie es ist. – Wenn wir in Mali keine Verbesserung der Sicherheitslage hinbekommen, werden wir auch keine Stabilisierung bei den anderen Punkten hinbekommen.
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Dazu leisten unsere Soldatinnen und Soldaten in Mali sowohl im Rahmen von EUTM Mali als auch im Rahmen von MINUSMA einen unverzichtbaren Beitrag.
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Wenn Sie von der AfD an dieser Stelle sagen – das war ja für Ihre Verhältnisse tatsächlich mal eine sehr analytische und sachliche Darstellung –,
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Sie wollen den Druck erhöhen, indem Sie den Abzug fordern, entgegne ich: Sie erhöhen nicht den Druck, sondern Sie erhöhen das Chaos, wenn Sie den Abzug fordern, wenn wir den Abzug einleiten. Deshalb steht diese Option für uns überhaupt nicht zur Debatte.
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Wir wollen das Mandat MINUSMA genauso wie das Mandat EUTM Mali fortsetzen.
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Das Mandat MINUSMA setzt an genau diesen drei Punkten an, die ich genannt habe; Staatssekretär Niels Annen hat schon sehr klar ausgeführt, an welchen Stellen das konkret der Fall ist. Deshalb ist MINUSMA ein unverzichtbarer Baustein in unserer Sahelstrategie.
Der Kollege Hoffmann hat vorhin dargestellt, unter welchen Bedingungen vor Ort die Soldatinnen und Soldaten den Einsatz erleben. Wenn man, gerade in Gao, persönlich erlebt, welche klimatischen Bedingungen dort herrschen, welche infrastrukturellen Bedingungen um dieses Lager herum bestehen – nämlich fast keine –, muss man sagen: Das sind Rahmenbedingungen, die uns allen Respekt abnötigen sollten, die uns tiefste Anerkennung für die Soldatinnen und Soldaten, aber auch Polizisten, die dort im Einsatz sind, abnötigen sollten. Ich glaube, wenn man sich mit den Soldaten unterhält, ist die Frage: Sehen die das überhaupt selbst als einen sinnvollen Einsatz an? Und wenn man mit unseren Entwicklungshelfern spricht, ist die Frage auch: Was würdet ihr sagen, wenn wir die Soldaten abziehen? Sowohl die Soldaten als auch unsere Entwicklungshelfer sagen uns immer wieder: Das ist ein hoch sinnhaftiger Ansatz. – Und unsere Entwicklungshelfer sagen gerade über MINUSMA: Mit diesem Lager dort oben stellt diese Mission sicher, dass überhaupt Entwicklungshilfe in dieser Region stattfinden kann.
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Deshalb wäre es ein fataler Fehler, diese Mission zu beenden. Wir unterstützen weiterhin die Mission MINUSMA. Wir danken ganz herzlich den Soldatinnen und Soldaten, die dort unten im Einsatz sind und ihren schweren, aber unverzichtbaren Dienst tun, und werden diesem Mandat, wie gesagt, in der kommenden Sitzungswoche zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Koob. – Als nächster Redner spricht Dr. Marcus Faber von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin der Meinung, dass wir drei Dinge im Einsatz der Vereinten Nationen MINUSMA in Mali verbessern müssen: Zum Ersten müssen wir das Verständnis in der deutschen Bevölkerung für diesen Einsatz erhöhen. Zum Zweiten müssen wir die Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten vor Ort verbessern. Und zum Dritten müssen wir diesen Einsatz auch strukturiert evaluieren.
Zum ersten Punkt: Verständnis in der deutschen Bevölkerung. Laut einer repräsentativen Umfrage sehen sich 84 Prozent der deutschen Bevölkerung überhaupt nicht über den Einsatz MINUSMA in Mali informiert. Fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat noch nie davon gehört. Das reicht bis in weite Teile des politischen Raums. Auch die Vorsitzende der Linkspartei hat ja offensichtlich keine Ahnung, dass wir überhaupt in Mali sind und welche Bundeswehreinsätze wir vornehmen. Hier müssen wir also informieren. Solche Debatten tragen dazu bei; aber das gilt natürlich auch für die Arbeit im Wahlkreis.
Wir haben derzeit gut 1 000 Soldaten der Bundeswehr in Mali, 941 davon im Einsatz MINUSMA der Vereinten Nationen. Wir als Freie Demokraten unterstützen dieses Engagement, weil es wichtig ist; denn wir bekämpfen hier zum einen Terrorismus, auch Schleuserbanden, und zum anderen bekämpfen wir Fluchtursachen und bringen damit Stabilität in eine sehr instabile Region.
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Wir müssen erklären, wo unsere Soldaten sind, und wir müssen erklären, was sie dort tun. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die wir alle hier im Haus haben, und ich fordere Sie auf, auch in Ihrer Arbeit in den Wahlkreisen in ganz Deutschland dazu beizutragen.
Zweiter Punkt: Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten. In Mali ist es häufig heiß – das haben wir hier heute schon mehrfach gehört –; 42 Grad im Schatten sind dort keine Seltenheit. Nur haben Sie in der Wüste selten Schatten. Dementsprechend wird es dort noch wärmer. Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten dort hinschicken, dann möchte man natürlich bei 42 Grad im Schatten eine entsprechende persönliche Ausstattung in ausreichender Zahl dabeihaben. Das ist leider nicht immer der Fall, Herr Staatsminister.
Das gilt zum Beispiel für die sogenannten Kampfhosen. Wenn ich mehrere Tage bei den Vereinten Nationen auf Patrouille bin, dann möchte ich davon auch eine ausreichende Stückzahl dabeihaben. Das gilt auch, wenn ich in einen Einsatz gehe. Dann möchte ich nicht nur eine Kampftragetasche dabeihaben, sondern vielleicht auch den passenden Rucksack. Auch das ist leider nicht immer der Fall. Da würde ich Sie hier auffordern, dort entsprechend nachzusteuern.
({1})
Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz schuldig.
Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt: Evaluation. Wir als Freie Demokraten fordern seit 2017 – nicht nur zu Afghanistan, sondern auch hier –, dass wir diese Einsätze strukturell evaluieren, damit wir aus den Fehlern, die wir vor Ort machen, lernen und besser werden. Das gilt eben nicht nur für Afghanistan;
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das gilt auch für Mali. Das gilt nicht nur nach Abschluss eines Einsatzes, sondern auch während des Einsatzes. Und das ist die Bundesregierung hier leider bisher schuldig geblieben. Dazu fordern wir Sie auf.
Insgesamt sagen wir aber: Dieser Einsatz ist sinnvoll. Er bekämpft Fluchtursachen. Er bringt Stabilität in diese Region. Deswegen werden wir Freie Demokraten ihn unterstützen. Und ich fordere alle hier im Haus auf – auch Sie –, noch mal über ihre Position nachzudenken und diesen Einsatz zu unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Faber. – Als nächste Rednerin hören wir Christine Buchholz von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will den Bundeswehreinsatz im Rahmen der UN-Mission MINUSMA in Mali verlängern. Bis zu 1 100 Soldatinnen und Soldaten können allein bei MINUSMA eingesetzt werden. Es gehe, so die Bundesregierung, um die „Umsetzung des Friedensabkommens“. Doch den Frieden gibt es nicht. 2020 war das blutigste Jahr in Mali seit Beginn des Krieges. Die Zahl der Milizen hat zugenommen, ebenso die Übergriffe vonseiten des malischen Militärs.
