Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man könnte sagen: Es ist vollbracht. Das TKG wird heute hier im Deutschen Bundestag verabschiedet. Ich finde, das ist eine gute Sache: zum einen für die Telekommunikationsbranche und zum anderen für die Verbraucher und Kunden in unserem Land.
Am 16. Dezember 2020 hat uns die Bundesregierung den Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt. Eigentlich sollte in Brüssel schon am 21. Dezember die Frist ablaufen, den Kodex für die elektronische Kommunikation zu verabschieden. Das war natürlich nicht zu schaffen; gar keine Frage. Aber schaut man einmal, was sich in Europa bisher getan hat, dann muss man ja feststellen, dass bisher überhaupt nur drei Länder diesen Kodex umgesetzt haben. Das sind Finnland, Ungarn und Griechenland. Dass wir heute, am 22. April, unser TKG-Modernisierungsgesetz und damit auch diese Kodexumsetzung beschließen, zeigt, dass wir als Deutschland schon ganz gut im Zeitplan liegen.
Meine Damen und Herren, zu den Zielen dieser europäischen Richtlinien gehörte ja unter anderem, dass mehr Wahlmöglichkeiten und Rechte für Verbraucher eingeräumt werden sollten, dass wir in Europa effizientere Notrufverbindungen organisieren müssen und – das war für uns auch sehr wichtig – dass wir mehr Anreize für Investitionen in Netze mit sehr hoher Kapazität bekommen. Das ist eigentlich auch der Kernpunkt unseres heutigen Gesetzes. Mit dieser Novellierung haben wir aus unserer Sicht – ich glaube, da sind wir uns in der Koalition oder hier im Hohen Hause auch einig – diese Ziele erreichen können.
Eine Studie des WIK zum deutschen Kommunikationsmarkt im internationalen Vergleich fördert hier schon einige interessante Punkte hervor, die auch für unser Gesetzgebungsverfahren sehr relevant sind. Deutschland liegt bei der Durchsetzung mit Breitbandanschlüssen in der Fläche gar nicht so schlecht. Circa 88 Prozent der versorgten Haushalte in Deutschland haben Zugriff auf einen Breitbandanschluss. Diese Penetration wird zum einen durch die Fernsehkabelnetze und zum anderen durch die Vectoring- und Supervectoring-Maßnahmen der letzten Jahre erreicht.
Schaut man aber genauer auf die Penetration mit Glasfaseranschlüssen, dann wird das Defizit in Deutschland deutlich sichtbar; denn nur 10 Prozent der Haushalte in Deutschland haben Zugriff auf einen Glasfaseranschluss. Meine Damen und Herren, genau darum geht es ja. Das ist eindeutig zu wenig, um die Gigabitgesellschaft zu erreichen. Deswegen war es notwendig, dass wir hier im Telekommunikationsmodernisierungsgesetz klare Maßnahmen für einen beschleunigten Glasfaserausbau treffen.
Umso mehr hat mich erstaunt, dass einer der Großen der Branche vor ungefähr zwei Wochen über die Presse mitteilen ließ, dass er im Bereich der privaten Haushalte nur diese Koaxkabelnetze ausbauen will und keine Glasfaser verlegen will. Ich halte das für eine falsche Strategie. Deswegen war es auch notwendig, dass wir zum Beispiel einen der Kernpunkte unseres Gesetzes – das Thema Umlagefähigkeit der Betriebskosten – deutlich verändert haben.
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Wir wollen, meine Damen und Herren, den Ausbau mit Glasfaser bis in jede Wohnung voranbringen. Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf jetzt entsprechende Voraussetzungen. Ich hoffe, dass wir heute mit großer Mehrheit dieses TKG beschließen. Das ist ein guter Tag für die Branche, und das ist auch ein guter Tag für unser Land.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jörn König, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Die Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Telekommunikation modernisieren soll. Wie ich vor zwölf Wochen in erster Lesung sagte: „Es geht voran, aber in Trippelschritten.“ Zum ersten Mal werden Dienste und Leistungsmerkmale mit einem funktionalen Ansatz beschrieben und nicht allein mit, so wörtlich, „einem technischen Ansatz“. Damit hinkt die Bundesregierung auch nur etwa zehn Jahre hinter dem Markt her; denn die funktionale Beschreibung von Diensten und Leistungsmerkmalen hat sich am Markt schon lange durchgesetzt. Wie soll man auch sonst technologieoffen beschreiben, was man als Leistung haben möchte?
Dann noch etwas Positives. Meine Anregung, den Begriff „Netze mit sehr hoher Kapazität“ funktionaler und technologieoffener zu beschreiben: Ja, diese Anregung wurde umgesetzt. Es gibt nicht nur Glasfaser. Leider stehen aber wieder keine konkreten Angaben zu Bandbreiten und Verfügbarkeit im Gesetzentwurf. Die wirkliche Musik spielt also weiterhin in den Anhängen zum Gesetz und in den Allgemeinverfügungen und Festlegungen der Bundesnetzagentur.
Es gibt, wie schon erwähnt, bei einigen Kollegen hier eine Vorliebe für Glasfaser. Fragen Sie doch einfach mal bei verschiedenen größeren Sparkassen nach. Viele haben nämlich Fiber-to-the-Desk wieder herausgerissen, weil kein Power-over-Ethernet möglich war. Das ist die praktische Erfahrung. Mit dieser Fixierung auf eine Technologie erinnern Sie mich an Erich Honecker, der auch meinte, mit einer einzigen Technologie hätte er den finalen Durchbruch geschafft; er meinte den 1-Megabit-Chip damals. Das Finale sah aber völlig anders aus. Die Freiheit kam, und Freiheit brauchen wir auch im Technologie- und Telekommunikationsbereich.
Die Bundeskanzlerin mag auch keine Freiheit und hat daher die IT und den Breitbandausbau in den Jahren 2010, 2012, 2017, also dreimal, zur Chefsache erklärt – wieder so ein versuchter staatlicher Technologiedurchbruch. Was aber ist in dieser Zeit real passiert? Im Jahre 1999 hat Siemens Mobile einen Großauftrag aus China erhalten für den Aufbau eines Mobilfunknetzes. Heute müssen wir uns hier in Deutschland überlegen, ob wir uns einem chinesischen Staatskonzern Huawei ausliefern wollen, um moderne Mobilfunknetze zu erhalten. Wir haben lange davor gewarnt. Von Siemens Mobile aber ist schon lange keine Rede mehr. Im Breitbandausbau liegen wir in Europa auf Platz 25, Herr Lämmel, hinter Wirtschaftsmächten wie Slowenien und Lettland. Was für ein Armutszeugnis für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt.
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Sehr geehrte Bundesregierung, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen: Das lassen Sie mal lieber, Sie können das nämlich gar nicht.
Was wir unter anderem brauchen, ist eine definierte Ausfallsicherheit; denn seit der Umstellung auf die IP‑Telefonie sind bei Stromausfall auch automatisch die Telefone der Endkunden tot. Früher war das besser, und da müssen wir wieder hin, dass die Telefonie auch bei Stromausfall funktioniert.
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Nicht jeder hat ein Mobiltelefon. Glauben Sie mir, bei dieser Energiewende sind die Stromausfälle garantiert. Im Abschnitt 2 des Gesetzentwurfes, wo es um Notfallvorsorge geht, hätte man also eine Ausfallsicherheit bzw. Verfügbarkeit festlegen müssen. Die Strafen, wenn ein öffentlicher Netzbetreiber die Pflichten der Notfallvorsorge aus den §§ 183 ff. verletzt, sind mit maximal 1 Million Euro auch viel zu gering. Das sind Peanuts für solche Unternehmen.
Dem Gesetzentwurf wurden insgesamt fünf Anträge beigestellt. Wir werden sachbezogen abstimmen, zustimmen, ablehnen und enthalten. Lassen Sie sich überraschen. Den Gesetzentwurf aber in seiner heutigen Form lehnen wir ab. Es ist zu wenig und viel zu spät.
Und noch mal, liebe Bundesregierung: Ihre Bilanz nach dreimal Chefsache:
Erstens: Platz 25 im Breitbandausbau.
Zweitens. Es gibt keine einheimischen Telekommunikationshersteller mehr.
Drittens. Es besteht die reale Gefahr, von China technologisch abhängig zu werden.
Viertens. Von den USA sind wir bereits heute technologisch abhängig.
Sie können es einfach nicht. Man könnte meinen, Sie zerstören planvoll die Infrastruktur und die Leistungsfähigkeit Deutschlands.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Falko Mohrs, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ach herrje, Herr König, also, was soll man da noch sagen? Ich meine, wir wussten ja, dass die AfD es nicht so richtig mit Zukunft und Gegenwart hat, sondern irgendwie vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben ist. Dass Sie es mit Glasfasern nicht so haben, das haben wir jetzt auch verstanden. Gestern hat Ihr Kollege im Wirtschaftsausschuss noch gesagt, ein Gesetz von 450 Seiten sei zu kompliziert; da könne man gar nichts zu sagen. Das könne man wohl als AfD nicht verarbeiten. Offensichtlich haben Sie es gestern gelesen und nicht verstanden. Gut, so ist es. Wir widmen uns der Debatte.
Meine Damen und Herren, moderne, leistungsfähige Kommunikationsinfrastruktur ist das Nervensystem unserer Gesellschaft. Es ist die Voraussetzung für Teilhabe, und es ist die Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Erfolg in unserem Land. Deswegen ist es wichtig und notwendig, dass wir uns heute mit dem Telekommunikationsmodernisierungsgesetz genau diesen Zielen – eine hochleistungsfähige, eine moderne und eine zukunftsgerichtete Infrastruktur in unserem Land – nähern. Deswegen ist es ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
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Wir verglasfasern das Land. Wir verglasfasern die Infrastruktur bis in die Wohnung. Deswegen ist es gut, dass wir die jahrzehntealte, auf Koaxialkabel ausgelegte Umlagefähigkeit in den Mietwohnungen jetzt in Richtung einer leistungsfähigen Glasfaserinfrastruktur modernisieren. Es wird eben in Zukunft so sein, dass dort, wo neue Glasfaserinfrastruktur im Mietwohnungsbau eingebaut wird, eine in der Dauer begrenzte und vor allem auch in der Höhe auf 5 Euro im Monat begrenzte Umlage für diese neue Glasfaserinfrastruktur geschaffen wird. Das heißt also, dass insbesondere dort, wo bisher der Glasfaserausbau nicht stattgefunden hat, nämlich bei den Mieterinnen und Mietern in den Wohnungen, in den nächsten Jahren ein Impuls zu erwarten ist, und das schaffen wir eben mit genau diesem Gesetz, meine Damen und Herren.
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Das Ganze geschieht auch in Verbindung mit Open Access, also mit mehr Wahlfreiheit, mehr Wettbewerb, und das eben – ich habe es gesagt – in der Höhe der Umlage so, dass es auch sozial verträglich ist.
Wir setzen – davon bin ich fest überzeugt – in Fragen des Verbraucherschutzes Maßstäbe. Wir haben es geschafft, dass dann, wenn ein Vertrag endet, er sich nicht mehr automatisch um ein oder zwei Jahre verlängert, sondern nur noch eine monatliche Verlängerung möglich und damit für die Verbraucherinnen und Verbraucher auch monatlich kündbar ist. Die ärgerliche Endlosschleife von langen Vertragsverlängerungen gehört also mit dieser Gesetzesnovelle der Vergangenheit an, meine Damen und Herren.
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Außerdem muss der Verbraucher in Zukunft rechtzeitig und schriftlich darauf hingewiesen werden, dass seine Kündigung stattfinden muss. Außerdem hat der Kunde Rechte, beispielsweise wenn die versprochene, gebuchte und bezahlte Bandbreite nicht geliefert wird, dass dann eben auch Minderungsrechte in den monatlichen Raten dazugehören. Der Kunde hat das Recht, dass ab dem zweiten Kalendertag entweder eine Entstörung seines Anschlusses stattfindet oder aber auch dort Minderungsrechte für ihn bestehen. Also, meine Damen und Herren, wir setzen hier Maßstäbe beim Verbraucherschutz.
Bevor gleich, Tabea Rößner, wieder die Sorge kommt: Vielleicht einfach noch mal reingucken ins Gesetz. Die Zwölfmonatsverträge gehören zum Standard dazu. Da steht nämlich, dass dem Kunden vor Vertragsabschluss ein Zwölfmonatsvertrag angeboten werden muss. Dann ist es eben auch die Entscheidung des Kunden, ob er diesen Weg des Zwölfmonatsvertrages oder eines längeren Vertrages geht. Das, meine Damen und Herren, ist dann eben auch Verbraucherschutz, dass der Kunde sich hier entscheiden kann.
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Wir haben neben diesen zukunftsrichtenden Fragen einer modernen, einer hochleistungsfähigen Infrastruktur und den Maßstäben beim Kundenschutz uns auch mit Fragen der inneren Sicherheit beschäftigt, weil es hier offensichtlich so manche „feuchte Träume“ – so nenne ich das immer – bei den Sicherheitsbehörden gegeben hat. Hier haben wir, glaube ich, Augenmaß gewahrt, nämlich dass das, was in der Vergangenheit möglich war, auch unter Betrachtung der internationalen Standards im neuen Netz, im 5‑G-Netz, möglich ist. Wir haben entgegen den Aussagen, die gestern gefällt wurden, nichts im Bereich der Vorratsdatenspeicherung geändert. Die ist weiter ausgesetzt, meine Damen und Herren. Was die Bestandsdaten angeht, sei der Kompromiss des Bundesrates erwähnt, dem auch die Grünen zugestimmt haben. Also, meine Damen und Herren, es ist ein gutes Gesetz. Es ist hochleistungsfähig. Es schafft die nötigen Voraussetzungen. Ich bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende 2018 hat die Europäische Union der Bundesregierung zwei Jahre Zeit gegeben, die Richtlinie zum Kodex für die elektronische Kommunikation umzusetzen. Ziel ist und war es – wohlweislich marktgetrieben –, den Ausbau der digitalen Infrastruktur voranzubringen. Es geht also um nicht mehr oder weniger als um die Frage: Wie sieht es aus mit der Digitalisierung in Deutschland?
Knapp vor Ablauf dieser zwei Jahre ging dann 2020 der Referentenentwurf ins Kabinett. Die erste Lesung hatten wir dann Ende Januar. Dann war Funkstille. Dann bekamen wir diesen Dienstag, keine 24 Stunden vor der Ausschusssitzung, keine 48 Stunden vor dieser Debatte hier im Plenum, einen Änderungsantrag über 450 Seiten. Der kam so um die Ecke. Meine Damen und Herren, das ist eine Missachtung der Opposition, und es ist eine Missachtung des parlamentarischen Prozesses.
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Besonders ärgerlich finde ich, dass die Koalition diese Informationen offensichtlich erst der Presse und dann einigen privatwirtschaftlichen Unternehmen zugesteckt und dann erst uns als parlamentarischen Vertretern zur Verfügung gestellt hat. Wenn Sie eineinhalb Stunden, nachdem Sie 450 Seiten erhalten haben, schon die erste Stellungnahme eines privatwirtschaftlichen Anbieters aus diesem Bereich bekommen, der da sagt: „Das finden wir gut daran, das finden wir schlecht daran“, muss ich sagen, fühle ich mich hier sehr gekränkt als Parlamentarier.
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Meine Damen und Herren, es geht um die digitale Zukunft unseres Landes. In dem Prozess hatte ich das Gefühl, dass die Regierung nur das Interesse hat, das hier möglichst schnell über die Bühne zu bringen.
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Der Kollege Lämmel hat gesagt: Es ist erreicht. – Nun denn.
Es gibt einige Punkte in diesem Gesetzentwurf, die wir auch begrüßen. Ich weiß, es gibt kein Patent und kein Anrecht auf politische Ideen; aber die FDP-Bundestagsfraktion war die erste Fraktion, die einen Antrag eingebracht hat, in dem vorgeschlagen wird, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Nebenkostenprivileg und der Frage der Digitalisierung in den Immobilien. Deswegen begrüßen wir den Gesetzentwurf an dieser Stelle.
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Aber wenn man es gesamt betrachtet, meine Damen und Herren: 20 Milliarden Euro Subventionen bis 2025, eine unklare Definition zwischen weißen und grauen Flecken: Das ist eine Verschiebung – ich habe es am Anfang gesagt – weg von der Privatwirtschaft, hin zur Staatswirtschaft. Deswegen können wir Ihrem Antrag und Ihrem Gesetzentwurf insgesamt leider nicht folgen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg, Die Linke.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren den Entwurf des Telekommunikationsmodernisierungsgesetzes, der mit seinen über 450 Seiten dick ist wie ein Telefonbuch. Drei Minuten Redezeit reichen daher nicht aus für fundierte Kritik an der immer noch verfassungswidrigen Vorratsdatenspeicherung und an neuen Überwachungsbefugnissen
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oder an zu langen Telekom-Vertragslaufzeiten und an zu engen Vorgaben für regionales Roaming.
Ich beschränke mich heute auf ein Thema, auf den Universaldienst als Recht auf schnelles Internet. Seit drei Jahren ist die Bundesregierung in der Pflicht, dieses Recht gesetzlich zu verankern und europäisches Recht damit in nationales umzusetzen. Unverbindlich versprochen wurde der Bevölkerung ein schnelles Netz ja schon recht oft: 50 Mbit/s bis Ende 2018, 1 000 Mbit/s bis 2025. Wir alle wissen, die Realität sieht völlig anders aus: Der Fortschritt beim Breitbandausbau bleibt eine Schnecke.
Das hatte und hat in der Pandemie dramatische Folgen für viele. Wir konnten Anfang des Jahres zwar alle live die Landung einer Marssonde verfolgen, aber den Distanzunterricht von zu Hause konnten viele Kinder nicht nur bei mir, im Norden von Brandenburg, immer noch nicht machen. Viele Erwachsene verzweifeln beim Versuch, stabile Videokonferenzen im Homeoffice einzurichten. Verfehlte Förderstrategien und Andi Scheuers blinder Glaube daran, dass Großkonzerne digitale Daseinsvorsorge vernünftig leisten können, bremsten den Ausbau.
Leider bringt aber auch dieser Gesetzentwurf nur einen Rechtsanspruch auf lahmes Internet. Denn aktuell genügen 56 Kilobit pro Sekunde als funktionaler Internetanspruch; die 90er-Jahre lassen freundlich grüßen. Daraus wollte die GroKo im ersten Gesetzentwurf lächerliche 10 Mbit/s machen. Erst im überarbeiteten Entwurf hat sie ihren geringen Anspruch auf 30 Mbit/s gesteigert. Immerhin sollen jetzt die Homeofficefähigkeit und Videostreaming in angemessenem Umfang nicht mehr als Luxus gelten. – Ernsthaft, GroKo?
Mit dem vorliegenden Antrag meiner Fraktion, der Linken, wäre ein wirkliches Recht auf schnelles Internet verankert:
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100 Mbit/s für den Download, 50 Mbit/s für den Upload, und zwar egal, ob man in der Lausitz, im Havelland oder auch in Oberhausen wohnt. Denn der Zugang zu digitaler Daseinsvorsorge, der darf nicht davon abhängen, ob ich auf dem Land oder in der Stadt wohne. Deshalb heißt das ja Universaldienst.
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Weil sich Technologie aber weiterentwickelt, wollen wir auch einen Rechtsanspruch auf einen Gigabitanschluss bis 2030 schaffen. Ich erinnere daran, die Bundesregierung verspricht das ja bereits für 2025. Dann sollte das bis 2030 als Rechtsanspruch wohl kein Problem sein.
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Im Übrigen haben Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren. § 219a StGB gehört abgeschafft.
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Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ziemlicher Witz“, „inakzeptabel“, „spektakulär unambitioniert“, so das Urteil der Sachverständigen in der Anhörung. Auch der überarbeitete Gesetzentwurf enttäuscht alle Hoffnung auf eine moderne Umsetzung des TK-Kodexes. Dabei geht es hier um eine Zukunftsaufgabe, nämlich die digitale Infrastruktur schneller und verbraucherfreundlich auszubauen. Stattdessen haben Sie zwei Jahre mit Streitereien zwischen den Ministerien verplempert, Verbände wurden mit absurd kurzen Äußerungsfristen vor den Kopf gestoßen, und uns knallten Sie vorgestern umfangreichste Änderungen vor die Füße. Eine fruchtbare und sachorientierte Beratung geht anders!
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Inhaltlich sind die neuen Vorschläge kein großer Wurf, in Teilen sogar ein Rückschritt. 2019 kündigte die Bundesjustizministerin das Ende von Zweijahresverträgen für Telefon, Handy oder Internet an. Das ist nun vom Tisch. Kollege Mohrs, es müssen nur irgendwelche Zwölfmonatsverträge angeboten werden, ohne Preisdeckelung. Diese werden also weiter nur als Alibi und unattraktiv angeboten werden. Das ist der Status quo, und deshalb ist es keine Verbesserung des Verbraucherschutzes.
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Die neue Regelung für ein gedeckeltes Glasfaserbereitstellungsentgelt mag zwar besser sein als eine Modernisierungsumlage, die ja ewig auf die Miete umgelegt werden kann, aber nur dann, wenn die Deckelung nicht mit begründeten Mehrkosten leicht ausgehebelt werden kann, so wie es das Gesetz ermöglicht. Alle Nutzer/-innen sollten die vertraglich zugesicherte Datenübertragungsrate auch tatsächlich bekommen. Das ist aktuell nur bei 16 Prozent von ihnen der Fall. Da reicht Ihr Minderungsrecht überhaupt nicht. Deshalb fordern wir einen pauschalierten Schadenersatzanspruch von 5 Euro pro Tag.
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Genauso enttäuschend ist die Regelung zum Universaldienst. Das ist eine Minimalstumsetzung der europäischen Vorgaben. Die Coronapandemie zeigt doch, was dringlich ist: Nur mit schnellem und verlässlichem Internet können die Menschen am Homeoffice und am Distanzunterricht teilnehmen oder digitale Verwaltungsleistungen nutzen. Deshalb brauchen wir einen echten Rechtsanspruch auf schnelles Internet mit jährlich festgelegten Mindestbandbreiten, die immer und überall zur Verfügung stehen. Dieser muss sich daran orientieren, was die Mehrheit der Nutzer/-innen tatsächlich hat. Ihnen reicht es dagegen, wenn eine Handvoll von Diensten irgendwie halbwegs funktionieren. Da platzt doch Ihr groß angekündigtes Recht auf schnelles Internet wie eine Seifenblase. Das sollten Sie auch doch wenigstens zugeben.
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Der Gesetzentwurf birgt erhebliche verfassungsrechtliche Risiken und stiftet mit parallel laufenden Gesetzesvorhaben Verwirrung. Es drohen Rechtsunsicherheit für die Wirtschaft und Gefahr für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wenn Sie schon nicht auf uns hören, dann wenigstens auf den Datenschutzbeauftragten: Sie müssen sicherstellen, dass, wenn Sie Datenschutzfragen aus TKG und TMG herauslösen und in einem eigenen Gesetz regeln, diese Gesetze auch gleichzeitig in Kraft treten.
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Vielen Dank.
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Ulrich Lange, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein umfangreiches Gesetzeswerk findet heute seinen guten Abschluss mit der zweiten und dritten Lesung hier. Ich sage zunächst allen Kolleginnen und Kollegen und den beteiligten Ministerien, Herr Bundesminister, ein herzliches Dankeschön für die intensive Zusammenarbeit, die wir an der ein oder anderen Stelle hatten. Es bewahrheitet sich einmal mehr: Wie gut, dass es uns hier im Deutschen Bundestag gibt; denn die ein oder andere Änderung war noch dringend erforderlich. Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Ja, die Koalition hat gezeigt, dass sie handlungsfähig ist. Das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, setzen wir um. Neue Frequenzen nur gegen flächendeckende Versorgung, genau das steht jetzt konkret im Gesetzentwurf als Mobilfunkausbauziel. 4 G an den Straßen, an den Schienen ist keine Kür, 4 G ist Muss und ist die Basis für 5 G in der Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben nochmals den Instrumentenkasten der Bundesnetzagentur nachgeschärft, aber auch die Spielregeln gegenüber den Netzbetreibern verändert. Liebe Kollegen der FDP, wer nach 20 Jahren missglücktem flächendeckenden Ausbau des Mobilfunks von Markt redet, der träumt. Ich kann das nicht anders sagen als jemand aus dem ländlichen Raum: Hören Sie endlich auf mit der Leier von der Marktwirtschaft bei Telekommunikation auf dem Lande. Ich kann es ehrlich nicht mehr hören!
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Es ist zwingend, dass die TK‑Betreiber zusammenarbeiten. Es wird kein paralleles Netz geben; es rechnet sich nicht. Deswegen ist es auch gut, dass wir mit einer entsprechenden Mobilfunkstrategie der Bundesregierung in dieser Periode eine klare Antwort gefunden haben.
Eines haben wir auch gelernt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Deswegen haben wir die Rechte des Parlaments in der Kontrolle und die Möglichkeiten zum Eingriff geschärft; denn wir haben aus den letzten Versteigerungen gelernt, dass es keinen Sinn macht, wenn man sich nur darauf verlässt, dass angeblich unabhängige Behörden das schon regeln werden. Insgesamt erfolgt also an dieser Stelle eine klare Neujustierung des Instrumentenkastens.
Noch ein Satz zum Universaldienst. Der Universaldienst sichert eine Grundversorgung. Er gewährleistet einen Grundversorgungsanspruch. Genau diese Gewährleistung steht im Artikel 87f unseres Grundgesetzes. Ja, die Schere zwischen Stadt und Land darf nicht weiter aufgehen. Genau an dieser Stelle setzen wir an. Ja, wir setzen an beim Homeoffice. Ja, wir setzen an beim Homeschooling. Deswegen haben wir auch die Kriterien von Latenz und Uploadrate ausdrücklich in dieses Gesetz mit aufgenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kriterien sind festgelegt; Kriterien sind zu erfüllen. Die Verfahrensfristen sind verkürzt. Der Rahmen ist durchaus ambitioniert; aber wir wissen alle, dass es erst ein Gesetz ist. Jetzt geht es an die tatsächliche Umsetzung. Wir als Gesetzgeber werden uns schärfer als in der Vergangenheit anschauen, was Bundesnetzagentur und Telekommunikationsunternehmen an dieser Stelle leisten. Sie können mehr, als sie bisher gezeigt haben.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Gustav Herzog, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist heute ein historisches Datum; denn exakt vor 40 Jahren und zwei Wochen, am 8. April 1981, hat sich das Kabinett Helmut Schmidt mit einem Konjunkturprogramm befasst. Bestandteil dieses Programms war der Aufbau eines integrierten Breitbandglasfasernetzes – vor 40 Jahren! Dann hat es diese Seite des Hauses versaubeutelt,
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weil Helmut Kohl und die damalige schwarz-gelbe Koalition sich für das private Kabelfernsehen entschieden hatten und die Zukunftstechnologie Glasfaser auf uns warten musste.
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Deswegen ist heute ein historisches Datum. Mit diesem Gesetz wird das Thema Glasfaser wieder an die Stelle gerückt, wo es hingehört, nämlich ganz nach vorn.
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Und weil es ein historisches Datum ist, handeln wir auch in vier Dimensionen.
Die erste Dimension: Wir vergraben Glasfaser. Vom Ackerpflug zum Kabelpflug! Das geht jetzt richtig los.
Die zweite Dimension: Wir verglasfasern – ein wunderschönes Wort – auch die Häuser. Ich bin meinem Kollegen Falko Mohrs sehr dankbar, dass wir uns in diesem Bereich wirklich durchgesetzt haben und die schlichte Abschaffung, die die Regierung vorgesehen hat, zu einem echten Investitionsanreiz für das Glasfaser in der Wohnung geschaffen haben.
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An dieser Stelle will ich auch den Sachverständigen danken, insbesondere Professor Thomas Fetzer, der hier wertvolle Hinweise geliefert hat.
Die dritte Dimension: Wir füllen den Raum mit Mobilfunk. Kollege Ulrich Lange, wir haben lange um den neuen § 86 Absatz 2 TKG gestritten, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wir gehen ambitionierte Schritte, wir werden den Mobilfunk leistungsfähig ausbreiten, überall in der Fläche und vor allen Dingen bei den Verkehrswegen, sodass wir, auch wenn wir unterwegs sind, den Kontakt zur großen weiten Welt nicht verlieren.
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Die vierte Dimension: Wir haben ambitionierte Fristen gesetzt, bei den Verbraucherverträgen verkürzt, bei den Berichten an das Parlament auch und haben Genehmigungsfiktionen eingeführt: Wenn die kommunale Verwaltung versäumt, zu genehmigen, dann darf gebaut werden. – Also, wir haben da richtig Gas gegeben.
Ein Satz noch zum Universaldienst, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der nächste Deutsche Bundestag wird die große Freude haben, sich aufgrund eines Berichtes jedes Jahr mit diesem Thema befassen zu dürfen. Dann wird auch die Opposition – hier Grüne und Linke – feststellen, dass es ein äußerst dynamisch angelegtes System ist, weil wir im Universaldienst jedes Jahr höhere Anschlussraten haben werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist jetzt auch eine gute Gelegenheit, allen, die mitgemacht haben, Danke zu sagen: der Arbeitsebene der Ministerien, den Verbänden, Unternehmen, dem Bundesrat, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Fraktion. Insbesondere danke ich an dieser Stelle meiner Mitarbeiterin Anna Rosenberg, die hervorragende Arbeit geleistet hat. Ohne sie wäre das für mich nicht möglich gewesen. Vielen Dank.
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Ein gutes Gesetz – Sie können gigabitmäßig zustimmen. Danke schön.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Erde ist komplett vernetzt. Alle Völker haben Gigabitnetze errichtet. Flächendeckender Mobilfunk und schnelles Glasfasernetz sind Standard auf der ganzen Welt. Auf der ganzen Welt? Ein gar nicht ganz so kleines Volk im Herzen Europas kommuniziert noch immer über alte Kupfer- oder Koaxialkabel und betreibt eine Sportart, die andernorts längst ausgestorben ist: Sie schmeißt zwar nicht mit Hinkelsteinen, betreibt aber Funkloch-Hopping.
Die Gallier um Asterix und Obelix waren nur dank eines Zaubertranks fähig, auf Augenhöhe mit den fortschrittlicheren Römern zu sein.
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Damit Deutschland nicht den Anschluss bei der digitalen Infrastruktur verliert, hat diese Koalition in dieser Legislatur viel getan. Aber auch wir brauchen einen Zaubertrank für den Ausbau der digitalen Infrastruktur. Das Rezept dafür legen wir mit diesem Gesetz vor. Deutschlands Weg in die Gigabitgesellschaft ist mit diesem Gesetz abgedeckt.
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Das staubige Nebenkostenprivileg aus den 80ern des letzten Jahrhunderts haben wir zur bundesweiten Förderung von Inhouse-Glasfasernetzen umgestaltet. Das schafft den Rahmen dafür, dass Millionen von Wohnungen verglasfasert werden können. Wer behauptet, Lobbyinteressen hätten sich hier zulasten der Mieter durchgesetzt, hat das Gesetz entweder nicht genau angeschaut oder es nicht genau verstanden.
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Aufgrund von Open Access, Wahlfreiheit und Wettbewerb wird die Gesamtbelastung der Mieter nicht höher als beim alten Nebenkostenprivileg. Für 5 Euro im Monat – liebe Kollegin Rößner, diese sind gedeckelt –
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kann der Mieter in den nächsten sechs Jahren einen Glasfaseranschluss in seiner Wohnung erhalten. Dieses Förderinstrument zündet den Glasfaserturbo für Deutschland. Wer hingegen zum politischen Hauptziel erklärt, Mieter vor jeglicher Beteiligung zu schützen, der verschweigt, dass der Preis bei einer fehlenden Umlage für den Mieter deutlich höher liegen würde; denn die meisten würden dann auf absehbare Zeit ein Dasein im digitalen gallischen Dorf fristen.
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Gleiches gilt im Übrigen für die Kritik am Universaldienst, der Grundversorgung; Kollege Lange hat es dargestellt. Ein zahnloser Tiger, so heißt es, doch wer so denkt, kann demokratische Strukturen nicht geringer schätzen. Es ist niemand Geringeres als der Verkehrsausschuss dieses Hauses, der die Mindestbandbreite künftig endgültig feststellen wird.
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Ich jedenfalls glaube an die Fähigkeit unserer Demokratie und unserer Parlamentarier.
Ich freue mich darüber, dass wir den Konflikt über die Vertragslaufzeiten beilegen konnten. Das ist ein Gewinn für den mündigen Verbraucher, der nun weiterhin selbstbestimmt zwischen Ein- und Zweijahresverträgen wählen kann. Wir haben auch Weiteres beim Verbraucherschutz getan. Dass zum Beispiel eine Störung innerhalb von zwei Kalendertagen behoben werden muss, rückt den Zugang zum Netz in die Nähe einer Daseinsvorsorge, und da gehört er im 21. Jahrhundert auch hin.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen, bei allen, die daran mitgearbeitet haben. Es ist ein wirklich gutes Gesetz.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir abschließend in zweiter und dritter Lesung eine große und wichtige Reform des achten Sozialgesetzbuchs: das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Darüber freue ich mich sehr; denn ich habe dieses Gesetz auf seinem langen Weg von Anfang an begleitet.
Mit dieser komplexen Reform stärken wir Kinder, Jugendliche und Familien in unserem Land spürbar und langfristig. Wir eröffnen für sie neue Chancen und Perspektiven. Wir stärken aber auch die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der breit aufgestellten Kinder- und Jugendhilfe, und wir verzahnen Akteure an zentralen Schnittstellen miteinander. So gelingt zum Beispiel ein noch besserer Kinderschutz. Im Bundesfamilienministerium haben wir gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen entschieden, uns ausreichend Zeit für diese umfangreich angelegte Reform zu nehmen, und das Ergebnis gibt uns recht.
Die vielen Verbesserungen, die der Gesetzentwurf für die Kinder- und Jugendhilfe schafft, lassen sich in fünf zentrale Bereiche einteilen: ein besserer Kinder- und Jugendschutz; die Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe; Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen; mehr Prävention vor Ort und mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien.
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Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen stehen dabei ganz besonders im Vordergrund, ganz im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention. Der Gesetzentwurf hat ferner im Blick, dass Entscheidungen für Kinder, Jugendliche und Eltern nachvollziehbar sein müssen. Es gibt erstmals ein Beschwerdemanagement über die Ombudsstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der letzten Legislaturperiode wurde unsere Kinder- und Jugendhilfereform leider nicht abschließend im Bundesrat beraten. Für den zweiten Anlauf unseres Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes haben wir uns entschieden, einen breiten Beteiligungsprozess vorzuschalten. Der Dialogprozess „Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ war über ein Jahr angelegt. Beteiligt waren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitshilfe sowie Vertreter aus Bund, Ländern und Kommunen.
Über 70 Personen haben zu thematischen Schwerpunkten miteinander diskutiert, sich eingebracht und gemeinsam mit uns im Ministerium um die wirklich besten Reformansätze gerungen. Weitere Akteure konnten sich schriftlich beteiligen, Ideen liefern und kritisch in Foren mitmischen. Unglaublich viel Expertise ist in unser Kinder- und Jugendstärkungsgesetz eingeflossen.
Ich durfte diesen Dialogprozess leiten, und ich möchte mich an dieser Stelle noch mal ausdrücklich bei allen Beteiligten ganz herzlich bedanken.
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Und ich kann sagen: Dieser Prozess hat sich wirklich gelohnt. Er war von sehr fachlichen und auch konstruktiven Beratungen geprägt.
Mein Dank gilt auch den Koalitionsfraktionen für die guten und konstruktiven Gespräche im parlamentarischen Verfahren. Namentlich erwähnen möchte ich die Berichterstatterin Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion
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sowie den Berichterstatter Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute schließen wir unsere gemeinsamen Beratungen ab. Das ist wirklich ein riesiger Erfolg, über den wir uns auch wirklich gemeinsam freuen können.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt uns einen Gesetzentwurf vor, der sich für uns wie ein Flickenteppich durch das SGB VIII zieht. Sie springen von der Senkung der Kostenbeteiligung von Kindern und Jugendlichen an ihrer eigenen stationären Unterbringung über die Stärkung sogenannter Selbstvertretungen von Leistungsberechtigten und die Implementierung eines Verfahrenslotsen, der das von Ihnen verursachte Chaos in der Übergangszeit für Betroffene erträglicher machen soll, bis hin zu Ihrem Lieblingsthema Inklusion.
Zwar sind in dem Gesetz Aspekte vorhanden, die auch wir begrüßen, wie etwa die verbesserten, weil unangekündigten Kontrollen von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe; aber in der Summe kann man bilanzieren, dass Sie sich noch stärker auf den Inhalt statt auf einen schönen Namen des Gesetzes hätten konzentrieren sollen.
Natürlich sind Selbstvertretungen ein ganz entscheidender Baustein, wenn es darum geht, Fehler und Mängel im System zu erkennen. So haben wir vor Kurzem in der Kinderkommission durch den Vorsitzenden des Landesheimrates Hessen erfahren müssen, dass fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche oftmals keinen ausreichenden WLAN-Zugang haben, um in dem von Ihnen verhängten Distanzunterricht überhaupt bestehen zu können; von den Geräten selbst wollen wir gar nicht erst sprechen.
Aber es sollten dann auch echte Selbstvertretungen sein. So empfinden wir es als wenig hilfreich, dass Sie jenen ehrenamtlich Tätige in der Kinder- und Jugendhilfe beistellen. Hierbei entsteht für uns der schale Eindruck, dass Sie letztlich eine gefilterte Meinung hören wollen, die von diesen Aufpassern kontrolliert wird. Auch die von Ihnen eingeführten Vertrauenspersonen bergen die Gefahr, dass sie die Missstände eher decken als aufdecken, was ich in der ersten Lesung schon ausgeführt habe.
Ähnlich inkonsequent verhalten Sie sich auch bei der Senkung der Kostenbeteiligung von Kindern und Jugendlichen in vollstationären Maßnahmen. Zwar haben Sie endlich erkannt, dass es skandalös ist, das Vermögen oder das durch harte Arbeit in Minijobs aufgebesserte Taschengeld für die Mitfinanzierung der Einrichtungen einzuziehen; aber anstatt diesen Missstand endlich aus der Welt zu schaffen, möchten Sie auch in Zukunft noch 25 Prozent der Einnahmen heranziehen. Wie demotivierend muss es für einen jungen Menschen sein, der unter schwierigsten Umständen aufwächst, wenn für seine ersten Schritte in ein selbstbestimmtes Leben auch noch eine Gebühr erhoben wird – eine Gebühr für eine Maßnahme, die er sich nicht selber ausgesucht hat, sondern die vielmehr Ausdruck von dessen misslicher Lage ist.
Verabschieden Sie sich also von dieser Sondersteuer, und geben Sie diesen jungen Leuten die Luft zum Atmen;
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denn damit würden Sie ihnen vermitteln, dass sie im Leben etwas erreichen können, und bestrafen Sie sie bitte nicht für die Umstände, in denen sie leben müssen.
Geben Sie auch jungen Menschen eine Chance, die aufgrund einer schweren Behinderung einen besonders holprigen Start in das Leben hatten. Ihr ewiges Märchen von der undifferenzierten Inklusion scheitert nämlich an der harten Realität. Sie erreichen nichts, wenn Sie nicht auf die Bedürfnisse der Einzelnen eingehen und diese in den Mittelpunkt stellen, sondern diese Menschen in generalisierte Projekte stecken.
Sie erreichen auch nichts, wenn Sie jedem Betroffenen jetzt einen Betreuer zur Seite stellen; denn erstens wissen Sie selbst, dass Sie nicht ausreichend Personal haben, und zweitens sind diese Leute auch nicht in dem Umfang qualifiziert wie echte Spezialisten, die tagtäglich mit diesen Fällen zu tun haben. Sie rauben daher einer ganzen Generation junger Menschen mit schwerer Behinderung die Chance auf ein wirklich selbstbestimmtes Leben und stellen Ihre Ideologie leider über deren Zukunft.
Aus diesem Grund können wir Ihrem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen; denn dafür hätten Sie ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vorlegen müssen, dessen Inhalt auch hält, was der Name verspricht.
Vielen Dank.
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Jetzt erhält das Wort der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da sagt die sehr geschätzte Kollegin Ingrid Pahlmann heute Morgen zu mir: „Was hast du für einen schicken Anzug an!“ – Da sage ich: „Ich habe immer schicke Anzüge an.“
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Aber heute habe ich einen besonders schicken Anzug an,
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weil es einen Anlass dafür gibt, weil es ein tolles Gesetz gibt, ein wichtiges Gesetz. Dazu haben wir, glaube ich, alle beigetragen. Deswegen ein herzliches Dankeschön an alle, die dies bewegt haben!
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Nun mag die Kinder- und Jugendhilfe ja nicht immer das große Thema der Öffentlichkeit sein, in den Medien oder auch bei Fraktionssitzungen. Aber richtig ist: Es geht um Tausende, es geht um Zehntausende von Kindern, von Jugendlichen, von Familien, die benachteiligt sind. Das sind diejenigen, die unter keinen positiven Lebensbedingungen aufwachsen, und das sind diejenigen, die Gefahr laufen, von der sozialen und kulturellen Teilhabe abgehängt zu werden. Es ist unser Aufgabe, sich um diese Kinder zu kümmern, ihnen Chancengerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe zu geben.
Nach 30 Jahren reformieren wir eines der wichtigsten Gesetze dieses Landes, ein ganzes Sozialgesetzbuch, nach einer intensiven Diskussion. Sie wurde breit geführt. Den Dank, Frau Marks, möchte ich Ihnen ausdrücklich zurückgeben, für dieses Engagement, für die breite Diskussion. Am Ende sehen Sie heute, was es bringt, wenn man einen transparenten Prozess entwickelt und dies gemeinschaftlich mit allen zusammen gestaltet. Das ist ein großer Erfolg. Deswegen noch mal: Danke schön, auch danke schön an Frau Bahr und Herrn Rix von der SPD für die gute Zusammenarbeit!
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Denn es geht um die Kooperation im Kinderschutz, es geht darum, leicht zugängliche Alltagshilfen bei Unterstützungsbedarf bereitzustellen, um die Implementierung von Ombudsstellen; es geht um die stärkere Berücksichtigung von Kindern und Pflegekindern.
Ich darf das für uns im Wesentlichen zusammenfassen. Wenn man fünf Sätze hat, um dieses Gesetz zusammenzufassen, dann lauten diese fünf Sätze relativ einfach: Wir schaffen einen bessern Kinder- und Jugendschutz. Wir stärken Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien und in den Einrichtungen der Erziehungshilfe. Wir bereiten die Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung vor. Wir sorgen für mehr Prävention vor Ort. Und wir sorgen für mehr Beteiligung von jungen Menschen und ihren Familien.
Das stärkt Kinder, Jugendliche und Familien in diesem Land, und deswegen bitten wir um Unterstützung für dieses Gesetz,
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für besseren Kinder- und Jugendschutz sowie eine verbesserte Kooperation im Kinderschutz durch die stärkere Einbeziehung des Gesundheitswesens in die Verantwortungsgemeinschaft für einen wirksamen Kinderschutz.
In dem im Ausschuss eingebrachten Änderungsantrag – er liegt Ihnen vor; er hat viele Punkte aufgegriffen, von denen ich nur zwei, drei exemplarisch nennen möchte – haben wir noch mal gesagt: Auch Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Heilberufe sollen bei einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl im Regelfall das Jugendamt informieren. – Darauf kommt es an; das ist eine Erfahrung der letzten Jahre gewesen. Wir brauchen dringend Kinderärzte und ‑ärztinnen, um die Frage beantworten zu können, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Wir wollen dann auch – in der Entschließung können Sie das nachlesen –, dass die Leitlinien weiterentwickelt bzw. konkretisiert werden.
Zweiter Punkt, Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe. Ja, 25 Prozent des Einkommens „müssen“ dann abgegeben werden; das Einkommen wird um 25 Prozent reduziert. Wir tragen ja auch die Kosten einer Unterbringung. Wir haben im Änderungsantrag noch mal aufgenommen, dass 150 Euro für Einkommen aus Schülerjobs, aus Praktika oder aus einer Ausbildungsvergütung unberücksichtigt bleiben – als Freibetrag.
Ich glaube, das ist auch ein deutlicher Hinweis, dass wir Ferienjobs und übrigens auch ehrenamtliches Engagement unterstützen; denn auch das ist ausgenommen. Es ist uns wichtig, dass genau diese Jugendlichen, gerade diese Jugendlichen sich im Ehrenamt engagieren.
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Bei den Hilfen aus einer Hand wird der Schritt jetzt verbindlich aufgenommen. Das ist ein Thema der nächsten Jahre, und das wird noch viele Diskussionen und Debatten hier im Deutschen Bundestag füllen.
Wir haben im Änderungsantrag noch mal etwas klargestellt – das war, glaube ich, auch ein gutes Einvernehmen –, indem wir gesagt haben: Das sinnvolle Instrument der Verfahrenslotsen kann auch schon vor dem 1. Januar 2024 eingesetzt werden, wenn die Voraussetzungen stimmen.
Wir stärken mehr Prävention vor Ort. Da habe ich einen wichtigen Punkt, weil ich Paul Lehrieder sehe, der zusammen mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für das Thema „Unterstützung von Kindern psychisch kranker Eltern“ gekämpft hat. Wir schaffen es jetzt, dass wir für diese Kinder – das sind nicht wenige; es sind Zehntausende von Kindern, es sind Hunderttausende von Kindern, die sich im jungen Alter um die Familie kümmern müssen, weil die Eltern suchtkrank sind – auch Verbindliches regeln, nämlich dass sie einen Anspruch auf eine Regelleistung haben. Das ist ein Ergebnis nach Jahren der guten Diskussion. Es ist uns besonders wichtig, dass diese Familien gestärkt werden, dass diese Kinder gestärkt werden.
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Dazu kommt auch das Thema § 19 SGB VIII, sogenannte gemeinsame Wohnformen. Damit wollen wir es schaffen, dass die Bindungen zwischen beiden Elternteilen und den Kindern gestärkt werden. Dazu gehört auch die Fragestellung, wie man die Unterbringungen zusammenführen kann.
Ein letzter Punkt – damit muss ich leider schon schließen –: Auch wenn gewisse Dinge nicht im Normtext auftauchen, sind sie wichtig für uns, etwa das Thema Straßenkinder und Obdachlosigkeit. Dazu haben wir auch eine Anhörung gehabt. Es ist auch meiner Fraktion zu verdanken, dass sie diese Anhörung auf den Weg gebracht hat. Wir sagen ganz deutlich im Entschließungsantrag: Das ist ein Thema für die nächsten Jahre, und wir wollen Modellprojekte stärken.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss und sage: Bitte unterstützen Sie dieses Gesetz! Es ist wichtig für die Kinder und Jugendlichen. Es ist ein gutes Gesetz. Die große Hoffnung ist auch, dass der Bundesrat bitte dieses Gesetz in seiner Verantwortung unterstützt, sodass wir am Ende dieser Legislaturperiode sagen können: ein großer Erfolg für die Familien, für die Kinder und Jugendlichen. Das wünschen wir uns.
Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit. Wir bitten um Zustimmung.
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Daniel Föst, FDP, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was ist das für ein Signal, das Sie von der GroKo hier senden? Damit meine ich nicht, dass sich Kollege Weinberg so sehr über seinen Anzug freut, sondern dass Sie eine 30‑minütige Debatte über die größte Reform des SGB VIII ansetzen. 30 Minuten Debatte über die Reform des SGB VIII! Erst am Donnerstagabend kamen 108 Seiten Änderungsanträge der GroKo.
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Jetzt wird das hier durchgepeitscht. Das wird dem Thema nicht gerecht, und es zeigt wieder mal, wie CDU/CSU und SPD die Debatten im Deutschen Bundestag wertschätzen.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich nicht falsch: Vieles an diesem Gesetzentwurf ist inhaltlich gut. Aber gut reicht manchmal einfach nicht aus.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gern.
Bitte, Frau Kollegin. Bei den Mund-Nasen-Bedeckungen ist es so schwer, alle Kolleginnen und Kollegen zu erkennen. Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. Mein Name ist Heike Baehrens. – Herr Kollege Föst, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade die Koalitionsfraktionen dafür kritisiert, dass wir für ein so gewichtiges Thema nur eine 30-Minuten-Debatte haben. Darum möchte ich Sie gerne fragen, was Sie davon halten, dass die FDP-Fraktion für die heutige Kernzeit eine einstündige Debatte zum Thema „Digitaler Impfpass“ angesetzt hat. Wir fragen uns, warum man für ein solches Thema, wo doch bereits der europäische Impfpass auf dem Weg ist, eine einstündige Debatte in der Kernzeit ansetzt.
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Sehr geehrte Frau Kollegin, jetzt bin ich konsterniert. Ich habe gedacht, Sie erklären mir jetzt, dass Sie das alles super gemacht haben bei dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz,
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was de facto ja falsch ist. Aber Sie werfen uns jetzt vor, dass wir eine Debatte aufsetzen, die die Menschen da draußen bewegt, genauso wie diese Debatte die Menschen bewegt.
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Fällt Ihnen das nicht auf, sehr geehrte SPD und CDU/CSU, dass wir im Kampf gegen Corona anfangen, die Menschen zu verlieren? Und wenn wir die Menschen im Kampf gegen Corona verlieren, verlieren wir den Kampf gegen Corona.
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Jetzt ich bin ich echt konsterniert: Uns vorzuwerfen, dass wir das, was Millionen Geimpfter, übrigens auch schon Millionen Genesener umtreibt, zur Debatte im Deutschen Bundestag machen!
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Da war ich jetzt konsterniert, überrascht, und ich teile Ihre Meinung in keiner Weise. Genau solche Themen müssen wir hier diskutieren.
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Aber kommen wir zum Gesetzentwurf zurück. Inhaltlich gut, aber gut reicht manchmal halt nicht aus.
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Wir können ja davon ausgehen, dass es nach dieser Reform Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern wird, bis wir wieder darüber reden. Deswegen wäre es uns von der FDP lieber, dass wir es statt gut exzellent machen.
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Es geht hier um viele Menschen. Es geht um viele Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Es geht vor allen Dingen aber um Kinder, Jugendliche und Familien. Da müssen wir insbesondere bei Änderungen beim Kinder- und Jugendschutz genau hinterfragen: Erreicht man das, was man in der Theorie will, auch in der Praxis? Einiges ist gut, aber es sind auch richtige Böcke drin – denn gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht.
Wir haben einige Änderungsanträge eingebracht. Wir wollen, dass diese Reform nicht nur gut, sondern exzellent wird. Ich kann aufgrund dieser Turbodebatte nicht auf alle Änderungsanträge eingehen. Deswegen erwähne ich die Sachen, die uns am wichtigsten sind.
Erstens: der Hilfeplan des Jugendamtes. Bewährt und geschätzt in der Praxis, basierend auf Vertrauen. Wenn dieser Hilfeplan jetzt an das Familiengericht weitergegeben werden kann, dann wird seine Wirkung in der Praxis nachlassen, dann wird das Vertrauen in diesen Hilfeplan ausgehöhlt.
Zweitens: Ombudsstellen als Baustein im KJSG. Die Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien zu verbessern, ist ein sehr, sehr gutes Ziel. Aber diese Ombudsstellen müssen auch wirklich unabhängig und dezentral organisiert sein. Unserer Meinung nach darf eine Ombudsstelle niemals am Jugendamt angesiedelt sein, nicht mal im gleichen Gebäude sein.
Drittens: Modellregionen und ‑projekte. Die inklusive Umsetzung der Kinder- und Jugendhilfe ist absolut richtig – großes Ziel der SGB‑VIII-Reform, absolut richtig. Aber sie ist komplex, weil zwei unterschiedliche Systematiken zusammengeführt werden. Warum warten wir bis 2024 bzw. bis 2028? Es gibt genügend Kommunen und Träger, die jetzt schon Ideen und Pläne in der Schublade haben, die jetzt schon gern starten würden.
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Geben wir ihnen doch die Möglichkeit, mit Modellregionen und Modellprojekten bei der flächendeckenden Einführung voranzugehen! Diese Praxiserfahrung wird uns dann sehr, sehr helfen.
Liebe Kollegen, gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Wir wollen aus gut exzellent werden lassen. Stimmen Sie unseren Änderungsanträgen zu! Die Kinder- und Jugendhilfe hat es verdient.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Norbert Müller, Die Linke.
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Guten Morgen, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Die Koalition verspricht mit dem heute vorgelegten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz eine umfassende Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Tatsächlich – das sagen auch wir als Fraktion Die Linke – hätte es einen umfassenden Reformbedarf in der Kinder- und Jugendhilfe gegeben.
Denken wir erstens an die völlig überlasteten Jugendämter. Wir haben gerade hier in Berlin, aber auch in allen anderen Jugendämtern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bis an die Belastungsgrenze arbeiten, die häufig für 100, 150 oder mehr Familien zuständig sind, denen sie helfen sollen, aber wo sie nur noch nach Aktenlage entscheiden können.
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Wir haben erst vor zwei Jahren eine Studie vorgelegt bekommen, die besagt, dass allein im Allgemeinen Sozialen Dienst, also in den Jugendämtern, 16 000 Stellen fehlen; 16 000 Stellen, die wir in der Kinder- und Jugendhilfe gerade bräuchten. Deswegen haben wir als Linke heute einen Antrag vorgelegt, wie wir die Fachkräftesituation verbessern können. Dazu schweigt die Koalition sich aus.
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Zweitens. Wir müssen über Careleaver reden. Auch das ist ein großes Thema der letzten Jahre, wo Sie nicht vorankommen. Careleaver das sind junge Menschen, die aus den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jungendhilfe kommen, die im allerbesten Fall in die Eigenständigkeit entlassen werden, aber nicht im Regelfall. Im Regelfall werden sie in Hartz‑IV-Systeme entlassen und im schlechtesten Fall in die Obdachlosigkeit; der Kollege Weinberg hat es angedeutet. Aber dann tun Sie doch was! Dann stärken Sie die Rechtsstellung von Careleavern! Verbessern Sie die Rechtsansprüche für junge Volljährige, damit sie nicht am 18. Geburtstag vor die Tür gesetzt werden!
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Wir müssen über eine bessere Ausstattung der Jugendverbände reden. Seit 30 Jahren steht im Sozialgesetzbuch VIII drin: Jugendverbände sind zu fördern. – Aber das ist am Ende völlig unverbindlich. Reden Sie doch mit den Kämmerern vor Ort in den Kreisen! Die sagen: Ja, das steht da drin, aber es gibt gar keinen richtigen Rechtsanspruch. Machen wir nicht, fällt aus, gibt die Kassenlage nicht her. – Im Zweifel kommt die Kommunalaufsicht und sagt: Ist eine freiwillige Leistung, fällt aus. – Genau das sind Punkte, da hätten wir für Stärkung sorgen müssen. Da legen Sie nichts vor.
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Stattdessen schlagen Sie im Wesentlichen einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe vor. Das will ich anhand von zwei Beispielen kurz darstellen.
Sie feiern sich für einen gestärkten Kinderschutz. Ich teile das ausdrücklich nicht. Kinderschutz in Deutschland basiert auf Vertrauen und Kooperation. Wir wollen Familien helfen. Ja, Kinder müssen aus Familien, in denen sie nicht bleiben können, rausgenommen werden. Aber der erste Ansatz ist, Familien zu helfen und die Kinder zu stärken. Was Sie mit den Meldepflichten für Ärzte jetzt tun, ist das komplette Gegenteil. Was passiert denn mit Kindern, die in einer Familie leben, in der es ihnen nicht gut geht? Gehen diese Eltern mit ihren Kindern jetzt häufiger zum Arzt, wenn sie wissen, dass diese Daten möglicherweise beim Jugendamt landen? Gehen sie jetzt häufiger zum Arzt? Nein, sie werden vielleicht häufiger umziehen, damit sie sich den U-Untersuchungen besser entziehen können. Sie werden nicht häufiger zum Arzt kommen. Was Sie hier vorschlagen, bringt nicht mehr Kinderschutz, es bringt weniger Kinderschutz. Über zehn Fachgesellschaften in der Kinder- und Jugendhilfe, im Prinzip die komplette Fachwelt, hat geschlossen vor diesem Weg gewarnt; und Sie gehen ihn trotzdem. Ich finde das fahrlässig.
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Ein Zweites. Sie sagen, Sie wollen Kinder im Sozialraum stärken. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Klar brauchen wir mehr Jugendklubs, mehr Sozialarbeit im Sozialraum. Das ist ja völlig richtig; aber das kann doch nicht anstelle individueller Rechtsansprüche treten; das kann doch nicht anstelle individueller Hilfen für Familien treten, die sie dringend brauchen. Wenn eine Familie einen Familienhelfer braucht, kann man doch nicht sagen: Wir haben da einen Streetworker im Jugendklub. Damit ist die Sache erledigt. – Das kann nicht sein. Wir wollen die individuellen Rechtsansprüche stärken;
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wir wollen mehr qualifiziertes Personal in der Kinder- und Jugendhilfe.
Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zielrichtung dieses Gesetzes ist meines Erachtens gut, vieles ist überfällig, und deshalb werden wir Grünen diesem Gesetzentwurf zustimmen. Damit möchte ich auch anfangen.
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Wir haben in unserem Entschließungsantrag noch mal wesentliche Aspekte gewürdigt, die wirklich gut sind: Beratung, Beteiligung, Kinderschutz, Prävention, Inklusion, die Situation der Pflegekinder. Das teilen wir, das unterstützen wir, dahinter stehen wir. Aber es gibt auch unzureichende Punkte, und die müssen hier auch mal benannt werden. Das Erstaunliche ist ja, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Koalition weiß das selber. Denn zum ersten Mal erlebe ich, dass die Koalition zum eigenen Gesetzentwurf selbst einen Entschließungsantrag vorlegt, in dem die Defizite aufgezeigt werden. Das heißt, Sie glauben ja selber nicht, dass das, was Sie heute hier vorlegen, der große Aufbruch ist. Das bedauere ich sehr; denn das sollte es nämlich sein.
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Die Weichen haben Sie gestellt; aber die Arbeit, die wir zu erledigen haben, beginnt erst jetzt. Die Hausaufgaben werden hier festgestellt. Sie machen Politik mit angezogener Handbremse an einer Stelle, wo wir eigentlich ein Signal des gesellschaftlichen Aufbruchs brauchen würden. Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen vorführen.
Sie erschweren zum Beispiel die Arbeit im Inklusionsbereich, weil Sie von vornherein einen Leistungsdeckel festschreiben. Es soll sich was verändern; es soll aber nichts kosten. Das funktioniert so leider nicht;
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denn wenn wir Dinge verändern, müssen wir davon ausgehen, dass wir manchmal auch Geld dafür ausgeben müssen.
Mir fehlt auch die Experimentierklausel. Der Vorschlag kam ja von uns Grünen; wir werden es im Bundesrat noch mal bringen; denn gerade die Bundesländer, die Regionen, die vorausschreiten wollen, sollen es auch machen können.
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Nur so gelingt uns doch der Wandel.
Beim Kinderschutz verzichten Sie auf weitergehende Kooperationsregelungen. Warum eigentlich? Danach wird schon länger gerufen. Kinderschutzarbeit im Gesundheitsbereich muss auch adäquat entlohnt, finanziert werden, damit sie nicht ehrenamtlich oder für lau ist, sondern ein Teil des Schutzbereichs.
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Misslungen ist Ihnen komplett der Bereich Meldebefugnisnorm im KKG. Da haben die Expertinnen und Experten alle gleichermaßen gerufen. Sie waren aber resistent gegenüber der Annahme jeglichen Rates, den uns die Expertinnen und Experten mit auf den Weg gegeben haben.
Bei der Kostenheranziehung von Pflege- und Heimkindern hätte ich mir schon gewünscht, dass Sie endlich mal über Ihren Schatten springen und ganz auf sie verzichten. Warum? Weil wir damit das Signal an junge Menschen senden würden: Eure Leistung wird anerkannt!
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Eure Leistung zählt! Wir glauben an euch! Wir vertrauen auf euch! Und wenn ihr 300 Euro Ausbildungsgeld erhaltet, dann sollt ihr das auch behalten, weil ihr dafür gearbeitet habt! Leistung muss sich lohnen! Das fände ich an der Stelle wichtig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf ist ein Schritt nach vorne; weitere müssen aber folgen. Er ist der Beginn eines Prozesses, und wir stimmen dem zu. Aber wir werden auch im Bundesrat und in den kommenden Jahren sowieso darauf achten, dass es weitergeht.
Vielen Dank, Herr Präsident – in der letzten Sekunde – für Ihre wunderbare Karte, die Sie mir gestern zu meinem Geburtstag geschrieben haben.
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So viel Zeit muss sein. – Ulrike Bahr, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! „Was lange währt, wird endlich gut“ – so hat die AGJ im letzten Herbst ihre Stellungnahme zum neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz überschrieben. Und heute ist es endlich so weit: Wir beschließen eine Reform, die über die gesamte Legislaturperiode hinweg vorbereitet und beraten wurde. Staatssekretärin Caren Marks hat diesen Prozess umsichtig gesteuert und hartnäckig vorangetrieben. Auch ganz herzlichen Dank an Frau Ministerin Giffey und natürlich auch an den Koalitionspartner: Herr Weinberg, ganz herzlichen Dank für die Verhandlungen und dafür, wie sie gelaufen sind.
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Auch die Opposition hat sich engagiert und eigene Anträge eingebracht, über die wir heute mitbeschließen, und aus denen auch einiges seinen Weg in das Gesetz gefunden hat. Danke auch an die Grünen, die hier schon Zustimmung signalisiert haben.
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Aus der Fülle der Änderungen möchte ich drei Dinge herausgreifen, die mir besonders am Herzen liegen:
Erstens sind da die Regelungen zu nennen, die Kindern mit psychisch kranken Eltern helfen. Ganz zum Ende der letzten Wahlperiode hatte der Bundestag eine interdisziplinäre AG aus Fachleuten beauftragt, Empfehlungen an die Kinder- und Jugendhilfe und an das Gesundheitswesen zu erarbeiten. Seit Ende 2019 liegt der Bericht vor. Und mit dem KJSG setzen wir die darin enthaltenen Vorschläge nun um. So erweitern wir den Anspruch auf Hilfen in Notsituationen, wenn zum Beispiel Eltern sich zeitweilig aufgrund psychischer Erkrankungen oder wegen Suchtproblemen nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern können. Auf diese Hilfen besteht nun ein Rechtsanspruch, sie sind aber dennoch niedrigschwellig ausgestaltet. Eine mögliche Einbeziehung von Patinnen und Paten in solche Hilfen kommt dem Wunsch der Betroffenen nach nichtstigmatisierender Alltagsunterstützung nach. Diese neue Hilfeform ist keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zu den Hilfen zur Erziehung und soll in ihre Wirkung sorgfältig evaluiert werden.
Zweitens möchte ich das Paket für junge Volljährige nennen. Der Careleaver e. V. hat mir eindrucksvoll aufgezeigt, wie wirksam Selbstvertretung und Empowerment sind. Gut, dass Selbstvertretungsorganisationen nun einen Anspruch auf Förderung und Einbeziehung haben.
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Richtig ist es auch, dass junge Volljährige einen soliden Rechtsanspruch auf die Fortsetzung von Hilfen erhalten. Im Entschließungsantrag stellen wir klar, dass persönliche Lebensumstände wie schulische oder berufliche Ausbildung bei der Gewährung von Hilfen berücksichtigt werden müssen.
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Mit der Rückkehroption und der Nachbetreuung wollen wir verhindern, dass junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit scheitern. Die stark reduzierte Kostenheranziehung ermöglicht ihnen künftig den Aufbau eines kleinen finanziellen Polsters. Das wissenschaftliche Projekt „Care Leaving Statistics“, für das wir Ende 2020 Mittel bereitgestellt haben, wird in den kommenden Jahren weitere Argumente für eine gute und nachhaltige Ausgestaltung von Hilfen beisteuern; davon bin ich überzeugt.
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Und schließlich, drittens, möchte ich das größte Projekt dieser Reform nennen. Mit „Hilfen aus einer Hand“ haben wir endlich einen Fahrplan hin zur Zusammenführung von Eingliederungs- und Jugendhilfe geschaffen. Sie sind ein klarer Handlungsauftrag und ein Versprechen. Nach der Reform ist vor der Reform, und wir werden sofort damit beginnen. Kommunen können Verfahrenslotsen freiwillig schon vor 2024 einsetzen. Für begleitende Modellprojekte sind im BMFSFJ ab sofort Mittel bereitgestellt.
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In einem weiteren Beteiligungsprozess gibt es dann viel zu regeln. Das Ziel ist klar: Alle Familien, in denen Kinder mit Behinderungen leben, dürfen nicht nur nicht schlechter gestellt werden, sondern müssen besser, schneller und unbürokratischer zu ihren Hilfen kommen. Die Träger wünschen, und das zu Recht, ein modernes Leistungserbringungsrecht für gute Arbeit, zur Bindung von Fachkräften und mit Tarifschutz.
Darum wird uns das achte Sozialgesetzbuch auch in den kommenden Legislaturperioden weiterhin beschäftigen. Hier sind wir alle in der Verantwortung. Ich freue mich darauf und werbe heute um Ihre Zustimmung.
Danke.
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Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie schade, dass dieses Gesetzesvorhaben in der Öffentlichkeit bisher nicht mehr Aufmerksamkeit erfahren hat. Denn mit dieser Reform heute verändern wir das Leben von vielen, vielen Kindern und Jugendlichen in unserem Land. Deshalb war es auch so wichtig, dass wir uns ganz intensiv mit diesem Gesetzentwurf beschäftigt haben. In meiner letzten Rede hatte ich mich bereits beim Ministerium bedankt, das den von uns eingeforderten ausführlichen Prozess wirklich gut umgesetzt hat. Aber auch wir im Parlament haben uns wochenlang in vielen Gesprächen, Anhörungen, Berichterstattergesprächen und natürlich auch in Gesprächen vor Ort intensiv mit der nicht ganz unkomplexen Materie auseinandergesetzt. Ich finde, das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen.
Deshalb zwei Worte an die Vorredner. Kollege Müller, wenn der ASD in Berlin schlecht ausgestattet ist,
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dann liegt die Verantwortung in Berlin und nicht bei uns im Bundestag.
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Deshalb empfehle ich, dass Sie sich bei Ihren Kollegen in Berlin dafür einsetzen, dass auch dort der ASD besser ausgestattet wird. Sie sagen jetzt, das sei in allen Ländern so.
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Dazu sage ich Ihnen: In Berlin ist es besonders schlecht.
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Mir gehen an diesem Morgen viele Bilder durch den Kopf, viele Begegnungen der letzten Jahre, wo ich immer wieder festgestellt habe: Da haben wir Probleme im System der Jugendhilfe, da passt was nicht zusammen, da gibt es Schnittschnellen, die besser aufeinander abgestimmt sein müssten. Ich bin wirklich stolz, dass wir heute mit diesem Gesetz viele dieser Probleme lösen.
Es gibt zum Beispiel das Projekt „OASE“ aus meiner Heimat, aus St. Wendel; dies ist ein Projekt der Caritas. Dieses Projekt kümmert sich seit Jahren um Kinder psychisch kranker Eltern. Bisher lief das alles ehrenamtlich. Durch Spenden und durch sehr viel Aufwand wurde eine Struktur aufgebaut, mit der man gerade diese Kinder unterstützen konnte. Denn die Eltern sind in psychologischer Behandlung oder auch in ärztlicher Behandlung, aber die Kinder fallen bisher durchs Raster. Sie stellen sich die Fragen: Warum steht der Papa morgens nicht auf? Warum ist die Mama so aggressiv? Wie ist das mit dem Alkohol? Warum sind die manchmal so komisch? Und: Was hat das mit mir zu tun? Bin ich vielleicht schuld?
Diesen Kindern zu helfen, ihnen Gesprächsangebote zu machen, ihnen Gruppenangebote zu machen, wo sie sich austauschen können, auch ein Setting zu haben, wo sich die Ärzte miteinander unterhalten können, ist wichtig. Das gab es bisher nicht; das alles musste ehrenamtlich gestemmt werden. Wir als Unionsfraktion haben uns dafür eingesetzt. Ich will besonders Marcus Weinberg und Paul Lehrieder nennen, die an vorderster Front und zusammen mit den anderen Familienpolitikern diesen Prozess in der letzten Legislaturperiode gestartet haben, auch aufgrund solcher Erfahrungen, wie ich sie bei mir vor Ort gemacht habe. Heute haben wir die Lösung. Heute bieten wir gerade für diese Zielgruppe eine passgenaue Lösung an mit Unterstützung, Beratung, ehrenamtlichen Angeboten und Paten. Das wird gerade für diese Kinder ganz viel ändern.
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Ich denke an die vielen Gespräche mit den Pflegeeltern, die, finde ich, eine wahnsinnig tolle Aufgabe erfüllen, nämlich Kindern eine Heimat zu geben. Sie sagen: Wir machen das gerne. Wir machen das mit Herzblut und geben sehr viel Zeit und Liebe für diese Kinder in unseren Familien. Wir haben aber auch Probleme. Wir leben in einem permanenten Zustand der Unsicherheit. Wir haben oft zu wenig Unterstützung durchs Jugendamt. Wir hängen in der Luft, wenn Kinder erwachsen werden; dann gibt es einen harten Bruch, und das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen sie ins Erwachsenenleben begleiten, bis sie wirklich selbstständig sind.
Auch hier setzen wir mit diesem Gesetz an. Wir nehmen die Careleaver in den Blick und ermöglichen Angebote auch über die Volljährigkeit hinaus. Wir schaffen es, dass diese Familien besser unterstützt werden. Und die Kinder werden in Zukunft nicht mehr 75 Prozent ihres Einkommens abgeben müssen, sondern sie werden 75 Prozent behalten können. Einkommen aus Ferienjobs und ehrenamtlicher Arbeit können sie komplett behalten; und das ist auch gut so.
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Wir nehmen die Familien in den Blick, wo die Kinder in Heimen oder in der Pflegefamilie sind, es aber eigentlich eine gute emotionale Bindung der Eltern zu diesen Kindern gibt. Diese sagen oft: Wir werden zu wenig unterstützt. – Künftig können diese Eltern auch Hilfen zur Erziehung bekommen, wenn die Kinder fremduntergebracht sind. Das ist wichtig; denn viele Kinder wollen zurück zu ihren leiblichen Eltern, und viele leibliche Eltern wollen die Kinder wieder zurückholen und suchen nach Unterstützung, nach Hilfe, um ihre Erziehungskompetenz zu stärken. Auch das ermöglichen wir mit diesem Gesetz.
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Die behinderten Kinder nehmen wir mit der inklusiven Lösung in den Blick. Wir stärken die Beteiligung.
Und – mein Herzensthema – bei sexuellem Missbrauch schaffen wir es, dass künftig der Austausch zwischen den ganzen Fachkräften, zwischen Ärzten und dem Jugendamt besser wird, damit Kinder ganzheitlich in den Blick genommen werden und damit wir Missbrauch und Gewalt vorbeugen können. Auch das ist ein Meilenstein.
Deshalb: Herzlichen Dank für dieses gute Gesetz!
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über unseren Antrag zur Einführung des digitalen Impfpasses. Ich muss auf Ihre Bemerkung eingehen, Frau Kollegin Baehrens von der SPD. Sie haben vorhin so passend gefragt, warum wir darüber überhaupt sprechen.
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Ich finde, diese Äußerung ist ehrlich gesagt bemerkenswert. Wenn sich Menschen seit über einem Jahr in ihrer persönlichen Freiheit zurücknehmen, um andere Menschen in dieser Lage zu helfen und um die Gesundheit anderer zu schützen, und wenn sie sich jetzt, wo sie geimpft sind, darüber Gedanken machen, unter welchen Voraussetzungen denn eigentlich ihre Freiheitsrechte überhaupt noch eingeschränkt werden können und ob sie ihre Rechte vielleicht auch wieder ausüben können, dann ist das genau der richtige Zeitpunkt. Es ist bemerkenswert, dass Teile der Regierungsfraktionen solch einen Kommentar hier im Plenum loslassen.
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Ich möchte das Credo eines FDP-Kollegen aus dem Bayerischen Landtag aufgreifen: Fakten, Fakten, Fakten!
Fakt eins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung, hätten Sie in der letzten Zeit öfter auf die Vorschläge der Freien Demokraten gehört, wären wir in dieser Pandemiesituation an vielen Punkten ein Stück weiter.
Fakt zwei. Bereits am 16. Oktober 2019
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– hören Sie zu! –, also vor 555 Tagen und vor dem ersten Covid-Fall, hat die Bundestagsfraktion der FDP hier im Plenum den Antrag „Impfquoten wirksam erhöhen – Infektionskrankheiten ausrotten“ eingebracht. Da ging es um die Einführung eines digitalen Impfpasses. 80 Wochen hätten wir Zeit gehabt.
Aber jetzt – Fakt drei – eineinhalb Jahre später unter massivem Druck der pandemischen Entwicklung ist diese Regierung auf dem Weg und macht sich doch einmal Gedanken über einen digitalen Impfpass. Ich rede übrigens nicht über den Impfnachweis, sondern über den Impfpass; vielleicht hat das noch nicht jeder so ganz mitbekommen.
Das alles zeigt: Wirksame Maßnahmen kommen bei dieser Regierung immer viel zu spät. Es gibt ein Muster von Schlafmützigkeit im letzten Jahr: Das Land wird verpflichtet, Masken zu tragen, und danach macht sich die Regierung Gedanken über die Beschaffung der Masken.
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Das Land soll mehr testen, und die Regierung fängt danach an, sich über die Beschaffung von Tests Gedanken zu machen. Das Land fiebert einem Impfstoff entgegen, und danach macht man sich Gedanken über das Organisatorische, wie dieser Impfstoff denn verimpft werden soll.
Und jetzt beim digitalen Impfpass ein ähnliches Muster, meine Damen und Herren.
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Nachdem die Impfungen angelaufen sind, fällt plötzlich auf, oh, man könne ja vielleicht auch etwas in Richtung digitalem Impfpass machen. Es ist ja geplant, und zwar schon seit langer Zeit, das in die ePA zu integrieren – 2022 oder vielleicht auch später. Wir wissen ja, wann Digitalprojekte, wenn sie geplant sind, bei der Bundesregierung auch wirklich Realität werden. Ich will in diesem Zusammenhang auch gar nicht auf das Beschaffungsdebakel näher eingehen.
Nach Monaten des Weiterentwicklungsstillstands bei der Corona-Warn-App wird der Nachweis jetzt dort vielleicht seinen Platz finden. Ich hoffe, das wird auch gelingen. In den letzten Wochen und Monaten – das muss man ja zugeben – hat die Corona-Warn-App etwas an Schwung gewonnen. Ich bin sehr dankbar und sehr froh drüber, aber es gab auch wirklich eine lange Phase des Stillstands und vor allen Dingen einer unterschiedlichen Informationspolitik der Bundesregierung in diesem Punkt.
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Der Impfnachweis soll irgendwann durch den Impfpass abgelöst werden. Wir haben im Digitalausschuss erklärt bekommen, dass der Impfnachweis dezentral geführt wird, der Impfpass nachher in die ePA integriert werden soll. Auf die Frage, wie denn das überführt werden soll, konnten wir noch keine zureichende Information bekommen; denn die Systeme sind gar nicht so einfach miteinander kompatibel. Das spricht auch wieder Bände, und die Menschen fragen sich: Kann diese Bundesregierung eigentlich Projektmanagement im IT-Bereich? Sie wissen das – ich habe das schon öfter gesagt –: Nein, es bleibt das ernüchternde Bild übrig, wie so oft bei IT-Projekten der Bundesregierung: Sie können keine IT-Projekte steuern, auch im Gesundheitssystem offensichtlich nicht. Damit kommt auch ein schlechtes Krisenmanagement zutage, meine Damen und Herren.
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Als Abschluss, Herr Präsident: Die Leidtragenden sind die Menschen in diesem Land – Schüler und Schülerinnen, Eltern, Pfleger, Ärzte und Ärztinnen, Gastronomen sowie Künstler und Künstlerinnen –, die darauf warten – dann geimpft, genesen oder negativ getestet –, wieder ein normales Leben zu führen. Aber es gibt einen Silberstreif am Horizont: Bald sind Bundestagswahlen.
Herzlichen Dank.
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Tino Sorge, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte heute Morgen die Rede eigentlich ein bisschen versöhnlicher beginnen, Herr Kollege Höferlin. Wir haben vorhin drüber gesprochen. Vielleicht haben Sie den einen oder anderen Kaffee heute Morgen zu viel getrunken und deshalb ein bisschen zu viel Koffein intus.
({0})
Aber: Der Antrag der FDP ist in einzelnen Punkten grundsätzlich gar nicht so schlecht. Also, wenn wir darüber reden, wie wir beispielsweise Geimpften ihre Freiheitsrechte möglichst schnell wieder zurückgeben können,
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wenn wir darüber reden, wie wir auch bei Digitalisierung schneller werden können, bin ich bei Ihnen; das können wir sehr gern diskutieren.
Wenn wir dann aber hier die alte Litanei der FDP hören: „Wir haben es schon immer besser gewusst! Wir wären schneller gewesen! Mit uns wäre es toller gewesen! Wenn wir mitgestaltet hätten, wären wir jetzt schon viel, viel weiter!“,
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dann – es tut mir leid, Herr Kollege Höferlin – kann ich nur noch gähnen.
Denn – das ist in der Vordebatte schon angeklungen –: Wir führen hier jetzt eine Stunde eine Debatte zum digitalen Impfpass. Ist in Ordnung; kann man machen. Ich diskutiere immer sehr, sehr gern über Digitalisierung. Wenn Sie sich aber hierhinstellen und wieder so tun, als sei beim digitalen Impfpass überhaupt nichts passiert, als sei beim digitalen Impfpass überhaupt noch keine Regelung da,
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dann darf ich Sie nur daran erinnern: Bereits im März haben wir uns europaweit darauf geeinigt, wie dieser Impfpass aussehen soll.
Und weil Sie gerade Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und dem BMG hier wieder mal vorwerfen, es würde nichts passieren: Bereits im März, also nahezu parallel, hat das BMG im Rahmen einer dringlichen Vergabe diesen Impfpass in Auftrag gegeben. Das heißt, das, was Sie hier fordern – Beschleunigung; es solle auf Hochtouren laufen –, ist bereits der Fall. Es läuft auf Hochtouren. Deswegen könnten wir den Antrag da schon für erledigt erklären.
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Wie gesagt: Wir debattieren eine Stunde. Ich freue mich; wir haben ein bisschen mehr Redezeit. Das gibt mir die Möglichkeit, auf den einen oder anderen Punkt ein bisschen näher einzugehen, und zwar auch auf das Thema „Geimpfte – Nichtgeimpfte“.
Natürlich ist es völlig richtig, dass wir so schnell wie möglich alle unser normales Leben wiederhaben wollen. Natürlich ist es richtig, dass gerade Geimpfte, dass Genesene ihre Grundrechte wieder in vollem Umfang genießen sollen dürfen. Grundrechte sind Freiheitsrechte; da sind wir uns doch völlig einig.
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Aber, Herr Kollege Höferlin: Die Frage, wie wir dafür sorgen, dass Geimpfte möglichst schnell ihre Grundrechte wieder in vollem Umfang genießen können, nämlich mit dem digitalen Impfpass und der Klarstellung, dass keine Gefahr von dem Geimpften mehr ausgeht, dass er nicht mehr infektiös ist,
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das ist keine rein politische Frage. Wir reden hier über eine wissenschaftliche Frage. Da geht es um Evidenz, und da müssen wir uns gegebenenfalls, auch wenn die Signale wissenschaftlich sehr gut sind, die Zeit nehmen und nicht vorschnell irgendwelche Dinge beschließen, Herr Kollege.
Darüber hinaus – das will ich auch noch sagen –: Wenn Sie in die Corona-Warn-App gucken würden, dann würden Sie feststellen: Es geht ja voran.
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Sicherlich kann man sich jetzt darüber streiten, ob das nicht hätte schneller gehen können, ob man das nicht hätte besser machen können. Aber wir kennen doch alle die Debatten, die wir hier geführt haben, auch in der Öffentlichkeit, bei den Fragen: Was soll die Corona-Warn-App können? Wie wird diese App ausgestaltet – Tracing versus Tracking? Insofern, glaube ich, sind wir da mittlerweile auf einem sehr guten Weg.
Wir haben jetzt die Integration des Kontakttagebuchs sowie die Clustererkennung und das Check-in-Verfahren auf den Weg gebracht. Das sind alles Möglichkeiten, die über einen quelloffenen Code in die Corona-Warn-App integriert werden. Insofern kann ich uns allen nur raten, dies nicht alles schlechtzureden.
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Denn dann haben wir keine Akzeptanz in der Bevölkerung.
Aber, wo ich beim Thema Schlechtreden bin, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben auch noch einen Antrag der AfD. Ich will da jetzt nicht pauschal draufhauen. Ich finde es nur wirklich bemerkenswert, dass, wenn die ganze Welt darüber diskutiert, wie wir diese Pandemie möglichst schnell überwinden können, wenn die ganze Welt, wenn Israel, Schweden, Frankreich, Dänemark, wenn alle sich Gedanken machen, wie man diese Pandemie begleitend mit digitalen Möglichkeiten möglichst schnell überwinden kann, wie man Grundrechten möglichst schnell wieder volle Geltung verschaffen kann, dann Ihnen nichts weiter einfällt, als hier zu sagen: Wir müssen das Projekt digitaler Impfpass und die Corona-Warn-App sofort stoppen. – Also – es tut mir leid –, das ist nicht nur ignorant; ich hätte beinahe gesagt, das ist zutiefst asozial.
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Ich rate Ihnen auch, nicht immer nur an allen Expertisen vorbeizuargumentieren und nicht immer nur dagegen zu sein. Der Sachverständigenrat Gesundheit – Sie sollten mal das letzte Gutachten lesen – hat beim Thema Datennutzung es uns allen in der Politik ins Stammbuch geschrieben. Wie können wir Daten besser vernetzen? Wie können wir Daten besser nutzbar machen, um nicht nur Versorgung zu optimieren, um Forschung zu optimieren, sondern gerade in Pandemiezeiten mit digitalen Möglichkeiten schneller diese Pandemie zu überwinden?
Er hat es ganz konkret gesagt, und das war nicht das, was Sie wollen, nämlich: zurück ins analoge Zeitalter, Zettelwirtschaft. Nein, er hat genau das Gegenteil gesagt, nämlich: bessere Nutzung, bessere Vernetzung und gerade auch eine bessere Datennutzung im Sinne der Patienten. Denn Daten retten Leben, und die retten sie nicht, indem sie analog auf einen Zettel aufgeschrieben werden, sondern indem sie digital genutzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das gibt mir die Möglichkeit, zum Schluss doch noch etwas versöhnlicher zu werden. Lieber Herr Kollege Höferlin, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich glaube, man kann den Antrag zumindest so ein Stück weit in die Abteilung Serviceopposition einsortieren. Also: Wir sind uns im Ziel einig, dass wir auch mit dem digitalen Impfpass möglichst schnell unser Leben wieder normalisieren wollen, dass wir möglichst schnell unseren Grundrechten in allen Bereichen wieder zu voller Geltung verhelfen wollen. Insofern, glaube ich, sind wir uns im Ziel einig. Wir werden uns sicherlich auch über den Weg einigen.
Ich freue mich auf die Beratung.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Espendiller, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei Youtube!
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Im Grunde, Herr Sorge, ist es ganz einfach:
Punkt eins. Niemand sollte direkt oder indirekt zu einer Impfung gegen das Coronavirus gezwungen werden.
Punkt zwei. Niemand sollte dazu gezwungen werden, als Bedingung für die Ausübung seiner Grundrechte künftig einen Coronaimpfpass vorzeigen zu müssen.
Wenn wir heute über den digitalen Impfpass debattieren, stehen aber genau diese beiden Prämissen infrage. Denn wir haben seit Beginn des Jahres erlebt, wie der digitale Coronaimpfpass, der mittlerweile das „grüne Zertifikat“ genannt wird, im Hauruckverfahren auf EU-Ebene und unter tatkräftiger deutscher Regierungsbeteiligung durchgedrückt wurde und wird – außen vor mal wieder das deutsche Parlament.
Am Anfang ging es angeblich nur um die Wiederherstellung der Reisefreiheit. Es dauerte nicht lange, und es wurden Pläne geschmiedet, wonach man den Impfpass demnächst auch beim Einkauf oder beim Kinobesuch vorzeigen müsse. Und bei jeder Wortmeldung schwang mit, dass Konzert- und Kinobesuche künftig doch nur noch für Geimpfte möglich sein sollten. Passend dazu erleben wir derzeit auch eine der aufwendigsten Impfkampagnen, die die Impfrisiken negiert und statt Aufklärung wohliges Werbefeeling verbreitet.
In diesem Zusammenhang will ich die Bundesregierung heute auch mal fragen: Halten Sie es nicht auch für einen ausgesprochenen Betrug, wenn das Impfkampagnengesicht Günther Jauch medienwirksam auf allen Kanälen für die Coronaimpfung wirbt, kurze Zeit später an Corona erkrankt und dann sogar zugeben muss, gar nicht geimpft worden zu sein?
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Das ist schon ein starkes Stück und für die Impfbereitschaft der Bevölkerung sicherlich nicht förderlich, wenn die Regierung auf solche Taschenspielertricks zurückgreift.
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Außerdem interessiert uns in diesem Zusammenhang auch die Höhe des Honorars, das Uschi Glas für ihren Beitrag zur Impfkampagne erhalten hat. Aber solche Fragen hören Sie nicht gerne. Sie spielen hier lieber den guten Samariter, der den Bürgern etwas Gutes tun will, während Sie eigentlich was ganz anderes im Sinn haben.
Die Impfkampagne und der digitale Coronaimpfpass werden den Leuten schmackhaft gemacht und hübsch verpackt. Man wolle den Bürgern auf diesem Weg so schnell wie möglich ihre Freiheit zurückgeben – haben wir gerade auch von Herrn Sorge gehört. Aber unter diesem nobel erscheinenden Vorwand wurde geplant, für den Coronaimpfpass nationale Datenbanken zu erstellen, in denen Impf- und Testdaten gespeichert werden sollten; die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete im März.
Es ging also um eine bundesweite Datenbank mit den persönlichen Gesundheitsdaten von Millionen von Bundesbürgern, die einer Vielzahl von Behörden dann zur Verfügung gestanden hätten. Das hätte ganz erhebliche Grundrechtseinschränkungen bedeutet und entsprach wohl dem feuchten Traum eines jeden Überwachungsfanatikers.
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Aber, liebe Regierung: Wir als Opposition machen ja hier unsere Arbeit und passen schon auf. Ich würde sagen, auch unser Antrag im März und unser Aufschrei zu diesem Thema in diesem Haus waren gut genug, um aus dem „hätte“ kein „ist“ werden zu lassen und Ihre Pläne zu ändern.
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Denn die Einrichtung nationaler Impfdatenbanken kommt jetzt doch nicht. Das hat man sich in der Regierung wohl doch nicht getraut. Ich bin froh, dass wir hier waren. Es ist gut, dass die AfD im Parlament sitzt.
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Ich möchte nicht wissen, was Sie sonst alles hier wieder so durchwinken.
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Nichtsdestotrotz gilt: Der digitale Coronaimpfpass wirft weiterhin Fragen auf. Wir als AfD-Bundestagsfraktion wünschen uns genauso wie alle anderen Menschen in diesem Land, dass wir, so schnell es geht, wieder zur Normalität zurückkehren können.
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Die Menschen wollen wieder reisen, sie wollen wieder nachmittags Kaffee trinken mit Freunden, sie wollen wieder gemeinsam grillen.