Im neuen Sahel-Strategiepapier der Bundesregierung heißt es – Zitat –: Die Bundesregierung würdigt den Einsatz von Partnern insbesondere auch in jenen Teilbereichen, in denen sich Deutschland nicht beteiligt. Dazu zählt beispielsweise der militärische Kampf gegen den Terrorismus. – Aus Afghanistan wissen wir: Terror bekämpft man nicht mit Krieg.
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Die Folgen dieser fatalen Strategie sahen wir in dem Dorf Bounti in Zentralmali. Französische Kampfflugzeuge der Antiterroroperation „Barkhane“ bombardierten Anfang Januar eine Hochzeitsgesellschaft. Das belegt eine Untersuchung von MINUSMA, die dort durchgeführt wurde. Die französische Regierung wischte den Bericht vom Tisch und behauptete weiterhin, es seien nur – Zitat – „Terroristen neutralisiert“ worden. Auch das kennen wir aus Afghanistan. Im Kampf gegen Terror geraten immer wieder Zivilisten ins Visier. Die Bundesregierung hat nichts gelernt. Sie macht sich die französische Sicht zu eigen und sagt, sie habe keine eigenen Erkenntnisse, und setzt die „vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihren Partnern fort“.
Gestern erzählte uns ein Bundeswehrsoldat, der in Mali stationiert ist, dass sie sich bei zivilen Ausfahrten immer gut sichtbar deutsche Fahnen an die Fahrzeuge kleben, damit sie nicht für Franzosen gehalten werden; so würden sie ihre Sicherheit erhöhen. Denn im ganzen Land kann man spüren, dass die antifranzösische Stimmung zunimmt. Wir sind der Meinung, dass die enge Zusammenarbeit mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich nicht nur fatal für die malische Bevölkerung ist, sondern auch gefährlich für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
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Zur Wahrheit gehört auch: Die Militarisierung in Mali – das ist ja das Ergebnis der letzten Jahre – hat zu einer Verdreifachung der Rüstungsausgaben in Mali selbst geführt. Gleichzeitig hat der Internationale Währungsfonds bereits Strukturanpassungsprogramme in der Pipeline. Das, meine Damen und Herren, löst kein einziges der drängenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Mali.
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In der nächsten Woche werden Lehrerinnen und Lehrer in Mali in den Streik treten. Die Menschen in Mali kämpfen für ihre Rechte. Ich habe gerade heute Vormittag noch mit einem Mitarbeiter einer NGO telefoniert, die sich aktiv in Zentralmali gegen Land Grabbing einsetzt.
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Sie wissen genau: Bei den Militäreinsätzen geht es nicht um ihre Rechte oder um Frieden; es geht um geostrategischen Einfluss, Interessenspolitik und Migrationsabwehr.
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Und deswegen lehnt Die Linke die Bundeswehreinsätze ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Buchholz. – Es folgt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grüne Fraktion hat dem Mandat für die UN-Friedensmission in Mali immer zugestimmt, und wir halten die Fortsetzung dieser Mission auch weiter für notwendig.
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Im Zentrum ihrer Aufgaben in Mali stehen der Schutz der Zivilbevölkerung, die Unterstützung für politischen Dialog, die Umsetzung des Friedensabkommens von Algier und politische Reformen. 63 Länder beteiligen sich mit über 13 000 Soldatinnen und Soldaten und 2 000 Polizeiangehörigen an der Umsetzung dieser Aufträge. Und wir wollen, dass Deutschland weiter dabei ist.
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Aber es ist wichtig, die großen Probleme dieser Mission deutlich zu benennen und nichts schönzureden. Im letzten Jahr hat sich die Sicherheitslage im ganzen Land massiv verschlechtert. Im Sommer 2020 gab es Proteste und Massendemonstrationen gegen Korruption und Missmanagement der Regierung Keita. Dann fand der Militärputsch gegen den Präsidenten statt. Und viele Menschen in Mali haben diesen Verfassungsbruch sogar begrüßt, weil sie die Hoffnung hatten, dass die Herrschaft einer korrupten Elite dadurch beendet wird. Inzwischen ist bei nicht wenigen auch diese Hoffnung erschüttert.
Zwar gibt es einen zivilen Premierminister in einer Übergangsregierung; aber das Militär hat die politische Kontrolle. Es gibt einen Plan zur Durchführung von demokratischen Wahlen im Februar 2022 und zur Bildung einer zivilen Regierung. Aber ob und wieweit die Militärs sich daran halten werden, das ist heute eine offene politische Frage. Ich finde es, gelinde gesagt, fahrlässig, dass die Bundesregierung in ihren Begründungen so tut, als wäre das alles klar und selbstverständlich. Das ist es nicht.
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Wenn MINUSMA erfolgreicher werden soll, dann muss die internationale Gemeinschaft sich dafür engagieren, dass diese demokratischen Wahlen ohne Einschränkungen und ohne Verzug stattfinden. Das ist eine zentrale politische Aufgabe.
Zugleich muss sich MINUSMA auf die Stabilisierungs- und Schutzaufgaben in Mali konzentrieren. Den Forderungen, diese Mission noch viel stärker mit der militärischen Aufstandsbekämpfung der G‑5-Sahelstaaten und mit „Barkhane“ zu vermischen, darf nicht nachgegeben werden.
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Der bisherige Vorsitzende der G‑5-Gruppe, der diktatorische Herrscher des Tschad seit 30 Jahren, Idriss Déby, ist in dieser Woche bei Kämpfen mit Rebellen umgekommen. Er war eine treibende Kraft für die ständige Ausweitung der militärischen Aufstandsbekämpfung. Sein Tod symbolisiert das Scheitern dieser Strategie deutlich.
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Deutschland sollte alles dafür tun, dass in Mali ein anderer Weg eingeschlagen wird.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Schmidt. – Es spricht Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als im Juli 2017 ein Kampfhubschrauber der Bundeswehr im Rahmen der MINUSMA in Mali abstürzte und zwei Soldaten ums Leben kamen, rückte dieser Krieg und der Schrecken dieses Krieges ganz nah an mich und meine Familie heran. Ein Neffe war zu genau diesem Zeitpunkt für vier Monate im Einsatz in Gao.
Ich habe ihn gestern angerufen und nach seinen Erlebnissen befragt. Seine Schilderung war eine andere als die, die wir von Ihnen, Frau Hänsel, und von der AfD bekommen haben. Er hat gesagt, dass die verschiedenen Nationen spezifische Aufgabenpakete haben, die klar definiert, aber auch abgegrenzt sind, und mir erzählt, was sie machen und was sie nicht machen. Wenn man eines dieser Aufgabenpakete herauszieht, so wie hier vorgeschlagen, dann lässt man die anderen Nationen im Stich, die genau darauf angewiesen sind.
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Man lässt die Menschen im Stich. Man lässt die Frauen und Kinder im Stich, die auf diesen Schutz angewiesen sind. Wenn Sie sagen, das bringe alles nichts, dann sehen Sie doch einmal an – das gilt übrigens auch für Afghanistan –, was das für die Familien, die Frauen, die Kinder, die Bildung gebracht hat.
Es stimmt nicht, was Sie über Mali erzählt haben: dass die Bevölkerung diesen Einsatz nicht will bzw. ablehnt. Mein Neffe hat mir in diesem sehr langen und sehr nachdenklichen Telefonat genau das Gegenteil gesagt: Nein, nein, die haben hohe Erwartungen. Die hoffen, dass diese Soldaten zu ihrem Schutz dableiben. Mitunter haben sie Erwartungen, die gar nicht erfüllt werden können, weil sie über das hinausgehen, was ihrem Aufgabenpaket entspricht.
Am Ende habe ich ihn gefragt: Wenn du an meiner Stelle wärst und morgen im Bundestag zu diesem Einsatz reden solltest, würdest du dann sagen, dass dieser Einsatz fortgesetzt werden soll? Was würdest du sagen nach all deinen Erfahrungen? – Er hat die Kameraden, die dort abgestürzt sind, geborgen. Er hat die Hitze erlebt, er hat die Gefährlichkeit erlebt. – Dieser junge Hauptmann hat mir gesagt: Nein, ich würde trotz allem sagen: Es ist wichtig. Wir müssen dort bleiben. – Das ist eine sehr authentische Aussage von jemandem, der, wenn auch nicht so lange, aber immerhin vier Monate dort war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke daher, dass es richtig ist, dort zu bleiben, in Solidarität zu den anderen Nationen, in Solidarität zu den Menschen vor Ort und in der Hoffnung, dass es gelingt, durch einen friedlichen Prozess – natürlich immer mit den NGOs und der Zivilbevölkerung und mit einem politischen Vorankommen – eine Besserung der Situation zu erreichen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Letzter Redner in dieser Debatte: Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Was ein malischer Offizier unlängst dem Stockholmer Institut für Friedensforschung gesagt hat, glaube ich sofort; denn ich habe die Situation bei einem Besuch vor Ort selbst erlebt. Er sagte: Wir haben hier keine Arbeit, keine Schulen, kein Wasser. Die einzige Möglichkeit ist, zu den Waffen zu greifen und sich zu holen, was man nur kriegen kann. – Damit sind wir auch schon beim Einsatz unserer Soldaten in Mali. Er ist nämlich Teil unseres vernetzten Ansatzes, der genau diese Konfliktursachen im Blick hat. Mit unserem Beitrag zur europäischen Trainingsmission und unserem Beitrag zur Mission der Vereinten Nationen MINUSMA, den wir hier debattieren, sorgen wir dafür, dass ein sicheres und stabiles Umfeld entstehen kann, in dem Arbeit, Schule und Grundversorgung möglich werden. Dann müssen Menschen nicht mehr zu den Waffen greifen und auch nicht die Flucht ergreifen. Beides sind Kerninteressen, die Deutschland und Europa in Mali verfolgen.
Meine Damen und Herren, Mali ist heute von einem solchen Zustand leider noch weit entfernt; die Debatte hat das gezeigt. Deshalb bleibt unser Einsatz der Bundeswehr weiter wichtig. Gerade im Zentrum des Landes ist die Sicherheitslage aufgrund von Kämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen immer noch schlecht. Im vorigen Jahr gab es 3 000 Konflikttote, davon rund 1 000 Zivilisten. Auch die Kräfte der Vereinten Nationen geraten immer wieder unter Beschuss. Erst am 2. April wurde ein MINUSMA-Camp attackiert. Es gab 4 Tote und 19 Verletzte. Das zeigt wieder: Mali ist ein schwieriger Einsatz. Das erfahre ich auch im Austausch mit den Soldaten aus meinem Wahlkreis, den Aufklärern aus Freyung im Bayerischen Wald, die aktuell zum wiederholten Male ihre Fähigkeiten in Mali unter Beweis stellen.
Ich möchte betonen: MINUSMA ist einer der gefährlichsten Einsätze. Deswegen herzlichen Dank allen Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz fern der Heimat! Kommen Sie alle wohlbehalten auch dieses Mal zurück.
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Vielen Dank, Thomas Erndl.
Nein, nein, Frau Präsidentin!
Das war eigentlich ein schönes Schlusswort.
Das wäre ein schönes Schlusswort gewesen, aber es war nur die Klatschpause.
Meine Damen und Herren, die Herausforderungen in der gesamten Sahelregion bleiben riesig. Als Deutschland und Europa müssen wir uns diesen Schwierigkeiten stellen. Niemand darf wegschauen, wenn vor unserer Haustüre Terrorismus wütet, Massenflucht droht. Deshalb müssen wir die Dauer des Einsatzes verlängern. Afrika ist ein Kontinent der Chancen. Sie können aber nur durch Sicherheit ergriffen werden. Deshalb bitte ich um Zustimmung im weiteren Verfahren.
Herzlichen Dank Ihnen. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
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Vielen Dank, Herr Erndl. Und entschuldigen Sie die Unterbrechung. – Ich schließe damit die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer vor zwei Wochen Danger Dan und Igor Levit bei Böhmermann gesehen hat, der hat gemerkt, dass der Kunst in Deutschland ihr Scharfsinn und ihr Humor Gott sein Dank noch nicht abhandengekommen ist. Aber gerade ist es still hierzulande: geschlossene Kinos, geschlossene Clubs, geschlossene Theater, geschlossene Konzerthallen. Ja, wir merken es in dieser ohrenbetäubenden Stille: Wir brauchen Kunst und Kultur, mehr davon und zwar für alle.
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Wir brauchen sie, um als Gesellschaft ganz zu sein.
Wir alle sind „betroffen“. Aber das ist natürlich ganz und gar nichts im Vergleich zur Betroffenheit der vielen Menschen, die in der Kreativwirtschaft arbeiten und die in ihrer wirtschaftlichen Existenz, in ihrer Alterssicherung und auch in ihrer Gesundheitsversorgung substanziell angegriffen sind. Dabei gilt es den Blick zu weiten. Wir sprechen nicht nur von den Künstlerinnen und Künstlern; denn keine Museumsschau, kein Theaterstück, kein Konzert läuft ohne diejenigen im Hintergrund. Umso katastrophaler ist es, dass vielen von ihnen mittlerweile die wirtschaftliche Basis weggebrochen ist, sodass sie die Kulturszene verlassen und sich andere Jobs suchen müssen. Meine Damen und Herren, es wird sehr schwer sein, diesen Braindrain, dieses Abwandern von Fachexpertise zu stoppen. Umso schneller müssen wir jetzt Maßnahmen ergreifen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der freien Kulturschaffenden insgesamt zu verbessern.