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Und es ist perfide von dieser Bundesregierung, diese Sehnsucht nach Normalität und Freiheit wahlweise als „verantwortungslos“ zu verurteilen und Rodler oder Spaziergänger zu beschimpfen oder gar zu kriminalisieren oder aber diese Situation für persönliche Machtinteressen auszunutzen.
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Wenn mir eine Sache in den letzten dreieinhalb Jahren in diesem Parlament klar geworden ist, Herr Grosse-Brömer, dann die, dass es dieser Regierung nicht um die Menschen geht, nicht um die Wirtschaft, nicht um das Klima oder was auch immer gerade en vogue ist.
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Es geht einzig und allein um Macht und Kontrolle.
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Der mündige Bürger ist Ihnen nur im Weg. Man spürt förmlich Ihre Lust am Durchregieren. Das sieht man auch daran, wie die Regierungsfraktionen hier das neue Infektionsschutzgesetz durchgepeitscht haben.
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Das ist aber nicht die Aufgabe der Bundesregierung, hier durchzuregieren; es ist Ihre Aufgabe, zuzuhören, abzuwägen und Entscheidungen zu treffen, die zum Wohle dieses Volkes sind.
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Ich denke, wir alle hier sind uns einig, dass Impfungen ein wichtiger Bestandteil der Bekämpfung der Pandemie sind
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und dass es deswegen die Pflicht dieser Bundesregierung ist, genügend Impfstoffe bereitzustellen.
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Aber es ist auch Aufgabe dieser Regierung, die Rechte von jenen Bürgern zu achten, die ein Impfangebot ablehnen,
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und zwar aus welchen Gründen auch immer. Denn es geht uns als Parlamentarier einfach nichts an, was die Bürger da draußen möchten: Ob sie sich impfen lassen möchten oder das etwa aus gesundheitlichen Gründen ablehnen oder es schlicht und ergreifend nicht wollen.
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Wir alle hier im Parlament haben kein Recht, über eine so höchstpersönliche Entscheidung zu urteilen oder sie gar zu diffamieren.
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Und auch wenn das hier so mancher nicht hören mag: Es ist völlig legitim, sich über Impfrisiken zu sorgen und einen Impftermin auch abzulehnen.
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Nun werden Sie gleich wieder sagen, dass das ja auch gar nicht infrage gestellt wird; das haben wir gerade schon mehrfach gehört. Das sind aber nichts anderes als schöne Worte, ihre Taten sprechen nämlich eine ganz andere Sprache.
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„Privilegien“ für Geimpfte sind immer wieder im Gespräch. Wir fragen uns: Was ist denn jetzt eigentlich mit den Nichtgeimpften? Sind die jetzt vogelfrei?
Wir als AfD-Bundestagsfraktion haben diese Bundesregierung bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen gefragt, wie sie eine Diskriminierung aufgrund des Impfstatus unterbinden will. Wir haben keine Antwort erhalten.
Wir fordern daher von der Bundesregierung, dass sie die Diskriminierung von Nichtgeimpften mittels eines Gesetzes unterbindet. Kurz gesagt: Wenn Sie vor Corona ohne Impfpass ins Kino gehen konnten, sollten Sie auch jetzt und in Zukunft ohne Impfpass ins Kino gehen können. Es kann nicht sein, dass die Regierung hier lapidar erklärt, dass man Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte nicht mehr aufrechterhalten könne und damit gleichzeitig postuliert, dass Ungeimpfte derlei Einschränkungen weiterhin hinnehmen müssen. Geben Sie den Menschen ihre Freiheit zurück.
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Es liegt in der individuellen Verantwortung eines jeden Einzelnen, ob er sich impfen lässt oder nicht und ob er dieses Risiko eingeht oder nicht. Man nennt das allgemeine Handlungsfreiheit.
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Das ist ein Grundrecht, und diese Bundesregierung hat die Pflicht, diese Rechte zu achten und zu schützen. Und nach wie vor tut sie das nicht. Deshalb lehnen wir es ab, den digitalen Coronaimpfpass zum Maß aller Dinge zu machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sabine Dittmar, SPD, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Anträge zum digitalen Impfpass. Die AfD ignoriert in ihrer Polemik nach wie vor, dass Geimpfte einen rechtlichen Anspruch darauf haben, dass der Impfstatus dokumentiert wird; ob das digital oder analog erfolgt, ist erstmal nachrangig.
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Die FDP wiederum fordert die Einführung eines digitalen Impfpasses in Deutschland, ein digitales Einreisemanagement und die Rücknahme von pandemiebedingten Grundrechtseinschränkungen. Alle diese Themen werden bereits intensiv diskutiert oder befinden sich längst in der Umsetzung.
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Es hätte daher keines Antrags der FDP bedurft.
Meine Damen und Herren, auch für die SPD-Fraktion ist die Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen für vollständig geimpfte Bürgerinnen und Bürger von immenser Bedeutung. Deshalb haben wir im Vierten Bevölkerungsschutzgesetz die Bundesregierung auch ermächtigt – durch eine Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundestages bedarf –, Erleichterungen und Ausnahmen von Geboten und Verboten für Immunisierte oder negativ Getestete vorzulegen.
Das Robert-Koch-Institut stellt zur Infektiosität fest, dass das Risiko einer Virusübertragung 15 Tage nach vollständiger Impfung geringer ist als bei Vorliegen eines negativen Antigenschnelltests von symptomlos infizierten Personen. Aus diesem Grund haben bereits einige Bundesländer – spontan fallen mir Berlin, Brandenburg oder Rheinland-Pfalz ein – ihre Verordnungen bezüglich der Quarantänepflicht für vollständig Geimpfte angepasst. Und das ist auch gut so. Aber was wir brauchen, sind bundeseinheitliche Regeln.
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Deshalb erwarten wir nun eine zügige Vorlage einer Bundesverordnung. Das Instrument der Verordnung hat den Vorteil, schnell auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse reagieren zu können. Diese sind bei der Coronaimpfung bekanntermaßen im Fluss.
Es gibt auch noch eine Menge offener Fragen. Die bisherigen Erkenntnisse zur Infektiosität basieren auf den Daten der Impfstoffe, die bislang in der EU zugelassen sind. Sind diese Annahmen und Erkenntnisse aber auch auf neue Impfstoffe übertragbar? Wie lange kann man bei einer durchgemachten Erkrankung von einer ausreichenden Immunantwort ausgehen, und wie wird diese zeitliche Limitierung dokumentiert? Was ist mit den Impfdurchbrüchen, die wir immer wieder erleben? Wie wirken sich die Mutanten auf das Infektionsgeschehen und die Immunität aus? – Sie sehen: Es gibt noch einige Fragen zu beantworten. Aber entscheidend ist, dass wir mit dem Impfen zügig vorankommen.
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Die Impfquoten haben sich in den letzten 14 Tagen wirklich sehr erfreulich entwickelt. Mehr als 23 Millionen Impfstoffdosen wurden bislang verimpft. Über 20 Prozent der Bevölkerung haben eine Erstimpfung erhalten. Das gibt uns Hoffnung und eine Perspektive für den Sommer.
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Natürlich wird jede einzelne Impfung auch entsprechend dokumentiert – das ist gesetzlich geregelt –: bislang analog in dem bekannten gelben Impfbuch und ab 2022 dann auch digital im elektronischen Impfbuch als Teil der elektronischen Patientenakte.
Und weil die FDP immer wieder darauf zurückkommt: Die digitale Impfdokumentation in der ePA hätte nicht vorgezogen werden können, auch wenn wir alle uns das grundsätzlich natürlich gewünscht hätten. Aber selbst wenn es so wäre, würde das gar keinen Sinn machen für den von der FDP verfolgten Zweck. Oder wollen Sie künftig Grenzübergänge, Restaurants und Einkaufszentren mit Konnektoren ausstatten, damit man dort auf die ePA zugreifen und die Impfdaten auslesen kann?
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Was in Ihrem Antrag so einfach klingt, ist in der Realität dann doch etwas komplexer als in Ihrer Vorstellungskraft. Deshalb war es notwendig, dass auf EU-Ebene die Weichen für ein digitales EU-Corona-lmpfzertifikat gestellt worden sind. Der technologische Rahmen ist vereinbart. Das BMG hat einen Zusammenschluss von Firmen mit der Entwicklung einer App für Deutschland beauftragt. Testversionen liegen vor, in einigen Regionen werden sie schon angewendet. Die Entwickler haben einen neuen Prototyp der App vorgestellt. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Projekt läuft, es fällt aber nicht vom Himmel. Der Antrag der FDP ist also überflüssig wie ein Kropf.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nachdem wir die Corona-Warn-App bekommen haben, liegt nun ein Antrag der FDP zum digitalen Impfpass vor. Für Ende Juni hat die Bundesregierung ein digitales Impfzertifikat angekündigt. Die Auftragsvergabe im März machte doch einige Schlagzeilen. Die Umsetzung war mit fünf Blockchains geplant, was keiner recht verstand. Aber schon im April wurde die Blockchain-Bazooka wieder eingepackt, und die Umsetzung erfolgt nun auf Basis einer Public-Key-Infrastruktur, die ich ein bisschen erklären muss; und da wird es etwas technisch.
Das ist ein System, mit dem man digitale Zertifikate wie so ein Impfzertifikat erstellen, verteilen, aber auch seine Echtheit dezentral überprüfen kann. Das alles soll sicher und verschlüsselt mit einer bekannten Technologie erfolgen, die zwar weniger hip ist als Blockchain, aber passender und günstiger.
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Aber das ist keine hinreichende Garantie für Sicherheit; denn die steht und fällt in einem solchen System mit dem Schlüsselmanagement. Ärzte, Krankenhäuser und Impfzentren brauchen vertrauenswürdige Schlüssel, sonst funktioniert das ganze Konzept nicht. Kein einziger Schlüssel darf gestohlen werden. Weder in Krankenhäusern, Arztpraxen noch Impfzentren darf ein IT-System gehackt werden. Kein Mitarbeiter und keine Mitarbeiterin in einer dieser Einrichtungen darf zur Herausgabe gezwungen oder korrumpiert werden; denn wenn das passiert, ist Betrug in großem Maßstab möglich und das Vertrauen in das Gesamtsystem „digitaler Impfnachweis“ erschüttert.
Es ist vor allem aber auch gesundheitsgefährdend, wenn diese Informationen nicht stimmen. Da mir der Stand der IT-Sicherheit im deutschen Gesundheitswesen halbwegs gut bekannt ist, die Risiken aber auch durch alle anderen EU-Länder ins Gesamtsystem gebracht werden, beunruhigt mich die Umsetzung in der Praxis sehr. Ich kann versprechen: Die Linksfraktion wird da sehr genau hinschauen.
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Gut für die Sicherheit ist jedoch die Umsetzung in einer dezentralen Architektur, also Daten nur auf den Smartphones zu speichern und nirgendwo auf zentralen Servern. Nach dem peinlichen Desaster um die hochgehypte Luca-App ist das eine erfreuliche Nachricht. Denn viele sensible Daten von potenziell Millionen Bürgerinnen und Bürgern auf zentralen Servern zu speichern, war noch nie eine gute Idee.
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Oder wie man bei uns in Brandenburg auf dem Land sagt: Man legt einfach nicht alle Eier in einen Korb.
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Weiterhin verspricht die Bundesregierung Umsetzung mit Open Source. Das fordert der Antrag der FDP zwar nicht, aber er spricht von stetiger und transparenter Information über den Entwicklungsstand. Weil auch wir das sinnvoll finden, schlägt die Linksfraktion vor, die Lektionen aus der Entwicklung der Corona-Warn-App zu lernen, das heißt, angefangen beim Architekturdesign und den Prozessen, alles auf einer Plattform wie zum Beispiel GitHub zu veröffentlichen, einen regen Austausch mit der Community zu suchen und viele Fehler und Verbesserungspotenziale frühzeitig zu erkennen, damit am Ende auch so etwas Ähnliches wie bei der Corona-Warn-App herauskommen kann, nämlich eine sichere und datensparsame App.
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Aber auch das Ökosystem muss stimmen. Darauf weist der FDP-Antrag zu Recht hin. Bei der Corona-Warn-App gibt es nach wie vor Defizite. Noch immer erhalten zu viele Getestete ihre Testergebnisse nicht über die Corona-Warn-App, und das führt natürlich zu Kritik und zu einem Plateau bei den Installationszahlen.
Entscheidend ist aber auch die Pflege. So hat die Corona-Warn-App zwar seit einigen Tagen eine Check-in-Funktion; die hätte aber auch schon im alten Jahr kommen können. Diese Verspätung macht Erfolge von Lückenfüller-Apps wie der Luca-App erst möglich.
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Übrigens antwortet die Bundesregierung seit Wochen nicht auf meine Nachfrage, wann sie eigentlich konkret davon erfahren und SAP damit beauftragt hat. Diesen Fehler jedenfalls sollte die Bundesregierung nicht wiederholen.
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Wichtig bleiben allerdings die Wahlfreiheit und das Diskriminierungsverbot. Niemand darf zur Nutzung des digitalen Impfnachweises gezwungen werden. Die geplante Alternative eines Papierausdrucks mit QR-Code – scannbar an einer Prüfstelle – statt einer App reicht uns nicht. Auch andere Alternativen müssen möglich sein, nicht nur am Grenzübergang, auch in der Privatwirtschaft, zum Beispiel der traditionelle gelbe Papierausweis.
Das Diskriminierungsverbot muss aber auch sicherstellen, dass Ausnahmen von Einschränkungen auch mit anderen Alternativen möglich sind, zum Beispiel mit aktuell negativen Tests. Sonst gibt es ja möglicherweise völlig absurde Folgen wie ein indirektes Reiseverbot für Eltern mit ihren Kindern; denn bekanntlich gibt es ja noch gar keine Impfungen für Kinder. Dabei müssen allerdings aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden, um Gesundheitsgefährdungen Dritter auszuschließen. Eine kontinuierliche Anpassung an die epidemiologische Lage ist nötig; es gibt ja auch Mutanten, vor denen Impfungen eventuell nicht mehr schützen. Daher fordert die Linksfraktion Forschung zur Immunität nach Impfung oder Erkrankung.
Gerade als linke Politikerin möchte ich aber unbedingt darauf hinweisen: Es gibt keine Erlösung von dieser Pandemie durch egal welche digitalen Tools und Apps.
({7})
Sie können nützlich sein. Entscheidend ist aber unser aller Verhalten. Wenn sie Sicherheit vorgaukeln, die nicht da ist, oder wenn sie korrumpiert worden sind, wenn sich dadurch Menschen riskanter verhalten, erreichen sie exakt das Gegenteil. Die Linksfraktion wird daher ein wachsames Auge auf den praktischen Einsatz des digitalen Impfnachweises haben und auch darauf, dass er zum Ende der Pandemie in der Versenkung verschwindet.
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Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Domscheit-Berg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die Debatte um den digitalen Impfausweis einsteige, möchte ich noch mal ganz deutlich sagen, anknüpfend an die Diskussion von gestern: Stand heute haben wir beinahe 30 000 Neuinfizierte. Wir haben insgesamt eine Situation, in der wir darüber sprechen müssen, wie wir eine wirksame Notbremse hinbekommen,
({0})
wie wir eine Trendumkehr hin zu Niedriginzidenzen hinbekommen. Daran müssen wir uns alle beteiligen. Da geht es nicht nur um Individualrechte, sondern es geht um Zusammenhalt, es geht um Solidarität.
({1})
Es geht beispielsweise auch um die Solidarität von Geimpften mit Nichtgeimpften.
({2})
Das will ich an dieser Stelle noch einmal klarstellen.
Damit komme ich auch schon zu einem ganz wichtigen Punkt, der mich an Ihrem Antrag von der FDP so stört. In diesem Antrag ist viel von Individualrechten, sehr viel von der Stärkung der Wirtschaft die Rede. Aber was fehlt, sind genau die genannten Schlüsselwörter, um daran zu erinnern, dass wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen; denn nur so werden wir diese Pandemie bekämpfen können.
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Gleichzeitig ist ganz wichtig: Wir können digitale Tools einsetzen, wie wir wollen – damit alleine werden wir diese Pandemie nicht bekämpfen.
({4})
Das vorweg.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?
Ja.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Sie haben uns jetzt vorgeworfen, Frau Kollegin, wir würden in unserem Antrag viel über Individualrechte und über die Wirtschaft sprechen, aber den Zusammenhalt vernachlässigen.
Genau.
Sind Sie der Meinung, dass das einem Ehepaar von 70 Jahren zu vermitteln ist, das ein Jahr lang auf sein persönliches Umfeld Rücksicht genommen hat, die Enkel nicht besucht hat, vielleicht über eine längere Zeit im Alten- oder Pflegeheim regelrecht eingesperrt war und jetzt endlich einen Impftermin hat? Wie wollen Sie diesen Menschen erklären, dass sie, obwohl sie geimpft sind und mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit nicht ansteckend sind, aus den Gründen, die Sie genannt haben – Solidarität und Gemeinschaft –, weiterhin nicht am Wirtschaftsleben teilnehmen dürfen, ihre Enkel nicht besuchen dürfen und aus falsch verstandener Rücksicht auf andere ihre übrigens verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten – das hat nichts mit politischen Entscheidungen zu tun – nicht wieder ausüben dürfen? Wie erklären Sie das mit Solidarität? Hat das für Sie nichts mit individueller, verfassungsrechtlich garantierter Freiheit zu tun?
({0})
Sehr geehrter Herr Höferlin, es ist insgesamt ja bezeichnend, dass Sie genau diese Argumente in Ihrem Antrag überhaupt nicht angeführt haben; denn dann müssten Sie ja darüber sprechen, wie wir insgesamt vorgehen.
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Frau Dittmar hat zu Recht angemerkt, dass im gestern verabschiedeten Gesetz vorgesehen ist, dass eine entsprechende Rechtsverordnung kommen soll,
({1})
und zwar auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir brauchen. Danach ist es natürlich so, dass diejenigen, die geimpft sind, wieder zusätzliche Rechte erhalten müssen,
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bzw. dann Einschränkungen zurückzunehmen sind. Darum geht es.
Davon habe ich aber gar nicht gesprochen, sondern ich habe davon gesprochen, dass, auch wenn wir die Individualrechte ernst nehmen,
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für uns natürlich trotzdem Zusammenhalt und Solidarität im Vordergrund stehen müssen;
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denn ansonsten wird es uns nicht gelingen, diese Pandemie zu bewältigen.
Kommen wir zurück zum Thema. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft ist: 5 bis 20 Prozent der geimpften Personen können sich weiterhin anstecken. Sie haben dann aber wahrscheinlich sehr viel weniger Viruslast, sind damit auch weniger ansteckend. Aber insgesamt haben wir – Stand heute – einfach keine so klare Sachlage, um sagen zu können: Wir können jeder geimpften Person sämtliche Freiheiten einfach so zurückgeben. – Vielmehr werden wir weiterhin Acht geben müssen und nur den Teil der Freiheitsbeschränkungen, der tatsächlich massiv einschränkend ist, zurückfahren können. Gleichzeitig brauchen wir aber die Akzeptanz von AHA-Regeln. Wir brauchen die Akzeptanz von Abstandsregeln und der Maskentragepflicht in geschlossenen Räumen, im ÖPNV und in ähnlichen Situationen. Das muss weiterhin Grundlage sein.
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Und dann ist ein solcher Impfausweis natürlich sinnvoll. Natürlich ist auch ein Nachweis darüber, dass man getestet ist, sinnvoll. Aber wir müssen eine wissenschaftlich hergeleitete Grundlage
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und die ausreichende Sicherheit dafür haben, dass das, was da zugrunde gelegt wird, auch tatsächlich stimmt.
Wir wissen, dass mit dem Neuauftreten der indischen Variante neue Unsicherheit entsteht. Ich erinnere an die Entwicklung, die wir im Zusammenhang mit der Virusvariante B.1.1.7 seit Anfang Januar erlebt haben. Am Anfang wurde die Variante nur in ganz wenigen Fällen nachgewiesen. Aber innerhalb von drei Monaten wurde dieser Virustyp vorherrschend und macht nun einen Anteil von fast 90 Prozent der Infektionen in Deutschland aus. Wir wissen also: Es gibt keine abschließende Sicherheit; es gibt kein abschließendes Vorgehen. Das muss bei der Diskussion über den Impfausweis und über den Nachweis von Immunität berücksichtigt werden.
Wir müssen gestuft, sorgfältig und umsichtig damit umgehen. Und dann ist das natürlich sinnvoll. Jeder Stufenplan innerhalb der Pandemie lebt davon, dass wir auch den Nachweis darüber, ob jemand getestet ist, geimpft ist oder bereits erkrankt war und voraussichtlich deshalb für einen bestimmten Zeitraum auch nicht ansteckend ist, einbeziehen.
Immer wieder werden wir gefordert sein, die wissenschaftlichen Grundlagen zu hinterfragen und zu gucken, wie der Forschungsstand ist. Das ist in einer Pandemie nun einmal so.
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Das alles kommt viel zu wenig vor in Ihrem Antrag.
Was Sie im Kern gemacht haben, ist, das aufzuschreiben, was der Stand für jedermann von uns ist. Wir sind froh, dass es europaweit Vorgaben für ein quelloffenes Zertifikat gibt, in denen auch klargestellt ist, dass die Europäische Datenschutz-Grundverordnung gelten muss, dass es interoperabel und auf Dauer anschlussfähig sein muss zum Internationalen Impfausweis; denn dieser ist ja eigentlich die maßgebliche Referenz. Das sind die Punkte, die wir brauchen. Da sind wir auf einem ganz guten Weg, so wie ich es bisher beurteilen kann. Darüber bin ich ganz froh.
Ich bin auch froh, dass es in die Corona-Warn-App integriert werden soll. Was wir jetzt schauen müssen, ist, dass wir tatsächlich schnell genug sind, dass wir immer wieder auch genug Forschungsgelder, beispielsweise jetzt zur wissenschaftlichen Begleitung der Entwicklungen der Virusvarianten und der Situation insgesamt, bereitstellen, damit wir handlungsfähig bleiben.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Es wird dauerhaft nötig sein, solidarisch zu sein. Es wird noch sehr lange dauern, bis Kinder und Jugendliche geimpft sind. Welche Situationen entstehen denn für Familien, wenn alle Welt meint: „Ich bin freigetestet, ich bin geimpft“, Familien aber weiterhin Einschränkungen in Kauf nehmen müssen? Das alles müssen wir im Blick haben. Also: Freiheitsrechte, da, wo möglich, wieder zurückgeben, und gleichzeitig solidarisch bleiben.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Klein-Schmeink. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mit einem kleinen Lob an die FDP anfangen: Schön, dass sie es geschafft hat, ausnahmsweise mal einen konkreten Vorschlag zu machen. Wir können ja mal an das zurückdenken, was wir in den letzten Tagen und Wochen vonseiten der FDP hier erlebt haben.
({0})
Bis gestern Abend haben Sie eigentlich bloß von früh bis abends Ihre Bedenken vorgetragen. Sie haben gestern erst wieder Ihre Bedenken verfassungsrechtlicher Natur vorgetragen, aber keine Vorschläge gemacht,
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wie wir das Volllaufen der Intensivstationen verhindern können; denn das ist notwendig, das brauchen wir.
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Sie haben im Wahlkampf mal plakatiert: „Bedenken second“. Was Sie derzeit machen, ist „Bedenken first“. Das ist Ihre Strategie, die Sie derzeit fahren – getreu dem Spruch von Kurt Tucholsky: „Wenn einer nichts hat: Bedenken hat er.“
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Andrew Ullmann?
Ich würde gern erst mal weitersprechen.
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Er spricht ohnehin nach mir.
Von früh bis abends haben Sie Ihre Bedenken aus einem juristischen Elfenbeinturm vorgetragen. Erst vor einem Monat haben Sie uns damit traktiert, als es um die Impfreihenfolge ging, die Sie unbedingt per Gesetz festlegen wollten, das ginge gar nicht per Verordnung. Jetzt sehen wir nach derzeitigem Stand: Es war richtig, es so zu machen. Die Lösung funktioniert, und die Lösung ist auch rechtssicher.
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Deswegen: Lassen Sie uns in unserem Land anpacken! Lassen Sie uns handeln! Liebe Oberbedenkenträger der FDP, orientieren Sie sich einfach mal neu und machen Sie es so, wie Sie es jetzt mit Ihrem Antrag gemacht haben: Machen Sie mal konstruktive Vorschläge!
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Das bringt uns besser und weiter voran
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als Ihr ständiges Herumnörgeln und Ihre ständig vorgebrachten Bedenken.
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Lassen Sie mich jetzt zum Inhalt des Antrags kommen. Wenn jemand geimpft ist, dann kann er das Virus kaum noch übertragen. Ein vollständiger Impfschutz tritt 14 Tage nach der zweiten Impfung ein. Aber es ist eben kein hundertprozentiger Schutz, den man damit erwirbt. Deswegen bleibt es dabei, dass man Abstand halten muss, dass man Hände waschen soll, dass das Lüften wichtig ist. All diese Hygieneregeln, die wir in den letzten Monaten eingeübt haben, bleiben weiterhin notwendig.
Ein digitaler Impfnachweis ist sinnvoll. Natürlich ist es am Sinnvollsten, diesen auf dem Handy zu haben; denn vier von fünf Erwachsenen nutzen ein Mobilfunkgerät. Die Papierversion wird deshalb eher die Ausnahme, dennoch auch noch notwendig sein.
Wir hatten an dieser Stelle schon darüber gesprochen, dass es einen europäischen Impfnachweis geben soll – die Europäische Union arbeitet daran; wir haben hier auch schon darüber diskutiert –, wo eingetragen wird, wenn jemand geimpft wird, wenn jemand negativ getestet worden ist, wenn jemand einen Antikörpernachweis vorlegen kann, also in letzter Zeit erkrankt war und wieder gesund ist. Das ist natürlich insbesondere für die Urlaubsländer – denken wir an Griechenland, denken wir an Italien – wichtig, weil diese Länder nicht wollen, dass ihre Gesundheitssysteme überfordert werden.
Neu an dem, was wir jetzt diskutieren, ist, dass wir diesen Impfnachweis auch in die Corona-Warn-App integrieren. Das ist ein großer Vorteil, weil wir mit der Corona-Warn-App die erfolgreichste Tracing-App in Europa mit 27 Millionen Nutzern haben. Da lohnt es sich natürlich, in diese Anwendung ein digitales Impfzertifikat zu implementieren. Ich würde mich freuen, wenn wir es schon in den nächsten Monaten hinbekommen könnten, wenn man die App herunterlädt und auch die entsprechende Möglichkeit besteht, den Impfnachweis zu integrieren.
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Das ist eine sehr sinnvolle Lösung; denn wer geimpft ist, kann und darf nicht eingeschränkt werden, sei es bei Urlaubsreisen oder beim Friseurbesuch und Einkauf, wo man jetzt zum Teil einen Nachweis über einen Negativattest vorlegen muss.
Der elektronische Impfnachweis ist ein großes Puzzleteil, um zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren zu können. Deswegen ermuntere ich uns alle, insbesondere aber auch die Bundesregierung, daran weiterzuarbeiten, nicht davon abzulassen und da weiter voranzukommen. Ich bin sicher, dass dies eine gute Möglichkeit sein wird, um zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren zu können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Krauß. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Andrew Ullmann, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stehe hier mit einem Redekonzept in der Hand, das ich nach den vorherigen Redebeiträgen über den Haufen werfen kann. Was hier gesagt worden ist, geht auf keine Kuhhaut mehr. Bezogen auf die Rede von Herrn Krauß frage ich mich ernsthaft: Wo waren Sie eigentlich gestern in der Debatte über das Infektionsschutzgesetz?
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Wir haben sechs Änderungsanträge eingebracht. Vielleicht haben Sie sie gar nicht gelesen, sondern nur Ihre Abstimmungskarten in die Urne geschmissen und nicht nachgedacht, über was Sie abgestimmt haben.
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Kollege Tino Sorge, ich schätze Sie sehr,
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aber Sie haben in der Debatte die Begriffe „Impfpass“ und „Impfnachweis“ verwechselt. Das sind zweierlei Dinge. Ich hätte erwartet, dass Sie mehr differenzieren können.
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Eines ist uns allen klar: Im Gesundheitswesen sind wir seit Jahren unterdigitalisiert. Mein Eindruck ist: Die Bundesregierung agiert, als wäre sie auf einem Sonntagsausflug: Wir tuckern mit der Regionalbahn durch die Lande, gucken nach draußen und stellen fest, wie schön alles ist, und wir reden ja miteinander. – Da läuft gar nichts.
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Die Digitalisierung ist eine Herausforderung für die Politik seit 2002 bzw. 2004. Bisher ist nichts passiert, außer Redebeiträge zu halten.
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Sogar innerhalb der Europäischen Union sind wir bei der Digitalisierung auf den letzten Plätzen. Dabei geht es nicht darum, Infrastruktur im Gesundheitswesen zu schaffen. Diese muss selbstverständlich bürgerrechtskonform und datenschutzkonform sein. Es geht darum, dass wir Prozesse im Gesundheitswesen digitalisieren. Wir brauchen mehr Zeit für die Patienten. Wir brauchen mehr Zuwendungsmedizin. Wir brauchen auch mehr Sicherheit und Effektivität im Gesundheitswesen. So geht Digitalisierung, meine Damen und Herren!
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Für mich als Infektiologe ist der digitale Impfausweis oder Impfpass etwas Essentielles, ein gutes Beispiel, wie Digitalisierung im Gesundheitswesen vorangehen kann. Ich weiß nicht, ob Sie alle wissen, wo Ihr Impfausweis ist. Ich habe meinen Impfausweis rausgeholt. Zwölf Jahre alt ist diese Version, völlig zerfleddert. Es passiert immer wieder, dass Impftermine für die Auffrischung gar nicht eingetragen sind. Sogar ich als Fachmann vergesse diese Termine. Da ist natürlich eine digitale Form des Impfausweises mit Erinnerungsfunktion etwas ganz Tolles. Auch Versorgungsforschung kann das einbeziehen. Natürlich muss es EU-einheitlich, idealerweise auch international einheitlich sein. Es ist auch bequem, einen Impfausweis im Computer immer griffbereit zu haben. Das kennen wir alle.
Aber wie sieht es jetzt für die Pandemie aus? Auch da haben wir die Chance, einen digitalen Nachweis einzuführen, dass man gegen SARS-CoV-2 geimpft ist. Auch das ist möglich.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ja, sie darf.
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Herr Ullmann, Danke schön, dass ich fragen darf. – Ich habe Ihnen zugehört. Sie haben sehr breit über den Impfpass – tatsächlich – und die Chancen eines digitalen Impfpasses gesprochen. Aber Ihr gesamter Antrag bezieht sich in sämtlichen Forderungspunkten auf den digitalen Impfnachweis. Schauen Sie sich das einmal sehr genau an und dann sehen Sie, dass genau das verloren gegangen ist.
Wenn wir uns jetzt schon darüber unterhalten: „Wie kommen wir im Gesundheitswesen mit der Digitalisierung voran?“, dann kann ich nur an die Wahlperiode mit FDP-Gesundheitsministern erinnern. Ich kann mich auch noch sehr lebhaft an die Wahlkämpfe erinnern, weil Daniel Bahr in meinem Wahlkreis war.
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Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Es ist hoch und heilig versprochen worden, dass diese elektronische Patientenakte nicht kommt, und in genau dieser Wahlperiode, in der die FDP maßgeblich beteiligt war, ist in Sachen Digitalisierung nichts passiert.
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Das ist die entscheidende Wahlperiode gewesen, in der der Anschluss in der Digitalisierung verpasst worden ist. Das muss man an dieser Stelle deutlich sagen. Wenn Sie sich hier in Sachen Digitalisierung so aufplustern, sollten Sie sich doch daran erinnern.
Deshalb will ich Sie als Fachmann, gerade auch für Infektionskrankheiten, fragen: Wie können wir diesen Immunitätsausweis sachgerecht immer wieder so auf den aktuellen Stand bringen, dass wir damit auch die Gefahren, die mit der Infektionslage verbunden sind, berücksichtigen?
Herzlichen Dank für diese Frage. – Das zeigt wieder einmal – Frau Klein-Schmeink, nichts für ungut –, dass grüne Politik immer rückwärtsgewandt ist und darauf schaut, was in der Vergangenheit passiert ist.
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Ich denke, wir Freie Demokraten haben klar gezeigt, dass wir vorwärts gewandt sind und Zukunftsweisendes für die Menschen in unserem Land erreichen wollen. Die Menschen in diesem Land haben auch explizit verdient, dass wir uns hier weiterentwickeln. Es wäre schön, wenn auch die Grünen bei dieser Weiterentwicklung mitmachen würden und nicht immer kritisieren, was damals vor 10, vor 20 oder vor 30 Jahren passiert ist. Es gibt auch bei der grünen Politik genug Beispiele für Dinge, die schiefgelaufen sind und wo heute andere Positionierungen eingenommen werden. Ich denke, diese Art der Diskussion ist wirklich nicht zielführend. Viel wichtiger ist, dass wir in der Politik vorwärtsgewandt sind und immer nach vorne schauen, wie es weitergeht.
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Natürlich müssen wir sehen, wie wir diese Gefahren meistern können. Da kann die Digitalisierung natürlich viel helfen. Sie wird natürlich nicht bei allem helfen, das ist für uns auch sehr klar. Aber von der SPD und auch von der Union wird immer nur diskutiert und nichts gemacht. Sie diskutieren darüber: Wir haben ja bald eine ePA, vielleicht ab 1. Januar 2022. – Oder die EU diskutiert darüber, was sie mit einem Impfnachweis macht. Aber das sind immer nur Versprechungen. Wie häufig sind wir gerade in dieser Pandemie von Lockdown zu Lockdown vertröstet worden? Ich denke, diese Art der Politik brauchen wir nicht. Ich kann Ihnen nur empfehlen, nach vorne zu schauen und zukunftsgewandt auch hier auf moderne und gute innovative Medizin zu setzen.
So, ich komme zum Schluss meiner Rede.
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In dieser Pandemie ist es wichtig, meine Damen und Herren, dass Geschwindigkeit und Gründlichkeit keine Gegensätze sind, sondern machbar. Wir sollten nicht reden, wir sollten machen. Es wird Zeit, dass die Bundesregierung aus der Regionalbahn aussteigt, umsteigt auf die Schnellstrecke der ICE; denn wir können uns das Vertrödeln der Zeit nicht mehr leisten.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen muss Fahrt aufnehmen. Deklarieren Sie bitte nicht in diesem Jahr, dass die PDF-Datei der ePA ein Erfolg ist. Wir müssen endlich unseren Turbo anschmeißen.
Herr Kollege, bitte.
Die Menschen unseres Landes haben es verdient. Ich freue mich auf die weitere Debatte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ullmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn uns die Covid-Krise eines gelehrt hat, dann: Wir brauchen ein europäisch abgestimmtes Handeln. Nationale Alleingänge tragen nicht weit, sie führen immer nur zu einer Verschiebung des Pandemiegeschehens. Darum ist es ein wichtiger Schritt, dass es ab Juni einen digitalen europäischen Impfpass geben wird.
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Wir brauchen eine übergreifende Steuerung der gemeinsamen Vorsorge- und Fürsorgepolitik. Hier will ich einmal eine Lanze für die EU brechen. Sie steht vielfach in der Kritik, weil die Prozesse langsam und kompliziert sind. Aber ich frage Sie: Wo liegt eigentlich die Alternative?
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Nein, wir müssen noch viel intensiver für eine europäische Gesundheitsunion eintreten.
Mit vereinten Kräften können wir die Vorsorge- und Reaktionsfähigkeit der EU stärken. Es ist wichtig, das ECDC, also das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten, zu stärken und natürlich auch die Europäische Arzneimittel-Agentur weiter aufzustocken.
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Schließlich – ich werde nicht müde, es zu wiederholen –: Wir müssen diese Gesundheitskrise in ihrer globalen Dimension erkennen und global handeln. Es ist ein gutes Signal, dass die Europäische Union den sechs nicht zur EU gehörenden Balkanstaaten mit Impfdosen helfen wird.
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Aber auch das kann nur ein erster Schritt sein, dem rasch noch weitere folgen müssen, und zwar am besten über Covax, dem Verteilmechanismus für Impfstoffe der Weltgesundheitsorganisation.
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Denn auch dies kann man nicht oft genug wiederholen: Es reicht nicht, wenn wir in Deutschland oder in Europa das Impfen beschleunigen. Es ist zwingend notwendig, in absehbarer Zeit eine Grundimmunität in allen Ländern herzustellen. In dieser fortgeschrittenen Phase der Pandemie kommt es darauf an, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren,
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nämlich mit aller Kraft die Impfstoffproduktion und Medikamentenentwicklung anzukurbeln und weltweit gleichberechtigten Zugang sicherzustellen, Gesundheitssysteme dort zu stärken, wo sie heute schwach sind, konsequent weiter zu testen und einfachere Testverfahren voranzutreiben und, ja, dabei natürlich auch die innovative Kompetenz der Digitalwirtschaft zu nutzen, wie wir es gerade diskutiert haben.
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Es muss doch klar sein, dass ein digitaler Impfpass anschlussfähig sein muss, sowohl innerhalb der EU als auch innerhalb der Vereinten Nationen. Denn kein Land kann in dieser Situation dauerhaft mit nationalen Maßnahmen allein erfolgreich sein. Für uns als SPD geht es nicht ohne europäische und internationale Solidarität.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. – Der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion, und der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
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Ich möchte, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Fraktion Grosse-Brömer ausdrücklich danken und darauf hinweisen, dass wir nach der bisherigen Planung bis morgen früh 4.10 Uhr hier sitzen würden.
Ich will daran erinnern, dass wir uns darauf verständigt hatten, mittwochs länger zu tagen, damit donnerstags nicht nach 22 Uhr getagt werden muss.
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Ich möchte daran erinnern, dass wir gestern eine Ausgangssperre ab 22 Uhr, spätestens ab 24 Uhr, beschlossen haben. Ich denke jetzt weniger an die Abgeordneten, sondern eher an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Bundestages, die ja im Zweifel irgendwie auch noch nach Hause kommen müssen.
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Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer darum, sich bereits am Nachmittag Gedanken darüber zu machen, was man vielleicht nicht notwendigerweise nach 23 oder 24 Uhr noch debattieren muss. Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen, die nicht unbedingt reden müssen, weil sie bereits aufgestellt worden sind,
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mit sich selbst zurate zu gehen,
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ob der Debattenbeitrag unbedingt sein. Ich meine das jetzt wirklich ernst.
Ich danke noch einmal der CDU/CSU -Fraktion. Ich habe selten Gelegenheit, jemanden aus der CDU/CSU -Fraktion zu loben; aber in diesem Fall mache ich das besonders gerne.
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Der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion, ist der letzte Redner in dieser Debatte. Er erhält jetzt das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Höferlin, alle Achtung – wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn ziehen –: Erst rüffeln Sie meine Kollegin Heike Baehrens für einen Zwischenruf, den Sie bewusst missverstehen – Frau Baehrens gehört zu denen, die hier seit Monaten dafür kämpfen, dass wir die Pandemie in den Griff bekommen –, und danach schaffen Sie es allen Ernstes, komplett an Ihrem Antrag vorbeizureden,
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wobei Sie das gar nicht geschafft haben, wie ich festgestellt habe. Denn der Kollege Ullmann hat ja deutlich gemacht, dass Sie beide offensichtlich gar nicht verstanden haben, was Sie von der FDP für einen Antrag gestellt haben.
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Da Sie ihn nicht verstanden haben – das hat Ihnen die Kollegin Klein-Schmeink auch schon erklärt, und da denke ich gerne an Ihre mahnenden Worte, Herr Präsident –, lohnt es sich gar nicht, hier groß über Ihren Antrag zu diskutieren.
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Das können wir dann im Ausschuss machen. Viel Sinn macht er nicht. Für die Bekämpfung der Coronapandemie macht er auf jeden Fall keinen Sinn. Da hätte es mehr Sinn gemacht, über die Sorgen und Nöte von Kindern aus Familien mit Suchtproblemen und aus psychisch belasteten Familien zu reden.
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Den AfD-Antrag lehnen wir eh ab. Denn Bremsklötze zu schmeißen und Nebelkerzen zu werfen, um aus der Sache herauszukommen, macht keinen Sinn.
Ich bedanke mich bei den Kollegen der CDU/CSU und höre jetzt auch auf.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am Samstag jährt sich zum achten Mal das furchtbare Unglück von Rana Plaza, als in Bangladesch eine Textilfabrik zusammenbrach und über 1 200 Menschen das Leben verloren, vor allem junge Frauen.
Ich war ein Jahr später, im Jahr 2014, mit zwei Kollegen vor Ort und habe natürlich auch mit den Überlebenden gesprochen. Aber ich sage Ihnen: Vielleicht das bitterste und eindringlichste Erlebnis, das ich auf Dienstreisen in den ganzen 19 Jahren bisher hatte, war, als wir zu dem Unglücksort gegangen sind. Da war immer noch, über ein Jahr später, ein Trümmerfeld, aus dem die Toten noch nicht geborgen waren. Das heißt, Sie stehen dort auf Erde, auf Stein, auf Trümmern, untendrunter liegen noch die toten Menschen, und dann sehen Sie zwischen den Steinen, aus der Erde rausragend, Markenetiketten und Preisschilder von in Deutschland und Europa bekannten Textilfirmen, und Sie wissen, Sie sind jetzt nicht in einem Textilgeschäft, wenn Sie diese Markenetiketten sehen, sondern Sie stehen auf einem Friedhof.
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn man so etwas hautnah spürt und erlebt, lässt einen das nicht los, und dann weiß man auch, dass wir eine Verantwortung haben, dass so etwas niemals wieder passiert, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Deswegen bin ich dankbar, dass Entwicklungsminister Gerd Müller gemeinsam mit unserem Arbeitsminister Hubertus Heil gekämpft hat, dass wir jetzt gegen viele Widerstände – auch von Wirtschaftsseite und leider auch vom Wirtschaftsminister – einen Gesetzentwurf vorlegen, der Unternehmen in die Verantwortung nimmt, damit sie ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten künftig einhalten müssen und damit Verantwortung nicht weiter nur freiwillig ausgeübt werden darf. Noch einmal meinen herzlichen Dank dafür! Ich weiß, dass du, Gerd, in deiner Fraktion da viel geleistet hast, aber auch Hubertus mit seinen vielen Vorhaben bis tief in die Nacht dafür gekämpft hat. Ganz herzlichen Dank dafür!
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Das ist heute ein historischer Tag, weil wir wirklich von der Freiwilligkeit zu einer gesetzlichen Regelung kommen. Denn Menschenrechte dürfen nicht freiwillige Angelegenheit sein, sondern es muss eine Pflicht, eine Selbstverständlichkeit sein, dass Menschenrechte eingehalten werden.
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All diejenigen, die jetzt sagen: „Ja, die Regierungen sollen doch dafür sorgen, dass Menschen- und Arbeitnehmerrechte eingehalten werden“, sind die gleichen Kräfte, die sich immer dagegen sperren, wenn es darum geht, EU-Handelsverträge gerecht zu gestalten, nämlich mit Sanktionsmechanismen bei Verstößen. Auch Minister Altmaier vertritt leider diese Position. Nein, ich sage: Wir brauchen faire Handelsabkommen, in denen Verstöße gegen Menschen- und Arbeitsrechte sanktioniert werden. Die Regierungen müssen die Verantwortung übernehmen. Aber die Unternehmen dürfen sich da nicht ihrer Verantwortung entziehen nach dem Motto: Wenn mich keiner kontrolliert, kann ich machen, was ich will.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Deswegen ist es heute eine historische Stunde, wenn wir diesen Gesetzentwurf einbringen.
Herr Kollege!
Das wird dazu führen, dass Millionen Kinder nicht mehr auf Kakaoplantagen und in Bergwerksminen schuften müssen, –
Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
– dass Menschen keine Hungerlöhne mehr gezahlt bekommen, dass Ausbeutung kein Wettbewerbsvorteil mehr sein darf. Dafür werden wir kämpfen und diesen Gesetzentwurf durchbringen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Man kann es eigentlich fast gar nicht mehr hören, wie über so ernste Themen immer wieder gesprochen wird. Was soll denn an der Stelle immer das Moralisieren, Kollege Raabe? Sie müssen doch den Leuten da draußen mal erklären, was dieses Lieferkettengesetz eigentlich bedeutet und ist.
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Ausschließlich deutsche Unternehmen sollen dazu verpflichtet werden, überall auf der Welt soziale und ökologische Standards durchzusetzen. Das ist eine Verschiebung, weg von den Regierungen der Entwicklungsländer hin zu ausschließlich deutschen Unternehmen. Die sollen wie so eine Art globale Lieferkettenpolizei fungieren. Das muss man sich mal überlegen! Wie soll denn das funktionieren? Das ist doch völlig absurd, was Sie hier heute umzusetzen versuchen, meine Damen und Herren.
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Das ist auch ein Angriff auf alle deutschen Unternehmer da draußen, die sich trauen, im Ausland zu investieren, die schon lange die höchsten Standards im Bereich der Ökologie und der sozialen Fragen an den Tag legen. Ich kann nicht nachvollziehen, warum man hier so etwas auf diese Art und Weise kodifizieren will.
({2})
Man muss sich doch mal die Frage stellen, wie so was in der Praxis aussieht. Wie soll so was in der Praxis funktionieren? Nehmen wir doch mal einen Unternehmer, der meinetwegen Halbleiterteile herstellt. Der hat 15 oder 20 Mitarbeiter, und als Kunden hat er jetzt ein Unternehmen, das unter Ihr Lieferkettengesetz fällt. Ich hatte die Gelegenheit, mit jemandem darüber zu sprechen, den es betreffen wird. Das Unternehmen, das das Lieferkettengesetz jetzt zu beachten hat, wird natürlich darauf drängen, dass auch die kleinen Zulieferer mit 15, 20, 30 Mitarbeitern in der Lage sind, dieses Lieferkettengesetz mit zu beachten; denn es geht ja nur so, dass das große Unternehmen, das darunter fällt, darauf besteht, dass der Zulieferer in der Lage ist, die Lieferkette transparent zu gestalten.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion?
Nein, ich möchte weitermachen. – Was sagt denn die CDU dazu? Das muss man sich doch einfach mal anschauen. Es ist keine zwei Monate her, dass wir hier saßen und ein Kollege mit dem Namen Lämmel gesagt hat – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Man muss für unsere Fraktion ganz klar sagen: Ein Lieferkettengesetz auf nationaler Ebene ist nicht der Weg, den wir einschlagen wollen.
Meine Damen und Herren von der CDU, nur 15 Tage hat es gedauert, bis Sie umgefallen sind. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben der FDP als Umfallerpartei wirklich den Rang abgelaufen!
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Noch eines muss man an der Stelle vielleicht sagen: Was bedeutet das denn entwicklungspolitisch? Wir hatten so was ja schon mal. Die Amerikaner haben das im Rahmen des Dodd-Frank Act geregelt. Es haben sich daraufhin amerikanische Unternehmen beispielsweise aus dem Kongo zurückgezogen. Dann wurde Platz frei, und den haben die Chinesen eingenommen.
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Arbeitsplätze sind verloren gegangen, und die Arbeitsbedingungen der Menschen vor Ort haben sich verschlechtert. Das ist doch die Realität, die man beachten muss.
Also in Summe: Sie plündern und zersetzen die deutsche Wirtschaft mit diesem Gesetz.
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Sie sorgen dafür, dass es den Menschen in den Entwicklungsländern schlechter geht. Das ist Gutmenschentum in Reinkultur, meine Damen und Herren, und das werden wir in der Form nicht mittragen.
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Ich komme dann zum Ende
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und bitte Sie, dass Sie wirklich noch mal darüber nachdenken, ob Sie solche Gesetzentwürfe hier diskutieren wollen. Es kann nicht sein, dass deutsche Unternehmen plötzlich weltweit die Lieferkettenpolizei sein sollen.
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Es ist Aufgabe von Regierungen, dafür zu sorgen, dass auf dem eigenen Staatsgebiet Arbeitnehmerrechte, ökologische und soziale Standards durchgesetzt werden, und nicht ausschließliche Aufgabe deutscher Unternehmen, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist Bundesminister Dr. Gerd Müller für die Bundesregierung.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, ob wir vom freien zum fairen Handel in globalen Lieferketten kommen. Sascha Raabe und ich, wir haben die Trümmer von Rana Plaza gesehen. Am Samstag vor acht Jahren – du hast es gesagt – haben 1 138 Frauen ihr Leben unter den Trümmern verloren. Der Skandal war: Die Frauen haben zwei Tage davor darauf hingewiesen, dass sie Risse in den Mauern entdeckt haben, und das Management hat angewiesen: Ihr habt keine Rechte, ihr habt weiterzuarbeiten; für 14 Cent in der Stunde arbeitet ihr hier 14 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche. Und sie gingen ins Verderben. – Wir gedenken heute der toten Frauen von Rana Plaza.
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Ich sage Ihnen, Sie werden ein anderer Mensch und ein anderer Politiker, wenn Sie mit den Überlebenden sprechen. Mein Blick auf Profitmaximierung durch die Globalisierung des Handels in internationalen Lieferketten hat sich geändert. Externalisierung und Auslagerung der Produktion in Entwicklungsländer, das kann nicht unser globales Wirtschaftsmodell sein.
Meine Damen und Herren, wir können und dürfen nicht die Augen verschließen vor der Ausbeutung von Kindern, Mensch und Natur. Dabei geht es nicht nur um die Textilfabrik Rana Plaza, sondern es geht weit darüber hinaus. Ich sage hier sehr deutlich: Es geht auch um die Verseuchung des Meeres, der Mangrovenwälder, der Umwelt im Nigerdelta durch Ölmultis und um die Ausbeutung von Kindern auf Kaffee-, Kakao-, Baumwollplantagen oder für unsere Grabsteine in Steinbrüchen. – Ich habe Kinder in Indien getroffen, die aus diesem Joch befreit wurden; und ich habe ihnen versprochen: Wir helfen euch, und wir ändern das; wir tun, was notwendig ist.
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80 Millionen Kinder arbeiten als Arbeitssklaven für uns, die Reichen auf der Sonnenseite des Planeten, für unsere Produkte. Meine Damen und Herren, Hubertus Heil und ich haben zusammen mit den Koalitionsfraktionen das deutsche Textilbündnis umgesetzt. Auf der Basis von Freiwilligkeit sind 50 Prozent dabei. Mich freut ganz besonders – das können Sie heute in der Zeitschrift „TextilWirtschaft“ nachlesen –, dass auch die Verbände im Bereich Textilwirtschaft Zeichen setzen, Maßstäbe setzen. Es geht!
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Große und kleine Firmen können im Zeitalter der Digitalisierung Lieferketten verfolgen. Eine Pionierin ist Antje von Dewitz. Schauen Sie sich ihren Betrieb an, der beim „Grünen Knopf“ mitmacht. Antje von Dewitz geht 30 Jahre voraus. Ein kleines Unternehmen zeigt, es geht, Gerechtigkeit in den Lieferketten umzusetzen.
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Deshalb danke ich diesen Pionieren, ich danke den Kirchen, der Welthungerhilfe, dem DGB, allen, die mitgeholfen haben. Wir haben diesen ersten wichtigen Schritt gemeinsam geschafft, gemeinsam mit vielen NGOs und vielen, die uns unterstützen. Gemeinsam haben wir, sein und mein Team, dieses Projekt auf den Weg gebracht. Wir beide, Hubertus Heil und ich, wir sind Freunde geworden,
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– Ja. – Auch er hat sich verändert, als er mit den Frauen in Äthiopien gesprochen hat, also die realen Zustände gesehen hat.
Meine Damen und Herren, das Lieferkettengesetz kommt. Das war ein langes Ringen; das ist ein guter Kompromiss. Hermann Gröhe und meine Freunde in der Unionsfraktion werden auf die Details eingehen. Wichtig sind die Umsetzung des Verbots von Kinderarbeit und die Stärkung der Menschenrechte, und dies, ohne die Wirtschaft zu überfordern. Dieses Gesetz gilt ab 2023; darauf wird der Arbeitsminister eingehen. Wir haben eine Übergangsfrist; wir haben das Ganze mittelstandsfreundlich gestaltet. Es ist umsetzbar; es gibt eine abgestufte Verantwortung.
Das ist die deutsche Initiative für eine Vorlage für die EU-Kommission. Diese Initiative muss die Basis einer europäischen Regelung werden.
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Die sozialen und ökologischen Standards müssen weltweit Standard werden. Meine Damen und Herren, ich betone: weltweit, nicht nur in der Produktion und in der Industrie, sondern auch bei Dienstleistungen, auch bei Finanzdienstleistungen. Die WTO wird und muss folgen. Ich habe Dr. Ngozi Okonjo-Iweala, die neue Vorsitzende, vor 14 Tagen besucht. Sie steht als Nigerianerin an der Spitze für einen neuen Kurs der WTO, für eine gerechte Globalisierung. Wir stehen an ihrer Seite. Der freie Welthandel muss ein fairer Welthandel werden.
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Die UN-Menschenrechtscharta und die SDG-Agenda sind der Weg in eine bessere, gerechtere Globalisierung und Zukunft. Deshalb: Machen wir unsere Politik enkeltauglich und schöpfungstauglich. Heute, am World Earth Day, ist das Lieferkettengesetz unser Beitrag dazu.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Minister Müller. – Als nächster Redner erhält das Wort Carl-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um Menschenrechte und den Kampf gegen Kinderarbeit. Dazu will die Bundesregierung deutschen Unternehmen ein Risikomanagement und Dokumentationspflichten auferlegen. Mein Gefühl sagt mir: Millionen Kinder in den Minen und auf den Feldern erwarten vielleicht etwas anderes als Risikomanagement und Dokumentationspflichten. Sie wollen zur Schule gehen, eine Ausbildung machen und wünschen sich berufliche Perspektiven. Die Kinder der Welt erwarten, dass ihre Eltern unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten und dass sich ihr Heimatland an die UN-Leitprinzipien für Menschenrechte hält. Wir Freien Demokraten stehen dabei an ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir diskutieren auch über Verantwortung deutscher Unternehmen in der Welt.
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Ich stelle mit Bedauern fest: Das Gesetz atmet den Geist des Misstrauens. Es wird bewusst der Eindruck erweckt, Kinderarbeit und Ausbeutung würden billigend in Kauf genommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ganze Welt sieht das anders. Wohin wir reisen, fragen unsere Gastgeber: Wann kommen die Deutschen und investieren? Denn die Welt weiß: Deutsche Investitionen bringen faire Löhne und Arbeitsbedingungen, oft auch Aus- und Weiterbildung.
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Handel und Investitionen unserer Unternehmen in Entwicklungsländern schaffen nicht nur Arbeitsplätze hier, sie führen auch viele Menschen aus der Armut und Perspektivlosigkeit dort. Deutsche Unternehmen sind Teil der Lösung und nicht des Problems. Es ist an der Zeit, dass Sie das endlich anerkennen.
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Herr Minister Müller, auf die Frage des Kollegen Dr. Hoffmann in der Regierungsbefragung gestern, ob das Gesetz eventuell deutsche Auslandsinvestitionen in Entwicklungsländern behindere, lautete Ihre Antwort weder ja noch nein. Sie antworteten lapidar: Das Gesetz ist ein Meilenstein. Mit Verlaub: Wer die Einführung einer Verpflichtung zur Dokumentation über die Einhaltung von Sorgfaltspflichten als Meilenstein feiert, dem geht es nicht um Menschenrechte, sondern der lenkt vom Scheitern seiner eigenen Entwicklungspolitik ab. Er kapituliert in Wahrheit vor den Autokraten dieser Welt. Es ist allenfalls ein Meilenstein im Bürokratieaufbau.
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Die Regierung gibt vor, nur große Unternehmen seien betroffen. Das ist entweder Augenwischerei oder Ignoranz. Selbstverständlich werden große Unternehmen ihre mittelständischen Zulieferer in Deutschland ebenfalls in die Pflicht nehmen. Nicht in der Pflicht ist dagegen Amazon, genau wie alle anderen Plattformen oder ausländische Unternehmen mit Zweigstellen nur in Deutschland.
Dieses Gesetz führt zum Rückzug der Anständigen und verdrängt den Mittelstand. Da müssen Sie nachbessern, aber dringend. Und das geht auch: Schaffen Sie Safe-Harbor-Lösungen, beugen Sie Doppeldokumentationen vor, helfen Sie mit bei Positiv- und Negativlisten. Wenn Sie dann ein attraktives Paket geschnürt haben, das die Unternehmen motiviert, mitzumachen, dann fahren Sie nach Brüssel und werben dafür. Dann haben Sie uns an Ihrer Seite. Die Kinder in den Minen und auf den Feldern werden es Ihnen danken.
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Vielen Dank, Herr Kollege Cronenberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva-Maria Schreiber, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Minister Müller und Heil! Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick scheint die Einigung auf ein Gesetz für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten von Unternehmen erfreulich. Endlich gäbe es die Chance, Menschenrechte und Gerechtigkeit in der deutschen Wirtschaft stärker zu verankern. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Trotzdem: Auf Druck der Wirtschaftsverbände sowie unter freundlicher Mithilfe des Bundeswirtschaftsministers – der ist jetzt gerade nicht da; warum? – wurde der anfangs so gute Gesetzentwurf massiv verwässert. Wieder einmal haben sich die Lobbyisten durchgesetzt. Die Linke will den Entwurf in mehreren Punkten nachbessern. Drei möchte ich erwähnen.
Erstens. In vollem Umfang beziehen sich Sorgfaltspflichten derzeit nur noch auf direkte Vertragspartner. Das ist absurd; denn die meisten Menschenrechtsverletzungen passieren am Anfang der Lieferketten und treffen damit häufig die Ärmsten der Armen. Gerade sie gilt es, zu schützen.
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Dort, zum Beispiel in der Kobaltmine oder auf den Bananenplantagen, müssen Unternehmen ihre Risiken nur anlassbezogen ermitteln und ausschließlich dann etwas unternehmen, wenn sie substantiierte Kenntnis über eine mögliche Menschenrechtsverletzung erlangen. Das ist eine Aufforderung zum Wegschauen; denn je weniger die Unternehmen wissen, desto weniger müssen sie handeln. Dies widerspricht dem präventiven Grundgedanken der UN-Leitprinzipien fundamental und muss dringend verändert werden.
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Zweitens. Menschen, die im Ausland von Schäden durch Sorgfaltspflichtverletzungen betroffen sind, müssen vor deutschen Gerichten klagen können. Nur eine zivilrechtliche Haftungsregel gewährleistet dieses Recht. Die geplante Ausweitung der Vertretung von Betroffenen durch NGOs oder Gewerkschaften ist ein Ansatz, löst dieses Problem aber nicht. Ohne die Haftung fehlt dem Gesetz sein schärfstes Schwert.
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Drittens. Das UN-Leitprinzip Nummer 14 macht unmissverständlich klar: Alle Unternehmen tragen die Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte. Bleibt es bei der derzeitigen Regelung von Unternehmen ab 1 000 Mitarbeitenden, wäre von dem Gesetz jedoch nur circa 0,1 Prozent der deutschen Wirtschaft betroffen. Das darf so nicht sein.
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Auch Unternehmen ab 250 Mitarbeitenden haben die Mittel, Sorgfaltspflichten in ihren Lieferketten zu erfüllen. Kleine und mittlere Unternehmen in Risikosektoren wie der Automobil- oder Textilindustrie müssen ebenfalls dazu verpflichtet werden, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv zu werden.
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Mit diesen gravierenden Lücken dürfen wir dieses Gesetz nicht verabschieden; sonst besteht die Gefahr, dass es kaum Wirkung hat und im schlimmsten Falle den Prozess auf europäischer Ebene ebenfalls aufweicht. Bessern Sie nach!
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Uwe Kekeritz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir streiten schon lange gemeinsam mit Kirchen, Gewerkschaften, NGOs, Wissenschaft, national und international für ein wirksames Lieferkettengesetz, das die UN-Vorgaben umsetzt, zu denen wir eigentlich schon lange durch internationale Verträge verpflichtet sind.
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Ich möchte den Ministern Heil und Müller dafür danken, dass wir heute darüber sprechen können. Aber Minister, die eine solche Fraktion zum Gegner haben, können natürlich nicht wirklich erfolgreich sein. Deshalb bleibt Ihr Entwurf auch klar hinter seinen Möglichkeiten zurück.
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So ist es völlig inakzeptabel, dass die Umweltverantwortung nur halbherzig berücksichtigt wird, und die von Ihnen gewählte Unternehmensgröße sorgt letztlich dafür, dass die meisten Unternehmen nicht für etwaige Menschenrechtsverstöße zur Verantwortung gezogen werden können. Das Gesetz könnte hier sogar als Freibrief verstanden werden. Besonders schwer wiegt aber die Tatsache, dass Sie die zivilrechtliche Haftung schlicht ignorieren. Sie warten auf Europa. Das funktioniert nicht; das muss hier umgesetzt werden.
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Ihr Entwurf verstößt auch klar gegen die UN-Leitprinzipien, indem Sie die Lieferkette im Prinzip nur auf die direkten Vertragspartner beschränken. Damit stellen Sie gezielt und bewusst besondere Problembereiche wie die Landwirtschaft, den Bergbau, die Fischerei und andere außerhalb des Gesetzes. Diese Regierung hat offensichtlich noch nicht verstanden, dass es ihre Aufgabe ist, für alle Unternehmen die gleichen Rahmenbedingungen zu setzen, die nachhaltig und menschenrechtskonform sein müssen.
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Ein solches Gesetz muss auch dafür sorgen, dass deutsche Konsumartikel nicht mehr durch die Länder des Globalen Südens subventioniert werden, in denen übelste Arbeitsbedingungen bei inakzeptabler Bezahlung vorherrschen und in denen zulasten der Umwelt ein Wettlauf um die niedrigsten Kosten stattfindet. Diese Länder zahlen unsere Zeche.
Hinzu kommt, dass eine vorausschauende Politik auf faire Beziehungen zu anderen Nationen setzt. Die Beziehungen, die auf Ausbeutung von billigen Arbeitskräften und Ignoranz gegenüber der Umwelt basieren, sind nicht nachhaltig, sondern schlicht neokolonial. Eine wirksame Sorgfaltspflicht im Gesetz ist also eine Investition in die Zukunft.
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Außerdem: Ein starkes Gesetz schützt vorbildliche Unternehmen gegen Umwelt- und Menschenrechtshasardeure, und genau darauf hat eine wachsende Anzahl ambitionierter Unternehmen, die es gibt, auch einen Anspruch. Diesem müssen wir gerecht werden. Ihr Gesetz tut das nicht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. – Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, lauschen wir den Worten des Bundesministers Hubertus Heil für die Bundesregierung.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum ein anderes Land in der Welt profitiert so stark von der arbeitsteiligen Wirtschaft wie unsere Bundesrepublik Deutschland. Das sichert Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land. Aber, Herr Kollege, daraus ergibt sich auch eine besondere Verantwortung: für Menschenrechte, für anständige Arbeitsbedingungen weltweit, für die Globalisierung, die wir fair und menschlich gestalten wollen.
Ja, es gibt eine staatliche Verantwortung, bei Handelsverträgen beispielsweise, oder auch bei Investitionsschutzabkommen, um ein aktuelles europäisches Beispiel zu nennen. Zugleich gibt es aber auch Unternehmensverantwortung für Menschenrechte und faire Arbeit, und genau deshalb ist das Lieferkettengesetz heute ein Meilenstein.
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Wer global wirtschaftet, wer global Gewinne macht, muss auch global Verantwortung übernehmen. Diesen Grundsatz schreiben wir mit unserem Lieferkettengesetz zukünftig rechtsverbindlich fest.
Weltweit werden fast 25 Millionen Menschen in Zwangsarbeit ausgebeutet. 152 Millionen Kinder sind Opfer von Kinderarbeit. Und die Schädigung der Umwelt ist in internationalen Lieferketten allzu oft leider immer noch Teil des Geschäftsmodells. Das sind bedrückende, das sind erschütternde Fakten, die wir nicht einfach achselzuckend akzeptieren können. Und Gerd Müller, mein Freund, hat es erwähnt.
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– Es ist ja nicht so, dass das eine Schande ist, dass so etwas in der Politik auch parteiübergreifend, sogar in dieser Koalition, möglich ist.
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Was uns vor allen Dingen geprägt hat, ist, dass wir 2019 gemeinsam nach Äthiopien gereist sind und uns vor Ort ein Bild gemacht haben: ein bitterarmes Land, mit dem wir intensive Handelsbeziehungen haben. Wir haben gute Beispiele gesehen, und wir haben erschütternde Beispiele gesehen. Wir haben erlebt, was passiert, wenn deutsche Unternehmen sich in den Lieferbeziehungen kümmern, zum Beispiel in einer Textilfabrik: mit vorbildlichen Arbeitsbedingungen, mit Arbeitsschutz, mit einigermaßen anständigen Löhnen, mit Mitarbeitervertretung. Und wir haben ein furchtbares Beispiel in einer Gerberei gesehen, wo Frauen bis zu den Knien in Chemikalien standen, wo es keinen Arbeitsschutz gab, wo es Hungerlöhne gab. Das war – und ich sage es bewusst – das, was wir vor 150 Jahren in unserem Land eine frühkapitalistische Hölle genannt haben. Wer das gesehen hat, der weiß: Es gibt unternehmerische Verantwortung, und die Unternehmen, die das aus Deutschland heraus auch machen, ändern die Arbeitsbedingungen auch in ihren Lieferbeziehungen. Das hat Äthiopien gezeigt.
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Mit dem Gesetz machen wir den Schutz von Menschenrechten und den Schutz von Umwelt zum verbindlichen unternehmerischen Standard. Im Gegensatz zu dem, was vorhin erzählt wurde: Das umfasst die gesamte Lieferkette, was umweltrechtliche, umweltbezogene und menschenrechtliche Risiken betrifft. Diese sind zu überprüfen, und treten dabei Hinweise auf Kinderarbeit, Sklavenarbeit, Zwangsarbeit oder die Vergiftung lokaler Trinkwasserressourcen zutage, dann muss ein Unternehmen zukünftig im Rahmen seiner Möglichkeiten reagieren.
Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger. Die unternehmerische Sorgfaltspflicht endet eben zukünftig nicht mehr am eigenen Werktor, sondern erstreckt sich auf die gesamte internationale Lieferkette und im eigenen Geschäftsbereich auf die direkten Zulieferer, aber auch auf die mittelbaren Zulieferer.
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Meine Damen und Herren, wer Regeln erlässt, muss auch dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Hier ist über die Wirksamkeit des Gesetzes gesprochen worden. Es ist eben kein Papiertiger, sondern ein Gesetz mit Biss; denn es enthält klare Pflichten und klare Regeln, und es sieht Kontrollen und substanzielle Sanktionen für den Fall vor, dass das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Verstöße feststellt.
Und wenn es so weit kommt, dann drohen empfindliche Zwangs- und Bußgelder und ab einer bestimmten Schwelle zukünftig auch der Ausschluss von Unternehmen von der öffentlichen Auftragsvergabe. Wir haben das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mit einem robusten Mandat zur Durchsetzung versehen, übrigens mit Beweissicherungsmöglichkeiten und mit Zutrittserlaubnissen, um den Dingen auch nachgehen zu können.
Deshalb sage ich: Bei allem, was man sich so wünschen mag – und dieses Gesetz kann man sicherlich zukünftig weiterentwickeln, vor allen Dingen, wenn es zu einer europäischen Regelung kommt –:
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Das ist ein wesentlicher Schritt. Wir haben zwar keinen zivilrechtlichen Haftungsweg im deutschen Gesetz, aber ein robustes Mandat mit einer behördlichen Durchsetzung.
Das sollten Sie nicht kleinreden, zumal wir ein Zweites durchgesetzt haben, was mir persönlich sehr, sehr wichtig war. Es geht auch darum, die Rechte der Menschen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, unmittelbar zu stärken. Es gibt – theoretisch – schon jetzt eine zivilrechtliche Möglichkeit für diese Menschen, vor deutschen Gerichten zu klagen. In der Realität des Lebens haben aber die meisten, die von solchen Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten in anderen Ländern betroffen sind, weder die Kraft noch das Geld, ihre Rechte vor deutschen Gerichten geltend zu machen. Und deshalb ist es ein Riesenfortschritt, dass zukünftig deutsche Gewerkschaften, deutsche NGOs und Hilfsorganisationen im Namen und im Einverständnis der menschenrechtlich Betroffenen diese Rechte durchsetzen können.
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Das, meine Damen und Herren, ist konkrete Politik.
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Wir sorgen auch für fairen Wettbewerb; denn es gibt viele Unternehmen, die sich kümmern. Anstand darf in der Globalisierung kein Wettbewerbsnachteil sein; auch das ist wichtig.
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Zum Schluss, Herr Präsident, meine Damen und Herren: Unsere soziale Marktwirtschaft fußt auf dem Prinzip von – –
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– Haben Sie eine Frage?
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Herr Präsident, Entschuldigung, das ist Ihre Aufgabe.
Herr Bundesminister, ich weiß nicht, wie das in der Bundesregierung ist, aber im Deutschen Bundestag ist im Zweifel der Präsident derjenige, der Fragen zulässt. Sie müssen sie natürlich auch zulassen. Aber da Ihre Redezeit bereits deutlich abgelaufen ist, macht es keinen Sinn, sie unbedingt dadurch zu verlängern, dass jetzt eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion gestellt wird.
Schade.
Kommen Sie bitte zum Ende.
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– Herr Trittin, dass Sie mit Regeln wenig zu tun haben, leuchtet mir ein, aber ich bin gehalten, die Einhaltung der Geschäftsordnung zu überwachen.
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Herr Minister, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich respektiere natürlich Ihre Rechte und auch das Recht auf Kurzinterventionen.
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Zum Schluss. Die soziale Marktwirtschaft in Deutschland fußt auf dem Prinzip von wirtschaftlichem Handeln und gesellschaftlicher Verantwortung. In diesem Sinne bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung zum Durchbruch zu verhelfen. Wir haben nur noch vier Sitzungswochen Zeit, aber dieses Gesetz gibt auch einer europäischen Lösung Rückenwind, und damit leisten wir einen Beitrag zur gerechteren Globalisierung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Ich kann jetzt bekennen, dass auch wir freundschaftliche Verbindungen haben. Ich weise Sie aber darauf hin, dass auch Kurzinterventionen vom Präsidenten zugelassen werden müssen.
Bevor gleich der letzte Redner zu Wort kommt, möchte ich bei Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion, wo Nachfragebedarf bestanden hat, darauf hinweisen, dass Herr Minister Heil bei dieser Debatte nicht als Mitglied der Bundesregierung das Wort ergriffen hat, sondern er im Rahmen des Kontingents der SPD-Fraktion gesprochen hat, sodass keine weiteren Redezeiten nach § 44 der Geschäftsordnung zur Verfügung stehen.
Und nun – nach der Devise „Drei Freunde sollt ihr sein“ – hat das Wort der Minister a. D. Hermann Gröhe als letzter Redner der Debatte.
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Herr Präsident, das ist ja eine freundschaftliche Begrüßung. Ich füge jetzt nicht an, dass auch ich mich an die Reise nach Äthiopien erinnern kann, aber ich betone gerne, dass uns eint: Wir finden uns nicht damit ab, dass millionenfach Menschenrechte in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit Füßen getreten werden. Damit finden wir uns nicht ab!
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Kinder gehören in die Schule, nicht ins Bergwerk, nicht auf die Plantage und nicht auf den Schrottplatz. Das eint doch die allermeisten und in Wahrheit auch die allermeisten in der Wirtschaft. Deswegen ist es albern, uns zu unterstellen, wir hätten einen Generalverdacht gegen die Wirtschaft.
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Ich kenne viele eindrucksvolle Beispiele unternehmerischer Verantwortung gerade in Entwicklungsländern. Aber wir hören gerade auch von diesen Unternehmerinnen und Unternehmern, dass wir mehr Konsequenz, mehr systematisches Hinschauen brauchen. Sie rufen nach einem klaren, verbindlichen Rahmen für alle. Wegschauen darf kein Wettbewerbsvorteil sein, meine Damen, meine Herren.
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Deutschland ist drittgrößter Importeur in der Welt. Diese Marktmacht gibt uns die Möglichkeit, Standards zu setzen, und aus dieser Möglichkeit wird angesichts schrecklicher Menschenrechtsverletzungen eine gemeinsame Verpflichtung von Staat und Wirtschaft und übrigens auch von uns allen als Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich für die Herkunft ihrer Produkte interessieren sollten, meine Damen, meine Herren.
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Für mich war immer klar: Ein Lieferkettengesetz muss erstens für die Menschenrechte wirksam sein. Es muss zweitens für die Wirtschaft umsetzbar sein. Es muss wirksam sein, es muss einen echten Fortschritt für die Menschenrechte bringen. Und ja, das bedeutet Aufwand. Aber das so in der Attitüde als Schnickschnack, als bürokratisches Monster zu diffamieren, wird der Ernsthaftigkeit millionenfacher Menschenrechtsverletzungen nicht gerecht, meine Damen und Herren.
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Im Übrigen, wenn es um unseren Schutz geht – Qualitätssicherung entlang der ganzen Lieferkette –, dann erscheint uns der Aufwand selbstverständlich angemessen. Da geht es ja auch um unseren Schutz. Deswegen ist es falsch, das hier in Bausch und Bogen abzulehnen.
Natürlich, Kollege Cronenberg: Nicht die Dokumentation schützt das Kind; aber das, was dokumentiert wird, nämlich die Verpflichtung, auf den Zulieferer zuzugehen und sich für die Arbeitsverhältnisse dort zu interessieren – dies ist ein wichtiger Schritt, diesen Kindern zu helfen, den Sie nicht schlechtreden sollen.
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Ich will Umsetzbarkeit, ja; denn wir wollen mehr Investitionen zum Beispiel in Afrika, mehr fairen Handel mit Afrika. Deswegen ist es wichtig, auch zu wissen, dass Jobs und Ausbildung durch Handel, durch Wirtschaftsbeziehungen entstehen, nur zu einem geringeren Teil durch Entwicklungszusammenarbeit. Wahr ist aber auch: Staatliche Entwicklungshilfe kann nicht die Wunden heilen, die ausbeuterische Wirtschaftsbeziehungen erst schlagen. Insofern gibt es eben eine gemeinsame Verantwortung.
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Wir haben viel Zustimmung, wir haben auch Kritik von NGOs, von Gewerkschaften, von Wirtschaftsverbänden gehört. Wir nehmen das ernst und prüfen das im Verfahren. Aber ich sage sehr deutlich: Schlechte Karikaturen und verzerrende Darstellungen, die es gegen das Gesetz insgesamt gibt, weisen wir entschieden zurück, meine Damen und Herren;
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denn selbstverständlich gilt auch in diesem Gesetz der rechtsstaatliche Grundsatz: Unmögliches darf nicht verlangt werden. Deswegen steht eindeutig in der Gesetzesbegründung, dass die Sorgfaltspflichten eine Bemühenspflicht konstituieren. Es wird ausdrücklich das konkret Machbare und Angemessene als Maßstab benannt. Das ist richtig.
Man mag vielleicht, wenn es etwa um Abhilfemaßnahmen da geht, wo die Menschenrechtsverletzung nicht durch das Verhalten des Zulieferers beeinflusst werden kann, sondern in der Rechtsordnung eines Staates liegt, noch weiter präzisieren, wann ein Abbruch von Geschäftsbeziehungen verlangt werden kann und wann sinnvollerweise nicht. Aber der Grundsatz, dass verlangt wird, was angemessen und konkret machbar ist, steht eindeutig im Gesetz.
Meine Damen, meine Herren, ja, wir haben uns entschieden – und ich glaube, das ist gut vertretbar –, eine zusätzliche zivilrechtliche Haftung nicht vorzusehen, sondern ein effektives Bußgeld- und Sanktionssystem. Ich glaube sogar, dass das in mancherlei Hinsicht wirksamer sein kann. Deswegen sollten wir diesen Weg hier gehen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Frohnmaier aus der AfD-Fraktion?
Nein, die erlaube ich nicht, weil ich da bisher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema erlebt habe.
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Lassen Sie mich noch zum Thema Unternehmensgröße etwas sagen. Ja, auch das war ein Kompromiss. Wir wollen den Mittelstand gerade in dieser Zeit nicht zusätzlich belasten. Aber ich will hier sehr offen sagen: Ich bin durchaus bereit, über die Frage, ob wir nicht unselbstständige Töchter, also hiesige Niederlassungen und Betriebsstätten ausländischer Konzerne, einbeziehen sollten, im Gesetzgebungsverfahren reden.
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Es sollte nicht von der Rechtsform abhängen, dass jemand, der in Deutschland über diesen Schwellenwerten liegt, sich auch diesen Rahmenbedingungen stellen muss. Das lässt weniger Gestaltungsräume, das eröffnet mehr fairen Wettbewerb.
Sie sehen: Die Regierung hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt – dafür danke ich den beiden Freunden und Ministern –, und wir werden ihn gemeinsam im Parlament zu einem erfolgreichen Gesetz machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Gröhe. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/28649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Hubertus Heil! Mit der heutigen Verabschiedung des Teilhabestärkungsgesetzes machen wir uns erneut auf den Weg, die Belange von Menschen mit Behinderungen umzusetzen, ihre Teilhabe und ihre Zugänge in Gesellschaft zu verbessern. Ich glaube, mit diesem Gesetz kommen wir einen ganzen Schritt weiter. Ich möchte mich beim BMAS für die intensive Zusammenarbeit dabei ganz herzlich bedanken.
({0})
Ich möchte in meiner Redezeit besonders auf die Zugänge in den Arbeitsmarkt eingehen. Wir haben mit diesem Gesetz das Budget für Ausbildung ausgebaut und verstärkt, damit noch mehr Menschen mit Behinderungen, die in den Werkstätten arbeiten, die Möglichkeit haben, eine duale Ausbildung zu absolvieren – neben dem Budget für Arbeit gibt es das Budget für Ausbildung; das ist noch mal erweitert worden – und einen guten Zugang in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden.
Wir werden die Rolle der Jobcenter noch einmal in den Blick nehmen und werden insbesondere die Schwierigkeiten thematisieren, die es immer noch gibt, wenn es darum geht, auch die Rehabedarfe in den Blick zu nehmen, das Personal zu schulen, passgenaue Hilfen zu machen, aber vor allen Dingen in der Kommunikation mit anderen vernünftige Teilhabevoraussetzungen und Beteiligung im Teilhabeplanverfahren zu ermöglichen. Das ist richtig und wichtig.
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Ferner schauen wir uns den allgemeinen Arbeitsmarkt an. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Deutschland eine Beschäftigungspflicht gegenüber Menschen mit Schwerbehinderung: Ab 20 Beschäftigte sind es 5 Prozent. Diese Beschäftigungspflicht ist gut und richtig. Daher können und wollen wir nicht hinnehmen, dass mehr als 40 000 Betriebe ihrer Beschäftigungspflicht nicht nachkommen und keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung einstellen.
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Das können und wollen wir nicht hinnehmen.
Viele Maßnahmen und viele Versuche, hierzu Lücken in der Information zu schließen, sind in den letzten Jahren initiiert worden. Einiges hat es gebracht, aber glücklich sind wir noch nicht. Deshalb hätten wir uns sehr gewünscht, dass wir die Ausgleichsabgabe mit einer weiteren, deutlich gestärkten vierten Stufe versehen könnten, damit wir hier ein deutliches Zeichen setzen, dass die Beschäftigungspflicht nicht eine nette Geste ist, sondern der Umsetzung bedarf. Und wir finden es schade, dass wir dieses Thema in der Koalition nicht verhandeln konnten. Ich würde mir sehr, sehr wünschen, dass das Thema Ausgleichsabgabe – deren Erhöhung und die Einführung einer weiteren Stufe – noch diskutiert wird und spätestens in einer nächsten Koalition stark gemacht werden kann.
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Was wir aber geschafft haben – auch das ist gut und richtig –: Wir werden flächendeckend in Deutschland eine einheitliche Ansprechstelle für alle Unternehmen und Arbeitgeber schaffen, die nicht nur berät und den Unternehmen sagt: „Hier und da gibt es Möglichkeiten, Anträge zu stellen“, sondern die auch ganz gezielt unterstützend Anträge mit stellt, passgenaue Hilfen eruiert und sich für jeden einzelnen Arbeitsplatz im Unternehmen mit starkmacht. Das ist eine Forderung, die uns nicht nur in der Koalition eint, sondern bei der wir uns auch mit den Arbeitgeberverbänden, mit den Gewerkschaften und mit den Verbänden der Behindertenhilfe einig wissen. Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir das heute umsetzen können.
Für die guten Beratungen möchte ich mich bedanken. Ich freue mich, dass wir heute dieses Gesetz auf den Weg bringen können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Tack. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Politik für Menschen mit Behinderung ist ein Thema, zu dem wir alle hier im Deutschen Bundestag bestrebt sind, gute Lösungen für die Betroffenen zu erzielen. Leider war es bislang so, dass die Regierungskoalition zwar gute Absichten hatte, aber eher nach dem Motto „Gut Ding will Weile haben“ agierte.
Mit dem Teilhabestärkungsgesetz verhält es sich allerdings anders. Hier haben Sie endlich einmal den Fuß von der Bremse genommen, was wahrscheinlich am baldigen Ende der Amtszeit von Arbeitsminister Hubertus Heil liegt. Obwohl erst am Montag die öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf stattgefunden hatte, in der die Sachverständigen eine Fülle von Kritikpunkten äußerten, ist es Ihnen bzw. den Mitarbeitern gelungen, einen weitestgehend guten Änderungsantrag beizustellen.
Besonders gefreut hat uns, dass Sie sich der Thematik des Antrags der AfD angenommen haben. Die Große Koalition hat die Bundesregierung aufgefordert, einen Lösungsvorschlag für die Regelung der Assistenz von Menschen mit Behinderung in Krankenhäusern vorzulegen. Das würde ich jetzt einmal als eine erfolgreiche Oppositionsarbeit unsererseits bezeichnen.
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Bei dieser Gelegenheit fand ich auch interessant, dass sich die Kollegen von den Grünen offenbar durch meinen Sachvortrag im Ausschuss dazu animiert fühlten,
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zu diesem Thema in letzter Minute noch einen Antrag einzureichen. Danke, liebe Kollegen!
Leider hat unser Antrag zur Beseitigung von Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund von Sehschwächen durch Erweiterung der Versorgung gesetzlich Versicherter mit Sehhilfen keine Berücksichtigung durch Sie gefunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ich bereits anfänglich sagte, ist Behindertenpolitik ein sensibler Bereich, der Fingerspitzengefühl benötigt. Was hier absolut fehl am Platze ist, ist parteipolitisches Taktieren. Hier geht es um sachbezogene Lösungsentwicklungen für unsere Bürger mit Behinderung, nicht um ideologische Ausgrenzung. Das scheint diesmal auch tatsächlich teilweise gut geklappt zu haben.
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Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie einen Grundsatzantrag der AfD, nämlich Opfer von Terroranschlägen mit Kraftfahrzeugen wie hier in Berlin auf dem Breitscheidplatz endlich mit in den Katalog der Geschädigten aufzunehmen, umsetzen.
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Verwunderlich finde ich hier nur, dass er nicht im Opferentschädigungsgesetz angegliedert ist, sondern im Teilhabestärkungsgesetz.
Auch das Thema Assistenzhunde wurde weitestgehend zufriedenstellend berücksichtigt. Obwohl es noch einige Klippen im Gesetz und deutliche Verbesserungsmöglichkeiten gibt, sehen wir viele positive Ansätze sowie die Aufnahme unserer Gedanken und Anregungen.
Aus diesem Grund werden wir Alternativen dem Gesetz in der aktuellen Form zustimmen. Ebenso werden wir dem Antrag der FDP zu dem Thema Assistenzhundegesetz zustimmen.
Vielen Dank, liebe Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Witt. – Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich hier zur ersten Beratung des Teilhabestärkungsgesetzes am Rednerpult stand, habe ich das Ziel formuliert, einen guten Gesetzentwurf noch besser zu machen. Ich denke, heute unter dem Strich sagen zu können, dass dies auch gelungen ist. Daher danke ich ganz herzlich zum einen unserem Koalitionspartner, zum anderen aber auch dem BMAS für die konstruktive Zusammenarbeit.
Lassen Sie mich aus der Fülle der Themen, die wir in dem Gesetzgebungsverfahren zu beraten hatten und beraten haben, drei wesentliche Punkte herausheben, die uns als Unionsfraktion wichtig waren:
Erstens. Wir präzisieren die mit dem Regierungsentwurf neu geschaffenen Regelungen für Menschen mit Behinderungen, die sich in Begleitung durch einen Assistenzhund oder Blindenführhund befinden. Wir stellen eine einheitliche Verwendung der Bezeichnung „Assistenzhund“ auch für Blindenführhunde sicher. Weiterhin stellen wir klar, dass nur solche Tiere von der neuen Zertifizierungspflicht ausgenommen werden, die innerhalb der im Gesetz genannten Frist voll ausgebildet worden sind. Damit haben wir zwei wichtige Anliegen der Assistenzhundeverbände aufgenommen.
Zweitens. Eine besondere Freude ist es mir, dass sich ein weiteres Anliegen, das wir als Unionsfraktion schon längere Zeit formuliert haben, nun im Gesetz wiederfindet: Es handelt sich um die Ansprechstellen für Arbeitgeber. Sie sind für Betriebe, die Menschen mit einer Behinderung beschäftigen wollen, ganz, ganz wichtig und haben das Ziel, diese Unternehmen zu begleiten, zu beraten und über die komplexen Fördermöglichkeiten und die rechtlichen Rahmenbedingungen zu informieren, die bestehen, wenn ein Mensch mit Behinderung beschäftigt werden möchte. Sie sollen aber auch auf Unternehmen zugehen, und zwar insbesondere auf die Unternehmen, die noch keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen – Frau Kollegin Tack sagte es eben schon: es sind viel zu viele –, um Unternehmen gewinnen zu können, Menschen mit einer Behinderung zu beschäftigen. Diesen Weg halten wir für den integrativeren Weg, als mit dem Instrument der Erhöhung der Ausgleichsabgabe zu arbeiten. Es geht hier darum, Anreize zu schaffen, statt Sanktionen auszusprechen. Denn gerade kleinere Betriebe sind oftmals überfordert, diese komplexen Vorgänge zu kennen, zu erkennen und zu erledigen. Dies hat die Anhörung auch gezeigt.
Herr Kollege Oellers, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne.
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Ich hoffe darauf, Herr Pellmann. – Ich will wirklich auf diesen Punkt noch mal eingehen, weil ich finde, dass Frau Tack das richtig ausgeführt hat. Das sind ja nicht ein paar Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflicht nicht nachkommen, sondern es sind 25 Prozent. 25 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Unternehmen stellen niemanden mit Schwerbehinderung ein. Wir haben komplexe Anträge vorgelegt, die wirklich zu einer Lösung führen würden. Auch wir sind der Meinung, dass Arbeitgeber/‑innen eine Beratung innerhalb dieses Systems brauchen, das man nicht so ganz einfach durchschauen kann.
Aber ich glaube jetzt – auch Herr Heil kommt ja zu dem Ergebnis –, dass nach all den vielen Jahren, in denen wir darauf gewartet haben, dass die Unternehmen der Beschäftigungspflicht nachkommen, wir doch nicht weiter sagen können: „Wir lassen diese vielen Menschen auf dem Trockenen sitzen“, bis Sie irgendwann mal so weit sind, einzusehen, dass immer nur Bereitschaft einzufordern – und wir müssen beraten –, nicht ausreicht. Vielmehr haben die Leute ein Recht darauf, inklusiv beschäftigt zu werden, und wir müssen jetzt endlich hier tätig werden.