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Das Gleiche gilt für diejenigen, die in den Medien arbeiten.
Die Kreativwirtschaft in ihrer Gesamtheit ist mit einer Bruttowertschöpfung von über 100 Milliarden Euro jährlich knapp hinter dem Maschinenbau der drittgrößte Wirtschaftszweig in unserem Land. Dieser Wirtschaftszweig ist durch einen hohen Anteil von Soloselbständigen geprägt. Die schlechte Absicherung gerade dieser Menschen war schon immer problematisch. Jetzt, in der Pandemie ist es überfällig, dass wir als Gesetzgeber reagieren. In unserem Antrag machen wir dazu konkrete Vorschläge.
Zuerst zu den dringend notwendigen Sofortmaßnahmen während der Pandemie: Wir brauchen endlich ein Existenzgeld von 1 200 Euro monatlich rückwirkend für die Zeit der Pandemie.
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Vorbild für unseren Vorschlag ist der fiktive Unternehmerlohn der einzig grün-geführten Landesregierung von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg.
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Wenn Sie das für grün-schwarzes Teufelszeug halten, sei Ihnen gesagt: Sogar der leibhaftige bayerische Ministerpräsident hat dieses Modell, nachdem er es fünfmal angekündigt hat, mit den für einen CSUler durchaus bemerkenswerten Worten: „Wir wollen uns an Baden-Württemberg orientieren“ umgesetzt.
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Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass niemand wegen der Folgen der Pandemie aus der Künstlersozialkasse fliegt. Gleichzeitig müssen wir jetzt den Kulturbetrieb langfristig auf eine bessere ökonomische und soziale Grundlage stellen. Dafür müssen wir auch an die Gewinner dieser Krise ran: an die großen digitalen Plattformen. Sie verdienen an der kreativen Arbeit anderer, ohne selbst etwas zur sozialen Absicherung der Betroffenen beizutragen. Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass auch die im Ausland ansässigen Plattformen in die Künstlersozialkasse einzahlen.
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Zugegeben, das ist ein dickes Brett. Aber vor den Aufgaben zurückzuschrecken, ist keine Option. Um den Abertausenden Kulturschaffenden unseres Landes eine Existenz zu ermöglichen, die der gesellschaftlichen Bedeutung ihres Tuns gerecht wird, brauchen wir endlich Mindesthonorare, eine solidarische Bürgerversicherung, eine Garantierente und einen leichteren Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen. Um es mit den Worten von Annalena Baerbock zu sagen: Wir müssen ins Machen kommen. – Ich bitte Sie alle um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Erhard Grundl. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Elisabeth Motschmann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die Pandemie begann, beim ersten Lockdown, war uns sofort klar, dass die soloselbstständigen Kulturschaffenden in prekären Verhältnissen am meisten leiden werden, im Gegensatz zu denen, die in staatlichen Kultureinrichtungen arbeiten und vom Kurzarbeitergeld leben. Aber wir haben unglaublich viel getan; das muss man ja mal sagen. Herr Grundl, Sie haben aufgezählt, was wir alles nicht getan haben.
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Ich zähle mal auf, was wir getan haben: Wir haben im letzten Jahr 1 Milliarde Euro und in diesem Jahr 1 Milliarde Euro bereitgestellt, Spielstätten erhalten und stabilisiert, Stipendien ausgereicht, Fonds gefüllt, damit sie die Gelder an die spezifischen Künstlerinnen und Künstler auszahlen, freie Orchester stabilisiert, Überbrückungshilfen auf den Weg gebracht und dann das Sozialschutzpaket. Wir haben ganz viel gemacht.
Wir haben auch viel für den Film getan. Wir haben 50 Millionen Euro für einen Ausfallfonds bereitgestellt. Und genau diese Filmschaffenden, Jan Josef Liefers, Ulrich Tukur und andere, haben sich heute mit einer merkwürdigen Aktion, nämlich #allesdichtmachen, sehr zynisch, sehr hämisch über die Arbeit der Bundesregierung geäußert.
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– Das ist sicher durch die Meinungsfreiheit und die künstlerische Freiheit gedeckt. Aber ich habe ja die Möglichkeit, darauf zu antworten. – Häme und zynische Äußerungen passen nicht zur derzeit ernsten Lage unseres Landes. Das ist das Erste, was ich antworte. Und dann würde ich diesen Künstlerinnen und Künstlern, die ja teilweise schon wieder von ihrer Aktion abrücken, zurufen: Nachdenken statt querdenken. – Denn in Wahrheit haben sie doch den Querdenkern in die Hände gespielt, der AfD in die Hände gespielt, und das kann nicht richtig sein.
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Jetzt zu dem Antrag der Grünen. Die beste Absicherung für Künstlerinnen und Künstler ist ein stabiles, ein gerechtes und ein starkes Urheberrecht. Wenn wir die Kreativen, ihre Arbeit und ihren Einsatz durch ein verbessertes Urheberrecht stärken, dann ist das das Allerbeste. Aber sicherlich müssen wir darüber hinaus noch einiges tun. Jede öffentlich geförderte Einrichtung oder jedes Projekt sollte verpflichtet sein, die Beschäftigten angemessen zu bezahlen; denn wir haben auch da große Schwachstellen.
Zweitens müssen wir sehen, wie wir wieder mehr Menschen von den Kultur-Ich-AGs in reguläre abhängige Beschäftigungsverhältnisse bekommen. Ich nenne beispielsweise das Prekariat im Bereich der Kulturvermittlung. Da haben wir eine ganz geringe Bezahlung, und das ist nicht gut. Ich betrachte es als sehr wichtige Aufgabe, in der nächsten Wahlperiode faire Arbeitsbedingungen und gerechtere Entlohnung für das Vermittlungspersonal in den Museen und Gedenkstätten zu schaffen. Da ist noch Luft nach oben.
Drittens. Der Kulturrat hat uns außerdem das Thema Arbeitslosenversicherung für selbstständige Künstler auf die kulturpolitische Tagesordnung gesetzt. Ja, darüber muss man nachdenken. Für den Zugang von Selbstständigen zur Arbeitslosenversicherung gibt es aber noch hohe Hürden. Wer zahlt zum Beispiel den Arbeitgeberanteil? Darüber müssen wir nachdenken.
Ich denke auch, dass wir zukünftig, zumindest in Krisensituationen, noch mehr zur Existenzsicherung der selbstständigen Kreativen durch Wirtschaftshilfen beitragen und sie so bei ihrer Existenzgründung unterstützen sollten.
Damit bin ich am Ende meiner Rede. Meine Damen und Herren, das Anliegen der Grünen ist berechtigt. Aber ich sage noch mal: Wir haben schon sehr viel getan und müssen weiter an diesen Themen arbeiten. Unsere Kreativen dürfen wir nicht im Stich lassen, schon gar nicht in Zeiten der Pandemie.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Maske bitte aufsetzen!
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Renner.
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Sehr geehrtes Präsidium!
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– Jetzt lacht sie. Ich weiß nicht, warum Sie lachen.
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Spätestens seit Bekanntwerden des Wahlprogrammes der Grünen ist es kein Geheimnis mehr: Die Grünen rennen in ideologie-, tollwütigem Schweinsgalopp Richtung autoritärem Ökosozialismus.
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Seit Jahren arbeiten Sie mit daran, den werteschaffenden Milieus unseres Landes Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Und dort, wo Fleiß, Innovation und Produktivität unseres Mittelstandes trotz Gendergaga, trotz Quotenregelung, trotz Verboten aller Art noch immer zu Gewinnen führen, sollen diese umverteilt werden. Ihr prominentester marxistisch-leninistisch ausgebildeter Brückenkopf, die Frau Bundeskanzler,
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hat Ihnen den Weg bereitet. – Da muss er schon wieder lachen.
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Jetzt sehen die Grünen ihre Chancen als unverhohlen enthemmte Partei der Staatsprofiteure. Genau in diese Richtung zielt nämlich dieser Antrag – ein weiterer Baustein zur allgegenwärtigen grün-sozialistischen Bevormundung und Reglementierung. Das grüne Grundkonzept für jedes Politikfeld ist denkbar einfach: Man bedient sich bei den Leistungsträgern und verteilt es unter jenen, deren Leistung nicht zum Lebensunterhalt ausreicht.
Seit der vorgestrigen Enthaltung der Grünen zum finalen Coronapolitikdesaster dieser Regierung ist bewiesen: Auf der einen Seite will man Berufsausübungsverbote auch in der Kunst- und Kulturbranche und bringt damit auch die Leistungsträger in existenzielles Wanken und sorgt so für Not, Elend und Existenzangst. Auf der anderen Seite fordert man großzügig und gönnerhaft 1 200 Euro sogenanntes Existenzgeld monatlich. Man fordert Mindesthonorare, Mindesttarife, staatliche Zuschüsse zu Versicherungen, eine Garantierente und vieles, vieles, vieles mehr,
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gerade auch für Ab-und-zu-Arbeitende. Kurzum: Wen die autoritäre Knute von Quotenregelungen, Ökonachhaltigkeitskonzepten, Staatsabhängigkeiten nicht abschreckt, über den ergießt sich dann ein vom Steuersäckel prall gefülltes Füllhorn grüner Generalalimentationen.
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– Na ja, denken Sie mal darüber nach. Das ist blanker wirtschaftlicher Unsinn. – Aber der grüne Wahn, der hat System, bläht man doch so sehr schön die Verwaltungsstrukturen des Staatsapparates immer weiter auf. Man schafft so unzählige weitere gut bezahlte Posten für ökosozialistische Apparatschiks.
Ja, die Kunst- und Kulturszene ist schwer getroffen. Ja, wir haben auch eine strukturelle Krise des Journalismus. Aber Sie als Grüne haben das spätestens seit dem vergangenen Mittwoch mit zu verantworten, weil Ihre Rezepte grundverkehrt und schädlich sind, weil Sie Deutschlands Leistungsträger entmündigen und bevormunden wollen, weil Sie jede gewinnbringende Freiheit unter permanenter ideologietrunkener Gängelei ersticken wollen,
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und das nicht in romantisch-klischeehafter Robin-Hood-Manier. Nein, man will knallhart die Einhaltung einer Kaskade von Bedingungen abpressen und Branche für Branche ideologisch auf Linie zwingen. Nicht mit uns! Vade retro … – Das dritte Wort dieses Satzes erspare ich mir.
Grüß Gott! Ein schönes Wochenende!
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Maske anziehen! – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ulla Schmidt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Renner, die Situation der Kulturschaffenden ist viel zu ernst für eine Rede, wie Sie sie hier gehalten haben.
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Wir wissen es nicht erst seit Corona. Viele Probleme, die in diesem Bereich während der Coronazeit deutlich wurden, haben viel tiefer gehende Ursachen und viel tiefer gehende Gründe. Es geht generell um die soziale Absicherung von Menschen, die in wechselnden Arbeitsverhältnissen sind, die mal soloselbstständig, mal abhängig beschäftigt, mal unständig beschäftigt, mal berufsmäßig unständig beschäftigt sind. Sie fallen immer wieder, wie wir jetzt sehen, durch die vielen Raster der sozialen Absicherung, die wir für die Menschen in unserem Land aufgebaut haben. Es geht um den berechtigten Anspruch auf eine Absicherung, die auf Rechtsansprüchen basiert – das steht ja auch in dem Antrag der Grünen, der andere Anträge, die sich in der Beratung befinden, ergänzt –: Wir müssen dafür sorgen, dass die, die Kultur schaffen, anständig dafür bezahlt werden, dass ihre Honorare nicht immer weiter gedrückt werden
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und die Bedingungen nicht immer schlechter werden.
In der Krise haben wir gemerkt: Die Kulturschaffenden, die zum Teil als einzigen Ausweg die Grundsicherung haben, wollten sie nicht. Sie wollen sie nicht, weil sie selbst arbeiten wollen.
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Sie wollen ihr eigenes Geld verdienen; das wollen andere auch. Die Kulturschaffenden aber sagen: Wir wollen eine Absicherung, die uns Rechtsansprüche verschafft. – Ich glaube, das ist das Wichtigste, worüber wir uns hier in Zukunft unterhalten müssen, und dazu müssen wir auch Beschlüsse fassen.
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Dieses Parlament muss Beschlüsse fassen, damit wir endlich auch zu einer besseren Absicherung der Kulturschaffenden kommen.
Die Rechtsabsicherung wird ja unterschiedlich bewertet – bei den Linken, bei der FDP oder bei den Grünen –; ich bin da ganz klar einer Meinung mit der SPD.
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– Ja, mit der gesamten Fraktion; die ist immer mit mir einer Meinung. – Wir sind einer Meinung: Wenn Absicherung, dann Pflichtversicherung. Alles andere, auch das, was teilweise in den Anträgen gefordert wird, ist Rosinenpickerei nach dem Motto: Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte arbeitslos werden, versichere ich mich, sonst nicht. – Das würde eine solche Versicherung sprengen. Nur eine breite solidarische Basis ist dazu angetan, dass wir eine Versicherung bekommen, die Rechtsansprüche garantiert und für die Einzahlenden trotzdem bezahlbar bleibt.
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Wenn wir das im Bereich der Arbeitslosenversicherung machen, dann müssen wir wirklich sagen: Die jetzigen Bedingungen sind nicht ohne Weiteres übertragbar; denn wir haben es bei Kulturschaffenden und Soloselbstständigen nicht einfach nur mit Arbeitslosigkeit tun. Wir haben da einkommenslose Zeiten, wir haben Zeiten, in denen es viele Aufträge gibt, und Zeiten, in denen es weniger Aufträge gibt. Wir müssen uns intensiv damit befassen. Ich glaube, es ist sehr gut, wenn wir jetzt zumindest den Konsens haben, dass hier endlich etwas geschehen muss, dass wir die Soloselbstständigen absichern müssen. Das muss aber zu Bedingungen geschehen, die ihrer Arbeit und ihrer Schaffenskraft entsprechen.