Herr Oellers, sagen Sie doch mal: Was hindert Sie denn eigentlich daran, hierfür eine Lösung zu finden, die Ausgleichsabgabe tatsächlich zu einem effizienten Instrument zu machen? Das ist ja geltendes Recht. Die Betriebe müssten das tun, sie tun es aber nicht. Sie verhalten sich nicht rechtskonform. Das können wir doch als Staat nicht weiterhin einfach so durchgehen lassen.
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Zum einen: Wenn Sie eine grundsätzliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe ansprechen, dann will ich Ihnen sagen, dass eine solche sowieso automatisch aus gesetzgeberischen Gründen jetzt wieder erfolgt. Das heißt, sie wird sowieso stetig erhöht. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Wenn Sie sagen, wir hätten doch immer schon beraten und getan und gemacht, dann möchte ich Ihnen an dieser Stelle widersprechen, weil es Beratungsangebote und Unterstützungsangebote in dieser Form, wie wir sie jetzt mit den Ansprechstellen einführen, eben gerade noch nicht gibt.
Zu den Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderung beschäftigen – es sind 25 Prozent; das sind zu viele, da gebe ich Ihnen vollkommen recht –, möchte ich Ihnen sagen: Das sind in den allermeisten Fällen Betriebe, die zwischen 20 und 60 Mitarbeiter beschäftigen. Das sind kleine Unternehmen, die keine eigene Personalabteilung, kein personelles Know-how haben, um diese komplexen Dinge zu begleiten. Deswegen halte ich und halten wir als Unionsfraktion es für wichtig, dass wir die Unternehmen an dieser Stelle begleiten und nicht sagen: Wir führen eine weitere Stufe ein. – Ich möchte auf das Projekt Unternehmens-Netzwerk Inklusion verweisen. Dieses Projekt hat gezeigt, dass es wichtig und richtig ist, auf Unternehmen zuzugehen, und dass man damit auch Erfolg hat. Diesen Weg, denke ich, sollten wir weiter beschreiten. Er ist mühsam – zugegeben –; aber um Akzeptanz zu erreichen, und zwar auch auf der Seite der Unternehmer, halte ich das für den besseren Weg, als mit der Sanktionskeule zu schwingen.
Ich möchte einen dritten Punkt ansprechen, und zwar die Betreuung von Rehabilitanden in Jobcentern. Hier wollen wir die bereits bestehenden Leistungen insoweit weiterentwickeln, als wir es den Rehabilitationsträgern erschweren, aus einer Teilhabeplankonferenz auszusteigen, und wir stärken die Entwicklung von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jobcentern.
Es gibt aber auch einige Punkte – das muss man ganz klar ansprechen –, die wir gerne umgesetzt gesehen hätten, die aber leider keinen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Ich nenne als Stichwort „Assistenz im Krankenhaus“, ein ganz wichtiges Thema. Es ist dringend eine Regelung zu finden, wie die Begleitung für Menschen mit Behinderung in Krankenhäusern finanziert wird. Wir sind uns alle einig, dass das geregelt werden muss. Die streitige Frage ist allerdings, wie das finanziert werden soll. Wir sprechen uns dafür aus, dass diese Kosten über die Träger der Eingliederungshilfe abgerechnet werden müssen, die als Kostenträger für Menschen mit Behinderungen hauptsächlich für Rehaleistungen zuständig sind. Dafür plädierte auch der Sachverständige Grosch in der Anhörung. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und damit auch von allen zu zahlen und nicht nur von den Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenversicherung.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil, SPD-Fraktion?
Gerne.
Herr Kollege Oellers, da uns das Thema der Krankenhausassistenz gemeinsam am Herzen liegt und im Ausschuss auch verschiedentlich darüber gesprochen wurde und wir hier wirklich ein handfestes Problem haben, würde ich Sie bitten, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen, und Sie fragen, ob Sie diesen Weg mitgehen können: Wir können das Spiel, die Zuständigkeit zwischen Eingliederungshilfe und gesetzlicher Krankenversicherung hin- und herzuschmeißen wie eine heiße Kartoffel, ewig weiterspielen. Das geht allerdings zulasten der betroffenen Menschen.
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Da geht es übrigens nicht nur um Menschen mit Behinderung; es geht auch um Seniorinnen und Senioren, wenn wir die Frage aufwerfen, ob das ordnungspolitisch zur Eingliederungshilfe gehört. Sind Sie bereit, festzustellen, dass wir einen Kompromissvorschlag gemacht haben und die CSU-Landtagsfraktion in Bayern eindeutig gesagt hat, dass das Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist? Wenn wir hier markig zugunsten der Eingliederungshilfe antreten – unabhängig davon, dass das ordnungspolitisch nicht stimmt – und dann im Bundesrat keine Mehrheit bekommen, einfach weil die Länder das zu zahlen hätten, wäre es doch besser, dieses Problem zügig zwischen Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik und Behindertenpolitik zu lösen, indem wir einen Kompromiss finden zwischen Eingliederungshilfe und gesetzlicher Krankenversicherung.
Könnten Sie mithelfen, dass wir hier aus den Schützengräben rauskommen und diesen Kompromiss durchsetzen? Das würde Menschen nämlich wirklich helfen und nicht die uneindeutige Position an dieser Stelle.
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Herr Minister, vielen Dank für diese Zwischenfrage. Ich habe meine Position dazu gerade schon geäußert. Das Problem der Kostenübernahme stellt sich im Bereich der behindertenpolitischen Themen ja leider Gottes nicht nur an dieser Stelle. Aber wir müssen uns schon die Frage stellen: Wer zahlt es zuständigkeitshalber? Ich vertrete die Auffassung, dass es die Träger der Eingliederungshilfe sein müssen, weil es dann die Gemeinschaft der Steuerzahler zahlt und nicht allein die Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung. Von Länderseite ist es natürlich leicht, zu sagen – das kann ich von deren Seite auch verstehen; als Träger der Eingliederungshilfe wäre das über die Länder zu finanzieren –: „Das mögen bitte die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren“; denn dann liegt der Spielball beim Bund. Ich würde allerdings darum bitten, dass sich die Ländervertreter bzw. die Träger der Eingliederungshilfe auch ihrer Verantwortung bewusst werden. Sie können gerne dazu beitragen, dass vielleicht auch von deren Seite mehr Verständnis dafür aufgebracht wird, diese Kosten zu tragen. Ich finde, das muss man dann schon in dieser Deutlichkeit auch mal sagen.
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Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Bei der Assistenz im Ehrenamt hätten wir auch gerne eine Lösung gefunden. Hier gibt es den Vorschlag, dass zunächst die Unterstützung im Familienkreis und Freundeskreis angefordert werden sollte. Das konnten wir politisch leider nicht durchsetzen; das wäre unser Wunsch gewesen.
Es bleibt weiterhin einiges zu tun; die Debatte heute hat das gezeigt. Insgesamt freue ich mich aber, dass wir einen weiteren Schritt Richtung Teilhabe gehen.
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Ich denke, dass dies ein würdiges nachträgliches Geschenk zum zwölften Geburtstag der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ist.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Oellers. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Jens Beeck, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war für uns alle kein einfaches Jahr, das hinter uns liegt; aber für Menschen mit Behinderung war es in vielen Fällen ein besonders schwieriges Jahr. Menschen in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe waren nicht selten isoliert von ihren Lieben; Eltern konnten ihre Kinder in der Anfangszeit nicht besuchen. Das waren sehr schwierige Situationen, auch in den Alten- und Pflegeeinrichtungen.
Dann kam noch dazu, dass die Betroffenen einmal mehr nicht inklusiv und selbstverständlich mitgedacht worden sind: Beim SodEG I, als es um die Leistungserbringer ging, war Versagen. Erst im SodEG II wurde nachgebessert: Beschaffung von Schutzausrüstungen, zuerst für andere, später für Menschen mit Behinderungen. Es gab keine Prämie für die Beschäftigten in der Eingliederungshilfe. Das haben Sie abgelehnt, Frau Kollegin Tack; wir haben das beantragt. Sie sind also anders behandelt worden als andere. Umso größer war dann die Erwartungshaltung beim Teilhabestärkungsgesetz.
Herr Minister, ich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie mit der gleichen Verve wie bei der Debatte zum Lieferkettengesetz in diese Diskussion gegangen wären und nicht den Platz auf der Regierungsbank verlassen hätten, um sich in die Abgeordnetenreihen zu setzen.
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Mit dem, was Sie hier vorlegen – 185 Seiten Gesetzentwurf und Änderungsanträge –, bleiben Sie trotzdem im Klein-Klein. Nehmen wir den Teilhabebericht noch hinzu, sind wir bei knapp 1 000 Seiten. Wenn man die Ankündigungen berücksichtigt, wird im Grunde relativ wenig erreicht.
Es ist richtig, dass Sie den Gewaltschutz in Einrichtungen der Eingliederungshilfe adressieren; aber Sie tun es nicht mit Herzblut. Es fehlen die Ansprechstellen, die Ombudsleute, es fehlt die Abstimmung mit den Ländern darüber, wer das eigentlich am Ende kontrolliert.
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Sie nehmen leichte Verbesserungen beim Budget für Ausbildung vor; aber ich sage Ihnen: Auch das wird nicht sicherstellen, dass es besser läuft als beim Budget für Arbeit, und das läuft bekanntlich auch schon nicht. Sie adressieren digitale Gesundheitsanwendung, ohne den klaren Maßstab, dass diese maximal barrierefrei ausgerichtet werden müssen. Und bei der Frage des Zugangs zur Eingliederungshilfe – das betrifft 1 Million Menschen in Deutschland, potenziell die 8,2 Millionen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung – wollen Sie eine Verordnungsermächtigung für Ihr Haus und damit am Bundestag vorbei entscheiden. Auch das geht überhaupt nicht.
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Positiv ist, dass Sie die vielen Anträge zu Assistenzhunden im Gesetzentwurf aufgreifen, aber leider in verkürzter Form. Ihr Gesetzentwurf basiert immer noch auf der Fehlvorstellung, dass Menschen, die es im Leben nicht leicht haben, ein niedliches Tier an ihre Seite kriegen. Darum geht es nicht. In Berlin lebt Bobby, ein Assistenztier, das es einer sehr vornehmen Dame ermöglicht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das wir ihr alle wünschen. Es geht darum, dass diese Tiere anders als technische Hilfsmittel und besser als menschliche Assistenten in der Lage sind, Sturzereignisse bei anfallgefährdeten, epilepsiegefährdeten Menschen zu verhindern. Das erspart nicht nur diese fürchterlichen Unfallereignisse, die man damit verhindern kann, sondern das spart auch ganz viel Geld im deutschen Sozialsystem.
Sie springen hier viel zu kurz. Nehmen Sie bitte zumindest den Hinweis der Opposition auf: Evaluieren Sie bei der ohnehin vorgesehenen Kostenevaluation auch diese Einspareffekte, damit wir in der nächsten Wahlperiode hier einen Schritt weiterkommen – nicht für die Assistenzhunde, sondern für die Menschen, für die Gerechtigkeit in unserem Land und für den Sozialstaat.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Nächster Redner ist der Kollege Sören Pellmann, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das Teilhabestärkungsgesetz. Nach Auffassung der Linken handelt es sich eher um ein Gesetzchen. Die Anhörung am Montag im Fachausschuss hat ergeben: Von fast allen Sachverständigen wurde deutlicher Änderungsbedarf artikuliert. Selbst die Sachverständigen der Unionsfraktion haben das bestätigt. Ihre Änderungsanträge, die wir heute vorliegen haben, reichen bei Weitem nicht aus.
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Immerhin werden nun Blindenführhunde wie Assistenzhunde behandelt, und der Gewaltschutz wird leicht verbessert. Das war es dann aber auch schon an Positivem. Wir kritisieren weiterhin: Erstens. Die Praxis des Zwangspoolings, also die gemeinsame Erbringung von Assistenzleistungen gegen den ausdrücklichen Willen, wurde nicht gestoppt. Zweitens. Es gibt keine bedarfsdeckende Finanzierung von Assistenzhunden. Drittens. Viele Probleme von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt sind ungelöst.
Wie kann Teilhabe gestärkt werden? Teilhabe stärkt man, indem man gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen ermöglicht und sicherstellt. Menschen mit Behinderungen müssen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ankommen. Noch immer sind diese häufiger und deutlich länger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen ohne Behinderungen, oder sie sind in Sonderarbeitswelten untergebracht.
Auf der von uns, also der Fraktion Die Linke, durchgeführten Konferenz „Gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen“ diskutierten wir über genau diese Frage mit den Betroffenen, und wir haben Lösungsvorschläge erarbeitet. Konsens auf dieser Konferenz war: Die Förderungen von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen müssen langfristig und bedarfsdeckend ausgestaltet werden.
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Inklusionsunternehmen müssen stärker gefördert werden. Herr Heil, Sie haben es ja schon angesprochen: Das Hin und Her zwischen SPD und Koalitionspartner CDU/CSU nervt die Betroffenen nur noch. Wo bleibt endlich die Erhöhung der Ausgleichsabgabe?
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Die Werkstätten müssen zu tatsächlichen Inklusionsbetrieben weiterentwickelt werden. Ein Wechsel von einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und auch wieder zurück muss verlustfrei möglich sein.
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Teilhabe stärkt man, indem man Teilhabeleistungen verbessert und das Selbstbestimmungsrecht garantiert. Das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen bei der Wahl der Wohnform muss garantiert und der Kostenvorbehalt in § 104 SGB IX muss gestrichen werden.
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Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen müssen menschenrechtskonform ausgestaltet werden,
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und zwar bedarfsdeckend und einkommens- und vermögensunabhängig.
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Teilhabe stärkt man, indem man Assistenzhunde für Menschen mit Behinderungen gesetzlich garantiert.
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Und Barrierefreiheit – über dieses Thema haben wir oft diskutiert – muss in allen Lebensbereichen ermöglicht werden, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum.
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All diese Forderungen zur Schaffung einer echten Teilhabe sind in den Anträgen der Linken, die heute zur Abstimmung stehen, enthalten. Wenn Sie diesen Anträgen zustimmen, dann wird es noch was mit einem echten Teilhabestärkungsgesetz.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Pellmann. – Als Nächstes erhält das Wort die Kollegin Corinna Rüffer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Ich will an dieser Stelle noch mal betonen, was die letzten 13 Monate für Menschen mit Behinderungen bedeutet haben: Ja, sie waren isoliert, weil sie Angst haben mussten vor einem schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung. Ihnen sind die Löhne gekürzt worden. Menschen, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind – sie sind nicht dort, weil sie das so gerne möchten –, durften ihre Verwandten nicht empfangen, durften ihre Liebsten nicht besuchen. Sie waren im Grunde genommen über viele Wochen und Monate weggesperrt, so wie auch die Menschen in Alten- und Pflegeheimen. Kinder hatten keine Schulbegleitung, Therapien sind ausgefallen, Förderschulen waren länger geschlossen als andere Schulen. Das ist ein einziges Desaster. Die Liste ließe sich fortsetzen. Das Schlimme ist – das kommt noch dazu –, dass all die Entscheidungen über die Köpfe dieser Menschen hinweg gefällt worden sind. Das ist eine einzige Katastrophe. Man muss sagen, dass die letzten Monate für die Inklusion in diesem Land richtig schlecht gewesen sind.
Jetzt sind wir hier zur abschließenden Beratung dieses Entwurfs eines Gesetzes mit dem Titel „Teilhabestärkungsgesetz“. Ich will Ihnen sagen: Mit Stärkung hat das herzlich wenig zu tun.
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Es mangelt schon wieder an Beteiligung. Wir, Linke und Grüne, haben Sachverständige eingeladen. Sie haben diese Woche kompetent und nachvollziehbar erklärt, was man tun müsste. Aber wenn man in einer Woche die Anhörung macht, die Beratung im Ausschuss und die abschließende Beratung, dann erklären Sie mir doch mal, wie man dann das, was in der Anhörung gesagt worden ist, einbauen will, wie man das abwägen will. Wie kann man das Gesetz so zu einem guten Gesetz machen? Das funktioniert doch nicht, und das wissen auch Sie. Solche Anhörungen sind echt für die Füße.
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Es gibt einen Rattenschwanz an Änderungsanträgen, an Initiativen; das sehen Sie, wenn Sie sich damit beschäftigen. Das zeigt doch, wie groß der Handlungsbedarf in diesem Bereich ist. Das zeigt doch, wie viel Beratungsbedarf es gibt. Aber wir können über diese ganzen Initiativen hier gar nicht diskutieren. So bleiben selbst die Vorschläge, die Sie auf den Tisch legen, zum Beispiel zu den Assistenzhunden – das hat echt viel Raum eingenommen; es gibt Initiativen dazu –, am Ende unausgereift.
Genauso ist es beim Schutz vor Gewalt; Jens Beeck hat es ja gerade angesprochen. Wir wissen um die Problematik. Wir wissen, wie häufig Frauen von Gewalt in Einrichtungen betroffen sind. Trotzdem springen wir so kurz. Zu den notwendigen Nachbesserungen beim Bundesteilhabegesetz haben sich Constantin Grosch und Nancy Poser in der Anhörung den Mund fusselig geredet. Sie haben erklärt, wie man die Gängelung in diesem Land endlich überwinden kann, wie man wirklich was für Menschen mit Behinderungen tun kann, aber es passiert schlicht und ergreifend nichts.
Aber am allerschändlichsten finde ich – das will ich an dieser Stelle sagen –, dass wir hier heute debattieren und Sie als Koalition einen Entschließungsantrag vorgelegt haben und sagen: Wir wollen die Assistenz im Krankenhaus regeln. – Das kommt, nachdem wir über ein Jahrzehnt über diese Frage reden. Wir sind in einer Pandemie. Diese Leute sind existenziell darauf angewiesen, dass wir eine Lösung finden, und ihnen ist es total egal, –
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
– ob das Ding hier wie eine heiße Kartoffel hin- und herfliegt.
Ich will Ihnen am Ende meiner Rede etwas von einem Vater einer 29-jährigen Tochter ausrichten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Es ist unverantwortlich und menschenverachtend, was die Politik da zulässt und ignoriert. – Ich möchte das bestätigen. Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt. Stimmen Sie dem zu, wenn Sie dieses Problem heute wirklich lösen wollen; ansonsten sind Sie nicht glaubwürdig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rüffer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es besteht Handlungsbedarf, und wir handeln, und zwar heute ganz konkret mit dem Teilhabestärkungsgesetz, das zu umfassenden Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen in diesem Land führen wird.
Ich will gerne noch auf einige Punkte eingehen. Vieles wurde ja schon gesagt, dennoch will auch ich noch mal sagen: Es gibt immer wieder Situationen, wo Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag Widerstände erleben, beispielsweise wenn sie mit einem Assistenzhund einkaufen wollen. Der Hund muss draußen bleiben. Wir haben das geregelt. Wir regeln ein Zugangsrecht für Menschen mit Behinderungen und ihrem Assistenzhund im öffentlichen Raum, aber eben erstmals auch in privaten Bereichen. Das ist ein Fortschritt.
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Wir verbessern den Gewaltschutz von Menschen, insbesondere von Frauen und Mädchen in Einrichtungen. Natürlich sorgen wir auch dafür, dass in Zeiten der Pandemie in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen Wahlen für ihre Interessensvertretungen, für die Schwerbehindertenvertretungen und die Werkstatträte, stattfinden können, indem wir digitale Formate anbieten.
Wir verbessern Ausbildungsmöglichkeiten durch das erweiterte Budget für Ausbildung und sorgen dafür, dass den Menschen wichtige Alternativen zu den Werkstätten am Arbeitsmarkt angeboten werden.
Wer arbeiten will, ist oftmals auf das Auto angewiesen. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Deswegen bin ich sehr froh, dass es uns gelungen ist, für die Ausstattung oder die Anschaffung eines Autos die Kfz-Hilfe von 9 500 Euro auf 22 000 Euro anzuheben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Schritt!
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Es wurde schon mehrfach angesprochen, aber auch ich will das noch sagen: Wir haben Ansprechstellen für Betriebe geschaffen für mehr Beratung und Unterstützung bei Beschäftigung und Einstellung von Menschen mit Behinderungen; denn noch immer ist es so, dass Betriebe Scheu haben, Menschen mit Behinderungen einzustellen – zu viele Betriebe. Deswegen bin ich absolut bei unserem Arbeitsminister Hubertus Heil. Wir alle in der SPD-Fraktion haben befürwortet, dass wir hier über die Ausgleichsabgabe mehr Druck machen müssen. Wir haben so vieles getan, um Unternehmen zu unterstützen, aber es gibt nun einmal Unternehmen, die sich partout ihrer Beschäftigungspflicht verweigern. Dieser Realität muss man sich stellen.
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Leider konnten wir das mit unserem Koalitionspartner nicht verwirklichen. Das will ich an dieser Stelle noch einmal betonen; das wurde ja schon mehrfach angesprochen. Für die SPD-Fraktion sage ich deshalb: Wir werden das als hohe Priorität ganz oben auf unserer Agenda halten.
Ich will auch noch auf das Thema Krankenhausassistenz zu sprechen kommen. Es ist bekannt, dass es viele Menschen mit Behinderungen gibt, die sich einer stationären Behandlung in einem Krankenhaus verweigern, weil in einigen Fällen nicht geklärt ist, ob Begleitpersonen, die mitgehen können, für diese Zeit ihre Lohnkostenausfälle erstattet bekommen. In diesem Zusammenhang möchte ich deutlich hervorheben, dass das BMAS vielfältige Angebote gemacht hat, kluge Ideen beschrieben hat und diese an das Haus des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn geschickt hat. Aber leider waren die Reaktionen verhalten und waren alles andere als positiv. Ich will betonen: Ich mache an dieser Stelle aus der Enttäuschung für die SPD-Fraktion keinen Hehl.
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Ehrlicherweise muss man aber sagen: Es ist wenigstens gelungen, dass wir aus den Reihen des Parlaments einen Entschließungsantrag auf den Weg bringen, in dem wir eine Lösung einfordern. Das ist ein Schritt. Es ist nicht der Schritt, den wir wollen, aber es ist ein Schritt.
Abschließend will ich sagen: Wir haben geliefert. Wir haben auch in turbulenten Zeiten als verlässlicher Koalitionspartner in dieser Regierung etwas geboten.
Frau Kollegin, wenn Sie bitte zum Schluss kommen.
Wir haben das Leben von vielen Menschen mit Behinderungen dadurch verbessert. Ich bitte Sie alle ganz herzlich, unserem Entwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Glöckner. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
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Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns alle eint hier das Ziel, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Dafür müssen wir Barrieren abbauen, dafür müssen wir die Bedingungen schaffen. Genau dazu trägt das Teilhabestärkungsgesetz bei. Ich finde, es verdient sehr wohl diesen Titel: Es stärkt die Teilhabe von Menschen. Es wird angesichts der einzelnen Themen, die wir auf den Weg bringen, eben einen Unterschied im Alltag der Menschen ausmachen.
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Wir machen das Teilhabestärkungsgesetz, weil es den Menschen im Alltag ganz konkret mehr nutzen wird. Das ist der Vorteil dieses Gesetzes.
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Gute Arbeit und guter Lohn sind Grundlage für ein gutes Leben. Aus diesem Grund setzen wir alles daran, die Beschäftigungschancen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Wir wollen mehr Menschen mit Behinderungen in Ausbildung und Arbeit bringen. Deswegen weiten wir das Budget für Ausbildung auf diejenigen aus, die im sogenannten Arbeitsbereich einer Werkstatt tätig sind. Damit unterstützen wir auch eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Ja, natürlich gibt es Bedenken, gibt es Vorbehalte bei Unternehmen, gerade bei kleineren Unternehmen. Sie fragen, ob das Sinn macht und welchen Risiken sie ausgesetzt sind, wenn sie Menschen mit Behinderungen bei sich ausbilden oder beschäftigen. Deshalb war die zentrale Forderung der Union, einheitliche Ansprechstellen einzurichten und das Beratungs- und Unterstützungsangebot deutlich zu verbessern. Genau das tun wir, indem wir für eine flächendeckende Struktur sorgen, indem wir für eine trägerunabhängige Lotsenfunktion sorgen, für qualifiziertes Personal, für Wirtschaftsnähe. Wir müssen ganz klar auf die Wirtschaft zugehen und sie ermutigen: Bitte macht das möglich! Wir ebnen euch auch den Weg. Wir schlagen eine Bresche durch den Dschungel an Bürokratie, an unterschiedlichen Zuständigkeiten, der sich in diesem Bereich, in dem es um Menschen mit Behinderungen geht, notwendigerweise ergibt. – Dafür dient diese einheitliche Ansprechstelle. Es ist von Vorteil, dass wir das jetzt auf den Weg bringen. Ich danke der Koalition dafür, dass wir dies gemeinsam tun.
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Menschen, die arbeitslos sind und gleichzeitig Rehabilitationsbedarf haben, haben größere Schwierigkeiten, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ist tatsächlich sehr schwer. Deswegen verbessern wir die Betreuungssituation für Rehabilitanden. Wir sorgen jetzt für Möglichkeiten einer aktiven Arbeitsförderung. Außerdem stärken wir die Rolle der Jobcenter, um eine bessere verbindliche Abstimmung zwischen den Leistungsträgern zu organisieren, um frühzeitig Bedarfe zu erkennen, um mit geschulten Beschäftigten, um mit Personal das tatsächlich anzugehen. Ja, es gehört auch dazu, die Jobcenter perspektivisch noch besser mit Mitteln auszustatten, gerade was das Personal in diesem Bereich angeht. Aber das ist ein wesentlicher Schritt, den wir in diesem Bereich tun.
Wir sorgen auch für ganz praktische Verbesserungen, etwa bei der Anschaffung eines Wagens. Frau Kollegin, Sie haben gerade darauf hingewiesen: Bislang beträgt der Zuschuss dafür 9 500 Euro. Das ist viel zu wenig, wenn man an die derzeitigen Anschaffungskosten für einen Wagen der unteren Mittelklasse denkt. Deswegen heben wir diesen Zuschuss auf 22 000 Euro an. Man sieht: Dieses Teilhabestärkungsgesetz macht einen Unterschied im Alltag aus, und das tut den Menschen gut.
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Abschließend: Wir verbessern den Alltag ganz konkret und haben da noch etwas vor uns, und zwar die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit.
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Das zeigt: Wir leisten einen aktiven Beitrag dazu, dass Inklusion in dieser Gesellschaft gelingt, mit dem Teilhabestärkungsgesetz und dann auch mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. In diesem Sinne: Es ist ein gutes Gesetz. Ich bitte um Zustimmung.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute lädt Joe Biden 40 Staats- und Regierungschefs zu einem Leaders Summit on Climate. Da geht es auch um die ökonomischen Vorteile beschleunigter Klimaschutzmaßnahmen. Damit stellen sich die USA an die Spitze einer Bewegung, die versucht, das 1,5-Grad-Ziel von Paris doch noch zu erreichen. Außenminister Blinken erklärte gestern in einer Rede: Wir werden die Klimakrise in das Zentrum unserer Außen- und Sicherheitspolitik stellen.
Und es stimmt: Die USA haben ja mehr als vier Jahre im Kampf gegen die Klimakrise verloren. Aber sie meinen es offensichtlich ernst. Ihr Sonderbotschafter John Kerry hat gemeinsam mit China – und das trotz der scharfen Kritik der Administration an den Zuständen in Xinjiang und in Hongkong – für die Klimakonferenz in Glasgow eine Vereinbarung getroffen, in der die USA und China sich verpflichten, ihre Anstrengungen zur Minderung, Anpassung und Finanzierung signifikant zu erhöhen.
Und was macht die deutsche Bundesregierung? Sie macht das, was sie immer macht, wenn es um Klimaschutz geht:
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Sie sitzt bräsig auf der Bremse.
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Das Angebot der Amerikaner, eine deutsch-amerikanische Energie- und Klimapartnerschaft zu begründen, wurde wochenlang wie eine heiße Kartoffel zwischen dem Umwelt-, dem Außen- und dem Wirtschaftsministerium hin- und hergeschoben.
Unter tätiger deutscher Mithilfe wurde der Vorschlag des Europaparlaments, bis 2030 den Ausstoß von Treibhausgasen um 60 Prozent zu reduzieren – das wäre die Voraussetzung gewesen, um überhaupt auf den 1,5-Grad-Pfad kommen zu können –,
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ausgebremst. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus, wenn als Kompromiss zwischen dem Vorschlag des Europäischen Parlaments – 60 Prozent – und dem Vorschlag des Rates – 55 Prozent – am Ende 52,8 Prozent, also weniger als 55 Prozent, herauskommen.
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Es war auch die deutsche Bundesregierung, die darauf gedrängt hat, die Wiederaufforstung von Flächen mit Klimaschäden, also die von der Klimakrise zerstörten Fichtenmonokulturen unserer Mittelgebirge, auf die Emissionsminderung anzurechnen. Meine Damen und Herren, das ist eher Bolsonaro als Biden. Aber wir sollten mehr Biden wagen.
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Wir müssen runter von der Bremse beim Klimaschutz. Wir müssen aktiv das Angebot einer solchen Klimapartnerschaft aufnehmen. Wenn wir Klimaneutralität erreichen wollen, dann muss künftig zum Beispiel Stahl mit Wasserstoff statt Kohlenstoff produziert werden. Dafür braucht es Standards, dafür braucht es eine industrielle Revolution, und die muss vor Dumpingkonkurrenz von anderswo geschützt werden. Dafür brauchen wir ein Carbon Border Adjustment. Genau all dieses liegt jetzt in den Vereinbarungen mit den USA auf dem Tisch.
({5})
Kommen Sie bitte zum Ende.
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Deswegen sage ich Ihnen – auch wenn hier jemand vorsätzlich das Licht ausmacht –:
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Meine Damen und Herren, Deutschland muss raus aus der Bräsigkeit. Der Klimaschutz muss ins Kanzleramt. Wer eine zukunftsfähige Industriepolitik will, wer eine bessere transatlantische Freundschaft will, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
– der muss dafür sorgen, dass Annalena Baerbock Bundeskanzlerin wird.
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Vielen Dank. – Dr. Anja Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion hat als Nächste das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine große Freude für mich, nach Jürgen Trittin sprechen zu können. Dann kann ich nämlich mal ausdrücklich widersprechen und einiges klarstellen.
Die Grünen behaupten immer wieder, dass beim Klimaschutz in den letzten Jahren in Deutschland nichts passiert ist. Das stimmt objektiv betrachtet einfach nicht. Wir erreichen jetzt in Deutschland unser Klimaziel. Wir sind Vorreiter.
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Wir sind Taktgeber, auch auf der europäischen Ebene. Ich sage nur: Emissionshandel, den wir jetzt bei uns in Deutschland einführen. Allen Unkenrufen zum Trotz haben wir unser Klimaziel 2020 erreicht.
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Nicht die Opposition und nicht die Grünen haben das erreicht, sondern wir als Koalitionsfraktionen. Das ist doch die Wahrheit, Herr Trittin.
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Ich weiß, was jetzt kommt – daher lassen Sie es mich vorwegnehmen –:
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die Behauptung, das Klimaziel 2020 in Deutschland hätten wir nur wegen Corona erreicht. Auch das stimmt einfach nicht.
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Das Klimaschutzpaket Deutschlands wirkt. Der Dreiklang aus Anreizen durch Förderprogramme für den Umstieg auf Umwelttechnologien und für Zukunftsinnovationen, aus mehr Verbindlichkeit und mehr Kontrolle durch das Klimaschutzgesetz und aus der CO2-Bepreisung wirkt. Das belegen die Zahlen. Auch der Emissionshandel der EU funktioniert. Gerade in den Bereichen Industrie und Energie gibt es eine kontinuierliche Reduzierung der CO2-Emissionen. CO2 ist die neue Währung. Auch durch unsere Einführung des Emissionshandels für die Bereiche Wärme und Verkehr werden wir die Wärmewende, die Verkehrswende voranbringen.
Frau Präsidentin, ich frage mich, ob wir das Rauschen ignorieren sollen; aber ich spreche einfach weiter. Vielleicht bekomme ich noch eine halbe Minute mehr.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Alleine können wir das Klima nicht retten. Wir brauchen auch die anderen Staaten der Welt.
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Nach Jahren des Fast-Stillstands hat die Wahl des US-Präsidenten Schwung in die internationale Debatte gebracht. Dieses Momentum müssen wir jetzt nutzen, wenn die USA, wenn China jetzt sich endlich auch auf diesen Weg begeben. Denn die Wahrheit ist doch: Trump war der Bremser. Jetzt haben wir die Möglichkeit, auch international richtig Schwung hineinzubekommen.
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Ein unterschätztes Potenzial sind die Entwicklungs- und Schwellenländer. Sie wollen auch am Wohlstand partizipieren. Entscheidend dafür, ob wir unser internationales Klimaziel erreichen, ist, dass wir die Wirtschaft in den Entwicklungs- und Schwellenländer von Anfang an klimafreundlich aufbauen. Deswegen brauchen wir auf internationaler Ebene einen Anreizmechanismus. Wir müssen selbst unsere Hausaufgaben machen – das kommt noch on top –; aber wenn wir auch international Klimaschutzprojekte fördern, wenn wir dort investieren, dann muss dies auch auf unser nationales Klimaziel anrechenbar sein. Dann bekommen wir eine Win-win-Situation hin.
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Wir gehen mit unserem Klimaschutzpaket wirklich einen großen Schritt voran; aber wir müssen die anderen Staaten, die Entwicklungs- und Schwellenländer, dabei mitreißen. Nur so können wir im internationalen Klimaschutz vorankommen.
Es ist sehr schade, dass jetzt alle durch das erloschene Licht und durch die Klimaanlage, die verrücktspielt, abgelenkt waren. Aber es hat mir trotzdem Spaß gemacht, Jürgen Trittin zu widersprechen.
Vielen Dank.
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Dafür hatten Sie jetzt auch ausreichend Zeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mit den Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern vereinbart, dass wir die Sitzung unterbrechen, bis geklärt ist, warum es hier so kalt und so dunkel ist. Bis dahin bitte ich um Geduld. – Vielen Dank.
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Damit Sie sich darauf einstellen können: Ich unterbreche die Sitzung jetzt für 15 Minuten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Anbetracht des Zeitablaufs bis heute Nacht erkläre ich jetzt die unterbrochene Sitzung für wieder eröffnet.
Die Mitteilung, dass die Sitzung wieder eröffnet werden soll, ist zuvor durch Durchsage in die Büros gegangen. Es wird noch eine Weile dauern, bis es hier wieder etwas wärmer wird; aber wenigstens ist der Geräuschpegel nach unten gegangen.
Nach einer Vereinbarung mit den Parlamentarischen Geschäftsführern beginnen wir jetzt mit der Wiederholung des Redebeitrags von Dr. Anja Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir eine wahre Freude, direkt nach Jürgen Trittin sprechen zu können,
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weil es mir die Gelegenheit gibt, ihm wirklich zu widersprechen und einiges klarzustellen:
Die Grünen behaupten immer wieder, es sei im Klimaschutz in Deutschland nichts passiert. Aber das stimmt einfach nicht, auch objektiv betrachtet. Deutschland wird seiner Vorreiterrolle gerecht. Wir sind Taktgeber. Wir haben uns ein ambitioniertes Klimaschutzziel gegeben, und das haben wir auch erreicht. Allen Unkenrufen zum Trotz haben wir dieses Klimaziel erreicht. Und wir, die Koalitionsfraktionen, haben das erreicht, nicht die Grünen, die sich immer als Anwälte für den Klimaschutz darstellen. Dafür brauchen wir auch keine Annalena Baerbock als Kanzlerin.
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Das habe ich vorhin noch nicht gesagt.
Würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Trittin.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Weisgerber, ich freue mich ja, dass Sie sich freuen.
Ich habe Ihnen vorhin zugehört. Sie haben sich gegen die Aussage verwahrt, dass Deutschland seine Klimaschutzziele nur wegen der Coronapandemie erreicht hat. Ich würde jetzt gerne folgende Äußerung zitieren:
Doch ohne die Corona-Lockdowns mit den Einschränkungen bei Produktion und Mobilität hätte Deutschland sein Klimaziel für 2020 verfehlt. Das bedeutet, dass die Emissionen wieder steigen werden, wenn die Wirtschaft anspringt. Das gilt besonders für den Verkehrssektor, der sich nicht auf den vergleichsweise guten Zahlen ausruhen kann. Deshalb ist klar, dass nur ambitionierter Klimaschutz und auf beschleunigte Dekarbonisierung orientierter Strukturwandel in den zentralen Wirtschaftssektoren dazu führen kann, die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen.
Wissen Sie, von wem das stammt?
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– Nein. – Von Dirk Messner, dem Präsidenten des Umweltbundesamtes. Ich entnehme das einer Pressemitteilung des Bundesumweltministeriums.
Sehr geehrter Herr Trittin, im Gegensatz zu Ihnen habe ich die Pressekonferenz von vorne bis hinten angeschaut.
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Deshalb weiß ich auch ganz genau – das wird auch in mehreren Artikeln, unter anderem von klimareporter.de, zitiert –, dass er auch gesagt hat: Ohne die Coronapandemie hätten wir nach den Modellierungen des UBA 39 Prozent erreicht. Wir hätten also nur ganz knapp darunter gelegen. Es wurde nach außen ganz anders transportiert. Es wurde gesagt: Nur wegen Corona haben wir das erreicht. UBA-Präsident Messner hat auch gesagt, dass unser Klimaschutzpaket wirkt, und das wäre jetzt auch die Fortsetzung meiner Rede.
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Unser Klimaschutzpaket wirkt. Das Zusammenspiel aus Anreizen durch Förderprogramme und Umstieg in Umwelttechnologien wird gefördert. Zum Zweiten. Das Zusammenspiel aus mehr Verbindlichkeit durch mehr Kontrolle durch das Klimaschutzgesetz und der CO2-Bepreisung greift. Auch das haben der UBA-Präsident und Umweltministerin Schulze in dieser Pressekonferenz gesagt.
Das belegen auch die Zahlen. Der Emissionshandel ist das Herzstück der Klimapolitik. Gerade in den Bereichen Industrie und Energie sinken die CO2-Emissionen signifikant und konsequent. Deswegen ist es genau die richtige Antwort, dass wir als Deutsche jetzt Vorreiter sind und den Emissionshandel auch für die Bereiche Wärme und Verkehr einführen. CO2 ist die neue Währung in diesen Bereichen und befördert die Wärmewende und die Verkehrswende. Deswegen gehen wir genau den richtigen Weg, und zwar den Weg nach vorne – als Einzige in ganz Europa –, und wollen jetzt auch Europa dazu bringen, den Emissionshandel auszuweiten, meine Damen und Herren.
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Aber eines ist auch klar: Alleine in Deutschland, alleine in Europa werden wir die Klimaziele nicht erreichen. Wir brauchen auch die anderen Länder dieser Welt. Es ist ein Schub für den internationalen Prozess, dass sich jetzt auch Biden hinter die Klimaziele stellt, dass es Gipfel gibt, dass die Chinesen sich auf diesen Weg begeben.
Wir müssen aber auch an die Entwicklungs- und Schwellenländer denken.
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Deswegen ist es genau der richtige Weg, dass wir jetzt auf der Klimakonferenz in Glasgow einen Marktmechanismus verabschieden, der es den Industrienationen ermöglicht, wenn sie in Klimaprojekte in Entwicklungs- und Schwellenländern investieren, dass dies auch auf das eigene Klimaschutzziel angerechnet werden kann. Nur so bekommen wir es wirklich hin, dass wir die internationalen Klimaschutzziele erreichen.
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Das ist unsere Politik: nicht nur mit der nationalen Brille Klimapolitik machen, sondern auch auf internationaler Ebene.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, liebe Kollegin Weisgerber. – Das Wort geht an Karsten Hilse von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst mal danke ich dem lieben Herrgott, dass er bei der Rede eines Kommunisten das Licht hat ausgehen lassen.
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Heute beraten wir viele Anträge, insbesondere der grünbemäntelten Kommunisten,
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die alle vorgeben, auf irgendeine tolle Weise das sogenannte Weltklima, einen rein statistischen Wert, schützen zu wollen, und das, nur einen Tag nachdem die Koalition in besonders dreister Weise das sogenannte Infektionsschutzgesetz derart verschärft hat, dass es nicht nur mit Fug und Recht Freiheitlich-demokratische-Grundordnung-Außerkraftsetzungsgesetz genannt werden kann, sondern es auch erlaubt, die Macht in diesem Staat ganz gezielt und sehr direkt dauerhaft zu ergreifen,
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weg vom Parlament, also vom Volk, weg von den Ländern, direkt zur Kanzlerin.
Dazu muss nur ein willkürlich gesetzter Inzidenzwert von 100 überschritten werden mit Tests, die selbst laut WHO keinesfalls zur Feststellung einer Infektion geeignet sind. Dann ist die Regierung ermächtigt, die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte nach ihrem Belieben einzuschränken, Bürger wegzusperren, bei Zuwiderhandlung bis zu fünf Jahre ins Gefängnis zu werfen. Die im Gesetz vorgesehene Begrenzung auf die Dauer der Pandemie lässt sich leicht durch Auswertung der Massentests verewigen.
Herr Kollege Hilse, darf ich Sie ganz kurz unterbrechen?
Ja, aber natürlich.
Sie sprechen nicht zur Sache. Nach der Geschäftsordnung müssen Sie jetzt sofort zum Thema kommen; sonst müsste ich Ihnen das Wort entziehen. Das wäre schade.
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Aber natürlich. – Dieses Gesetz ist die Blaupause für ein Klimaschutzgesetz gleicher Prägung. Es muss nur statt dem Inzidenzwert das undefinierte Pariser Klimaziel von 2 Grad eingesetzt werden, und schon können sämtliche Grundrechte weiter eingeschränkt bleiben, kann eine Ökodiktatur dauerhaft errichtet werden.
Die Zeichen der Zeit, die Signale stehen leider genau dafür. Hatte Präsident Trump noch den Mut, gegen diesen Wahnsinn vorzugehen und nach gründlicher Prüfung aus dem sozialistischen Verarmungsprogramm namens Pariser Klimaabkommen auszusteigen, gleichzeitig aber die CO2-Emissionen der USA weiter zu senken, entschied ein neosozialistischer Nachfolger mit einer waschechten Kommunistin im Schlepptau am Tage seiner Amtsübernahme, diesen Austritt rückgängig zu machen, und wird dafür überschwänglich von den vergrünten Medien und den neosozialistischen Altparteien gelobt, gelobt für ein in der Welt beispielloses sozialistisches Verarmungs-, ja Selbstmordprogramm.
Der Umwelt und dem Klima nützt es überhaupt nichts, aber den Ideologen, den Raffkes – –
Herr Kollege Hilse, ich muss Sie leider noch einmal unterbrechen.
Ich rede zu Herrn Joe Biden.
Ja, aber Sie tragen einen Button, der nach der Geschäftsordnung nicht erlaubt ist. Bitte nehmen Sie ihn sofort ab. Ihr Geschäftsführer kennt doch die Spielregeln. Bitte halten auch Sie sich daran. Sie dürfen gerne Ihre Rede fortsetzen, und von Ihrer Redezeit wird nichts abgezogen.
Vielen Dank. – Der Umwelt und dem Klima nützt es überhaupt nichts, aber den Ideologen, den Raffkes und den Spekulanten. Den Oligarchen des Weltwirtschaftsforums geht es nicht um den Planeten, sondern um unglaubliche Gewinne, um Umverteilung mittels einer neuen weltweiten Ordnung, wie es ja auch ganz offen verkündet wird.
Sie, Frau Merkel – im Moment nicht da –, und Ihre Entourage haben in den letzten 16 Jahren nicht nur den Weg dafür geebnet und dazu alle rechtlichen und moralischen Hürden gerissen, sondern proaktiv alle Gesetze, alle Verordnungen auf Bundes- und EU-Ebene organisiert, um dieses Ziel zu erreichen. Sie haben den Euro mit dem Geld der Deutschen gerettet. Sie haben der Umvolkung Deutschlands Tür und Tor geöffnet, als Sie untersagten, die Grenzen zu schließen, was heute zur Pandemiebekämpfung gang und gäbe ist – sogar innerdeutsch –, und Sie haben Millionen hochwertschöpfender Arbeitsplätze dauerhaft aus diesem Land vertrieben. Dafür zahlen wir die höchsten Strompreise der Welt.
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Unterstützt, nein, getrieben wurden Sie dabei von den grünen Kommunisten, deren wahre und willige Vollstreckerin Sie immer waren und noch immer sind. Sie vollstrecken damit eine verheerende Politik, die auf einer infantilen, jedoch höchst schädlichen Ideologie beruht, deren beste Vertreterin die gerade gekürte Kanzlerkandidatin Baerbock ist, die nicht einmal die Grundrechenarten sicher beherrscht und eine Zweidrittelmehrheit für größer hält als eine 75-prozentige.
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Ihnen, Frau Merkel, ist das Schicksal der ehemals konservativen CDU vollkommen egal. Sie haben sie entkernt und ihrer Werte beraubt.
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Und mit dem gestern verabschiedeten Freiheitlich-demokratische-Grundordnung-Außerkraftsetzungsgesetz haben Sie, liebe CDU-Genossen, die CDU dem Untergang preisgegeben, und das geschieht Ihnen recht.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Wer von einer verkappten Kommunistin buckelt, hat in einer freiheitlichen Demokratie nichts zu suchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort geht an Dr. Nina Scheer von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zur Sache: Es geht hier um viele Anträge, die heute gleichzeitig auf der Tagesordnung stehen. Ich möchte mich aber aus aktuellem Anlass auf die hier im Fokus stehenden internationalen Politikfelder konzentrieren, die gerade auch weltweit diskutiert werden. Ich möchte, so schwer es mir nach dieser Rede fällt, lieber Jürgen, auf einen Punkt eingehen, den du genannt hattest, und zwar die Frage, wie ambitioniert das nun vereinbarte Ziel von mindestens 55 Prozent ist.
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– Nein, eben gerade nicht 52 Prozent. Damit muss aufgeräumt werden. Für die Senken, die da eingerechnet sind, gilt quasi ein Stichtag. Man analysiert, wie viel Bindung an CO2 in den Wäldern stattfindet.
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– Lassen Sie mich doch mal ausführen. – Wie viel Senke ist da mit drin?
Wir wissen, dass in den nächsten Jahren durch den Klimawandel ziemlich viel kaputtgehen wird von dieser CO2-Bindung. Das muss man natürlich kompensieren. Zusätzlich muss man die derzeitige und die in den nächsten Jahren stattfindende Bindung in den Wäldern dazurechnen. Das wird jetzt wahrscheinlich nicht auf Gefallen stoßen, aber de facto sind es 57 Prozent, und zwar genau mit der Rechnung, die hier auch von Ihnen angestellt wird; es sind de facto 57 Prozent – mindestens. Wir sind vom Ziel 60 Prozent also nicht mehr ganz so weit entfernt.
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Natürlich wären 60 Prozent toll gewesen. Aber mindestens 57 Prozent erreicht zu haben, ist ein richtiger und wichtiger Schritt.
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– Ja, so ist nun mal zu interpretieren. Wer das leugnet und die erreichte Zahl mit 52 Prozent beziffert, der macht die EU schlechter, als sie ist, und das ist einfach nicht richtig.
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Als nächsten Punkt möchte ich ansprechen, dass wir nicht immer nur auf die Ziele schauen sollten. Wir haben jetzt einen weiteren Meilenstein gesetzt. Jetzt muss man aber schleunigst auf die Ebene zurückkommen, dass auch tatsächlich umgesetzt wird. Wir erleben es aber leider landauf, landab, dass wir immer mit der Umsetzung hinterherhängen. Wir dürfen uns nicht länger was vormachen. Auch solche Fantastereien wie ein neuer Emissionshandel – noch mal hier was und noch mal da was – bringen nichts, wenn wir nicht zu einem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien kommen.
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Das muss endlich geschehen, das muss nach oben gesetzt werden. Mehr Ausbau ist dringend erforderlich.
Ehrlicherweise muss natürlich dazugesagt werden, dass bei all diesen Dingen, die jetzt im Zusammenhang mit der internationalen Energiewende bzw. Klimaschutzpartnerschaft in Rede stehen, auch die Atomenergie drin ist.
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Das muss uns bewusst sein. Das heißt, dass wir verstärkt auf die Investitionspolitik achten müssen. Investitionspolitik darf eben nicht heißen, dass in Atomenergie investiert wird, sondern es muss in erneuerbare Energien investiert werden, weil es eine Sackgasse ist, in Atomenergie zu investieren.
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Das muss ganz deutlich auch mit deutscher Stimme in Europa klargezogen werden; sonst rennen wir sehenden Auges in Probleme mit dieser Technologie. Denn zum Beispiel bei zunehmenden Dürren müssen die Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Was ist denn dann mit der Atomenergie? Wir werden ein Sicherheitsproblem kriegen, noch obendrauf, zusätzlich zu den bereits bestehenden Risiken der Atomenergie.
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Es ist auch eine Mär, dass mit kleinen Atomkraftwerken eine neue Generation geschaffen würde; das ist einfach gelogen. Die sind zusätzlich zu den Risiken auch noch unwirtschaftlich. Überall, wo sie zum Einsatz kommen sollen, sieht man an der Konzeption, dass da zusammengefasste Projekte entstehen, dass das also doch wieder große Kraftwerke sind. Sie sind ein Sicherheitsrisiko. Sie sind keine Option. Sie führen uns nicht zu Klimaschutz.
Es hat sich immer bewährt, in die Dezentralität zu vertrauen und zu investieren. Genau da muss angesetzt werden. Jeder muss dort ansetzen. Für die Internationalität, um einen letzten Punkt zu setzen, bedeutet das – das ist eine Bitte an die Grünen –, dass es uns nicht nur um die Partnerschaft zwischen den USA und Europa gehen darf, sondern es muss natürlich Russland dazukommen;
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es müssen all die Staaten hinzukommen, die einen Nachholbedarf haben, weil durch ein Verharren in fossilen und atomaren Energiegemengelagen ein massives Sicherheitsproblem entsteht. Das müssen wir aufgreifen. Das muss in die Umsetzung hinein. – Ich bin lange über die Zeit.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollegin Scheer. – Das Wort geht an Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, in einer Debatte, in der es darum geht, wie wir Klimapolitik und Außenpolitik sinnvoll zusammenbringen müssen, sollten wir uns darüber Gedanken machen: Was ist eigentlich das Ziel internationaler Klimapolitik? Das Ziel ist relativ klar. Das Ziel wird durch das Pariser Abkommen vorgegeben. Ziel ist aber auch, dass wir es möglichst effizient umsetzen, und zwar weltweit.
Diese Effizienzfrage ist, glaube ich, das, worüber wir uns insbesondere hier Gedanken machen müssen, weil wir auf europäischer Ebene, aber vor allen Dingen auch auf internationaler Ebene in eine ganz neue Situation eingetreten sind. Meine Damen und Herren, CO2 kennt keine Grenzen. Das zu erkennen, ist extrem wichtig, weil das dazu führt, dass wir wirklich sinnvolle Klimapolitik auf internationaler Ebene nur gemeinsam ausgestalten können.
({0})
Herr Trittin, Sie haben eben gesagt, dass die USA in den letzten vier Jahren nichts getan hätten. Das ist richtig. Allerdings heißt das nicht, dass weltweit nichts passiert ist. In der letzten Zeit haben sich insbesondere China und die Europäische Union darangemacht, gemeinsam neue Ideen, neue Vorreiterschaften auszugestalten. Der Versuch Bidens heute, diese Vorreiterschaft wieder zurückzugewinnen, sollte uns eigentlich froh stimmen, weil es heißt, dass wir höhere Effizienzniveaus auf internationaler Ebene bekommen können, dass wir schneller vorankommen können, dass wir vor allen Dingen gemeinsam vorangehen können. Aber dabei hilft es nicht, in das Klein-Klein internationaler Politik abzudriften. Vor allen Dingen hilft es aber nicht – das erschreckt mich am Antrag der Grünen so sehr –, in ein Bukett an unterschiedlichsten Maßnahmen zu verfallen und alles in die Klimapolitik reinstopfen zu wollen, um dann am Ende gar nichts zu erreichen.
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Das ist doch das große Problem: Wir müssen Klimapolitik effizient machen, und Klimapolitik können wir nur dann effizient machen, wenn sich Klimapolitik um Klimapolitik kümmert. Das heißt nicht, dass andere Themen nicht wichtig sind. Aber in Ihrem Antrag geht es darum – wenn ich das mal zitieren darf –, „einen Paris-kompatiblen, sozial nachhaltigen, menschenrechtsbasierten, genderpositiven und inklusiven Klimaschutzplan umzusetzen“.
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Einzelne Punkte davon können Sie sicherlich umsetzen, aber all das in einer Politik vorzusehen, die Sie mit Saudi-Arabien umsetzen wollen, die Sie mit China umsetzen müssen, die Sie mit allen Ländern der Erde umsetzen müssen, um wirklichen Klimaschutz zu erreichen, das überfrachtet die Klimapolitik so sehr, dass Sie am Ende gar nichts erreichen. Und gar nichts ist das Schlechteste, was uns in der Klimapolitik passieren kann.
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Das, meine Damen und Herren, steht leider in diesem Antrag drin.
Es ginge aber anders. Wir könnten die Chance nutzen, die China, die USA und die Europäische Union im Moment gemeinsam haben. Wir könnten die internationale Klimapolitik so ausgestalten, dass wir ein CO2-Limit setzen, das wir gemeinsam erreichen wollen, und dann gerne als Vorreiternation voranschreiten und dieses CO2-Limit über einen internationalen Emissionshandel umsetzen. Damit würden Sie nämlich absichern, dass Sie die Klimapolitik hinbekommen. Wir haben das in unserem Antrag vorgeschlagen. Es ist relativ klar, dass Sie damit das Pariser Abkommen umsetzen können. Das bringt mich zum Anfang meiner Rede: Wir müssen eine effiziente Klimaschutzpolitik machen. Das geht aber nur dann, wenn wir uns mit allem, was wir haben, darauf konzentrieren.
Internationale Klimapolitik hat aber noch einen zweiten Aspekt, der mindestens genauso wichtig ist. Wir bauen gerade die gesamte Wirtschaft auf der Welt um. Das machen wir nicht politisch gesteuert, sondern das macht die Wirtschaft von sich aus; das macht die Industrie. Aber wir müssen aufpassen, dass wir in der Zukunft daran noch teilhaben. Deswegen ist eine solch reaktionäre, vulgär anmutende Rabulistik, wie wir sie gerade aus der AfD gehört haben, der falsche Weg, um wirklich sinnvolle Klimapolitik zu machen. Natürlich sehen wir den Fortschritt. Natürlich gibt es jetzt schon Diskussionen über Partnerschaften zwischen Saudi-Arabien und Ländern Asiens über Wasserstoff, über synthetische Kraftstoffe, über die Zukunftsgrundlagen. Und wenn wir da nicht mitspielen, dann machen wir in Zukunft gar keine Klimapolitik mehr. Und das wäre der schlechteste Ansatz, den wir wählen könnten.
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Deswegen, meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine gemeinsame, eine funktionierende, eine effiziente, vor allen Dingen eine zielgerichtete Klimapolitik machen. Ich glaube, damit wäre uns am meisten geholfen.
({5})
Vielen Dank, Kollege Köhler. – Das Wort geht an Lorenz Gösta Beutin von der Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, hat gesagt: Wenn Rot-Rot-Grün regiert, dann bedeutet das eine andere Republik. – Ich frage mich: Wo ist das Problem?
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Wofür steht denn diese Union? Diese Union hat der Demokratie durch Korruption schweren Schaden zugefügt. Die Union bremst in der Coronakrise. Die Union weigert sich weiterhin, gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich vorzugehen. Die Union genehmigt mit ihrem Partner, der SPD, Waffenexporte, auch in Krisenregionen.
({1})
Die Union bremst die Energiewende aus.
({2})
Herr Kollege, ich muss Sie auch darauf aufmerksam machen, dass zur Sache zu reden ist.
Ich komme jetzt direkt dazu.
Direkt bitte. Direkt!
Das ist genau zur Sache. – Die Union bremst die Energiewende aus und will, dass Verbraucher/-innen die Kosten tragen, nicht die Konzerne. Jeder vernünftige Mensch sagt in so einer Situation: Wir brauchen eine andere Republik, die solidarischer ist, die sozialer ist und die demokratischer ist.
({0})
Wir Linke sagen: Deutschland muss endlich Verantwortung übernehmen in der Klimakrise, Deutschland muss die Klimakrise entschieden bekämpfen und muss das sozial gerecht machen. Das ist die andere Republik, wie wir sie uns als Linke wünschen.
({1})
Die USA sind dem Pariser Klimaabkommen wieder beigetreten. Biden führt am Donnerstag und Freitag einen zweitägigen digitalen Klimagipfel durch. Gleichzeitig erreicht uns die Nachricht, dass 2020 das heißeste Jahr in Europa gewesen ist. Und was erleben wir hier? Wir erleben in vielen Dingen in der Klimapolitik, bei der Verkehrswende, der Wärmewende, der Energiewende und im Agrarbereich weiter Stillstand. Die Klimapolitik scheint wie auf Eis gelegt. Das braucht einen grundlegenden Politikwechsel; sonst wird das nichts.
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In der Corona- und in der Klimakrise erleben wir leider genau das Gleiche. In der Corona- und in der Klimakrise schützt diese Bundesregierung die Reichsten und die Konzerne, während die Ärmsten und die Schwächsten leiden müssen. Doch wir werden nur erfolgreich sein, wenn wir die soziale Spaltung in diesem Land, wenn wir die Coronakrise und die Klimakrise gemeinsam bekämpfen.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Mindrup von der SPD-Fraktion?
Ja, gerne.
Bitte.
Lieber Kollege Lorenz Gösta Beutin, wir sind ja in vielen Fragen einer Meinung;
({0})
aber Sie sprechen immer von „den Konzernen“. Würden Sie sich mit mir zusammen vor das Werkstor des Stahlwerks in Duisburg stellen? Sie verteilen dann das Flugblatt, auf dem steht: Die EEG-Umlagebefreiung muss aufgehoben werden, die CO2-Preisbefreiung für das Stahlwerk muss aufgehoben werden, und das Stahlwerk muss diese ganzen Beiträge zahlen. – Das verteilen wir dann an die Belegschaft. Die Belegschaft wird sofort verstehen, dass sie sofort pleitegehen würden. Das Werk wäre weg.
({1})
Deswegen ist meine Frage: Ist es nicht ein bisschen zu vereinfachend, wenn Sie immer von „den Konzernen“ sprechen? Muss man nicht das machen, was der Kollege Trittin eben gesagt hat und was wir auch wollen: dass man den Wettbewerb fair macht, dass hier kein Dumpingimport reinkommt, wenn wir den CO2-Grenzausgleich haben, dass bezahlt werden muss, weil wir ansonsten unsere Arbeitsplätze verlieren? Stellen Sie sich mit Ihrer Forderung mit mir vors Werkstor, oder stellen Sie sich nicht mit mir vors Werkstor?
Lieber Kollege, selbstverständlich würde ich mit Ihnen vors Werkstor gehen. Ich würde gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für bessere Arbeitsbedingungen, für gute Löhne streiten, und ich würde mit Ihnen für eine sozialökologische Transformation streiten,
({0})
durch die wir nämlich gute, klimagerechte Arbeitsplätze schaffen; denn das ist die zentrale Frage. Wir brauchen verbindliche Regelungen, die für alle gelten. Es geht nicht, dass hier in der Coronakrise Wirtschaftshilfen mit dem Füllhorn ausgeschüttet werden und gleichzeitig den Aktionärinnen und Aktionären die Dividenden erhöht werden.
({1})
Wir brauchen Wirtschaftshilfen, die sozial und ökologisch sind, die an Tariflöhne gekoppelt sind, die an Transformation im Wirtschaftsbereich und an gute Arbeit gekoppelt sind.
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Deswegen müssen wir gemeinsam mit der Klimabewegung und mit den Gewerkschaften für einen sozialökologischen Umbau kämpfen. Genau das ist die zentrale Frage.
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Deswegen sagen wir als Linke: Statt Milliardenhilfen für Konzerne brauchen wir einen sozialökologischen Umbau. Wir brauchen keinen Arbeitsplatzabbau, wir brauchen Tariflöhne, gute Arbeit, mehr Klimaschutz. Und als Linke sagen wir: Wir wollen den Kapitalismus nicht grün anmalen; wir wollen mit den Gewerkschaften und mit der Klimabewegung den sozialökologischen Umbau und unsere Demokratie stärken.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Das Wort geht an Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zu 13 unterschiedlichen Anträgen von Grünen und Linken gibt eine ganz gute Gelegenheit, den Auftaktredner der heutigen Debatte und auch Zwischenfrager wie den Kollegen Mindrup mit der rot-grünen Klimarealität zu konfrontieren.
Das letzte von Rot-Grün in dieser Republik verabschiedete Klimagesetz war das Klimagesetz in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2013. Dort haben Rot-Grün folgendes Ziel für das Jahr 2020 festgelegt: 25 Prozent CO2-Minderung. Mehr hat sich Rot-Grün nicht zugetraut. Gemessen daran haben wir, wenn wir den Streit darüber, ob 39 oder 40 Prozent – fast das Gleiche –, beiseitelassen, die rot-grünen Ziele, die seinerzeit festgelegt worden sind und die weit davon entfernt sind, die Paris-Ziele jemals zu erreichen, um mehr als 50 Prozent übertroffen.
({0})
Meine Damen und Herren, und die Wahrheit ist eben auch: Wir haben das CO2-Ziel für 2020 deutlich übertroffen.
Ich will in aller Kürze auf die Vielzahl der Anträge eingehen. Was wird gefordert? Klimapartnerschaft mit den USA. Eine super Sache! In diesen Stunden schafft die Bundeskanzlerin auf dem Leaders Summit on Climate zusammen mit US-Präsident Biden die Grundlage für eine erfolgreiche Weltklimakonferenz. Ihr Antrag dazu ist im Übrigen im doppelten Sinne von vorgestern: Er ist tatsächlich von vorgestern; er liegt damit erst Wochen nach dem bereits festgelegten Termin des Leaders Summit vor. Meine Damen und Herren, die Grünen hinken der Klimapolitik vollständig hinterher.
({1})
Klimaziele und Entwicklungspolitik, heißt es, sollen aufeinander ausgerichtet werden. Genau das macht die Bundesregierung. Meine Damen und Herren, interessant wird es aber, wenn man in die Details guckt. Die Grünen fordern einen Schuldenerlass für Entwicklungsländer im Gegenzug zu Klimaschutzmaßnahmen. Das ist, finde ich, arg imperialistisch. Das traut man den Grünen nicht zu; das schreiben sie aber auf und wollen es beschließen.
Auf erneuerbare Energien setzen. So ist es. Wir haben einen unerreicht hohen Anteil von erneuerbaren Energien, wir haben stark steigende Anteile von Erneuerbaren im Strom, und wir haben – das ist mir wichtig – stark steigende Anteile von erneuerbarer Wärme in Deutschland.
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Klimaneutrale, bezahlbare und warme Wohnungen. Noch nie in der Geschichte der Republik sind CO2-Minderungsprogramme, Wohnungssanierungsprogramme so gelaufen wie in den letzten 18 Monaten. Meine Damen und Herren, die Mittelabfrage hat sich vervierfacht.
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Wir tragen mit unserer Haushaltspolitik und der entsprechenden Untermauerung genau dafür Sorge, dass das passieren kann.
Die Linkspartei fordert einen Stopp des Weiterbaus der A 49. Da empfehle ich Ihnen sehr: Setzen Sie sich mal kollegial mit den Kollegen der Grünen auseinander; die tragen dafür unter anderem auch mit Verantwortung.
({4})
Meine Damen und Herren, zum Klimaziel für 2020 – Senkung der CO2-Emissionen um 40 Prozent – hatte ich bereits ausgeführt. Ich will noch einige andere Punkte festhalten. Wir haben im Bereich der Erneuerbaren 300 000 Arbeitsplätze, wir haben im Bereich der Energieeffizienz 600 000 Beschäftigte oder etwas mehr, und es ist uns gelungen, die Primärenergieproduktivität zwischen 2008 und 2018 um 23 Prozent zu steigern. Das sind Fakten, und das spricht für die Leistung der unionsgeführten Bundesregierung.
Was wollen wir darüber hinaus machen? Wir wollen Stromkosten wettbewerbsfähig gestalten – das gelingt uns mit den stark sinkenden Stromgestehungskosten im Erneuerbaren-Bereich –, und wir verhindern wirkungsvoll Carbon Leakage. Wir steigern die Ressourceneffizienz, und wir verbessern Finanzierungsmöglichkeiten für Gamechanger-Technologien.
Meine Damen und Herren, das ist die Energiepolitik der Union, die sich dadurch auszeichnet, dass es nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch und damit Technologieoffenheit gibt. Wir wollen nicht nur Batterien, wir wollen auch CO2-neutrale Kraftstoffe, um nur ein Beispiel zu nennen.
Für uns als Union gilt folgender Grundsatz in der Klimapolitik: Technologie statt Ideologie. Machen Sie diesen Weg mit! Er sichert Wohlstand und positive Entwicklung im Bereich des Klimas. Meine Damen und Herren, das ist unser Weg, den wir Ihnen anbieten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Müller. – Das Wort geht an Marc Bernhard von der AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon vor der Coronakrise hat die grüne Klimahysterie zu massivem Stellenabbau, Wohlstandsverlust und der Abwanderung von Unternehmen geführt. Vor allem hat diese Hysterie die Bürger und die Wirtschaft Unmengen an Geld gekostet – genau das Geld, das den Menschen jetzt in der Krise fehlt –, nämlich 500 Milliarden Euro für nutzlose Dämmmaßnahmen, für die höchsten Strompreise der Welt, für eine Steuer auf das Leben – auch „CO2-Steuer“ genannt –, um nur ein paar ganz wenige zu nennen.
Nun wollen Sie von den Grünen Ihren Klimairrsinn auch noch als kommunalen Konjunkturmotor verkaufen, also Feuer mit Benzin löschen. Kommunale Unternehmen, also bereits mit Steuergeldern subventionierte Staatsbetriebe, sollen finanziell noch weiter unterstützt werden. Der Staat soll also noch mehr Geld der Bürger verkonsumieren. Was soll denn das bitte für ein Konjunkturprogramm sein? Nicht die Staatswirtschaft, sondern die hart arbeitenden Menschen sind der Motor der Wertschöpfung in Deutschland.
({0})
Da können Sie noch so oft von Nachhaltigkeit sprechen. Von den Grundprinzipien der Ökonomie versteht jedenfalls jedes Kleinkind mehr als Sie. Daher erwähnen Sie auch in Ihrem Antrag mit keinem einzigen Wort, was das alles kosten soll, und schon gar nicht, wer das Ganze bezahlen soll.
Der Antrag ist nichts anderes als ein grüner Wünsch-dir-was-Katalog, um die Bürger weiter abzuzocken.
({1})
Wo soll das Geld denn herkommen, wenn nicht durch weitere Steuererhöhungen?
Anders als Sie in Ihrem Antrag behaupten, handelt es sich jedenfalls bei den meisten Maßnahmen eben nicht um Investitionen, sondern einfach nur um ideologiegetriebenen Konsum. Sie wollen zum Beispiel den Kauf von E-Lastenrädern über eine Kaufprämie fördern. Ansonsten besteht Ihr Antrag aus inhaltsloser Wortakrobatik, indem Sie von Dingen wie bürgerwissenschaftlichen Vorhaben und Experimentierräumen schwurbeln.
Das soll also die Art von Konjunkturmotor sein, mit dem Sie unser Land aus der Krise führen wollen? Wie immer! Und vor allem wie immer wollen Sie Ihre Fantasien mit dem Geld anderer Leute finanzieren, nämlich dem hart erarbeiteten Geld der Bürger.
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Aber Gott sei Dank sind wir laut Kanzlerkandidatin Baerbock sowieso die größte Volkswirtschaft der Welt und können uns das deshalb sicher auch leisten. Und wenn nicht, retten uns ganz bestimmt Baerbocks Kobolde.
Herzlichen Dank.
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Danke. – Das Wort hat Klaus Mindrup von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kommen einem die Worte in den Sinn, die Albert Einstein gesagt haben soll: Es ist nicht klar, ob das Universum unendlich ist, aber die menschliche Dummheit ist unendlich.
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Wenn das Thema Erderhitzung hier so dermaßen verharmlost wird, muss man sagen: Dieses Zitat stimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Vorsorge ist immer besser als Nachsorge. Für die SPD kann ich das ganz klar sagen: Wir haben keinen Planeten B; wir wissen das. Für uns gilt: Klimaschutz ist nicht alles, aber ohne Klimaschutz ist alles andere nichts.
({1})
Wir haben das bewiesen. Wir haben das Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht, das Herzstück unserer Klimapolitik.
Ich möchte daran erinnern, dass hier, von diesem Pult, der UN-Generalsekretär Guterres dieses Klimaschutzgesetz als „besonders“ gelobt hat, als vorbildlich für die Welt. Ich habe da die Reaktion der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen gesehen: Ihr seid alle so ein bisschen runtergesackt, weil das eine ganz andere Wahrnehmung ist, wenn man von außen draufschaut, als wenn man aus einer grünen Blase kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Das Klimaschutzgesetz – und das muss ich klar sagen – wirkt. Die Ziele werden überprüft. Es kommt nicht darauf an, ob wir in diesem Jahr bei 39 oder 40 Prozent oder sonst wo sind. Der Mechanismus ist das Entscheidende.
({3})
Wir sehen das im Augenblick im Bereich des Bausektors, wo der Bundesinnenminister, der auch Bauminister ist, ein Sofortprogramm vorlegen muss. Darauf bin ich gespannt.
({4})
Wir als Parlament werden das Ganze kontrollieren.
Vollkommen klar ist – und das steht auch im Klimaschutzgesetz –, dass man wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen muss. Um das 2-Grad- bzw. das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssen wir schneller und besser werden. Das ist doch Konsens! Deswegen hat sich Deutschland auf EU-Ebene dafür eingesetzt, dass man das Ziel „Treibhausgasneutralität“ europaweit verankert und dass wir jetzt scharfe Klimaschutzziele erhalten, die auch in Deutschland deutlich schärfer werden. Klar ist, dass wir dann auch unser Klimaschutzgesetz hinsichtlich der Ziele anschärfen müssen. Da steht nämlich, dass Klimaschutzziele nur verschärft werden können, und nicht andersherum.
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Da haben wir einen super Mechanismus aufgebaut, aber wer das aus ideologischer Verblendung nicht sehen will – Entschuldigung, da kann ich nicht weiterhelfen.
Deutschland ist in der EU der Impulsgeber, und die EU redet logischerweise mit den USA, weil es ein Wirtschaftsraum ist. Nicht nur Deutschland ist Partner in Paris, sondern auch die EU ist Partner in Paris. Ich finde es wirklich nicht in Ordnung, wie hier im Grunde genommen die Arbeit in unserem eigenen Land schlechtgemacht wird. Das ist wirklich nicht gut, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir können uns ein Scheitern nicht leisten.
({6})
Jetzt komme ich zu dem, was ich positiv finde. Wir haben einen Konsens dahin gehend gefunden, dass wir im Bereich des Bauens einen ganzheitlichen Ansatz haben müssen, wonach wir nicht nur den Energieverbrauch der Gebäude betrachten, der entsteht, wenn die Gebäude beheizt oder gekühlt werden, sondern auch den ökologischen Rucksack betrachten. Wir hatten, so glaube ich, zudem einen Konsens darüber, dass wir das Konzept „Bauhaus der Erde“, das eine Möglichkeit darin sieht, zukünftig mit biologischen Materialien zu bauen und CO2 aus der Atmosphäre zu binden, als eine Chance für unser Land betrachten.
Jetzt komme ich aber zu meiner Kernkritik an den Anträgen der Grünen, die sich auf den deutschen Energiestandard beziehen. Sie fordern einen Gebäudestandard KfW 55 auch für den Altbau.
({7})
Dies zu übersetzen, wäre mehr als das, was im Augenblick im Neubau Standard ist. Für den Prenzlauer Berg bedeutete das: Entweder wir reißen 30 Prozent bis 40 Prozent der Gebäude in Prenzlauer Berg ab, oder wir packen sie in Styropor ein. – Das ist doch nicht wahr, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({8})
Und es ist auch nicht notwendig. Das steht im Widerspruch zu dem, was ich vorher gesagt habe. Wenn man den ökologischen Fußabdruck der Gebäude mit berücksichtigt, dann muss man intelligenter vorgehen. Ich bin der Auffassung, Sie trauen der Kraft der erneuerbaren Energien nicht. – Die müssen stärker unterstützt werden!
Wenn ich per Satellitenbild auf die Oderberger Straße schaue, wo ich wohne, sehe ich: Es gibt gerade mal ein Haus mit einer Photovoltaikanlage, und das ist unser Genossenschaftshaus. 50 Prozent Grünenwähler – ein Haus mit einer Solaranlage.
({9})
Das wollen wir besser machen.
({10})
Deswegen haben wir das EEG so geändert, und deswegen haben wir jetzt die Gewerbesteuerfragen jetzt so geregelt, dass auch Hauseigentümer Photovoltaik aufs Dach setzen können.
Das Ganze ist eine Frage der Akzeptanz, eine Frage der Beteiligung. Und da muss ich die Grünen fragen: Was ist Ihr Ziel? Orientieren Sie sich an Hans-Josef Fell und Hermann Scheer: Beteiligung EEG? Oder sind Sie auf dem Weg von Rainer Baake: grüner Zentralismus? Das ist die Frage, die sich hier stellt. Das ist aus Sicht der SPD auch die Frage Ihrer Koalitionsfähigkeit.
({11})
Als ich den Entwurf Ihres Grundsatzprogramms gesehen habe, waren Sie da noch anders unterwegs. Sie haben es Gott sei Dank korrigiert.
({12})
Es geht um intelligente Lösungen, es geht um technischen Fortschritt, es geht um soziale Akzeptanz. Da müssen Sie sich auch mal kritische Fragen stellen lassen; denn Klimaschutz wird nur funktionieren, wenn wir die Menschen mitnehmen. Der Minimumfaktor ist nicht die erneuerbare Energie. Der Minimumfaktor ist die Akzeptanz.
Wir wollen die Industrieunternehmen mitnehmen. Wir wollen die Arbeitnehmer mitnehmen. Deswegen muss Klimaschutz sozial sein und wirtschaftlich vernünftig. Ich kann Ihnen nur sagen: Das geht nur mit der SPD.
({13})
Wir singen schon lange: „Zur Sonne, zur Freiheit“, und das tun wir weiter.
Noch ein kleiner Nachtrag, weil der Kollege sich gerade nicht beruhigt: Wir hatten intern einen harten Kampf, aber die Klimapolitiker haben den in der SPD gewonnen, und wir stehen jetzt geschlossen. Das ist vielleicht der Unterschied zu dem Kampf, den Sie mit den Baakianern noch intern zu führen haben. Ich bitte darum, dass Sie diesen Kampf austragen.
({14})
Danke schön.
({15})
Vielen Dank. – Das Wort geht an den Kollegen Olaf in der Beek von der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Klima-, Umwelt- und Entwicklungspolitik widersprechen sich nicht; sie gehören zusammen.
({0})
Schon heute sind insbesondere die Menschen in Entwicklungsländern am stärksten vom Klimawandel betroffen. Mit den Auswirkungen des Klimawandels werden leider auch Fluchtbewegungen zunehmen.
Wir müssen die Ziele des Pariser Klimaabkommens und die globalen Nachhaltigkeitsziele gemeinsam erreichen; wir unterhalten uns hier aber nur über das Wie. Wir brauchen Fortschritt, Technologieoffenheit und einen europäischen Willen, die Klima- und Entwicklungspolitik global zu gestalten. Wir sind hier, wie in allen anderen außenpolitischen Fragestellungen, viel zu behäbig und überlassen das Feld auch anderen Akteuren.
({1})
Kann es in unserem Interesse sein, dass Staaten wie China in Afrika massiv in die Energieversorgung investieren, auf Umweltstandards pfeifen und Entwicklungsländer finanziell in Abhängigkeiten treiben? Ganz sicher nicht!
({2})
Wenn in Afrika alleine jeder Haushalt auch nur mit einer einzigen Steckdose versorgt werden würde, bräuchte man schlimmstenfalls etwa 1 000 neue Kohlekraftwerke. Das ist kein Zitat von mir; das hat unser Entwicklungsminister Müller einmal erwähnt. Ich konnte mir das bildlich sehr gut vorstellen. Das kann nun wirklich nicht gewollt sein. Unsere Aufgabe muss es sein, Alternativen dazu anzubieten.
({3})
Wir müssen vor allem weniger entwickelten Staaten die Möglichkeiten geben, mithilfe von innovativen Technologien nachhaltiger zu wirtschaften. Heute importieren wir Kohle aus Russland und Öl aus Saudi-Arabien; morgen könnten es aber Wasserstoff und Solarenergie aus Afrika sein.
({4})
Auch deutsche und europäische Unternehmen können profitieren. Anreize für den Technologie- und Wissensexport in Entwicklungsländer müssen daher verstärkt und Hemmnisse abgebaut werden. Dasselbe gilt für staatliche und private Investitionen aus Deutschland und Europa. Auch aus diesem Grund fordern wir eine Europäische Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Klimaschutz. Lassen Sie uns die Stärke der Marktwirtschaft nutzen!
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Außen- und Entwicklungspolitik müssen immer auch Klimapolitik sein. Während die Auswirkungen des Klimawandels ganz selbstverständlich Teil der US-Sicherheitsstrategie sind, verstricken wir uns noch immer im Klein-Klein, wie gerade von Kollegen Köhler ausgeführt. Ohne gemeinsam gedachte Außen-, Entwicklungs- und Klimapolitik werden wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen. Lassen Sie uns unsere deutsche und europäische Komfortzone in diesem Fall endlich verlassen und global denken!
Es ist an uns, den Wandel mitzugestalten. Es geht nicht darum, Fortschritt gegen Klima oder Wohlstand gegen Umweltschutz auszuspielen. Wir müssen die Chance nutzen, all das in Einklang zu bringen. Wenn wir nicht handeln, handeln andere, und zwar mit großen Gefahren für unseren Planeten und auf allen anderen politischen Ebenen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, lieber Kollege. – Das Wort geht an die Fraktion Die Linke mit Sabine Leidig.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wer vom Klimaschutz redet, darf vom Verkehr nicht schweigen. 2020 gibt es zwar die Coronadelle; aber ohne die Pandemie sinkt der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor nicht. Und warum? Weil es immer mehr Verkehr auf unseren Straßen gibt. Er ist ja nicht nur klimaschädlich, sondern auch laut und gefährlich. Deshalb wollen zwei Drittel der Bevölkerung, dass es weniger wird; und wir wollen das auch.
({0})
Diese Regierungskoalition aber macht mit dem 15-Jahres-Plan für Bundesverkehrswege genau das Gegenteil. Mitten in Europa wollen Sie bis 2030 Tausende Kilometer neue Fernstraßen bauen und Tausende Kilometer von ihnen verbreitern, für noch mehr Autoverkehr und noch mehr Lkw auf den Straßen. Ich finde, das ist wirklich Wahnsinn.
({1})
Frau Lühmann, die Verkehrspolitikerin der SPD-Fraktion, hat gesagt, dass man jetzt die nächsten zehn Jahre diese Autobahnneubauprojekte noch abarbeiten muss; danach müsste man anders planen. – Ich sage: Nein! Sie haben schon viel zu lange das Falsche gefördert, und diese zehn Jahre, die jetzt noch vor uns stehen, sind entscheidend dafür, ob wir die Erhitzung der Atmosphäre noch bremsen können.
({2})
Sie wollen vor der Steilkurve noch mal richtig Gas geben – da werden Sie rausfliegen.
Wir wollen jetzt sofort den Autobahnneubau stoppen. Es gibt schon längst genug davon.
({3})
Der Weiterbau der A 100 zum Beispiel mitten in Berlin würde elende Wohnquartiere produzieren, die A 49 in Hessen würde wichtige Trinkwasserreserven gefährden. Mit A 14, A 20, A 26, A 39 und wie sie alle heißen werden Wälder zerschnitten, Flächen versiegelt, Moore geopfert, Ökosysteme zerstört. Aber wir können uns diesen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen nicht mehr leisten, auch aus Gründen der internationalen Solidarität.
({4})
Die Linke will den Bundesverkehrswegeplan 2030 umbauen. Wir wollen einen Verkehrswendefonds für die Kommunen, der vom Bund gefüllt wird, damit die Menschen, die unter der Last des Verkehrs leiden, nicht nur eine Umgehungsstraße als Ausweg bekommen;
({5})
denn neue Straßen ziehen neuen Straßenverkehr an. Deshalb gibt es auch nicht weniger Staus, obwohl Zehntausende Kilometer neue Straßen in den letzten zehn Jahren gebaut worden sind.
({6})
Wenn wir Nahverkehrszüge oder Straßenbahnen anbieten, dann orientieren sich die Leute dorthin.
({7})
Und wenn wir gute Fußwege bauen und sichere Fahrradwege, dann werden die benutzt. Es schlummern über 100 stillgelegte Eisenbahnstrecken im Land und warten darauf, wieder Kleinstädte und ländliche Regionen zu versorgen, damit die Berufspendler/-innen in die Züge steigen können.
({8})
4 000 Kilometer könnten sofort reaktiviert werden, und genau dafür müssen wir die Milliarden Euro, die Planungs- und Baukapazitäten einsetzen und dürfen sie nicht für noch mehr Fernstraßen verballern.
({9})
Zum Schluss möchte ich Annalena Baerbock gratulieren; sie ist nicht hier, aber sie wird es erfahren. Ich wünsche ihr alles Gute für die Kanzlerschaft.
({10})
Allerdings muss ich warnen; denn die Union bremst zumindest die Verkehrswende aus.
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Selbst ein grüner Verkehrsminister in Hessen lässt sich neue Autobahnen aufdrücken. Und ich finde, es ist höchste Zeit für eine Regierung ohne diese Verkehrswendebremser.
Danke.
({12})
Vielen Dank. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Lisa Badum.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es gehört: Wie kein Präsident vor ihm hat Joe Biden die Klimapolitik ins Zentrum seiner Strategie gestellt, und die USA haben verstanden, dass Klimapolitik auch in der Außen- und Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle spielt. Und sie haben verstanden, dass das Pariser Abkommen nur mit breiten Bündnissen zum Erfolg führen wird.
Und was macht die Bundesregierung in Sachen Klima, innen wie außen? Ich möchte uns allen jetzt eine weitere ernüchternde Bilanz zur Klimainnenpolitik der letzten zehn Jahre Merkel-Ära ersparen.
({0})
Wenn wir aber auf die Klimaaußenpolitik schauen, dann ist die Aussicht leider auch sehr trist. Und das haben Sie uns bestätigt in Ihrer Antwort auf unsere schriftliche Anfrage; die war wirklich glasklar. Es gibt vor allem zwei Gründe, warum wir hier keine einheitliche Klimastrategie im Sinne Bidens hinbekommen, keine Klimaaußenpolitik.
Punkt eins: Es fehlt Kohärenz. So wurde das Klimapaket 2030 im BMZ, das Programm 2030, genauso wie die Strategie zur Klimaaußenpolitik im Auswärtigen Amt nicht ressortabgestimmt. Jedes Ressort hat hier sein eigenes Süppchen gekocht.
Zweiter Punkt: Personal. Es fehlt Personal für das Thema, und das haben Sie mir schwarz auf weiß bestätigt. Aber Sie ziehen keine Konsequenz daraus.
Und damit wird klar, warum Sie unsere Frage nach einer einheitlichen Strategie in der Klimaaußenpolitik nicht beantworten können: Sie haben schlicht keine ressortabgestimmte und kohärente Gesamtstrategie für die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({1})
Natürlich hat dieses Fehlen einer einheitlichen Strategie auch Vorteile, nicht wahr? Ich meine, so können Sie ungestört weiter Kohle, Öl und Gas fördern. Über 100 dreckige Deals mit schmutzigen Energien, mit Kohle, Öl und Gas, unterstützen Sie mit Exportkreditgarantien in Höhe von 2,83 Milliarden Euro. Ist das die Unterstützung für Schwellenländer, Frau Weisgerber, die Sie angesprochen haben? Ist das die Investition in saubere Energien, Frau Scheer, die Sie angesprochen haben? Nein, jede Garantie, die Sie unterschreiben, ist eine Wette gegen die Pariser Klimaziele.
({2})
Stoppen Sie diesen Freifahrtschein für Klimaverschmutzung in anderen Ländern, wenn Sie nur einen Hauch Glaubwürdigkeit hier behalten wollen!
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Unterstützen Sie stattdessen Länder des Globalen Südens mit Klimapartnerschaften, mit echten 1,5-Grad-Klimapartnerschaften! Stärken Sie das Pariser Abkommen mit den Ländern, die schon ambitioniert sind: Südafrika, Marokko, Indien, Äthiopien!
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Es fallen uns viele weitere ein. Dort überall gibt es Wissen um erneuerbare Energien, um klimagerechtes Wirtschaften, was Sie nicht nutzen.
Echte Klimapolitik und echte Veränderung brauchen breite Bündnisse, national wie international, und sie brauchen eine klare Strategie. Wenn ich noch kurz Al Gore zitieren darf, den alten Klimakämpfer aus den USA: Politischer Wille selbst ist eine erneuerbare Ressource. Geh raus und erneuere ihn! – Politik ist erneuerbar. Es geht anders; es geht besser. Und deswegen brauchen wir eine Regierungschefin, die Klimapolitik außen wie innen –
Kommen Sie bitte zum Ende, liebe Kollegin.
– zur Chefinnensache macht.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unter der Vielzahl von Anträgen sind ja auch zwei dabei, die sich mit Verkehr beschäftigen. Wir haben von Kollegin Leidig eben eine Ausführung dazu gehört. Die Forderungen lauten: Ausbaustopp für Autobahnen, allgemein neue Überschrift für das, was wir unter Bundesverkehrswegeplan subsumieren, Weiterbau der A 49 stoppen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, daran sieht man: Hier wird Ideologie der Vorrang vor den Bedürfnissen der Menschen vor Ort eingeräumt.
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Das ist unberechtigte Pauschalkritik am Straßenverkehr. Und so, wie Sie das vorschlagen und hier vortragen, bringt es für den Klimaschutz überhaupt nichts.
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Deshalb lehnen wir das natürlich auch ab.
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Der Bundesverkehrswegeplan ist und bleibt ein sinnvolles, nein, das sinnvolle Planungsinstrument für den Verkehr in Deutschland. Wir haben den Bundesverkehrswegeplan schon unter anderen Rahmenbedingungen aufgestellt. Er trägt Klimaschutz und Umwelt Rechnung. Er betrachtet genau diese Problematik. Deshalb bringt es überhaupt nichts, den anders zu überschreiben, mit „Mobilplan“ oder wie auch immer, sondern es geht darum, was wir dort festlegen und wie wir es umsetzen können.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage von der Kollegin Leidig von der Fraktion Die Linke?
Aber bitte.
Vielen Dank, Kollege Schnieder, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Ich weiß nicht, wie gründlich Sie den Bundesverkehrswegeplan gelesen haben, weil darin erst ganz am Schluss die Umweltverträglichkeitsprüfung kommt. Dort steht, dass die Umsetzung der im Bundesverkehrswegeplan geplanten Maßnahmen, insbesondere beim Straßenbau, zu einer Zunahme der CO2-Emissionen von einer halben Milliarde Tonnen CO2 pro Jahr führen wird. Das steht in diesem Plan drin. Es kann mir wirklich niemand erklären – ich glaube, Sie können es auch nicht –, wie ein solcher Plan, der zu so viel mehr CO2-Ausstoß führt, ein Klimaschutzplan sein kann.