Der zweite Punkt ist: Es geht nicht nur um die Soloselbstständigen, wir haben auch die abhängig Beschäftigten. Der Herr Kollege Grundl hat es richtigerweise gesagt: Es geht nicht nur um die, die auf der Bühne stehen, die wir immer sehen, sondern auch um die, die hinter der Bühne sind. Auch hier herrschen Bedingungen, die einfach nicht gehen. Wir haben einen zu großen Teil derer, die nicht durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert sind, obwohl sie abhängig beschäftigt sind. Es wird Zeit, dass wir eine Regelung finden, die dafür sorgt, dass alle Menschen, die abhängig beschäftigt sind, den gleichen Sozialversicherungspflichten unterliegen. Es wird Zeit, dass wir damit aufhören, diese Gruppe zu unterteilen in kurzfristig Beschäftigte, fest Beschäftigte, unständig Beschäftigte, berufsmäßig unständig Beschäftigte.
Und es muss Schluss damit sein, dass die berufsmäßig unständig Beschäftigten nicht mal in der Arbeitslosenversicherung landen. Diese Zeiten sind vorbei! Damit können wir nicht weitermachen. Deshalb bitte ich alle, einen Weg zu finden. Das Wort „berufsmäßig“ können wir noch in dieser Legislaturperiode ganz einfach streichen. Dann sind zumindest die unständig Beschäftigten alle versichert.
Zudem müssen wir die Versicherung endlich auch auf eine Monatsbasis stellen. Wenn ich eine Beschäftigung, ein Engagement für drei Tage habe, dann muss das Einkommen genauso gelten, als hätte ich einen Monat gearbeitet. Kulturschaffende haben keinen Fünf-mal-sieben-Stunden-Arbeitstag, sondern sogenannte Schattentage und Schaffenstage. Das muss alles gleich bewertet werden. Wenn wir dahin kämen, wären wir wirklich einen Schritt weiter.
Danke schön.
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Vielen Dank, Ulla Schmidt. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hartmut Ebbing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatsministerin! Eigentlich wollte ich anfangen mit „Liebes Kammerorchester!“, aber wir sind hier heute doch mehr, als ich dachte. Wie geht es Ihnen ohne Kino, Theater, Oper, Philharmonie, Popkonzert oder Festival? Nicht gut? Das habe ich mir gedacht. Was glauben Sie, wie es den Künstlerinnen und Künstlern geht, deren Lebenselixier die Bühne ist und die durch staatliche Anordnung weder singen noch spielen können und null Komma null Euro Einnahmen haben?
Ich finde, es ist der Regierung bisher nicht gut gelungen, die Branche zielgenau zu unterstützen. Künstlerinnen und Künstler und Kreative haben keine GmbH, die ihre Personalkosten als Betriebskosten durch Förderprogramme ersetzt bekommt. Die Personalkosten der Künstlerinnen und Künstler sind ihre Gagen, und Gagen werden von den bisherigen Programmen nur unzureichend abgedeckt.
Wir können meines Erachtens die Künstlerinnen und Künstler jetzt nicht im Regen stehen lassen und sie einfach zum Jobcenter schicken. Sie haben einen Job, den sie lieben und liebend gerne ausüben würden. Deshalb bin ich den Grünen sehr dankbar, dass sie den vorliegenden Antrag nutzen, um diese Debatte im Parlament weiterzuführen. Schade finde ich nur, dass sich die Grünen bei dem wichtigen Gesetz am Mittwoch enthalten haben.
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In vielen Punkten stimmt der Antrag der Grünen mit Anträgen überein, die meine Fraktion bereits im letzten Jahr eingebracht hat. So forderte unser Antrag vom November letzten Jahres ebenfalls die Auszahlung eines Unternehmerlohns, der deutlich über der Höhe der Neustarthilfe liegen und für Lebenshaltungskosten geöffnet sein sollte. Dabei sollte die Auszahlung am besten über das Finanzamt erfolgen – es hat ja alle Daten –, unkompliziert und ohne Antragsformulare.
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Beim Vorschlag der Grünen zur Öffnung der Arbeitslosenversicherung für Selbstständige kommen noch ein paar Fragen auf: Wie definieren Sie Arbeitslosigkeit bei Selbstständigen? Sollen selbstständig Versicherte auch unter normalen Umständen bei schlecht laufendem Geschäft durch ein Arbeitslosengeld abgesichert sein? Warum müssen Selbstständige bei staatlich angeordneten Beschäftigungsverboten überhaupt ihre eigene Überbrückungshilfe durch Beiträge finanzieren? Es ist richtig: Die Künstlersozialkasse muss reformiert werden. Die Pandemie zeigt uns deren Schwächen. Wieso ein in der KSK versicherter Künstler überhaupt scheinselbstständig sein kann, ist mir bis heute rätselhaft.
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Wir müssen die besondere Kreativität und Innovationskraft von selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern am Leben erhalten, am besten dadurch, dass Theater, Kinos und Konzertsäle wie der öffentliche Nahverkehr und Lebensmittelläden behandelt werden: Mit Maske und Abstand, aber einfach machen lassen.
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Denn Kultur ist für die Menschlichkeit systemrelevant und damit überlebenswichtig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Hartmut Ebbing. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Simone Barrientos.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil des Problems wird hier gerade sichtbar: Hier stehen und sitzen wieder Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker und reden über die Lage und das Problem. Wer fehlt, sind die Politiker und Politikerinnen aus dem Bereich Arbeit und Soziales
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– Klar, meine Fraktion. Aber ihr entscheidet nicht, verdammt noch mal!
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– Wirklich süß. – Verdammt, aber wenn auch andere da sind und alle schon wissen, wie die Lage ist, dann frage ich mich, wie es sein kann, dass die Lage immer noch so ist, im Bereich Kultur und Medien, aber auch darüber hinaus; das betrifft Soloselbstständige insgesamt.
Ich kann mich an eine Debatte im Jahr 2018 erinnern. Ich war neue Abgeordnete – ich kam aus dem Kulturbetrieb, ich kannte die Lage –, und wir brachten einen Antrag zur sozialen Lage der Soloselbstständigen ein: dass es eine Versicherungsmöglichkeit braucht, dass die Absicherung nicht stimmt, dass die Gagen beschissen sind – all diese Punkte, über die wir reden.
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Wir wurden damals abgebügelt, ausgelacht als Schwarzmalerinnen. Ich war damals wirklich erschüttert über die Unkenntnis über die Branche, über die Unkenntnis in diesem Hause, was die Arbeitsbedingungen im Bereich Kultur und Medien betrifft.
Das hat sich jetzt durch Corona ein bisschen geändert. Durch die Pandemie ist die Lage der Branche sichtbar geworden. Man kann dem nicht mehr aus dem Weg gehen, auch nicht in der Regierungskoalition. Die meisten Kulturpolitikerinnen wussten das vorher – nicht alle –, aber inzwischen fast alle. – Na ja, das sind ja auch keine Kulturpolitiker. – Aber jetzt ist, verdammt noch mal, Handeln gefragt.
Jetzt haben wir aber verschiedene Baustellen. Einige Sachen müssten im Bereich Arbeit und Soziales entschieden werden, andere Sachen kann die BKM machen. Warum zum Beispiel – das ist doch ein Skandal – sind Vergabegelder für Kultur und Projekte nicht an soziale Kriterien wie Honoraruntergrenzen, wie Diversität usw. gebunden?
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Das geht doch nicht, das ist doch irre. Da muss man doch vorlegen. Dann kann man auf das Ressort Arbeit und Soziales Druck machen und sagen: Jetzt aber Butter bei die Fische; weil man nämlich selber Butter beigemacht hat. So geht das.
Ein anderer Punkt ist zum Beispiel die Rentenversicherung. Es geht aber auch um andere Dinge; es ist ein so riesiges Feld, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Sie merken es: Ich bin inzwischen echt sauer.
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– Fragen Sie mich doch mal was, dann kann ich weiterreden!
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– Ja, aber jetzt geht es gerade um was.
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Jetzt geht es hier gerade um die Leute in Kultur und Medien, denen es echt scheiße geht. Die fünf Minuten werden Sie haben, denke ich mal.
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Ich bin deshalb zornig, weil wir hier seit Ewigkeiten darüber reden. Alles, was in eurem Antrag steht, ist ja richtig; aber wir brauchen auch das Verbandsklagerecht, damit die Leute überhaupt ihre Rechte einfordern können.
Dann ist natürlich ein Problem: Der Antrag landet jetzt im Kulturausschuss, und dann unterhalten wir uns wieder darüber. Das machen wir doch schon seit Ewigkeiten. Wir müssen uns nicht darüber unterhalten; in den anderen Ausschüssen muss mal ein bisschen Erkenntnisgewinn her und dann auch Handeln.
Ich habe wirklich genug von den Sonntagsreden. Frau Schimke, ich freue mich, dass Sie da sind und bin gespannt auf das, was da kommt und was aus dem Bereich Arbeit und Soziales vielleicht an konkreten Vorschlägen kommt. Aber mit Sonntagsreden ist jetzt echt gut. Mir langt es, und den Leuten schon erst recht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Simone Barrientos.
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Die Redezeit ist tatsächlich vorbei, Frau Barrientos.
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– Frau Barrientos!
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Herr Grosse-Brömer möchte nach Hause, das verstehe ich auch. – Deswegen rufe ich jetzt die nächste Rednerin von der CDU/CSU-Fraktion auf: Jana Schimke. – Frau Schimke, bitte.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich muss hier mal mit einer falschen Annahme aufräumen. Der Antrag, der uns heute von den Grünen vorgelegt wurde, betrifft weder nur Künstlerinnen und Künstler, noch wird er der aktuellen Krise gerecht; das muss man an dieser Stelle sagen.
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Dieser Antrag ist, wie Sie es selbst formulieren, tatsächlich eine Blaupause für alle Selbstständigen. Da werde ich natürlich hellhörig; denn wir müssen schon unterscheiden: Worüber reden wir hier eigentlich? Reden wir hier über berechtigte Standards im Bereich der Kulturszene, oder reden wir über alle Selbstständigen in diesem Land? Das macht einen großen Unterschied, meine Damen und Herren.
Mir ist eines wichtig – und das finde ich auch nicht amüsant –: Die Coronakrise wird – in diesem Antrag auch durch die Grünen – mal wieder genutzt, um das an sozialpolitischen Forderungen auf den Tisch zu legen, was sie sowieso schon immer wollten.
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Die Situation, die wir jetzt bei unseren Selbstständigen in der Kulturszene erleben, hat wenig mit dem zu tun, was Sie an Forderungen formulieren.
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Das Problem, das wir haben, ist: Die Situation, in der sich die Kulturbranche im Moment befindet, ist keine klassische Krise.
Was tun Sie denn im Normalfall? Stellen Sie sich vor, Sie sind selbstständig und Sie haben eine wirtschaftliche Krise; Ihrem Unternehmen geht es nicht gut, oder Sie haben keine Aufträge. Was tun Sie? Sie setzen alles daran, neue Aufträge zu bekommen. Sie suchen nach neuen Kunden oder nach neuen Auftraggebern. Sie sind aktiv, Sie machen etwas. Sie sitzen nicht zu Hause.
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Was passiert aber jetzt gerade in der Coronakrise? Wir haben im Kulturbereich ein faktisches Beschäftigungsverbot, ein faktisches Berufsverbot. Die dürfen nicht das tun, was sie gut können. Die dürfen nicht das tun, was sie gerne tun wollten. Und sie dürfen es seit über einem Jahr nicht tun, liebe Frau Kollegin.
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Das ist doch der Grund, warum es unseren Kulturschaffenden im Moment so schlecht geht,
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und das ist auch der Grund, warum heute das ganze Netz über den Hashtag #allesdichtmachen redet. Ich kann das verstehen. Ich kann diesen Zynismus, diese Ironie der Schauspieler durchaus nachvollziehen; denn diese Krise macht ja auch etwas mit uns allen. Wir sind alle müde. Wir sind alle frustriert. Wir würden uns alle wünschen, aus dieser Zeit herauszukommen, mal wieder in den Urlaub zu fahren, ein Konzert zu besuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen – das zu tun, was Menschsein ausmacht, nämlich soziale Kontakte zu leben. Und das können die jetzt nicht. Davon leben diese Menschen aber, und das ist das, was diesen Frust ausmacht.
Ich kann das verstehen. Das sind keine Aluhutträger, das sind auch keine Verschwörungstheoretiker oder Coronaleugner; das sind Menschen, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausleben. Unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen – das will ich an dieser Stelle auch mal sagen –, ist es, das ernst zu nehmen. Wir sollten diesen Menschen auf Augenhöhe begegnen und sie nicht noch beschimpfen für das, was sie dort tun, und für den Frust, der sich da schließlich breitmacht.
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Ich will noch eine weitere Aussage treffen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist gewiss nicht so – Herr Grundl hat es angesprochen –, dass Soloselbstständige schlecht abgesichert sind. Das stimmt per se nicht.
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Die überwiegende Zahl der Soloselbstständigen in Deutschland – und da gehören natürlich die Kulturschaffenden dazu, aber auch alle anderen; Sie sprachen ja von Soloselbstständigen im Allgemeinen – ist ganz gut abgesichert. Oder können Sie sich erinnern, dass es die Kulturschaffenden oder andere Soloselbstständige in unserem Land waren, die nach dem ersten Lockdown sofort nach Hilfen gerufen haben? Nein, die haben tapfer durchgehalten. Die haben von der Substanz gelebt. Die haben von dem gelebt, was sie auf der hohen Kante hatten, weil das nämlich so funktioniert, weil die nämlich so ticken.