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Es wäre vielleicht ganz hilfreich, den Bundesverkehrswegeplan nicht von hinten nach vorne zu lesen,
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sondern vorne zu beginnen und sich vor allen Dingen die neue Gewichtung in diesem Bundesverkehrswegeplan anzuschauen. Wir haben ein deutliches Schwergewicht zum Beispiel auf den schienengebundenen Verkehr gelegt. Über 40 Prozent der Maßnahmen gehen in den schienengebundenen Verkehr. Das war im alten Bundesverkehrswegeplan viel, viel weniger. Die Straße bekommt weniger, als sie vorher bekommen hat. Die Weichen sind neu und anders gestellt, Frau Leidig; das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Das kann man nicht überspielen, indem man sich die Dinge aus dem Plan herausgreift, die einem gerade gefallen.
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Ich will Ihnen das exemplifizieren anhand des Antrags, den Sie auch gestellt haben: Verbot des Weiterbaus der A 49. Man muss sich doch zuerst mal die Frage stellen: Warum soll denn da die Lücke geschlossen werden? Ganz einfach: weil es Bedarf dafür gibt. Die Strecke ist Bestandteil des transeuropäischen Verkehrsnetzes, der Lückenschluss führt zu einer besseren Erschließung der Region, Kapazitäten werden erweitert, Verkehre, die durch kleine Gemeinden und durch Städte gehen, sollen verhindert werden, es geht um Entlastung von lärmgeplagten Anwohnern.
Die Quintessenz ist doch: Der Verkehr löst sich doch nicht deshalb auf, weil ich die Lücke nicht schließe; er wird nur anders geleitet. – Ich fahre lieber gleichmäßig über ein Stück Autobahn, als dass ich durch viele kleine Dörfer und Städte geleitet werde. Das ist der Fehlschluss, den Sie hier immer ziehen. Es gibt Bedarf dafür, der Verkehr ist da. Die Frage ist doch nicht, ob ich ihn anderswo substituieren kann – das kann ich nämlich in ländlichen Räumen überhaupt nicht –, sondern wie ich den Verkehr vernünftig leite.
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Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel – daran sind die Grünen nicht unbeteiligt –: der Lückenschluss der A 1 zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die A 1 geht quasi von den Häfen an der Ostsee bis nach Südspanien durch. 25 Kilometer Lücke klaffen in der Eifel. Warum wird der Lückenschluss verhindert? Angeblich wegen Klimaschutz. Die Lkws, die Pkws fahren durch die Dörfer und durch die Städte, sie belasten die Menschen dort vor Ort. Wenn die Menschen und der Menschenschutz bei Ihnen nicht zum Umweltschutz dazugehören, dann sagt das viel aus.
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Deshalb bin ich dankbar, dass hier klar wird, welche Politik Sie im Straßenverkehr machen wollen, welche Sie unter dem Deckmäntelchen des Klimaschutzes einfordern. Das ist Politik gegen die Menschen,
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das ist Politik gegen die Menschen im ländlichen Raum. Deshalb werden wir so etwas nicht mitmachen.
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Vielen Dank. – Falls wir uns nicht alle gemeinsam morgen zum Frühstück treffen wollen, würde ich vorschlagen, dass wir jetzt etwas strenger mit den Redezeiten umgehen, sonst wird es doch zu lang.
Timon Gremmels von der SPD hat als Nächster das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut, dass wir am Internationalen Tag der Erde eine solch wichtige klima- und energiepolitische Debatte führen. Es ist auch gut, dass Joe Biden, dass die neue US-Administration zurück nach Paris gegangen ist, das Pariser Klimaabkommen unterschreibt und auch umsetzt. Das sind gute Signale, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich sage Ihnen aber auch, lieber Jürgen Trittin: Wenn Sie sich hierhinstellen und sagen: „Mehr Biden wagen“, dann bedeutet das auch mehr Atomkraft, dann bedeutet das auch mehr Fracking-Gas, und dann bedeutet das auch mehr Öl, weil die Amerikaner seit 2014 den Ölimport aus Russland um insgesamt 63 Prozent erhöht haben. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir hier miteinander diskutieren. Dass die Grünen jetzt sozusagen in blinder Gefolgschaft mit Joe Biden laufen, ist, glaube ich, nicht angemessen. Auch ihn muss man differenziert betrachten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir Sozialdemokraten stehen auch in der internationalen Klimapolitik wie eine Eins. Wir waren es, die mit drei Ministern – Barbara Hendricks war es meines Wissens damals, Steinmeier als Außenminister und Gabriel als Wirtschaftsminister – den sogenannten Berlin Energy Transition Dialogue auf den Weg gebracht haben, einen der zentralen Orte, wo über Energiepolitik und auch Transformation gesprochen wird. Wir waren es, die IRENA mitgegründet haben, die Internationale Agentur für erneuerbare Energien. Ich nenne nur Hermann Scheer, einen der Vorkämpfer. Wir müssen uns da von den Grünen nichts vorhalten lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Lassen Sie mich aber an dieser Stelle noch etwas ganz Aktuelles sagen, weil wir hier ja auch ein paar andere Dinge diskutieren, was Klima- und Umweltpolitik angeht. Auch da liefert diese Große Koalition.
Wir werden nachher beschließen, dass Einnahmen aus der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen künftig die Gewerbesteuerbefreiung der Mieteinnahmen nicht gefährden und Mieterinnen und Mieter so eine größere Chance bekommen, dass sie vom preiswerten PV-Strom profitieren. Das bringen wir heute auf den Weg.
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Wir werden dafür sorgen, dass die Standorte von Windkraftanlagen stärker von Gewerbesteuereinnahmen profitieren, als das bisher der Fall ist. Das führt zu Akzeptanz. Auch das werden wir heute noch beschließen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Dann kann ich Ihnen auch ganz druckfrisch mitteilen, dass sich gestern Abend die Koalition darauf verständigt hat, dass wir noch einmal mit zusätzlichen Ausschreibungsvolumina für Photovoltaik und für Windkraft voranschreiten werden:
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im Jahre 2022, also im nächsten Jahr, 4,1 Gigawatt Photovoltaik zusätzlich. Das ist eine Verdreifachung der Ausschreibungsmengen im Vergleich mit den bisherigen Volumina.
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Dazu kommen 1,1 Gigawatt zusätzlich für die Windkraft. Auch das ist ein wichtiges Signal, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir haben gestern noch etwas beschlossen, nämlich, dass wir auch die EEG-Umlage sozusagen besser vereinbar machen werden und dass wir sie weiter absenken wollen, auf 5 Cent in den Jahren 2023 und 2024. Eine echte Entlastung für die Wirtschaft und für die Verbraucherinnen und Verbraucher, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das zeigt: Diese Koalition ist handlungsfähig.
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Ich mache aber keinen Hehl daraus, dass wir Sozialdemokraten uns nicht nur eine Regelung für 2022 gewünscht hätten, sondern wir hätten gerne den Ausbaupfad für erneuerbare Energien auch deutlich langfristiger festgeschrieben. Die Ausbaumengen müssen erhöht werden. Da ist mein Appell an die CDU und an die CSU: Nicht nur KlimaUnion gründen, nicht nur grün reden, sondern auch handeln! Sie stehen noch immer energiepolitisch auf der Bremse.
Wir wollen da deutlich mehr. Wir wollen da stärker voran. Deswegen kämpfen wir Sozialdemokraten dafür, dass wir eine Mehrheit jenseits der Großen Koalition und auch jenseits von CDU/CSU haben werden, eine Mehrheit, die progressiv, die dynamisch und die fortschritts- und zukunftsgewandt ist, für erneuerbare Energien, für den Klimaschutz.
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Das geht nur mit Olaf Scholz als neuem Kanzler und gerne auch mit den Grünen als Koalitionspartner. Wer sich dazugesellen will, ist herzlich eingeladen. Wir stehen für die Zukunft, für Klimaschutz und für den Ausbau erneuerbarer Energien.
Ich danke Ihnen. Glück auf!
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Wenn wir jetzt unsere Kanzlerkandidaten allesamt in unsere Reden einbauen,
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dann müssen wir für die nächsten Sitzungswochen damit rechnen, dass wir durchmachen werden. Ich wollte nur einmal darauf hinweisen.
Es kommt Christian Hirte von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang möchte ich eine Gemeinsamkeit feststellen: dass nämlich in einer zunächst ziemlich frostigen Debatte bei allen Konsens darüber besteht, dass wir die Pariser Klimaschutzziele erreichen wollen – abgesehen vielleicht von der AfD. In der öffentlichen Wahrnehmung richtet sich der Blick – das ist auch heute zum Teil wieder deutlich geworden – häufig auf den Verkehr, auf die Industrie. Wir verkennen dabei – dazu möchte ich sprechen – häufig die große Bedeutung des Bauens, Wohnens und der Gebäude für den internationalen Klimaschutz.
Von einigen Vorrednern – zum Beispiel gerade von meinem Kollegen Mindrup – ist deutlich gemacht worden, wie wir unsere nationale Klimaschutzpolitik verstehen, eingebettet in das, was in Europa passiert, aber eben auch weltweit. Ich will es ganz deutlich sagen: Wenn wir uns zum Beispiel international anschauen, wie viel Energie, wie viele Ressourcen für das Bauen, Heizen und vor allem auch für das Kühlen von Gebäuden benötigt werden, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass das eines der ganz, ganz zentralen Politikfelder der Zukunft ist.
Wir in Deutschland reden im Gebäudebereich meist über Wärme. Um das vielleicht mal deutlich zu machen: Die USA und China verbrauchen allein für das Kühlen zweieinhalbmal mehr Energie als ganz Afrika.
Dabei ist es wichtig, dass wir uns nicht nur international, sondern auch im eigenen Land unserer Hausaufgaben besinnen und uns auch entsprechend einsetzen. Da nützen pauschale Verbote etwa für Einfamilienhäuser im ländlichen Raum nichts; da nützt es auch nichts, die Menschen dazu zu drängen, im verdichteten städtischen Raum zu wohnen; denn am Ende wollen wir beides schaffen, nämlich Klimaschutz, aber auch Bezahlbarkeit, insbesondere dort, wo wir Wohnungsbedarf haben.
Realismus ist also vonnöten; den brauchen wir zum Beispiel auch bei der Erschließung von Baustoffen: Da geht es um Sand, um Kiese, aber zum Beispiel auch um Gips. Diesen Fragen muss man sich stellen: Wie sieht es mit Gips ganz praktisch nach dem Kohleausstieg aus? Wollen wir uns diese Ressource künftig etwa international organisieren mit zweifelhaften klimatischen Konsequenzen?
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Solche Fragen müssen auch stärker profiliert werden. Deswegen hat sich der Bauausschuss vor Kurzem, im März, in einer öffentlichen Anhörung genau damit beschäftigt. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass die Quote von Recyclingmaterial erhöht werden soll. Dazu brauchen wir unabhängig zertifizierte Güteklassen. Wir brauchen auch die Sicherheit, dass Rezyklat-Baustoffe problemlos verwendet werden können.
Derzeit stellt sich die Situation so dar, dass das Recyceln dieser Baustoffe sehr, sehr teuer ist, um die hohen Auflagen, die die Grünen fordern, überhaupt einzuhalten. Deswegen ist es aus meiner Sicht und aus Sicht der Union ganz wichtig und notwendig, dass wir jetzt endlich das Ende der Abfalleigenschaft in der Mantelverordnung verankern, um sicherzustellen, dass künftig aufbereitete Baustoffe im Stoffkreislauf besser genutzt werden können. Es ist kontraproduktiv, einfach eine Abgabe auf Primärrohstoffe zu erheben, um Recyclingstoffe attraktiver zu machen. Wir müssen vielmehr dazu kommen, diese entsprechend zu fördern. Ich glaube, allein das führt dazu, dass wir eben nicht klimaschädliche Baustoffe aus anderen Ländern zu uns einführen.
Der Grundsatz, die Baustoffe wiederzuverwerten, ist richtig. Es ist auch richtig, nachhaltig und technologieoffen vorzugehen; das hat zum Beispiel die FDP vorgeschlagen. Aber unser Ansatz als Union ist, beides in den Blick zu nehmen, nämlich auf der einen Seite die Bezahlbarkeit des Bauens und des Wohnens und auf der anderen Seite den Klimaschutz.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende, indem ich sage: Genau diesen Spagat zwischen der Bezahlbarkeit auf der einen Seite und dem Klimaschutz auf der anderen Seite zu erreichen, ist das, was die Koalition von Union und SPD auf den Weg bringt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an den fraktionslosen Kollegen Marco Bülow.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren ja heute über mehr als 25 Vorlagen, Anträge usw., die alle irgendwie mit Umwelt und Klima zu tun haben. Alleine das zeigt, wie unangemessen dieses Thema behandelt wird: all das wird in eine Stunde gepresst, in der man darüber diskutiert, und dann hofft man, das Thema wieder wegzuhaben. Das zeigt den Stellenwert, und genau da müssen wir anfangen.
Seit 18 Jahren bin ich im Bundestag und höre mir immer mehr Märchen an, was denn schon alles für den Klimaschutz getan wurde und wie weit wir doch schon gekommen sind. Bis auf kleine Phasen, in denen es mal wirklich richtig voran ging, passierte genau das eben nicht, und das passierte vor allen Dingen nicht in den Phasen der Großen Koalition. Märchen wie „Corona hat nicht dazu beigetragen, dass der CO2-Ausstoß reduziert wurde“ oder „In der SPD haben sich die Klimapolitiker durchgesetzt“ haben wir auch heute wieder gehört.
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Genau das ist der falsche Weg. Wenn wir heute hier nur Wahlkampf betreiben und irgendwelche Kanzlerkandidatinnen und ‑kandidaten nach vorne stellen und so tun, als wenn wir tollen Klimaschutz machen, zeigen wir doch, dass wir es eigentlich nicht verdient haben, in dieser Debatte ernst genommen zu werden; denn bis jetzt haben wir eben nicht den richtigen Weg eingeschlagen.
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Gucken wir uns doch die Fakten gerade auch in Deutschland beim Klima- und Umweltschutz mal an – beides gehört ja in vielen Bereichen zusammen; dabei wird jedoch meist das Thema Biodiversität und Artenvielfalt nicht behandelt –: Es sterben jeden Tag 150 Arten aus. Seitdem ich geboren bin, haben die Tierbestände um 70 Prozent abgenommen, am meisten in den letzten acht Jahren. – Wer war denn in den letzten acht Jahren an der Regierung? Das sind die Fakten. Wir versiegeln, gerade auch in Deutschland, täglich Böden, wir machen sie kaputt, immer noch sind bestimmte Pestizide, Glyphosate und andere Stoffe, eben nicht verboten. Gerade die Böden sind besonders wichtig; über die diskutieren wir ganz selten. Dabei gibt es gerade da doch riesige Chancen: 1 Prozent mehr Humus in Deutschland würde bedeuten, das CO2, das wir in einem Jahr verbrauchen, einzusparen. Wo sind da die Fortschritte? Wo sind da die Entwicklungen? Die spüren wir nicht, weil es sie eben nicht gibt.
Zur internationalen Verantwortung – auch der werden wir eben nicht gerecht –: 10 Prozent der Welt produzieren 52 Prozent des CO2-Ausstoßes. Das alleine zeigt doch, welche Verantwortung wir gerade in Deutschland haben, und, dass wir da gerade auch eine soziale Verantwortung haben, die wir wahrnehmen müssen.
Woran sehen wir noch, dass dieses Thema nicht ernst genommen wird? Schauen wir uns alleine die Haushaltspolitik an. Immer noch fließen in Deutschland über 50 Milliarden Euro in umwelt- und klimaschädliche Subventionen. Trotz Coronazeit und trotz schwieriger Haushaltslage geht kein Minister, geht keine Regierung daran, das zu ändern. Genau da müssen wir anfangen. Dann haben wir genug Geld, dann haben wir genug Möglichkeiten, wirklich ein Klimaprogramm aufzusetzen und wirklich unserer Verantwortung gerecht zu werden. Wir dürfen nicht auf Biden und andere schauen, sondern müssen auf uns schauen und als Vorreiter vorangehen.
Vielen Dank.
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Danke, Kollege Bülow. – Das Wort geht an die CDU/CSU-Fraktion mit Peter Stein.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Schatten der Klimakonferenz und im Schatten der SDG-Verhandlungen fand im Oktober 2016 in Quito, in Ecuador, die UN-Habitat-Konferenz statt. Die deutsche Bundesregierung hatte im Vorfeld dem WBGU, dem entsprechenden Wissenschaftlichen Beirat, den Auftrag zu einer Studie erteilt. Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie ist die Feststellung, dass, wenn wir vor dem Hintergrund der Entwicklung der Weltbevölkerung und der aktuellen Situation im Baugeschehen so weitermachen wie bisher, alleine für die Herstellung des Betons, der dafür benötigt wird, das CO2-Klimaziel gerissen werden wird.
Vor dem Hintergrund, dass beispielsweise China in acht Jahren so viel Beton verbaut hat wie die USA in 250 Jahren, vor dem Hintergrund, dass beispielsweise in Südamerika inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung in urbanen Gebieten lebt, und auch vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent – da steht uns eine Verdoppelung bevor – ist es, glaube ich, sehr wichtig – das ist Gegenstand unseres Antrages zum Thema, nämlich Holz als regenerativen Baustoff in der Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen –, das Augenmerk darauf zu legen, dass an dieser Stelle eine Lösung zu suchen ist.
Gerade auf dem afrikanischen Kontinent gibt es noch Regionen mit sehr traditionellen Baumustern, aber auf der anderen Seite auch eine sehr stark fortschreitende Urbanisierungstendenz. Ich glaube, es ist höchste Eisenbahn, dass wir mit unseren Forschungs- und Entwicklungspotenzialen, mit unserem Wissen und unserem Know-how in die Staaten, in die Regionen auf dem afrikanischen Kontinent mit diesem Bevölkerungswachstum gehen und ihnen Unterstützung und Beratung, aber auch wirtschaftliche Hilfen geben. Wir müssen die Regionen dort ertüchtigen und motivieren, mehr auf Klein- und Mittelstädte statt auf Megacitys zu setzen und in diesen Klein- und Mittelstädten traditionelle Bauformen, nachwachsende Rohstoffe, nachwachsende Baustoffe zu verwenden.
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Ich glaube, Deutschland kann eine ganze Menge dazu beitragen. Ich möchte in dem Zusammenhang auf die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe in Gülzow-Prüzen in der Nähe von Rostock hinweisen, die von der deutschen Bundesregierung seit Jahren sehr stark unterstützt wird und ausgebaut worden ist. Dort arbeiten hervorragende Wissenschaftler, die sehr viel Gutes zu diesem Thema beitragen könnten.
Wir wollen das weiter unterstützen. Deshalb führt unser Antrag, den ich hier eingebracht habe, vor allen Dingen eines im Schilde, nämlich das, was wir an Know-how anzubieten haben, mit in den Ansatz zu bringen und in der Entwicklungszusammenarbeit den Schwerpunkt auf nachwachsende Baustoffe, auf nachwachsende Rohstoffe zu legen. Das ist beileibe nicht nur das Holz; da fällt mir beispielsweise das eine oder andere Material aus unseren Weltmeeren ein, ebenso Gräser, Bambus und ähnliche Dinge. All das in den Ansatz zu bringen, ist Gegenstand unseres Antrags. Ich werbe hiermit um Unterstützung für diesen Antrag.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Melanie Bernstein das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Last, but not least reden wir über Kulturpolitik. Mit Ihrem Antrag „Green-Culture-Konzept umsetzen“ fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Klimaschutz als zentralen Pfeiler in der Kulturpolitik zu verankern.
Es sollen Maßnahmen zum Klimaschutz in allen kulturpolitischen Handlungen mitgedacht werden, und Sie wollen einen sogenannten Green Culture Desk mit einer eigenen Geschäftsstelle einrichten. Zudem – und hier wird es für meine Fraktion problematisch – sollen Mittel des Programms „Neustart Kultur“ verpflichtend an Nachhaltigkeitskriterien gekoppelt werden. Es ist auch so, dass bei der Beauftragten für Kultur und Medien bereits Lösungen für den im Mai 2021 stattfindenden runden Tisch „Museen und Klimaschutz“ erarbeitet worden sind.
Im Nachhaltigkeitsbericht der BKM wird deutlich, dass wir mit vielfältigen Maßnahmen zum Klimaschutz vorangehen. Als Beispiele nenne ich hier das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit oder die Entwicklung ökologischer Mindeststandards beim Film. Sie schreiben ja selbst, dass es positiv ist, dass seitens der Kulturstiftung des Bundes nun erste größere Modellprojekte gestartet wurden, um an valide Daten zu Verbrauchen und Einsparungen im Bereich der Betriebsökologie zu gelangen. Und auch eine erste finanzielle Unterstützung des Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit ist ein richtiger Schritt.
Nach unserer Ansicht überschneiden sich aber die Aufgabenbereiche des von der BKM geschaffenen Aktionsnetzwerkes mit Ihren Vorschlägen zum Green Culture Desk. So sind im Nachhaltigkeitsbericht eine zentrale Anlaufstelle, der Aufbau von Expertenwissen und Beratungsangebote schon enthalten.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns zurzeit in einer nicht nur für die Kunst und Kultur dramatischen Krise, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Es muss uns doch jetzt vor allem um das Überleben der Kunst- und Kulturszene gehen, was angesichts der andauernden, notwendigen Pandemiemaßnahmen schwer genug ist. Ein Programm wie „Neustart Kultur“ soll in erster Linie Kulturschaffenden aus der existenziellen Not helfen. Da fände ich es ziemlich schwierig, das an neue Bedingungen zu knüpfen. Möglichst niederschwellig sollen die Hilfen ganz schnell dort ankommen, wo sie so dringend gebraucht werden.
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Ein letzter Punkt. Die Initiierung einer umfassenden künstlerischen Auseinandersetzung zum Thema Klimawandel durch die Beauftragte für Kultur und Medien, also quasi von oben, widerspricht nach Auffassung meiner Fraktion dem Grundsatz der Freiheit der Kunst.
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Es lässt sich eben nicht alles, auch bei einem wirklich wichtigen Anliegen wie dem Klimaschutz, staatlich verordnen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine persönliche Erklärung zu Tagesordnungspunkt 45 q: Warum? Um für Bürger Transparenz zu schaffen, was die Terminplanung für das Jahr 2022 des Deutschen Bundestages und die Sitzungswochen in diesem Jahr angeht. Das ist ein Thema, das die Altfraktionen in diesem Hause im Ältestenrat am liebsten abschließend behandelt und beerdigt hätten. Offenbar ist ihnen das peinlich.
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Die Zwischenrufe gerade am Anfang meines Redebeitrags sprechen dafür. Es ist ein Thema mit Brisanz.
Die Fakten: Das Jahr 2022 wird 52 Kalenderwochen haben. Wie viele davon sind Sitzungswochen? 21! Also: Lediglich 40 Prozent der Kalenderwochen sind Sitzungswochen, wobei eine Sitzungswoche – das muss man auch wissen – nicht von Montag bis Freitag geht, sondern von Mittwoch bis Freitag,
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also nur drei Fünftel, nur 60 Prozent der Woche umfasst.
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Das heißt: Wenn nur 40 Prozent der Wochen Sitzungswochen sind und in den Wochen nur an 60 Prozent der Tage Sitzungen stattfinden,
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dann möchten die Parlamentarier der Altparteien lediglich etwa 25 Prozent ihrer Zeit in Berlin verbringen. Das scheint Sie alle sehr aufzuregen.
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Das ist genau der Punkt, warum ich hier dazu rede. So weit, so schlecht.
Übrigens: Im Januar und im Februar – acht Kalenderwochen – sind nur drei Sitzungswochen vorgesehen. Warum? Sie ziehen es vor, drei Wochen Karnevalsferien zu machen. Fasching ist Ihnen offenbar lieber als der Parlamentarismus. Wir von der AfD arbeiten da anders.
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Sie müssen sich mal daran gewöhnen, dass die Bonner Republik passé ist. Die Berliner Republik ist angesagt, und da sollte auch über die Faschingszeit hinweg gearbeitet werden.
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So lange, so gut, so schlecht.
Übrigens: Acht Wochen lang finden gar keine Sitzungen statt, im Zeitraum vom 9. Juli bis 4. September. Man gönnt sich acht Wochen Sommerpause. Argument: Die Wahlkreisarbeit! 31 Wochen im Jahr sollten für die Wahlkreisarbeit zur Verfügung stehen.
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Das ist ja per se nichts Schlechtes, das gestehe ich Ihnen zu.
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Aber schauen Sie sich mal viele Abgeordnete unserer Freunde in der CDU/CSU an: Die kommen in 31 Wochen Abwesenheit aus Berlin auf ganz dumme Ideen und werden plötzlich korrupt. Offenbar hatten sie zu viel Freizeit, was auch dafür spricht, dass mehr Zeit in Berlin verbracht werden sollte.
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Meine Damen und Herren, wir als AfD stehen für Parlament statt Fasching. Wir stehen für Präsenz in Berlin statt Korruption.
Was haben wir gefordert? Was erzeugt diese Aufregung hier? Was bringt diese Wallung hier in diesem Saal? Wir wollten maßvolle zwei Sitzungswochen mehr.
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Sie wollen 21 Sitzungswochen, wir wollten 23. Wir haben mit unserem Vorschlag im Ältestenrat auf Granit gebissen. Sie wollen lieber Winterurlaub und Skiurlaub machen wie seit 30 oder 40 Jahren. Sie wollen eine Faschingspause von drei Wochen. Acht Wochen Sommerpause sind Ihnen wichtig. Uns von der AfD ist das völlig unverständlich angesichts der Herausforderungen, vor denen dieses Land steht.
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Deshalb lehnen wir – ich rede ja hier für mich; aber ich denke mal, meine Fraktion wird das genauso sehen – diese Schmalspurterminplanung ab. Im Übrigen hat das auch nachteilige Auswirkungen auf die Mitarbeiter dieses Hauses. Heute bzw. morgen sitzen wir hier wieder bis 5 Uhr.
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Eine maßvolle Erhöhung der Sitzungswochen würde dazu dienen, auch die nächtlichen Sitzungszeiten einzuschränken. Deshalb lehnen wir Ihre Schmalspurterminplanung ab und bitten Sie, noch mal in sich zu gehen, ob es nicht auch 23 statt 21 Wochen sein können.
Vielen Dank.
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Zu einer weiteren Erklärung zur Abstimmung hat die Kollegin Britta Haßelmann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche sicherlich auch im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, der Fraktionen der Linken, der SPD, der Grünen, der CDU/CSU und der FDP, wenn ich sage:
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Wir haben diese Verächtlichmachung demokratischer Institutionen und des Parlamentes einfach satt.
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Dem stellen wir uns klar entgegen.
Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren gemerkt: Das hat Methode, und das ist grenzenlos. Es gibt da keinen Anstand. Es gibt auch keinen Respekt vor dem Parlament, vor der Arbeit der vielen Abgeordneten hier im Haus, die mit großer Leidenschaft, mit großer Überzeugung und persönlichem Einsatz
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ihre Aufgaben erledigen und ihrer Arbeit als Abgeordnete, als gewählte Vertreter/-innen von Bürgerinnen und Bürgern hier in Berlin und in ihrem Wahlkreis zu Hause, vor Ort in ihrer Region, nachgehen. Dass Sie das mit Verachtung strafen, das sieht man jeden Tag in jeder Sitzungswoche aufs Neue.
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Meine Damen und Herren, wir müssen uns da nicht verstecken.
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Ich kenne viele von Ihnen, und ich bin in vielen inhaltlichen und sachlichen Fragen anderer Auffassung als Sie. Aber ich weiß, dass so viele von uns sich für diese Demokratie, für diese parlamentarische Demokratie, einsetzen,
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sich dafür starkmachen und ihre Arbeit hier in Berlin tun.
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– Hören Sie doch einfach auf mit dieser Methode! Wer eine solche Arbeitshaltung hat wie Sie, Brandner, der braucht sich hier vor niemandem, wirklich vor niemandem zu zeigen!
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Meine Damen und Herren, dies ist ein Arbeitsparlament. „Arbeitsparlament“ bedeutet: Heute tagen wir im Plenum des Deutschen Bundestages, so wie immer am Mittwoch, am Donnerstag und am Freitag. Und selbstverständlich – anders als die AfD es hier weismachen will – sind die Abgeordneten auch montags und dienstags hier aktiv bei der Arbeit,
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ob in Videokonferenzen von zu Hause aus oder hier in ihrem Büro. Ich weiß nicht, was für eine Arbeitshaltung bei der AfD dahintersteckt, meine Damen und Herren.
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Anscheinend eine ganz schlechte, wenn man glaubt, die Arbeit einer oder eines Abgeordneten beschränkt sich nur auf die Präsenz an Plenartagen. Das ist nämlich nicht der Fall. Kein Wunder, dass wir nur mit schlechten Vorlagen aus Ihrer Fraktion konfrontiert sind – wenn überhaupt eine Haltung erkennbar ist. Wer die Auffassung hat, Plenarsitzungswoche bedeutet Mittwoch, Donnerstag und Freitag, hat etwas nicht verstanden
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und glaubt, die Abgeordnetentätigkeit sei ein Halbtagsjob, meine Damen und Herren.
Und warum 21 Sitzungswochen? Weil klar ist, dass die andere Zeit natürlich auch im Wahlkreis gearbeitet wird. Vor Ort im Wahlkreis Unternehmen, Initiativen, Verbände zu besuchen und Bürgergespräche zu führen, hier zu Fachgesprächen zusammenzukommen, Sachverständigenanhörungen des Deutschen Bundestages durchzuführen: All das gehört zu unserer Arbeit, genauso wie die Präsenz in Ausschüssen und in Untersuchungsausschüssen. Wenn Sie uns hier im Plenum nicht sehen, dann sitzen wir vielleicht in einem Ausschuss oder in einem Untersuchungsausschuss oder in einer Sachverständigenanhörung.
Kollegin.
All das gehört zur Parlamentsarbeit dazu, und die leisten wir hier mit ganz großer Intensität und Überzeugung in den 21 Sitzungswochen. Die andere Arbeit findet dann vor Ort im Wahlkreis statt. Das ist richtig und vertretbar. Und deshalb werden wir heute zustimmen – ich auch. Dieser Vorschlag für den Sitzungsplan –
Kollegin!
– wird von allen anderen demokratischen Fraktionen getragen.
Vielen Dank.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Russland lässt uns nicht los, und das aus sehr ernstem Grund. Die russische Führung tritt zunehmend aggressiv auf, betreibt insbesondere gegen Deutschland üble Desinformationskampagnen, setzt den kritischen Teil der russischen Zivilgesellschaft massiv unter Druck und destabilisiert eine gesamte Region.
Erst vor wenigen Wochen haben wir an dieser Stelle, hier im Parlament, über Russland gesprochen, damals aus Anlass des inakzeptablen Umgangs der russischen Regierung mit Alexej Nawalny und weiteren Andersdenkenden. Herr Nawalny wurde am Montag zwar in ein Krankenhaus verlegt, aber unsere ernste Sorge um seine Gesundheit bleibt, zumal wir hören, dass ihn bislang kein Arzt seines Vertrauens besuchen oder behandeln darf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist inhuman und gefährdet Gesundheit und Leben von Alexej Nawalny.
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Nawalnys Inhaftierung widerspricht zudem Russlands völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und ist unzulässig. Alexej Nawalny muss unverzüglich freigelassen werden genauso wie die weit über 1 000 Menschen, die gestern in Russland bei Demonstrationen für seine Freilassung bzw. für bessere Haftbedingungen festgenommen wurden. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.
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Wir werden uns ebenso dafür einsetzen, dass Russland den schweren Giftanschlag auf Nawalny auf russischem Boden vollumfänglich aufklärt und die Täter endlich zur Rechenschaft zieht. Der Einsatz chemischer Waffen ist ein weiterer fundamentaler Verstoß gegen internationales Recht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Russland verhält sich gegenüber der Ukraine zunehmend aggressiv. Die russische Führung gefährdet damit Frieden, Stabilität und Souveränität nicht nur der Ukraine, sondern der gesamten Region. Seit Ende März gibt es massive russische Truppenbewegungen in der Nähe der russisch-ukrainischen Grenze sowie auf der illegal annektierten Krim. Anders als die russische Seite behauptet, sind diese Bewegungen in ihrer Art und Anzahl eben nicht routinemäßig.
Besonders beunruhigend ist die damit verbundene rhetorische Zuspitzung seitens ranghoher Vertreter der russischen Regierung. So wird etwa vor einer geplanten Eskalation seitens der Ukraine gewarnt. Hierauf müsse Russland zwangsläufig reagieren, um die russischsprachige Bevölkerung im Donbass auch militärisch zu schützen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese faktenfreie Behauptung gibt es keinerlei Grundlage. Es gibt keine Hinweise auf ukrainische Planungen für eine Offensive gegenüber den abtrünnigen Gebieten im Donbass. Ukrainische Regierungsvertreter, aber auch der Generalstabschef haben wiederholt klargestellt: Die Ukraine plant keine militärischen Aktionen, sondern sie arbeitet weiter an einer diplomatischen Lösung des Konflikts.
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Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Russlands Präsident Putin zu einem bilateralen Treffen eingeladen. Für diese konstruktive und verantwortungsvolle Haltung in dramatischen Zeiten bin ich sehr dankbar.
Russland muss nun seinen eigenen substanziellen Beitrag für einen Abbau der Spannungen leisten. Daran arbeitet die Bundesregierung gemeinsam mit ihren europäischen und internationalen Partnerinnen und Partnern. Die Bundeskanzlerin hat Präsident Putin zu einem Rückzug der Truppen von den Grenzen der Ukraine aufgefordert, und es scheint inzwischen auch Bewegung auf der russischen Seite zu geben. Ich hoffe, dass den heutigen Ankündigungen auch konkrete Taten folgen werden.
Eine weitere wichtige Rolle bei der Deeskalation sollte auch die OSZE spielen. Das setzt aber eine konstruktive Haltung Russlands voraus.
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Wir begrüßen, dass die Ukraine den entsprechenden Mechanismus des Wiener Dokuments aktiviert hat, und ich bedaure es sehr, dass Russland die Chance bislang wiederholt vertan hat, Transparenz über seine Truppenbewegungen zu schaffen und somit ein notwendiges Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass Russland seine Verpflichtungen im OSZE-Rahmen einhält und für Klarheit sorgt. Wir erwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen, von Russland keine generöse Geste, wir erwarten auch nicht etwas Unzumutbares. Wir erwarten schlicht die Einhaltung dessen, wozu sich Russland als Mitgliedsland der OSZE verpflichtet hat.
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Seit 2014 setzt sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich im Normandie-Format für eine Beilegung des Konflikts in der Ostukraine ein. Auch wenn die Verhandlungen oft mühsam und nicht frei von Rückschlägen sind, sehen wir durchaus Erfolge. So hat der Waffenstillstand vom Juli 2020 zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der an der Kontaktlinie getöteten Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten geführt. In den vergangenen Wochen ist der Waffenstillstand jedoch immer wieder gebrochen worden. Seit Anfang Januar wurden 37 ukrainische Soldaten und 9 Zivilisten und Zivilistinnen getötet – ein trauriger Höchststand! Mit unseren französischen Partnern sind wir uns einig: Im Zentrum der Bemühungen müssen nun die Deeskalation und eine Stabilisierung des Waffenstillstands stehen.
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Mit diesem Einsatz stehen wir nicht allein. Erst am Montag haben sich die EU-Außenministerinnen und -Außenminister mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Kuleba ausgetauscht. Die territoriale Integrität der Ukraine muss von Russland anerkannt werden. Sie ist für uns nicht verhandelbar.
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Wir unterstützen den besonnenen Kurs der ukrainischen Regierung und nicht zuletzt auch die wichtigen Reformschritte der vergangenen Monate. Gerade Fortschritte im Bereich der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit sind weitere Meilensteine auf dem europäischen Weg des Landes. Aber weitere müssen folgen, und dabei unterstützen wir das Land so gut es irgend geht.
Die Notwendigkeit genau dieses Dreiklangs, liebe Kolleginnen und Kollegen – Deeskalation, Solidarität mit der Ukraine und Reformen –, haben wir im Kreis der G 7 und der NATO bekräftigt. Dabei ziehen wir alle Instrumente unseres diplomatischen Instrumentenkastens in Erwägung. Diskussionen über weitere Sanktionen gegen Russland, wie sie teilweise gefordert werden, sind nachvollziehbar, leisten aber unseres Erachtens aktuell keinen Beitrag zur Lösung der Krise. Aus Sicht der Bundesregierung ist klar: Wir werden gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern keine Möglichkeit für eine diplomatische Lösung ungenutzt lassen.
Aber lassen Sie mich hier auch über die Grenzen unseres Bemühens offen sprechen. Der Schlüssel für einen Abbau der Spannungen liegt in Moskau. Moskau muss seinen aggressiven Kurs beenden. Wir fordern eine rhetorische Deeskalation von der russischen Seite und endlich vollumfängliche Transparenz über die militärischen Bewegungen im Umfeld der Ukraine.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Differenzen zwischen uns und Russland sind fundamental. Aber das darf uns im direkten Umgang mit Moskau nicht sprachlos werden lassen.
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Natürlich haben wir ein großes Interesse an einem besseren Verhältnis zu Russland. Das haben wir der russischen Seite bilateral und auch im Rahmen der EU immer wieder deutlich gemacht. Zahlreiche Kooperationsangebote liegen längst auf dem Tisch, aber zum Tango gehören eben immer auch zwei. An Gesprächskanälen und ‑foren mit Russland mangelt es nun wahrlich nicht.
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Es gibt in Moskau derzeit leider kaum Bereitschaft, diese für einen offenen, ehrlichen, faktenbasierten Dialog zu nutzen. Moskau muss sich nun erklären und uns sagen, wie es zu unseren Angeboten steht. Wir schlagen keine Türen zu.
Wir haben uns gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, in der NATO, im Europarat und in der OSZE für den zugegebenermaßen schwierigeren Weg entschieden: möglichst belastbare Kanäle für die gemeinsame Lösung der Probleme offenhalten und im direkten Umgang mit Moskau Klartext reden. Dabei dürfen wir uns jedoch nicht spalten lassen. Nur aus Zusammenhalt und Teamgeist wachsen Stärke und die Chance auf Veränderung zum Besseren.
Vielen Dank.
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Auf der Ehrentribüne hat Seine Exzellenz, Herr Dr. Melnyk, der Botschafter der Ukraine, Platz genommen. – Ich begrüße Sie herzlich.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Botschafter! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Operation Sturm, Bergkarabach, Ostukraine. Das ukrainische Vorgehen im Donbass erinnert an einige historische Vorläufer. Russland verhindert, dass es genau so endet. Bereits im Februar hat der ukrainische Präsident Selenskyj Truppen und schwere Waffen an der Konfliktlinie zusammengezogen. Der ukrainische Präsident hat mit fallenden Beliebtheitswerten zu kämpfen und macht einen auf starken Mann. Er schließt verfassungswidrig oppositionelle Fernsehsender, er blockt bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarung und provoziert Moskau, wo es nur geht.
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Die Russen antworten mit einer Demonstration der Stärke auf der Krim und an der russisch-ukrainischen Grenze.
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Bis hierher und nicht weiter, so die klare Ansage Richtung Kiew.
Doch nicht nur die Ukraine ist gemeint. Das russische Signal, symbolisiert durch die Militärübungen an der Grenze, gilt natürlich auch Washington und London. Während Washington Kriegsschiffe ins russisch dominierte Schwarze Meer schickt, um sie dann wieder zurückzubeordern und allgemein nach der Devise „Zuckerbrot und Peitsche“ verfährt, ist London fest entschlossen, Stärke zu zeigen und ebenfalls maritimes Kriegsgerät ins Schwarze Meer zu entsenden.
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Zugleich läuft ab dem 1. Mai das US-Manöver Operation Defender unter Beteiligung von 430 deutschen Soldaten. Zielländer sind der Schwarzmeeranrainer Rumänien und sein Nachbar Ungarn.
Das alles braut sich zusammen zu einem gefährlichen Gemisch aus Ignoranz, ungewollter Eskalation und rhetorischen Gebärden auf beiden Seiten. Die entscheidende Frage wird sein, ob Washington die von ihm völlig abhängige Ukraine im Zügel halten will oder Selenskyj die Pferde durchgehen. Deshalb muss man das russische Signal der Truppenverstärkung und auch das angekündigte Ende der Übungen morgen richtig verstehen: nicht als Kriegsandrohung oder ‑erklärung, sondern als einen Schritt zur Deeskalation,
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der auch heiße Köpfe am Potomac und am Dnepr abkühlen sollte,
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zumal es im Falle einer Eskalation gerade die Kiewer Führung ist, die alles verlieren könnte. Säbelrasseln und Kriegsgeschrei sollte man daher lieber lassen.
Ein verantwortlicher Politiker, zumal ein Kanzlerkandidat, sollte sich schon gar nicht als Kriegstreiber gebärden. Genau das tut jedoch die grüne Möchtegernkanzlerin Baerbock, die schon wieder einen Bock abschießt. Kaum sind die Kobolde recycelt, ist die Transatlantikerin Baerbock ganz vorne dabei, wenn es um Hetze gegen Russland geht. Deutschland brauche dringend eine klare außenpolitische Haltung gegenüber dem russischen Regime und natürlich schärfere Sanktionen gegen das böse System Putin. Mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr weltweit fordert die frisch gekürte grüne Spitzenfrau auch noch. Grüne und Pazifismus? Lange vorbei.
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Die AfD ist die neue Friedenspartei Deutschlands.
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Deutschland muss eine Vermittlerrolle zwischen Moskau und Washington, Moskau und Kiew einnehmen und sich für einen direkten ständigen Austausch von Militärs im NATO-Russland-Rat und zwischen Russland und den Vereinigten Staaten starkmachen. Ganz klar und unmissverständlich muss auch der Ukraine gesagt werden:
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Der Donbass ist ein integraler Teil der Ukraine – ja –, aber wenn ihr ihn wieder zurückgewinnen wollt, hilft keine Militäraktion, sondern die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen und das Gewinnen von Hearts und Minds der Bewohner des Donbass.
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Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Johann Wadephul das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dieser Rede wird einem deutlich, dass Russland selber gar keine Desinformationskampagne mehr zu initiieren braucht, sie hat ja die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag,
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um die Sachen wirklich auf den Kopf zu stellen.
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– Bitte, Herr Gauland?
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– Herr Gauland, Lautstärke ist kein Argument. Ich will Ihnen nur sagen: Ich vertrete auch öffentlich – das haben Sie in der Vergangenheit lesen können – absolut die Linie, die in unserer Großen Koalition breit getragen wird – im Übrigen auch von anderen Fraktionen getragen wird und von der Bundesregierung realisiert wird –, dass wir gute Beziehungen zu Russland wollen. Aber Sie haben auch schon an anderer Stelle den Versuch unternommen, deutsche Geschichte – das erleben wir hier wieder, diesmal die Ukraine betreffend – einfach umzuschreiben, wie es Ihnen passt. Herr Gauland, das lassen wir nicht zu.
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Russland hat völkerrechtswidrig, auch mit militärischen Mitteln, mit hybriden Mitteln, mit Mitteln der Desinformation Völkerrecht gebrochen und hat die Souveränität der Ukraine gebrochen. Das ist unverzeihlich.
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Wenn Präsident Putin in den vergangenen Tagen gesagt hat, er würde rote Linien setzen, dann kann ich nur sagen: Rote Linien setzen die internationale Gemeinschaft und das internationale Recht und nicht ein autoritär regierender Präsident.
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Das machen wir gemeinsam. Und Sie sind gut beraten, sich daran zu beteiligen und das zu unterstützen. Es war Russland selbst, das noch als UdSSR diese Nachkriegsordnung, die Ordnung des Friedens und der Rechtssicherheit, des Interessenausgleiches mit konstruiert hat. Die OSZE, von der der Staatsminister gerade vollkommen zu Recht gesprochen hat, ist in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden aus einer Politik der Verständigung, die auch Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung hier in Deutschland mit begonnen haben. Das war doch gut. Es wurde auch auf russischer, früher sowjetischer, Seite geschätzt, dass wir eine neue Rechtsordnung geschaffen haben und dass es dann nach dem Zerfall der Sowjetunion für die Ukraine Rechtssicherheit zu geben schien, indem niedergelegt wurde, die Ukraine verzichtet.
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Es war doch ein zivilisatorischer Sprung nach vorne, dass ein Staat auf Atomwaffen verzichtet und dafür Sicherheit und Souveränität garantiert bekommt. Dieses zu brechen, ist ein so dermaßen großer katastrophaler Fehler in Europa. Das darf man nicht hinnehmen. Das müssen wir verteidigen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. An der Stelle dürfen wir wirklich nicht wackeln und nicht weichen.
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Nein, wenn Präsident Putin sagt, der Westen ritte auf Russland herum, dann ist das falsch. Der Staatsminister hat die Beispiele genannt. Russland bricht immer wieder individuell – bei Nawalny, bei Skripal – Recht, internationales Recht. Den Tiergarten-Mord müsste man noch ansprechen. Russland hat Krankenhäuser und Zivilisten in Syrien bombardiert und unterhält Söldnertruppen in Libyen. Russland bricht internationales Recht, und Sie treten da sogar noch auf. Es sind Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion, die bei dem Machthaber Assad noch auftreten. Als es um die Friedenspartei ging, war es Ihnen wahrscheinlich schon unangenehm. Es sind Vertreter der Linkspartei, die nichts Besseres zu tun haben, als über Russland auf die Krim zu reisen und das durch ihre Anwesenheit zu legalisieren.
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Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Punkten müssen wir schon klar sein. Wir können die europäische Friedensordnung und Verständigung mit Russland, was wir wollen, nur verteidigen, wenn wir prinzipienfest sind.
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Deswegen: Es gibt keinen Anlass für diese Truppenmassierung. Es ist keine Übung. Es gibt keine Aggression: weder von einem NATO-Manöver noch von der Ukraine. Deswegen die klare Aufforderung des Deutschen Bundestages an Russland: Ziehen Sie diese Truppen ab, deeskalieren Sie, kehren Sie zurück ins Normandie-Format. Deutschland ist gemeinsam mit Frankreich bereit, hier zu vermitteln.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Alexander Graf Lambsdorff das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im September wird gewählt, und zwar nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern auch in Russland. Die Duma-Wahlen stehen vor der Tür, und die Nervosität im Kreml steigt mit jedem Tag. Die Opposition wird drangsaliert, NGOs diskriminiert, Nawalny inhaftiert. Man könnte glatt glauben, im Kreml denkt man, demokratische Kräfte stünden kurz vor einem großen Wahlsieg. Die Umfragen legen das nahe. Vor einem Jahr noch stand Jedinaja Rossija, die Partei des Kreml, bei 45 Prozent. Heute sind es noch 27 Prozent.
Gleichzeitig steigt die Zustimmung zu rechten und linken Kräften, zur Partei von Schirinowski, zu den Kommunisten. Die Opposition hat kaum Bewegungsfreiheit. Anhänger liberaler Parteien werden an der Wahl gehindert, ihre Registrierung wird unterbunden. Der demokratische Wettbewerb findet praktisch nicht statt. Trotzdem sehen wir eine Repression im Inneren, die ihresgleichen sucht. Warum? Weil der Lebensstandard sinkt, die Korruption unverändert ist, aber das Renteneintrittsalter steigt. Und, meine Damen und Herren, im Kreml hat man die Proteste vom Bolotnaja-Platz noch nicht vergessen, als eine Wahl schiefgegangen ist.
Jede legitime Opposition in Russland wird zur Agentin einer Farbrevolution gestempelt, zur Vollstreckerin des Willens der CIA, zu einer Feindin des russischen Volkes. Meine Damen und Herren, das ist falsch. Die Russinnen und Russen haben Demokratie verdient. Es ist ein großes Volk, das sich demokratisch auch selbst regieren kann, und dabei sollten wir es unterstützen.
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Aber zur Verteidigung gegen diese imaginären Feinde im Inneren kommt eben dann auch noch die Verteidigung gegen imaginäre Feinde von außen. In diesem Zusammenhang müssen wir den Aufmarsch der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Grenze zwischen Woronesch und Rostow sehen. Circa 120 000 Soldaten, gepanzerte Verbände, Infanterie, Artillerie, sogar Landungsboote aus dem Kaspischen Meer wurden verlegt, Lazarette gleich mit. Die Straße von Kertsch wurde gesperrt, das Asowsche Meer gleich mit. Die Häfen der Ukraine sind nicht länger zugänglich.
Angeblich beruht all das auf feindlichen Aktivitäten der NATO. Meine Damen und Herren, nein, es gibt dort keine feindlichen Aktivitäten der NATO. Punkt! Das sind Fake News, das ist Desinformation. Das ist das, was wir, lieber Herr Gauland, von Ihnen als Tatsache hören. Es sind keine Tatsachen. Es sind Falschbehauptungen. Schluss. Ende der Durchsage. Das ist russische Desinformation.
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Das Ziel ist doch ein ganz anderes: Russland will die souveräne Ukraine einschüchtern. Es will bekräftigen, dass im nahen Ausland die Staaten nur eine eingeschränkte Souveränität haben. Wir können nicht ausschließen – wir können es bis heute trotz der Ankündigung von Verteidigungsminister Schojgu nicht ausschließen –, dass es unter Umständen sogar die Vorbereitung einer militärischen Invasion ist. Die Fähigkeiten jedenfalls sind da.
Nun hat gestern Präsident Putin in seiner Poslanije, der Rede zur Lage der Nation, rote Linien gezogen. Ich will mit Genehmigung der Präsidentin mal zitieren, was er hier gesagt hat:
Organisatoren jedweder Provokationen, die die Kerninteressen unserer
– also der russischen –
Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten so bereuen, wie sie lange nichts bereut haben. … Aber ich hoffe, dass niemandem in den Sinn kommt, Russland gegenüber die sogenannte rote Linie zu überschreiten. Wo sie verläuft, werden wir in jedem konkreten Fall selbst entscheiden.
Meine Damen und Herren, das Ziel ist klar: Es geht hier darum, Unberechenbarkeit zu schaffen, Willkürpolitik zu betreiben, Regellosigkeit zu etablieren, das Recht des Stärkeren an die Stärke des Rechts zu setzen. Das werden wir nicht akzeptieren.
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Wir halten uns an das Völkerrecht, an die Charta der Vereinten Nationen, an die Schlussakte von Helsinki, an die Europäische Menschenrechtskonvention. Das sind alles Dokumente – es ist hier gesagt worden –, die Russland unterschrieben hat. Wir verlangen von Russland nichts, was Russland nicht selber unterschrieben hat, und wir werden Moskau immer wieder daran erinnern, meine Damen und Herren.
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Gewaltverzicht zwischen Staaten, Grenzverschiebungen – wenn überhaupt, dann nur im Konsens – und die Grund- und Menschenrechte gelten. Dazu gehört auch der Respekt vor Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,
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der die Freilassung von Alexej Nawalny verlangt hat. Unsere roten Linien sind die blaue Tinte, mit denen all diese Dokumente unterschrieben wurden.
Wie sollen wir jetzt reagieren, meine Damen und Herren? Erstens. Unsere Solidarität gilt der Ukraine. Zweitens. Das Normandie-Format muss wiederbelebt werden. Drittens. Außenminister Maas hat verlangt, dass wir in der NATO eine geschlossene Position einnehmen, und gleichzeitig den Weiterbau von Nord Stream 2 verkündet. Ja, was denn nun? Skandinavier, Balten, Polen, Franzosen, der amerikanische Kongress, das Europaparlament, alle sind der Meinung, es handele sich hierbei um ein geopolitisches Projekt zum Nachteil der Ukraine.
Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf: Entwickeln Sie eine geschlossene Position innerhalb der Bundesregierung, bevor Sie die NATO-Verbündeten zu einer geschlossenen Position selber aufrufen. Wir brauchen ein Moratorium für Nord Stream 2. Wir wollen, dass Russland seine Politik ändert. Wenn es das tut, ist es uns als Mitglied der europäischen Völkerfamilie wieder herzlich willkommen.
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Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Kriegsgefahr in der Ukraine wächst tatsächlich, und die Linke setzt sich dafür ein, dass sich sowohl ukrainische als auch russische Truppen zurückziehen und wir zur Deeskalation zurückkommen.
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Wer sich aber die Äußerungen der Bundesregierung anhört und auch – das muss ich sagen – Ihre Rede, Herr Roth, der fühlt sich doch eigentlich unwillkürlich an das Bibelwort erinnert: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?
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Wenn man so einseitig, Herr Roth, den russischen Aufmarsch kritisiert, dann muss man sich doch auch mal einige andere Fragen stellen, zum Beispiel wie das größte US-Manöver seit Jahrzehnten in Osteuropa, Defender Europe 21, das jetzt aktuell mit NATO-Unterstützung stattfindet, mit 30 000 Soldaten, an dem auch die Bundeswehr und ukrainische Soldaten sich beteiligen, in Russland wahrgenommen wird. Wie wird es wahrgenommen, wenn Deutschland durch das Trainieren schneller US-Truppenverlegung von der West- an die Ostflanke der NATO Krieg übt gegen Russland? Wie wird die NATO-Reforminitiative 2030 aufgenommen, die Russland als die größte militärische Bedrohung für die NATO beschreibt? Und wie wird der NATO-Aufmarsch im Schwarzen Meer wahrgenommen, der jetzt durch britische Kriegsschiffe noch verstärkt werden soll? Wie wird die Aufrüstung der Ukraine durch die USA und durch Erdogan mit Kampfdrohnen wahrgenommen und wie das Dekret des ukrainischen Präsidenten Selenskyj vom 24. März, die Krim und die Ostukraine militärisch zurückerobern zu wollen, wie seine Forderung nach einem schnellen NATO-Beitritt als direkter Nachbar Russlands? Wie wird all das aufgenommen? Wie werden die Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Deutschland aufgenommen, sich unter Bruch des Atomwaffensperrvertrags Atomwaffen besorgen zu wollen? Und wie wird das Dekret der Ukraine von Anfang des Jahres aufgenommen, das den Gebrauch der russischen Sprache im öffentlichen Raum, zum Beispiel auch in Geschäften, zurückdrängen soll, und wie die Maßgabe der ukrainischen Regierung, sich nicht mehr an das Minsker Abkommen zu halten und die Rechte der Minderheiten in der Ukraine weiter beschneiden zu wollen?
Wer über all diese Fragen nicht reden will, der kann auch nicht glaubwürdig die russische Seite auffordern, zu deeskalieren.
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Entspannungspolitik kann nur gelingen, wenn Sicherheitsinteressen, die auf beiden Seiten bestehen, auch gegenseitig anerkannt werden. Angesichts der globalen Herausforderung der Pandemie, aber auch des Klimaschutzes – und da ist der heutige Gipfel ja ein positives Beispiel – können wir uns keinen neuen kalten Krieg leisten. Der Feind heißt doch nicht Russland, sondern Corona.
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Wir müssen doch jetzt alles darauf konzentrieren, dass es eine Truppenentflechtung gibt und eine Rückkehr sowohl der russischen als auch ukrainischen Truppen in die Kaserne. Da ist es ein Hoffnungsschimmer, dass an diesem Montag der Waffenstillstand in der Ukraine vom Normandie-Format bekräftigt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich den Vorschlag des ukrainischen Präsidenten Selenskyj für ein bilaterales Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Warum unterstützen und befördern wir diese Angebote nicht stärker?
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Reden statt drohen, das muss doch unser gemeinsames Interesse sein.
Hier sehen wir leider viel zu wenig bilaterale Initiativen der Bundesregierung. Stattdessen wird wieder neuen Sanktionen das Wort geredet; ganz vorne dabei neben der Union leider auch die Grünen. Und es gibt dann für immer neue Sanktionen immer neue Begründungen. Das ist doch keine Kunst der Konfliktlösung; das ist immer nur Eskalation. Man stelle sich nur einmal vor, wir würden so gegenüber den USA Politik machen. Dann müssten wir sofort Sanktionen wegen des Weiterbetriebs des US-Folterlagers in Guantánamo verhängen.
({5})
Und wir müssten mit Blick auf den strukturellen Rassismus staatlicher Institutionen in den USA umgehend Strafmaßnahmen gegen einzelne Personen dort verhängen.
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Warum können wir uns gegenüber Russland nicht einmal von der Logik der Konfrontation verabschieden?
Meine Fraktion hat vorgeschlagen, anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni endlich, wie mit Frankreich, einen Freundschaftsvertrag mit Russland zur historischen Aussöhnung abzuschließen, zum Beispiel, um den Jugendaustausch, Städtepartnerschaften und wirtschaftliche Kooperationen zu verstärken und für ein System beidseitiger Sicherheit in Europa den vertraglichen Boden neu zu bereiten. Die historische Aufgabe der Aussöhnung mit der russischen Föderation und mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken steht noch aus. Es wäre ein gravierendes Versagen in der Geschichte, wenn die Bundesregierung sich dieser Aufgabe verweigert.
Danke.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
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Frau Präsidentin! Als ich die Rede vom Kollegen Friesen gehört habe,
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habe ich gedacht: Anscheinend waren diese Truppenverlegungen des russischen Oberkommandos in den letzten Wochen für Sie auch nur eine Art „Vogelschiss“. So kam es mir zumindest vor.
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– Sehen Sie, ich habe hart getroffen. – Man muss das schon mal sagen:
({2})
Da wird eine Truppe mit Hunderttausend Mann, Artillerie, Landungstruppen, Panzern direkt an die Grenze verlegt – dabei geht es auch um das Kräftegleichgewicht im Schwarzen Meer, faktisch die Sperrung der Straße von Kertsch –, und Sie halten hier eine Rede, als würde das nicht stattfinden. Wenn man das dann zu kritisieren wagt, Herr Gauland, dann spielen Sie hier den beleidigten, armen, braven Bürger. Was Sie in echt sind, ist eine Partei, die die Augen davor verschließt, was in der Welt passiert, und das korrumpiert offensichtlich Ihre politische Meinung zu Opfern gegenüber deutschen Interessen.
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Sie vertreten nicht deutsche und europäische Interessen.
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Ihr Redner hat sich hier für die Interessen des Kremls starkgemacht.
Wenn ich Ihnen das auch noch aus ganzem Herzen sagen darf: Sie vertreten noch nicht einmal russische Interessen. Sie vertreten die Interessen der korrupten Machtclique im Kreml, mit der Sie so gerne konferieren,
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mit der Sie exklusive Kaffeetermine machen – das ist die Realität –, anstatt sich hier um unser Land zu kümmern. Gucken Sie doch nur, was Ihnen Herr Lawrow aufschreibt bzw. sein Team. Wahrscheinlich macht das nicht Herr Lawrow persönlich; der nimmt Sie, so wie Sie arbeiten, glaube ich, auch nicht ernst.
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Ich möchte Staatsminister Roth danken für die Rede, die er hier gehalten hat. Ich möchte auch sagen: Es war wichtig, klarzustellen, dass von ukrainischer Seite in den letzten Wochen und Monaten keine Truppenverlegungen in den Osten stattgefunden haben.
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Diese Klarheit ist wichtig. Ich möchte dann aber auch sagen: Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung in der ersten Pressemitteilung zu diesem Vorgang nicht in der Lage war, das gleich wiederzugeben, sondern einfach plump beiden Seiten eine Deeskalation angeraten hat. Die Realität an der Kontaktlinie ist richtig beschrieben. Beide Seiten sind angehalten, nicht zu eskalieren. Die Einhaltung des Waffenstillstands von beiden Seiten verhindert Tote und Verletzte. Aber der Krieg, dieser Krieg kann nicht dadurch beendet werden, liebe Heike Hänsel, dass die ukrainischen Kräfte aus den Schützengräben in die Kasernen zurückgehen, leider nicht. Sonst wäre da kein einziger Ukrainer mehr. Niemand in der Ukraine will Krieg. Dieser Krieg kann nur beendet werden, indem Herr Putin den von ihm geführten sogenannten Volksrepubliken den Stecker zieht.
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Das ist der einzige Weg dafür. Das wünschen wir uns alle.
Ich möchte es ganz persönlich sagen: Meine Kinder sind vier und sechs Jahre alt, und sie wünschen sich ein Haustier. Wenn man Geschichten von Kindern, die an der Kontaktlinie leben, liest, erfährt man, dass sie sich keine Haustiere mehr wünschen: Wenn die aus dem Haus über den Zaun in den Wald gehen, kommen die nicht zurück. Dann macht es bumm, weil die Gegend vermint ist. – Das ist die Konsequenz eines Interventionskrieges, den Herr Putin wollte, den wir nur gemeinsam lösen können, den wir auch nicht ohne die ukrainische Seite lösen können; aber die Verantwortung dafür hat Herr Putin. Diese Wahrheit auszusprechen, das wünsche ich mir einfach von euch.
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Und bevor ich hier unfair werde, möchte ich Folgendes sagen: Kollege Wadephul, wenn ich mir angucke, was mit Nawalny passiert – Herr Lambsdorff hat es gesagt –, erwartet der alte Marxist in mir: Jetzt kommt die goldene Stunde der Union, jetzt kann man mal richtig draufhauen.
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Und was sehe ich dann? Herr Kretschmer sitzt bei Herrn Putin auf der Couch und spielt den Fiffi.
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Um das mal ganz klar zu sagen: Die russische Seite testet uns doch in dieser Übergangsphase. In dieser ausklingenden Ära Merkel testet sie uns: Wie weit kann man gehen? Wie reaktionsfähig ist diese Bundesregierung eigentlich noch? In der Situation, in der Herr Nawalny um sein Leben kämpft, in der Situation, in der Zehntausende in Moskau auf der Straße sind, in der Situation fährt ein CDU-Ministerpräsident nach Moskau und spielt dort den Fiffi. – Das schwächt uns, das schwächt Europa. Das erwarte ich nicht von der Union!
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Und bevor jetzt alle denken, der letzte mögliche Koalitionspartner für die Grünen wäre die FDP, möchte ich etwas ganz anderes sagen: Das Festhalten an Nord Stream 2 schwächt uns genauso.
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Ganz egal, was man darüber denkt, auch mit Blick auf das Klima, wir sehen doch, dass wir in dieser Situation einfach geschwächt werden durch diese Uneinigkeit.
Deswegen stehen wir zu einer klaren europäischen Position, stehen wir zu einer klaren und offenen Zusammenarbeit mit der Ukraine. Sagen wir, was ist in der Zusammenarbeit mit dem Kreml und mit Russland, mit Respekt, aber auch mit einer klaren Sprache.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Johann Saathoff für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation entlang der Ostgrenze der Ukraine sowie auch der Krim macht uns alle, ja, macht auch mir Sorgen. Zehntausende russische Soldaten befinden sich in Grenznähe zur Ukraine sowie auf der ukrainischen Krim, wofür es lange Zeit überhaupt keine plausible Erklärung von russischer Seite gab. In den vergangenen Tagen erreichten uns Berichte über Manöver russischer Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge im Schwarzen Meer, verbunden mit Sperrungen von See- und Luftgebieten.
Diese Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gefährlich. Sie birgt das Risiko, dass auch durch unbeabsichtigte Eskalation, durch Missverständnisse die militärische Eskalationsspirale in Gang gerät. Klar ist daher das Gebot der Stunde. Es heißt Zurückhaltung, Deeskalation, vertrauensbildende Maßnahmen, da, wo das möglich ist; oder auf Ostfriesisch: Ik raa Di, bedahr Di.
Die Ukraine hat in dieser Hinsicht sehr früh wichtige Signale der Deeskalation gesetzt. Die Regierung in Kiew wie auch die militärische Führung bekennen sich weiterhin klar dazu, dass der Donbass-Konflikt allein auf diplomatischem und politischem Weg gelöst wird; Staatsminister Roth hat darauf eindrucksvoll verwiesen. Russland hat gesagt, es handle sich dabei um eine Übung. Es ist grundsätzlich aber gut, dass ein baldiges Ende dieser Übung angekündigt wurde. Daran, dass diese Ankündigung auch tatsächlich umgesetzt wird, daran wird sich Russland messen lassen müssen.
In dieser Situation ist es wichtig, Solidarität mit der Ukraine zu zeigen und sie zu unterstützen und zugleich in allseitigem Interesse Deeskalation und Transparenz zu erreichen. Es ist daher richtig, dass Deutschland die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine fest unterstützt und sich darin mit seinen Partnern in der EU, in der NATO und der G 7 einig weiß.
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Es ist ebenso richtig und wichtig, Russland auch dazu aufzurufen, in Wort und Tat zu deeskalieren. Ein Schritt dazu muss sein, Transparenz über die Truppenbewegungen herzustellen. Das ist eine internationale Verpflichtung, die Moskau im Rahmen der OSZE eingegangen ist. Eben in diesem Rahmen der OSZE hat die Ukraine Russland auf der Grundlage des Wiener Dokuments dazu aufgefordert, die unangekündigten umfangreichen Truppenbewegungen in Grenznähe sowie auf der ukrainischen Krim zu erklären. Genau dies – Deeskalation, Vertrauensbildung, Sicherheit für alle – ist ja Sinn und Zweck und Geist dieses Wiener Dokuments, zu dem sich auch Russland bekannt hat.
Bislang sind Russlands Reaktionen leider nicht sehr konstruktiv. Moskau bleibt aufgerufen, zur Kooperation zu finden. Es muss auch der russischen Führung klar sein, dass eine Eskalation nicht im russischen Interesse sein kann. Im Jahr 2014 waren es nicht zuletzt die Bemühungen der Bundesregierung, die eine weitere Eskalation verhindert und einen Weg zu einer diplomatischen Lösung aufgezeigt haben.
Es muss auch heute allen Akteuren klar sein: Der Konflikt im Donbass kann nur politisch und diplomatisch gelöst werden, und zwar durch die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarung. Das Angebot Deutschlands und Frankreichs steht: das Normandie-Format zu nutzen, um Deeskalation und Fortschritt in der Sache zu erreichen. Schließlich hielt seit Juli 2020 ein Waffenstillstand im Donbass, auch dank einer mutigen Initiative von Präsident Selenskyj. Seit Wochen wird dieser Waffenstillstand immer brüchiger. Immer wieder behindern insbesondere die Separatisten die Arbeit der so wichtigen OSZE-Beobachtermission.
Ich möchte hier betonen: Dieser Konflikt schwelt nicht an den Grenzen Europas, sondern mitten auf unserem Kontinent. Die Ukraine hat eine begeisternde Zivilgesellschaft, die ihr Land nach europäischem Vorbild gestalten will. Auch in Russland gibt es das Bedürfnis, weiterhin ein Teil dieses Europas zu sein, der für seine kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften respektiert wird. Russland gehörte seit eh und je zu diesem Europa. Das findet seinen Ausdruck auch darin, dass Russland Mitglied des Europarats und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist und sich so zu Verpflichtungen zu bekennen hat, die sich aus diesen beiden Mitgliedschaften ergeben. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwarten wir zu Recht, dass die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg in Moskau auch beachtet und umgesetzt werden.
Mit Blick auf die Situation entlang der russischen Grenze zur Ukraine, auf der ukrainischen Krim und dem Schwarzen Meer lautet unser Appell an Russland und das russische Volk: Pflegt keine Feindbilder und sucht Respekt nicht durch militärische Macht! Respekt und Vertrauen gewinnt man durch Zusammenarbeit, und es gibt so viele Felder der Zusammenarbeit: Medizin, Klima, Umweltschutz, Energietechnik usw. usf. Der Konflikt mit der Ukraine ist bereits eine europäische Tragödie. Diese darf nicht noch größer werden.
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Deshalb finde ich es richtig, dass wir nicht sagen: „Ihr müsst das machen, oder ihr müsst das machen“, sondern dass wir uns fragen: Was müssen wir eigentlich machen? Wir in Deutschland müssen vermitteln, wo immer dies möglich ist, trotz aller Ratschläge; denn wir tragen Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir tragen Verantwortung für den Frieden in Europa.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Liebe Zuschauer! Manchmal zeigt uns ein Blick in die Vergangenheit den Weg in die Zukunft. Bis in das 20. Jahrhundert hinein existierte eine kulturelle Einheit des europäischen Kontinents. Wir waren das wissenschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Zentrum der Welt.
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Die Einheit der europäischen Kultur zerbrach mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution in Russland.
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Der Zweite Weltkrieg brachte den endgültigen Abstieg Europas.
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Lag der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung im Jahr 1900 noch bei 25 Prozent, so beträgt er heute weniger als 10 Prozent, und er sinkt kontinuierlich weiter.
In Wirtschaft und Forschung sind wir inzwischen weit hinter die Vereinigten Staaten und Asien zurückgefallen. Auch politisch haben wir an Einfluss verloren. Im Europa westlich des ehemaligen Eisernen Vorhanges ist zudem ein rasanter Verfall der europäischen Kultur zu beklagen.
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Die heutige Aktuelle Stunde ist Symptom dieses Niederganges.
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Seit acht Jahren haben wir einen bewaffneten Konflikt mitten in Europa, der für viele zur Normalität geworden ist und mit dem wir uns heute nur deshalb wieder beschäftigen, weil er zu eskalieren droht. Die Bundesregierung hat fast immer eine unausgewogene, ideologisch eingefärbte Sicht auf diese Welt; Herr Staatsminister Roth hat uns heute dafür wieder ein sehr eindrucksvolles Beispiel geliefert. Der einseitige Fingerzeig auf russische Truppenbewegungen im Titel der von den Koalitionsfraktionen aufgesetzten Aktuellen Stunde ist hierfür ein Beispiel. Zu den gegenwärtigen Truppenbewegungen der NATO von rund 30 000 Soldaten hört man von der Regierung und von den Medien so gut wie nichts.
Wir leben heute in einem Klima der politischen Korrektheit und der repressiven Toleranz. Ihre Toleranz, meine Damen und Herren, endet doch sofort, wenn andere – wie wir – Ihrer Meinung nicht folgen.
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Das belegt auch wieder die heutige Debatte, und vor allen Dingen belegen das Ihre polemischen Zwischenrufe. Was nicht dem verordneten Zeitgeist in Deutschland entspricht, wird ausgegrenzt, unterdrückt und bekämpft.
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Das gilt für den Umgang mit den eigenen Bürgern genauso wie mit denen unserer europäischen Nachbarn: den Polen, den Ungarn und den Russen.
({7})
Hier werden ganz gezielt Zerrbilder geschaffen, aus denen dann Feindbilder entstehen.
({8})
Sie lassen es dann als legitim erscheinen, dem anderen mit Sanktionen den eigenen Willen aufzuzwingen. Und wenn das nicht hilft, dann glaubt man in Deutschland, verbieten und nach außen militärische Stärke zeigen zu müssen.
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Das war einmal anders, und wir als AfD-Fraktion arbeiten daran, dass es auch wieder anders werden wird.
({10})
Europa war in seiner nationalen Vielfalt einmal geeint und nicht in seinen Unterschieden getrennt. Es gab eine positive Neugier für diese Unterschiede, machen sie doch gerade den Reichtum unseres Kontinents aus. Europa war einmal mehr als ein gemeinsamer Markt und ein militärischer Brückenkopf der USA. Es war ein geistiger Entwurf, der die europäischen Völker auf Basis ihrer gemeinsamen Herkunft und Entwicklung verband, gegründet auf den zuerst in Griechenland entwickelten Grundsätzen der Demokratie, dem römischen Recht, der Renaissance und der Aufklärung, die leider wieder verloren zu gehen droht, und der Freiheitsliebe der Germanen.
({11})
Diese Freiheitsliebe verbindet uns mit den Ländern Osteuropas, die ihre Eigenständigkeit gegen viele Herausforderungen und nun auch gegen eine zentralistische Europäische Union verteidigen.
({12})
Wir wollen ein Europa der Vaterländer und den Rückbau der zentralistischen Union in eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie jahrzehntelang erfolgreich bestand.
({13})
Das Problem: Neben dem Verlust der Staatsidee ist zunehmend auch der Verlust der europäischen Idee zu beklagen. Als Konsequenz bleibt der europäische Raum auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer in zwei einander gegenüberstehende Lager geteilt.
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Dass diese Trennlinie nun durch die Ukraine verläuft, ist besonders dramatisch. Die Ursprünge Russlands liegen in Kiew. Die Bevölkerungen beider Länder sind durch unzählige familiäre Bande eng miteinander verbunden.
({15})
Hier wird gewaltsam getrennt, was zusammengehört. Wir dürfen auf gar keinen Fall den Stimmen derjenigen folgen, die nun die letzten Brücken einreißen und weiter an der Spirale militärischer Eskalation drehen möchten.
Aus den Trümmern eines dritten großen Krieges wird Europa nicht wiederauferstehen. Wir brauchen daher dringend einen Neustart in Europa unter Einbeziehung Russlands. Auf Dauer wird es Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland geben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eines gleich vorwegsagen, lieber Herr Kollege Sarrazin: Die Eröffnung der Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Moskau darf nicht verbunden sein mit einer romantischen Russlandvorstellung. Wir gehen fest davon aus, dass ein Ministerpräsident aus dem föderalen Deutschland Themen anspricht, die die unmittelbaren Nachbarn von Sachsen – wie Tschechien, Polen oder die Slowakei – bewegen: die permanente Luftraumverletzung durch russische Flugzeuge oder auch der Druck auf russische Minderheiten im Baltikum.
Und ich möchte an dieser Stelle sehr deutlich machen, dass wir gegenwärtig erleben, wie in dieser Aktuellen Stunde Geschichtsklitterung versucht wird durch die Nationalisten von rechts und die sogenannten Internationalisten von links.
({0})
Aber was wir gerade gehört haben, ist sehr bedenklich, weil hier ein Geschichtsbild propagiert wird, das zwischen 1931 – Rapallo – und 1941 eine Rolle gespielt hat. Das wollen wir nicht.
({1})
– Es wurde vorbereitet früh in den 30er-Jahren.
Worauf es uns doch ankommt – und der Botschafter der Ukraine beweist das ja mit seiner Anwesenheit –, ist Solidarität mit der Ukraine. Kein Wort von dieser Seite des Hauses, dass 2 Millionen Menschen in der Ukraine seit 2014 binnenvertrieben sind, Polen über 1 Million Ukrainer aufgenommen hat, dass über 12 000 Menschen diesem Krieg zum Opfer gefallen sind und über 40 000 Menschen verletzt wurden. Das sind die Folgen der russischen Okkupation der Ostukraine, der russischen Besetzung der Krim. Das ist das, was gerade unsere Verunsicherung und die Gefährdung des Friedens ausmacht: Menschenrechtsverletzungen, Tötungen und die gesamte Frage von völkerrechtswidrigem Verhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Russland hat bewusst die Selbstverpflichtung und die Werte der Charta von Paris, der OSZE, des Europarates und des Budapester Memorandums aufgehoben, ausgehebelt und verletzt. Sie könnten durch Anzeige gemäß Artikel 16 des Wiener Dokuments sehr deutlich machen, dass sie Übungen abhalten, um die Streitkräfte in Form zu halten. Aber all das machen sie nicht; denn sie verfolgen drei Optionen der Verunsicherung: erstens das Zeichen, dass sie die Ukraine gefährden; zweitens dass sie in die Ostukraine einmarschieren könnten, und drittens – das haben vorhin Herr Kollege Wadephul, Herr Kollege Sarrazin und auch Herr Staatsminister Roth angesprochen – dass die Gefahr eines Abschneidens der Ukraine von ihren Seewegen im Schwarzen Meer droht.
Dieses Verhalten Russlands ist bewusst gewählt, und es hat sicherlich innenpolitische Gründe; denn zurzeit gehen in über hundert Städten Russlands Zehntausende auf die Straße und kämpfen nicht nur für Meinungsfreiheit, sondern sie kämpfen auch für die Freiheit eines Todkranken: für Nawalny. Die russische Zivilgesellschaft weiß sehr wohl, was der russische Staat in den vergangenen 20 Jahren mit gezielten Tötungen im Ausland bewirkt hat, was der Tiergartenmord bedeutet und was die Anschläge auf Skripal bedeuten. All das berührt auch die russische Zivilbevölkerung.
Für uns ist es deswegen schon ein klarer Punkt, dass wir unsere Sanktionen und die Art und Weise, wie wir vorgehen, überdenken müssen. Ist es sinnvoll, Nord Stream 2 zu Ende zu bauen? Wäre ein Moratorium nicht ein Zeitgewinn, auch der russischen Seite zu zeigen, dass dies ein hochbrisantes politisches Projekt ist, das wir mittelfristig durch kluge Energiepolitik vielleicht nicht mehr brauchen?
Wäre es nicht ein klares Zeichen an Russland, im Rahmen der Bewältigung des Klimawandels deutlich zu machen, dass Russland Hilfe braucht, technische Unterstützung und dass Russland nicht die Alternative wählen sollte, Juniorpartner der Chinesen zu werden?
({2})
Aber alles in allem bleibt für uns eine Lösung, die ich gerne aufzeigen will: erstens Festigkeit, Solidarität an der Seite der Ukraine, bis hin zu einer stärkeren Einbindung in Übungen, in Beratungen, in technologische Begleitung und generell eine Aufwertung der ukrainischen Zivilgesellschaft, im Übrigen auch im Kampf gegen Korruption;
({3})
Zweitens gegenüber Russland klarzumachen, dass dieses Regime mit seinen oligarchischen Methoden keinen Rückhalt mehr hat in der Bevölkerung und wir parat stehen, die russische Bevölkerung menschenrechtlich zu unterstützen. Dies sollten wir immer wieder vor dem Europäischen Gerichtshof und im Europarat deutlich machen. In diesem Sinne ist diese – –
({4})
– Und der Mann, der den „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte angesprochen hat, hat jedes Recht auf Zwischenrufe hier verwirkt.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Botschafter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen Paris und Berlin liegen etwas mehr als 1 000 Kilometer, zwischen Berlin und Kiew nur circa 1 350 Kilometer. Schon geostrategisch muss uns also interessieren, was aktuell in den Gebieten Donezk und Luhansk passiert. Das hart verhandelte Minsker Abkommen darf nicht weiter ad absurdum geführt werden.
Bilder aus dem Jahr 2014 werden wach: Neben dem völkerrechtswidrigen russischen Einmarsch auf der Krimhalbinsel erinnern wir uns, dass beim Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 rund 300 Passagiere starben. Der Krieg hat inzwischen rund 13 000 Todesopfer gefordert, darunter viele in der Zivilbevölkerung durch explodierende Minen.
({0})
Das, was zunächst nur wie ein russisches Übungsmanöver an der Grenze zur Ukraine aussah, ist inzwischen zu einer dramatischen Truppenstärke von rund 100 000 Soldatinnen und Soldaten mit schwerem Gerät angewachsen. Dies stellt eine massive Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine, aber auch Europas dar; ich denke hier an Polen und die baltischen Länder.
Als Sonderbeauftragte der Parlamentarierversammlung der OSZE für Osteuropa will ich einen deutlichen Appell von diesem Podium aus an die russische Seite richten, alle Handlungen und verbalen Äußerungen zu unterlassen, die die Situation noch weiter eskalieren lassen.
({1})
– Vielen Dank.
Ist diese offensive Eskalation nur Säbelgerassel? Will Putin mehr Aufmerksamkeit? Will er Revanche, Ranküne oder Rachepläne pflegen? Will er unter Beweis stellen, dass Russland eben doch nicht lediglich eine Regionalmacht ist, wie US-Präsident Obama es nannte? Angesichts seiner prominenten Gesprächspartner/-innen Merkel, Macron und Biden hat Putin sich große Aufmerksamkeit gesichert.
Russlands neuerliche Offensive ist aber auch ein Stresstest für den Westen, bei dem der russische Präsident ausloten will, wie weit er gehen kann. Eine klare Haltung, Dialog und Friedensinitiativen in diesem Konfliktfeld sind wichtig, Grenzen der Macht und das Unterlassen von Kriegshandlungen aber auch. Das haben die OSZE-Sonderbeauftragte für die Ukraine, Heidi Grau, die OSZE-Generalsekretärin Helga Schmid sowie die OSZE-Botschafterin für die EU in der Digitalschalte des Ständigen Rates, an der ich heute teilnehmen durfte, noch einmal deutlich betont.
Die OSZE hat deutlich gemacht, dass der durch das Wiener Dokument ausgelöste Prozess, bei dem es um militärische Transparenz und um Vertrauensbildung, Verifikation der Truppenbewegungen sowie Inspektion an den Grenzen geht, von Russland unbedingt eingehalten werden muss. Schließlich hat sich Russland als OSZE-Mitglied auch zur Einhaltung unserer gemeinsamen Werte verpflichtet.
Die OSZE hat ebenfalls die massive Russifizierung der lokalen Bevölkerung durch eine Passpolitik im Donbass kritisiert. Über 400 000 russische Pässe sollen bereits ausgegeben worden sein. Sie müssen sich das so vorstellen, dass dies dann als Erklärung für weitere Annexionspläne herhalten muss, nämlich in Form des Minderheitenschutzes der dort wohnhaften russischen Bevölkerung. Diese Zersetzungsstrategie muss neben den Waffenlieferungen an die Separatisten augenblicklich eingestellt werden.
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Der Separatismus zwingt Präsident Selenskyj nämlich zu seinem Appell an den Westen: Angesichts der drohenden Gefahren fordert der ukrainische Präsident eine rasche Aufnahmen in die NATO, was wiederum Putin als Provokation empfindet.
Putin sollte all dies in seine innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Überlegungen vor dem nächsten eskalatorischen Schritt einbeziehen, ganz gleich, welche Pläne er für Donezk, Luhansk, die Straße von Kertsch, das Asowsche oder das Schwarze Meer hegt.
Es dürfte für ihn weise sein, dabei über weitere Konsequenzen, etwa Wirtschaftssanktionen oder gar den Abbruch von wirtschaftlichen Beziehungen, nachzudenken. Sicher wird dies dann seine Bereitschaft steigern, im Normandie-Format, bei dem ihm neben Deutschland auch Frankreich und die Ukraine als Gesprächspartner zur Verfügung stehen, nach eindeutig besseren als nach militärischen Konfliktlösungen Ausschau zu halten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze, in den Gewässern der Ostukraine macht uns Sorgen, und wir alle spüren, glaube ich, was eine Eskalation dort nicht nur für diese Grenze, sondern für die Welt, für Europa, wahrscheinlich auch für Deutschland neben den innenpolitischen Auseinandersetzungen bedeuten würde.
Nun kann man natürlich sagen: Das liegt daran, dass im September Wahlen sind. – Ein Kollege hat darauf hingewiesen. Wir können davon ausgehen, dass es natürlich innenpolitisch zumindest mal von den Schwierigkeiten ablenken würde, die es zweifelsfrei in Russland gibt: wirtschaftliche Probleme, die Coronasituation, die in Russland schlimmer ist, als die offiziellen Statistiken besagen,
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und viele andere Dinge. Ich bemühe mich aber in dieser Debatte bewusst, mal die Position derer einzunehmen, deren Auffassung ich nicht teile, also der AfD und der Linken.
Sie haben den Eindruck erweckt, dass Russland hier, wie der russische Außenminister gesagt hat, lediglich eine Übung durchführt. Jetzt unterstellen wir mal: Das ist eine Übung. – Sie entspricht nicht den üblichen Regeln. Man müsste diese Übung dann anmelden, man müsste sie auch anders und transparenter kommunizieren. Aber packen wir das alles mal beiseite und sagen: Es ist eine Übung.
Wenn es eine Übung ist, dann ist ja klar, dass es am Ende der Übung keine militärische Eskalation geben kann. Das beinhaltet dann natürlich, dass jede Provokation, und sei sie von den Separatisten auch bewusst gewählt, niemals dazu führen kann und darf, dass aus dieser Übung Ernst wird. Wenn aus dieser Übung also nach russischer Auffassung, die ja hier im Parlament von zwei Fraktionen weitestgehend geteilt wird, niemals Ernst werden kann, ist die Frage: Was ist denn die Konsequenz, wenn aus dieser Übung Ernst wird, wenn also die russischen Soldaten dort nicht nur zum Üben stehen, sondern am Ende auf dem Gebiet der Ukraine Tote zu beklagen sind?
Da komme ich – Herr Staatsminister, Sie entschuldigen das – schon zu einer etwas anderen Auffassung, als ich sie Ihren Zwischentönen entnommen habe, obwohl Ihre Rede ansonsten gut war und auch inhaltlich, glaube ich, große Unterstützung des Hauses findet.
Ich glaube, wir sollten schon sehr klar auf die Konsequenzen hinweisen, wenn aus dieser Übung Ernst wird.
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Ich glaube, wir sollten dort sehr klar darauf hinweisen.
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Der amerikanische Präsident hat das sehr klar gesagt und hat aber auch gesagt: Natürlich mache ich ein Gesprächsangebot.
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Und er hat dem russischen Präsidenten ein Gespräch an einem neutralen Ort vorgeschlagen. Russland bzw. sein Präsident hat das bis heute nicht beantwortet. Die deutsche Bundeskanzlerin hat auch ein Gespräch angeboten, hat gesagt: Wir wollen im Normandie-Format weitermachen. – Ich glaube, wir sind jetzt gefordert, auch zu sagen, was die Konsequenz ist, wenn aus einer Übung Ernst wird und wenn Gesprächsangebote nicht angenommen werden.
Aus meiner Sicht, liebe Kolleginnen und Kollegen – wir können ja nur für Deutschland sprechen –, ist eines doch völlig klar: Nord Stream 2 kann es bei einer erneuten Eskalation in der Ukraine nicht mehr geben. Es muss abgebrochen werden,
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und zwar unabhängig davon, mit welcher Begründung aus der Übung Ernst wird; denn dass man sich da viele Begründungen ausdenken kann, das wissen wir hier, glaube ich, alle.
Deswegen sage ich sehr klar: Ich erwarte von diesem Deutschen Bundestag – zwei Fraktionen werden da mit Sicherheit nicht mitmachen; ich erwarte es auch von unserem Koalitionspartner, dass der Einfluss von Altkanzler Schröder nicht dominiert –, dass wir heute Verantwortung übernehmen, um Tote in der Ukraine zu verhindern, und klar sagen: Wenn Russland hier eskaliert, wird Nord Stream 2 abgebrochen. – Das ist unsere Pflicht, um Schaden von Europa und von den Menschen in der Ukraine abzuwenden.
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Ich möchte abschließend eines sagen, was meiner Generation, uns allen wahrscheinlich, ja fast ins Leben geschrieben ist: Ich saß 1994 als junger Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus hinter Boris Jelzin und Helmut Kohl, als die russischen Truppen unter Beifall der Berliner Deutschland verließen. Und ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass das, worüber wir heute hier reden, in Europa noch einmal passieren kann.
Deswegen sage ich sehr klar: Wir müssen alles tun für ein gutes Verhältnis mit Russland, wir müssen alles tun für ein gutes Verhältnis mit der russischen Bevölkerung. Aber wir müssen auch sehr deutlich sagen: Der Schlüssel für Frieden in Europa liegt im Kreml.
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Wir können dazu einen Beitrag leisten; das werden wir tun. Unabhängig davon ist Putin gefordert, jetzt endlich zu beweisen, dass er es ernst meint mit Frieden, womit er übrigens auch seinem eigenen Volk eine Perspektive gibt: für Wohlstand, für Frieden und für bessere Verhältnisse als heute.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sieben Jahre nach der völkerrechtswidrigen Besatzung der Krim und dem Ausbruch des sogenannten Bürgerkriegs in der Ostukraine beobachten wir derzeit zutiefst besorgt den massiven Aufbau russischer Truppen an der ostukrainischen Grenze. Wir wissen nicht genau, was Ziel und Zweck dieser Operation sein soll. Beabsichtigt Wladimir Putin tatsächlich einen erneuten Überfall auf die Ukraine? Oder erleben wir hier nur Drohgebärden, um die Grenzen der westlichen Welt auszutesten?
Kolleginnen und Kollegen, so oder so müssen wir dieses Säbelrasseln ernst nehmen. Es erinnert uns daran, dass im Weltbild des Kremls die Gewaltbereitschaft und das Recht des Stärkeren regieren und nicht die Diplomatie und das internationale Recht.
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Das stellt nicht nur eine Gefahr für die Stabilität der Region dar, sondern für uns alle, die wir nach friedlicher, multilateraler Ordnung streben.
Kolleginnen und Kollegen, diese außenpolitische Aggression kann man ohne Berücksichtigung der derzeitigen massiven Verschärfungen auch des innenpolitischen russischen Unterdrückungsregimes nicht verstehen. Mit dem missglückten Giftanschlag auf Alexej Nawalny hat das Regime einen lebenden Märtyrer geschaffen. Er hätte das Potenzial, der Opposition bei den anstehenden Duma-Wahlen eine neue Dynamik und auch ein klein bisschen Hoffnung auf demokratischen Wandel zu geben. Das will das Putin-Regime nicht zulassen.
Nachdem man Nawalny in einem geradezu stalinistischen Schauprozess zum Straflager verurteilt hat, lässt man ihn nun vor den Augen der Welt und der eigenen Bevölkerung sterben: eine zynische Demonstration der totalitären staatlichen Macht über Leben und Tod.
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Tausende Menschen sind in den vergangenen Monaten bei friedlichen Demonstrationen von der Polizei verprügelt und festgenommen worden. Kritische Medien werden durch Drohungen und fingierte strafrechtliche Ermittlungen massiv eingeschüchtert. So reagiert das Regime Putin auf die einzige Art und Weise, die es versteht: mit einer neuen Welle erbarmungsloser Repression. An deren Ende steht die vollkommene Auslöschung jeder noch verbliebenen kritischen Zivilgesellschaft und Opposition im Land.
Kolleginnen und Kollegen, das Ziehen der Daumenschrauben in der Innenpolitik Russlands und das Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze sind zwei Seiten derselben Medaille. Innenpolitische Gegner werden gnadenlos eingeschüchtert, der Rest der Bevölkerung durch die ständige Inszenierung einer auswärtigen Bedrohung zur Einheit um das Regime herum beschworen, und dies alles unter der Annahme, dass der Westen zu uneinig und zögerlich ist, um zu reagieren, oder in Zeiten der Pandemie schlicht abgelenkt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hierbei wollen wir nicht tatenlos zuschauen. Unsere Position ist unmissverständlich klar: Das Minsker Abkommen stellt die gemeinsam vereinbarte Grundlage für eine friedliche Lösung des Ostukraine-Konflikts dar. Wir erwarten, dass sich hieran alle beteiligten Parteien orientieren. Als Bundesrepublik wirken wir selbstverständlich auf unsere ukrainischen Partner ein, realistische Perspektiven für die Reintegration der Ostukraine zu entwerfen und umzusetzen. Vor allem aber erwarten wir von Russland klare Schritte zum Abbau der derzeitigen Spannungen.
Im Einklang mit OSZE-Grundsätzen und dem Wiener Dokument muss Russland Transparenz über seine Militärverbände schaffen und diese von der Grenze zurückziehen. Russland muss seiner Verantwortung im Normandie-Prozess endlich nachkommen, die militärische Unterstützung für ostukrainische Separatisten einstellen und auf die Umsetzung des Minsker Abkommens hinwirken. Sollte das nicht passieren, dann sehe ich es als unumgänglich an, mit den G‑7-Staaten und der EU neue Sanktionen zu erlassen. Dabei muss es Putin klar sein, dass dazu auch eine Neujustierung der deutschen und europäischen energiepolitischen Beziehungen zu Russland gehört.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier im Haus regelmäßig über Russland. Leider geht es dabei zumeist um eine weitere Abkühlung unserer Beziehungen. Mittlerweile herrscht Eiszeit. Anders als die Weltverklärer und Russland-Romantiker links und rechts hier fantasieren, liegt das weder an Berlin, Brüssel oder Kiew noch an der NATO, sondern einzig und allein am Mann im Kreml.
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Wer hier die gestrige Märchenstunde von Putin fortsetzt und Sprechpunkte vom Kreml übernimmt, trägt nicht zur Deeskalation bei.
Der große Teil dieses Hauses steht solidarisch zur Ukraine. Der massive Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze ist nichts anderes als eine absolut inakzeptable und gefährliche Provokation.
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Gefährlich ist sie, weil auch nur ein einziger Schuss eine Spirale der Gewalt auslösen kann. Diese Eskalation muss um jeden Preis verhindert werden. Deshalb muss Russland seine Truppen an der ukrainischen Grenze abziehen. Die Meldungen von heute glauben wir natürlich erst, wenn das tatsächlich geschieht; denn Desinformation aus Moskau kennen wir zur Genüge.
Dieser Aufmarsch offenbart die perverse Logik des Systems Putins. Er legt das Messer an die Brust Kiews und rechnet damit, durch militärischen Druck die Grenzen und die politischen Realitäten in der Ukraine verändern zu können. Aber das, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht zulassen. Die Einheit der Ukraine muss gewahrt bleiben. Unser Ziel bleiben die Vereinbarungen aus dem Minsker Abkommen. Ich fände es außerordentlich wichtig, wenn sich die Staats- und Regierungschefs möglichst bald im Normandie-Format treffen und endlich neuer Schwung in den Minsker Prozess kommt.
Eines muss uns allen hier endlich klar sein: Putin ist niemand, den Solidaritätsbekundungen stark beeindrucken. Wir Europäer müssen Moskau geschlossen deutlich machen, welchen Preis es zu zahlen hat, wenn das aggressive Verhalten kein Ende nimmt. Moskau eskaliert an allen möglichen Orten, auch mitten in Europa, auch bei uns. Wir haben das hier gesehen, wir haben das zuletzt auch in Tschechien wahrgenommen. Den tschechischen Nachbarn gilt meine volle Solidarität.
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Wirksame europäische Sanktionen müssen jetzt eine noch stärkere Rolle spielen. Nur geschlossen und entschieden können wir unsere ukrainischen Partner ernsthaft unterstützen. Worte allein werden hier nicht weiterhelfen. Wir müssen endlich Schritte in die Wege leiten, die dem Kreml wehtun und hier auch bei unserer Abhängigkeit von Öl und Gas ansetzen. Wir sollten neben der Reduktion des Bedarfs durch gute Klimapolitik für den Übergang verstärkt auch andere Gasbezugsquellen in den Blick nehmen.
Meine Damen und Herren, Putin bricht aber nicht nur an der russisch-ukrainischen Grenze internationales Recht, sondern erneut auch im Fall Nawalny. Es ist ganz klar: Alexej Nawalny muss in dieser dringenden medizinischen Notlage einen Vertrauensarzt sehen können. Da fordere ich auch die Bundesregierung auf, dass der Druck hier deutlich erhöht wird. Wir dürfen uns nichts vormachen: Wer Nawalny vergiftet, ist auch bereit, ihn verhungern oder krank sterben zu lassen. Es braucht unsere entschiedene Hilfe, und zwar jetzt, bevor es zu spät ist. Ich möchte an dieser Stelle auch den Tausenden Demonstranten, die gegen diese Ungerechtigkeiten auf die Straße gehen, meinen großen Respekt und meine Solidarität ausdrücken.
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Meine Damen und Herren, Russland und Europa, das ist eine jahrhundertealte Beziehungsgeschichte zwischen Konflikten und Kooperation, zwischen Faszination und leider auch Konfrontation. Eines muss klar sein: Bei Klimaschutz und Zukunftstechnologien wird Russland in Zukunft auch unsere Innovationskraft und Technik benötigen, denn das Zeitalter von Öl und Gas wird zu Ende gehen. Es ist Zeit, dass diese Erkenntnis auch in Moskau einsetzt. Es ist Zeit, dass die destruktive und aggressive Politik endlich beendet wird und wir gemeinsam an einer Zukunftsagenda arbeiten können. Unsere Tür steht dazu offen.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Revoluzzer – Helmut Kohl war dies für die CDU in Ludwigshafen, ein Revoluzzer, ein junger Wilder im Stadtrat Anfang der 60er-Jahre. Helmut Kohl, ein Revoluzzer? Das passt so gar nicht ins Bild, und jeder von uns hat eines von ihm; denn Helmut Kohl hat Generationen geprägt. Aber was ist Legende, was Zerrbild, was Tatsache?
Tatsache ist: Helmut Kohl schneidet als junger Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz alte Zöpfe ab – Aus für staatliche Konfessionsschulen, Verwaltungsreform –, alles gegen heftige Proteste auch von der Kanzel. Mit dem ersten Kindergartengesetz setzt er bundesweit sozialpolitische Maßstäbe.
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Aber wer kennt noch seine politischen Anfänge? Wer weiß um sein Gespür für politische Talente, wie Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Kurt Biedenkopf, Norbert Blüm oder Angela Merkel?
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Wer weiß, dass Helmut Kohl das Bundesumweltministerium geschaffen hat,
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auch das erste Frauenministerium, mit Rita Süssmuth an der Spitze, der Christdemokrat Helmut Kohl?
Es gab auch Brüche, wie wir alle wissen. Helmut Kohl hatte viele Facetten, als Mensch, als Politiker. Sie sollen in Erinnerung bleiben, und deshalb stellen wir heute die Weichen für die Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung.
({3})
Damit stehen wir in der Tradition der Gedenkstiftungen für Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt. Nun kommt die Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung nach Berlin, der Stadt, in der er so viele Spuren hinterlassen hat, die ohne ihn vielleicht nie Hauptstadt geworden wäre. Die Stiftung soll forschen und erinnern, gerade junge Menschen, an sein Leben, an sein Wirken für Freiheit, Einheit, Versöhnung, Frieden. Denn schon der promovierte Historiker Dr. Helmut Kohl mahnte – ich zitiere –:
Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.
Der Blick auf Kanzler Kohl ist heute vor allem durch die deutsche Einheit geprägt, von Bildern wie in Dresden vor der Frauenkirche 1989, auf den Stufen des Reichstags am 3. Oktober 1990, gemeinsam mit seiner Frau Hannelore, der Kanzler der Einheit. Sein enger Weggefährte Rudolf Seiters bringt es auf den Punkt – ich zitiere –: Ohne seinen Mut, seine Weitsicht und seine vertrauensbildende Politik in Europa, ja in der ganzen Welt, wäre die Einheit Deutschlands damals nicht zustande gekommen. Die deutsche Einheit einzubinden in die Einigung Europas, war ein historischer Baustein bei der Überwindung des Ost-West-Konflikts.
Diese historische Leistung war nur möglich, weil ihm Vertrauen geschenkt wurde. Wir alle hier wissen, wie kostbar dieses Gut, wie kostbar Vertrauen ist, gerade in der Politik. Helmut Kohl gelang es, zu allen Staatsmännern der Welt ein wirkliches Vertrauensverhältnis aufzubauen. Als die Mauer fällt, schreibt der deutsche Kanzler so Weltgeschichte. Unvergessen bleibt die Versöhnungsgeste über den Soldatengräbern in Verdun: der Kanzler Hand in Hand mit Staatspräsident François Mitterrand. Und natürlich haben wir die Fotos mit Michail Gorbatschow im Kaukasus vor Augen. Über diese „Strickjacken-Diplomatie“ machte man sich vorher lustig wie auch über die tiefe Verbundenheit zu seiner Heimat, der Pfalz. Vom „Provinzkanzler“ war die Rede. Kaum ein Politiker wurde so unterschätzt wie Dr. Helmut Kohl.
Dabei machten ihn seine Wurzeln zu einem überzeugten Europäer. Helmut Kohl erlebte, was Krieg zwischen den Völkern an Leid bringt. Sein Bruder fiel. Als Zwölfjähriger musste er mit anderen Schülern Leichen nach Luftangriffen bergen. Deshalb kämpfte er zeitlebens für Frieden, für Völkerverständigung. Und es gelang ihm. So wurde übrigens auch die Pfalz zur Bühne der Weltpolitik,
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vom Dom zu Speyer bis zum Saumagen, für Ronald Reagan bis Mutter Teresa.
Es gäbe noch so vieles. Helmut Kohl hat als Parteivorsitzender 25 Jahre die CDU Deutschlands geprägt und 16 Jahre lang als Bundeskanzler unser Land und Europa. In seinen Ämtern war Helmut Kohl immer der Jüngste, als Landtagsabgeordneter, als Ministerpräsident, als Bundeskanzler. Ohne Unterstützung wäre aber selbst ihm dies nicht möglich gewesen. Ihm halfen sein herausragendes Netzwerk, seine Weggefährten, seine Familie. So wurde aus dem Revoluzzer der Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas, einer Stiftung würdig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gitta Connemann. – Der nächste Redner für die AfD-Fraktion ist der Abgeordnete Martin Renner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Den Namen Helmut Kohl verbinden wohl die meisten Bürger mit der deutschen Wiedervereinigung, vielleicht auch mit seinem Einsatz für die sogenannte europäische Integration. Er und François Mitterrand verhandelten 1992 den Vertrag von Maastricht, womit der Grundstein zur heutigen EU und auch dem dysfunktionalen Euro gelegt wurde. Sicherlich, das alles sind politische Projekte, die Helmut Kohl zu Recht zu einer Person der Zeitgeschichte gemacht haben.
Ich selbst denke bei dem Namen Helmut Kohl zuerst an seinen Aufruf zur geistig-moralischen Wende 1981 und 1982. Er erkannte schon damals in verdienstvoller Weise die verheerende Entwicklung für unsere Gesellschaft, ausgelöst durch die neo- und kulturmarxistisch ideologisierten 68er, die Apologeten der Frankfurter Schule, ihren Marsch durch die Institutionen, die Behörden, Schulen, Hochschulen, Kirchen, Gerichtssäle, Medien, Sozialinstitutionen usw. Er hat all dies richtig erkannt. Nur leider hat er in der politischen Realität gar nichts gemacht. Er hat diese unheilvolle Entwicklung nicht bekämpft, sondern alles einfach weiterlaufen lassen.
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Ich würde mir wünschen, dass eine solche zu errichtende Stiftung sich mit einem historischen, kulturellen und politischen Dimensionsabgleich beschäftigt, der die Unterlassung des Kampfes gegen den linken Zeitgeist, gegen die linke Ideologie untersucht. Was ist es denn, was uns heute vom politischen Lebenswerk Helmut Kohls bleibt? Ich zähle auf:
Erstens: eine zentralistische EU mit dem zunehmenden Charakter einer Kooperokratie, also einer funktionalen Beutegemeinschaft, bestehend aus Politik, Big Data, Big Tech, Big Money, Big Business, die unseren nationalen unternehmerischen Mittelstand und unsere gesellschaftliche Mittelschicht zunehmend zerstört.
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Zweitens: eine EU, in der Verträge ignoriert und gebrochen werden, eine EU, die Schulden machen will und diese Schulden dann vergemeinschaften wird, eine Bundesrepublik Deutschland, die den sozialistischen Unrechtsstaat DDR nicht gründlich aufgearbeitet hat.
Drittens: die maßgeblichen Akteure nicht benannt und nicht abgestraft hat, sondern diesen sogar Zugang und Einlass in unsere bestehenden Organisationsstrukturen gestattet hat. So konnten und können diese – heute auch mit Frau Merkels Segen – ihr toxisches marxistisches Wirken in Politik, Wirtschaft, Institutionen und NGOs fortsetzen und unsere bürgerliche Gesellschaft agitieren und diese zersetzen.
Viertens: eine CDU, die endlich das C aus ihrem Namen streichen sollte – Schluss mit dieser Irreführung der Bürger, –
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eine CDU, die sich stattdessen der neuen Zeitgeistreligion der Linken, Grünen, linkischen Moralibans verbunden fühlt und sich mit den hier vertretenen ökosozialistischen Parteien zur Neuen Einheitspartei Deutschlands, der NED, zusammengefunden hat – NED, nicht SED.
Wenn die geplante Stiftung all dies aufarbeiten würde, dann könnten wir als AfD-Fraktion sogar zustimmen. Aber den Antragstellern geht es ja um etwas ganz anderes. Sie wollen jetzt, wo es gerade noch geht, eine Reihe weiterer Versorgungspöstchen auf Staatskosten einrichten. Kann ich ja auch verstehen; denn bereits in nächster Zukunft werden sehr viele staatsalimentierte Mandate in unserem wildwuchernden Verwaltungsstaat abhandengekommen sein.
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Die Democracia-Christianisierung lässt grüßen!
Ich schließe mit einem Zitat von Gottfried Benn: „Denn vor jeder Selbstzerstörung steht die große Selbstbetörung.“ – Friede seiner und eurer Asche.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Budde von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich 1983 mit 18 Jahren zum ersten Mal wählen durfte, war Helmut Kohl Bundeskanzler. Und nein, ich hätte ihn nicht wählen können; denn ich bin ja Ostdeutsche.
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Zur Ehrlichkeit gehört natürlich: Ich hätte ihn auch nicht gewählt, wenn ich hätte wählen können.
({1})
Ich bin ja nicht ohne Grund 1989 in die SPD eingetreten.
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Aber egal, ob man Helmut Kohl nun mag oder nicht und ob man alles an ihm mag oder nur Teile seines politischen Wirkens, es dürfte völlig unstrittig sein: Helmut Kohl war ein Kanzler, der die Bundesrepublik geprägt hat.
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Er war ein überzeugter Europäer. Er hat viel zur deutsch-französischen Aussöhnung und Freundschaft beigetragen. Selbst wir kannten die Bilder – wir konnten ja Westfernsehen gucken –, wie er 1984 mit François Mitterrand Verdun besuchte und beide dort Hand in Hand standen. Das sind Bilder, die um die Welt gingen, wie auch der Kniefall von Willy Brandt in Warschau, die etwas ganz besonderes ausdrücken. Auch aus meiner Wahrnehmung war das eine ganz neue Qualität. So wurde ein neues Kapitel in der deutsch-französischen Zusammenarbeit und Freundschaft aufgeschlagen. Das ist eine große und herausragende Leistung.
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Helmut Kohl hat auch nie Zweifel daran gelassen, dass er zunächst die Bundesrepublik und später dann auch das wiedervereinte Deutschland in ein geeintes Europa führen will. Sowohl die Stärkung der transatlantischen Partnerschaft als auch das Vorantreiben der Osterweiterung der Europäischen Union sind seine Verdienste.
Und, ja, Frau Connemann, natürlich war er der Kanzler, der im Amt war, als die Chance bestand, Deutschland wieder zu vereinen, und er hat diese Chance auch genutzt – unbenommen. Aber sehen Sie es mir nach, wenn ich diesen Teil der Geschichte etwas differenzierter sehe. Ich glaube, dass auch aufseiten der Bundesrepublik die Gespräche auf dem Weg in die deutsche Einheit ein Gemeinschaftswerk waren und dass viele Politikerinnen und Politiker dieser Zeit ihren Anteil daran hatten.
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Ich glaube im Übrigen, dass das ein sehr langer Weg war und dass auch die Entspannungspolitik und die Ostpolitik zu anderen Zeiten Bausteine auf dem Weg zur deutschen Einheit waren. Es war ein großer Prozess, es war ein nationaler, ein europäischer, ein osteuropäischer und internationaler Prozess. Und Helmut Kohl hat in diesem Prozess sehr stark gewirkt – unwidersprochen. Trotzdem gestatten Sie mir den Satz: Zuallererst waren es die Ostdeutschen mit ihrer Friedlichen Revolution,
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die überhaupt die Möglichkeit geschaffen haben, dass es eine deutsche Wiedervereinigung gab. Deshalb habe ich mit der markanten Bezeichnung „Kanzler der Einheit“ ganz persönlich ein Problem, ohne die Verdienste schmälern zu wollen.
Es geht aber nicht nur um die Person Helmut Kohl. Sie haben es gesagt: Es geht bei einer solchen Stiftung auch um das Wirken und die Zeit, in der man politisch tätig war, in der man gelebt und gestaltet hat, und aus jeder dieser Zeiten kann man etwas lernen. Die Helmut-Kohl-Stiftung ist wie die anderen Bundeskanzlerstiftungen nach dem Namen des Kanzlers benannt. Aber die Stiftungen machen ja weit mehr: Sie machen politische Bildungsarbeit, vergeben wissenschaftliche Aufträge. Die Zeit wird aufgearbeitet: Was ist warum in welcher Zeit entstanden, und was kann man daraus für heute und für die Zukunft lernen? – Das ist das Wichtige. Mit jeder dieser Stiftungen werden die Füße der politischen Bildungsarbeit verbreitert. Das ist wichtig, und das brauchen wir für jede Zeit.
Alle demokratisch gewählten Kanzler und nun auch eine Kanzlerin haben diese Bundesrepublik geprägt; das ist unwidersprochen. Sie waren und sind Menschen mit ganz besonderen Lebenswegen. Wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf und finden es richtig, dass er heute eingebracht wird. Wir freuen uns, dass damit der politische Diskurs und auch der kultivierte politische Streit über die eine oder andere Sichtweise dieser Zeit weitergeführt werden kann und auf breitere Füße gestellt wird.
Ich bitte um Überweisung an den Ausschuss.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Budde. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Otto Fricke, FDP-Fraktion.
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Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine erste Begegnung mit Helmut Kohl hatte ich 1997 als junger Rechtsanwalt im Kanzleramt. Damals hatte ich schon das Gefühl, dass ihn immer ein Teil von „Gechichte“, wie er es so schön ausgesprochen hat, umwehte. Das ist es, was eine Nation am Ende auch ausmacht: ihre Geschichte, ihre Historie.
Warum machen wir heute den ersten Schritt zur Gründung einer weiteren Stiftung, eines Erinnerungswerkes? Ob das etwas mit Parteipolitik zu tun hat, weiß ich nicht. Ich sage fürs Protokoll: Mich enttäuscht schon sehr, dass bei einem so wichtigen Punkt für die CDU/CSU hier weniger CDU/CSU-Abgeordnete als FDP-Abgeordnete anwesend sind. Da hätte ich von der Christlich Demokratischen Union eigentlich etwas mehr erwartet.
Demokratie mag so viel, wie sie will, von ihren Institutionen leben, die sie stabilisieren. Aber die Identifikation für Demokratie, das Vertrauen in Demokratie geht am Ende nur über Menschen. Und da war Helmut Kohl auch nach Meinung meiner Fraktion unbestritten ein großer Mensch. Man sagt auch, dass er ein Mensch war, der große Fehler gemacht hat. Aber das gehört mit dazu. Wenn wir glauben, dass wir in einer Demokratie Menschen auf ein Podest stellen müssten und das sei es dann, dann würden wir als Demokraten einen großen Fehler machen. Deswegen ist es wichtig, dass sich eine Stiftung mit dem Wirken dieses großen Europäers, dem Wirken auch eines starken Ministerpräsidenten, der sein Land modernisiert hat, beschäftigt. Aber ich will kritisch für meine Fraktion anmerken, dass man nicht immer alles nach Berlin bringen muss.
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Warum muss das wieder in Berlin sein? Es ist so schön von der Kollegin Connemann gesagt worden – und ich würde mich freuen, wenn sie mir zuhören würde –, wie viel dieser Mann auch in Rheinland-Pfalz getan hat.
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Wichtig ist doch, zu erkennen, dass Demokratie an der Basis entsteht und hier in Berlin kein Ufo ist. Da ist jemand aus Rheinland-Pfalz, aus Oggersheim, gekommen und hat gesagt: Ich verändere Deutschland, ich verändere Europa. – Uns als Fraktion wäre es wichtiger gewesen, wenn wir eine solche Stiftung, wie es sie zum Beispiel in Hamburg für Helmut Schmidt gibt, vor Ort eingerichtet hätten. Erinnert werden wir an Helmut Kohl immer wieder hier in Berlin. Wir brauchen nur auf das Kanzleramt zu gucken. Das ist nämlich „sein“ Kanzleramt;
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er hat es geplant, aber nie bezogen. Das ist die Ironie der Kanzlergeschichte; das war bei Helmut Schmidt im Übrigen auch so.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen zweiten Punkt anbringen, der mir sehr wichtig ist, den Stiftungszweck. Ich habe mit dem Kollegen Schnieder schon darüber gesprochen. Es ist ja okay, wenn man den Stiftungszweck in gewisser Weise von der Helmut Schmidt Stiftung kopiert. Aber ich möchte, weil ich das am Anfang zum Thema Demokratie hervorgehoben habe, doch klar sagen: Es ist richtig, wenn wir uns mit Fragen der zukünftigen Entwicklung in Europa beschäftigen, Stichwort „deutsch-französische Zusammenarbeit“. Aber ich glaube – und da bitte ich die Koalition, noch mal in sich zu gehen; ich weiß, dass das ein sensibles Thema ist –, dass das Werben für Demokratie auch Teil dieser Stiftungsarbeit sein muss; denn das hat eine solche Stiftung nötig. Ich würde mir wünschen – das ist mein letzter Satz –, dass in dieser Stiftung die Geschichts- und Politikstunde stattfindet, die wir in der Schule gerne gehabt hätten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Otto Fricke. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Abgeordnete Simone Barrientos.
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Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es war ein steiniger Weg, aber nun endlich liegt ein Entwurf zur Errichtung einer Kanzler-Helmut-Kohl-Stiftung auf dem Tisch, analog zu den bereits bestehenden Stiftungen für Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Wir werden uns nicht dagegenstemmen. Wir haben – das ist ja kein Geheimnis – einen kritischen Blick auf das Wirken von Helmut Kohl. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Helmut Kohl dieses Land geprägt hat, gerade im Hinblick auf die Einheit, und das meine ich – das muss ich betonen – ganz wertfrei.
Diese Stiftung könnte es längst geben. Doch Maike Kohl-Richter, Alleinerbin des Kohl-Vermögens, verstand sich nicht nur als private Erbin. Sie pochte auf eine herausgehobene Stellung in der Stiftung, und zwar mit Vetorecht. Selbst der angebotene Kuratoriumsplatz auf Lebenszeit genügte ihr nicht. Ein absurdes Theater! Beides ist vom Tisch, und das ist gut und richtig. Wir leben ja schließlich nicht in einer Erbmonarchie.
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Als Vermächtnis von Helmut Kohl gilt die deutsche Einheit. Insofern ist bei der Besetzung des Kuratoriums unbedingt darauf zu achten, dass auch Wissenschaftler/‑innen mit DDR-Biografie berufen werden.
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Für den Internationalen Beirat, der sich mit der geopolitischen Rolle Deutschlands, mit außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Fragen befassen wird, fordern wir, dass dieser Beirat auch international besetzt wird.
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Wir setzen voraus, dass sowohl Kuratorium als auch Beirat keine reinen Herrenklubs sein werden. Das wäre nämlich mehr als peinlich.
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Dass die Helmut-Kohl-Stiftung insbesondere mit dem Bundesarchiv, der Stiftung Haus der Geschichte und der Stiftung Deutsches Historisches Museum kooperieren soll, begrüßen wir ausdrücklich. Denn gemeinsam wird es diesen Häusern hoffentlich endlich gelingen, die Akten, die noch immer im Keller des Eigenheims von Helmut Kohl in Oggersheim lagern, weil Maike Kohl-Richter die Herausgabe verweigert, zu befreien und sie da hinzubringen, wo sie hingehören, nämlich ins Bundesarchiv.
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Selbst die Adenauer-Stiftung ist in Sachen Aktenherausgabe an der Witwe gescheitert. Diese Akten gehören aber zum kulturellen Erbe der Bundesrepublik und müssen für Wissenschaft und Forschung zugänglich sein. Wir werden solche Bemühungen unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Erhard Grundl.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ein Vermächtnis: das Foto von Helmut Kohl, Hand in Hand mit Präsident Mitterrand in Verdun, aufgenommen 1984 anlässlich des Gedenkens an die gefallenen Soldaten beider Länder in zwei Weltkriegen. Das Bild hat nichts Triumphales. Kriege sind Niederlagen, politisch, moralisch, menschlich: Das drückt das Bild aus.
Es ist ein Eingeständnis deutscher Schuld. Es steht auch für den Willen nach Frieden zwischen den Nachbarn. Fünf Jahre später suchte Helmut Kohl Unterstützung für die deutsche Wiedervereinigung und fand sie: Er fand sie bei Mitterrand, und er fand sie auch bei Präsident Gorbatschow. Hinter den Kulissen gab es harte Konflikte. Und ja, am Ende führte Kohls Strickjackendiplomatie zum Erfolg und zur deutschen Einheit. Ohne die Ostpolitik von Willy Brandt 20 Jahre vorher hätte freilich kein friedlicher Weg da hingeführt.
Doch Kohls Vermächtnis ist höchst ambivalent. Die sogenannte geistig-moralische Wende, die Helmut Kohl mit Pathos zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler ankündigte, mündete dann doch in seine CDU der schwarzen Koffer, der illegalen Spenden und dubiosen Machenschaften – nicht für sich, wohlgemerkt, aber alles außerhalb der Bücher. Das eigene Handeln als höchster Maßstab, höher als das Gesetz, vor dem wir doch eigentlich alle gleich sein sollten. Wenn ich heute von „Ehrenwort“ oder „Ehrenerklärungen“ reden höre, dann erinnert mich das immer fatal an diese Zeit.
Zwischen diesen Polen bewegte sich das historische Erbe Helmut Kohls: Kohl, der Transatlantiker, der große Europäer, der Kanzler der Einheit, der um Vertrauen für ein von vielen als bedrohlich empfundenes größeres Deutschland warb, ein Deutschland, das er fest in Europa verankert wissen wollte. So weitsichtig Helmut Kohl hier war, so sehr haftete den 16 Jahren seiner Kanzlerschaft etwas Biedermeierhaftes an – ich gebe zu: biedermeierhaft bis auf seine Reaktion auf die Eierwerfer in Halle; nie war er mir sympathischer als damals –,
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ein Konservativismus, der aber nichts Rechtslastiges hat.
Als die Grünen 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, wollte er uns gerne wieder loswerden – durch „Aussitzen“, wie er es nannte. Da stellt sich heute die Frage: Meinte er Aussitzen im Sinne der Reitersprache, also entspannt im Sattel sitzen und sich den Trabbewegungen des Reittieres anpassen, oder meinte er nicht doch die gewöhnliche Sesselvariante? In beiden Fällen war er, wie Sie hier sehen können, nicht erfolgreich.
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Brauchen wir also eine Helmut-Kohl-Stiftung? Natürlich. Denn die Ära Kohl war geprägt durch tiefgreifende Umbrüche und Weichenstellungen für unser Land und für Europa. Unkritisch darf die Arbeit der Stiftung aber nicht sein. Es geht nicht um Persönlichkeitskult. Es geht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Staatsmann, dem Kanzler, dem Menschen Helmut Kohl. Es geht um die Anerkennung von großen Verdiensten ebenso wie um das Erkennen von großen Fehlern. Diese Forschungsarbeit hat er auf jeden Fall verdient.
Ich danke Ihnen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.
Robert Habeck, die Grünen, eine Partei, die in Deutschland allen Ernstes den Kanzler stellen will.
Nächstes Zitat: „... eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ Aydan Özoğuz, SPD, ehemalige Integrationsbeauftragte des Bundes.
Und drittens. Wir haben alle die Bilder vor Augen, wie Kanzlerin Merkel auf der Wahlparty der CDU nach der Bundestagswahl 2013 eine Deutschlandfahne indigniert in einer Ecke entsorgte.
Drei Szenen, ein Befund: Ein Land, in dem höchste politische Vertreter eine derartige Mentalität an den Tag legen, leidet unter einer schweren Identitätsstörung, meine Damen und Herren.
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Während die herrschende Klasse und die Meinungsmacher sich für die Identität anderer Völker und Kulturen, für die Identität von Minderheiten im eigenen Land bei jeder Gelegenheit vehement ins Zeug werfen, klafft dort, wo das Eigene sein sollte, zumeist nur ein schwarzes Loch. Und jeder, der die Begriffe „Volk“, „Nation“, „kulturelle Identität“ positiv versteht, läuft Gefahr, als „Nazi“ diffamiert zu werden.
2017 schrieben die Grünen an den Deutschen Kulturrat. Ich zitiere:
Wir unterstützen, dass in den Thesen
– des Kulturrats –
der Begriff der „Leitkultur“ vermieden wird. Denn in der Kultur darf es keine Grenzen geben, die im Namen einer angeblichen „kulturellen Identität“ darüber bestimmen, wer dazugehört und wer nicht.
Werte Grüne, sind Sie nicht imstande, zu begreifen, dass kulturelle Identität doch nicht heißt, nur noch mit sich selbst identisch zu sein, keine kritische Selbstreflexion, keine kulturellen Importe mehr zuzulassen? Ganz im Gegenteil: Die Neugier auf das Fremde, die Fähigkeit, es zu assimilieren, und die Eigenschaft, sich selbst der härteste Kritiker zu sein: Das hat schon immer zur kulturellen Identität der Deutschen gehört.
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Aber weltoffen und tolerant, wie Sie es immer gerne haben wollen, kann doch nur derjenige sein, der weiß, wo er selbst steht, was seine Herkunft, seine Werte und Traditionen sind. Für alle anderen gilt der Kalauer: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.
Wenn wir genau diese aufgeklärte, aber auch traditionsbewusste Leitkultur nicht selbstbewusst vertreten und auch einfordern, dann wird Deutschland zum eigenschaftslosen Behälter, den andere mit ihren kulturellen Identitäten und Gebräuchen auffüllen werden. Sie werden dabei diejenigen Werte, die Ihnen angeblich so wichtig sind, am allerwenigsten beachten. So viel ist sicher.
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Wir brauchen also dringend einen Prozess kultureller Selbstvergewisserung in Deutschland. Daher fordert die AfD-Fraktion einen Nationalen Aktionsplan Kulturelle Identität. Der Bund sollte diesen in Abstimmung mit den Ländern auf den Weg bringen. Neben dem Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden von kultureller Bedeutung nach dem Vorbild des Berliner Stadtschlosses oder der Dresdner Frauenkirche sollte ein Schwerpunkt auf der Erinnerungskultur liegen.
Weil ich Sie hier bei diesem Thema schon wieder schreien höre, sage ich es noch einmal: Wir wollen die Erinnerung an die dunklen Zeiten unserer Geschichte nicht abschaffen. Sie gehören auch dazu. Aber wie der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg schon vor 40 Jahren mit Blick auf die Identität der Deutschen sagte:
Es ist eines ... die Quittung der Geschichte zu unterschreiben als ehrlicher Schuldner. Es ist ein anderes, zugleich aus der eigenen Geschichte auszutreten.
Wer eben nur bis 1933 zurückdenken kann oder neuerdings bis in die deutsche Kolonialgeschichte, der schneidet den tiefen Geschichtsraum ab, aus dem wir kommen und den der Brite Neil MacGregor in seiner fantastischen Ausstellung „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ so eindrucksvoll aufgearbeitet hat. Das, meine Damen und Herren, sollte eigentlich auch als deutsche Eigenleistung möglich sein, und es sollte zum selbstverständlichen Bildungsgut aller Deutschen werden.
Um insbesondere dem Sprachverfall durch Gendersprache, Leichte Sprache und andere Entstellungen, wie sie heute an der Tagesordnung sind, entgegenzuwirken, fordern wir außerdem die Gründung einer Deutschen Akademie für Sprache und Kultur. Mit Sitz in Berlin sollte sie aus unabhängigen Persönlichkeiten bestehen, die sich um die deutsche Sprache und Kultur verdient gemacht haben und die nach dem Vorbild der Académie française auf Lebenszeit gewählt werden. Sie sehen: Wir sind auch für gute Ideen aus dem Ausland offen, wenn sie sich mit Gewinn auch bei uns implementieren lassen.
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Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, wir reagieren mit diesen Anträgen auf eine linke Kulturrevolution – Kollege Renner hat vorhin auch schon davon gesprochen –, die mit Cancel Culture, Denkmalstürzen und immer offenerer Verachtung von Kulturleistungen der Vergangenheit derzeit in eine heiße Phase eintritt. Von Grünen, Linken und SPD erwarten wir nichts anderes als heftigste Ablehnung; denn sie sind der politische Arm dieses Kurses der kulturellen Deutschland-Abschaffung.
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.
CDU und FDP hingegen hätten heute wieder eine Gelegenheit, zu beweisen, dass sie noch nicht völlig auf die linke Seite gekippt sind.
Glück auf!
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Abgeordnete Melanie Bernstein.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar nicht, zum wievielten Male die Geduld der Mitglieder des Hauses nun schon mit solchen Anträgen der AfD-Fraktion beansprucht wird. Das letzte Mal durfte ich mich hier im Januar mit einem Antrag zur deutschen Sprache auseinandersetzen, in dem es um die Smartphone-Nutzungsgewohnheiten von Deutschtürken und den Wortschatz von Hipstern ging, der zu viele englische Ausdrücke enthielte.
Heute sollen wir nun also die kulturelle Identität bewahren.
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Und was steht in Ihren Anträgen? Eine angebliche „Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur“, die Zerstörung der „uralten Solidargemeinschaft zwischen Mann und Frau“, die „zerbröselt unter schrillen feministischen Attacken“. Sie sehen eine „Erosion unserer kulturellen Grundlagen“, der „entschiedener Widerstand“ entgegenzusetzen sei. Ich kann mich dem nicht anschließen.
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Sie fordern Akademien, wo Sie doch sonst immer Stiftungen zur politischen Bildung abschaffen wollen. Ich sehe in unserem Land zahlreiche Institutionen, Museen, Theater, Ausstellungen, das Goethe-Institut, die alle unsere Sprache und Kultur bewahren und dafür auch ganz viel Wertschätzung und Engagement vom Bund erhalten.
Wenn ich mich in meinem Wahlkreis umschaue, sehe ich unsere kulturelle Identität bewahrt und den nächsten Generationen nahegebracht, übrigens meist ehrenamtlich.
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Da gibt es Heimatmuseen, alte Schulen, kleine Bibliotheken, Mühlen mit Kulturangeboten und etwa auch sprachliches Erbe, wie Plattdeutsch.
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Sie sehen dies alles nicht – oder Sie wollen es schlicht nicht sehen.
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Aber was bezwecken Sie denn damit? Worum geht es Ihnen mit derartigen Provokationen? Es geht Ihnen doch um nichts anderes als um Ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit.
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Indem Sie behaupten, die sogenannten Altparteien würden die kulturellen Grundlagen unseres Landes entweder vernachlässigen oder gar gezielt zerstören wollen, stellen Sie sich als Hort der Bewahrung nationaler Tradition dar und somit als Opfer der etablierten Parteien. Und das verkaufen Sie dann auf Ihren Kanälen in den sozialen Netzwerken als vermeintlich heldenhaften Widerstand gegen das System. Dieses Spiel spielen Sie seit Beginn der Wahlperiode, und diesem Geist sind auch die vorliegenden Anträge entsprungen.
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Denn diese resultieren ja aus einer Rede Ihres eigenen Björn Hocke, der auf Ihrem jüngsten Parteitag vor einer, wie er es nannte, „kulturellen Kernschmelze“ gewarnt hat.
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Sie nutzen solche Sitzungen wie diese hier, um Gesprächsstoff bei Ihrer Klientel zu generieren und um zu eskalieren. Sie fotografieren leere Sitzreihen vor Sitzungsbeginn, um den sogenannten Etablierten Faulheit zu unterstellen.
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Dabei haben Sie die zweitschlechteste Präsenz aller Fraktionen bei namentlichen Abstimmungen.
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Sie schleusen Provokateure in den Deutschen Bundestag, die dann Abgeordnete bedrängen und beleidigen. Ihre Devise heißt immer wieder: Protest und Provokation.
Umso schlimmer ist das, als sich alle anderen Fraktionen – und da schließe ich die Kolleginnen und Kollegen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ausdrücklich ein – seit mehr als einem Jahr gemeinsam darum bemühen, unser Land durch die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu führen, was wahrlich keine einfache Aufgabe ist.
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Sie verbringen Ihre Zeit derweil damit, gegen eine Maskenpflicht in den Räumen des Bundestages zu klagen. Das, meine Damen und Herren, ist eine recht traurige Bilanz von fast vier Jahren parlamentarischer Arbeit.
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Zum Abschluss möchte ich gerne unseren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble zitieren, der 2018 an dieser Stelle sagte: „Wer vom Volk spricht, aber nur bestimmte Teile der Bevölkerung meint, legt Hand an unsere Ordnung.“ Das ist ungefähr alles, was ich zu Ihren Anträgen heute zu sagen habe.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Abgeordnete Hartmut Ebbing.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal – wie schon meine Vorrednerin gesagt hat – beschäftigen wir uns heute auf Wunsch der AfD mit einem Antrag zur Bewahrung der deutschen Sprache. Dieses Thema scheint eine der Hauptängste der AfD zu berühren. Mitte Januar sprachen wir hier schon einmal über die Bewahrung der deutschen Sprache. Damals unterstellten Sie noch unseren türkischstämmigen Mitbürgerinnen und ‑bürgern, weder ortsanzeigende Präpositionen zu beherrschen noch eines hochdeutschen Akzents mächtig zu sein.
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Heute wird es noch wirrer: Nun soll „der wachsende Einfluss des Islam“ und die „Radikalisierung des hegemonialen postmarxistischen Gedankenguts zu einer Dekonstruktion der deutschen kulturellen Identität“ führen.
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Als Hauptinstrument dieser Dekonstruktion wird behauptet, dass die deutsche Sprache geschlechtergerecht umgeformt wird.
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Welch perfide Idee der von Ihnen so verachteten Mehrheitsgesellschaft!
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Diese wagt es doch, Frauenrechte zu stärken und jahrhundertealtes Machotum endlich zu bekämpfen.
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Diese längst überfällige Entwicklung soll das deutsche Volk seiner kulturellen Identität berauben? Das ist doch wirklich nicht Ihr Ernst.
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Was soll das denn für eine Identität sein, die Sie, die AfD, sich herbeiwünschen? Die des strukturellen Chauvinismus?
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Die AfD möchte, wie so oft, in tradierten, ausgrenzenden und spalterischen Denkschemata verharren. Die angebliche Angst um die deutsche Sprache soll hier missbraucht werden, um fortschrittliche Entwicklungen wie Emanzipation und Gleichberechtigung zu untergraben.
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Insofern schlage ich mit der FDP vor, diesen Antrag rigoros – Entschuldigung, „rigoros“ ist ja mittellateinisch –, mit Bestimmtheit, abzulehnen
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und die Pflege der deutschen Sprache denen zu überlassen, die etwas davon verstehen, wie zum Beispiel der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.
Ich glaube, ich habe zwei Minuten geredet. Das ist auch genug für diesen Antrag der AfD.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Helge Lindh.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dank Empathie konnte ich mich hineinversetzen, wie AfD-Funktionäre im Traum den Nationalen Aktionsplan gebaren, im Geiste deutscher Leitkultur ein deutsches Drama, in das ich Sie jetzt entführe:
Faust: Habe nun, ach, Deutsch, Geschichte und Kultur und Politik gar durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.
Mephisto – zu ihm –: Gedenke, du bist AfDler; Klugheit und Vernunft sind nicht deine Kernkompetenz.
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Faust: Wer bin ich? Ich soll deutsch sein. Was ist deutsche Kultur? Ich versuche es zu checken. Heidegger? Okay. Wagner? Auch. Aber, o Gott, Heine, der war jüdisch und deutschlandkritisch. Und der Brecht, der war Kommunist. Und der Mann: irgendwie schwul und antinational. Und der Zaimoglu da, krass türkisch.
Darauf Mephisto: Und Heidegger hatte was mit Hannah Arendt. Im Übrigen: Man sagt „Zaimolu“; aber mach dir keinen Kopf, hör ruhig Musik, Frei.Wild, Böhse Onkelz, Andreas Gabalier.
Faust darauf: Vielleicht auch Heino? Der macht so schöne Volksmusik, „Schwarzbraun ist die Haselnuss“.
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Und auch das ganze Deutschlandlied. Und manchmal auch SS-Liedkulturgut aus dem Buch.
Darauf Mephisto: Ja, aber im „Kölner Treff“ hat er zur AfD gesagt, also Heino: „Wenn ich drüber nachdenke, wird es mir übel … So eine Partei muss man verbieten …“
Faust darauf: Mist! Du, aber die Frauen mit ihrer Emanzipation und so, die machen mir Angst,
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und die Fremden und der Islam und all die Veränderung und all das und wie komisch die alle reden.
Mephisto darauf: Da haben wir den Ansatz: Wir nennen das Ganze „kulturelle Identität“. Die AfD steht für Leitkultur. – Habt ihr zwar keine Ahnung von, aber wurscht. – Die Sprache setzen wir ins Zentrum, als Trojanisches Pferd gegen all die Frauen, Fremden, Flüchtlinge und all die, die was haben gegen Verhunzung der Sprache, gegen Anglizismen, gegen Political Correctness, gegen Gendern; die haben wir dann gleich mit im Sack.
Faust darauf: Du, in den 50ern, da waren doch die Männer noch Männer und die Frauen noch Frauen.
Mephisto: Ja, und die Richter waren noch Nazis; das waren die guten, alten Zeiten damals.
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Aber machen wir aus der Not eine Tugend, feiern wir die 50er unter dem Motto „Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren“.
Faust – begeistert –: Tausendjähriges Reich und Muff? Finde ich gut.
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Und dies ganze Dekolonisieren, das nervt mich tierisch. Und überhaupt: Diese Verteufelung des weißen Mannes und diese Rückgabe von Objekten, das macht doch unsere positive Identität kaputt.
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Mephisto – schreitet ein –: Moment, Achtung! Auf Verteufelung bestehe ich.
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Aber habe ich dich richtig verstanden? Raubgut als positive deutsche kulturelle Identität? Bin ich nun der Teufel oder du?
Faust: Wie realisieren wir denn nun das Ganze?
Mephisto: Ihr fordert einfach einen Nationalen Aktionsplan Kulturelle Identität und eine Deutsche Akademie für Sprache und Kultur, fertig. Nichts Konkretes, nichts Praktisches, keine Arbeit; darauf versteht ihr euch sowieso nicht gut.
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Darauf abschließend Faust: Ja, jetzt bin ich beruhigt, jetzt kann ich ruhig schlafen. All meine Dämonen und mein schlechtes Gewissen sind tot.
Abschließend Mephisto: Gut, leg dich hin, lausche zum Einschlafen noch ein bisschen Gabalier oder Frei.Wild. Und vergiss eines nicht: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Abgeordnete Simone Barrientos.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn Strolche von rechts die deutsche Kultur schützen wollen und die deutsche Identität, dann kann man sicher sein: Gleich goebbelt es aus allen Löchern.
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So auch hier: Die blaubraune Truppe möchte – so ist das – die Reichskulturkammer wiederbeleben.
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Gleichschaltung Ihres eindimensionalen Denkens ist Ihr Ziel. Die erste Behörde zur Reinheit der deutschen Sprache gründeten übrigens die Nazis 1935 in Form des sogenannten Sprachpflegeamtes.
Wenn Sie davon sprechen, dass die deutsche Sprache in ihrer Tradition erhalten werden soll, dann ignorieren Sie natürlich, dass Sprachen Einflüssen unterliegen. Sie ignorieren zum Beispiel den Einfluss der Hugenotten auf unsere Sprache. Sie ignorieren die Tatsache, dass Jiddisch einst nicht nur von ganz vielen Deutschen gesprochen wurde, Sie ignorieren auch den Einfluss des Jiddischen auf unsere Sprache. „Mischpoke“, „Maloche“, „Schlamassel“, „schmusen“: alles Jiddisch.
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Die Menschen – Frauen, Männer, Kinder –, die hat man ermordet; aber in unserer Sprache lebt ihre Kultur weiter. Das ist ein Erbe, das wir gar nicht oft genug hervorheben können und pflegen müssen.
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Sie verengen nicht nur die Sprache, Sie wollen auch ans Gesprochene. So soll der Blick auf die deutsche Kulturgeschichte ein positiver sein und bloß nicht gestört werden durch Debatten um Kolonialismus oder Naziterror. Nicht Wiedergutmachung der von Deutschland im Kolonialismus begangenen Untaten will die AfD, nein, sie will – hört, hört! – einen positiven Blick auf die Kolonialzeit; denn das sei Teil der deutschen Identität, auf die man auch stolz sein könne.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Münz von der AfD?
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Nein, das ist wirklich nicht wertsteigernd; danke.
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Das will die AfD: stolz sein auf unseren deutschen Kolonialismus. Wie widerlich ist das denn eigentlich?
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Ich habe es irgendwann schon mal gesagt in diesem Plenum: Die AfD steht auf des Kaisers alten Bart, aber eben auch auf das andere kleine Bärtchen. So ist das. Das belegen die hier vorliegenden Anträge eindrücklich. Wenn ihr euch den Tag versauen wollt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann mal reinschauen. Es ist wirklich nicht schön.
Die Anträge stammen übrigens aus der Feder der beiden Herren,
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die zu Beginn der Legislatur dafür kämpften, dass die AfD die Leitung des Ausschusses für Kultur und Medien übernimmt. Das konnte verhindert werden. Die Enttäuschung war groß. Jongen und Renner erklärten sich daraufhin zur – Zitat – „Abteilung Attacke“; nun sei man keiner „Neutralitätspflicht“ mehr „unterworfen“ und würde mit Freude die „Entsiffung des Kulturbetriebs“ in Angriff nehmen. So sind Sie drauf, die Jungs von Rechts. Pfui Deibel!
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Eine Frage bleibt mir. Ich bringe ja im Plenum gern ein Zitat aus der Richard-Wagner-Oper „Walküre“; da gibt es dann immer ganz große Aufregung. Aber ich finde, „Ruhig, Brauner!“ kann in diesem Hause ein geflügeltes Wort sein.
Vielen Dank.
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Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt Rettungsangebote, auf die kann man dankend verzichten, etwa auf die Rettung des Abendlandes durch die AfD.
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In den vorliegenden Anträgen geht es um eine angebliche kulturelle Revolution, herbeigeschrieben von Egon Flaig, Autor der neurechten Vierteljahresschrift „Tumult“. Dass Sie Flaigs Schriften zum Antrag erheben – der zum Nationalen Aktionsplan; es ist fast identisch, was Sie hier vorbringen –, das zeigt zwei Sachen: Erstens. Als Abgeordnete sind Sie inhaltlich ferngesteuerte Trabanten von Kubitschek, Flaig und Konsorten.
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Und zweitens: Das Übernehmen historischer Verantwortung ist nicht Ihre Sache.
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Irgendwie soll zwar doch kulturelle Identität durch die eigene Geschichte entstehen, aber man möge sich doch bitte die guten Brocken herauspicken und den Rest vergessen.
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Weil wir das in Deutschland bisher nicht machen, beklagt Ihr Antrag – ich zitiere –, es würden bisher historische Persönlichkeiten geächtet. Wohlgemerkt, es geht Ihnen um geächtete Persönlichkeiten, die historisches Unrecht begangen haben.
Es folgt ein weiterer, bemerkenswerter Kurzschluss in den rechten Gehirnen: Diese Ächtung sei ein Faktor für Vandalismus gegenüber einzigartigen Kulturgütern. Sie beziehen sich da auf die versuchte Zerstörung von 60 Objekten im Neuen Museum, in der Alten Nationalgalerie und im Pergamon-Panorama am Kupfergraben im Oktober letzten Jahres. Hier versuchen Sie, eine Legende zu stricken, die nur zur eigenen Reinwaschung dienen soll. Das erinnert auf fatale Weise an übelste Geschehnisse in unserer Geschichte.
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Sie versuchen nur noch ganz oberflächlich, Ihren braunen Neoprenanzug mit einem Deckmäntelchen zu übertünchen.
Schließlich soll das Rettungswerk im zweiten Antrag in einer Deutschen Akademie für Sprache und Kultur vollendet werden. Ihr Antrag richtet sich gegen eine diverse, geschlechtergerechte Sprache, gegen leichte Sprache und damit ausdrücklich gegen Menschen mit Behinderung.
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Stellenbesetzungen sollen ausdrücklich fern von Quoten erfolgen. Übersetzt ins Deutsche heißt das: Es soll ein finanzielles Vollversorgungswerk für die AfD und ihre Spießgesellen geschaffen werden.
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Ausufernd widmen Sie sich der steilen Leerdenkerthese, wir Deutschen wären kulturell alle gleich. Ich sage es Ihnen: Es gibt innerhalb einer Nation eine Vielzahl von kulturellen Identitäten. Wie Jan Assmann schreibt, gründet sich das „Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit … auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache oder … die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt wird“. Dazu gehören Trachten, Tänze, Speisen und Getränke.
Vielleicht wissen Sie es nicht, aber durch Bayern zieht sich der Weißwurstäquator. Ich sage Ihnen: Das ist eine echte kulturelle Hürde innerhalb einer Nation,
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und wir müssen praktisch täglich an seiner Überwindung arbeiten – aber ohne Sie.
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Sie haben keine Ahnung von kultureller Identität und davon, was sie wirklich ausmacht. Diese Anträge bestätigen das in trauriger Weise einmal mehr.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort der Abgeordneten Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD möchte einen kulturellen Aktionsplan auf den Weg bringen. Hätten Sie es lieber nicht getan! Ihren Plan braucht wirklich niemand. Ihr Plan ist dürftig.
Schon die Eingangsthese ist falsch. Sie behaupten, dass eine Identitätsbildung zunehmend verunmöglicht sei wegen der Denunzierung des eigenen Herkommens und der eigenen Geschichte. Das Herkommen und die eigene Geschichte werden von niemandem in diesem Land denunziert oder geleugnet. Vielleicht machen Sie einmal einen Spaziergang durch Berlin. Hier gibt es so viele Erinnerungsorte unserer Geschichte wie in keiner anderen Stadt.
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Wir planen und bauen sogar neue Denkmäler im Hinblick auf unsere Geschichte, wie das Freiheits- und Einheitsdenkmal, das Denkmal für die Opfer der SED-Diktatur, das Polen-Denkmal oder das Dokumentationszentrum für die Opfer der Nazidiktatur.
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Nein, wir stellen uns unserer Geschichte; wir arbeiten sie auf. Ihr Blick auf unsere Geschichte ist hingegen selektiv, falsch und eindimensional.
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Davon haben wir im Laufe des Tages einige Kostproben bekommen. Ich möchte einige Punkte nennen:
Erstens. Sie beklagen eine „Kulturrevolution“, die ihre Wurzeln in den 1960er-Jahren mit der Studentenbewegung und der Frauen- und Homosexuellenbewegung hat. Diese Bewegungen haben – das will ich hier so deutlich sagen – unserem Land aber einen Erneuerungsschub gegeben, den wir dringend brauchten.
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Der Muff von 1 000 Jahren unter den Talaren musste raus.
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Manches war sicher auch kritikwürdig und übertrieben; das würde ich gar nicht bestreiten.
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Aber insgesamt waren diese Bewegungen positiv.
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Zweitens. Sie behaupten, dass die massenhafte Zuwanderung aus kulturfremden Regionen unsere eigene kulturelle Prägung „verflüssigt“ habe. Diese Aussage ist unfassbar und dumm.
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Diese Migranten, die zugewandert sind, die Alice Weidel als „alimentierte Messermänner“ oder als „Kopftuchmädchen“ bezeichnet, kommen aus Ländern und Regionen mit Hochkulturen,
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mit Kulturen, die älter sind als unsere und die heute unser Land bereichern.
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„Kulturfremde Regionen“: Vielleicht reisen Sie mal durch Asien oder Afrika; dann werden Sie viele beeindruckende kulturelle Orte finden.
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Wir stellen ihre Exponate übrigens sogar aus. Ein Gang zur Büste der Nofretete würde sich lohnen.
Drittens. Sie werfen uns Gedächtnisverlust im Hinblick auf die eigene Identität und Mangel an Bildung vor. Was für eine Arroganz! Wer selbst so viel Nachholbedarf hat, sollte nicht mit dem Finger auf andere zeigen.
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„Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen“, ist ein altes Sprichwort.
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Viertens. Ihr Kulturbegriff ist völlig verengt. Ein Aktionsplan Kultur kann sich eben nicht nur auf die Erinnerungsgeschichte, die Architektur und die Museen beziehen, so wichtig diese Themen auch sind; ich würde das nicht bestreiten. Es fehlen aber Literatur, Theater, Musik, Film, Tanz, die Klubkultur; da gibt es so vieles, was Teil der lebendigen Kulturszene in Deutschland ist. Das alles ist in Ihrem Plan gar nicht enthalten. All das gehört auch zu unserer reichen, lebendigen Kulturlandschaft, um die uns viele, viele beneiden und die übrigens ein Anziehungspunkt für Millionen von Touristen ist.
Ich komme zum Schluss zur Sprache. Sie wünschen sich eine Deutsche Akademie für Sprache und Kultur als Pendant zur Académie française in Paris. Sie erhoffen sich eine ähnliche Pflege der Sprache. Ich empfehle Ihnen, selbst erst mal Ihre Sprache zu pflegen.
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Vielleicht befleißigen Sie sich selbst einmal einer gepflegten Sprache. Die Verrohung der Sprache ist ein Merkmal Ihrer Partei. Wenn Sie von „Drecksack“, „Antifa-Kindern“, „bekifften Eltern“, von „Merkel-Nutte“ oder „auf Leichen pissen“ sprechen,
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ist es kaum zu glauben, –
Frau Kollegin, die Zeit ist abgelaufen.
– dass uns diese Fraktion ernsthaft zur Pflege und Bewahrung der Sprache auffordert, meine Damen und Herren.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ihre Anträge lehnen wir natürlich ab.
Vielen Dank. – Der Kollege Martin Rabanus gibt seine Rede zu Protokoll.
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– Der Beifall ist berechtigt. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, wurde nicht nur ganz maßgeblich von meiner Fraktion mitgeschrieben; Mitglieder meiner Fraktion waren leider auch der Grund, warum wir diesen Gesetzentwurf überhaupt brauchen. Dieses Fehlverhalten hat nicht nur unserer Fraktion geschadet, sondern es hat dem ganzen Haus, allen Kolleginnen und Kollegen, geschadet. Es tut mir leid. Das beschämt uns. Darum bitte ich um Entschuldigung für das Fehlverhalten dieser unserer ehemaligen Mitglieder meiner Fraktion.
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Ich will aber auch sagen: Wir haben verstanden, und wir handeln. Der Gesetzentwurf, den wir hier vorlegen, ist die größte Reform des Abgeordnetengesetzes, die es bisher gegeben hat. Wir geben den Abgeordneten des Bundestages strengste Verhaltensregeln vor und ziehen damit klare Konsequenzen aus den bitteren Erfahrungen, die wir im März machen mussten.
Wir erweitern die Anzeige- und Veröffentlichungspflichten, und wir verbieten Nebentätigkeiten, bei denen ein Interessenkonflikt per se oder immer gegeben ist. Mit diesem Eingriff in die Berufsfreiheit sichern wir nicht nur die Integrität der Abgeordneten, sondern wir sichern auch die Unabhängigkeit des Mandates.
Wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf aber auch für mehr Klarheit und bessere Lesbarkeit der Regeln für Abgeordnete, die sich bisher in das Abgeordnetengesetz, die Verhaltensregeln in der Geschäftsordnung und dann auch noch in die Ausführungsbestimmungen zu diesen Verhaltensregeln aufgliedern. Das alles führen wir rechtssicher und übersichtlich im Abgeordnetengesetz zusammen.
Zu den Regeln im Einzelnen. „… Einkünfte aus Nebentätigkeiten und Unternehmensbeteiligungen werden betragsgenau (auf Euro und Cent) veröffentlicht.“ Das heißt aber auch: Nebentätigkeiten bleiben grundsätzlich erlaubt. Ich halte das für wichtig und will das auch betonen. Wir wollen, dass auch in Zukunft Freiberufler, Selbstständige und Unternehmer Mitglied des Deutschen Bundestages sein können, ohne dass sie ihre berufliche Existenz, die sie sich aufgebaut haben, aufgeben müssen. Wir brauchen ihre Expertise, auch ihre Lebenserfahrung. Wir müssen einfach anerkennen, dass mehr Unabhängigkeit im Mandat damit verbunden ist, wenn man auch nach dem Ausscheiden, das in der Regel im Durchschnitt nach acht bis zehn Jahren, also nach zwei Wahlperioden, stattfindet, seine berufliche Existenz weiterführen kann.
Die Einkünfte aus Nebentätigkeiten werden anzeigepflichtig – wie gesagt, centgenau –, „wenn sie im Monat den Betrag von 1 000 Euro oder bei ganzjährigen Tätigkeiten … in der Summe den Betrag von 3 000 Euro übersteigen.“
„Beteiligungen … an Kapitalgesellschaften … auch an Personengesellschaften werden“ in Zukunft bereits „ab fünf Prozent … der Gesellschaftsanteile angezeigt und veröffentlicht …“ Und „auch Einkünfte aus anzeigepflichtigen … Unternehmensbeteiligungen (zum Beispiel Dividenden, Gewinnausschüttungen) werden anzeige- und veröffentlichungspflichtig.“
Wir regeln auch die Frage der Einräumung von Aktienoptionen und vergleichbarer Finanzinstrumente, „die als Gegenleistung für eine Tätigkeit gewährt werden …“ Auch sie müssen angezeigt und veröffentlicht werden.
Ein Kern der nunmehr erfolgten Änderungen ist sicherlich, dass wir die bezahlte Lobbytätigkeit von Abgeordneten gegenüber Bundesregierung und Bundestag gesetzlich verbieten und dort künftig eine Sanktion in Form eines Ordnungsgeldes bis zur Höhe der Hälfte einer Jahresdiät und auch eine Vermögensabschöpfung bei den Gewinnen aus solchen Geschäften vorsehen.
Abgrenzend dazu wollen wir natürlich, dass auch in Zukunft ehrenamtliche Tätigkeiten, die mit einer überschaubaren Aufwandsentschädigung versehen sind, weiter möglich sein sollen.
Wir verbieten Honorare für Vorträge im Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit.
Wir wollen den Missbrauch der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag zu geschäftlichen Zwecken untersagen und mit einem Ordnungsgeld sanktionieren und auch dort in Zukunft bei Gewinnen Vermögensabschöpfungen vorsehen.
Schließlich wollen wir auch die Entgegennahme von Geldspenden durch Abgeordnete verbieten.
Also: Klare, weitgehende Regeln, harte Sanktionen, die dort vorgesehen sind.
Ich bin mir sicher, dass diese Regeln erforderlich sind, dass sie aber auch machbar sind, dass sie das Parlament in der Zusammensetzung nicht grundsätzlich verändern, also auch in Zukunft Selbstständigen und Freiberuflern beispielsweise die Mitgliedschaft faktisch ermöglichen.
Haltung, Anstand und Integrität sind unverzichtbare Voraussetzungen für die Tätigkeit als Abgeordneter, eine Tätigkeit im Übrigen – auch das will ich hier noch einmal betonen –, die angemessen und vor allem ausreichend bezahlt ist.
Zusammenfassend will ich sagen: Wir haben verstanden, wir haben gelernt, und wir reagieren heute. Ich bin dankbar – das sage ich ausdrücklich –, dass wir das nicht nur in der Koalition machen, sondern dass wir darüber hinaus auch weitere Unterstützung in diesem Hause für diesen Gesetzentwurf bekommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Patrick Schnieder. – Für die Fraktion der AfD erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thomas Seitz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns mit einem interfraktionellen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Transparenzregeln. Warum wurde die AfD nicht beteiligt? Die Union hat wohl geahnt, dass wir diesen Gesetzentwurf nicht unterstützt hätten; denn die AfD ist eben keine Serviceopposition und nicht in Lauerstellung auf eine Regierungsbeteiligung wie die Grünen, die sich gestern bei der Änderung des IfSG enthalten haben, um sich bei der Union anzubiedern. Peinlich!
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Angesichts der vielen Korruptionsskandale von CDU und CSU um Maskendeals und dubiose Geschäfte
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mit Ländern wie Aserbaidschan ist Ihr Gesetzentwurf nicht mehr als ein Feigenblatt, um beim Wähler mit nur einem blauen Auge davonzukommen. Die Union kämpft nicht für Transparenz, sondern um ihr politisches Überleben als Partei jenseits der 20-Prozent-Marke.
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– Wenn Sie was wollen, stellen Sie doch eine Zwischenfrage.
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Vielleicht genehmigt sie der Herr Präsident.
Vergleichen wir es doch einmal mit der Wahlrechtsreform. Jahrelang blockieren Sie die Neuregelung, dann verabschieden Sie eine Scheinreform, und jetzt soll eine Kommission kommen, um den Bürger über Ihre in Wahrheit gegebene Unwilligkeit zu täuschen. Die Wahrheit ist: Sie nehmen in Kauf, dass im nächsten Bundestag sogar über 900 Abgeordnete sitzen.
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Ihr Gesetzentwurf hier und heute ist genauso eine Enttäuschung. Die bisher als Anlage zur Geschäftsordnung geregelten Verhaltensregeln werden in das Abgeordnetengesetz verschoben. Viel Text, aber eher wenig wirklich Neues und vor allem nicht gut geregelt! Ihre Begründung ist abenteuerlich: Bisher seien die Regelungen auch für Abgeordnete so schwer verständlich gewesen. – Ich sage: Wer 10 000 Euro monatlich kassieren will, aber die Regeln nicht versteht, der ist unwürdig.
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Und wer Mitarbeiter für fast 23 000 Euro anstellen kann, es aber nicht schafft, die notwendige Expertise einzukaufen, der ist auch noch unfähig. Wissen Sie, nach dem Fall Amthor hätte ich gesagt: Na endlich! Die Union gibt ihre Totalverweigerung auf. – Aber nach den ganzen anderen Skandalen so ein Entwurf, nur das absolute Minimum?
Was also ist drin, und was fehlt? Erstens: „Nebeneinkünfte … werden betragsgenau … veröffentlicht.“ – Gut, aber nicht zwingend. Eine Ausweitung der Betragsstufen hätte gereicht. Aber selbst das hätte es ohne die Skandale nie gegeben.
Zweitens: Verbot von Lobbyarbeit durch Abgeordnete. – Gut und richtig, wenn auch hier nicht der Einsicht der Union geschuldet, sondern dem Druck der Öffentlichkeit; aber immerhin.
Drittens: Absenkung des Schwellenwertes für die Pflicht zur Veröffentlichung von Unternehmensbeteiligungen auf 5 Prozent. – Ein richtiger Schritt, aber mit einer großen Lücke; denn bei einem DAX-Konzern hat auch eine Beteiligung von 3 Prozent eine immense Bedeutung und sollte transparent sein.
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Viertens: Es muss also veröffentlicht werden, wenn Optionen als Gegenleistung gewährt werden. – Nein, Optionen als Gegenleistungen müssen als solche verboten sein; denn das schafft einen Anreiz zu rechtswidrigem Verhalten und verführt zu übermäßigem Gewinnstreben.
Fünftens: Geldspenden werden verboten, Sachspenden bleiben erlaubt. – Mit Verlaub, wollen Sie den Bürger für dumm verkaufen? Ein Geldkoffer für Herrn Schäuble, das wäre unzulässig. Eine Goldmünze wie der Krügerrand als offizielles Zählungsmittel wäre verboten, Goldbarren oder Diamanten nicht. An die Behandlung von Forderungen haben Sie gar nicht gedacht. Mein Urteil: Setzen, sechs!
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Zum Abschluss danke ich den Kollegen von CDU und CSU aus Bund und Land, die dazu beigetragen haben, dass sich die Union immerhin ein Stück bewegen musste. Ich sage den Herren Amthor, Nüßlein, Hauptmann, Löbel, Fischer, Zech, Gutting, Sauter, Pfeiffer und Straub: Vielen Dank.
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Herr Kollege Seitz, wenn Sie sich bitte ankleiden.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Dr. Matthias Bartke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hätte Anfang des Jahres wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass wir in kurzem Abstand nacheinander das Lobbyregister einführen und an die Transparenzregeln für Abgeordnete herangehen.
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Ich glaube, für unser Hohes Haus kann man sagen: Es ist der Frühling der Transparenz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, schlimme Dinge haben manchmal auch ihre guten Seiten. Die allermeisten von uns hätten sich wohl niemals vorstellen können, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages Profit aus der schlimmsten Krise unseres Landes seit dem Zweiten Weltkrieg ziehen
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oder dass sie sich von einem Drittland bestechen lassen. Man muss es sagen: Der Anlass für die anstehende Reform ist wahrlich besorgniserregend. Ich freue mich aber, dass die Ereignisse nun dazu führen, dass wir endlich mehr Transparenz schaffen können. Wir müssen sicherstellen, dass solche Ereignisse nie wieder vorkommen.
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An die Adresse unseres Koalitionspartners möchte ich ausdrücklich sagen: Sie haben richtig reagiert, und dafür haben Sie meine Hochachtung.
Dieser Gesetzentwurf ist aber nicht bloß eine Mahnung an die Abgeordneten. Er ist ein echter Paradigmenwechsel bei den parlamentarischen Transparenzregeln. Unser Gesetzentwurf sieht erhebliche Verschärfungen vor. Nebeneinkünfte von Abgeordneten werden künftig auf Euro und Cent veröffentlicht. Unternehmensbeteiligungen und die daraus entstehenden Einkünfte werden ab 5 Prozent der Gesellschaftsanteile veröffentlicht. Aktienoptionen werden veröffentlicht. Entgeltliche Lobbytätigkeiten von Abgeordneten werden verboten. Die Annahme von Geldspenden wird verboten. Honorare für Vorträge werden verboten. Und: Der Missbrauch der Mitgliedschaft im Bundestag für private Zwecke wird ebenfalls verboten. Verstöße gegen die Regeln können mit einem Ordnungsgeld bis zur Hälfte einer Jahresdiät geahndet werden. Verbotene Einnahmen werden an den Bundestag abgeführt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese neuen Regeln sind nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution im Parlamentsrecht, und sie gehen natürlich maßgeblich von einer Initiative der SPD-Fraktion aus.
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Die bisherigen Transparenzregeln sind außerdem alles andere als transparent. Man findet sie im Abgeordnetengesetz, in den Verhaltensregeln und in den Ausführungsbestimmungen zu den Verhaltensregeln. Am Ende blickt keiner mehr durch, was gilt und wo geregelt ist. Deswegen werden wir sämtliche Transparenzregeln einheitlich im Abgeordnetengesetz regeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es um Transparenz geht, passiert immer nur etwas, wenn etwas passiert ist. Das war hier so, und das war beim Lobbyregister so. Das tut aber der Qualität des Gesetzes keinen Abbruch. Besonders erfreulich finde ich es, dass Linke und Bündnisgrüne Miteinbringer sind. Das Parlamentsrecht sollte möglichst immer aus der Mitte des Parlamentes in einem möglichst breiten Konsens gestaltet werden, und genau das tun wir hier. Denn bei den Regeln unseres gemeinsamen Zusammenarbeitens sollte die Demarkationslinie zwischen Regierung und Opposition aufgehoben sein. Deswegen auch mein Dank an die demokratischen Oppositionsparteien für die konstruktive Mitarbeit. Noch besser hätte ich es allerdings gefunden, wenn auch die FDP dabei gewesen wäre.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Gesetzentwurf betreten wir mit manchen Regeln Neuland. Manche Regeln können vielleicht auch noch besser werden. Daher – manchmal ist es eine Floskel, aber diesmal gilt der Satz wirklich –: Ich freue mich auf die konstruktiven Beratungen im Ausschuss zu diesem Gesetzeswerk.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort für die Fraktion der FDP hat der Kollege Dr. Marco Buschmann.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist durch eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen erschüttert worden. Das hat nicht nur das Ansehen der betroffenen Fraktionen verletzt, sondern das Ansehen der Politik insgesamt und des ganzen Hauses. Deshalb war klar, dass etwas passieren musste. Ich möchte ausdrücklich anerkennen: Dass hier schnell etwas passiert ist, dass hier schnell ein Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt wird, ist ein gutes Signal, und das muss man anerkennen, meine Damen und Herren.
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Es ist auch ein gutes Signal, dass Sie in dem Entwurf eine ganze Reihe von Vorschlägen der Opposition aufgegriffen haben, auch eine ganze Reihe von Vorschlägen, die wir gemacht haben, insbesondere dass weisungsgebundene Lobbytätigkeit verboten wird, dass nicht nur Optionen, sondern auch andere Finanzderivate erfasst werden und dass wir insbesondere klare Schutzvorschriften für das Ehrenamt und für die Parteitätigkeit haben. Denn es wäre ja ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ein Gesetz, das mit der Absicht von Transparenz beschlossen werden soll, am Ende dazu führt, dass sich das Parlament abkapselt. Das möchte ich ausdrücklich anerkennen: Das sind die Vorteile an diesem Entwurf.
Der Entwurf hat aber auch Dinge, über die wir in der zweiten und dritten Lesung nochmal sehr genau sprechen müssen und die auch meine Fraktion dazu bewogen hat, hier nicht Antragsteller zu sein. Das ist zum Beispiel eine – meiner Meinung nach – dringend notwendige Verschärfung bei der Vorteilsannahme. Ich habe Ihnen das mitgeteilt. Es ist viel zu schwammig, dass der Tatbestand dort so quer drinsteht. Das eröffnet Schlupflöcher für diejenigen Leute, die man erfassen will. Meiner Meinung nach muss die Vorteilsannahme für Abgeordnete, die Regelung in § 44a Absatz 2, verschärft werden, meine Damen und Herren. Das ist noch nicht scharf genug.
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Auf der anderen Seite führt dieses Gesetz mit seinem guten Anliegen aber auch zu echten Kollateralschäden. Hier wurde vorhin die Vortragstätigkeit benannt. Ich weiß, was Sie erreichen wollen: Sie wollen verhindern, dass jemand für – sagen wir mal – einen Vortrag, den er sowieso gehalten hätte, extra Taler bekommt. Das verstehe ich. Aber die Norm, wie sie formuliert ist, erfasst jede Vortragstätigkeit. Auch wenn SPD-Abgeordnete demnächst Betriebsräte schulen, rate ich Ihnen, kein Honorar dafür anzunehmen, sonst verstoßen Sie gegen dieses Gesetz;
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denn der Versuch, das über die Begründung zu reparieren, wird nicht gelingen, weil der Wortlaut des Gesetzes klar ist: Vortragstätigkeit gegen Honorar ist verboten. Wenn man das will, dann kann man das so machen. Aber das ist ein Mangel des Gesetzes.
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Der schlimmste Mangel des Gesetzes ist wirklich geeignet, die Unternehmer, die wir hier im Parlament haben wollen, aus dem Parlament rauszujagen. Das ist, dass man den Gewinn vor Steuern transparent machen muss.
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Das bedeutet nämlich, dass nicht nur der Gewinn der Abgeordneten als Träger einer Personengesellschaft bekannt wird, sondern auch der ihrer Gesellschafter. Das lässt Rückschlüsse auf die Gewinnmargen zu. Da werden die Lieferanten kommen und sagen: Die Preise müssen steigen. – Da werden die Kunden kommen, wenn die Gewinnmarge gut ist, und sagen: Die Preise müssen sinken. – Dann steigt der Rationalisierungsdruck auf die betroffenen Mitarbeiter.
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Ob wir das wirklich wollen, das sollten wir noch mal ernsthaft besprechen. Dieses Gesetz ist geeignet, die Selbstständigen und Unternehmer, die wir hier haben wollen, aus dem Parlament zu vertreiben.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Für die Fraktion Die Linke ist der nächste Redner der Abgeordnete Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute gemeinsam die Transparenzregeln für Abgeordnete verschärfen und auf diesem Wege Einflussnahmen und mögliche Interessenkonflikte in Zukunft besser erkennen können.
In dem Entwurf stehen sehr viele sehr wichtige Dinge, die meine Fraktion und ich ja auch schon längere Zeit fordern, etwa die Pflicht zur Veröffentlichung von Nebeneinkünften ab einem deutlich niedrigeren Wert.
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Hier hätten wir für meine Begriffe auch noch ein wenig weiter absenken können. Aber: „Lieber den Spatz in der Hand ...“ Sie wissen schon. Oder: die Anzeigepflicht bei Unternehmensbeteiligungen, die zukünftig bei 5 Prozent Anteilen und nicht, wie zuvor, bei 25 Prozent liegt.
Völlig richtig ist es selbstverständlich auch, dass wir nun festschreiben, dass Abgeordnete nicht länger bei der Bundesregierung für Unternehmen lobbyieren, von denen sie irgendeine Form von Gegenleistung erhalten haben.
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All diese richtigen Schritte unternehmen wir aber reichlich spät; denn vor allem Sie von der Union haben jegliche Vorschläge zuvor abgeblockt. Und nicht nur das: Sie haben den von meiner Fraktion noch vor der Affäre Nüßlein eingebrachten Gesetzentwurf im Ausschuss verschleppt. Jetzt wurde der Druck zu groß, und Sie verwehren sich nicht mehr adäquaten Regelungen. Sie sollten sich aber darüber hinaus einmal Gedanken machen, warum es immer wieder Abgeordnete aus Ihren Reihen sind, die mit solchem Verhalten auffallen. Interessant finde ich auch, dass Sie uns bezüglich Aktienoptionen usw. nun folgen. Denn das sind die Dinge, die bei dem Kollegen Amthor im vergangenen Jahr herauskamen. Sie haben damals völlig recht gehabt: Er hat sich damit nicht strafbar gemacht. – Diese Lücke schließen wir heute erst. Es ist offenbar moralisch so inakzeptabel, dass wir es einhellig unter Strafe stellen. Ich frage mich deshalb wirklich, ob ein solcher moralischer Kompass für die Spitzenkandidatur auf einer Landesliste prädestiniert. Aber womöglich ist es ja tatsächlich genau das.
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Mir erschließt sich auch nach dem Vortrag des Kollegen Buschmann nicht wirklich, warum die FDP den Entwurf nicht mitträgt. Aber das, Herr Buschmann, werden wir sicherlich im Ausschuss klären können.
Meine Bewertung insgesamt: Dieser Entwurf ist im Großen betrachtet ein guter Schritt in die richtige Richtung, und genau deswegen trägt meine Fraktion, Die Linke, ihn auch ausdrücklich mit. Es bleiben bei diesem weiten und wichtigen Feld noch einige Baustellen. Bei der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung muss der Tatbestand sicherlich noch angepasst werden, damit Fälle von Korruption auch erfasst sind und er überhaupt zur Anwendung kommen kann.
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Auch beim Lobbyregister muss noch nachgeschärft werden, am besten noch in dieser Wahlperiode. Ich verspreche Ihnen: Bei diesem Thema wird Die Linke nachsetzen. Wir werden uns nicht zufriedengeben.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort der Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grüne.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst einmal als Vorbemerkung: Eine Partei, die so tief im Parteispendensumpf steckt, gegen Recht und Gesetz verstößt und bereits Strafzahlungen von über 500 000 Euro leisten musste – weitere Verfahren stehen aus –, ist kein Ratgeber in Sachen Transparenz und Darlegungspflichten hier im Parlament.
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Wer nicht verstanden hat, wen ich meine – es ist klar –: die AfD. Die Strafzahlungen stehen. 500 000 Euro mussten schon gezahlt werden. Andere Verfahren sind noch anhängig. Klare Verstöße gegen Recht und Gesetz!
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Ich würde ganz leise sein bei diesen Themen, meine Damen und Herren.
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Nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich muss sagen: Es ist gut und richtig, dass heute und so schnell Konsequenzen aus diesem Schock der dreisten Maskenaffäre von Korruption und Bestechung in der CDU/CSU-Fraktion gezogen worden sind. Herr Schnieder, ich sage Ihnen ausdrücklich: Ich finde es wirklich richtig wichtig – auch für die Öffentlichkeit –, dass Sie hier heute gesagt haben: Wir haben verstanden, und deshalb wird schnell gehandelt. – In der Sache hat das deshalb unsere Unterstützung, meine Damen und Herren.
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Es ist richtig und notwendig, jetzt zu handeln. Ich finde gut, dass wir heute in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes beraten. Es ist nach den Ereignissen der letzten Wochen zwingend notwendig, dass das Vertrauen in unsere Demokratie wirklich wieder zurückgewonnen wird. Das Bild hat unheimlichen Schaden genommen. Das Vertrauen in Politik ist nachhaltig gestört.
Wir werden mit diesem Gesetzentwurf Dinge, für die wir Grüne, für die viele Verbände und NGOs im Bereich der Transparenz über Jahre gestritten und gekämpft haben und immer vor eine Blockade gelaufen sind, endlich regeln. Deshalb sind wir auch selbstverständlich bei diesem Gesetzentwurf mitgegangen. Nebentätigkeiten auf Euro und Cent zu veröffentlichen, entgeltliche Lobbytätigkeit zu verbieten, die Frage von Aktienoptionen endlich klar zu regeln, die Tatsache, dass Vortragstätigkeiten in dem Umfang, wie es bei manchen bisher möglich war, demnächst nicht mehr möglich sind, Abgeordneten die Annahme von Spenden zu verbieten, damit Klarheit zu schaffen: Das sind alles richtige Anknüpfungspunkte, und deshalb wird der Gesetzentwurf von uns unterstützt, meine Damen und Herren.
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Im Weiteren werden wir uns noch kümmern müssen um die Frage der Abgeordnetenbestechung, um die Frage „Wo ist der Tatbestand, und muss dieser nicht anders gefasst werden?“, genauso wie um die grundlegenden Fragen der Parteienfinanzierung. Die Debatte ist eröffnet. Wir müssen mehr tun in Sachen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Offenlegung politischer Interessenvertretung. Es braucht eine Klarheit darüber, dass das Abgeordnetenmandat im Mittelpunkt unserer Tätigkeit steht und das Parlament keine Beratungsgesellschaft ist, für die man nebenbei noch Honorare kassiert.
Vielen Dank.
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Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Abgeordnete Michael Frieser.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich ausdrücklich den Worten von Patrick Schnieder an. Dass wir heute dieses Thema in dieser Intensität, Direktheit und, wie wir hoffen, auch Effizienz bearbeiten und besprechen, hat etwas mit Fehlverhalten von Einzelnen aus unserer Fraktion zu tun, wofür wir die werten Kollegen nicht um Verständnis, aber eben um Entschuldigung bitten können und müssen.
Ich will trotzdem bei der Frage der Schuld verharren. Es hat sich gezeigt, dass Anstand und Moral als Gradmesser – was tue ich, was tue ich nicht, was unterlasse ich? – nicht ausreichen. Daran hat doch nahezu keiner gedacht in diesem Haus. Wir müssen heute die Regeln nachschärfen, um genau diese Fälle zu adressieren und den Bürgern deutlich zu machen: Wir haben es verstanden. – Wenn auch nur an irgendeiner Stelle ein Missverständnis gewesen ist, etwas falsch auszulegen gewesen ist, dann begegnen wir dem mit diesem vorgelegten Katalog an Transparenzregeln. Wir adressieren also genau die Fälle, die uns – richtig zitiert! – geschockt haben, weil anscheinend auch bei Anstand und Moral gegen kriminelle Energie manchmal kein Kraut gewachsen ist.
Es geht mit diesen Änderungen des Abgeordnetengesetzes genau darum, nachzuforschen, wo Interessenkollisionen überhaupt entstehen können. Wir haben zum Beispiel jetzt schon Anzeigepflichten, woher jemand kommt, bevor er dem Plenum angehört. Man kann durchaus darüber nachdenken: Gibt es denn auch theoretisch Rückkehrrechte nach der Tätigkeit als Abgeordneter? Wo entstehen diese Formen von möglichen Abhängigkeiten, möglichen Interessenkollisionen? Genau das ist die Zielrichtung dieser Transparenzregeln.
Wir werden nachschärfen müssen. Ich halte es für absolut richtig und notwendig, dass wir nicht mehr nur den Bruttozufluss eines Unternehmers ansetzen. Was haben wir Landwirte, Selbstständige, Metzgermeister, was haben wir Bäcker in diesem Haus, die, weil nahezu nichts mehr übrig bleibt, kaum was haben von ihrem Umsatz? Das müssen wir deutlich regeln, damit dadurch auch Vergleichbarkeit entsteht für die Menschen draußen. Das wird der Akzeptanz meines Erachtens wirklich helfen.
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Es ist auch wichtig, dass wir zur Bereinigung und Begradigung nicht nur die Vorkommnisse, die zu Fehlverhalten geführt haben, verständlich adressieren, sondern auch eindeutig untermauern. Akzeptanz bei den Menschen hat etwas mit Verständnis zu tun, mit Nachvollziehbarkeit, aber eben auch mit klaren Regeln. Und diese klaren Regeln wollen wir an dieser Stelle auch vorgeben. Es ist schon sehr bezeichnend, dass nur kritisiert wird und kein einziger praktikabler Vorschlag zusätzlich auf dem Tisch liegt. Insofern brauchen wir uns nicht zu besorgen. Ich glaube, wir sind an dieser Stelle richtig unterwegs.
Nur eines: Wir werden noch sehr viel nacharbeiten müssen, auch bei den Verhaltensregeln. Wir müssen das, was wir jetzt im Abgeordnetengesetz beschließen, natürlich in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages übersetzen, damit eine Bundestagsverwaltung auch genau weiß, an welcher Stelle sie was anzuwenden hat. Dann kann sich aber auch wirklich niemand mehr herausreden. Dann kann niemand mehr so tun, als ob er es nicht gewusst hat.
Das Ende meiner Rede widme ich einer Einladung an die FDP. Herr Kollege Buschmann, der Text ist schon eindeutig. Dort steht: „Honorare für Vorträge in Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit“.
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Das bedeutet – den Satz will ich noch zu Ende führen –: Ihr Beispiel mit den SPD-Kollegen – es gibt kaum noch welche –, die bei der Gewerkschaft Vorträge halten,
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ist damit eben nicht gemeint. Das, glaube ich, ist der Punkt, den wir miteinander gerne besprechen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen Buschmann?
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Bitte schön, wenn es der Rechtsfindung dient.
Aber sehr kurz, bitte.
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Herr Kollege Frieser, sind Sie mit mir der Meinung, dass der Wortlaut des Gesetzes, das Sie vorschlagen, lautet – ich zitiere aus Drucksache 19/28784 –: „Unzulässig ist ferner die Annahme von Geld oder von geldwerten Zuwendungen, wenn diese Leistung für eine Vortragstätigkeit oder ohne angemessene Gegenleistung des Mitglieds des Bundestages gewährt wird“? Und sind Sie weiterhin mit mir der Meinung, dass das, was Sie hier vorgetragen haben, eben nicht im Gesetz steht, sondern hinten in der Begründung? Und sind Sie weiterhin mit mir der Meinung, dass, wenn der Wortlaut des Gesetzes eindeutig ist, die Begründung den Inhalt nicht mehr ändern kann, weil der Richter im Zweifelsfall nur dann in die Begründung schaut, wenn der Wortlaut Zweifel offenlässt?
Herr Kollege Buschmann, ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass Sie einem Ihrer liebsten Themen, nämlich der Wesentlichkeitstheorie, verhaftet bleiben. Es bleibt aber dabei: Unsere Zielrichtung auch im Gesetzestext ist eindeutig. Das Wort „Parlamentarier“ kommt nicht von „parlare“ und „mentire“, reden und lügen, sondern von „parlare“, reden. Wenn man also in diesem Zusammenhang Vorträge hält – und da ist der Text nun wirklich eindeutig –, wenn man Positionen, die man hier als Abgeordneter vertritt, auch draußen vertritt, dann soll es dafür keine Extrahonorare geben, weil das der Idee widerstrebt. Das hat nichts damit zu tun, dass jemand als Professor unterwegs ist, dass jemand einen Vortrag hält, sondern das hat etwas damit zu tun, dass man sich nicht doppelt bezahlen lässt. Genau das regelt dieser Gesetzestext.
Vielen Dank.
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Prima. Den Rest klären wir im Ausschuss. – Der nächste Redner ist der Kollege Marco Bülow.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht nur durch die Korruptionsfälle, sondern auch durch einen einseitigen Profitlobbyismus verliert die Politik seit Längerem an Vertrauen in der Bevölkerung. Wir vergessen zu häufig, dass die Chefin die Bevölkerung ist und kein Parteivorsitzender, keine Kanzlerin und erst recht kein Konzernchef.
Seit 15 Jahren kämpfe ich für Transparenz, für klare Regeln und saubere Politik, wie viele andere das auch tun. Meistens gab es dafür Hohn, Spott, Ignoranz und Bekämpfung.