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Die wissen: Wenn ich mal in die Krise komme, dann muss ich das tun. Da brauche ich meine Gelder; da brauche ich meine Mittel, auf die ich zurückgreifen kann. – Das haben die schon sehr gut verstanden. Aber man kann es niemandem zum Vorwurf machen, dass nach über einem Jahr Lockdown, Corona und Berufsverbot da auch die Nerven blank liegen.
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Natürlich ist es so, und da gebe ich Ihnen durchaus recht, dass die Kulturbranche wirklich mit am stärksten betroffen ist.
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Das sind die, die jetzt wirklich am längsten nicht zum Arbeiten gekommen sind, anders als vielleicht der Einzelhandel, der zwischendurch mal ein bisschen was machen konnte, oder die Gastronomie, die das auch tun konnte.
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Aber sie sind eben nicht deswegen am stärksten betroffen, weil sie nicht vorgesorgt haben, sondern sie sind am stärksten betroffen, weil sie durch gesetzliche Bestimmungen von der Arbeit abgehalten wurden.
Ich hoffe, dass sich das bald ändert; das darf ich an dieser Stelle auch mal deutlich sagen. Es gibt nur eine Lösung, aus dieser Situation herauszukommen, und das ist das Impfen.
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Und dann glaube ich, dann hoffe ich, dass die Vielzahl der Kulturschaffenden, die Vielzahl an anderen Gewerbetreibenden, an Selbstständigen, die es in diesem Land gibt, auch dann noch arbeiten werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich habe keine Zeit mehr. Das tut mir leid.
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Ich fände es gut, wenn wir krisenadäquat reagieren, wenn wir den Menschen an der Stelle helfen, wo Probleme entstehen, und wenn wir uns vor allen Dingen auch mal darauf konzentrieren, zu überlegen, wie wir diese Menschen nach der Krise alle wieder in Arbeit bringen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte: für die SPD-Fraktion Helge Lindh.
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Frau Präsidentin! Also, ich sage „Frau Präsidentin“, nicht „Präsidium“. Für mich sind Sie ein Mensch.
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Vielen Dank, Herr Lindh.
So viel Zeit muss sein. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war eben noch so tiefenentspannt und müde, aber nach der letzten Rede habe ich jetzt Puls. Ich werde es jetzt nicht lang und subtil, sondern kurz und grobschlächtig machen. Ich stelle zum einen fest, Frau Schimke, dass Sie eine Rede gegen Ihre eigene kulturpolitische Sprecherin gehalten haben.
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Das ist legitim, aber ungewöhnlich.
Zum Zweiten stelle ich fest, dass wir als SPD nicht wünschen, dass die AfD weiter so viel Werbung für die Grünen macht; denn das machen Sie, wenn Sie die immer als ökosozialistisch bezeichnen. Ich wünschte mir, sie wären ökosozialistisch. Das sind sie aber nicht.
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Und zum Dritten muss ich doch feststellen, dass ich, ehrlich gesagt, nicht glaube, dass die Situation von Prekariat im Kulturbereich, die schon lange vor der Pandemie bestand, durch Impfen gelöst wird. Das erschließt sich mir logisch nicht.
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Ich komme jetzt aber zu meinen verschiedenen Verärgerungen.
Erstens. Ich glaube, wir verzerren die Situation fundamental, wenn wir einfach nur sagen würden: Wir müssen gucken, dass der ganze Betrieb wieder ins Laufen kommt, und dann haben wir Glückseligkeit im Kulturbereich. – Das ist eine Farce, wenn man das behauptet, wie es eben suggeriert wurde. Das wird den vielen Kulturschaffenden nicht im Mindesten gerecht.
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Damit komme ich zu meiner zweiten Verärgerung. Die beziehe ich bewusst auf uns. Es ist ja gut, sich auch mal kritisch selbst zu beurteilen, und zwar jetzt nicht uns als Koalition, sondern insgesamt als Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker. Wir hatten in der Vergangenheit große Würfe. Zwei Sozialdemokraten – Lattmann und Ehrenberg – haben die KSK auf den Weg gebracht. Etwas in dem Umfang, solche großen Würfe, brauchen wir zukünftig wieder.
Wir verbringen viel zu viele Stunden miteinander, uns aufzuregen, dass wir nicht ernst genommen werden, zu lamentieren, über Förderprogramme zu sprechen usw. Wir betreiben unsere eigene Selbstverzwergung; deshalb ist es ein guter Ansatzpunkt, da tatsächlich fundamentale Fragen zu diskutieren. Und es ist an der Zeit, dies in Zukunft zu tun.
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Da gibt es nicht die einzelnen Guten und Bösen, sondern das ist auf allen Ebenen zu tun. Alle demokratischen Parteien sind im Übrigen auch mehr oder weniger in einzelne Regierungen verwickelt. Also, wir sind alle im Boot, und wir haben es alle nicht hinreichend geschafft in der Vergangenheit.
Und jetzt zu meiner dritten Verärgerung, Stichwort: „Alles dichtmachen“. Das ist mir deshalb wichtig, weil es eben auch anders geht. Ich erinnere an Igor Levit. Der hat gesagt, und zwar in aller Drastik: In vielerlei Hinsicht wurden die Kulturschaffenden verraten. – Aber er begründet das authentisch und aus einer Dringlichkeit, und es ist ernst zu nehmen.
Er macht es aber nicht so, dass er statt in Ironie in einen blanken Zynismus verfällt. Und das, was ich lesen und hören musste in diesen Videos – ich habe sie mir angehört –, das war eben nicht Ironie. Das war blanker Zynismus. Das war politische Dummheit, und das war, mit einem Wort, das ich in Berlin gelernt habe, Selbstgeilheit.
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Es war zynisch, töricht und selbstgeil. Und – das muss man auch sagen – es verrät die vielen, vielen einfachen Kulturschaffenden, die wirklich nicht privilegiert sind wie diejenigen, die sich da geäußert haben, sondern die um ihre Existenz ringen.
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Wenn ich mich darüber aufrege – was ich ja jede Woche tue –, wie die AfD spricht, wenn ich mich über Dieter Nuhr aufrege, dann muss ich mich auch über Jan Josef Liefers aufregen, wenn er einen solchen Blödsinn verzapft
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und den Eindruck erweckt, wir hätten hier eine politisch-mediale Verschwörung und ein Kartell in diesem Land. Das ist schlichtweg nicht wahr! Auch wenn Kostja Ullmann sagt, wir hätten so was wie Angst überall, oder dazu auffordert, seine Kontakte zu löschen, weil das der Wunsch der Regierung sei, dann ist das der blanke Hohn. Das ist eine Karikatur dieses Landes und mitnichten eine Antwort auf die prekäre Lage von Kulturschaffenden.
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Herr Lindh.
Deshalb: Wir brauchen nicht einfach nur – das geht kritisch an die Grünen – ein Sammelsurium von einzelnen Maßnahmen, sondern ein Konzept. Dafür werden wir sorgen. Aber wir brauchen vor allem nicht Rechtspopulismus, vertreten durch privilegierte Kulturschaffende, um damit die Frage der sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler zu lösen. Dafür braucht es viel mehr und nicht „Tichys Einblick“.
Vielen Dank.
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