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Als erfolgreich gilt eigentlich der Abgeordnete, der Politiker, der Nebeneinkünfte hat, der Vorträge für Geld hält und der verflochten ist mit dem Profitlobbyismus. Das ist der erfolgreiche Vorzeigepolitiker. Fälle wie Amthor und andere zeigen, dass sie dafür auch belohnt werden. Deswegen ist das, was wir hier erleben, gerade eben nicht glaubwürdig, bei allem Fortschritt, den dieses Gesetz zeigt.
Ich glaube, dass nicht nur die Korruption stark bekämpft werden muss, sondern auch der Profitlobbyismus und die herrschende Waffenungleichheit insgesamt: Die einen haben kaum Mittel und Möglichkeiten, mit uns zu sprechen, ihre Anliegen vorzubringen, und die anderen haben alle möglichen Mittel, gehen bei Regierungen, in Ministerien und auch bei uns ein und aus.
Das hier ist nicht glaubwürdig. Jetzt passiert zum ersten Mal Folgendes: Es gibt nicht nur Korruptionsfälle, sondern Parteien drohen dafür abgestraft zu werden. Jetzt herrscht eine große Angst, bei den nächsten Wahlen deutlich zu verlieren. Deswegen haben wir diese Vorlage. Und trotzdem müssen wir sie nutzen. Es ist richtig, dass die Fraktionen das jetzt tun, dass diese Chance genutzt wird – trotz aller Mängel, die dieses Gesetz noch hat.
Was wir zum Beispiel immer noch nicht haben, ist eine Transparenzregelung bei den Parteien. Das muss der nächste Schritt sein.
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Wir müssen neben dem Bundestag vor allen Dingen auch die Regierung und die Ministerien mit in die Pflicht nehmen; auch das ist wichtig.
Noch mal: Wir verhindern damit nicht den Profitlobbyismus. Das sieht man zum Beispiel beim Lieferkettengesetz. Es wird weiterhin verwässert werden, egal welche Regeln wir haben und was sonst vorherrscht. Wir brauchen Waffengleichheit zwischen den Interessenvertretungen. Das ist das erste Gebot. Deswegen bin ich weiter der Meinung: Profitlobbyismus muss zerschlagen werden.
Danke.
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So, der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Dirk Wiese, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erst mal dankbar, dass wir diese wichtige Gesetzesinitiative heute hier in einer breiten Mehrheit einbringen können. Uns alle eint, jedenfalls die, die ein Interesse an diesem Gesetz haben und die Wichtigkeit dieses Gesetzes in dieser wirklich guten Debatte – mit Ausnahmen – betont haben: mehr Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger müssen letztendlich wissen, was Abgeordnete tun, was Abgeordnete machen. Und wenn sie Nebentätigkeiten haben – es ist ja per se nichts Verwerfliches, wenn der Bäckermeister hier im Plenum ist,
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der Handwerksmeister oder auch der Unternehmer –, dann muss das offen sein für den Wahlkreis, für die Bürgerinnen und Bürger, dann muss transparent und einsehbar sein, welche Nebeneinkünfte letztendlich da sind.
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Das ist, glaube ich, heute ein wichtiger Punkt und ein Schritt wirklich in die richtige Richtung.
Man muss sich das immer noch mal vergegenwärtigen: Wir repräsentieren hier unsere Wahlkreise, die Bürgerinnen und Bürger. Mein Selbstverständnis als Abgeordneter des Deutschen Bundestages ist, dass jeder die Möglichkeit hat, sich bei uns zu melden, dass wir ein offenes Ohr haben, dass wir Gespräche führen, dass wir Anrufe führen. Gerade in dieser Woche, in der wir sehr hitzige Debatten auch hier im Plenum gehabt haben, haben wir viele Mails rund um das Infektionsschutzgesetz bekommen, auch zustimmende Mails. In manchen Mails wurde gesagt: Das, was ihr macht, ist nicht hart genug. – Andere haben gesagt: Ich verstehe es an dem einen oder anderen Punkt nicht mehr. – Jeder Bürger und jede Bürgerin hat die Möglichkeit, mit uns in Kontakt zu treten, und das darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Das ist jedenfalls mein Selbstverständnis als Abgeordneter.
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Ich muss auch klar sagen, dass die Verhandlungen, dass die Gespräche, die wir im Vorfeld geführt haben, bis wir hierhingekommen sind, einen langen Zeitraum umfasst haben. Das muss man ehrlicherweise gestehen. Wir hätten das schon viel früher haben können. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, ich kann Ihnen das nicht vorenthalten: Es waren letztendlich erst die Fälle Amthor, Nüßlein, Hauptmann und weitere, die dazu geführt haben, dass Sie überhaupt gesprächsbereit waren und über einige Punkte reden mochten. Das ist tatsächlich etwas, was ich nicht verstehe, dass es erst dieses Druckes bedurfte, dieser Fälle bedurfte, die schäbig gewesen sind – das war teilweise Korruption –, um hier Bewegung reinzukriegen. Da sind Jahre verloren gegangen für mehr Transparenz hier im Deutschen Bundestag.
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Ich sage auch ganz deutlich: Dieses Mehr an Transparenz wird letztendlich dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger zu Recht auch einmal die Frage stellen, ob bei dem einen oder anderen überhaupt noch das Mandat im Mittelpunkt steht. Wenn ich manchmal sehe, was alles für Nebentätigkeiten gemacht werden, wenn ich sehe, dass der eine oder andere noch Agenturen neben dem Mandat gegründet hat – einer war noch Honorarkonsul, und dann wurden auch noch Redehonorare genommen –, dann muss ich sagen: Das, was wir hier als Abgeordnete verdienen, ist sehr, sehr viel Geld.
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Aber manch einer meint, daneben für Reden, was die originäre Aufgabe eigentlich eines Abgeordneten ist, auch noch Honorare nehmen zu können. Lieber Kollege Buschmann, ich kann ja verstehen, dass Ihr Fraktionsvorsitzender Sie hier vorschickt, um das zu kritisieren, weil das System Lindner dadurch etwas infrage gestellt wird. Aber ich muss schon sagen: Das war relativ dürftig, wie Sie versucht haben, sich so ein bisschen aus der Debatte herauszuziehen.
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Ich kann Sie nur einladen: Überlegen Sie sich das noch mal. Die Abgeordnetendiät ist ausreichend. Da wird auch Ihr Fraktionsvorsitzender noch eine warme Mahlzeit am Tag kriegen. Von daher: Denken Sie über den Punkt noch mal nach.
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Ich glaube, wir haben einen Dreiklang von Maßnahmen. Wir haben auf der einen Seite das Lobbyregister verabschiedet, was ein richtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen ist. Wir haben jetzt die Transparenzverschärfungen gemeinsam heute hier auf den Weg gebracht. Ich glaube, ein weiterer Punkt, der noch dazukommt, ist, dass wir uns gemeinsam, jedenfalls diejenigen, die ein Interesse daran haben, das Parteiengesetz noch mal anschauen. Dabei wird es gerade um die Frage der jährlichen Höchstgrenze für Einzelspender gehen, aber auch um die Frage, ab wann Spenden veröffentlicht werden sollten, sicherlich nicht erst ab 9 999 Euro; das sollte nicht geheim bleiben. Ich wünsche mir da mehr Transparenz. Darum können wir als SPD uns vorstellen, auch hier weiter voranzugehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Regierungskoalition wollen wir das moderne Start-up-Märchen, wie es kürzlich das „t3n“-Magazin bezeichnete, durch eine bessere steuerliche Förderung von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen wahr werden lassen. Zum einen wollen wir damit Start-ups und junge KMUs für den internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe und um hochqualifiziertes Fachpersonal stärken. Wir wollen aber vor allem auch den Beschäftigten die Möglichkeit geben, am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens teilzuhaben.
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Wir sind überzeugt, dass wir mit dem jetzt vorliegenden Fondsstandortgesetz wichtige Schritte zur Erreichung dieser Ziele gehen. Wir haben zwei Wochen sehr konstruktive Diskussionen im parlamentarischen Verfahren und eine sehr gute Anhörung hinter uns. Wir haben da Wege aufgezeigt bekommen, wie wir den Gesetzentwurf noch praxisrelevanter machen können. Darum freue ich mich, dass wir für die Praxis an fünf entscheidenden Stellen nachschärfen konnten.
Erstens wollen wir die Höchstgrenze von 360 Euro für die steuerfreie Mitarbeiterkapitalbeteiligung nicht nur verdoppeln, sondern noch einmal verdoppeln. Das heißt, wir vervierfachen auf 1 440 Euro.
Zweitens. Durch die rechtssichere Ausgestaltung des § 19a (neu) des Einkommensteuergesetzes stellen wir jetzt sicher, dass Vermögensbeteiligungen, die mittelbar über Personengesellschaften gehalten werden, auch rechtssicher vom Gesetz erfasst werden.
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Drittens lösen wir das Problem der in der Praxis befürchteten Unsicherheiten bei der Bewertung der Vermögensbeteiligung zum Zeitpunkt der Überlassung. Wir werden eine gebührenfreie Anrufungsauskunft beim Betriebsstättenfinanzamt vorsehen. Das bedeutet, dass Beschäftigte und Arbeitgebende Rechtssicherheit erhalten, wie hoch der Wertansatz zum Zeitpunkt der Übertragung ist.
Viertens. Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf sollten eigentlich nur KMUs gefördert werden, deren Gründung mehr als zehn Jahre zurückliegt. Wir haben da noch mal verlängert, auf die Stimmen gehört, die gesagt haben: „Die Wachstumsphase muss länger sein“, und werden den Förderzeitraum jetzt auf zwölf Jahre verlängern.
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Schließlich, fünftens, haben wir uns die Interessen der Arbeitgebenden, aber vor allem der Beschäftigten, bezogen auf die Problematik des Dry Income, also des trockenen Einkommens, noch mal angesehen. Wir wurden in der Anhörung insbesondere auch hier auf die zu kurze Zehnjahresfrist für die nachgelagerte Besteuerung sowie auf die Regelung bei einem Arbeitgeberwechsel kritisch aufmerksam gemacht.
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In der Koalition sind wir uns zum Glück darüber einig, dass wir die Frist für die nachgeholte Besteuerung auch von zehn auf zwölf Jahre verlängern und dass wir die Problematik beim Arbeitgeberwechsel so abmildern können, dass der Arbeitgeber/die Arbeitgeberin die Lohnsteuerzahlung auf den nachzuversteuernden Wert der Mitarbeiterkapitalbeteiligung übernehmen kann. Das bedeutet: Wenn Beschäftigte das Unternehmen verlassen, fällt beim Ausscheiden für ihn oder für sie keine weitere Steuerzahlung an.
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Meine Damen und Herren, mit diesen fünf Verbesserungen haben wir ein sehr starkes Gesetzespaket zur Erhöhung der Attraktivität von Mitarbeiterkapitalbeteiligungen und damit für den Start-up-Standort Deutschland geschnürt.
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In diesem Sinne steht der Verwirklichung des eingangs erwähnten modernen Start-up-Märchens nichts mehr im Wege.
Abschließend möchte ich mich bei den Sachverständigen für den guten und den praxisnahen Austausch, aber auch beim Koalitionspartner für die konstruktiven Gespräche bedanken und kann alle nur bitten: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Albrecht Glaser von der AfD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute erneut das Fondsstandortgesetz und neue Rechtsregeln für Mitarbeiterbeteiligungen. Der Entwurf versucht zum einen, die Wettbewerbsnachteile, die sich für den Fondsstandort Deutschland aufgrund der jahrelangen gesetzgeberischen Untätigkeit herausgebildet haben, zu beseitigen – eine Materie vorwiegend des Kapitalanlagegesetzbuches, des Wertpapierhandelsgesetzes und anderer Gesetze über Kapitalvermögen. Zum anderen steht eine Verbesserung bei der Mitarbeiterbeteiligung im Vordergrund – eine Materie des Einkommensteuerrechtes. Eine gewisse Verschlankung organisatorischer Abläufe, die Erweiterung zulässiger Fonds und die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen werden gesetzgeberisch neu geordnet. Ob es sich um eine substanzielle Verbesserung handelt, wird sich erst noch zeigen müssen.
Beim großen Thema der Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmensvermögen – ein Thema, das der AfD sehr am Herzen liegt –, hätte man mehr erwarten können, mehr erwarten müssen. Es geht um die steuerlich begünstigte Überlassung von Unternehmensanteilen durch den Arbeitgeber an Mitarbeiter. Solche Unternehmensbeteiligungen sollen außerhalb der Regelvergütung den Arbeitnehmern unentgeltlich überlassen werden. Der bisher steuerfreie Übertragungsvorgang ist bis zu einem Betrag in Höhe von 360 Euro pro Jahr möglich. Diese Grenze sollte im Gesetzentwurf auf 720 Euro verdoppelt werden; dass dies weiter unter dem Niveau vergleichbarer Staaten liegt, hatten wir in der ersten Lesung bereits kritisiert. Dem ist nun abgeholfen worden durch eine Betragserhöhung auf 1 440 Euro – immer noch weit unterhalb der Betragsgrenzen in Österreich, 4 500 Euro, UK, 4 000 Euro, Ungarn, 3 200 Euro, oder Spanien, 12 000 Euro.
Das Problem dabei ist, dass diese Form der Mitarbeiterbeteiligung allen Arbeitnehmern gleichmäßig angeboten werden muss. Im Falle von jungen Unternehmen, bei denen sich die Frage der Mitarbeiterbeteiligung mit größerer Bedeutung stellt, um eine spezielle Unternehmensbindung zu erreichen, taucht ein einkommensteuerliches Problem auf, sofern die Steuer bei höheren Anteilswerten nicht ohne Weiteres sofort aufgebracht werden kann. Hier wird im neuen § 19a Einkommensteuergesetz eine Lösung versucht, die derzeit noch nicht praxistauglich ist. Das geben auch die Gesetzesentwerfer zu; es soll nicht weiter kritisiert werden, aber es besteht Nachbesserungsbedarf.
Zudem stellt sich die Frage, wieso Erleichterung bei Unternehmensbeteiligung von Mitarbeitern nicht auch für etablierte Unternehmen in gleicher Weise möglich gemacht werden soll. Warum an dieser Stelle der Kult um die Unternehmensgründung? Wir wollen beim Thema Unternehmensbeteiligung die Förderung von Unternehmen jeden Alters, jeder Größe und jeder Branche, um die Verzahnung von Mitarbeitern mit ihren Unternehmen und die Einkunftsstreuung bei dieser breiten Masse der Bevölkerung zu erhöhen.
Zum gesetzgeberischen Handwerk bleibt festzuhalten: im Ausschuss 15 Änderungsanträge der Koalition zum eigenen Gesetzentwurf und dabei Steueränderungen auf völlig anderen Themengebieten. Was hat beispielsweise die Änderung des Zerlegungsmaßstabs beim Gewerbesteuermessbetrag zugunsten der erneuerbaren Energien mit dem Fondsstandort Deutschland zu tun? Woher kommt plötzlich die Großzügigkeit bei den Ausnahmeregelungen zur gewerbesteuerlichen Freistellung von Gewinnen derjenigen Immobilienunternehmen, die auch Erträge aus Stromerzeugung erzielen?
Der Gesetzentwurf der Koalition hätte handwerklich und inhaltlich besser sein können. Deshalb werden wir uns enthalten. Das Gesetzemachen war und ist nicht die Stärke dieser Koalition; das beobachten wir jetzt schon fast vier Jahre.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Fritz Güntzler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das Fondsstandortgesetz, das zwei wichtige Punkte regelt: Zum einen geht es um die Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Fondsstandort Deutschland und zum anderen um die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen bei der Mitarbeiterbeteiligung.
Der Fondsstandort Deutschland hat sich in den letzten Jahren positiv entwickelt. Aber wir müssen feststellen, dass wir im europäischen Vergleich noch Nachholbedarf haben. Wir haben Potenziale, die wir heben möchten. Fonds bieten neben professionellen und semiprofessionellen Anlegern gute Anlagemöglichkeiten gerade auch für Privatanleger. Sie machen es möglich, dass privates Kapital für Investitionen mobilisiert wird,
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und wir schaffen es, Wagniskapital in Deutschland weiterzuentwickeln, weil wir auch da einen Nachholbedarf haben. Von daher ist es gut, dass wir uns mit diesem Gesetz an den Fondsstandort Deutschland heranmachen.
Wir regeln, dass die Verwaltungsleistungen für ein Wagniskapital von der Umsatzsteuer befreit werden. Wir regeln, dass es neue Fondsklassen gibt, wie den Infrastrukturfonds oder den Entwicklungsförderungsfonds. So machen wir es möglich, dass der private Sektor wichtige öffentliche Aufgaben mitfördern kann. Wir schaffen mit dem Gesetz Entbürokratisierung für die Fondsverwalter. Die Digitalisierung hält Einzug in die Aufsicht. Von daher schaffen wir, so glaube ich, vieles für den Fondsstandort Deutschland, und das ist gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
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Der zweite Punkt ist die Mitarbeiterbeteiligung, die einen besonderen Rahmen eingenommen hat in der Debatte, auch in der Anhörung. Das ist ein wichtiges Thema; denn es geht um die Förderung innovativer Beteiligungsformen. Wir alle wollen eine stärkere Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Produktivkapital; und diese wollen wir steuerlich flankieren.
Dabei stehen im Mittelpunkt die sogenannten Start-up-Unternehmen, die sich auszeichnen durch große Risikobereitschaft, viel Engagement, Tätigkeiten in zukünftigen Geschäftsfeldern, die positive Impulse für die Gesamtwirtschaft setzen und ein Motor für Innovationen sind. Von daher wollen wir unser Augenmerk auf deren Förderung legen; das war der Anspruch dieses Gesetzes. Der Gesetzentwurf war schon gut, und wir haben ihn jetzt noch ein Stück besser gemacht, meine Damen und Herren.
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Es geht um die Steuerfreiheit der Gewährung von Mitarbeiterbeteiligungen. Da ist eine Vervierfachung des Freibetrages von 360 Euro auf 1 440 Euro vorgesehen. Da kann man sich mehr vorstellen; Vergleiche sind hier schon angestellt worden. Die Union hätte sich auch ein bisschen mehr vorstellen können. Wir haben jedenfalls auf dem Weg dahin schon die richtige Richtung eingeschlagen. Ich sage aber auch immer deutlich: Hier geht es um eine Privilegierung von besonderen Einkommenstatbeständen, und es braucht immer eine besondere Begründung, dass wir es bei diesem Punkt machen. Von daher ist das, glaube ich, ein guter Kompromiss, den wir hier gemeinsam mit der SPD erzielen konnten.
Der wesentliche Punkt ist der § 19a EStG, der sehr bürokratisch daherkommt. Da geht es um das sogenannte „dry income“, das trockene Einkommen. Das funktioniert so: Ich erhalte eine Mitarbeiterbeteiligung; ich habe damit eine Beteiligung, einen Sachwert. Ich habe keinerlei Liquiditätszufluss dadurch und muss unter Umständen Steuern zahlen auf Geld, das ich ja noch gar nicht habe, sondern erst dann realisieren kann, wenn ich diese Beteiligung veräußere. Da haben wir jetzt eine Regelung gefunden, dass das gestundet wird. Das hat uns sehr beschäftigt. Wir haben auch hier Verbesserungen erzielen können. Die Personengesellschaften, die die Mitarbeiterbeteiligungen poolen, sind ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen worden. Das war vorher unklar.
Wir haben uns die sogenannten Realisationstatbestände – also wenn von der Stundung in die Besteuerung gegangen wird – genauer angesehen. Dort waren als Frist zunächst 10 Jahre vorgesehen, bis die Besteuerung einsetzt. Wir müssen irgendwann besteuern; wir können das nicht ewig stunden. Wir hätten uns als Union auch eine Verlängerung auf 15 Jahre vorstellen können. Zwischen 15 Jahren und 10 Jahren haben wir uns dann mit der SPD in der Mitte bei 12 Jahren getroffen. Auch das geht meines Erachtens in die richtige Richtung.
Dass der Realisationstatbestand der Veräußerung immer zur Besteuerung führen muss, ist klar. Wir haben dann aber lange beim Thema Arbeitgeberwechsel gerungen. Das Gesetz sieht vor, dass es zur Besteuerung der Mitarbeiterbeteiligung führt, wenn der Mitarbeiter den Arbeitgeber wechselt. Das ist ein Problem, weil der Mitarbeiter natürlich dann in einer schlechteren Situation gegenüber seinem Arbeitgeber ist. Der kann jederzeit sagen: Wenn du jetzt gehen willst, dann tu dies, aber dann musst du auch die Steuern zahlen. – Dieses Geld hat er vielleicht nicht, sodass er dann gezwungenermaßen die Beteiligung veräußern muss, um an das Geld zu kommen.
Wir haben versucht, dafür Lösungen zu finden. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass per Vereinbarung die Lohnsteuer durch den Arbeitgeber übernommen werden kann. Das führt schon in die richtige Richtung, aber ich sage offen und ehrlich: So richtig glücklich sind wir mit dieser Lösung noch nicht. Das ist aber dem Verfahren geschuldet, da wir alles im Lohnsteuerabzugsverfahren machen und nicht im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung. Ich sage ehrlich: Das müssen wir evaluieren und wahrscheinlich noch mal aufgreifen, wenn es wirklich zu einem Dealbreaker wird.
Ansonsten aber machen wir ein gutes Gesetz. Wenn in der Öffentlichkeit gesagt wird, das sei ein Placebo, finde ich, dass das nicht zutrifft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich werde ziemlich streng auf die Redezeiten achten. Sie wissen, wir sind im Moment bei 4.05 Uhr, morgen früh, was die Tagesordnung angeht.
Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Bettina Stark-Watzinger.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind sehr stolz auf unsere heute starke Wirtschaft. Aber viel mehr als das Heute sollte uns die Zukunft interessieren. Wir haben kluge, mutige Köpfe, und wir haben Kapital. Deswegen müssen wir das fördern; denn heute schon kommen bis zu 80 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Tech-Start-ups aus dem Ausland. Für das neue BioNTech, für das neue Google müssen wir also attraktiv werden für Toptalente aus dem Ausland.
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– Danke, Herr Binding. – Die Idee der Mitarbeiterbeteiligung ist weltweit erprobt. Unternehmerinnen, Investoren, Mitarbeiter – sie alle tragen zum Unternehmenserfolg bei; sie alle gehen Risiko ein. Wenn der Erlös, wenn der Zugewinn realisiert wird und alle daran beteiligt werden, dann ist das nicht gefährlich, sondern dann ist das sozial, meine Damen und Herren.
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Da wir mittlerweile eine selbstbewusste Gründerszene in unserem Land haben, ist dieses Thema auch bei der Bundesregierung angekommen; aber den großen Ankündigungen folgte leider ein kleines Gesetz.
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Ja, im Hinblick auf den Fondsstandort ist einiges passiert, aber eben nicht im Hinblick auf die Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Wovor haben Sie Angst? Dass Menschen in unserem Land etwas leisten? Dass Menschen in unserem Land Vermögen aufbauen? Wir sollten doch jeden Einzelnen nicht bremsen, sondern wir sollten ihn fördern, meine Damen und Herren.
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Ihr Gesetz geht an der Realität vorbei. Es wird kaum Anwendung finden. Warum?
Erstens. Die wichtigste Aufgabe wäre gewesen, das Dry-Income-Problem zu lösen. Arbeitnehmer sollten erst dann Steuern zahlen, wenn die Gewinne wirklich auf dem Konto ankommen. Die eben schon erwähnten Verbesserungen werden derart eingeschränkt, dass sie den meisten Unternehmen und deren Mitarbeitern nicht helfen bzw. gar nicht erst zum Tragen kommen.
Zweitens. Für virtuelle Beteiligung, die häufigste Beteiligungsform, haben Sie gar keine Verbesserungsvorschläge gemacht. Im Gegensatz zum Unternehmer trifft nämlich den Mitarbeiter bei Veräußerung am Ende der volle Einkommensteuersatz auf den Erlös. Das ist unsozial, meine Damen und Herren.
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Wir fordern eine eigene Klasse von Anlageformen, wie es in anderen Ländern auch üblich ist. Damit könnten wir viele Probleme im Steuerrecht, die Sie angesprochen haben, lösen. Dann hätten wir Rechtssicherheit, und das Gesetz würde auch wirken.
Drittens. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Umsatzsteuerbefreiung von Managementleistungen bei Investmentfonds sagen. Die Anhörung hat gezeigt, dass die von Ihnen getroffene Regelung beihilferechtlich höchst problematisch ist. Wir haben den Vorschlag gemacht, dass man, wie in anderen Ländern üblich, diese Befreiung auf alle Investmentfonds ausweitet. Dem sind Sie nicht gefolgt. Damit werden die Fonds weiter in Luxemburg, Irland und anderswo aufgelegt.
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Ich komme zum Schluss. Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Wir fördern damit, dass Menschen Vermögen aufbauen, dass nachrückende Wachstumssterne sich bei uns etablieren. Und wenn Sie es nicht tun, dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als das Thema in der nächsten Legislaturperiode noch mal anzufassen. Denn die Zukunft gehört denen, die etwas tun,
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und um etwas für die Zukunft zu tun, müssen wir mehr tun als dieses Gesetz.
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Vielen Dank, Bettina Stark-Watzinger. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Jörg Cezanne.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der im Gesetz gewählte Ansatz einer Standort- und Wettbewerbsförderung für die Fondsindustrie, indem man einseitig die Möglichkeiten für die Anbieter verbessert, zum Beispiel von Wagniskapitalfonds, ist aus unserer Sicht falsch.
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Der Versuch, mit Steueroasen oder Luxemburg oder Irland in einen Wettbewerb zu treten, indem man „steuerliche Zuckerl“ verteilt, wie das einer der Sachverständigen bezeichnete, verstärkt bestehende Risiken an den Finanzmärkten. Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
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Unter Risikogesichtspunkten ist beispielsweise die Anhebung der zulässigen Kreditaufnahmegrenze für Immobilien-Spezialfonds von 50 auf 60 Prozent problematisch. Der erhöhte Einsatz von geliehenem Kapital ermöglicht zwar eine bessere Rendite auf das eingesetzte Eigenkapital, kann aber auch zum Zocken verleiten, und das in einem ohnehin schon überhitzten Immobilienmarkt mit enormen Preissteigerungen: Keine gute Idee!
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Auch die Einführung sogenannter geschlossener Master-Feeder-Konstruktionen – allein zu erläutern, wie das funktioniert, würde meine Redezeit aufbrauchen – lehnen wir ab: Eine weitere Produktebene, sehr komplex, meist über mehrere Staaten verteilt, verkompliziert und verteuert die Produkte. Die Transparenz leidet massiv, und das Neuverpacken von bereits verpackten Verpackungen in neue Angebote erinnert an die Finanzkrise 2008. Auch hier geht es in die falsche Richtung.
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Diese grundsätzlichen Einwände werden auch nicht durch die im Gesetz vorgesehene Mitarbeiterbeteiligung wettgemacht. In der vorliegenden Form entspricht sie in keinem Punkt den vom Sachverständigen des Deutschen Gewerkschaftsbundes genannten Kriterien.
Erstens ist nicht sicher geregelt, dass die Beteiligungen für alle Beschäftigten im Unternehmen zugänglich sein werden.
Die Vervierfachung des Betrages, der dafür von Steuern und Sozialversicherungsabgaben befreit wird, geht deutlich über das hinaus, was der DGB als vertretbare Obergrenze genannt hat. Die so nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge gehen zulasten der Gesamtheit der übrigen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler,
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und für die Beschäftigten führen sie auch noch zu geringeren Ansprüchen an die Renten- und Arbeitslosenversicherung:
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Keine gute Idee!
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Die Steuer- und Sozialabgabenfreiheit wird auch nicht an die Voraussetzung gebunden, dass diese Mitarbeiterkapitalbeteiligung zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn zu gewähren ist. Das wäre in Branchen, wo es keine Tarifverträge gibt, ohnehin auch schwer zu kontrollieren.
Insgesamt führen die Regelungen, so die Einschätzung eines weiteren Sachverständigen, „zu einem Sonderrecht für einen kleinen Kreis von Begünstigten“. Das ist nicht sozial, wie Frau Stark-Watzinger meint, das ist einfach nicht zustimmungsfähig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Berlin gründet sich alle 14 Stunden ein Start-up. Sie schaffen damit einen längst nicht mehr wegzudenkenden Anteil an Arbeitsplätzen – in der Hauptstadt, aber eben auch deutschlandweit –, und das inzwischen zu einem großen Teil, nämlich zu 43 Prozent, in dem zukunftsträchtigen und nachhaltigen Bereich der Green Economy. Die größten Einhörner sitzen aber trotzdem nach wie vor nicht bei uns, sondern vor allem in den USA und in Asien.
Talente sind es, die Start-ups zum Fliegen bringen, und eine gute Mitarbeiterbeteiligung stärkt Demokratie, kann aber eben auch im weltweiten Wettbewerb um diese den Ausschlag geben.
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Wir wissen alle miteinander: Deutschland landet derzeit bekanntermaßen im internationalen Vergleich auf den hinteren Plätzen. Das vorliegende Gesetz, vor allem mit den in letzter Minute beschlossenen Änderungen in Sachen Mitarbeiterbeteiligung, ändert das jetzt ein wenig. Ja, Sie gehen kleine Schritte in die richtige Richtung, meine Damen und Herren.
Positiv ist zum Beispiel die neu geschaffene Regelung zum Arbeitgeberwechsel. Sie schafft Klarheit, wann und wie besteuert werden soll. Die Verlängerung der Frist für die nachgeholte Besteuerung auf zwölf Jahre begrüßen wir ebenfalls, auch wenn wir uns eine Regelung erst beim Zeitpunkt der Veräußerung der Anteile selber hätten vorstellen können, wie Sie es auch in unserem Antrag finden.
Aber an einer entscheidenden Stelle hapert es nach wie vor: Die Erleichterungen gelten eben nur für echte Anteile an Unternehmen. Aber drei von vier der vergebenen Mitarbeiterbeteiligungen sind laut Umfrage unter Start-ups inzwischen sogenannte virtuelle Beteiligungen. Ihre Regelung geht damit eben an der großen Mehrheit der Start-ups vorbei.
({1})
Deswegen ist dies eben kein Grund zum Jubeln für die deutsche Start-up-Szene. Das liefert das Gesetz nicht. Und das ist schade, meine Damen und Herren.
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Mit diesen gesetzlichen Regelungen zur Mitarbeiterbeteiligung werden wir europaweit bestenfalls ins Mittelfeld aufsteigen. Das allein wäre allerdings für uns schon noch ein Grund gewesen, dem Gesetz zuzustimmen. Leider finden sich aber in diesem Gesetz auch weitere, andere Aspekte zum Stichwort „Fondsstandort Deutschland“.
Ja, Sie wollen den Fondsstandort attraktiver machen. Das wollen wir auch. Die große Frage ist aber, mit welchen Attributen man einen Fondsstandort attraktiver macht. Und Sie fallen zurück in die alte Logik: Mehr Deregulierung, stärker rein in den Steuerwettbewerb mit kleinen Mitgliedstaaten – das müssen wir machen. Wir sagen: Nein, damit kann man nur verlieren. Integrität, Krisenfestigkeit und ein hohes Schutzniveau für Anleger, das sind aus unserer Sicht vielmehr die Markenzeichen, die wir für den Fondsstandort Deutschland etablieren müssen, um vorne mitzuspielen, meine Damen und Herren.
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Und da gehen Sie eben mit diesem Gesetz wieder in die falsche Richtung, zum Beispiel, wenn Sie bestimmten Immobilienfonds erlauben, sich noch mehr zu verschulden, oder wenn Sie mit der Darlehensvergabe an 100-prozentige Töchter im Ausland der steuerlich begründeten Gewinnverschiebung wieder neu Vorschub leisten.
Deswegen müssen wir uns leider in der Summe bei diesem Gesetz enthalten.
Danke schön.
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Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Lothar Binding.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte kurz etwas zu Frau Stark-Watzinger sagen. Du hast gesagt: Beim Erlös treffen wir die Mitarbeiter mit der Steuer. – Ehrlich gesagt, das wollen wir auch. Wenn jemand einen Erlös hat, soll er die Steuer bezahlen; das ist doch nicht mehr als fair. Das verlangen wir von allen anderen Bürgern auch, und das ist gerecht,
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und zuvor stellen wir sie zwölf Jahre steuerfrei. Eine sehr gute Sache und eine schöne Belohnung für die, die sich dort beteiligen.
Jörg Cezanne hat gesagt, der Betrag von 1 440 Euro ist relativ hoch. Das kann man sagen. Und ohne mit Malta zu konkurrieren, kann man sagen: Es gibt in Europa Freibeträge von über 10 000 Euro, und dann sind 1 440 Euro wieder relativ wenig. – Also, das ist Relativitätstheorie, und deshalb haben wir alle drei recht.
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Ich will zwei Bemerkungen machen. Die eine zu den Kommunen wird den Bernhard Daldrup sehr freuen, und die andere zum Stichwort „ökologische Energieversorgung“ wird den Matthias Miersch sehr freuen; denn wir haben zwei gesetzliche Regelungen huckepack genommen:
Erstens die Gewerbesteuerzerlegung im EEG zwecks Stärkung der Kommunen, die zum Beispiel ein Windrad betreiben.
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Das ist eine sehr gute Sache, weil damit die Kommune ein Interesse hat, Windräder aufzustellen, und die Bürger in der Kommune davon etwas haben. Das ist sehr gut. Genauer will ich es jetzt nicht unbedingt machen.
Die zweite ist, dass wir es geschafft haben, dass die gewerbesteuerliche Privilegierung nicht gestört wird, wenn jetzt ein Unternehmen, das Wohnungen gibt, auch ein bisschen Energie erzeugt. Wenn es weniger als 10 Prozent Energie erzeugt, dann bleibt die Gewerbesteuerprivilegierung erhalten. Und das wird die dezentrale Energieversorgung, den Mieterstrom sehr befördern.
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Ich glaube, das verdient eine extra Erwähnung, auch wenn wir eigentlich beim Fondsstandortgesetz sind.
Da sind einerseits Start-ups ein großes Thema, wie wir gehört haben, und andererseits ist der Finanzmarkt ein großes Thema. Es ist klar: Von Anfang an dabei sein, hohe Renditen erwarten, schnell reich werden, das ist auch Start-up; das gönnen wir allen, und das wollen wir auch. Aber die Banken sind anfangs vorsichtig. Die Börse ist weit weg und kompliziert. Also bleiben private Investoren, auf deren Geld wir für die Start-ups hoffen. Fritz Güntzler hat sehr gut erklärt, wie wir das organisieren.
Vielleicht eine interessante Nebenbemerkung: Wir haben über Mitarbeiterbindung gesprochen. Da machen wir sehr viele gute Sachen. In den Debatten ging es dann interessanterweise immer um Arbeitgeberwechsel. Wir reden sozusagen über die Bindung der Arbeitnehmer, und die Leute selber sagen: Aber was ist denn, wenn ich wechsle? – Also sozusagen das ganz tiefe Vertrauen in eine längere Bindung der Arbeitnehmer existiert noch nicht. Aber es ist jedenfalls eine gute Sache, wenn wir privates Kapital dort aktivieren.
Übrigens waren es im Jahr 2020 über 5 Milliarden Euro, in 2019 über 6 Milliarden Euro. Das ist also eine nennenswerte Größe, und über 700 Start-ups wurden durch diese ganzen Instrumente gefördert. Das ist natürlich sehr gut. Und diese Milliarden haben die Start-ups auf ziemlich direktem Wege erreicht. Der klassische Weg sind Venturecapital-Fonds; das ist klar: Über private Beteiligung reden wir. Der zweite Weg sind Business Angels, wobei immer eine kleine Bemerkung nötig ist: Business Angels sind nicht nur Angels. Und das Dritte sind Crowdinvesting-Verfahren, bei denen auch Geld eingesammelt wird. Also, wir haben drei große Zugänge, um Start-ups zu fördern. Das haben wir ja gemerkt: Geld ist prima, aber Mitarbeiter sind mindestens genauso wichtig. Geld ohne Mitarbeiter ist schlecht, Mitarbeiter ohne Geld ist genauso schlecht.
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Deshalb wird auch so viel über Geld geredet.
Die Umsatzsteuerbefreiung wurde schon angesprochen: Für Verwaltungsleistungen von Wagniskapitalfonds ist Umsatzsteuerfreiheit vorgesehen. Offen gestanden: Wir hätten es auch gern einheitlich für alle Fonds gemacht; das muss man zugestehen. Aber wir wissen auch, dass dann entsprechende Vertragsverletzungsverfahren in Europa sozusagen zu erwarten gewesen wären. Also ist es klug, weniger zu machen, dafür sicher, als alles zu machen und dafür total unsicher. Das wäre aus meiner Sicht in Europa explodiert. Deshalb ist der vorsichtige Weg, den wir gehen, aus meiner Sicht der richtige und auch der sichere für die Start-ups. Eine sichere Unterstützung ist besser als eine große Unterstützung, die unsicher ist.
In diesem Sinne: Ein prima Gesetz, es können alle zustimmen.
Ich bedanke mich vielmals.
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Jetzt erlaube ich mir eine Bemerkung: Bei Ihnen verstehe ich immer komplizierte Sachen; das muss ich wirklich sagen.
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Ich muss die Meinung ja nicht immer teilen. Aber er hat eine Fähigkeit.
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– Ohne Zollstock, genau. Aber die Rede mit dem Zollstock oder die mit den Smarties, die sind beide auch unvergessen.
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– Ja, es geht weiter, keine Sorge. – Letzter Redner in dieser Debatte: Marc Biadacz für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche jetzt auch, liebe Frau Präsidentin, es einfach zu erklären. Meine Vorredner, vor allem mein Kollege Fritz Güntzler, haben schon viel darüber gesagt, warum wir heute hier stehen. Wir stehen heute hier, weil wir mit einem Gesetz im Bereich Fonds vieles neu regeln wollen.
Aber ich stehe heute hier als Arbeitsmarkt- und vor allem als Digitalpolitiker; denn in diesem Gesetzentwurf ist auch für mich was ganz Wichtiges drin, nämlich das Thema Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das so wichtig? Frau Stark-Watzinger und Frau Paus haben es bereits gesagt: Es geht um die Zukunft. Es geht um die Zukunft der Arbeitsplätze bei Start-ups.
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Sie treiben mit einer außergewöhnlichen Risikobereitschaft und Leidenschaft Innovation voran. Start-ups sind die Innovationstreiber in diesem Land. Wo sehen wir das gerade, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir sehen es bei BioNTech in Mainz,
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und wir sehen es bei CureVac in Tübingen. Die haben den neuen Impfstoff an den Start gebracht. Genau das waren die Firmen, die bei Corona den Ausstieg aus der Pandemie entwickelt haben.
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Das zeigt, meine Damen und Herren: Die Innovationskraft von Start-ups ist wichtig für unsere Wirtschaft. Sie schaffen Arbeitsplätze, aber sie schaffen eben auch den Technologiestandort Deutschland. Das wichtigste Kapital für solche Start-ups sind ihre Mitarbeiter. Doch es ist eine große Herausforderung für Start-ups, motivierte und qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und vor allem an sich zu binden. Ein Unternehmen wie Bosch oder wie Daimler kann mit einem guten Gehalt versuchen, Mitarbeiter in die Firma zu holen und an die Firma zu binden. Das können Start-ups aber eben nicht, gerade wenn sie in der Aufbauphase sind. Dort können sie noch nicht die Gehälter zahlen wie die traditionellen Firmen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir Beteiligungen an Start-ups möglich machen. Damit zeigen wir, dass das ein Faktor ist, warum Menschen in ein Unternehmen gehen. In den USA, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird, wenn ich bei einem Start-up neu anfange, nicht darüber verhandelt, wie hoch das Gehalt ist, sondern darüber, wie hoch meine Beteiligung am Start-up ist. Genau da müssen wir in Deutschland mit unseren Start-ups auch hinkommen;
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denn immerhin 79 Prozent der Mitarbeiter in Start-ups sagen, dass für sie die Annahme eines Jobangebots letztendlich von der Mitarbeiterkapitalbeteiligung abhängt. Genau hier müssen wir jetzt rangehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema der Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist gerade für mich Digitalpolitiker nicht ein neues Thema; denn schon Ludwig Erhard hat von einer „Gesellschaft von Teilhabern“ gesprochen.
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– Ja, aber er hat es auch so gemeint; denn wir haben das auch schon vor 200 Jahren in Schlesien, in Breslau gesehen: Das Personal in landwirtschaftlichen Betrieben erhielt dort Anteile am Gewinn des Landguts. – Genau das müssen wir jetzt auch versuchen, in den nächsten Jahren zu ermöglichen. Warum spreche ich von Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen? Fritz Güntzler hat es richtig gesagt: Wir haben einen richtig großen Schritt gemacht, aber der nächste Schritt muss kommen. Wir brauchen eine Zukunft GmbH in diesem Land. Wir müssen versuchen, Start-ups die Möglichkeit zu geben, Mitarbeiterkapitalbeteiligung realistisch hinzubekommen, das heißt so gründlich hinzubekommen, damit es nachher auch wirkt. Von daher, glaube ich, ist dieses Gesetz ein richtig guter Anfang.
Ich hätte mir gerade von den Kolleginnen und Kollegen der SPD gewünscht, dass wir noch einen Schritt weitergegangen wären. Es sind gute Dinge drin, aber das ist leider erst der Anfang. Ich hoffe, dass wir in der neuen Legislaturperiode, vielleicht auch mit einem neuen Partner, weitergehen.
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Die Grünen und die FDP haben hier gute Vorschläge gemacht. Wir sind bereit, da auch mitzugehen;
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denn es geht um die Zukunft unserer Start-ups, es geht um die Zukunft der Arbeitsplätze, und es geht um die Zukunft von Deutschland, meine Damen und Herren. Lassen Sie es uns anpacken, spätestens in der nächsten Legislaturperiode!
Herzlichen Dank und Dankeschön!
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Vielen Dank, Marc Biadacz. – Damit schließe ich die lehrreiche Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Egal ob bei den Löhnen, bei der Arbeitszeit oder bei den Urlaubstagen: Beschäftigte, die unter den Schutz eines Tarifvertrages fallen, stehen in der Regel deutlich besser da als Beschäftigte, deren Betrieb nicht tarifgebunden ist.
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Doch aktuell erleben wir, wie sich immer mehr Unternehmen durch Tarifflucht ihrer sozialen Verantwortung entziehen und versuchen, sich mit Dumpinglöhnen schmutzige Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Das alles birgt enormen sozialen Sprengstoff in sich, und es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung hier endlich handelt.
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Ein Beispiel: Nach Auskunft der Bundesregierung hat sich allein im Einzelhandel die Zahl derjenigen, die unter den Schutz eines Tarifvertrages fallen, innerhalb von zehn Jahren halbiert. War es 2010 noch jeder Zweite, so war es 2019 nur noch jeder Vierte. Das hat handfeste Folgen: Gut 4 Euro die Stunde verdient die Verkäuferin oder die Verräumerin im Supermarkt im Schnitt weniger, wenn für sie kein Tarifvertrag gilt. Ich wiederhole es gerne: Wer es mit dem in der Coronakrise immer so gern bekundeten Respekt für die Verkäuferinnen und Verkäufer ernst meint, muss sich auch dafür einsetzen, dass die Beschäftigten im Einzelhandel anständig bezahlt werden, und zwar ohne Ausnahmen, meine Damen und Herren.
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Deshalb frage ich die Bundesregierung: Wie lange wollen Sie dieser Entwicklung eigentlich noch zusehen? Was tun Sie, um die anhaltende Tarifflucht zu stoppen? Sie schreiben doch selbst in Ihrem Koalitionsvertrag: Tarifverträge sind ein öffentliches Gut. – Richtig so. Aber handeln Sie dann auch so!
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Es wäre ja schon ein kleiner Schritt, wenn Sie die gröbsten Schlupflöcher schließen und bei Unternehmensausgliederungen oder dem Übergang eines Betriebes auf einen neuen Inhaber für die kollektive Fortgeltung des bis dahin geltenden Tarifvertrages sorgen. Wir haben dazu konkrete Vorschläge vorgelegt. Verhalten Sie sich dazu!
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Und warum erleichtern Sie nicht endlich die Möglichkeit, Tarifverträge für alle Unternehmen der jeweiligen Branche für allgemeinverbindlich zu erklären?
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Nur so können doch auch diejenigen Unternehmen geschützt werden, die einen anständigen Tariflohn zahlen. Und spätestens da sollten doch auch Sie, meine Damen und Herren von der Union, aufwachen bei diesem Thema. Als Sie von der Großen Koalition 2014 mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz
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ja auch den Mindestlohn eingeführt haben – gute Sache, viel zu niedrig bis heute; wird Zeit, dass er erhöht wird –,
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haben Sie auch versprochen, dass sich mit diesem Gesetz die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge erhöht.
Ich sage Ihnen, was seitdem passiert ist: Die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge ist weiter in den Keller gerauscht. Waren es 2000 noch über 100 allgemeinverbindliche Tarifverträge und 2014 immerhin noch 39, sind es nach Auskunft der Bundesregierung aktuell nur noch 18. Das ist ein Rückgang um sage und schreibe 80 Prozent im genannten Zeitraum.
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Ihr Tarifautonomiestärkungsgesetz hat daran nichts, aber auch gar nichts geändert; deshalb muss auch hier jetzt dringend nachgebessert werden.
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Als Linke haben wir heute auch dazu konkrete Vorschläge vorgelegt. Wir wollen, dass es wieder ausreicht, wie bis 2015 üblich, dass alleine eine Tarifvertragspartei einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit stellt. Wir wollen durch eine veränderte Zusammensetzung des Tarifausschusses, aber vor allem durch eine andere Form der Beschlussfassung erleichtern, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden können.
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Es kann nicht sein, dass die Hälfte der Arbeitgeber dort alle Tarifverträge ablehnt, die neu beantragt werden. Damit muss endlich Schluss sein! Wir müssen dafür sorgen, dass, wenn Branchentarifverträge als allgemeinverbindlich beantragt werden, die entsprechenden Anträge auch genehmigt werden, meine Damen und Herren.
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Schließlich müssen auch die Kriterien für die Voraussetzungen für den Erlass einer Allgemeinverbindlichkeit klarer gefasst werden, damit keine rechtliche Unklarheit entsteht.
Sie alle werden jetzt sagen: „Das ist Teufelszeug“, aber es wurde auch von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im letzten Jahr so gefordert. Die Bundesregierung hat bis heute hier nicht gehandelt. Es wird Zeit, dass Sie auf die Arbeits- und Sozialminister der Länder hören und unseren Anträgen folgen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Pascal Meiser. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Torbjörn Kartes.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute in dieser durchaus besonderen Woche, in der wir das Infektionsschutzgesetz geändert haben und in der wir auch weiter mit aller Kraft an der Bekämpfung dieser Pandemie arbeiten, auch zur Stärkung der Tarifbindung in Deutschland. Ich möchte eines vorwegschicken: Unser Ziel in dieser Krise ist auch weiterhin: Wir wollen möglichst viele Arbeitsplätze erhalten, tarifgebundene und auch nicht tarifgebundene. Dem gilt unsere volle Aufmerksamkeit; das unterstützen wir insbesondere mit umfassenden Regelungen zur Kurzarbeit. Daran, meine Damen und Herren, werden wir jetzt fokussiert und mit aller Kraft weiter arbeiten.
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Dennoch ist es wichtig, glaube ich, dass wir auch andere Themen in den Blick nehmen. Ich möchte es auch heute ganz deutlich sagen: Ich habe über 15 Jahre in einem tarifgebundenen Unternehmen gearbeitet, und ich weiß sehr wohl um die Vorteile von Tarifverträgen. Dort, wo Tariflöhne gelten, sind Löhne und Arbeitsbedingungen in aller Regel besser, die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist eine der zentralen Errungenschaften in der sozialen Marktwirtschaft.
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Deshalb – das sage ich auch ganz klar – finden Sie uns auch an Ihrer Seite, wenn es darum geht, Tarifbindung zu stärken.
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Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Ich glaube aber, dass wir uns in der Frage, wie man das am besten macht, unterscheiden, und über diese Unterschiede sprechen wir heute ja auch.
Ich möchte das sehr gerne anhand der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen erläutern, die heute auch schon angesprochen worden ist. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach dem Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifparteien für allgemeinverbindlich erklären. Das bewirkt dann, dass auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Regelungen eines Tarifvertrags – zumindest innerhalb des sachlichen und räumlichen Geltungsbereichs – verbindlich werden.
Diese Regelung wollen Sie jetzt ändern. Davon soll nun abgewichen werden, in dem die Allgemeinverbindlichkeit erleichtert wird; auch darüber kann man sprechen. Aber nach Ihren Vorstellungen soll ein entsprechender Antrag zukünftig alleine von einer Tarifvertragspartei gestellt und im Tarifausschuss dann nur noch mit einer Mehrheit abgelehnt werden können. Das würde bedeuten, dass am Ende eine Tarifpartei allein die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags durchsetzen könnte. Das ist, glaube ich, nicht der richtige Weg, und das ist insbesondere mit der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 unseres Grundgesetzes auch nicht vereinbar. Das ist immer noch in erster Linie ein Freiheitsrecht, und wir wollen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbst und eigenverantwortlich über ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestimmen können, immer basierend auf einem Konsens. Das ist oft auch ein Kompromiss, um den hart gestritten wird. Das ist alles richtig. Aber es kann nicht sein, dass das Ganze einseitig erfolgen kann.
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Deswegen glaube ich, dass das hier nicht der richtige Weg sein kann.
Es gibt eine ganze Reihe anderer Vorschläge, die heute auf dem Tisch liegen, die aufzeigen, wie wir mit Vorschriften und immer komplexer werdenden Regelwerken Unternehmen dazu zwingen wollen, dass sie keine Tarifflucht mehr begehen. Ich sage Ihnen: Unser Ansatz dazu muss ein anderer sein. Ich glaube, dass man das, was Sie vorhaben, zwar versuchen kann, dass man das am Ende aber nicht erzwingen kann.
Wir müssen solche Debatten in Deutschland anders führen. Wir müssen unseren Unternehmerinnen und Unternehmern auch mal etwas zutrauen. Wir müssen ihnen vertrauen und daran glauben, dass sie das Beste für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen.
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In diesem Geist sollte man Politik machen.
Deswegen – ich sage das ganz deutlich – muss man einfach darüber nachdenken, wie man Tarifverträge attraktiver macht. Dazu lese ich heute übrigens nichts. Der richtige Weg, glaube ich, um Sozialpartnerschaft zu stärken, wäre,
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tarifgebundenen Unternehmen zusätzliche Kompetenzen und Möglichkeiten einzuräumen. Ich möchte nur ein Beispiel nennen: das Arbeitszeitgesetz. Es ist immer noch ein sehr gutes Gesetz, aber durchaus in die Jahre gekommen.
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Es ist dringend erforderlich, dass wir das behutsam anfassen. Natürlich kann man in dem Rahmen zu der Auffassung kommen, dass gewisse Flexibilisierungen zunächst nur für tarifgebundene Unternehmen gelten sollen.
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Das wäre etwas, was Tarifverträge für beide Seiten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wirklich attraktiver macht, sodass sie sagen: Das ist der richtige Weg. Das wollen wir auch für unser Unternehmen.
Wir sollten also Unternehmern viel mehr vertrauen und Tarifverträge attraktiver machen, weil beide Seiten davon Vorteile haben, statt immer zu meinen, dass man das Ganze durch neue Regelwerke erzwingen kann.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Torbjörn Kartes.
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– Nein, tut mir leid. Ich will einfach noch mal sagen: Wir sind heute sehr stark in Zeitverzug.
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– Ja, das kann schon sein, dass das wichtig ist. Das bestreite ich ja nicht.
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Pohl.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Werte Arbeitnehmer im Land! Zum Antrag der Grünen. Tarifautonomie und Tarifbindung sind bekanntlich wesentliche Säulen der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist es gut, dass wir heute über Wege der Stärkung derselben reden. Dies ist leider aus vielen Gründen notwendig; bekanntlich bröckelt die Tarifbindung seit Jahren, insbesondere in Ostdeutschland.
Der analytische Teil des Antrages taugt als Problembeschreibung. Vieles, was danach kommt, geht wieder an der Sache vorbei und ist Beweis dafür, dass die Grünen mit der heutigen Arbeitswelt doch recht wenig zu tun haben.
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Es wird deutlich, dass das Thema Tarifbindung wahrlich nicht zu den programmatischen Stärken der Grünen gehört. Aber schließlich naht eine Bundestagswahl, und Kobolde wohnen eventuell ja auch im Tarifvertrag.
Wer sich zu solch einem wichtigen Politikfeld äußert, sollte zumindest die Situation der Beschäftigten vor Ort sowie die Urheber der Tarifmisere kennen und auch klar benennen. Aber Sie machen den Bock zum Gärtner. Sie verschweigen lauthals, wer eigentlich verantwortlich für die Erosion der Tarifvertragssysteme hierzulande ist. Ganz wesentlich tragen doch die Gewerkschaften selbst zu diesem Desaster bei.
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Es ist unbestreitbar, dass sich ein Großteil der Arbeitnehmerschaft längst von den organisierten Verbänden des DGB verabschiedet hat.
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Viele DGB-Hauptamtliche sehen sich zuvorderst als politische Vertreter, haben eine Reihe politischer Funktionen und öffentlicher Mandate inne
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und kümmern sich kaum noch um die Gewerkschaftsmitglieder, die mit ihren Beiträgen ihre Gehälter bezahlen. Anstatt mit ganzer Kraft für gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne zu streiten, wird viel Energie in ideologische Kampfmaßnahmen, unter anderem gegen die AfD, gesteckt.
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Mit der Ausgrenzung der AfD und den neuen konservativen Gewerkschaften wie ALARM!, AfA oder Zentrum Automobil
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droht den Altgewerkschaften, wenigstens im Osten, Vereinsamung. Diese Vereinsamung hat die Gewerkschaft selbst provoziert.
Kurzum: Die Akteure des DGB sind inzwischen Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.
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Das erkennen natürlich auch die Arbeitnehmer in unserem Land. Selbst organisierte Arbeitnehmer haben bei den zurückliegenden Wahlen prozentual häufiger die AfD gewählt als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Zugleich kommt vonseiten gewerkschaftlicher Funktionseliten viel Unsinn, wie zum Beispiel die Forderung nach mehr Lohn bei weniger Arbeitszeit und der Ruf nach immer mehr geringqualifizierter Arbeitsmigration.
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Das steht im Widerspruch zur wohlstandsbedrohten Arbeitsgesellschaft hier in Deutschland.
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Was aber ist zu tun, um die Arbeitsbedingungen und die Rechtssicherheit der Beschäftigten wirksam zu stärken? Ich verweise mit Freude auf meine sozialpolitischen Vorschläge, die ich unlängst zur Diskussion gestellt habe. Dazu zählt neben weiteren Vorschläge die Forderung, den durch die Belegschaft gewählten betrieblichen Interessenvertretern der Arbeitnehmer, nämlich den Betriebsräten, endlich auch Möglichkeiten zur Regelung der Arbeitsbedingungen zu geben.
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Das heißt, Betriebsräte müssen künftig befugt und in der Lage sein, sich um Vereinbarungen bis hin zum Abschluss eines Firmen- oder Haustarifvertrages zu kümmern.
Folglich muss dann der sogenannte Tarifvorbehalt der Gewerkschaften im Tarifvertragsgesetz überdacht werden. Dies sollte aber angesichts des beschleunigten Akzeptanzverlustes der Gewerkschaften unter den Arbeitnehmern und den Beschäftigten kein Problem darstellen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Jürgen Pohl.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernd Rützel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man kann es gar nicht oft genug sagen, und man kann es auch gar nicht oft genug hören: Beschäftigte haben es ohne Tarifvertrag wesentlich schwerer – wenn überhaupt –, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Lieber Kollege Kartes, nichts kommt doch von selbst. Das, was wir haben, ist nicht vom Himmel gefallen; das wurde über lange Zeit erstritten, erkämpft und erarbeitet. Deswegen bin ich froh, dass wir heute über diese Anträge hier an dieser Stelle sprechen können. Denn dadurch wird sehr deutlich, wo die Schnittmengen liegen und wo die Differenzen sind.
Pascal Meiser hat das Thema schön erläutert; Klaus Ernst hätte gerne auch noch mal etwas dazu gesagt. Es ist ja nicht so, dass wir auf diese Ansätze nicht selbst gekommen wären; ich glaube, das passt fast komplett. Aber es ist wirklich schwierig, das umzusetzen; denn der Unterschied zwischen Wollen und Machen oder Können ist groß. Man braucht immer Mehrheiten, und für diese Mehrheiten sollten wir kämpfen und streiten.
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Die Tarifbindung ist gesunken. 20 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind organisiert, 20 Prozent in der Pflege. Das sind nicht nur Zahlen, sondern daran zeigt sich, dass die Beschäftigten in Bezug auf ihren Aufstieg aus prekärer Beschäftigung sozusagen zementiert sind; das funktioniert nicht mehr. Der Abstand zur wirtschaftlichen Mitte wird größer. Diejenigen, auf die es am meisten ankommt – nicht nur in der Pandemie, sondern auch sonst –, sind oft diejenigen, bei denen am wenigsten ankommt.
Wir müssen immer wieder dafür kämpfen, dass nicht nur der Mindestlohn auf deutlich über 12 Euro steigt – das haben wir letzte Woche debattiert –,
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sondern wir müssen in dem Zusammenhang auch immer wieder über den Tariflohn diskutieren. Denn: Mindestlohn ist gut, aber Tariflohn ist einfach besser.
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Wir haben uns ja angestrengt und mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz 2014 nicht nur den Mindestlohn durchgesetzt, sondern auch versucht, mit der Abschaffung des 50-Prozent-Quorums und stattdessen mit dem neuen Merkmal des öffentlichen Interesses die Bildung von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen auf den Weg zu bringen. Aber das ist nicht gelungen; das ist geschildert worden, das ist erklärt worden.
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– Ja, das ist so.
Noch einmal wäre uns die Allgemeinverbindlicherklärung fast gelungen, nämlich in der Pflege. In der Pflege – das ist ein wunderbares Beispiel – haben der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaften die Erstreckung des Tarifvertrages auf die gesamte Branche beantragt. Dieser wäre für allgemeinverbindlich erklärt worden. Das Ganze ist aber gescheitert, weil einer der größten Player in dieser Branche, nämlich die Caritas, dazu seinen Segen nicht gegeben hat. Eine vertane Chance!
Lasst mich abschließend bitte sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung ist eine unanständige Praxis.
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Wir vergeben sehr viele öffentliche Aufträge mit viel Geld. Gerade in den öffentlichen Aufträgen liegen die Lohnkosten oftmals bei 70 bis 80 Prozent. Deswegen sollten diese Aufträge nur noch an diejenigen vergeben werden, in denen nach Tarif bezahlt wird.
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Wir brauchen ein Bundestariftreuegesetz; ein Gesetz, das man aber auch nicht wie die Grünen in Schleswig-Holstein aufweichen darf.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Bernd Rützel. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute Abend über Tarifbindung. Sie soll, so die Antragsteller, gefördert und geschützt werden. Die antragstellenden Fraktionen setzen dabei auf mehr staatliche Intervention. Wir Freie Demokraten hingegen glauben nicht, dass der Staat besser als die Wirtschaft weiß, was für Betriebe und Beschäftigte gut ist.
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Wir glauben vielmehr an Subsidiarität und Tarifautonomie. Das sind die Grundlagen, mit denen gleichermaßen für den Schutz von Beschäftigten, für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und für hohen Beschäftigungsstand Sorge getragen wird.
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Die Tarifbindung ist hoch, wenn Tarifverträge attraktiv sind, wenn also Dabeisein mehr Vorteile als Nachteile bringt.
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Überfordert der Tarifvertrag den Arbeitgeber, dann muss er entscheiden und manchmal auch schmerzhafte Entscheidungen treffen, lieber Kollege Meiser: Wenn die Existenz des Betriebs bedroht ist, sind manchmal schmerzhafte Einschnitte unvermeidlich. Das ist dann keine Flucht, sondern geradezu gelebte Verantwortung für Beschäftigte.
Die Fraktion Die Linke fordert eine deutliche Verschärfung der Nachbindung. Dabei sollte sie bedenken, dass das gerade in schwierigen Zeiten, etwa in Zeiten von Transformation oder von Corona, zu einer Austrittswelle führen kann, also exakt zu dem Gegenteil dessen, was Sie als Antragsteller beabsichtigen.
Immer wieder – das ist schon interessant – höre ich: Die Tarifbindung muss gestärkt werden. – Dann kommen Forderungen, die Tarifverträge unattraktiver machen. Die wirtschaftliche Logik erschließt sich einfach nicht, die politische dagegen schon: Die Lust von Politik, sich in alles und jedes einzumischen, ist kaum zu zügeln und in Wahlkampfzeiten geradezu grenzenlos.
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Die Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen sind hoch, und das aus gutem Grund. Die grundgesetzlich geschützte negative Koalitionsfreiheit steht ihr entgegen; Torbjörn Kartes hat dazu ausgeführt. Nun sollen, so der Antrag der Grünen, diese Hürden abgebaut werden. Das ist riskant. Sie ersetzen Wettbewerb durch staatliches Tarifmonopol. Das kostet Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze, und da machen wir nicht mit.
Nicht nur die Grünen und Linken mischen sich gern ein. Auch die Bundesregierung tut dies immer wieder. Es ist schon erstaunlich: einerseits das Jammern über sinkende Tarifbindung und Mitbestimmung, andererseits die Ausweitung von Regulierungen, die originär in die Zuständigkeit der Tarifpartner fallen, zum Beispiel die Brückenteilzeit. Normsetzung durch den Gesetzgeber verdrängt so Normsetzung durch die Tarifpartner; das können nicht einmal die Gewerkschaften leugnen. Das schwächt Tarifbindung, und das ist schlecht.
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Tarifbindung muss einen Unterschied machen, insbesondere bei der Fachkräftegewinnung. Wer die Tarifbindung stärken will, der nimmt die Herausforderung der Arbeit von morgen in den Blick, der vertraut auf Sozialpartner, der verzichtet auf Einmischung. Mehr Flexibilität beim Arbeitszeitgesetz – Torbjörn Kartes, vielen Dank, dass Sie sich der Position von Johannes Vogel annähern –, mehr Mitarbeiter, Kapitalbeteiligung – Bettina Stark-Watzinger hat darauf hingewiesen –, eine moderne soziale Sicherung für Selbstständige: Das schützt die Zukunftschancen der Beschäftigten und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg.
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– Das war jetzt die Kurzintervention vom Kollegen Ernst.
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Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nur noch die Hälfte der Beschäftigten profitiert von einem Tarifvertrag; Tendenz sinkend. Diesen Trend dürfen Sie, die Regierungsfraktionen, nicht länger ignorieren. Schöne Sonntagsreden helfen hier auch nicht weiter. Sie müssen endlich die Tarifbindung stärken.
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Tarifverträge schützen kollektiv die Beschäftigten. Sie stärken die Sozialversicherungssysteme. Tarifverträge garantieren auch gleiche Bedingungen für die Unternehmen und sorgen damit für einen fairen Wettbewerb. Wenn das mit den Tarifverträgen aber nicht mehr richtig funktioniert, dann muss eben das Tarifvertragssystem gestützt werden. Politik kann Tarifflucht erschweren, und Politik kann auch Tarifverträge fördern. Es geht um Anreize und Rahmenbedingungen. Genau das fordern wir heute mit unserem Antrag.
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Eine hohe Tarifbindung gibt es vor allem dann, wenn die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände genügend Mitglieder haben. Das ist natürlich Aufgabe der Tarifpartner. Aber wir können das auch fördern, und zwar steuerlich. Bei den Unternehmen wird das schon gemacht: Sie können sämtliche Kosten im Zusammenhang mit einer Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden steuerlich absetzen. Bei den Gewerkschaftsmitgliedern aber geht der Steuervorteil im Arbeitnehmerpauschbetrag häufig einfach unter. Genau das wollen wir verändern: Beide Seiten müssen gleich behandelt werden. Das ist ein Anreiz, in eine Gewerkschaft einzutreten. Das wäre vor allem auch gerecht.
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Es gibt weitere Stichworte: Wir wollen die Spielregeln im Tarifausschuss verändern, damit es leichter ist, einen Tarifvertrag allgemeinverbindlich zu erklären. Betriebsübergänge dürfen nicht zur Tarifflucht genutzt werden. Wir wollen ein digitales Zugangsrecht für die Gewerkschaften. Und was wir schon lange fordern, ist ein Verbandsklagerecht.
Ganz wichtig – das wurde heute schon angesprochen –: Wir wollen auch ein Bundestariftreuegesetz. Denn heute profitieren von öffentlichen Aufträgen in der Regel die Billigsten. So werden dann faktisch niedrige Löhne und Tarifflucht auch noch mit öffentlichem Geld belohnt, und das geht gar nicht. Öffentliche Aufträge dürfen nur an Unternehmen gehen, die entweder in der Tarifbindung sind oder zumindest tariflich bezahlen.
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Die Tarifbindung muss gestärkt werden; denn Tarifverträge garantieren gute Arbeit. Dabei geht es um faire Löhne, um Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Arbeitszeiten, Urlaubstage und auch die betriebliche Altersvorsorge. Wichtig ist auch: Diese guten Arbeitsbedingungen müssen die Beschäftigten eben nicht alleine für sich individuell erkämpfen. Von den Tarifverträgen, von diesen kollektiven Regeln, profitieren alle: die Beschäftigten, die Unternehmen und somit auch der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Stracke.
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Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sozialpartnerschaft in Deutschland ist ein Kernbestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft. Nicht der Staat handelt in irgendeiner Weise die Löhne oder die Arbeitsbedingungen aus. Er setzt sie nicht einseitig fest, sondern das ist vorrangig Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Das ist Aufgabe von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, diese individuell oder kollektiv auszuhandeln.
Bei diesem Aushandlungsprozess soll es im Grundsatz bleiben; denn das verantwortungsvolle Zusammenwirken der Tarifpartner ist ein starkes Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes und hat über Jahrzehnte auch Wohlstand und sozialen Frieden in unserem Land gesichert. Daran halten wir fest.
Wenn wir jetzt die Vorschläge von den Grünen hören, dann merken wir, dass diese feine Balance, die sich mit den Begriffen „Koalitionsfreiheit“ und „Tarifautonomie“ verbindet, letztendlich einseitig verschoben werden soll. Diese Einseitigkeit ist nicht der richtige Weg. Deshalb lehnen wir als Union diese Vorschläge ab. Nur eine funktionsfähige Tarifautonomie sichert Lohngerechtigkeit,
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hat letztlich eine Schutz-, Befriedungs- und Ordnungsfunktion.
Die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse in Deutschland, Frau Müller-Gemmeke, wird immer noch durch Tarifverträge gestaltet. Ja, es ist richtig: Die direkte Tarifbindung ist rückläufig, liegt derzeit bei 52 Prozent; vor zehn Jahren lag sie noch bei 59 Prozent. Manche beschreiben das jetzt tatsächlich auch als Krise des Tarifvertragssystems. Ich würde sagen: Das sind Alarmsignale, auf die zu reagieren ist, vor allem vonseiten der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Da geht es vor allem darum, dass man dann auch die Tarifverträge verändern muss: Sie müssen mehr Freiheit, mehr Flexibilität
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für die Betriebe vor Ort eröffnen. Die Öffnung von Flächentarifverträgen für die Betriebsparteien zu erhalten und fortzuentwickeln, ist beispielsweise genau der richtige Weg; er sollte weiter beschritten werden. Ich kann die Sozialpartner in diesem Sinne nur ermutigen.
Wenn wir auf die Tarifbindung blicken, so ist vielleicht auch interessant, zu sehen, dass wir in Bayern beispielsweise für 28 Prozent der Beschäftigten Arbeitsbedingungen haben, die sich am Flächentarifvertrag orientieren. Das heißt, für 80 Prozent der Beschäftigten in Bayern gelten direkt oder indirekt tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen. Das zeigt sehr eindrücklich: Die Betriebe sind nach wie vor bereit, die Arbeitsverhältnisse durch tarifvertragliche Regelungen ganz oder zum Teil zu gestalten, und das ist auch gut so.
In der vergangenen Legislaturperiode hatten wir eine Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Anstelle eines starren 50‑Prozent-Quorums hinsichtlich der Tarifbindung genügt nun das Vorliegen eines konkretisierten öffentlichen Interesses. Das liegt ja bekanntlich dann vor, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen eine überwiegende Bedeutung hat. Genau dieses Instrument wollten wir jetzt beispielsweise auch im Bereich der Pflege ziehen. Das ist leider nicht gelungen; Kollege Rützel hat darauf hingewiesen. Das ist sehr schade; denn besonders dort, wo die Tarifbindung gering ist, im Bereich der Pflege, wäre mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung für mehr Verbindlichkeit gesorgt, gerade in diesem Bereich, wo Löhne so unterschiedlich gestaltet sind. Wenn man beispielsweise nach Ostdeutschland oder in den Norden dieser Republik blickt, dann erkennt man im Vergleich zum Süden ein erhebliches Gefälle, was die Lohnstruktur im Bereich der Pflege angeht. Das wollen wir verändern. Deswegen müssen wir darüber reden, wie wir das tatsächlich hinbekommen.
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Handlungsbedarf, der über die Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung hinausgeht, sehe ich tatsächlich nicht; sie ist ein scharfes Schwert.
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Wir müssen immer auch die Sonderrolle der Allgemeinverbindlichkeitserklärung sehen. Bei dieser Sonderrolle soll es auch bleiben.
Der Tarifausschuss hat eine wichtige Kontroll- und Gestaltungsfunktion. Es wäre falsch, diese Kontroll- und Gestaltungsfunktion auszuhöhlen, indem man beispielsweise die Mehrheiten so verschieben würde, wie man sie für eine Abschaffung des Vetorechts bräuchte. Das wollen wir in diesem Bereich nicht.
Deswegen: Die Hauptaufgabe der Sozialpartner liegt darin, für attraktive Strukturen zu sorgen. Das ist ihre vornehmste Aufgabe; darin wollen wir sie bestärken. Deswegen lehnen wir die Vorschläge aus dem Bereich der Opposition ab.
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Vielen Dank, Stephan Stracke. – Letzter Redner in dieser Debatte: für die SPD-Fraktion Michael Gerdes.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem der Linken und der Grünen! Es stimmt: Wir müssen etwas tun, um die Tarifbindung zu stärken. Als letzter Redner hat man dann eben hier das Vergnügen, dass schon alles gesagt worden ist. Deswegen will ich mich ein bisschen kurz halten. Es ist richtig, einen Antrag einzubringen, um die Tarifbindung zu stärken. Der Kollege Meiser, die Kollegin Müller-Gemmeke und natürlich auch mein Kollege Bernd Rützel haben ja mit dem, was sie gesagt haben, recht – leider ist es so –: Fakt ist, dass die Tarifbindung seit dem Jahr 2000 stetig gesunken ist.
Die Folgen sind bekannt: vor allem Niedriglöhne, längere Arbeitszeiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch mangelnde Kaufkraft für die Wirtschaft,
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fehlende Attraktivität der Unternehmen bei der Suche nach Fachkräften und weniger Geld in den Sozialkassen. Deutlich wird dies zum Beispiel an Zahlen aus Brandenburg und Sachsen-Anhalt, den Bundesländern mit den stärksten Gehaltsunterschieden. Dort erhalten die Beschäftigten in tariflosen Betrieben monatlich 17,7 bzw. 18,3 Prozent weniger Lohn und Gehalt im Vergleich zu ihren Kollegen mit tariflich bezahlten Arbeitsplätzen.
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Noch deutlicher – das ist heute hier auch schon mehrfach gesagt worden – wird dies ganz aktuell bei den von uns viel beklatschten Pflegekräften: In Skandinavien sind 90 Prozent der Pflegekräfte gewerkschaftlich organisiert, in Deutschland deutlich weniger, zwischen 10 und 20 Prozent. Wir sehen und lesen nahezu täglich, wie wertvoll deren Arbeit ist, und erfahren gleichzeitig, wie schwer es ist, für diese Arbeit einen angemessenen Lohn und gute Arbeitsbedingungen auszuhandeln, ganz zu schweigen vom Mangel an Pflegekräften, dessen Ursache natürlich auch in den harten Arbeitsbedingungen und mangelnder Anerkennung liegt. Deswegen auch hier, von dieser Stelle, noch mal herzlichen Dank für Ihre Arbeit!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tarifflucht ist kein gesellschaftliches Zukunftsmodell; es ist soziale Verantwortungslosigkeit. Das muss man mal deutlich sagen. Nur, was hilft gegen Tarifflucht am besten? Ohne Zweifel eine Stärkung der Gewerkschaften.
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Und was Herr Pohl von der AfD jetzt hier gerade wieder abgezogen hat, dient eindeutig wieder dazu, einen Keil in die Gewerkschaftsbewegung zu treiben. Ich hoffe, dass viele Gewerkschafter heute zugehört haben und erfahren, wie Sie über Gewerkschaften und ihre Durchsetzungskraft denken.
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Ohne Zweifel ist eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für ganze Branchen das Richtige, ohne Zweifel auch die Vergabe öffentlicher Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen und eine Stärkung der Tarifbindung,
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und ohne Zweifel, meine Damen und Herren, gehören noch viele andere Punkte dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und der Grünen, in den Forderungen des aktuellen Entwurfs des Zukunftsprogramms der SPD taucht der Begriff „Tarif“ insgesamt 18‑mal in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.
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Seien Sie gewiss: Wir bleiben dran.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank, Michael Gerdes. – Damit schließe ich die Aussprache.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen heute in zweiter und dritter Lesung die Novelle des Bundespersonalvertretungsgesetzes und damit zugleich einen im Koalitionsvertrag enthaltenen Arbeitsauftrag ab.
Seit 1974 – ja, es ist lange her – wurde das Bundespersonalvertretungsgesetz nicht wesentlich verändert. Heute, ziemlich genau 47 Jahre später, setzen wir – man könnte jetzt sagen: endlich – einen entscheidenden Meilenstein.
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Dieser Gesetzentwurf ist ein großer Schritt, weil er umfangreiche und notwendige Verbesserungen enthält. Diese legen den Grundstein für ein modernes, ein anwenderfreundliches Personalvertretungsrecht, zusammen mit dem Änderungsantrag, den wir als Koalitionsfraktionen eingebracht haben. Da gilt mein besonderer Dank dem Kollegen Hitschler und der Kollegin Vogt für das wirklich konstruktive Miteinander; vielen Dank.
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Im Ergebnis ist es uns gelungen, konsequent ein solides Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg zu bringen, welches – als große Novelle angelegt – jetzt hoffentlich Bestand haben wird. Aber es müssen keine 47 Jahre sein.
Lassen Sie mich zunächst kurz über die vielen Verbesserungen des Gesetzentwurfes sprechen. Ganz grundlegend wurde die Struktur überarbeitet. So ist der Gesetzestext nun besser angeordnet und gegliedert, leichter lesbar und nicht zuletzt dadurch eingängiger und auch verständlicher. Ich bin mir sicher: Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase bringt bereits dies einen Mehrwert für alle Beteiligten.
Die neue Struktur wird ergänzt durch präzisierte und teils neu geschaffene Mitbestimmungstatbestände des Personalrats. Ob im Bereich der Homeoffice-Regelung, des betrieblichen Gesundheitsmanagements oder des Dienstortwechsels – in diesen und vielen weiteren Bereichen wird die Mitbestimmung der Beschäftigten gestärkt.
Damit der Personalrat die Interessen der Beschäftigten stets – das heißt, auch im Falle eines Falles – vertreten kann, enthält der Gesetzentwurf zusätzliche Regelungen zur Vermeidung personalvertretungsloser Zeiten, unter anderem Übergangsmandate bestehender Personalvertretungen bei verspäteten Wahlen und Umstrukturierungsmaßnahmen, zudem Regelungen zur Beschleunigung von Neuwahlen bei Wahlanfechtungen und Auflösung von Personalvertretungen.
Ein weiterer Erfolg des Gesetzentwurfes ist auch die Institutionalisierung der Arbeitsgemeinschaft der Hauptpersonalräte. Außerdem freut es mich, dass der Gesetzentwurf eine Lösung für die sogenannten arbeitnehmerähnlichen Freien für die Deutsche Welle beinhaltet, die unter Umständen auch Ausstrahlungskraft für die Belange vieler weiterer fester Freier haben kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stärken mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Personalräte und machen gute Personalratsarbeit einfacher.
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Nach vielen Beratungen im parlamentarischen Verfahren bin ich heute mehr als zuversichtlich, dass wir das, was bereits ein großer Schritt war, mit dem vorliegenden gemeinsamen Änderungsantrag unserer Koalition jetzt noch einmal sinnvoll ergänzen. Mir war es von vornherein wichtig, dass wir diese Gelegenheit nutzen, um im Rahmen der Novelle die Digitalisierungsaspekte noch einmal ambitioniert anzugehen, und ich bin der Überzeugung, dass uns das auch gelungen ist. Es freut mich sehr, dass wir mit dem Änderungsantrag zeigen, dass wir viele der Digitalisierungsmaßnahmen nicht nur als Schlagworte begreifen, sondern diese eine echte Erleichterung und Bereicherung der Personalratsarbeit darstellen.
Es war unser Ziel, nachhaltige Formen der Kommunikation und der Personalratsarbeit zu ermöglichen. So schaffen wir Zeit und Platz für die wirklich wichtigen Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
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Gerne möchte ich an dieser Stelle einige Punkte, auf die wir uns im parlamentarischen Verfahren einigen konnten, noch benennen:
Erstens. Wir entfristen die Möglichkeit von Personalratssitzungen als Video- oder Telefonkonferenz. Wir stellen – das ist wichtig – zugleich sicher, dass diese Möglichkeit optional bleibt.
Zweitens. Wir machen klar: Sitzungen des Personalrats finden in der Regel als Präsenzsitzung vor Ort statt. Daran wird sich mit der optionalen Möglichkeit nichts ändern; das Recht eines Personalratsmitglieds auf Teilnahme vor Ort bleibt erhalten.
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Drittens. Wir ermöglichen Video- und Telefonsprechstunden des Personalrats.
Viertens. Wir haben erreicht, dass auch die Einigungsstelle Verhandlungen und Beschlussfassungen digital durchführen kann, sofern kein Mitglied widerspricht.
Und fünftens. Wir ermöglichen im Einvernehmen mit der Dienststelle die Übertragung von Personalversammlungen als Videokonferenz auch an Nebenstellen und Teile der Dienststellen.
Ich möchte sagen: Dies ist ein starkes Digitalisierungspaket.
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Zu guter Letzt möchte ich mich an dieser Stelle, lieber Stephan Mayer, auch ganz herzlich beim Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat für die gute Zuarbeit und einen akribisch durchdachten Gesetzentwurf herzlich bedanken,
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Und auch dafür, dass wir hier im parlamentarischen Verfahren intensiv – wir haben auch gestritten – und konstruktiv miteinander arbeiten konnten.
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– So gehört sich das. – Ich bin zuversichtlich, dass die Änderungen die Personalratsarbeit als Ganzes bereichern werden. Danke für die Aufmerksamkeit. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Petra Nicolaisen. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Christian Wirth.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Frau Nicolaisen, Frau Kollegin, so ganz kann ich Ihren Optimismus nicht teilen.
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Es hat doch den Anschein, dass in den letzten Wochen die Bundesregierung sowie die Koalitionspartner eine Reihe mit der heißen Nadel gestrickter, eigentlich sehr wichtiger Gesetze durch den Bundestag peitschen möchten.
Das Bundespersonalvertretungsgesetz stammt aus dem März 1974; seitdem wurde nur Flickschusterei betrieben. Seitdem ist Deutschland dreimal Weltmeister geworden, einmal wiedervereinigt worden, seitdem haben drei SPD-Kanzler ihre Amtszeit nicht zu Ende bringen können und zwei CDU-Kanzler an ihren Stühlen geklebt; ich verzichte aufs Gendern.
Und dies alles vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung in diesem Fall als Dienstherr einer besonderen Fürsorgepflicht verpflichtet ist. Dies wirft ein Licht darauf, welche Wertschätzung den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst von der Koalition und der Bundesregierung entgegengebracht wird. Was im Koalitionsvertrag vom ersten Tag an vereinbart war, scheint Ihnen erst jetzt wirklich wichtig zu sein, wo Sie genau wissen, dass Sie Ihre Regierung – und im Falle der Union auch die Kanzlerschaft – verlieren werden; der Wähler lässt grüßen. Dabei hatten Sie genug Zeit. Dass Ihnen das Gesetz nicht wirklich wichtig ist, sondern wohl nur jemand zufällig noch einmal den Koalitionsvertrag quergelesen hat, zeigt ja Ihr erster Entwurf.
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Handwerklich ist der Entwurf so weit in Ordnung. Das Gesetz ist leserlich und besser strukturiert, da gebe ich Ihnen recht, aber ohne jede Perspektive für die Zukunft und ohne Fantasie, eine Renovierung, aber keine Sanierung eines morschen Hauses.
Aus Ihrem ersten Entwurf sprach ein tiefes Misstrauen gegen jede Form digitaler Arbeit. Ihre Inkompetenz in digitalen Fragen und der seit Jahren spürbare Unwille, dieses Land in Fragen der Digitalisierung endlich auf ein der Wirtschaft entsprechendes Niveau zu führen, ist auch in diesem Gesetzesvorhaben spürbar gewesen.
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Aus Fristen und Bestimmungen war klar abzulesen, dass Sie die Digitalisierung bestenfalls als Übergangslösung in Zeiten der Coronakrise haben wollen. Wenn die nächste Bundesregierung dann, spätestens nach der Wahl, die Pandemie für beendet erklärt,
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sollte es dann schnell wieder zurück zu Notizzettel und Fax gehen. Was von der Schule bis zum Großkonzern seit nun einem Jahr geübt wird, was überraschend gut funktioniert, aber natürlich nie perfekt sein kann, konnten Sie sich anscheinend nicht für Ihre eigenen Beamten und Angestellten vorstellen. Das habe auch ich in meiner Rede in der ersten Lesung kritisiert.
Es spricht für Sie, dass Sie wenigstens zum Teil die Kritik ernst genommen und gelernt haben. Ihr Änderungsantrag ist nicht perfekt. Die Konkretisierung für die digitalen Sitzungen, Onlinesprechstunden usw. zeigt, dass, wenn Sie von selbst nicht drauf kommen, Sie immerhin diesmal bereit waren, zuzuhören. Die zusätzlichen Möglichkeiten zu digitaler Beschlussfassung sind ebenfalls lobenswert. Deswegen werden wir dieser überfälligen Novelle zustimmen, mit den angesprochenen Änderungen natürlich.
Klopfen Sie sich dafür aber nicht zu sehr auf die Schulter! Das alte Gesetz ist ein zu überlastetes, kaputtes Stückwerk, um es stehen zu lassen. Der Entwurf ist nicht schlecht genug, um unter diesen Umständen ein Nein wert zu sein. Die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sind zu wichtig und zu verdienstvoll, um sie im Regen stehen zu lassen.
Wenn man sich anschaut, dass die noch ein paar Wochen regierende Koalition heute gemeinsam auf 34 Prozent kommt, ist das der verdiente Lohn für Ihre Fantasielosigkeit, Ihre Trägheit und Ihre Zukunftsängste. Wenn nicht absehbar wäre, welche Katastrophe Ihnen folgen wird, würde Ihr absehbarer Abgang nicht nur die AfD, sondern wahrscheinlich auch die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst hoffnungsvoll stimmen.
Vielen Dank.
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Danke schön, Dr. Wirth. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Thomas Hitschler.
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Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist schon bemerkenswert – meine Vorrednerin, Frau Nicolaisen, hat es auch erwähnt –: Wir novellieren hier vollumfänglich ein Gesetz, das seit 47 Jahren Bestand hatte und aus der Feder einer sozialliberalen Koalition kam.
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Folglich muss man sagen: Das, was Willy Brandt und die damals Regierenden gemacht haben, war anscheinend ein echt gutes Gesetz. Also: Das haben wir gut gemacht damals!
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Aber, Kolleginnen und Kollegen, selbst das beste Gesetz muss eines Tages novelliert und überarbeitet werden, weil es an die Anforderungen einer neuen Zeit angepasst werden muss. Wir haben technische Neuerungen. Ich glaube, 1974 gab es noch nicht mal den Videorekorder; heute gibt es die Cloud. Es hat in der Arbeitswelt sehr viele Veränderungen gegeben. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, ist es gut und richtig, dass wir uns in dieser Koalition die Mühe gemacht und viel Arbeit in dieses Gesetz gesteckt haben. Dafür schon mal ein großes Dankeschön an alle, die mitgewirkt haben!
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Es war, Frau Nicolaisen und Herr Staatssekretär Mayer, tatsächlich ein guter Prozess, den wir hatten. Und es ist gut, dass sich das BMI die Zeit gelassen hat – was die AfD gerade bemängelt hat –, weil so viele Akteure eingebunden wurden. Wir haben gemeinsam mit Verbänden, mit Gewerkschaften, mit Expertinnen und Experten darum gerungen, was die beste Lösung für eine Novellierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes ist. Und, Kolleginnen und Kollegen, es ist gelungen. Es ist ein gutes Gesetz, und es ist ein richtig guter Prozess gewesen.
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Lassen Sie mich drei Beispiele herausgreifen:
Zum Ersten. Wir haben es tatsächlich geschafft, einen Teil der neuen Arbeitswelt aufzunehmen, die mir, offen gestanden, nicht so gut gefällt. Es gibt viele Mitarbeitende gerade im Bereich des Journalismus, die keine festen Arbeitsverträge haben und vorher auch nicht in der Mitbestimmung waren. Es ist uns mit der Novellierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes gelungen, Tausende von diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens in die Mitbestimmung zu holen. Das ist ein großer Erfolg, auf den man stolz sein kann, Kolleginnen und Kollegen.
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Zum Zweiten. Bei den digitalen Beteiligungsrechten ging es nicht ausschließlich darum, zu entfristen, sondern wir haben in diesem Gesetz einen neuen Standard gesetzt, der tatsächlich zwei Sachen schafft: einerseits digitale Beteiligungsmöglichkeiten – das ist gut und richtig im Jahr 2021 –, aber andererseits auch die Möglichkeit für Betriebs- und Personalräte, zu sagen: „Nein, Moment, das wollen wir nicht“, also zu widersprechen. Wir haben klare Quoren eingeführt, wir gewähren Minderheitenschutz. Das, Kolleginnen und Kollegen, ist der Standard, der jetzt, im Jahr 2021, für den Bereich des öffentlichen Dienstes bei der Mitbestimmung gilt. Das ist auch gut und richtig so.
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Der dritte Punkt. Wir haben ein digitales Zugangsrecht für die Gewerkschaften im Bereich des öffentlichen Dienstes geschaffen. Künftig ist es so, dass Gewerkschaften im Intranet der Dienststellen vertreten sind. Wir haben bei der vorherigen Debatte gerade gehört, dass die AfD wenig von Gewerkschaften hält. Ich kann Ihnen sagen: Ich finde, Gewerkschaften sind einer der zentralen Akteure – wenn nicht sogar die wichtigsten, die es gibt – bei all diesen Beratungen über Arbeitsprozesse und arbeitsrechtliche und arbeitspolitische Gegenstände. Deshalb ist es gut, dass die Gewerkschaften künftig ein digitales Zugangsrecht zum Intranet des öffentlichen Dienstes haben.
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Abschließend: Wir hatten einen guten Prozess, wir haben ein gutes Ergebnis, aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. Auch wenn wir vielleicht nur fast ein so gutes Gesetz gemacht haben wie damals die sozialliberale Koalition,
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sollten wir nicht 50 Jahre warten, bis wir die nächste Novellierung bzw. Überarbeitung des Bundespersonalvertretungsgesetzes machen.
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Wir müssen immer wieder und regelmäßig darauf schauen: „Welche Anforderungen bringt die neue Zeit mit sich?“, und uns dann tatsächlich gemeinsam die Mühe machen, daranzugehen, das Gesetz zu überarbeiten.
Heute bitte ich Sie darum, Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie dem zu, was wir Ihnen vorgelegt haben! Es ist ein gutes Gesetz. Es stärkt die Mitbestimmung in Deutschland.
Vielen herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin, jetzt habe ich schon fast ein schlechtes Gewissen, dass ich hier rede und nicht zu Protokoll gebe.
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Aber ich will zumindest versprechen, dass ich versuche, die Redezeit von drei Minuten nicht ganz auszuschöpfen.
Ich will mich erst mal für den gesamten Prozess, der über viele Wochen und Monate lief, ganz, ganz herzlich bei unserem Berichterstatter, Herrn Thomas Hitschler, und bei Ute Vogt bedanken. Das war wirklich eine hervorragende Kommunikation. Es war ein Kampf, ein Fight, und wir haben gesehen: Zum Schluss kommt etwas Besseres dabei heraus. Das ist wunderbar.
Ich bin sehr froh, dass wir das Bundespersonalvertretungsgesetz nach wirklich fast 50 Jahren heute novellieren. Es ist ein ganz neues Gesetz, das das alte ersetzt. Die Personalrätinnen und Personalräte bekommen durch dieses Gesetz mehr Möglichkeiten, mehr Mitbestimmung, was mobiles Arbeiten betrifft, was flexible Arbeitszeiten betrifft, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie das betriebliche Gesundheits- und Eingliederungsmanagement betrifft. Das ist wirklich wichtig.
Ich war selber im Personalrat, bevor die Deutsche Bahn AG 1994 gegründet wurde, und danach im Betriebsrat. Das Betriebsverfassungsgesetz gehen wir auch bald an. Aber das Personalvertretungsgesetz ist so wichtig; denn die Kolleginnen und Kollegen, die gewählten Personalrätinnen und Personalräte, wissen doch, was gebraucht wird. Die haben Fachwissen, die haben Ideen, die setzen im Betrieb, in der Verwaltung, in der Behörde oft die entscheidenden Impulse. Sie wissen, was man braucht, damit der Laden läuft. Sie wissen, wo Investitionen getätigt werden müssen, und sehen auch immer die langfristige Perspektive.
Die Digitalisierung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist natürlich ein Segen, aber gleichzeitig auch ein Fluch. Deswegen muss man immer aufpassen, dass die Präsenzsitzungen der Normalfall bleiben und dass nur ausnahmsweise davon abgewichen werden kann. Wir haben auch wirklich sehr niedrigschwellige Widerspruchslösungen eingebaut. Bei der Einigungsstelle reicht es, wenn im Umlaufverfahren eine oder einer widerspricht, damit die Verhandlung nicht digital stattfindet; bei Personalratssitzungen sind es 25 Prozent.
Damit ich mein Versprechen einhalte, will ich zum Schluss kommen und sagen: Ein ganz toller Erfolg ist, dass die Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht haben. Es ist nicht so, dass es noch überall das Schwarze Brett gibt. Von daher ist das der Zug der Zeit. Ich bin sehr froh, dass wir das heute machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Bernd Rützel. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Deutsche Unternehmen stehen vor der Pleite. Arbeitnehmer können ihre Rechnungen nicht bezahlen, und die vielen Zwangsschließungen, die wir erleben, kommen einem Berufsverbot gleich. Und wer macht in dieser Krise trotzdem richtig Business? Amazon, Aserbaidschan und die CDU.
Die Regierung Aserbaidschans ist in den letzten Jahren auf große Einkaufstournee durch Deutschland und die deutsche Politik gegangen. „Kaviardiplomatie“ nennt man das, wenn Politiker von CDU und CSU sich mit aserbaidschanischem Schmiergeld kaufen lassen.
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Da soll zum Beispiel ein Herr Eduard Lintner von der CSU 4 Millionen Euro über Briefkastenfirmen aus Aserbaidschan erhalten haben.
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Zum Vergleich: Bei Borussia Dortmund zahlt man einem Bundesligaspieler im Schnitt 2,5 Millionen Euro. Da hat Herr Lintner richtig abgesahnt.
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Und wofür? Damit er das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten im Europarat im Sinne Aserbaidschans manipuliert. Wir reden hier übrigens über das gleiche Aserbaidschan, das noch vor wenigen Monaten einen Angriffskrieg gegen das christliche Armenien geführt hat. Und Lintner war nicht der Einzige.
Mark Hauptmann, bis vor Kurzem CDU, ließ sich mutmaßlich Werbeanzeigen in seinem CDU-Lokalblättchen von Aserbaidschan finanzieren. Gegen ihn wurde ein Vermögensarrest in Höhe von fast 1 Million Euro verhängt. Axel Fischer und Joachim Pfeiffer, beide immer noch CDU, haben sich wahrscheinlich ebenfalls aus Aserbaidschan finanzieren lassen.
Und wenn die Freunde von der CDU/CSU nicht bei Aserbaidschan die Hand aufhalten, dann kassieren sie mit dubiosen Maskendeals:
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Alfred Sauter, CSU, 1,2 Millionen Euro, Georg Nüßlein, 660 000 Euro, Nikolas Löbel, CDU, 250 000 Euro. Ich könnte weitermachen, aber die Korruption in der Union sprengt meine Redezeit.
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Meine Damen und Herren, seit 1991 erhielt Aserbaidschan vom deutschen Steuerzahler 230 Millionen Euro bilaterale Entwicklungsleistungen. Auch der beste Freund von Diktator Alijew, Erdogan, profitiert von deutscher Entwicklungshilfe. Ich weiß, das dementieren Sie immer. Sie behaupten, dass die Türkei keine Entwicklungsleistungen mehr erhält. Aber Sie müssen sich schon mal entscheiden: Entweder sprechen wir von ODA-Leistungen – Official Development Assistance – oder eben nicht.
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Bis heute erhält die Türkei immer noch knapp 650 Millionen Euro.
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650 Millionen Euro, meine Damen und Herren, für einen Staat, dessen Präsident hier in Deutschland Straßen sperren lässt, wenn er in Köln-Ehrenfeld die Großmoschee besucht! Meine Damen und Herren, so etwas kann er meinetwegen in Ankara, Izmir und Istanbul machen, aber nicht hier in Deutschland.
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Wir fordern als AfD-Bundestagsfraktion die vollumfängliche Aufklärung sowie die sofortige Einstellung der Entwicklungshilfe für Aserbaidschan und die Türkei. Gerade den Unionspolitikern hier im Hause sollte das ein Anliegen sein. Sie können heute unter Beweis stellen, dass Sie nicht Bakus Puppen sind, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Volkmar Klein.
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Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Also, der Antrag der AfD leidet ja schon deutlich unter falschen Behauptungen und falschen Fakten und Zahlen. Wenn man diesen Vortrag gerade gehört hat, dann wird klar: Das war kein Versehen. Offensichtlich ist der Blick dauerhaft benebelt; denn auch in Moskau gibt es offenbar nicht nur Kaviar, sondern auch viel zu viel Wodka. Anders kann ich mir diesen getrübten Blick nicht erklären.
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Der Kaukasus-Konflikt ist ganz sicherlich zu kompliziert, um ihn hier in zwei Minuten zu analysieren.
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Aber zu unterstellen, dass hier in Berlin oder bei CDU/CSU alle dem azerischen Narrativ verfallen würden, das ist doch absurd. Natürlich ist Aserbaidschan ein korrupter Staat – da kennt sich die AfD aus; das ist in Russland nämlich ganz genauso –,
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und ich bin mir auch ganz sicher, dass die jüngsten Kampfhandlungen genau dort begonnen wurden. Sicherlich würde man sich ein bisschen mehr Friedensbereitschaft auch auf armenischer Seite wünschen. Aber das alles zu bewerten vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Konflikte, ist sicherlich kompliziert.
Wir haben für Aserbaidschan seit 2012 keinerlei Zusagen mehr für Entwicklungszusammenarbeit gemacht. Richtig ist: Bestehende Verträge werden abgearbeitet. Richtig ist: Wir haben ein paar Regionalprogramme für den Südkaukasus. Das ist auch sinnvoll, wenn das dem Frieden in dieser Region hilft.
Ganz abgesehen davon – das erklärt einen Teil der Türkei-Zahlen –: ODA ist doch nicht das Gleiche wie deutsche bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit.
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Wenn eine private Organisation oder eine Kirche oder wer auch immer mit Geld der Bundesregierung dort tätig ist, dann zählt das natürlich auch als ODA. Wenn ein Student aus Aserbaidschan in Deutschland studiert, dann zählt das als von einem deutschen Bundesland erbrachte ODA. Das müsste eigentlich nach einigen Jahren im Parlament auch bei der AfD angekommen sein. Man will es aber nicht.
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Krasser aber ist das, was hier in Sachen Türkei behauptet wird. Wir haben seit 2008 keine Entwicklungszusammenarbeit mehr mit der Türkei. Gemeint sind hier sicherlich die Zahlungen, mit denen wir die Versorgung von syrischen Flüchtlingen in der Türkei finanzieren. Ich finde es auch richtig, dass wir den Menschen dort Perspektiven geben, damit sie Perspektiven in ihrer angestammten Nachbarschaft haben und sie sich nicht woanders suchen. Sie in der AfD wollen aber nicht, dass die Menschen dort Perspektiven haben. Sie wollen, dass die Menschen die Perspektiven woanders suchen, nämlich in Europa und am besten noch in Deutschland, damit Sie wegen dieser Flüchtlinge hier bei uns in Deutschland Ihre Hetze weiter anfeuern können.
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Und das wollen wir nicht.
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Kommen Sie bitte zum Ende. – Das war es jetzt?
Frau Präsidentin, das war mein Schlusswort. Das sollte richtig deutlich rüberkommen.
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Ja, vielen Dank, Volkmar Klein.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Till Mansmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Konflikte in der Region, die wir Südkaukasus nennen. Da gibt es eine Menge aufzuarbeiten: von den historischen Dimensionen des ersten großen Völkermords im 20. Jahrhundert an den Armeniern bis hin zum immer noch ungelösten blutigen Konflikt um Bergkarabach. Sie fordern nun eine Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit mit Aserbaidschan, weil das Land einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat. – Der Vorwurf ist leider richtig. Die Konsequenz ist falsch.
Für richtig würden wir es jetzt halten, stattdessen die Entwicklungszusammenarbeit mit Armenien und Georgien zu intensivieren, uns also verstärkt den demokratischen Ländern in dieser Region zuzuwenden.
Konsequenzen im Sinne von Sanktionen sollten sich auf die Personen in den Ländern beschränken, die diesen Krieg angezettelt haben, einen Angriffskrieg auf europäischem Boden, der leider in Deutschland in der Öffentlichkeit viel zu wenig Beachtung gefunden hat.
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Aber der Konflikt ist nicht beigelegt, es herrscht lediglich eine mittelfristig fragile Waffenruhe. Gerade den Menschen in Bergkarabach, die immer noch existenziell bedroht werden, müssen wir jetzt in vieler Hinsicht zur Seite stehen. Ich warne hier ausdrücklich davor, das zu einer Frage der Parteipolitik zu machen, wie Sie das hier versuchen.
Leider gab es ganz persönliche gravierende Verfehlungen einzelner Abgeordneter, die wir auch als solche behandeln sollten. Jeder Einzelne von uns sollte übrigens ganz persönlich auch Lehren daraus ziehen, und wir sollten uns auf die Aufgabe und unsere Rolle hier besinnen, egal in welcher Fraktion wir tätig sind.
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Vielleicht müssen wir uns auch an dieser Stelle wieder klarmachen: Dieser Skandal an sich ist nicht das Problem. Ein Skandal, jeder Skandal ist ein Teil der Lösung des Problems. Ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat zeichnet sich nicht dadurch aus, dass alles überall und bei jedem perfekt läuft, sondern dadurch, dass das, was schlecht läuft, öffentlich thematisiert und aufgearbeitet wird. Das wird hier im Hause gemacht.
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Das ist gut so. Dieser Prozess läuft auch.
Wir diskutieren jetzt über mehr Transparenz, unser Selbstverständnis als Abgeordnete und über die Sanktionierung von Verfehlungen. Richtig so; auch wir Freien Demokraten fordern schon seit vielen Jahren ein Lobbyregister, das diesen Namen auch verdient. Und wir unterstützen alle Kollegen, die ohne Ansehen ihrer jeweiligen Fraktionsmitgliedschaft ernsthaft daran arbeiten.
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Sie, die AfD-Fraktion, wollen das aber anders angehen. Sind Sie denn bereit, die gleichen Maßstäbe, die Sie bei anderen anlegen wollen, auch für Ihre Fraktion gelten zu lassen? Machen wir doch den Doppelmoraltest bei Ihnen. Sie kritisieren zu Recht die Kaviardiplomatie. Nehmen wir einmal ein anderes Land, das auch für hervorragenden Kaviar bekannt ist: Russland. Sie fordern Transparenz von anderen. Ich schlage Ihnen vor: Stellen Sie sie bei sich selbst her. Ich freue mich über eine Aufstellung Ihrer Fraktion, welches Ihrer über 80 Mitglieder im Laufe dieser Legislaturperiode zu welchem Zweck und zu welchen Gesprächspartnern nach Russland gereist ist. Machen Sie uns transparent,
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wer die Rechnungen bezahlt hat: für die Fahrten, für die Flüge, für den Aufenthalt, für die Versorgung vor Ort. Dann reden wir hier gern in einer weiteren Debatte über die Krimsektdiplomatie.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Till Mansmann. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Dietmar Nietan. Er gibt seine Rede zu Protokoll.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke, Helin Evrim Sommer.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Und wieder einmal die CDU. Die Affäre um die Schmiergeldzahlungen aus Aserbaidschan hat das Vertrauen in die demokratischen Institutionen tief erschüttert. Die Schaffung eines Lobbyregisters beim Bundestag kann nur ein erster Schritt sein. Wir als Linke fordern volle Transparenz über die Nebeneinkünfte von Abgeordneten vom ersten Cent an.
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Die AfD will stattdessen lieber die Entwicklungszusammenarbeit mit Aserbaidschan und der Türkei abwickeln. Dabei sind diese beiden Länder längst keine bilateralen Entwicklungspartner Deutschlands mehr. Allein schon deswegen ist der AfD-Antrag vorsätzlich fehlerhaft.
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Aber das scheint ja Ihr Geschäft zu sein.
Wo wir schon beim Geschäft der AfD sind: Wer hat denn eigentlich die vielen Reisen der rechten Saubermänner auf die russisch besetzte Krim und nach Syrien bezahlt?
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Als glaubwürdige Vorkämpferin für saubere Politik scheidet die Rechtsaußenfraktion aus.
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Nun zum Völkermord an den Armeniern. Der jährt sich am 24. April zum 106. Mal. Die Türkei leugnet diesen Genozid bis heute. Aber die Rechten in diesem Haus wollen sich zum Verteidiger der armenischen Christen machen
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und unterschlagen prompt die deutsche Mitverantwortung. Für uns als Linke ist klar: Ohne die damalige Mitwirkung des Deutschen Kaiserreichs hätte der Völkermord so nicht stattgefunden.
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Die Reichsregierung war im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet. Das mörderische Vorgehen hat sie aus zynischem Machtkalkül gedeckt. Mehr noch: Deutsches Militär hat mitgeholfen, als die armenischen Christinnen und Christen abgeschlachtet wurden. Nach dem verlorenen Krieg hat Deutschland den Drahtziehern des Massenmordes politisches Asyl gewährt. Wir als Linke sagen klar: Das ist Beihilfe zum Völkermord.
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Deshalb sind die Verbrechen an den Armenierinnen und Armeniern auch ein Teil unserer eigenen deutschen Geschichte, meine Damen und Herren.
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Der Deutsche Bundestag hat den Völkermord reichlich spät anerkannt: vor fünf Jahren. Allerdings wurde von dem Antrag bis heute nichts umgesetzt. Wir als Linke fordern, dass das Thema in den Schulunterricht jedes Bundeslandes integriert wird. Politische Verantwortung heißt, Konsequenzen aus den historischen Verbrechen zu ziehen. Das sind wir den Armenierinnen und Armeniern schuldig, aber auch uns selbst, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Helin Evrim Sommer. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil heute auch die Antwort auf die Große Anfrage der AfD zur Armenien-Resolution auf der Tagesordnung steht, will ich damit anfangen.
Am 2. Juni 2016 hat der Deutsche Bundestag den Völkermord im ehemaligen Osmanischen Reich an den christlichen Armeniern und Suryoye endlich anerkannt. Unser Hohes Haus ging dabei sogar noch einen Schritt weiter und tat den notwendigen Schritt, den die AfD nicht verstehen wird. Das wäre mit Ihnen damals nicht möglich gewesen. Der Bundestag hat sich als Rechtsnachfolger des Deutschen Kaiserreichs zu seiner eigenen Mitschuld an dem Völkermord bekannt. Zu dieser Resolution und den Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, steht die demokratische Mehrheit dieses Deutschen Bundestages nach wie vor.
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Jetzt versucht sich die AfD zum Hüter dieser Resolution aufzuschwingen und verbindet es mit dem Krieg in Karabach und der sogenannten Kaviardiplomatie. Ilyas Kevork Uyar, ehemaliger Vorsitzender der armenischen Kirche in Deutschland, sagt zu den Bemühungen der AfD – ich darf zitieren –: Das, was Euer Ober-Gauland verharmlosend als Fliegenschiss kleinreden wollte, die Nazi-Barbarei, hat auch viele Armenierinnen und Armenier ermordet, so wie meinen eigenen Verwandten Misak Manouchian, ebenfalls Anti-Faschist! Und Ihr versucht, auf dem Rücken der Armenier eine schmierige Polit-Show abzuziehen? Nicht mit uns!
Als einer der Autoren der Resolution sage ich: Der Geist der Resolution ist Versöhnung, kein Hass auf Musliminnen und Muslime, kein Hass auf die Türkei. Türkeistämmige Menschen tragen heute weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Türkei Schuld an den Verbrechen des damaligen Osmanischen Reiches, so wie wir keine Schuld tragen an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Aber gemeinsam verbindet uns Verantwortung, dass so etwas nie wieder passiert.
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Es ist schlimm – ich will das in aller Deutlichkeit sagen –, und es gehört aufgearbeitet, dass sich christdemokratische Abgeordnete für die Propagandashow des Regimes in Aserbaidschan hergegeben haben und sich dafür haben bezahlen lassen. Ich hätte mir auch – auch das will ich sehr deutlich sagen – eine deutlich aktivere Rolle der Bundesregierung in Bezug auf den Krieg in Bergkarabach gewünscht. Doch auch hier sind Sie von der AfD die letzten, die mit dem Finger auf andere zeigen können.
Während die OSZE-Beobachter deutliche Kritik an den Fake Wahlen in Aserbaidschan geübt haben, ließen sich zwei AfD-Abgeordnete aus Bayern für die Regimepropaganda einspannen. Die AfD-Abgeordneten waren in den örtlichen und russischen Medien voll des Lobes über die Gastfreundschaft usw. Aber Fake Wahlbeobachtung scheint auch zum Kerngeschäft der AfD zu gehören: ob in Russland, im besetzten Teil der Ukraine oder in Aserbaidschan. Ihre Motive sind durchschaubar. Sie wollen eine antitürkische, antimuslimische Stimmung schüren. Wir dagegen wollen Frieden und Gerechtigkeit zwischen Armenien, Aserbaidschan und der Türkei.
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Mit dem haben Sie nicht das Geringste zu tun.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Cem Özdemir. – Der nächste Redner für die CDU/CSU, Volker Kauder, gibt seine Rede zu Protokoll.
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Wertes Präsidium! Liebe Kollegen! Gezielte militärische Angriffe auf armenische Kirchen in Bergkarabach, Bomben auf christliche Traditionen, auf die Kathedrale von Schuschi, anderthalb Jahrtausende Christentum in Gefahr, christliche Dörfer entvölkert: Aserbaidschan unterstützt von der Türkei. Wieder werden Armenier von Türken umgebracht – das alles kurz vor Weihnachten im Kaukasus.
In wenigen Wochen ist es fünf Jahre her, dass der Bundestag endlich – endlich! – den türkischen Völkermord an den Armeniern anerkannt hat, fünf Jahre, in denen es die Bundesregierung vermieden hat, auch nur ein einziges Mal das Wort „Völkermord“ oder „Genozid“ in den Mund zu nehmen. Der 24. April ist der Gedenktag der Armenier. Am 24. April 1915 begann der Völkermord an den Armeniern und weitete sich aus: auf die Assyrer, die Aramäer, die Chaldäer – gezielte Christenverfolgung unvorstellbaren Ausmaßes in der islamischen Türkei, dem damaligen Osmanischen Reich.
Über 100 Jahre hat es gedauert, bis ein deutsches Parlament offiziell den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich anerkannt hat. Die AfD-Fraktion hat nachgefragt. Wir haben eine Große Anfrage zum Völkermord an den Armeniern an die Bundesregierung gerichtet. Wir wollten wissen, wie es um die Umsetzung dieser verspäteten Resolution steht. Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage sind dürftig; im normalen Leben würde man sagen: dumm-frech. Die Bundesregierung tut so, als hätte es nie einen Völkermord an den Armeniern gegeben. Die Bundesregierung hat so gut wie nichts in den letzten fünf Jahren unternommen. Diese Haltung kommt einer Leugnung des Völkermords an den Armeniern nahe.
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Hysterische und heuchlerische Hypermoral in Berlin, und in Bergkarabach sterben die Armenier.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute das Eisenbahnrechtsbereinigungsgesetz zu beschließen. Das ist ein sehr technokratischer Begriff. Was versteckt sich eigentlich dahinter? Wir regeln mit diesem Gesetz einige Vorgaben des EU-Rechts, die wir in das deutsche Eisenbahnrecht übernehmen.
Das Besondere an diesem Gesetz ist, dass wir die Vegetationskontrolle neu regeln. Was heißt das? Wir stellen die Schiene der Straße gleich. Wenn es zu Baumwuchs kommt, der in die Schiene zu fallen droht, werden wir in Zukunft in Deutschland diese Bäume rechtzeitig fällen können, bevor ein Unglück passiert. Gerade in den Sturmlagen, die wir in den letzten Jahren häufiger hatten, kam es immer wieder zu schweren Unfällen aufgrund des Umfallens von Bäumen in die Gleise. Das eine ist das Risiko für die Bahnreisenden und natürlich für das Material. Das andere ist die verheerende Auswirkung, wenn diese Bäume in die Oberleitungen fallen und die ganzen Oberleitungen herunterreißen; denn es ist sehr kompliziert, diese Reparaturen vorzunehmen. Wenn dies auf den vielen Hauptstrecken passiert, dann werden diese gemacht. Bei den Nebenstrecken dauert es dann aber eine ganze Zeit – so auch in meinem Wahlkreis –, bis diese Strecken repariert sind und wieder der volle Betrieb aufgenommen werden kann.
Es war deswegen angezeigt, hier eine neue Regelung zu finden. Wir haben uns an der Straße orientiert und geschaut: Wie ist es dort? Dort kann eben derjenige, der die Verkehrssicherungspflicht auf der Straße hat, eingreifen und den Baumwuchs rechtzeitig so beseitigen, dass er gar nicht der Gefahr unterliegt, auf die Straße zu fallen. Das machen wir jetzt auch bei der Schiene. Das heißt: Wir können nicht nur auf den Grundstücken der DB AG selbst oder der öffentlichen Gebietskörperschaften wie zum Beispiel den Kommunen, wo das in der Zusammenarbeit schon in der Vergangenheit relativ gut klappte, sondern wir können jetzt auch auf Privatgrundstücken eingreifen, sowohl vorsorgend als auch im aktiven Fall.
Insofern regelt das Eisenbahnrechtsbereinigungsgesetz, dass wir praktisch auch in diesem Fall die Schiene der Straße gleichstellen. Das dient dem Ziel, mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Ein wesentlicher Bestandteil ist, dass auch der Schienenverkehr verlässlich, pünktlich und korrekt läuft. Auch das muss neu geregelt werden. Das tun wir mit diesem Gesetz vorbildhaft.
Ein weiterer Punkt ist die Gleisanschlussförderung. Wir haben es uns in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten angewöhnt, Gewerbegebiete zu entwickeln, die vor allem durch Bundesstraßen und Autobahnen gut erschlossen sind, aber nicht durch Eisenbahnen. Wenn man sie in Zukunft gut erschließen will, dann muss man neue Eisenbahnlinien in die Gewerbegebiete legen. Das ist aber aufwendig. Da ist die Frage: Wer trägt die Kosten? Auch diese Frage regelt dieser Gesetzentwurf, und zwar so, dass in Zukunft bei der Anschlussweiche die Kosten geteilt werden und letztlich die laufenden Betriebskosten beim Betreiber der Schienenwege verbleiben. Wir haben hier, wie ich finde, eine sehr ausgewogene, sehr gute Regelung gefunden, die dazu führen wird, dass wir mehr Gleisanschlüsse von Gewerbegebieten bekommen. Das ist etwas, was wir ja auch wollen, um mehr Güter von der Straße auf die Schiene bringen zu können.
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Das Besondere an diesem Gesetzentwurf – das muss ich sagen – ist die großartige Leistung der Koalitionsfraktionen. Ich möchte ausdrücklich die Beratungen mit den Fraktionen von CDU/CSU und SPD positiv erwähnen. Herr Rainer und Frau Lühmann haben mit den Kolleginnen und Kollegen ganze Arbeit geleistet. Es ging nämlich um die Frage: Können wir auch eine bessere Regelung für die Privatbahngleise in Deutschland hinbekommen?
Die Koalitionsfraktionen haben es geschafft, einen Änderungsantrag dergestalt zu machen, dass die Nebenstrecken der sogenannten Privatbahnen, also die, die nicht zur bundeseigenen Eisenbahn gehören – so lautet der korrekte Terminus technicus, ein bisschen arrogant: die, die nicht DB sind –, in Zukunft nicht nur beim Ersatzbau gefördert werden können, sondern auch beim Aus- und Neubau. Wenn man also die Strecken einer Eisenbahnen und Verkehrsbetriebe Elbe-Weser GmbH in Zukunft elektrifiziert, kann dort der Eigentümer einen Antrag stellen und bis zu 50 Prozent der Förderung durch den Bund erhalten. Das ist eine großartige Leistung.
Ich gehe davon aus, dass heute Abend mit der Beschlussfassung zum Beispiel bei der Bentheimer Eisenbahn AG durchaus ein schönes Bier mit einem ordentlichen Glas Korn dazu getrunken wird, weil die lange auf eine Regelung gewartet haben, mit der sie sich endlich Investitionen – sehr schlank, sehr gut gefördert, ähnlich wie die DB-Strecken – werden leisten können. Das ist eine großartige Leistung der Fraktionen. Herzlichen Dank dafür.
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Insofern ist es, glaube ich, ein sehr gutes Gesetz.
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– Das ist ein sehr gutes Gesetz, Herr Kollege.
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Auch wenn Sie davon nichts verstehen: Es ist wirklich ein sehr gutes Gesetz;
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ich kann es Ihnen sagen.
Derjenige, der etwas davon versteht, müsste eigentlich der Kollege Gastel sein. Das ist nämlich einer – ich will mal die Gelegenheit nutzen, das zu sagen –, der immer von Eisenbahnen redet und in der ganzen Republik rumtwittert, was man so alles anders machen kann.
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Sie werden heute meiner Ansicht nach wieder das Schauspiel erleben, dass wir hier ein sehr gutes Gesetz beschließen und der Kollege Gastel wieder dagegenstimmen wird. Denn über alles, was gut ist in der Eisenbahn, redet er, aber er stimmt immer dagegen.
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Das ist ein ganz großes Problem, und ich wollte diese pharisäerhafte Art einmal hier ansprechen.
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So kann das nicht gehen. Also, Herr Gastel, wenn Sie heute sich noch einen Ruck geben und einem guten Gesetz zustimmen wollen, können Sie es gleich machen. Sie haben die Chance dazu. Aber ich nehme an, dass wir heute dieses Schauspiel mit Ihnen wieder erleben.
Ich darf mich bei den Koalitionsfraktionen für eine exzellente Zusammenarbeit bedanken, auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meinem Hause, die wirklich gut gearbeitet haben und auch gut zugearbeitet haben. Insofern freue ich mich, wenn Sie dem Gesetz heute zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Enak Ferlemann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Wolfgang Wiehle.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lange ist es her, mehr als fünf Jahrzehnte, da warb die Bahn mit diesem Plakat: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“
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Ja, lange ist es her. In den Jahrzehnten seither ist viel geschehen, was auch für unsere heutige Debatte wichtig ist. Jetzt steht ein ganzes Gesetzespaket zur Abstimmung. Es enthält viele wichtige Gesichtspunkte, zum Beispiel die Förderung von Gleisanschlüssen; Herr Staatssekretär Ferlemann hat es erwähnt. Die Neuregelung der sogenannten Vegetationskontrolle ist aber mit Abstand die bedeutendste Änderung.
Ja, wir reden damit vom Wetter. Bäume, die bei Sturm auf die Gleise oder in die Oberleitung fallen, sind eben eine problematische Art von Vegetation. Bürger schreiben dazu bereits Petitionen an den Bundestag. Wie wir vor zwei Monaten erlebt haben, gibt es großflächige Streckensperrungen aber nicht nur bei starkem Wind. Kräftiger Schneefall kann das auch bewirken.
Jetzt soll also das Allgemeine Eisenbahngesetz geändert werden, um die Vegetationskontrolle besser durchzusetzen. Das Bundesfernstraßengesetz – das wurde schon genannt – ist dafür das Vorbild. Die AfD-Fraktion begrüßt das ausdrücklich. Die Schieneninfrastruktur ist ein Teil der Daseinsvorsorge, und sie muss, so gut es geht, vor Witterungseinflüssen geschützt werden.
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Genauso deutlich kritisieren wir aber, dass es so lange gedauert hat, bis jetzt endlich beherzter gegen die Gefahrenbäume vorgegangen werden kann. In die Jahrzehnte seit der berühmten Werbekampagne fiel nicht zuletzt der Versuch, die Unternehmenszahlen der Bahn für einen Börsengang schönzurechnen. Dafür wurde dann auch bei der Vegetationskontrolle gespart, und die Probleme konnten rechts und links der Bahnstrecken im wahrsten Sinne des Wortes immer höher wachsen. Kommunale Baumschutzverordnungen helfen auch mit, zu verhindern, dass Anrainer der Bahnstrecken ihren Verkehrssicherungspflichten ordentlich nachkommen. Auf Anfrage der AfD-Fraktion im April 2018 teilte das Verkehrsministerium mit, dass drei Viertel aller Nachbargrundstücke der Bahnstrecken nicht der Bahn gehören. Wenn die Bahn ihre Nachbarn wegen gefährlicher Bäume anschreibt, bekommt sie meistens gar keine Antwort. Und wenn doch eine Antwort kommt, dann meistens eine ablehnende.
Jetzt sind wir also endlich an dem Punkt, dass die Bahn notfalls auch auf Kosten dieser Grundstückseigentümer Maßnahmen durchführen darf. Ob das ausreicht, wird man sehen müssen. Bei eigenen Grundstücken neben den Gleisen schneidet die Bahn Bäume nach einem V‑förmigen Profil zurück. Im Gesetzentwurf steht nun aber, ein solcher vorsorglicher Rückschnitt könne aus rechtlichen Gründen auf fremden Grundstücken nicht durchgesetzt werden. Andere Länder sind da weniger zimperlich, wie zum Beispiel Schweden und Italien. Die Zukunft wird zeigen, wie bald wir die nächste Gesetzesänderung brauchen. Die AfD-Fraktion wird es nicht akzeptieren, wenn das wieder Jahrzehnte dauert.
Insgesamt halten wir den heutigen Gesetzentwurf für akzeptabel, und wir werden ihm zustimmen. Immerhin ist er ein Schritt in die richtige Richtung. Wir werden aber nicht lockerlassen, auch nicht in Sachen Schneestrategie; das verspreche ich Ihnen an dieser Stelle. Gerade jetzt, wo alle die Bahn fördern wollen, muss dafür gesorgt werden, dass man von einem nicht mehr reden muss, nämlich vom Wetter.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Wiehle. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die Sitzungsleitung hat gewechselt. Es geht jetzt wieder, wie immer, gesittet zu.
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Ich werde keine Kurzinterventionen zulassen und auch Zwischenfragen nur im äußersten Notfall. Wir sind momentan bei einem Sitzungsende um 3.15 Uhr, was ich nach wie vor für unangemessen halte. Also, alle diejenigen, die in ihren Wahlkreisen bereits aufgestellt sind und daher nicht mehr reden müssen, sollten ihre Reden zu Protokoll geben.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion.
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„Xavier“, „Mortimer“, „Sabine“, „Kirsten“ – Herr Präsident, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, das sind vier wunderschöne Namen, insbesondere der letzte. Allerdings nenne ich sie nicht deshalb, sondern, weil sie uns in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen sind. So hießen die großen Sturmtiefs, die auch dafür gesorgt haben, dass der Bahnverkehr über Tage eingestellt werden musste, und die dafür gesorgt haben, dass Lokführende Motorsägen mitgeführt haben, um zum Beispiel in meinem Wahlkreis, einer sehr waldreichen Gegend, die Befahrbarkeit der Gleise wiederherzustellen.
Wir haben in diesem Zusammenhang hier sehr viel über den sogenannten V-Schnitt gehört. Wie soll ich die Gleise freihalten? Mit dem V-Schnitt oder mit dem L‑Schnitt? Aber die eigentliche Frage, die sich uns stellte, ist: „Wie kann man das Ganze organisieren?“; denn der DB Netz AG gehört nur ein Teil der Trasse, und die Bäume rechts und links sind durchaus gefahrenträchtig bei solchen Stürmen.
Ja, ich kenne auch die Fälle, wo Waldbesitzende gesagt haben: Das geht aber ganz schön bürokratisch zu bei der Bahn, wenn es um Sicherheit geht, wenn wir da ausschneiden wollen. – Der überwiegende Teil der Fälle belegt aber genau das Gegenteil. Die Bahn möchte ihrer Verkehrssicherungspflicht nachkommen, aber sie kann entweder die zuständigen Waldbesitzenden nicht erreichen, oder die verweigern den Mitarbeitenden den Zutritt zu ihren Grundstücken. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht tragbar, wenn es um die Sicherheit des Bahnverkehrs geht. Das haben wir hier geändert.
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Dabei haben wir den Entwurf des Verkehrsministeriums noch mal optimiert. Herr Ferlemann, Sie wollten da sehr weit gehen, indem Sie gesagt haben, dass die Bahn quasi die Eigentumsrechte übernimmt und auf fremden Grundstücken eine Sicherungspflicht hat. Da haben wir gesagt, das könnte zu zivilrechtlichen Ansprüchen führen, wenn zum Beispiel die Mitarbeitenden der Bahn einen Baum fällen und der Waldbesitzende sagt: Nein, der war gar nicht gefährlich, den hätte ich noch wirtschaftlich verwerten wollen. – Da haben wir gesagt: Das muss auch gar nicht sein. Es reicht völlig ein Zutrittsrecht, wenn ein Baum auf die Gleise zu fallen droht. Das haben wir geregelt, ähnlich wie im Straßenbereich. Das führt dazu, dass die Motorsäge zu Hause bleiben kann, zumindest was den Lokführerstand angeht.
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Aber wir sagen in diesem Gesetz auch: Wir möchten mehr Güter auf die Schiene bringen. Das eine wurde erwähnt, die Förderung von nichtbundeseigenen Eisenbahnen. Das andere ist, dass wir Gleisanschlüsse für Unternehmen fördern. Das Risiko für ein Unternehmen, sich einen Gleisanschluss zu legen, ist sehr hoch. Da ist nämlich nicht nur die Investition, sondern da sind auch die Kosten für den Unterhalt. Wir haben geregelt: Bei der Investition werden die Weichenkosten geteilt, die Unterhaltskosten sind ganz vom Netzbetreibenden zu tragen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gut für die Bahnfahrenden, für die Mobilitätswende und für das Klima.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich hatte vergessen, zu erwähnen, dass ich auch sehr sorgfältig auf die Zeit achten werde.
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– Ja, ich wollte nur die Pause jetzt nutzen. – Das bedeutet, ich werde einmal mahnen und danach von der Regelung des § 35 Absatz 3 der Geschäftsordnung Gebrauch machen und das Wort entziehen. Nur dass das klar ist.
Nächster Redner ist der Kollege Torsten Herbst, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der vorliegenden Novelle werden verschiedene rechtliche Details neu geregelt. Das sind zum Teil redaktionelle Änderungen, zum Teil Klarstellungen, zum Teil auch Verbesserungen wie die Gleisanschlussförderung; alles Punkte, die wir als FDP-Fraktion unterstützen.
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Eines der Hauptthemen – das haben die Vorredner auch schon angesprochen – ist das Thema Vegetationsmanagement. Wir haben in den letzten Jahren sehr oft erlebt, dass selbst bei, ich sage mal, mäßigen Stürmen Bäume auf Gleise gefallen sind, Oberleitungen zerstört haben. Das ist ein Problem, weil das die Sicherheit der Reisenden gefährdet, im Übrigen auch die der Triebfahrzeugführer, und weil das zu hohen materiellen Schäden führt. Deswegen ist eine bessere Vegetationskontrolle dringend notwendig.
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Sie haben sich für eine Regelung entschieden, die etwas abgeschwächt ist im Vergleich zum ursprünglichen Regierungsentwurf, der sehr weitgehende Pflichten für die Infrastrukturbetreiber vorgesehen hat, nämlich auf fremde Grundstücke zu gehen und dort zu kontrollieren und zu dokumentieren. Wir sind froh, dass das abgeschwächt wurde. Warum Sie allerdings in Ihrer jetzigen Regelung immer noch einen Abstand von 50 Metern vom Gleis bis in das Grundstück vorsehen, bleibt Ihr Geheimnis. Ich glaube, eine Tanne in Deutschland kann schon mal 25 Meter hoch werden. Mammutbäume haben wir aber nicht in Deutschland, und ich glaube, trotz Klimaveränderung werden wir die hier auch nicht erleben.
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Das Interessante ist ja immer: Sie machen eine Menge zum Teil auch sinnvolle Regelungen im Detail, aber um die großen Fragen im Eisenbahnrecht machen Sie einen ganz, ganz großen Bogen. Die großen Fragen sind: Wie gehen wir generell mit dem Thema Infrastruktur um? Das ist ja im Eisenbahnbereich im weitesten Sinne ein Monopol. Und: Wie regeln wir die Eisenbahnbetriebsunternehmen im Verhältnis zur Eisenbahninfrastruktur? Wie schaffen wir es, faire Wettbewerbsbedingungen zu kreieren, damit mehr Auswahl für die Kunden entsteht, sowohl was den Schienengüterverkehr als auch was den Nahverkehr betrifft, wo Wettbewerb schon funktioniert. Aber dort, wo der Wettbewerb bisher überhaupt nicht funktioniert, im Schienenpersonenfernverkehr, mogeln Sie sich herum, Antworten zu geben, wie wir dort bessere Wettbewerbsbedingungen, mehr Auswahl, mehr Service für die Kunden schaffen müssen.
Das wird in der nächsten Legislaturperiode angegangen werden müssen. Wir freuen uns auf diese Diskussion, und wir werden auch Mahner dafür sein, dass wir einen insgesamt attraktiveren Schienenverkehr nur hinbekommen, damit es mehr Auswahl für Kunden gibt, ähnlich wie wir das auch im Telekommunikationsbereich oder im Bereich der Airlines kennen. Das ist die Aufgabe, die Baustelle, die Sie hinterlassen haben. Wir wollen uns darum in der nächsten Legislaturperiode kümmern.
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Vielen Dank, Herr Kollege Herbst. – Die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke, und die Kollegen Karl Holmeier, CDU/CSU-Fraktion, und Detlef Müller, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll
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– ich finde, das ist einen Beifall wert –, sodass der letzte Redner in dieser Debatte der Kollege Matthias Gastel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ist.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Positive vorweg: Bei der Vegetationskontrolle entlang der Bahnstrecken sollen die Zuständigkeiten, die Verantwortlichkeiten klar sein. Sie sollen bei den Eisenbahninfrastrukturunternehmen liegen, aber gegebenenfalls auch bei Privaten, wenn deren Grundstücke an den Bahnstrecken angrenzen. Das ist ein guter und wichtiger Beitrag zur Verkehrssicherheit, aber auch zur Zuverlässigkeit des Bahnverkehrs in Deutschland.
Bahn muss möglichst unabhängig von Jahreszeiten und Witterung sein. In dem Zusammenhang ist auch zu erwähnen: Die sogenannte neue Schneestrategie der Deutschen Bahn ist zu Recht fraktionsübergreifend auf deutliche Kritik gestoßen. Es geht schlicht und ergreifend nicht, was im Februar der Fall war: dass wesentliche Teile des Schienennetzes fast eine Woche lang gesperrt gewesen sind und man sie einfach hat zuschneien lassen. Es geht darum, dass die Infrastruktur möglichst zu jeder Zeit verfügbar sein muss. Dafür sorgt dieses Gesetz ein Stück weit.
Negativ ist aber – lieber Herr Ferlemann, das haben Sie leider nicht gesagt, obwohl Sie doppelt so viel Redezeit hatten wie ich jetzt –: Straßenbaulastträger sollen künftig Entwidmungen von Eisenbahninfrastruktur beantragen können. Damit machen Sie den Bock zum Gärtner. Zukunftsperspektiven von Bahnstrecken dürfen doch nicht von den Interessen des Straßenbaus abhängig gemacht oder gar zerstört werden.
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Es wurde schon viel zu viel Infrastruktur der Bahn zerstört. Seit 1994, dem Jahr der Bahnreform, wurden 14 Prozent der Strecken in Deutschland stillgelegt oder auch entwidmet. Gleichzeitig ist aber die Verkehrsleistung auf der Schiene im Personenverkehr um 50 Prozent und im Güterverkehr sogar um 90 Prozent gewachsen. Das heißt, auf geschrumpfter Infrastruktur gibt es deutlich mehr Verkehr. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Dann kann man nicht gleichzeitig auch noch die Entwidmung von Eisenbahninfrastruktur einfacher machen, als sie heute ist; das ist doch absurd.
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Was wir brauchen, ist ein bundesweites Reaktivierungsprogramm von Infrastruktur, wie es beispielsweise in Baden-Württemberg gemacht wird. 42 stillgelegte, teilweise auch entwidmete Bahnstrecken wurden dort auf ihr Fahrgastpotenzial hin untersucht, 22 davon haben jetzt gute Chancen, wieder in Betrieb genommen zu werden. Das sollte der Bund zusammen mit den Ländern auch anderswo machen, damit wir wieder mehr Infrastruktur haben und die Bahn in die Fläche bringen.
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Also, noch mal und zusammenfassend: Es ist gut, dass die Infrastruktur unabhängig von Witterung und Jahreszeit verlässlich zur Verfügung gestellt werden soll. Wo wir aber als Grüne nicht zustimmen können, ist, dass Straßenbauer über die Zukunft von Infrastruktur der Schiene mitentscheiden können, indem sie einen Antrag auf Entwidmung stellen. Das ist schlicht und ergreifend absurd, da machen wir nicht mit. Deswegen stimmen wir diesen Gesetzesänderungen auch nicht zu.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über den Schutz der Bundestagswahl 2021 vor Desinformation und Cyberangriffen. Wenn die heutige Debatte nur den Effekt hat, dass die an der Wahlvorbereitung beteiligten Akteure diese Gefahren besser auf dem Schirm haben, dann hat sich der heutige Abend schon gelohnt.
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Was passiert denn konkret? Autoritäre Regierungen nutzen das Internet als Kommunikationsplattform, aber auch als Plattform für Cyberangriffe. Sie nutzen die sozialen Medien, sie nutzen verdeckte Finanzierungen, sie nutzen andere Wege, um die Willensbildung in demokratischen Staaten Europas auf ganz unterschiedlichen Kanälen zu beeinflussen.
Warum tun sie das, meine Damen und Herren? Sie tun das aus folgendem Grund: Je mehr Menschen an der Handlungsfähigkeit staatlicher Organisationen und Institutionen zweifeln, umso leichter können sich Putin und Erdogan als starke Führungspersönlichkeiten inszenieren. Je mehr Menschen Angst vor Zuwanderung und sexueller Selbstbestimmung haben, umso eher können sich autoritäre Typen als Retter des Abendlandes und der Familie gerieren. Je mehr Menschen in Deutschland glauben, wir lebten in einer Coronadiktatur oder in einer Meinungsdiktatur, umso einfacher ist es für die wahren Diktatoren, ihre Menschenrechtsverletzungen und ihre Wahlmanipulationen unter den Teppich zu kehren. Und je stärker radikale Parteien bei Wahlen werden, umso schwieriger ist es für eine Regierungsbildung aus der Mitte des demokratischen Parteienspektrums.
Genau das ist von autoritären Regimen gewollt. Genau diese Instabilität, genau diese Krisen sind von autoritären Regimen gewollt. Wir erleben deswegen, dass die Wehrhaftigkeit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dass die Offenheit unserer Gesellschaft in Gefahr ist – von außen und von innen –, und es ist gut, dass wir heute darüber sprechen, meine Damen und Herren.
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Was passiert konkret, und was muss geschehen?
Erstens. Wir erfahren in diesen Tagen, dass in den letzten Wochen und Monaten mindestens sieben Bundestagsabgeordnete zum Ziel, zu Opfern von Phishing-Angriffen geworden sind. Da wird versucht, Passwörter auszuforschen, mit denen man sich in die Social-Media-Präsenzen von Abgeordneten einloggen kann, um dort Desinformation zu verbreiten. Was lernen wir daraus? Wir müssen nicht nur an der IT-Sicherheit der Exekutive arbeiten, sondern auch an der IT-Sicherheit der Legislative, auch bei den Kandidatinnen und Kandidaten, bei den Parteien, bei den Landespolitikern, bei den Kommunalpolitikern. Wir brauchen Schulungen, Seminare, konkrete Hilfsangebote, übrigens auch für Erstwähler, die sich zum ersten Mal ein Bild machen sollen, um eine informierte Wahlentscheidung treffen zu können.
Zweitens. Es gibt Untersuchungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes, die ganz klar benennen, dass es kein Land in der Europäischen Union gibt, das so stark im Fokus von Desinformation steht wie die Bundesrepublik Deutschland. Russia Today bemüht sich um eine Rundfunklizenz in Deutschland. TRT aus der Türkei baut sein Angebot aus. Das sind Sprachrohre autoritärer Regime, und Menschen müssen das in Deutschland erkennen.
Was bedeutet das ganz konkret? Das ist nicht nur eine Sache des Innenministeriums. Es braucht eine gemeinsame Plattform mit den Nachrichtendiensten, mit dem BMVg, mit dem Auswärtigen Amt, mit den Wahlleitern auf allen Ebenen, mit dem BSI, die daran arbeiten, wie man die Resilienz demokratischer Willensbildungsprozesse in Deutschland und der EU erhöhen kann.
Wir sollten auch als Demokratien voneinander lernen. Wir brauchen so etwas wie eine digitale Wahlbeobachtung in der Europäischen Union, beim Europarat, bei der OSZE, damit wir voneinander lernen können.
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Drittes und letztes Thema. Wir haben bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz gesehen, wie stark die Briefwahl nach oben geht: über 60 Prozent. Es hat nur wenige Stunden, wenige Tage gedauert, bis genau dieselben Lügengeschichten im Internet aufgetaucht sind, wie sie auch über die Präsidentschaftswahl in den USA erzählt worden sind: alles Fake, alles gefälscht. – Das sind Erzählungen aus autoritären Regimen mit rechtsextremen Claqueuren in Deutschland.
Was lernen wir daraus? Wir müssen über Briefwahl informieren. Wir müssen die Social-Media-Plattformen an einen Tisch bekommen, und wir dürfen es uns mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und als offene Gesellschaft nicht gefallen lassen, dass wir unterwandert werden, mit dem Ziel, diese Errungenschaften abzuschaffen. Schützen wir gemeinsam die Bundestagswahlen 2021! Ich freue mich auf die Debatte.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner ist der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier zu später Stunde zu einem sehr wichtigen Thema, und zwar zur Absicherung der Bundestagswahl 2021. Lieber Kollege Kuhle, liebe FDP, ich sage etwas, was ich selten sage: Eigentlich ist alles, was Sie in Ihrem Antrag anführen, vollkommen richtig, und ich kann das nur unterstreichen.
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Sie haben gleich zum Anfang Ihrer Rede gesagt, dass, wenn Ihr Antrag nur den Effekt hätte, dass die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, umgesetzt würden, dann wäre das schon ein Erfolg. Ich kann noch eines hinzufügen: Es gibt diesen Erfolg. Es hätte dieser Rede gar nicht bedurft; denn das BMI ist bereits dabei, genau diese Maßnahmen umzusetzen.
Es gibt dort nämlich eine AG Hybrid, die bereits seit 2018 tätig ist,
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und bereits seit 2020, also seit dem letzten Jahr, arbeitet diese AG genau im Bereich der hybriden Bedrohung ressortübergreifend über alle Ministerien. Das ist ja genau das, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Sie grenzen das noch ein bisschen ein; das BMI geht dort ein wenig weiter. Die drei Schlagworte dabei sind: Prävention, Detektion und Reaktion.
Ich möchte, weil die Redezeit aufgrund der angespannten Debattenlage hier doch etwas verkürzt ist, ein Beispiel herausgreifen, das Sie nicht in Ihrem Antrag ausführen; das ist etwas, was mich wirklich sehr beunruhigt und auch alle anderen in diesem Haus beunruhigen sollte: Das ist das Szenario der sogenannten Deepfakes.
Ich lade Sie alle mal ein zu einem Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, da gibt es ein schönes, lauschiges Treffen. Ein Mann und eine Frau treffen sich in einem schönen Hotel, meinetwegen im Harz, Panoramablick, an einem Abend. Die Kamera läuft, versteckt natürlich. Es wird sich unterhalten über die Bundestagswahl. Einer der Gesprächspartner ist Elon Musk, und die andere Gesprächspartnerin ist Annalena Baerbock.
Im Laufe des Gesprächs werden viele Themen ausgetauscht, und auf einmal schlägt Elon Musk vor: Na ja, Frau Baerbock, wie wäre es denn, wenn ich der grünen Partei jetzt eine enorme Wahlkampfspende zukommen lassen würde? Meine einzige Bedingung wäre, dass Sie an Ihrem Verbot der Verbrennungsmotoren ab 2030 auch festhalten und das konsequent durchsetzen. – Annalena Baerbock sagt dann: Ja, das machen wir selbstverständlich. Ich freue mich über die Spende, und der Verbrennungsmotor ist Geschichte.
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Diese ganze Geschichte ist natürlich ausgedacht; aber so, wie ich sie erzählt habe, könnte sie passieren. Und genau das ist die Methode von Deepfakes. Und jetzt stellen Sie sich vor, dieses Video wird zwei oder drei Tage vor der Bundestagswahl veröffentlicht.
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Das wird sehr schwer für Sie, lieber Kollege von Notz, diesen Deepfake auch nur aufzuklären. Und in dem Moment, wo es Ihnen gelingt, ist die Bundestagswahl bereits gelaufen und der Schaden entstanden.
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Und auf dieses Phänomen müssen wir uns vorbereiten. Das wird uns treffen bei der Bundestagswahl. Da gibt es noch einiges zu tun. Moderne Technologie hilft hier weiter. Aber das Wichtigste überhaupt ist Sensibilisierung, und das ist eine Aufgabe, die das ganze Haus betrifft. Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen einladen, darauf hinzuweisen, dass es solche Methoden mittlerweile gibt und dass sie gnadenlos eingesetzt werden von Feinden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Bernstiel. Sie dürfen Ihre Redezeit ausnutzen, nur nicht überschreiten.
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– Ich wollte es nur sagen. Sie haben gesagt, die Redezeit sei eingekürzt. Das ist nicht wahr. Ihre Fraktion hat gar nicht mehr angemeldet. – Also, das sind jetzt keine Fake News, die ich gerade mitteile, sondern das ist die Realität.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Herbst sind Bundestagswahlen, und die FDP sieht freie und faire Wahlen in Gefahr. Die Chancengleichheit zwischen den Parteien sei bedroht wegen Fake News, Hackern, Desinformation, besonders durch ausländische Mächte, Russland oder die Türkei.
Sorgen um faire Wahlen sind ja berechtigt, aber sind ausländische Mächte da unser größtes Problem?
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Haben wir nicht viel größere hausgemachte Probleme, etwa mit der Meinungsfreiheit, Grundvoraussetzung jeder offenen Debatte? Kann man in Deutschland wirklich frei seine Meinung sagen?
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Offensichtlich nicht. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat in einer breiten Studie ermittelt: Zwei Drittel aller Deutschen haben Angst, sich offen zu äußern, besonders wenn es um kritische Themen geht wie Flüchtlinge, Islam oder Patriotismus oder um die AfD.
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Die Leute wissen: Sagen darf man alles – aber nur einmal, und dann ist der Beruf weg. Davor haben die Menschen Angst. Das gefährdet unsere Demokratie.
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Das ist die brutale Ausgrenzung des links-grünen Mainstreams.
In ihrem Antrag sorgt sich die FDP auch um Desinformationen durch russische und türkische TV-Sender in Deutschland. Aber was ist denn mit den weit mächtigeren Öffentlich-Rechtlichen hierzulande? Haben hier alle Parteien die gleichen Chancen?
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Nehmen wir nur mal die Hauptnachrichten von ARD und ZDF. In der Woche vor den jüngsten Landtagswahlen kam die AfD als größte Oppositionspartei ein einziges Mal vor, die FDP gleich achtmal,
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und die Grünen – Lieblingskinder der Öffentlich-Rechtlichen – gleich 14-mal. Bei Talkshows sieht die Schieflage seit Jahren ähnlich dramatisch aus. Chancengleichheit ist das nicht; denn Medienpräsenz ist im Wahlkampf überlebenswichtig.
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Doch die AfD mit 6 Millionen Wählern wird praktisch unterschlagen. Und das ist die schlimmste Form von Desinformation in diesem Land!
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Aber zum Glück können die Menschen ja ausweichen. 90 Prozent sind mittlerweile im Internet, und da liegt die AfD vorn. Das zeigt schon die Hauptplattform für Parlamentsreden: Youtube. Vergangenen Monat erreichte die SPD-Fraktion dort rund 250 Videoaufrufe, die CDU/CSU immerhin 2 100. Und die AfD? 6,4 Millionen.
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Macht und Reichweite der AfD sind damit fast 3 000‑mal stärker als die aller Regierungsfraktionen zusammen. Uns wollen die Leute sehen in den neuen Medien, und nicht Sie, meine Damen und Herren!
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Auch deshalb gehen Politiker jetzt gegen die Internetplattformen vor: Sie zwingen Google, Facebook und Twitter, regierungskritische Inhalte zu löschen. Schon 2015 war Merkel zu Facebook-Chef Mark Zuckerberg nach New York geflogen und hatte auf ihn eingewirkt.
Und die Internetkonzerne liefern. Fünf Monate vor der Bundestagswahl zensiert jetzt auch Youtube regierungskritische Berichte, selbst von Journalisten wie Boris Reitschuster, offiziell Mitglied der Bundespressekonferenz: sein Kanal mit einer Viertelmillion Abonnenten – einfach abgeschaltet. Auch die Kanäle kritischer CDU-Mitglieder – einfach gelöscht. Natürlich trifft es auch die AfD: Selbst Bundestagsreden werden entfernt, und dem Kanal der Fraktion wurde die komplette Löschung angedroht.
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Der Wahlkampf hat längst begonnen. Fair und frei ist er nicht, und das liegt nicht an Putin und Erdogan. Das liegt an der Bundesregierung und am Machtmissbrauch des links-grünen Medienmainstreams. Zwar schließen die Wahllokale erst am 26. September, doch Desinformation, Manipulation und insofern auch Wahlbetrug haben längst begonnen!
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Jetzt haben wir das Problem. Herr Baumann, wir hätten Ihnen die Maske doch gebracht. Jetzt sind Sie zweimal ohne Maske durch den Plenarsaal gelaufen. Aber Sie haben es ja zumindest gemerkt.
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Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte aufgrund des Antrags der FDP ist ein willkommener Anlass, gerade nach dem vorherigen Redebeitrag an den hochverehrten Karl Popper zu erinnern, der uns in seinem grundlegenden Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ darauf hinwies, dass die Demokratie als entscheidendes Merkmal tatsächlich den Wahlakt hat, der es uns erlaubt, in freier, gleicher und geheimer Wahl darüber zu entscheiden, wer uns zu regieren hat, und das bei gleichen, fairen Chancen, und dass, wenn dieser Wahlakt als solcher in Zweifel gezogen wird, natürlich die Legitimation der Regierung insgesamt infrage steht.
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Das ist gerade versucht worden, indem die Wahlchancen infrage gestellt worden sind.
Die FDP hat hier – da gebe ich den Kollegen von der Union recht – einen wirklich sehr guten Antrag vorgelegt, in dem einerseits auf die Problematik der Desinformation und der besonderen Herausforderung heutiger Zeit, die digitale Souveränität, hingewiesen wird, aber andererseits auch auf die der IT‑Sicherheit. Wir müssen dies als die demokratischen Fraktionen hier im Haus gemeinsam zum Anlass nehmen, alles dafür zu tun, entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen und auch darauf aufmerksam zu machen, wenn durch Fake News und Desinformationskampagnen dieser Wahlakt als solches in Zweifel gezogen wird. Das ist nicht abstrakt; das hat bei Wahlen stattgefunden. Auch in einer der größten Demokratien der Welt, in Amerika, ist die Wahl insgesamt infrage gestellt worden: Obwohl ein neuer Präsident ins Amt gekommen ist, ist die Wahlniederlage nicht akzeptiert worden.
Meine Damen und Herren, darum müssen wir uns kümmern, wenn es darum geht, die Bundestagswahlen am 26. September vorzubereiten. Und es ist richtig, dass diese Debatte hierhin gehört, ins Parlament, und wir als Parlament dafür sorgen, dass einerseits das demokratische Mandat der Abgeordneten ausgeübt werden kann und dass andererseits jede Partei und jede Fraktion auch die Möglichkeit hat, auf sich aufmerksam zu machen. Aber wir sollten auch an diejenigen erinnern, die Kandidatinnen und Kandidaten sind. Auch sie brauchen eine faire, gleiche Chance darauf, gewählt zu werden. Deswegen werden wir dies im Innenausschuss in den nächsten Wochen zum Schwerpunktthema der Beratung machen. Dazu werden wir den FDP-Antrag – das sage ich für meine Fraktion ausdrücklich zu – als eine der wesentlichen Grundlagen dieser Debatte gebrauchen. Wir haben uns auch heute schon in einer Sondersitzung des Innenausschusses damit auseinandergesetzt, als es darum ging, Muster zu erkennen und zu fragen: Was müssen wir dafür tun, dass diese Wahlen frei, geheim, gleich und vor allen Dingen geschützt sind? Das sollte das sein, was wir aus dieser Debatte mitnehmen.
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Was gerade passiert ist, ist allerdings, dass die Saat des Zweifels gesät wurde, indem irgendwelche Zahlen in den Raum gestellt worden sind, Youtube-Kanäle gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir sollten schon annehmen, dass in einem demokratischen Rechtsstaat der mündige Bürger in der Lage ist, selbst zu erkennen, was richtig und falsch ist; das muss man ihm nicht abnehmen. Aber wir sollten zumindest dafür sorgen, dass gleiche Wahlchancen existieren, und damit will ich auf einen anderen Komplex eingehen, der in dem FDP-Antrag auch deutlich benannt worden ist: Die Wahlkampffinanzierung und die ungleichen Chancen, die damit geschaffen werden, sind ein genauso großes Problem, wenn es um Desinformation und Fake News geht.
All das ist Aufgabe dieses Parlamentes. Wir wollen die demokratischen Wahlen schützen, wir werden die demokratischen Wahlen schützen. Damit ist die Bundestagswahl eine der wesentlichen Herausforderungen. Die konstruktive Opposition und die Regierungsfraktionen werden das gemeinsam tun. Das ist Aufgabe des gesamten Deutschen Bundestages. Ich freue mich auf die weitere Aussprache im Innenausschuss.
Herzlichen Dank und uns eine gute Debatte.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hartmann. – Die Kollegin Vizepräsidentin Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll
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Moin, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über gezielte IT-Angriffe selbst auf unsere Verfassungsorgane, über intransparente Einflussnahme auf und Manipulation von demokratischen Willensbildungsprozessen bis hin zu Wahlen selbst und über den Einsatz von Hackergruppen und ganzen Trollarmeen durch Feinde von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, über all das diskutieren wir hier seit Jahren, und passiert ist nichts. Sie haben die Probleme ignoriert und die vielen guten Initiativen aus der Opposition blockiert. Das ist ein massives Versagen dieser Großen Koalition, meine Damen und Herren.
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Längst tobt ein neuer Informationskrieg im Digitalen. Wir haben schon vor Jahren Veranstaltungen mit dem Chef des Bundeskanzleramts dazu gemacht, mit Experten aus den USA. Wir haben mit EU-Kommissaren über Aktionspläne diskutiert. Es gab Anhörungen und Diskussionen im Innenausschuss und anderen Gremien dieses Hauses. Ich selbst habe hier die Bundeskanzlerin dazu befragt. Während die EU und zahlreiche Länder die Dimension der Gefahr erkannt haben, sich kümmern, hinschauen, aufklären, drastische diplomatische Sanktionen aussprechen, ihre Sicherheitsbehörden neu aufstellen, bleiben hierzulande leider jedwede Maßnahmen aus, und das ist zu wenig, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen vor allem Antworten auf eine komplett außer Rand und Band geratene Onlinewerbelandschaft auf den großen Plattformen. Dafür darf man aber die CEOs großer Tech-Giganten nicht hofieren, sondern man muss ihre Unternehmen scharf regulieren.
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Und so verdienstvoll es ist, lieber Kollege Konstantin Kuhle, dieses wichtige Thema hier aufzurufen, so wenig hilft die Antwort der Selbstverpflichtung.
Die Bundesregierung ignoriert, wie sehr diese Themen miteinander verzahnt sind und dass die Regulierung von Plattformen knallharte Sicherheitspolitik ist. Genau deswegen führen wir heute die gleichen Debatten wie vor vier Jahren.
Tech-Konzerne, die sich Hetzern und Autokraten als Megafon andienen, die unsere persönlichsten Daten zu Geld machen, die Hass und Desinformation in sprudelnde Werbeeinnahmen verwandeln und es jedwedem ermöglichen, ob ausländischer Regierung oder rechtsextremer Pseudo-NGO, Herr Braun, verdeckte Wahlkampffinanzierung zu betreiben – eine wehrhafte Demokratie muss auf diese Geschäftsmodelle glasklare Antworten haben, zum Schutz unserer demokratischen Diskurse, zum Schutz unserer Institutionen und zum Schutz unserer Wahlen.
Ganz herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. – Für die Nicht-Schleswig-Holsteiner: „Moin“ sagt man bei uns zu allen Tages- und Nachtzeiten.
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– „Moin, moin“ sagen die Hamburger – insofern Schwätzer.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der FDP zum Schutz der Bundestagwahl 2021 ist wichtig und wertvoll. Ich meine, die Thematik geht aber über die Bundestagswahl hinaus. Dem zugrunde liegt eine ganz wesentliche Frage: Wie schützen sich Demokratien vor Desinformation, vor falschen Äußerungen und letztlich auch vor Destabilisierung? Dahinter steht der Gedanke, dass in dieser Welt autoritäre Staaten mit freiheitlichen Demokratien im Wettbewerb stehen und es darum geht, das Lebensmodell der westlichen Demokratien zu diskreditieren. Dafür sind viele Mittel recht. Ein Mittel ist die Destabilisierung. Das passiert manchmal nicht mit einem lauten Knall oder Getöse, sondern schleichend, durch Nadelstiche, durch Lügen, durch Falschinformationen in den sozialen Netzwerken.
Ein Blick auf die Präsidentschaftswahl 2016 in den Vereinigten Staaten und auch auf die Brexit-Abstimmung zeigt, dass Demokratien im Hinblick auf die Frage, wer sich einmischt, verwundbar sein können. Es muss für liberale Demokratien zu unserer Grundüberzeugung gehören, dass wir den Kern demokratischer Mitbestimmung, nämlich freie und geheime Wahlen, schützen, und zwar um jeden Preis. Das ist es, was diesen Antrag wertvoll macht.
Klar ist aber, dass die Behauptung, es wäre nichts geschehen, eine ist, die einer Überprüfung nicht standhält.
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Gerade bei der Frage, wie wir Hetze und Hass im Internet bekämpfen können, war diese Koalition tätig, und zwar auch durch die Fortschreibung des NetzDG.
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Zudem hat das Bundesinnenministerium bereits eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um diesen Bedrohungen zu kontern, um Abgeordnete und Kandidaten zu schützen, um deutlich zu machen, dass wir faire Wahlen haben und nicht Lügen oder Fake News gewinnen.
Ich meine, wir sollten über diese Frage insgesamt diskutieren, und zwar unter der Überschrift: Wie können wir unsere Demokratien schützen, damit die freie Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck kommt und nicht die Manipulation oder die Lüge? Das steckt hinter dieser Überlegung. Ich bitte Sie, dass wir auf dem Weg konstruktiv diskutieren, den wir bereits eingeschlagen haben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Debatte deutlich geworden: Die Demokratie und der demokratische Akt der Wahlen werden angegriffen. Es liegt an uns allen hier im Haus, aber auch in der Gesellschaft, unsere Demokratie zu verteidigen.
Dieser Angriff kommt aus unterschiedlichsten Richtungen; er kommt von außen, er kommt von innen. Er kommt aus unterschiedlichsten Motivationen. Aber er hat am Ende vor allem ein Ziel, nämlich die Demokratie zu unterminieren und damit genau das System, an dem wir zu Recht so leidenschaftlich hängen, dass Menschen die gleichen Rechte haben, kaputtzumachen.
Wir haben auch hier wieder erlebt, wie von der AfD die Saat des Zweifels, wie mein Kollege Sebastian Hartmann das richtig genannt hat, gesät wird, indem immer wieder beispielsweise gegen hochanständige und wichtige Institutionen unseres Landes wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk,
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der eben ein Garant für eine objektive, umfassende Information ist, zu diffamieren.
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Das ist doch genau Ihr Prinzip: Sie sorgen dafür, dass diese hochanständigen Medien in Misskredit gezogen werden, um mit Ihren eigenen Fake News, mit dem, was Sie selber an Manipulation, Hass, Hetze und Lügen im Netz verbreiten, den Boden für sich zu bereiten. Das, meine Damen und Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich bin mir sicher: Die Gesellschaft wird Ihnen das auch nicht durchgehen lassen.
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Was das angeht, ist die Lage in diesem Land in der Tat kritisch. Wir haben ja gerade wieder erlebt, wie wahrscheinlich die Gruppe „Ghostwriter“ einen Angriff auf Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses, dieses Verfassungsorgans ausgeführt hat. Es war die gleiche Gruppe „Ghostwriter“ – deswegen sind das Vorboten von Dingen, die in den nächsten Monaten auf uns zukommen können –, die beispielsweise in Polen und Litauen mit wirklich massiven Kampagnen der Desinformation und auch der Diskreditierung von Kolleginnen und Kollegen in dem Abgeordnetenhaus oder der Regierung dort unterwegs sind, indem über Hacks, über Phishing, über unterschiedliche Methoden Informationen erschlichen werden, am Ende immer mit dem Ziel, den Glauben in die Demokratie, den Glauben in Wahlen zu diskreditieren.
Meine Damen und Herren, ich sage hier ganz deutlich: Es liegt auch an uns Abgeordneten, wie wir uns schützen, wie wir mit uns selber und mit den Kandidierenden für den nächsten Bundestag umgehen und ein Bewusstsein dafür schaffen, welche Gefahr in dieser Desinformation lauert, und wie wir selber in dieser hochkritischen Phase sehr bewusst und verantwortungsvoll mit Informationen umgehen.
Ich glaube, das ist wirklich ein wichtiges Thema. Herzlichen Dank, dass wir das heute Abend hier diskutieren dürfen. Wir werden es in den nächsten Monaten noch diskutieren müssen. Dafür brauchen wir aber keinen Quatsch von rechts, sondern den demokratischen Teil dieses Hauses. Ich freue mich auf die Debatte.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hat Seefischerei mit Saisonarbeit zu tun?
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Auf den ersten Blick eigentlich relativ wenig. Beides allerdings sind zentrale Themen in meinem Bundesland Schleswig-Holstein; denn als Land zwischen den Meeren sind wir der Fischerei nicht nur verbunden, sondern sie ist ein Teil unserer kulturellen Identität. Gleichzeitig sind wir ein Agrarland mit einem vielfältigen Obst- und Gemüsebau, und in meinem Wahlkreis Pinneberg haben wir das größte zusammenhängende Baumschulgebiet Europas.
Zunächst zur Fischereipolitik. Sie sieht ein geregeltes Bewirtschaftungssystem vor, das die Reproduktionsfähigkeit der Bestände langfristig schützt und unseren Fischern damit auch langfristig einen wirtschaftlichen Ertrag ermöglicht. Dazu ist nun eine EU-konforme Anpassung notwendig. Mit der letzten Änderung 2016 wurde die Fischereiaufsicht seewärts der äußeren Begrenzung des deutschen Küstenmeers ganz oder teilweise der Bundespolizei und der Zollverwaltung übertragen. Durch den anstehenden Einsatz neuer Techniken wie zum Beispiel der Videoüberwachung der Fänge auf den Kuttern über 12 Metern oder der Nutzung elektronischer Logbücher ist eine weitere Anpassung erforderlich. Damit ist auch notwendig, dass personenbezogene Daten verarbeitet werden können. Das muss sowohl mit einer datenschutzrechtlichen Ermächtigung im Seefischereigesetz als auch durch die Datenschutz-Grundverordnung geregelt werden. Zudem ist es nun wegen der Bedeutung und der großen Beliebtheit der Freizeitfischerei notwendig geworden, sie auch in das Seefischereigesetz aufzunehmen. Außerdem machen wir eine neue Bußgeldverordnung. Wir werden allerdings strikt darauf achten, dass diese Regelungen nur eins zu eins umgesetzt werden, damit Dinge wie zum Beispiel die Beschränkung der zeitlichen Datenspeicherung und ‑verwendung, die Implementierung zusätzlicher Überwachungsmaßnahmen oder die Registrierung der Freizeitfischer nicht überhandnehmen.
Nun zu dem anderen Thema, den Saisonarbeitern. Unsere allein rund 300 Baumschulen im Kreis Pinneberg sind nicht nur die Wiege des Waldes, sondern liefern auch die Grundlagen für das Begleitgrün in Stadt und Land. Für die hochspezialisierten Arbeiten in diesen Betrieben sind Saisonarbeitskräfte unverzichtbar. Auch zahlreiche Spargel-, Obst- und Gemüsebauer im gesamten Bundesgebiet brauchen für Aussaat, Pflege und Ernte ihre zum Teil seit Jahren in den Betrieben arbeitenden Fachkräfte.
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Unserer Landwirtschaftsministerin ist es gelungen, mit dem Bundesarbeitsministerium einen Kompromiss zur Ausweitung der kurzfristigen sozialversicherungsfreien Beschäftigung von 70 auf 102 Tage bis Oktober 2021 zu erzielen. Das ist ein sehr gutes Signal. Dafür meinen ganz herzlichen Dank, liebe Julia Klöckner.
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Gerade diese Branche steht unter einem enormen Wettbewerbsdruck. Man kann sich vorstellen, wenn wir allein bei Obst und Gemüse eine Selbstversorgung von weniger als 50, manchmal weniger als 40 Prozent haben, wie notwendig diese Maßnahme ist.
Insbesondere in Zeiten der Pandemie müssen wir Mobilität und Personalwechsel so weit wie möglich reduzieren und gleichzeitig die heimische Obst- und Gemüseproduktion sicherstellen. Jeder vernünftige Arbeitgeber wird doch gerade alles tun, um die Bedingungen seiner Arbeitnehmer so attraktiv zu halten, dass die stark nachgefragten Kräfte bleiben und auch wiederkommen. Wenn ich selbstkritisch etwas hinzufüge, werden Sie sagen: „Es gibt auch schwarze Schafe“; das meine ich aber gar nicht. Ich meine, dass alle neuen Regelungen für die Fischerei und Saisonarbeit nicht dazu beitragen, die Geißel der Bürokratie abzubauen. Möge wenigstens die Digitalisierung den Fischern wie den Landwirten helfen, damit besser fertigzuwerden.
Damit Fische weiterhin europarechtskonform gefangen werden können, neue Wälder entstehen und wir weiter heimisches Obst und Gemüse verzehren und genießen können, bitte ich um Zustimmung. Ich bitte Sie auch, dass wir in diesem Fall nicht weiter im Trüben fischen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, lieber Kollege von Abercron. Daran kann sich der Kollege Spiering gleich ein Beispiel nehmen. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Kestner, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Seefischereigesetz bildet im deutschen Recht die Basis für den gewerbsmäßigen, aber natürlich auch den erwerbsmäßigen Fischfang unserer Flotten auf See. Der Kerngedanke des Seefischereigesetzes ist, die Fischbestände zu schützen, weshalb die übergeordnete Gemeinsame Fischereipolitik der EU ein geregeltes Managementsystem vorsieht, um die Reproduktionsfähigkeit der Bestände – wir haben es eben schon gehört – langfristig zu sichern, die Fangmöglichkeiten unter den Mitgliedstaaten aufzuteilen und somit unseren Fischern auch zukünftig ein wirtschaftlich ausreichendes Einkommen zu gewährleisten. So viel zur Theorie.
Die Praxis spiegelt jedoch eine andere Sicht der Dinge im europäischen Kontext wider, betrachtet man einmal die Hilferufe von vor allem kleineren Fischereibetrieben in unseren Küstenregionen. Hier führen die jährlichen Quotenkürzungen bei den sogenannten Brotfischen wie dem Hering oder dem Dorsch unweigerlich dazu, dass die letzten Ostseefischer ums blanke Überleben kämpfen.
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Dies zeigt letzten Endes, in welche Richtung wir uns bei der strikten Anwendung des Fischereirechts der EU bewegen. Vor den existenzbedrohenden Folgen innerhalb der Fischereiwirtschaft werden sich vermutlich in Zukunft nur noch die großen Reedereien retten können. Das kann niemand in diesem Haus wirklich wollen oder wünschen. Hier ist politisches Handeln gefragt, die deutsche traditionsreiche Fischereiflotte auch in den kommenden Jahren aktiv zu unterstützen und zu fördern.
Doch kommen wir zur aktuellen Novelle. Mit der Änderung des Seefischereigesetzes, über die wir hier heute diskutieren, werden einzelne Vorschriften im deutschen Recht an das geltende Fischereirecht der EU angepasst. Bereits mit der Änderung des Seefischereigesetzes im Jahr 2016 wurde das Bundesministerium ermächtigt, die Fischereiaufsicht seewärts der äußeren Begrenzung des Küstenmeeres der Bundesrepublik ganz oder teilweise der Bundespolizei und der Zollverwaltung zu übergeben. Auch der Datenschutz musste jetzt verankert werden; wir haben es eben in der Rede des Vorgängers gehört. Das ist auch gut und richtig so. Ich bin überzeugt davon, dass wir alle ein großes Interesse daran haben, unsere Fangmöglichkeiten auch langfristig zu erhalten und, wenn möglich, im Sinne der Fischereibetriebe sogar zu steigern.
Auch den vorliegenden Änderungsantrag der Großen Koalition sehen wir positiv; denn wir unterstützen einen verbesserten Krankenversicherungsschutz für Saisonarbeitskräfte, und wir begrüßen die zeitlich begrenzte Ausweitung der Beschäftigungsdauer von Saisonarbeitskräften von 70 auf 102 Tage. Insgesamt sehen wir die Verlängerung der Saisonarbeitszeit als ein wichtiges Signal für die Betriebe in der Landwirtschaft, um auch während der sogenannten Coronapandemie die Versorgung der Bevölkerung mit frischen und hochwertigen Lebensmitteln gewährleisten zu können.
Über die angesprochene Verlängerung hinaus hätten wir es jedoch begrüßt, weitere Anreize für inländische Saisonarbeitskräfte zu schaffen. Dazu zählt zum Beispiel, dass der Hinzuverdienst, befristet bis zum 31. Oktober dieses Jahres, nicht auf das Kurzarbeitergeld und das Arbeitslosengeld I und II angerechnet wird. Zudem bedarf es befristeter steuerlicher Anreize für Betriebe, die Saisonarbeiter beschäftigen, um dadurch dann auch höhere Löhne zahlen zu können.
Weil die vorliegenden Initiativen nicht über eine Eins-zu-eins-Umsetzung von europarechtlichen Vorschriften in innerstaatliches Recht hinausgehen und die letzten Änderungen einen Aufschwung in der diesjährigen Saisonarbeit bedeuten könnten, stimmen wir sowohl dem Gesetzentwurf als auch dem Änderungsantrag zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nun erhält das Wort zu einem Kurzbeitrag der Kollege Rainer Spiering, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident, herzlichen Dank für die lakonische Ankündigung! Man kann gut räsonieren über das schlechte Verhalten von Abgeordneten beim Tragen einer Maske, weil man selbst nie eine tragen muss. Aber gut, das muss ich jetzt demütig zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Uwe Schmidt von hier aus zu grüßen, der diese Rede eigentlich hätte halten sollen. Er liegt in Bremen krank darnieder. Von hier aus herzliche Genesungsgrüße: Uwe, möge es dir bald besser gehen!
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Es geht hier um die Kopplung von zwei Gesetzesvorhaben; das hat der Kollege Abercron schon dargestellt. Ob ich darüber so glücklich bin wie er, lasse ich mal dahingestellt sein. Vielleicht werde ich das gleich noch deutlich machen können.
Das Seefischereigesetz muss aktualisiert werden. Europarechtliche Vorgaben sind von uns umzusetzen; das unterstützen wir nachdrücklich. Insbesondere soll die Fischereiaufsicht seewärts der Bundespolizei und dem Zoll übertragen werden. Meiner Ansicht nach, unserer Ansicht nach ist das der absolut richtige Weg. Außerdem ist eine Anpassung der Datenschutzvorschriften in diesem Bereich notwendig; auch das halten wir für richtig und notwendig. Wir bitten alle, diesem Gesetz zuzustimmen.
Wie von meinen Vorrednern hervorgehoben worden ist, beschäftigt sich der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zudem mit den Regelungen für Saisonarbeitskräfte. Lassen Sie mich dazu in Abwandlung eines Wortes von Leonidas sagen: Wanderer, kommst du nach Spa, berichte, du hättest uns hier stehen sehen, dem Gesetz folgend. – Ich bin mit diesem Gesetzentwurf nicht glücklich, und ich möchte Ihnen auch sagen, warum. Klar ist, dass wir zustimmen werden; aber ich möchte zumindest ein paar Gedanken hierzu vorbringen.
Der Kollege Albert Stegemann hat in der letzten Ausschusssitzung Saisonarbeitskräfte mit Ferienarbeitern verglichen. Nun bin ich selbst ein solcher gewesen; aber ich war selbstverständlich über meine Eltern sozial- und krankenversichert.
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Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, an die großen Fabriken, in denen ich gearbeitet habe, und an die Kolleginnen und Kollegen aus Portugal, Spanien, Italien, die dort gearbeitet haben, dann erinnere ich mich, dass sie einen ordentlichen Lohn bekommen haben und selbstverständlich auch sozialversichert waren. Aufgrund deren Beiträge zur Sozialversicherung ist ein erheblicher Teil unseres sozialen Wohlstandes überhaupt erst entstanden.
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Jetzt geht es um die zentrale Frage: Was machen wir hier? Die letzte Zählung des Statistischen Bundesamtes hat ergeben, dass wir 286 000 Saisonarbeitskräfte haben. Vor Einführung des Mindestlohns hat man übrigens auch behauptet, er sei nicht gangbar. Interessanterweise war er gangbar.
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Jetzt macht man Folgendes: Man nimmt einen Bestandteil des Mindestlohns, nämlich den Sozialversicherungsanteil, aus dieser Regelung heraus. Das kann man machen; das ist auch beschlossen. Aber ich wage doch, darauf hinzuweisen, welche Folgen das hat: Der deutschen Sozialversicherungskasse, die im Moment sowieso angeschlagen ist, fehlt ein erheblicher Beitrag. Das Geld wird uns bitter fehlen. Ich kann nur dringend davor warnen, so etwas gesetzgeberisch festzuschreiben bzw. als allgemeinverbindlich zu erklären. Ich stelle mir gerade vor, alle Handwerksmeisterinnen und Handwerksmeister in diesem Land würden diesem Beispiel folgen. Das würde bedeuten, dass die Sozialversicherungskasse massiv an Ertrag verlieren würde. Wer von uns wollte das verantworten?
Zum nächsten Punkt. Woran liegt das eigentlich? Wir beugen uns einem Preisdiktat. Wie lange wollen wir uns diesem Preisdiktat noch beugen? Wie lange wollen wir es zulassen, dass der Preis für wertvolle Lebensmittel, die wir dringend brauchen – Obst und Gemüse gehören zu unserem Alltag –, so gestaltet wird, dass er nicht ausreicht, um von den Erträgen Sozialversicherungsbeiträge für die Beschäftigten zu entrichten? Ich halte das für unser System für hochgradig gefährlich.
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Es ist darauf hingewiesen worden, das sei der Pandemie geschuldet. Gut. Ich habe für uns gesagt: Wir werden zustimmen. – Dann wird die nächste Saison zeigen, ob es wirklich der Pandemie geschuldet war oder ob es System ist. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat heute dazu eine sehr klare Stellungnahme veröffentlicht, die das sehr genau beschreibt.
Im Gesetzentwurf steht übrigens auch, dass die Regelung erst ab dem 1. Januar 2022 gilt. Das heißt im Klartext: Der Versicherungsschutz, den die Ministerin hier angezeigt hat, kommt dieses Jahr noch nicht zum Tragen. Ich finde das bedauerlich; ich finde das schade.
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– Natürlich werde ich als Sozialdemokrat, der dieses Gesetz mit zu verantworten hat, nicht dagegenstimmen. Ich möchte nur aufzeigen, was es mit uns macht.
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Ich glaube, dass es absolut Zeit wird, alle Menschen, die in dieses Land kommen, ordnungsgemäß sozialversicherungspflichtig zu entlohnen, mit allem Schutz, den dieses Land bietet.
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Denn ich kann nicht glauben, dass ein Kollege aus Rumänien oder Bulgarien oder die 5 000 Kollegen, die jetzt kommen, beim Schutz von Leib und Leben weniger wert sind als unsere Kolleginnen und Kollegen. Ich mag das nicht glauben.
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Um es noch mal klarzumachen: Selbstverständlich werden wir zustimmen. Aber dieses Haus wird es ertragen müssen, dass ein Altmoraliker seine Meinung dazu hat. Die habe ich hier vertreten, die ist in meiner Bundestagsfraktion auch bekannt.
Ich glaube, es wird allerhöchste Zeit, dass wir die Spirale umdrehen: Unsere Landwirtinnen und Landwirte müssen für ihre Produkte ordnungsgemäß Geld bekommen – ordnungsgemäß! –,
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damit die Leute, die auf unseren Feldern arbeiten, eine ordentliche soziale Absicherung haben, damit sie ordentlichen Lohn haben und damit sie stolz und aufrecht durch dieses Land gehen können.
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Die Ministerin macht meiner Ansicht nach hier einen Fehler. Denn durch den Vorschlag, den sie gemacht hat, diskreditiert sie eine komplette, ausgesprochen ehrenwerte Branche, um die ich mir sehr Sorgen mache und für die ich hoffe, dass die Menschen in dieser Branche in Zukunft endlich Geld verdienen.
Danke schön fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gero Hocker, FDP-Fraktion.
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Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht nur der einseitig zulasten der Fischerei ausgehandelte Brexit-Deal, der den Fischern gegenwärtig das Leben besonders schwer macht, weil sie auf Fangrechte verzichten müssen, die sie seit vielen Jahrzehnten genutzt haben, sondern auch ein fast tagtäglich zum Ausdruck gebrachtes Misstrauen dieser Bundesregierung gegenüber der Urproduktion in unserem Land: gegenüber der Landwirtschaft, gegenüber der Forstwirtschaft und auch gegenüber der Fischerei.
Meine Damen und Herren, dass künftig Kameras auf den Schiffen installiert werden sollen, die etwaige Verstöße gegen Auflagen belegen sollen, ist Ausdruck genau dieses Misstrauens gegenüber der Urproduktion in unserem Lande. Schwarze Schafe gibt es überall; aber diesen Umgang haben unsere Fischer nicht verdient, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Ich sage es Ihnen ganz ausdrücklich: Fischer nutzen die Ressource Wasser in dritter, fünfter, siebter und teilweise zwölfter Generation. Sie tun das mit Verantwortungsgefühl, sie tun das mit Augenmaß, und sie tun es vor allem nachhaltig, und zwar mit Fachkunde und mit Sachkunde. Sie tun das sehr viel nachhaltiger als selbsternannte Naturschutzorganisationen, die ein perfides Geschäftsmodell daraus gemacht haben, mit der Unwissenheit vieler Verbraucher Spenden einzusammeln.
Ich gebe nur ein ganz prominentes Beispiel: Vor wenigen Monaten hat die Umweltorganisation Greenpeace Granitblöcke in Fischereigründen versenkt und es billigend in Kauf genommen, dass sich die Netze darin verfangen und Menschen an Leib und Leben zu Schaden kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist nicht hinnehmbar. Die machen das, weil sie Fischerei unter Generalverdacht stellen wollen und Misstrauen empfinden. Mit diesem Verhalten sollte sich die Bundesregierung nicht gemeinmachen.
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– Vielen Dank für den Applaus, auch aus Reihen der Union.
Der Gesetzentwurf, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sieht außerdem eine Vielzahl von bürokratischen Auflagen vor. Dazu gehört auch die Neuregelung der kurzfristigen Beschäftigung, die Sie auf 102 Tage befristen wollen. Wir haben hier in diesem Hohen Hause vor einem Tag die Diskussion darüber geführt, ob eine Inzidenz von 165 eine wissenschaftlich evidente Grenze dafür ist, ob Schulen geöffnet oder geschlossen werden müssen. Ich sage Ihnen: Das war damals – das haben Sie teilweise auch zugegeben – nichts anderes als ein Kuhhandel zwischen den Koalitionären. – Diese 102 Tage sind genauso ein Kuhhandel zwischen Koalitionären. Man müsste Ihnen in solchen Runden öfter mal den Würfel wegnehmen, damit Sie zu richtigen und guten Ergebnissen kommen. Wir haben 115 Tage gefordert, und das wäre auch angemessen.
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Letzter Satz, verehrter Herr Präsident. – Wer tatsächlich Interesse an der nachhaltigen Befischung unserer Gewässer hat und sich dessen bewusst ist, dass gerade Fisch einen relevanten Beitrag für die nachhaltige Ernährung der explodierenden Weltbevölkerung leisten kann, weil er eine wichtige Proteinquelle darstellt, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– der überzieht eine Branche nicht pauschal mit zusätzlichen Auflagen, sondern entlastet sie von Bürokratie und Administration. Ihr Gesetzentwurf und der Antrag sehen beides nicht vorher. Deswegen werden wir beides ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hocker. Ich wollte gerade die Taste drücken, aber Sie sind mir zuvorgekommen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Ferschl, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Seefischereigesetz ist ein Trojanisches Pferd der Bundesregierung. Sie versteckt nämlich in einem eigentlich unauffälligen Gesetz eine höchst umstrittene Regelung, nämlich die erneute Verlängerung der Beschäftigungsdauer bei der kurzfristigen Beschäftigung für Saisonarbeitskräfte. Klammheimlich und ohne öffentliche Debatte hier im Parlament wollten Sie das über die Bühne bringen. Aber da haben Sie die Rechnung ohne Die Linke gemacht!
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Die SPD hat sich wieder auf einen Kuhhandel mit der Union eingelassen und wieder die sozialversicherungsfreie Beschäftigungsdauer für Saisonarbeitskräfte verlängert, in diesem Jahr auf vier Monate.
Sozialversicherungsfreiheit bedeutet: frei von sozialem Schutz, also auch nicht renten- und nicht krankenversichert. Das wiederum bedeutet für die überwiegend osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen mitten in einer Pandemie: ohne Krankenversicherung Spargel stechen und Erdbeeren pflücken und in Massenunterkünften untergebracht sein. Im Falle einer Coronaerkrankung müssen diese Beschäftigten mitunter ihre Behandlungskosten selber bezahlen. Und das, obwohl der Großteil eh nur zum Mindestlohn beschäftigt ist und um diesen häufig auch noch geprellt wird.
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Ministerin Klöckner hat sogar noch versucht, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Die sogenannte Meldepflicht, die künftig einen Krankenversicherungsschutz sicherstellen soll, gilt nämlich nicht ab sofort, sondern erst ab 2022. Das ist wirklich absurd, meine Damen und Herren, und dafür sollten Sie von der Bundesregierung sich wirklich schämen.
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Das Ganze – wir haben es heute wieder gehört – wird uns dann auch noch als Pandemieschutz verkauft, um während der Ernte einen weniger häufigen Wechsel von Personal zu haben. Dabei ist es doch überhaupt kein Problem, die Beschäftigten für den kompletten Zeitraum befristet und sozialversichert anzustellen.
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Aber darum geht es Ihnen nicht, Frau Ministerin Klöckner. Ihnen von der Lobbyunion geht es doch darum, den Wunsch der Landwirtschaftsverbände nach billigen Arbeitskräften zu erfüllen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass das SPD-geführte Arbeitsministerium sich da zum Erfüllungsgehilfen macht.
Die Linke wird diesen schmutzigen Deal jedenfalls nicht mitmachen. Deswegen haben wir auch einen eigenen Antrag eingebracht. Denn egal ob in der Pflege, in der Fleischindustrie oder in der Landwirtschaft: Wenn man Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland holt, sind geltende Standards und eine soziale Absicherung doch wohl das Mindeste. Alles andere ist Ausbeutung, und das ist mit uns nicht zu machen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Ferschl. – Letzte Rednerin in dieser Debatte wird Frau Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sein.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch ich rede weder über die See noch über Seefischerei, sondern wieder einmal über die fehlenden Rechte der Saisonarbeitskräfte. Denn die Union und die SPD wollen ja per Gesetzesänderung die Dauer der kurzfristigen sozialversicherungslosen Beschäftigung ausweiten, und das ist nichts anderes als Klientelpolitik für die Agrarwirtschaft. Die eh schon billigen Saisonarbeitskräfte sollen nochmals billiger gemacht werden, und das lehnen wir strikt ab.
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Drei Aspekte möchte ich kurz ansprechen. Immer geht es darum, dass die Argumentation für die Ausweitung irreführend ist und nichts mit der Realität zu tun hat.
Erstens. Es wird immer so getan, als ginge es bei der kurzfristigen Beschäftigung nur um die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft. Ich habe vor Kurzem Zahlen abgefragt, die ganz deutlich zeigen, dass im Jahr 2020 nur 23 Prozent der kurzfristig Beschäftigten in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Trotzdem wird diese prekäre Beschäftigung ohne Sozialversicherung auf alle Branchen ausgeweitet, und das ist nicht akzeptabel.
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Zweitens. Es wird auch immer so getan, als ginge es bei den kurzfristig Beschäftigten mehrheitlich um Ausländer/‑innen, die ja irgendwie im Herkunftsland krankenversichert sind. Auch das ist nachweislich falsch. Tatsächlich kam 2020 weniger als ein Drittel aus dem Ausland; mehr als zwei Drittel der kurzfristig Beschäftigten sind Deutsche, die den Sozialversicherungsschutz brauchen. Das aber verschweigt die Ministerin, und auch das kritisieren wir.
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Drittens. Ministerin Klöckner hat ja den Eindruck vermittelt – es wurde schon gesagt –, dass das Fehlen der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht gar nicht so schlimm sei, weil jetzt die Nachweispflicht kommen wird. Das ist einfach falsch; denn diese Nachweispflicht kommt erst nächstes Jahr. Es werden also jetzt wieder Menschen Spargel stechen und Erdbeeren ernten, die nicht krankenversichert sind – und das in Zeiten von Corona. Das ist wirklich zynisch. Diese Nachweispflicht müsste, wenn überhaupt, dann jetzt beschlossen werden.
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Wir haben in der Saisonarbeit schon viel zu viel prekäre Beschäftigung. Hier trifft körperlich schwere Arbeit auf karge Löhne und schlechte Unterkünfte. Immer wieder fehlt der Krankenversicherungsschutz. Die Menschen bleiben dann auf ihren Behandlungskosten sitzen. Verlierer/‑innen der kurzfristigen Beschäftigung sind die Beschäftigten selbst, es sind die Menschen. Mit dieser Ausbeutung hier in Deutschland, hier auf den Feldern vor unserer Haustür, muss endlich Schluss sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben
Moin! Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diejenigen, die von der Küste stammen, so wie der Präsident und auch ich, wissen den Beruf des Seelotsen sehr zu schätzen. Die Seelotsen haben einen sehr ehrbaren Beruf. Sie gelten an der Küste als ein Markenzeichen für Verlässlichkeit, für Korrektheit, für ewige Einsatzbereitschaft und für den Dienst an der Gemeinschaft,
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vergleichbar – vielleicht für die Kollegen im Süden – mit Mineuren in der Schweiz und ähnlichen, also besondere Berufsgruppen, die eine sehr große Verantwortung tragen.
Wir in Deutschland haben die meistbefahrenen Seegebiete der Welt: in der Nordsee und in der Ostsee. Dass dort so wenig passiert, haben wir im Wesentlichen auch den Seelotsen zu verdanken. Deswegen müssen wir als Staat diese Berufsgruppe besonders im Auge haben. So wollen wir heute das Seelotsgesetz – Herr Präsident, es heißt „Seelotsgesetz“ – ändern.
Warum? Wir haben das Problem, dass wir nicht mehr so viele Schiffe unter deutscher Flagge in Fahrt haben, wie wir uns das vielleicht gerne wünschen würden. Daher fehlt der Nachwuchs für die klassische Ausbildung zu einem Seelotsen. Also haben wir uns vor Jahren Gedanken darüber gemacht: Wie können wir das mögliche Fehl beim Nachwuchs an deutschen Seelotsen und übrigens auch Seelotsinnen ausgleichen?
Dabei sind wir, unterstützt vor allem durch die Bundeslotsenkammer, für deren gute Ratschläge ich außerordentlich dankbar bin, auf die Idee gekommen: Wir orientieren uns an anderen Berufen und schaffen andere Ausbildungswege, um zu dem Beruf des Seelotsen zu kommen. So haben wir drei Module entwickelt, um auf verschiedene Arten zu diesem Beruf zu kommen.
Es war bisher so, dass man nur über den Kapitän auf großer Fahrt zu diesem Beruf kommen konnte. Eine lange Tour, die diejenigen aber abhält, die vielleicht sagen: Ich möchte von vornherein nur Seelotse werden. Ich will gar kein Kapitän auf großer Fahrt werden.
Vor allem für Frauen, von denen wir mehr in diesem Beruf haben wollen – es ist derzeit noch eine reine Männerdomäne –, brauchen wir eine bessere Zugangsmöglichkeit. Dieser lange Ausbildungsweg, dieser lange Zugangsweg hat doch viele davon abgeschreckt, diesen Beruf, den sie an der Küste vielleicht gerne ergriffen hätten, letztlich zu ergreifen.
Deswegen haben wir drei Wege geschaffen: den klassischen Weg, eine etwas verkürzte Ausbildung und auch eine Ausbildung über ein nautisches Studium – mit der Möglichkeit, am Ende sogar einen Master zu erwerben. Das ist sehr attraktiv für diejenigen, die von vornherein sagen: Ich möchte eigentlich nur Seelotse oder Seelotsin werden.
Ich glaube, das ist sehr klug, was wir Ihnen hier vorschlagen. Es gibt in den Brüderschaften sicherlich auch Kritik,
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weil sich viele natürlich erst mal auf diese Umstellung einstellen müssen. Wir haben das schon an einer Brüderschaft gelernt, geübt, aber wir werden das jetzt überall einführen. Ich wage die Prognose, dass nachher alle sehr froh sind.
Warum? Wir brauchen jedes Jahr etwa 30 bis 60 Seelotsen, um die ausreichende Personalausstattung auf den Schiffen sicherstellen zu können. Es wäre verheerend, wenn wir nicht rechtzeitig dafür sorgen würden, dass dieser Nachwuchs da ist. Man stelle sich mal den Stau von Schiffen vor, wenn wir nicht genug Seelotsen hätten. Das darf uns nicht passieren. Deswegen ist es höchste Zeit, dass es zu diesem Gesetz kommt.
Ich bin sehr froh, dass der Ausschuss darüber sehr intensiv beraten hat, dass die Kollegen auch manche kritische Frage gestellt haben, dass auch mancher Verband kritisch gefragt hat: Was macht ihr da? Habt ihr euch das gut überlegt? – Ja, wir haben uns sehr, sehr gut überlegt, warum wir Ihnen das so vorschlagen. Es dient dem Erhalt dieses hochangesehenen Berufes an der Küste. Es dient der Sicherheit von Mensch und Material, von der Umwelt an der Küste. Es dient letztlich auch der Welthandelsnation Deutschland und dem Tourismusstandort.
Besser kann man es eigentlich gar nicht haben. Insofern bitte ich herzlich darum, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich danke für eine gute Beratung und Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Normalerweise nehme ich ja Belehrungen der Bundesregierung äußerst ungern entgegen, aber diesmal war sie zutreffend: Es heißt wirklich „Seelotsgesetz“. Ich habe mich davon überzeugt, dass ich mich nicht verlesen habe: Seelotsgesetz. – Gut.
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– Ja, aber an der Küste würden wir auch immer „Lotsen“ oder „Lotsinnen“ sagen. Bei „Lot“ denke ich an was anderes.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Mrosek, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Mit dem heutigen Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Seelotsgesetzes soll ein neuer Zugang zum Lotsenberuf geschaffen werden. Dieser Zugang wird Lotsenausbildung 1, kurz LA 1, genannt. Er soll die bisher erforderliche Seefahrtzeit als Kapitän oder Nautiker durch mehr Theorie, Mitfahren mit Seelotsen auf Schiffen und durch praktische Übungen auf Modellschiffen ersetzen. – Das geht nicht.
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Man lernt als Beifahrer auch kein Autofahren. Mit Ausnahme Japans gibt es weltweit keinerlei Erfahrungen mit Lotsen, die nie zuvor zur See gefahren sind. Japan stoppte das auch im Jahr 2007: Durch Lotsfehler häuften sich dort die Kollisionen.
Weiter wird in dem Änderungsentwurf ein bereits bestehender Ausbildungsweg, LA 2, in allen deutschen Revieren eingeführt. Dieser LA‑2-Weg wird in der Brüderschaft NOK I seit 2009 im Nord-Ostsee-Kanal mit Erfolg praktiziert. Warum passierte das seinerzeit nicht bei allen sieben Brüderschaften gleichzeitig? Sie wollten das doch alle! Diese Fragen muss sich das BMVI stellen lassen.
LA 2 steht Nautikern offen, die mindestens zwei Jahre Fahrzeit nachweisen und damit ein Kapitänspatent besitzen. Der vorliegende Änderungsentwurf wird damit begründet, dass der neue Zugang zum Lotsenberuf durch den Rückgang von Schiffen unter deutscher Flagge und der damit verbundenen rückläufigen Entwicklung bei der Ausbildung deutscher Seeleute erforderlich ist. Das war in der Tat vor Jahren auch so.
Momentan besteht sogar ein Überangebot von Bewerbern. Insgesamt wurden 838 Kapitänspatente in den Jahren 2013 bis 2017 vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie erteilt. Ein paar Beispiele, die mir gestern und heute noch mitgeteilt worden sind. Elbe: 70 Bewerber, Bedarf durch Abgänge: unter 10; Kiel: 60 Bewerber, Bedarf: bei 10; Rostock: Bedarf 0.
Und es gibt unnötige Hürden. Wer drei Jahre mit Patent auf See pausiert hat, hat Pech für den LA‑2-Weg. Was ist mit Kapitäninnen, die in Kinderbetreuung waren? Der neubestallte Lotse soll 60 000 Euro Ausbildungskosten zurückzahlen. Bisher zahlte das der Bund. Die Lotsenausbildung bereits gestandener Kapitäne soll von acht auf zwölf Monate erhöht werden. Welcher Quatsch!
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Die Kapitäne sollen in der praktischen Einstiegsprüfung zeigen, dass sie ein Schiff manövrieren können. Das war ja jahrelang ihre Arbeit.
Von Seelotsen in den deutschen Revieren kommt scharfe Kritik. Die Auffassung der Kollegen, wie sie in § 35 des geltenden Gesetzes geregelt ist, wurde durch die Bundeslotsenkammer nicht ordnungsgemäß ermittelt.
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Fazit: Die Varianten LA 2 und LA 3 der Ausbildung müssen gefördert werden, LA 1 ist strikt abzulehnen. Nur so kann die Augenhöhe zwischen Lotsen und Kapitän gewahrt bleiben. Das hatte Helmut Schmidt bereits 1954 bei der Einführung des Lotsengesetzes im damaligen Verkehrsausschuss als unabdingbar formuliert.
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Lotsen sind Seeleute, und Seeleute werden auf See geformt. Bloße Einübung und Prüfung von Fertigkeiten ersetzt keine Persönlichkeitsentwicklung, keine Persönlichkeitsbildung und auch keine Lebenserfahrung.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Seelotsenberuf ist ein Erfahrungsberuf, und Erfahrung kommt von „fahren“. Deswegen haben wir auch so wenig Seeunfälle. Aber das kann sich ändern.
Herr Kollege Mrosek, vielen Dank.
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf aus besagten Gründen ab. – Danke, Herr Präsident.
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Nächster Redner ist der Kollege Mathias Stein, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ferlemann! Große Staatsmänner wie zum Beispiel der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt wurden nach ihrer Amtszeit oft als „Lotse“ bezeichnet, die ein Volk sicher durch Krisen und Unwägbarkeiten gelenkt haben.
Die deutschen Lotsen tun das heute an der Ostsee, an der Nordsee, den deutschen Meeren. Über 900 See- und Hafenlotsen geleiten die Schiffe auf deutscher See durch sichere Fahrt, durch flache, enge Gewässer. Sie arbeiten Tag und Nacht, bei jedem Wetter, bei Sturm und Eis. Sie haben keine leichte Tätigkeit; denn sie müssen mit den Schiffsbesatzungen aus allen Herren Ländern auf immer größeren Schiffen zusammenarbeiten und dabei auf unsere Infrastruktur zurückgreifen.
Lotsen haben im Gepäck ein Großes Patent. Sie haben Revierkenntnisse und eine sehr, sehr nachhaltige Seelotsausbildung. Sie sichern den internationalen Seeverkehr. Sie sichern den Verkehr an der Unterelbe, am Nord-Ostsee-Kanal. Sie sorgen dafür, dass der Welthandel funktioniert, dass unsere Bevölkerung und Industrie mit Waren versorgt werden. Dafür sagen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Herzlichen Dank.
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Aber die Entwicklung in der deutschen Seefahrt ist schwierig. Es gibt immer weniger deutsche Seeleute, immer weniger europäische Seeleute. Und es ist auch immer schwieriger, für den Seeberuf Nachwuchs zu finden. Das liegt zum Teil an uns, weil wir die Schiffsbesetzungsordnung nach unten gesetzt haben. Wir als Sozialdemokraten kritisieren das.
Wir sehen aber auch, dass der Weg über das höchste nautische Patent für die Qualifikation des Lotsen nicht immer das Zielführende ist. Daher haben uns schon vor zehn Jahren die Männer und zum Teil auch Frauen der Selbstorganisation der Lotsen, der Bundeslotsenkammer, darauf aufmerksam gemacht: Wir müssen an der Ausbildung für Seelotsen etwas verändern. Ich danke ausdrücklich meinem Kollegen Uwe Schmidt, der normalerweise hier als Berichterstatter geredet hätte und seinen Sachverstand deutlich in die Waagschale geworfen hätte.
Wir reformieren die Ausbildungswege mit einem eigenen Hochschulstudium an den Standorten Wismar und Flensburg mit einem sehr hohen Praxisbezug und auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Denn wir wissen, dass ab dem Jahr 2025 jährlich etwa 40 Seelotsen in den Ruhestand gehen; diese müssen ersetzt werden.
Wir müssen attraktiver werden für junge Menschen, die nicht monatelang zur See fahren wollen, die einen Beruf ergreifen wollen, mit dem Familie und Beruf etwas besser vereinbart werden können. Wir müssen auch daran denken, dass dieses Berufsbild von Männern dominiert wird. Nur 2 der 900 sind Seelotsinnen. Da müssen wir, glaube ich, noch mal deutlich zulegen.
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Insgesamt vereinigt dieses Gesetz, ähnlich wie das bei der Sozialdemokratie ist, Tradition und Moderne. Wir haben weiterhin den alten Zugang über das Kapitänspatent, und wir haben einen neuen Weg mit einem Hochschulstudium mit hoher Qualität. Da bauen wir auf die Zukunft und auf gute Arbeitsbedingungen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Stein.
Da die Kollegen Bernd Reuther, FDP-Fraktion, Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke, der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion, und die Kollegin Dorothee Martin, SPD-Fraktion, ihre Reden zu Protokoll gegeben haben
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Mrosek, die schlechteste Antwort auf die Herausforderung der Zukunft ist ein „Das haben wir aber immer schon so gemacht“.
Ich freue mich sehr, dass wir heute zukunftsweisend eine neue Ausbildung für Seelotsinnen beschließen. Der Prozess dazu war ein sehr langer. Bereits 2012 gab es dazu einen Ministererlass. 2016 legte eine extra dafür eingerichtete Arbeitsgruppe der WSV einen Vorschlag dazu vor. Und jetzt, also fünf Jahre später, reformieren wir endlich die Seelotsausbildung.
Der Schritt war überfällig; das ist mehrfach angesprochen worden. Wir brauchen neue, zusätzliche Ausbildungswege. Wir müssen mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen in den Lotsberuf hineinkommen. Der Lotsberuf muss attraktiver werden, insbesondere für Menschen, denen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders wichtig ist.
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Dieser Gesetzentwurf kann damit einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Nachwuchsproblems vieler Seelotsreviere geben. Denn auch wenn sie jetzt noch nicht bestehen, so werden wir in den nächsten Jahren extreme Abgänge erleben: Ab dem Jahr 2025 gehen pro Jahr 40 Seelotsen in Rente. Das betrifft übrigens insbesondere die Reviere im Nordseebereich und im Elbebereich. Hier haben wir also einen besonderen Bedarf.
Die Seelotsinnen sind ein wichtiger Teil der maritimen Wirtschaft; denn sie tragen erheblich zur Sicherheit unserer Schifffahrtswege bei. Sie sind es, die dafür sorgen, dass Handelsschiffe wohlbehalten durch Nord- und Ostsee kommen und beispielsweise bei der Revierfahrt auf der Elbe unterstützt werden. Damit sorgen sie dafür, dass wir weniger Schiffsunfälle haben; Herr Ferlemann hat es ausgeführt.
Stellen wir uns doch nur mal vor, ein solcher Unfall wie mit der „Ever Given“ im Sueskanal würde auf der Elbe passieren: Die Auswirkungen für Umwelt, Natur, aber auch Wirtschaft und die Lieferketten wären von enormem Ausmaß. Dafür ist es wichtig, dass wir das Seelotswesen für die Zukunft gut aufstellen, und deswegen ist es wichtig, dass wir diese Reform jetzt auf den Weg bringen.
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Aber wir dürfen uns darauf nicht ausruhen – das ist ein Schritt. Wir brauchen generelle Reformen im Bereich der maritimen Ausbildungsberufe, auch bei den Nautikerinnen und den Schiffstechnikerinnen. Und hier ist ein gemeinsames Handeln von Bund und Ländern, die übrigens beide dafür zuständig sind, gefordert; denn in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Beschäftigten in den maritimen Berufen, insbesondere an Bord von Schiffen unter deutscher Flagge, zurückgegangen.
Diesen Trend müssen wir nicht nur bremsen. Es wäre wünschenswert, ihn umzudrehen; denn es ist unglaublich wichtig für unsere gesamte Volkswirtschaft, dass wir das maritime Know-how in Deutschland halten. Wir haben in den letzten Jahren hier viel verloren. Wichtige Bausteine, wie zum Beispiel die Schiffsfinanzierung, sind bereits ins Ausland verlagert worden, übrigens zum Großteil auch nach China. Das ist nicht nur ein kleines Thema, sondern das ist ein großes Thema von strategischer Bedeutung in der Zukunft.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir das Thema der maritimen Ausbildungsberufe grundsätzlich angehen. Wir haben hier einen ersten Schritt getan, aber es ist nur ein erster. Jetzt geht es daran, weitere maritime Berufe zukunftsfähig aufzustellen und zu reformieren.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit habe ich jetzt auch nicht gerechnet, dass die CDU/CSU-Kollegen sich bei diesem Thema davonstehlen und nicht reden.
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Ich glaube, Seneca hätte den Ausspruch „Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen“ genau auf die Unionsfraktion gemünzt. Das Zeitelement ist auch in dem Gesetzentwurf berücksichtigt. Dort steht drin: „unverzüglich“. Aber die Union hat das ganze Thema mit einer stoischen Ruhe seit Oktober in die Verhandlungen mit uns gebracht.
Ich möchte hier zunächst mein Bedauern und teilweise auch mein Befremden darüber äußern, dass wir alle Bevollmächtigten von unseren Fraktionen im Rahmen unserer Fraktionsbeschlüsse in die Verhandlungen geschickt haben und – es ist traurig – dass ein moderner, ein guter, ein überparteilicher, geeinter Beschluss, der gefasst worden ist und den wir seit Mitte Dezember auf dem Tisch liegen hatten, nun nicht umgesetzt wird. Er sah einen sehr guten Einsetzungsbeschluss vor und hatte unsere Parlamentsarbeit gut repräsentiert und hatte alle aufgegriffenen Themen, von der Größe des Deutschen Bundestages über Parität, also gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern, und das Wahlalter 16, gut abgebildet.
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Ich finde das sehr schade.
Ich möchte mich bei den beiden Kollegen Heveling – ich weiß nicht, wo er jetzt ist – und Frieser ausdrücklich für die sehr gute, für die sehr konstruktive inhaltliche Arbeit bedanken, noch viel mehr für den sehr guten Einsetzungsbeschluss. Umso größer ist das Befremden darüber, dass ein solcher überparteilicher Beschluss in der Unionsfraktion keine Mehrheit gefunden hat.
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„Ratschläge sind immer auch Schläge“, hat Johannes Rau mal gesagt. Herr Brinkhaus ist heute nicht da, was ich ihm nicht verüble; ein Fraktionsvorsitzender – das meine ich ehrlich – hat auch andere Dinge zu tun. Aber ich gebe ihm einen Ratschlag zu Protokoll: Hören Sie mal auf den Kollegen Heveling und den Kollegen Frieser. – Ich weiß jetzt nicht, ob ihnen das zum Nachteil gereicht. Aber der Einsetzungsbeschluss, den wir über Parteigrenzen hinweg verhandelt haben, war exzellent. Dem hätte man heute hier im Deutschen Bundestag zustimmen können, wenn die Unionsfraktion die Chuzpe und den Mut gehabt hätte, in ihrer Fraktion das auch durchzusetzen.
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Wer vor anderthalb Jahren gedacht hätte, dass die wichtigsten Themen sein würden, die Größe des Deutschen Bundestages anzupassen, das Wahlalter auf 16 abzusenken, die Dauer der Wahlperiode und der Amtszeit des Kanzlers/der Kanzlerin zu verändern und die Parlamentsarbeit zu modernisieren, ist in den letzten 13 Monaten eines Besseren belehrt worden. Insofern ist ein weiteres Thema, das sich an das Gesetzesvorhaben bzw. an die Einsetzung der Reformkommission anknüpft, das Thema der Herabsetzung der erforderlichen Unterschriftenquoren für die Teilnahme an der Bundestagswahl.
Die Zahl der erforderlichen Unterschriften beträgt bei Wahlkreislisten 200 Unterschriften und bei Landeslisten bis zu 2 000 Unterschriften, bzw. dort sind sie bei Landeslisten auch gekappt. Die SPD setzt sich für die Vielfalt der Parteienlandschaft und die Chancengleichheit ein. Wir haben uns bei diesem Thema großzügig dahin gehend beraten lassen, dass wir gemeinsam mit allen Parteien die Quoren herabsenken.
Ich gebe allerdings zu bedenken, dass es hier auch um die Gleichbehandlung und die Chancengleichheit von Parteien geht. Diejenigen, die es bisher nicht geschafft haben, genügend Unterschriften zu sammeln, werfen uns in diesem Punkt Nichthandeln vor. Diejenigen Parteien, die allerdings schon die Unterschriften beisammenhaben und das Quorum erreicht haben, werfen uns hingegen – zu Recht, wie ich finde – Ungleichbehandlung vor. Ich finde, wer Zeit hat, zum Anwalt zu gehen und über Monate Klagen vorzubereiten, der hätte auch genauso viel Zeit gehabt, Unterschriften zu sammeln.
In meinem Wahlkreis gibt es eine Parteivertreterin, eine Parteikollegin von mir, die im Kommunalparlament tätig ist. Sie hat es trotz der Pandemie geschafft, für eine Weihnachtsbeleuchtung Tausende Türen abzuklappern; sie hat es mit ihren Kolleginnen und Kollegen geschafft, für ein Freibad Hunderte und Tausende Unterschriften zu sammeln.
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Deshalb haben wir hier unser Bedenken und unser Befremden angemeldet; aber wir sind für eine Vielfältigkeit der Parteienlandschaft und wollen keiner Partei die Chance nehmen, bei der Bundestagswahl mit uns in den Wettbewerb zu treten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir.
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– Ja, ich auch.
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– Entschuldigung, Frau Kollegin Haßelmann, ich kann Sie bedauerlicherweise nicht verstehen. Nein, falsch, andersrum: Ich kann Sie verstehen, aber nicht hören.
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Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Ich kann Sie hören und verstehen. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Überraschung haben wir den Antrag der Koalition von vor zwei Tagen zur Kenntnis genommen, wonach kurz vor Ende der 19. Legislaturperiode eine Wahlrechtsreform konstituiert werden soll. Für die kommende Bundestagswahl kann sie keine Schadensminderung mehr bewirken. Nach neuesten, nicht unkomplizierten Berechnungen, denen unter anderem auch Wahlprognosen zugrunde liegen, laufen wir auf einen Mammutbundestag zu, der zwischen 750 und über 900 Abgeordnete haben wird.
Dies ist allerdings keine Überraschung. Denn im Rahmen der über die vergangenen drei Jahre sich hinziehenden Scheindebatten in diesem Haus zu einer überfälligen Wahlrechtsreform wurde von Sachverständigen für den Fall der ausbleibenden Reform genau dieses Szenario vorausgesagt. Der Ansehensverlust für die Demokratie und diesen Bundestag, auf den der Bundestagspräsident mehrfach hingewiesen hatte und den wir nun angesichts solcher Zahlen kurz vor der Bundestagswahl zu spüren bekommen werden, wurde bewusst von der Koalition herbeigeführt.
Gut 100 Staatsrechtslehrer haben im Herbst vergangenen Jahres öffentlich gemahnt, man werde im Hinblick auf die zentrale Frage der Größe des Bundestages sehen, ob den Abgeordneten das eigene Hemd oder der Rock des Gemeinwohls wichtiger sei. Das Ergebnis, meine Damen und Herren, ist eindeutig.
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Vor diesem Hintergrund muss man wohl die Initiative der Koalition verstehen. Wenn jetzt öffentlich bekannt wird, dass viele Hundert Büros für Abgeordnete und deren Mitarbeiter organisiert werden, dass viele neue Fahrer eingestellt werden und dass jeder zusätzliche Abgeordnete über die gesetzgeberisch vorgesehenen 598 hinaus etwa 500 000 Euro im Jahr an direkten Kosten für den Bundeshaushalt verursacht, dann wird der Volkszorn sich Luft machen. Es geht – ganz nebenbei – bei nur 200 überzähligen Abgeordneten um einen Betrag von 100 Millionen Euro jährlich
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und 400 Millionen Euro über die Legislaturperiode, und das in den Zeiten des Staatsnotstandes.
Die Antragsteller berufen sich auf die im September eingebrachte, kuriose Vorschrift des § 55 Bundeswahlgesetz, nach der „unverzüglich“ beim Bundestag eine „Reformkommission“ gebildet werden soll, die sich „mit Fragen des Wahlrechts befasst und Empfehlungen erarbeitet“. Als Einzelthemen werden der Reihenfolge nach im Gesetz genannt: das Wahlalter von 16 Jahren, die „Dauer der Legislaturperiode“ und die „Modernisierung der Parlamentsarbeit“. Die Größe des Bundestages, die alle Fachleute für das herausragende Problem halten, kommt als Untersuchungsgegenstand überhaupt nicht vor.
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Das ist pure Arroganz der Macht und Mandatsschinderei, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Im Nachgang kommt noch die Idee vor, zu prüfen, ob der Staat den Parteien vorschreiben solle, wie sie unter Geschlechtergesichtspunkten ihre Kandidatenlisten aufzustellen hätten,
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also ein Quotenparlament statt gleicher Chancen für jeden Bürger und jede Bürgerin, Abgeordnete zu werden. Das ist das Ansinnen auf einen Verfassungsbruch, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Bis zum Einsetzungsbeschluss mit seiner Unverzüglichkeit hat es sieben Monate gedauert. Die vorgegebene Zeit für einen Zwischenbericht der Kommission soll etwa drei bis vier Monate betragen, sich über den Vorwahlsommer erstrecken und wenige Tage nach der Bundestagswahl enden. Wenigstens kommt im Untersuchungsauftrag die – ich zitiere – „wirksame Begrenzung der Vergrößerung des Bundestages“ vor, jedoch keineswegs eine Zurückführung auf die bisher gesetzlich vorgesehene Größe. Da der Vorgang auch noch unter dem Gesetz der Diskontinuität steht, ist das beabsichtigte Vorgehen eine Farce.
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Es wird geradezu illustriert – ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident –, warum der jetzige Bundestag keine Reform zustande gebracht hat, und dies, obwohl der paraphierte Entwurf der AfD zur Abstimmung gestellt war, der das Größenproblem perfekt löst.
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Herr Kollege, jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen.
Einer Farce, meine sehr verehrten Damen und Herren, leihen wir unsere Stimme nicht. Wir lehnen daher dieses Gesetz ab.
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Vielen Dank, Herr Kollege Glaser.
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– Herr Kollege Kuhle, in der Geschäftsordnung steht, dass der Präsident aufruft.
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– Alles gut. Wunderbar.
Nächster Redner ist der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ja heute einen langen Debattendonnerstag, und da ist es üblich, dass Abgeordnete ihre Rede zu Protokoll geben, um die Länge der Debatten nicht allzu sehr auszudehnen. Ich glaube aber, dass die beiden Redner der Union in diesem Fall ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, weil sie sich so für das schämen, was uns heute vorliegt, meine Damen und Herren.
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Das hängt damit zusammen, dass wir heute wirklich zum x-ten Mal über das Problem sprechen, dass wir den größten Bundestag aller Zeiten haben und dass es einen dringenden Reformbedarf bei der Zahl der Mandate für den Deutschen Bundestag gibt. Und das liegt nicht daran, dass es irgendwie Spaß machen würde, den Deutschen Bundestag zu verkleinern. Es liegt daran, dass die Reduzierung der Mandate im Deutschen Bundestag ein Zeichen für die Reformierbarkeit unserer staatlichen Strukturen insgesamt ist.
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Ralph Brinkhaus redet von „Revolution“, und wir kriegen es nicht mal hin, die Zahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag zu reduzieren. Das ist das Problem.
Und es kommt noch etwas anderes dazu: Wir haben eine Pandemie, in der wir einen Korruptionsskandal in der größten Regierungsfraktion in Deutschland haben, in einer Zeit, in der viele Menschen den Gürtel enger schnallen müssen. Angesichts dieses Korruptionsskandals und angesichts der Coronapandemie, in der es den Menschen in diesem Land schlecht geht, wäre es ein Armutszeugnis, wenn wir nach der nächsten Bundestagswahl wieder einen größeren Bundestag hätten, und deswegen wäre es richtig gewesen, schon in dieser Legislaturperiode zu einer Verkleinerung des Parlaments zu kommen.
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Deswegen ist es auch richtig, dass wir uns noch mal vergegenwärtigen, wie sehr die Große Koalition das vergeigt hat, wie sehr das vor die Wand gefahren worden ist.
Drei Jahre lang ist überhaupt nichts passiert – keine Bewegung beim Wahlrecht, außer bei FDP, Grünen und Linken, die einen eigenen Vorschlag gemacht haben, wie das Ganze gehen kann. Letztes Jahr gab es dann endlich einen Vorschlag, für den sich die SPD unter Biegen und Brechen bereit erklärt hat, bei der Union mitzumachen: Verringerung der Zahl der Wahlkreise ab 2024, Veränderung des Verrechnungsmodus und drei Extramandate für die Union. – Das hat die SPD nur unter einer Bedingung mitgemacht: Wir schaffen sofort eine Kommission, die sich über die Reform des Wahlrechts und über das Thema Parität unterhält.
Dann passierte sieben Monate wieder nichts. Das ist genau das, was passiert, wenn man sich von der Union verschaukeln lässt. Das haben die von Anfang an geplant; es war deren Plan von Anfang der Legislaturperiode an, sich beim Wahlrecht nicht zu bewegen.
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Jetzt haben wir – das sage ich für die FDP auch ganz deutlich – einen Einsetzungsbeschluss, dem ich total gerne zustimmen würde. Der war auch schon im Januar fertig; das hätten wir machen können. Da ist alles drin, was wir wollten: Wahlalter von 16 Jahren, Digitalisierung und Modernisierung der Parlamentsarbeit, Amtszeitbegrenzung für die Bundeskanzlerin bzw. den Bundeskanzler. – Super! Ich würde gerne zustimmen. Das Problem ist: Wir haben nur noch vier Sitzungswochen und insgesamt nur noch fünf Monate Zeit. Eine absolute Farce!
Ich bedanke mich wirklich bei den Kollegen Berichterstattern – vorneweg Ansgar Heveling. Das macht immer viel Freude; das ist im Persönlichen wirklich angenehm, und ich hätte mir gewünscht, dass ihr hier, lieber Ansgar, mehr Rückendeckung auch von der Fraktionsführung habt, die uns in Sonntagsreden was von „Revolution“ erzählt; aber wenn es um die eigenen Mandate geht, dann geht es um Sondermandate für die Union. Eine Verkleinerung des Bundestages gibt es aber nicht.
Herr Kollege.
Das machen wir nicht mit. Wir stimmen dagegen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Monaten stellte uns die CDU/CSU-Fraktion ihr Wahlrechtsreförmchen vor und kündigte geradezu schuldbewusst an, in der nächsten Reformkommission über Grundlegenderes diskutieren zu wollen. Heute offenbart sich: Das war reine Hinhaltetaktik. Sie haben nach wie vor gar kein Interesse an einem modernen Wahlrecht.
Der Kollege hat es gerade angesprochen: Die Verkleinerung des Bundestages – ein Thema, das hier wirklich auf der Tagesordnung steht – haben Sie auch nicht wirklich im Programm. – Das ist im Grunde die Täuschung des Publikums und der Wählerinnen und Wähler, und ich hoffe, dass ihnen das am Wahltag auch bewusst ist.
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Die Verhandlungen über den Einsetzungsbeschluss lassen sich schon wieder genau so an wie die Beratungen der vergangenen Wahlrechtskommission: Die Union lehnt jegliche Diskussion über alles ab, was nicht hundertprozentig ihrer Ideologie entspricht, und die SPD fügt sich wie immer ihrem Schicksal und lässt der Union alles durchgehen.
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Besonders spannend ist es, wenn man sich anschaut, was hier im letzten Schritt noch aus dem Einsetzungsbeschluss herausgestrichen wurde. Wohlgemerkt: Es ging hier nicht darum, einen Beschluss oder eine konkrete gesetzliche Regelung zu treffen; es ging nur darum, was wir in dieser Kommission bereden werden. – Dass hier Einzelne eine Befassung mit Themen verhindern, ist, ehrlich gesagt, ein starkes Stück.
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Sie fallen selbstverständlich hinter die ursprüngliche Idee zurück, dass die Sitzungen dieser Kommission öffentlich stattfinden und nur auf Antrag in geschlossener Sitzung verhandelt wird. Anderenfalls wäre es ja auch schwierig, nach außen das Bild aufrechtzuerhalten, dass man konstruktiv an einer Lösung interessiert wäre, während intern sogar die Erstellung einer gemeinsamen Zahlengrundlage verhindert wird.
Ein weiterer Punkt, den Sie in letzter Minute herausformuliert haben, ist die paritätische Besetzung von Wahllisten. Übrig bleibt dann die Formulierung eines Wunsches: Der Bundestag solle gleichermaßen aus Männern und Frauen bestehen. – Wenn Sie sich hier im Hause umschauen, dann sehen Sie, dass es nur drei Fraktionen gibt, die annähernd gleichmäßig besetzt sind, und diese operieren bei den Listen mit einem Reißverschlusssystem. Auf freiwillige Selbstverpflichtung zu setzen, ist kein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu durchzusetzen.
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Es ist darüber hinaus auch interessant, das gerade Sie eine Fraktion sind, die nur einen Frauenanteil von 20 Prozent aufweist. Auch das sollten sich die Wählerinnen und Wähler bitte einmal merken.
Zuletzt gab es einen langen Absatz über die Einsetzung eines Bürgerrats Demokratie. Dieses vollkommen unverbindliche Mittel ist Ihnen ja auch schon zu viel. Dabei wäre es schon interessant, die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger in eine solche Kommission zu integrieren. Ihr Problem ist aber doch: Wenn solche Vorschläge auf dem Tisch liegen, dann kann man sie nicht einfach vom selbigen fegen. – Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir hier einen Wert auf die Stimmen der Wählerinnen und Wähler legen.
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Wir waren zu einigen Kompromissen bereit, um ein gemeinsames Vorgehen zu erreichen. Mit den letzten Streichungen des entwickelten Entwurfes haben Sie den Bogen vollkommen überspannt. Wir werden deshalb ablehnen müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Und wieder haben das letzte Wort Bündnis 90/Die Grünen – in der Person von Britta Haßelmann.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir verhandeln heute das letzte Kapitel dieses Trauerspiels, das sich „Wahlrechtsreform“ nennt. Wir sind mit dieser Wahlrechtsreform, die von CDU/CSU und SPD beschlossen wurde, keinem Ziel, das sich gesteckt wurde, auch nur ansatzweise näher gekommen.
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Die Wahlrechtsreform ist weder fair noch verfassungsgemäß, noch tritt sie dem Ziel, der Absicht, den Bundestag zu verkleinern, in irgendeiner Art und Weise nahe. Das ist ein Trauerspiel, ein Armutszeugnis, und Sie tun das wider besseres Wissen.
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Denn Sie wussten das von Anfang an. Aber Sie wollten einfach um den Preis Ihres Machterhaltes, keines Mandatsverzichtes, keiner Reduzierung nur diesen Vorschlag weiterverfolgen.
Wir haben Ihnen in der Vergangenheit so viele Vorschläge gemacht; Sie sind darauf nicht eingegangen und haben dann auch noch als Geschenk von der SPD die drei unausgeglichenen Überhangmandate bekommen. Ich frage mich bis heute, was die SPD umgetrieben hat, Ihnen das auch noch zuzugestehen.
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Denn das bedeutet keinen Vollausgleich mehr und eine Verzerrung des Wahlergebnisses. Das galt hier vor der jetzt beschlossenen Reform, mit der wir – FDP, Linke und Grüne – nach Karlsruhe gegangen sind, ganz klar als abgeschafft, und ich halte das Gesetz nach wie vor für nicht verfassungsgemäß. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.
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Dem Ziel der Verkleinerung kommen Sie sowieso nicht näher. Rechnen Sie mal die aktuellen Umfragen hoch! Dann wissen Sie, dass wir uns bei 800 Abgeordneten einpendeln, und das ist wirklich unmöglich und nicht tragbar.
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Das wird der Akzeptanz in der Bevölkerung schaden, und dafür tragen Sie – CDU/CSU und SPD – die Verantwortung.
Während der Diskussionen über die Wahlrechtsreform haben Sie von der SPD sich mit der Einsetzung einer Reformkommission abspeisen lassen. Vor sieben Monaten wurde beschlossen, dass die „unverzüglich“ einzusetzen ist. Liebe Frauen aus der SPD, ich verstehe nicht, dass Sie sich damit haben abspeisen lassen. Wir hatten eine interfraktionelle Initiative für eine Paritätskommission auf den Weg gebracht. Da haben Sie ganz groß verkündet: Wir machen hier eine große Reformkommission gemeinsam mit allen.
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Heute wird sie eingesetzt. Das ist ein absolutes Placebo, eine Beruhigungspille für Sie, damit Sie überall sagen können: Die Reform gibt es. – Was wollen Sie denn in den nächsten vier Wochen machen? Die Kommission einsetzen! Und danach gehen wir alle in die Wahlkreise. Glauben Sie, dass irgendjemand in der parlamentarischen Sommerpause, in besten Wahlkampfzeiten, hierhinkommt und mit Ihnen die Frage berät, ob wir vielleicht in der nächsten Legislaturperiode darüber diskutieren können? Das ist doch wirklich absurd, meine Damen und Herren!
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Nächste Woche setzen wir sie ein, und dann feiern wir uns noch dafür, dass wir das Reformkommissiönchen eingesetzt haben. Tut mir wirklich leid; dem kann man nicht aufsitzen! Wir werden heute ablehnen.
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Jetzt wird es wieder friedvoller; wir gehen in den deutschen Wald. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Viele Reden werden um diese Uhrzeit verständlicherweise zu Protokoll gegeben. Ich möchte zu einem guten, zu einem positiven Antrag – auch stellvertretend für meinen Kollegen Artur Auernhammer – hier doch ein paar Takte sagen.
Die Ökosystemleistung unserer Wälder wollen wir honorieren. Das Potenzial ist immens. Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bewachsen, und die Leistungen der Wälder – Sie kennen sie vermutlich alle – sind multifunktional. Sie sind Wasserspeicher, Luftfilter, Lebensraum für Tiere und Pflanzen, Rohstofflieferant, Arbeitgeber in einem hohen Maße. Sie sind Erholungsraum für die Menschen – das wissen wir in Pandemiezeiten ganz besonders wertzuschätzen – und, ganz wichtig, der wichtigste CO2-Speicher, den wir in Deutschland haben.
Das ist ein guter Grund für die Koalition, einen Antrag auf den Weg zu bringen. Der Dank gilt unserem Koalitionspartner, insbesondere Isabel Mackensen, für die wieder mal sehr gute Zusammenarbeit bei der Erstellung dieses Antrags.
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Ja, der Wald und die Waldbesitzenden brauchen unsere Hilfe. Drei katastrophale Jahre liegen hinter uns: Trockenheit, Käferbefall, Sturm, katastrophal zusammengebrochene Holzmärkte mit schlechten Holzpreisen. – Der volkswirtschaftliche Schaden wird mittlerweile auf 13 Milliarden Euro geschätzt. Es geht jetzt darum, dass die Waldbesitzenden motiviert werden, ihre Wälder weiterhin aktiv zu bewirtschaften. Es geht um Wiederaufforsten, um Hegen und um Pflegen. In der Regel ist das eine Arbeit für die Enkel, weil man beim Wald in Generationen denken muss. Es ist eine Arbeit, für die viel Herzblut notwendig ist, eine Arbeit aus Tradition und insbesondere mit extrem wenig Entlohnung.
Fest steht: Ökologisch gesehen sind junge bewirtschaftete Mischwälder der beste CO2-Speicher, den wir haben. Das heißt, Stilllegung ist ökologischer Unsinn,
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und es ist maximal klimaneutral, wenn man die Wälder aus der Bewirtschaftung nimmt. Deswegen sehen wir eine Chance, weil seit Beginn des Jahres 2021 die CO2-Bepreisung eingeführt worden ist. Es ist doch nur richtig und fair, wenn dem Wald von diesen Geldern etwas zugutekommt.
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Wir wollen keine Gießkannenverteilung: Wir wollen Leistung für Gegenleistung und nachhaltig bewirtschaftete Wälder. Die Kontrolle und Begleitung durch ein Zertifizierungssystem wird dafür Sorge tragen, dass man die entsprechenden Mittel richtig einsetzt. Unser Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft – es freut mich, dass die Bundesministerin zu der späten Stunde noch bei uns ist – bekommt nach der Zustimmung zum Antrag den Auftrag, ein Honorierungssystem zu erarbeiten, das pragmatisch ist.
Ich freue mich, dass nicht nur wir in Deutschland die Situation erkannt haben. Nein, auch die Europäische Union hat vor zwei Tagen mit einem Klimagesetz beschlossen, dass sie solch eine Klimaprämie einführen will, um zum Beispiel die Senkenleistung unserer Wälder zu honorieren. Das ist ein starkes Signal. Hand in Hand müssen wir diesen Weg im Sinne unserer Wälder, im Sinne unserer Waldbesitzenden gehen. Das heißt, eine nachhaltige Forstwirtschaft wird europaweit unterstützt werden.
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Ich bitte Sie alle um die Zustimmung zu unserem Antrag und wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Gerig. – Das Wort geht an Peter Felser von der AfD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Wir sprechen heute über Ökosystemleistungen für den Wald. Wir sprechen darüber, dass wir die Leistungen im Umfeld Wald unterstützen wollen. Und in der Tat: Es ist ja schon einmal wertvoll, dass wir diese Leistungen öffentlich machen, dass wir sie identifizieren und, ja, dass wir den Waldbesitzern Wertschätzung entgegenbringen.
Ich denke – und das haben wir ja auch vom Kollegen Gerig gehört –, dass die Funktionen des Waldes wichtig sind. Wald ist für unsere Bevölkerung der Erholungsort. Wald ist ein hervorragender, Wald ist der wichtigste Wasserspeicher bei uns in Deutschland. Wald gibt uns Bauholz, Wald gibt uns Wärme am heimischen Holzfeuer. Und nicht zuletzt: Wald ist Heimat, Wald hat sich tief in unsere Volksseele eingepflanzt – in Liedern, in Märchen, in Sprichwörtern, im alltäglichen Sprachgebrauch.
All diejenigen, die den Wald betreuen, die dort Nutzholz entnehmen, die für uns diese Wälder aufforsten, die eingreifen, wenn der Borkenkäfer zugeschlagen hat, wollen wir unterstützen. All diejenigen werden auch jetzt schon unterstützt, liebe Kollegen von der CDU; das darf man nicht vergessen. Ich denke an die Waldhilfen nach den katastrophalen Dürrejahren, ich denke an die Gelder, die aus der GAK verteilt werden.
Aber, liebe Kollegen von der CDU, lassen Sie sich durch die aktuelle Klimadiskussion doch bitte nicht vom Weg abbringen! Lassen Sie sich doch um Gottes willen nicht vom Green Deal einer Ursula von der Leyen in Brüssel blenden!
Mir ist schon klar: Da liegen jetzt 1 Billion Euro, und auch Sie wollen für sich und für die Waldbesitzer, für Ihre Mitglieder, etwas davon abhaben. Das ist verlockend; das ist mir schon klar. Aber machen Sie doch jetzt bitte nicht den gleichen Fehler, den Sie jahrzehntelang in der Landwirtschaft gemacht haben. Wir sehen doch, wohin uns die Subventionen in der Landwirtschaft gebracht haben. Diese Abhängigkeiten wollen wir doch nicht. Es kann doch auch keiner in diesem Hause wollen, dass auch die Waldbesitzer abhängig von diesen Subventionen werden.
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Sie machen die Waldbesitzer – ob die großen mit 2 000 Hektar oder die kleinen mit 2 Hektar – und die Forstwirtschaft jetzt abhängig von diesem Subventionstropf, und das lehnen wir ab.
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Herr von der Marwitz, Herr Gerig, wollen Sie wirklich, dass die Waldbauern zukünftig nicht mehr allein über Grund und Boden entscheiden dürfen? Wollen Sie, dass sie jeden Baum, den sie neu anpflanzen wollen, bürokratisch vorgegeben bekommen?
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Wollen Sie, dass sie für jedes Nutzholz, das sie entnehmen wollen, ein Formular ausfüllen müssen? Nein, wir machen das nicht mit.
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Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie das laufen könnte. Es gibt nicht mal ansatzweise ein Konzept dafür, wie man das umsetzen und diese CO2-Senken vergüten könnte. Da gibt es gar nichts. Trotzdem fordern Sie heute eine Sofortabstimmung. Nein, liebe Kollegen, das machen wir nicht mit.
Wir haben drei konkrete Vorschläge in unseren drei Anträgen heute vorgelegt; so könnte Waldbau, wie in den letzten 300 Jahren, gut und nachhaltig funktionieren:
Erstens. Forschung vorantreiben und hochwertiges Saatgut nach vorne bringen. In der Saatgutforschung waren wir übrigens weltweit führend.
Zweitens. Mehr Personal für die Wälder. Sie haben die Förstereien personell ausgedünnt. Wir brauchen aber das Personal in den Förstereien.
Drittens. Verdoppelung der Flächen für die Züchtung von stabilen Baumarten in unserer Heimat, in Deutschland.
Ich fordere Sie auf: Stellen Sie sich hinter die Eigentümer, und lassen Sie die Finger weg von CO2-Zertifizierungen!
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Felser. – Das Wort geht an die SPD-Fraktion mit Isabel Mackensen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Lage im Wald ist dramatisch und gibt Anlass zu großer Sorge. Stürme, Dürre, Schädlinge und Waldbrände haben unseren Wäldern stark zugesetzt. Die Fachleute gehen derzeit von einer Schadholzmenge von 171 Millionen Kubikmetern aus. Wir stehen aktuell vor der Herausforderung, mehr als die Flächengröße des Saarlandes, nämlich circa 285 000 Hektar, wieder zu bewalden.
Ich komme aus Rheinland-Pfalz – ich bin Rheinland-Pfälzerin, wie die Ministerin –, aus dem waldreichsten Bundesland Deutschlands.
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42 Prozent der Landesfläche sind bewaldet. Zudem ist der Pfälzer Wald das größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands. Allein bei uns beträgt das Schadholzaufkommen über 5 Millionen Kubikmeter, und es müssen über 14 300 Hektar aufgeforstet werden.
Wir stehen hier vor einer Jahrhundertaufgabe. Es wird sich nämlich frühestens in 50 Jahren zeigen, ob beim Waldumbau zu klimastabilen Mischwäldern die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Die dafür notwendigen Investitionen sind nicht nur Aufgabe der privaten Waldbesitzer, sondern im Wesentlichen auch der kommunalen Waldbesitzer und des Staates. Es gibt nämlich tatsächlich auch kommunale Waldbesitzer; darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Durch die Holzerlöse konnte die Aufforstung bisher ohne Probleme finanziert werden. Der Holzpreisverfall und der notwendige Wandel vom gewinnbringenden Nadelholz zu aktuell noch weniger nachgefragtem Laubholz lassen viele Waldbesitzende aber finanziell mit dem Rücken zur Wand stehen. Viele tragen sich mit dem Gedanken, ihren Wald zu veräußern.
Ich kann das gut nachvollziehen. Ich bin Gemeinderätin in meinem Heimatort Niederkirchen. Wir haben 800 Hektar Wald, und wir haben die Abgabe an den Forstzweckverband im aktuellen Haushalt vervierfachen müssen. Früher haben wir 10 000 Euro gezahlt, jetzt haben wir eine Abgabe von 40 000 Euro. Das ist für so einen kleinen Ort schon eine Menge Holz – im wahrsten Sinne des Wortes. Deshalb kann ich sehr gut nachvollziehen, was das für die anderen Waldbesitzenden bedeutet.
Es stellt sich nun also die Frage, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen können. Mit etwa 1,5 Milliarden Euro haben Bund und Länder über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ und die Konjunkturhilfen schnelle und direkte Unterstützung für den Wald zur Verfügung gestellt. In Anbetracht der zeitlichen Dimension dieser Jahrhundertaufgabe sind wir davon überzeugt, dass wir eine langfristige Lösung für diese Herausforderung brauchen und die Honorierung der Ökosystemleistungen des Waldes hierauf die richtige Antwort ist.
Was sind Ökosystemleistungen? Wir haben gerade schon von der Klimaschutzleistung gehört, nämlich der langfristigen Speicherung von CO2 im Wald, in den weiterverarbeiteten Holzprodukten und in dem gesamten Holzkreislauf. Gesunde Wälder – und das ist das entscheidende Stichwort – können 8 Tonnen CO2 pro Hektar binden.
Vielen Dank an die Vertreter der AGDW, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände, mit denen ich mich gestern zusammen mit meinem Kollegen Dirk Wiese bei ihrer Aktion am Brandenburger Tor fachlich austauschen konnte und die auch noch mal deutlich gemacht haben, vor welcher Herausforderung wir hier stehen.
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Der Präsident der AGDW sitzt ja auch hier.
Die biologische Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten beeinflusst ökologische Funktionen, die wiederum Voraussetzung aller Ökosystemleistungen des Waldes sind. Der Trend der Biodiversität im Wald ist stabil, wenn nicht sogar positiv. Das gilt es zu erhalten. Zusätzlich leisten unsere Wälder einen wichtigen Beitrag für den Boden- und Wasserschutz.
Es wurde angesprochen: Gerade in der aktuellen Zeit, in der Coronapandemie, suchen viele Menschen Erholung in den Wäldern. Ich selbst komme aus der Nähe des Pfälzer Waldes, vom Haardtrand, und sehe immer wieder Menschen in Autos aus Heidelberg und Mannheim, die am Wochenende zu uns kommen, um mal durchzuatmen und im Wald spazieren zu gehen. Auch das ist eine wichtige, nicht zu unterschätzende Ökosystemleistung.
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– Es wurde gerade „Kerosin“ reingerufen; das kann ja nicht jeder hören. Das ist ein anderes Thema; darüber können wir gerne noch mal sprechen.
Wald ist aber vor allem auch ein wichtiger Arbeitgeber. Im Bereich „Wald und Holz“ arbeiten rund 1,1 Millionen Menschen. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil es Arbeitsplätze im ländlichen Raum sind.
Diese Leistungen des Waldes stehen uns allen zur freien Verfügung. Das ist der entscheidende Punkt, warum Alois Gerig und ich uns auf den Weg gemacht haben, diesen Antrag zu formulieren und heute hier zur Abstimmung zu bringen. Ich bin sehr dankbar, dass wir das in dieser Legislatur noch geschafft haben. Deshalb reden wir auch beide; bitte sehen Sie es uns nach.
Mit unserem heutigen Antrag wollen wir ein dauerhaftes Honorierungssystem etablieren. Wir wollen den Ökosystemleistungen einen Wert geben und eine langfristige Perspektive – das ist das Entscheidende – für die nachhaltige Waldbewirtschaftung schaffen. Dabei sollte sich die Honorierung an der Klimaschutzleistung des Waldes orientieren. Eine mögliche Bezugsgröße wäre der aktuelle Preis der gehandelten CO2-Zertifikate.
Definierte Standards sollen der Verbesserung von Ökosystemleistungen und der Anpassung der Waldökosysteme an den Klimawandel dienen. Uns ist wichtig, dass die notwendigen Standards, die aktuell noch nicht vorliegen, sowohl vom Landwirtschaftsministerium als auch vom Umweltministerium erarbeitet werden. Wir haben beide mit ins Boot genommen. Ich glaube, das ist eine sehr sinnvolle Sache.
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Es geht hier nicht um eine Beihilfe, wie das vielleicht bei manchen Beiträgen angeklungen sein könnte, sondern um die Honorierung tatsächlich erbrachter Leistungen. Das ist uns ganz wichtig, und das unterscheidet uns auch von dem Antrag der FDP, der heute auch vorliegt.
Die FDP fokussiert in ihrem Antrag nämlich nur die CO2-Bindeleistung unserer Wälder. Natürlich kommt der Speicherung von CO2 eine wichtige Bedeutung zu. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass bei der Inwertsetzung der CO2-Speicherung im Wald die Gesamtschau der Ökosystemleistungen des Waldes betrachtet werden muss.
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Es gibt keine Forderungen für Mindeststandards bei der Bewirtschaftung als Voraussetzung für die Honorierung. Damit verpasst es die FDP leider, die Lenkungswirkung zu nutzen, die der Bund und die Länder mit solch einem Honorierungssystem beeinflussen können.
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Der Antrag wird der Komplexität des Themas leider nicht gerecht, und deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Für die SPD-Bundestagsfraktion steht ganz klar fest: Eine nachhaltige Bewirtschaftung und der Waldumbau zu naturnahen und klimastabilen Mischwäldern müssen die Voraussetzungen sein, um eine Honorierungsleistung zu erhalten, ganz nach dem Motto „Öffentliches Geld für öffentliche Leistungen“.
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Deshalb sprechen wir uns auch ganz klar gegen eine reine Flächenprämie aus. Ich bin dankbar, dass ich das hier, an dieser Stelle, jetzt auch noch mal deutlich sagen konnte.
Wichtig ist aber natürlich auch, dass wir als Regierung weiterhin die Waldstrategie 2050 in den Blick nehmen. Die Honorierung der Ökosystemleistungen ist ein wichtiger Bestandteil der Zukunftsfragen in der Forstwirtschaft, und deshalb brauchen wir auch eine Zukunftsstrategie.
Seit Monaten warten wir leider auf die Waldstrategie 2050 aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium. Vor über einem Jahr hat der Wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik die Stellungnahme „Eckpunkte der Waldstrategie 2050“ vorgelegt. Die Länder und Verbände wurde bereits angehört. Jetzt wäre es langsam an der Zeit; denn ein weiteres Aufschieben ist gerade in Anbetracht der dramatischen Lage nicht akzeptabel.
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Es braucht ein kohärentes Bild der zukünftigen Forstwirtschaft und eine klare Zielvorstellung. Es gilt, die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen. Wir müssen unseren Wald für zukünftige Generationen erhalten.
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Wir brauchen anpassungsfähige und klimaresiliente Mischwälder, und wir müssen auf naturnahe und standortangepasste Baumarten setzen.
Es ist Zeit, zu handeln. Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden alle Waldbesitzenden aktiv dabei unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Mackensen. – Die Kollegin Dr. Tackmann und die Kollegen Busen, Krischer und Auernhammer sind so freundlich, ihre Reden zu Protokoll zu geben
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland – das zeigt sich gerade auch in der Krise – hat ein faires, leistungsgerechtes und wachstumsfreundliches Steuerrecht. Genau dieses Steuerrecht hat uns die Grundlage dafür geschaffen, dass wir jetzt in der Krise kraftvoll agieren und uns gegen die wirtschaftlichen Folgen so stemmen können, wie wir das auch tun.
Das müssen und wollen wir auch in Zukunft sicherstellen, und zwar mit guten, international wettbewerbsfähigen steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen – ja, das wollen wir – und indem wir sicherstellen, dass Steuereinkünfte auch in Zukunft zufließen, und verhindern, dass aus einem gesunden Wettbewerb Steuerdumping wird und Steuersubstrat verringert wird. Deswegen wollen wir aggressiven Steuergestaltungen und Steuervermeidungsstrategien den Boden entziehen.
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Mit den jetzt vorgelegten Gesetzentwürfen schaffen wir genau diese Grundlage.
Mit dem Gesetzentwurf zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts – ich kürze es mal ab: KöMoG – setzen wir auf zielgerichtete Maßnahmen zur strukturellen Verbesserung und eine weitere Internationalisierung des Unternehmensteuerrechts. Die vorgesehenen Regelungen verbessern insbesondere die steuerlichen Rahmenbedingungen für viele auf internationalen Märkten erfolgreich tätige mittelständische Personengesellschaften und Familienunternehmen. Wir stärken also das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Kern des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer Option zur Körperschaftsteuer, die es Personengesellschaften und Partnerschaftsgesellschaften ermöglicht, wie eine Kapitalgesellschaft besteuert zu werden. Dieses Optionsmodell trägt dazu bei, sowohl systematische als auch verfahrensrechtliche Unterschiede gegenüber Kapitalgesellschaften abzubauen und die Besteuerung von Personenhandelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften noch weiter anzugleichen.
Darüber hinaus wird mit dem Gesetzentwurf das Umwandlungssteuerrecht weiter globalisiert. Neben Verschmelzungen sollen zukünftig auch Spaltungen und Formwechsel von Körperschaften mit Bezug zu Drittstaaten steuerneutral möglich werden. Dadurch werden die Möglichkeiten für deutsche Unternehmen und ihre ausländischen Tochtergesellschaften, betrieblich sinnvolle Umstrukturierungsmaßnahmen steuerneutral durchzuführen, maßgeblich erweitert und weiter gestärkt.
Ein weiterer Punkt im Bereich der körperschaftsteuerlichen Organschaft ist der Ersatz der Ausgleichspostenmethode bei organschaftlichen Mehr- und Minderabführungen durch ein einfacheres System, die sogenannte Einlagenlösung.
Wichtig ist – ich habe das bereits vorhin erwähnt –, dass wir sicherstellen müssen, Steuersubstrat zu erhalten, also aggressiven Steuergestaltungen und Methoden der Steuervermeidung entgegenzutreten. Dafür ist das zweite Gesetz vorgesehen, das sogenannte ATAD-Umsetzungsgesetz. Mit dem Gesetzentwurf werden Gestaltungsinstrumente von multinationalen Unternehmen zur Steueroptimierung spürbar eingedämmt, sodass faire steuerliche Wettbewerbsbedingungen auch im internationalen Rahmen sichergestellt werden.
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Das ATAD-Umsetzungsgesetz sieht insoweit ein Paket einheitlicher Regelungen zur Bekämpfung von aggressiven Steuergestaltungen und Gewinnverlagerungen von multinationalen Unternehmen vor.
Deutschland erfüllt zwar bereits heute viele der von der ATAD vorgegebenen Mindeststandards, gleichwohl besteht aber in einigen Bereichen noch Anpassungsbedarf. Das betrifft insbesondere die Vorgaben zur Verhinderung von Besteuerungsinkongruenzen durch sogenannte hybride Gestaltungen sowie zur Entstrickungs- und Wegzugsbesteuerung.
Die ATAD schreibt die Anwendung entsprechender Regelungen ab dem 1. Januar 2020 vor, sodass der Gesetzentwurf insoweit eine rückwirkende Anwendung vorsieht. Das ist EU-rechtlich zwingend geboten, und wir halten das auch für sinnvoll.
Darüber hinaus – auch das will ich nicht verhehlen – haben wir noch ein paar andere Punkte im Gesetz, deren Diskussion auch, glaube ich, sinnvoll und wichtig ist, wie die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform der Hinzurechnungsbesteuerung und die Bekämpfung der niedrigen Besteuerung von Einkünften grenzüberschreitend agierender Unternehmen. Das wollen wir zeitgemäß und rechtssicher ausgestalten.
Sie sehen, es handelt sich um zwei umfangreiche Gesetzentwürfe, aber ich glaube, wir sind alle sehr optimistisch, dass wir hier zu guten Ergebnissen kommen, und ich freue mich auf die weiteren Verhandlungen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion mit Albrecht Glaser.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In vier Minuten sind nur ein paar wenige Anmerkungen zu dem komplexen Thema möglich. Wir beraten heute über den Entwurf des ATAD-Umsetzungsgesetzes, einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Steuervermeidung, insbesondere auf internationaler Ebene, und über eine Änderung des Körperschaftsteuergesetzes.
Das englische Akronym „ATAD“ steht für Anti-Steuervermeidungsrichtlinie; gemeint sind zwei Richtlinien der EU aus den Jahren 2016 und 2017. Grundlage dieser Richtlinien waren seinerzeit Handlungsempfehlungen der OECD. Die verbindliche Umsetzung in nationales Recht war für 2018 vorgesehen. Einen ersten Referentenentwurf gab es dann 2019. Drei weitere Referentenentwürfe sollten noch folgen. Erst heute liegt allerdings ein Regierungsentwurf vor. Man kann unschwer erkennen, dass sich die Bundesregierung in dieser Frage sehr viel Zeit gelassen hat, obwohl es doch um dieses sensible Thema „Vermeidung von Steuerverkürzung“ geht.
Die Materie ist in der Tat komplex. Es geht zum Beispiel um die Wegzugsbesteuerung. Wenn ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz oder ein Unternehmen seinen Geschäftssitz ins Ausland verlagert, taucht die Frage auf, ob, wie und wo die Vermögenswerte und die stillen Reserven besteuert werden sollen. Die gegenwärtigen Regeln sehen eine Steuerstundung vor.
Oder die Hinzurechnungsbesteuerung: Diese Steuer wird dann erhoben, wenn zum Beispiel die ausländische Tochtergesellschaft eines deutschen Unternehmens Gewinne in einem Land mit einem niedrigen Steuersatz erzielt. Der deutsche Fiskus kann in solchen Fällen vom niedrigen Steuersatz im Ausland ausgehend zusätzlich die deutsche Steuergesellschaft belasten, was täglich geschieht. Niedrige Steuersätze im Sinne dieser Regelung sind Steuersätze unter 25 Prozent.
Oder hybride Strukturen: Bisher konnten gewiefte Unternehmen ihre rechtliche Struktur so ausgestalten, dass unterschiedliche steuerliche oder rechtliche Regelungen in verschiedenen Staaten gegeneinander ausgespielt werden konnten, oftmals mit der Folge, dass bestimmte Sachverhalte nirgendwo berücksichtigt wurden oder bestimmte Ausgaben gleich mehrfach zum Steuerabzug genutzt werden konnten.
Die Steuerverwaltung hatte bisher kein besonders scharfes Schwert zur Bekämpfung dieser Gestaltungen. Oftmals stand nur § 42 der Abgabenordnung zur Verfügung, eine Missbrauchsvorschrift, die eine unangemessene Gestaltung zu rein steuerlichen Zwecken untersagt. Durch den vorliegenden Entwurf soll dieses Instrumentarium nachgeschärft werden.
Ein weiterer Gesetzentwurf steht zur Debatte – es ist angesprochen worden –: der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts. Es sieht vor, Personenhandelsgesellschaften und Partnergesellschaften die Möglichkeit einzuräumen, dieselbe ertragsteuerliche Behandlung zu erfahren wie Kapitalgesellschaften. Das soll die Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen fördern, besonders der Familiengesellschaften, die in der Rechtsform von Personengesellschaften agieren. Sie sollen den Kapitalgesellschaften gleichgestellt werden und dadurch steuerlich in der Tat ein paar Vorteile generieren können.
Die rechtsformneutrale Besteuerung von Unternehmen ist im Grundsatzprogramm der AfD bereits seit fünf Jahren verankert. Auch deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Zielsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen. Beide Gesetzesvorlagen werden jeweils in einer öffentlichen Anhörung beraten. Wir sind gespannt und neugierig darauf, was die Sachverständigen sagen, und werden den Prozess konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Glaser. – Das Wort geht an den Kollegen Fritz Güntzler von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spät am Abend noch zwei Steuergesetze, die, wie die Staatssekretärin sagte, es in sich haben. Es ist aber nicht nur spät am Abend, sondern – das muss man ehrlicherweise auch sagen – das Bundesfinanzministerium bringt diese beiden wichtigen Gesetzentwürfe auch spät ein. Als Fußballer würde ich, gerade was das KöMoG, das Gesetz zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts, angeht, sagen: Es wird dem Gesetzgeber in der 88. Spielminute auf dem Spielfeld präsentiert, und wir haben jetzt zwei Minuten Zeit, mit diesem Unterfangen vernünftig umzugehen. Das wird nicht ganz einfach, weil es eine größere Operation am Steuerrecht ist.
Dass wir dahinterstehen, haben wir mehrfach gezeigt, und ich weise gerne darauf hin, dass wir bereits im März und im Juni 2020 im Koalitionsausschuss diese Vereinbarungen getroffen haben. Das ist fast ein Jahr her, und erst jetzt kommt der Entwurf des Bundesfinanzministers hier im Bundestag an. Von daher habe ich das Gefühl, das ist nicht so richtig gewollt. Ich bin froh, dass wir durchgesetzt haben, dass wir darüber jetzt so diskutieren.
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Gar nicht mehr in der regulären Spielzeit sind wir beim ATAD-Umsetzungsgesetz; da sind wir schon, wenn man es wohlwollend sieht, in der Nachspielzeit. Diese Richtlinie – Herr Kollege Glaser hat darauf aufmerksam gemacht – hätte bis zum 31. Dezember 2019 umgesetzt werden müssen,
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was uns jetzt in zweierlei Hinsicht Probleme bringt: Wir haben zwei Vertragsverletzungsverfahren am Laufen, und wir müssen überlegen, ob Gestaltungsverhinderungen, die wir ins Gesetz bringen wollen, im Hinblick auf die Verfassung rückwirkend überhaupt möglich sind. – Von daher wird auch das eine nicht ganz einfache Operation. Umso mehr bedauere ich, dass die Zeit, in der wir das hier im Bundestag beraten können, sehr kurz ist.
Eigentlich wäre es so einfach gewesen, wenn man eine Unternehmensteuerreform oder eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts gewollt hätte. Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits im November 2019 eine Blaupause vorgelegt, die man hätte übernehmen können, in der wir genau die wichtigen Punkte benannt haben, die notwendig sind, damit wir im internationalen Steuerwettbewerb mithalten können. Da geht es um Wettbewerbsfähigkeit, da geht es um Bürokratieabbau, da geht es um verbesserte Strukturen.
Wir sind uns, glaube ich, einig – die Staatssekretärin hat es ja eben auch angesprochen –, dass das Steuerrecht – die Steuerbelastung, die Steuerstruktur – ein wichtiger Standortfaktor ist. Und gerade in dieser Situation, in der wir ja darüber nachdenken, wie nach der Pandemie auch in der Wirtschaft der Neustart gelingen kann, ist es umso wichtiger, die richtigen steuerlichen Rahmenbedingungen zu setzen. Von daher gibt es mit dem KöMoG einen richtigen Ansatz, aber, liebe Frau Staatssekretärin, das geht uns nicht weit genug. Ich glaube, wir sollten in den Beratungen die Zeit dafür nutzen, zu überlegen, ob es nicht noch weitere Verbesserungen in diesem Gesetzentwurf geben kann.
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Ich will gar nicht abheben auf die Frage der Steuerbelastung. Wir sind der Auffassung – Sie kennen unseren Vorschlag –, dass nicht entnommene Gewinne, also Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, höchstens mit 25 Prozent besteuert werden sollen, damit die notwendige Liquidität in den Unternehmen bleibt, um Innovationen zu ermöglichen und Investitionen durchzuführen. Darüber werden wir gerne mit Ihnen diskutieren. Aber die Diskussionsbereitschaft, lieber Herr Kollege Daldrup, in diesem Punkt ist bei Ihnen ja nicht sehr ausgeprägt.
Also werden wir uns um die Punkte kümmern müssen, die Sie uns jetzt netterweise über den Finanzminister vorgelegt haben.
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Da geht es um die rechtsformneutrale Besteuerung, ein wichtiges Instrument, weil ein Großteil der Unternehmen in Deutschland als Personengesellschaften organisiert sind. Aber der Gesetzentwurf schafft nur Regelungen für Personenhandelsgesellschaften, also Einzelunternehmen; Gesellschaften bürgerlichen Rechts sind derzeit außen vor. Darüber werden wir uns unterhalten müssen.
Das Thema des sogenannten Sonderbetriebsvermögens – das ist nicht das, was im Gesamtvermögen ist, also was nicht im zivilrechtlichen Eigentum der Personenhandelsgesellschaft ist – ist ein Problem, weil es mit eingebracht werden müsste oder stille Reserven aufgedeckt werden müssen. Wir haben da also noch einige Punkte.
Aber, wie gesagt, das Optionsmodell ist eine Möglichkeit. Bei der letzten großen Unternehmensteuerreform, die übrigens auch schon zwölf Jahre zurückliegt, haben wir die sogenannte Thesaurierungsbegünstigung eingeführt: dass eine Personengesellschaft nicht entnommene Gewinne begünstigt besteuern kann. Immerhin 0,09 Prozent der Personengesellschaften nehmen diese Regelung in Anspruch. Das sollte doch für uns als Gesetzgeber ein Indiz dafür sein, dass es hier Reformbedarf gibt. Wir glauben, dass es richtig ist, beides zu tun: ein vernünftiges Optionsmodell für die Personengesellschaften zu gestalten, aber auch die Thesaurierungsbegünstigung zu verbessern. Ich wäre froh, wenn wir hier eine gewisse Bereitschaft, die ich bei den Bundesländern in Teilen sehe, auch bei der SPD-Fraktion noch hervorrufen könnten.
Wir werden dann noch das ATAD-Umsetzungsgesetz – wie gesagt: in der Nachspielzeit – besprechen, diskutieren. Das ist keine reine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie, wie wir sie uns vorgestellt haben; da sind einige Dinge noch mit reingekommen. Das ist in einem Kompromiss in der Koalition so vereinbart worden; dazu stehen wir auch. Aber ich möchte nur den Hinweis geben: Mit der Niedrigbesteuerungsgrenze von 25 Prozent tun wir uns wirklich keinen Gefallen; darüber muss dringend geredet werden. Die ganze Fachwelt, also alle politischen Parteien – außer der SPD und Bundesfinanzminister Scholz –, sind sich da einig: Wir brauchen hier – gerade vor dem Hintergrund der Vorschläge der OECD zu Steuerkonzepten der zweiten Säule, also der Mindestbesteuerung – eine Herabsetzung.
Lieber Kollege, Sie befinden sich auch in der Nachspielzeit.
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Frau Präsidentin, Sie haben recht. Aber Sie wissen ja, dass es mittlerweile eine Nachspielzeit gibt; der vierte Offizielle kann Nachspielzeit anordnen. – Das will ich aber nicht nutzen.
Aber wir haben viel Beratungsbedarf. Ich freue mich auf die Beratung; ein bisschen mehr wäre gut.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Güntzler. – Die Kolleginnen und Kollegen Hessel, De Masi, Paus und Binding geben ihre Reden zu Protokoll
Wir hören zum Abschluss der Debatte Sebastian Brehm von der CDU/CSU-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was gibt es Schöneres, als zu dieser späten Nachtzeit über die stille Erotik des deutschen Steuerrechts zu sprechen?
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Wir bringen heute zwei wichtige Gesetze in das parlamentarische Verfahren; mein Kollege Fritz Güntzler hat das ja auch ausgeführt. Wir haben diese beiden Themen in dem Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion, das wir im November 2019 einstimmig beschlossen haben, auf den Weg gebracht, nämlich erstens Schaffung einer rechtsformneutralen Besteuerung mit Einführung eines Optionsmodells und zweitens Reform des Außensteuerrechts.
Beides geben wir heute in Auftrag, wobei wir in beiden Gesetzen noch einiges nachbessern müssen. Wir gehen beim Gesetz zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts einen Schritt zur international wettbewerbsfähigen Besteuerung.
Während Kapitalgesellschaften für thesaurierte Gewinne – die sind ja bei Kapitalgesellschaften immer thesauriert, wenn sie nicht entnommen werden – 32 Prozent Ertragsteuer zahlen, also Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer –, werden Gewinne bei Personengesellschaften mit bis zu 47 Prozent besteuert.
Mit dem neuen Optionsmodell schaffen wir die Möglichkeit, dass Personenhandelsgesellschaften künftig wählen, ob sie lieber nach körperschaftsteuerlichem Recht besteuert werden. Leider gilt das nicht für Einzelunternehmer, es gilt auch nicht für Personengesellschaften.
Ich glaube, da müssen wir noch mal nachdiskutieren, ob wir hier Möglichkeiten schaffen. Es macht nämlich nicht für alle Personengesellschaften oder Personenhandelsgesellschaften überhaupt Sinn, von der Option Gebrauch zu machen, aus unterschiedlichen Gründen. Diesen bleibt dann nur die begünstigte Thesaurierungsbesteuerung, die ja, wie ausgeführt, nur ganz wenige in Anspruch nehmen, weil sie viel zu kompliziert ist, weil die Regelungen viel zu starr sind.
Deswegen müssen wir in der Diskussion zu diesem Gesetz auch den § 34a EStG, also die begünstigte Thesaurierung für Personengesellschaften, mit regeln, weil es eigentlich keinen Sinn macht, nur einen Punkt herauszunehmen. Wenn, dann muss man in den Gesetzgebungsverfahren beide Paragrafen berücksichtigen.
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Zudem gibt es noch Probleme, zum Beispiel mit Behaltensfristen. Es wird ja eine Umwandlung fingiert mit Behaltensfristen; da haben wir einen fiktiven Formwechsel. In diesem Zusammenhang gibt es besondere Regelungen – der Kollege Güntzler hat es angesprochen – mit dem sogenannten steuerlichen Sonderbetriebsvermögen. Hier brauchen wir bessere Regelungen als bisher, weil da nämlich die Gefahr einer ungerechtfertigten Besteuerung stiller Reserven besteht, zum Beispiel, wenn ein Gesellschafter verstirbt und es wieder zwangsrückentnommen werden muss. Also, diese Fragen müssen wir klären.
In dem zweiten Gesetz, Anti-Steuervermeidungsrichtlinie, ATAD-Umsetzungsgesetz, setzen wir zahlreiche Änderungen um. Das gemeinsame Ziel – die Frau Staatssekretärin hat es gesagt – ist, die länderübergreifenden Steuervermeidungspraktiken zu verhindern und zu bekämpfen. Wir haben in Deutschland schon sehr viele Standards umgesetzt; aber es besteht eben noch ein Anpassungsbedarf.
Aus unserer Sicht aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses Gesetz so noch nicht zustimmungsfähig. Wir haben zwei wesentliche Fragestellungen, die wir noch diskutieren müssen:
Erstens: der Mindeststeuersatz. Mit der Einführung des Außensteuerrechts 1972 hat man gesagt: Man nimmt die Hälfte des damaligen Körperschaftsteuersatzes in Deutschland als Mindeststeuersatz, also 25 Prozent; wir hatten damals einen Körperschaftsteuersatz von 52 Prozent.
Seit 1972 ist dieser Satz nicht angepasst worden. In der Zwischenzeit haben aber alle Länder um uns herum die Steuern gesenkt. Wir haben 15 Prozent Körperschaftsteuersatz: Also wäre es eigentlich folgerichtig, die Niedrigbesteuerungsgrenze bei 7,5 Prozent bis, sage ich mal, maximal 15 Prozent zu ziehen. Ansonsten kommt es nämlich, lieber Herr Kollege Daldrup, zu Doppelbesteuerungen von deutschen Unternehmen
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und zu einem klaren Wettbewerbsnachteil deutscher Unternehmen im internationalen Vergleich.
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Der zweite Knackpunkt ist die Wegzugsbesteuerung. Bei der Wegzugsbesteuerung – es zieht also ein Gesellschafter in ein anderes Land, und damit werden Steuerfolgen ausgelöst – führen auch kurzfristige Wegzüge, also für zwei oder drei Jahre, zum Beispiel zum Studium – es können ja auch Gesellschafterkinder schon beteiligt sein –, zu einer ungerechtfertigten Besteuerung. Deswegen muss man die Wegzugsbesteuerung noch mal angehen.
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Diese beiden Punkte wollen wir noch mal miteinander besprechen.
Wir haben also viel zu tun. Ich freue mich auf eine gute Diskussion im Finanzausschuss. Vielleicht schaffen wir es ja, um in der Fußballersprache des Kollegen Güntzler zu bleiben, im Elfmeterschießen sozusagen die Punkte, die wir noch miteinander zu besprechen haben, durchzusetzen. Ich denke, die Punkte werden auch in der Anhörung noch einmal maßgeblich diskutiert werden.
Ich danke herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Wir danken auch; wir haben etwas Aphrodisierendes gespürt hier oben im Präsidium.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit unserem Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, das Anfang dieses Monats in Kraft getreten ist, bereits ein starkes Zeichen gegen Hass und Hetze im Netz gesetzt. Menschen, die sich gesellschaftlich und politisch engagieren, werden durch dieses Gesetz besser vor öffentlicher Beleidigung und Bedrohung geschützt.
Damit ist es aber nicht getan. Der Schutz unserer Demokratie ist eine fortwährende Aufgabe und Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Deshalb müssen wir auch subtile Botschaften in den Blick nehmen, die den Eindruck vermitteln wollen, dass Personen, die sich politisch oder gesellschaftlich engagieren, schutzlos seien und Opfer von Straftaten werden können, Botschaften, die darin bestehen, dass in einer feindseligen Auseinandersetzung personenbezogene Daten vermeintlicher Gegner verbreitet werden, wie etwa Wohnadressen, Namen der Kinder und ihrer Kindergärten oder Schulen, Botschaften, die gewaltbereite Täter als Aufforderung zu Straftaten auffassen können, Botschaften, die ein Klima der Angst und der Einschüchterung schüren, nicht nur bei den Betroffenen, sondern allgemein in der Bevölkerung, Botschaften also, die letztlich dazu führen, dass sich engagierte Personen aus dem politischen und gesellschaftlichen Diskurs zurückziehen – und das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren.
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Mit dem Gesetzentwurf gegen sogenannte Feindeslisten, den wir heute beraten, gehen wir klar und entschieden gegen solche Handlungsweisen vor. Wir schließen damit nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücken. Die bestehenden Strafvorschriften erfassen das Phänomen sogenannter Feindeslisten nicht oder nur teilweise. Meist fehlt es an einer konkreten Bedrohung, einem Inaussichtstellen oder der Billigung einer konkreten Straftat, an einer Aufforderung an Dritte zu einem bestimmten Verhalten. Auch die datenschutzrechtlichen Regelungen greifen nicht, wenn frei recherchierbare Daten verbreitet werden.
Mit einem neuen Straftatbestand, meine Damen und Herren, stellen wir also das Verbreiten personenbezogener Daten unter Strafe, das nach den Umständen geeignet ist, die betroffenen Personen der Gefahr bestimmter Straftaten gegen sie oder ihnen nahestehende Personen auszusetzen. Wir schützen damit den öffentlichen Frieden in unserem Land und leisten einen wichtigen Beitrag für das Sicherheitsgefühl unserer Bevölkerung.
Letztlich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, schützen wir aber auch unsere Demokratie; denn sie lebt von einem offenen und freien Diskurs. Hierzu gehört auch, dass journalistische Berichterstattung, die Personen namentlich nennt, sowie Recherchearbeiten von Vereinen, die der Aufdeckung extremistischer Strukturen dienen, weiter uneingeschränkt möglich sein müssen. Es darf uns nicht ruhen lassen, dass im aktuellen Bericht von „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage der Pressefreiheit Deutschland von „gut“ auf nur noch „zufriedenstellend“ abgerutscht ist, meine Damen und Herren. Das muss uns anspornen, hier entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Genau das tun wir mit diesem Gesetz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam gegen diejenigen vorgehen, die sich die Einschüchterung und Verängstigung einer vielfältigen und engagierten Gesellschaft zum Ziel gesetzt haben. Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung stellen wir uns zugleich an die Seite derjenigen, die sich für unser offenes, freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen einsetzen. Ich bitte Sie herzlich um Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, sehr geehrter Herr Staatssekretär. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion, mit dem Kollegen Jens Maier.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der hier vorliegende Gesetzentwurf gleicht einem Kniefall vor der Antifa. Er ist an ideologisch motivierter Einseitigkeit kaum noch zu überbieten und lässt die wirklich und hauptsächlich Betroffenen von sogenannten Feindeslisten und politisch motivierten Straftaten im Regen stehen.
Er kann von gewaltaffinen Antifa-Gruppen sogar als Ermutigung aufgefasst werden, gerade so weiterzumachen; denn sie haben strafrechtlich ja nichts zu befürchten; es trifft ja nur die anderen, sie selbst aber nicht. Vor allem aber bleibt durch den Gesetzentwurf die gesamte, mit öffentlichen Geldern geförderte Spitzel- und Denunziationsinfrastruktur der Antifa unangetastet.
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Gleichwohl erscheint der Entwurf des neuen § 126a StGB auf den ersten Blick als völlig eindeutig und klar. Der Pferdefuß springt nicht gleich ins Auge. Denn wer würde schon in Abrede stellen wollen, dass es richtig und leider auch dringend geboten ist, Personen davor zu schützen, durch Diffamierungskampagnen in die Gefahr gebracht zu werden, Opfer von politisch motivierten Straftaten zu werden? Wenn da nicht in Absatz 3 des Entwurfs ganz unauffällig eine Verweisung eingefügt wäre: Sie lautet: „§ 86 Absatz 3 gilt entsprechend“. § 86 Absatz 3 lautet:
Absatz 1 gilt nicht, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.
Auf diesen Ausnahmetatbestand werden sich alle mit öffentlichen Geldern gemästeten Vereine, die die Schnittstelle zu gewalttätigen Antifa-Gruppen bilden, berufen. Dies ist deshalb möglich, weil der Linksextremismus hoffähig gemacht und verharmlost wird und weil pausenlos über die linke Propaganda das Narrativ verbreitet wird, der Rechtsextremismus sei die wirkliche, quasi die einzige Gefahr.
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Wie sieht aber die Wirklichkeit aus? Hier mal das Bild eines Outings: „!VORSICHT NEONAZI!“
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Dieser Mann wurde praktisch zum Abschuss freigegeben.
Das rheinland-pfälzische Ministerium des Innern und für Sport hat zu diesem Problembereich eine Stellungnahme veröffentlicht – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin –:
Eine bedeutsame Rolle … hat für Linksextremisten die „Antifaschistische Recherchearbeit“. In sogenannten Outing-Aktionen werden systematisch Informationen über vermeintliche und tatsächliche Rechtsextremisten sowie deren Strukturen gesammelt und öffentlich gemacht, um die als Feinde betrachteten Personen zu denunzieren. Dabei werden zum Teil persönliche Daten wie die Wohnadresse und der Arbeitgeber im Internet publiziert, um die betroffenen Personen sozial auszugrenzen und zu ächten.
Obwohl die AfD-Fraktion in einer Kleinen Anfrage unmittelbar aufgezeigt hat, in welcher massenhaften Art und Weise AfD-Mitglieder auf einschlägigen Antifa-Webseiten öffentlich de facto zum Freiwild gemacht werden, behauptet die Bundesregierung auf Nachfrage:
Der polizeilich bekannte Umfang der in Rede stehenden Aktivitäten lässt eine Einordnung als Massenphänomen nicht zu.
Dass so was ungeniert behauptet werden kann, ist eigentlich ein Skandal und zeigt, wie sehr die linke Denke alle Bereiche des öffentlichen Lebens in Deutschland durchdrungen hat.
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Wir sind mittlerweile zum Linksstaat heruntergekommen.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Ja, das Anliegen des Gesetzentwurfes ist richtig und zu begrüßen. Aber die Privilegierung der Antifa muss unbedingt gestrichen werden. Das wird im Rechtsausschuss noch zu diskutieren sein.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Die Kolleginnen und Kollegen Martens, Movassat, Bayram, Fechner und Lehrieder geben ihre Reden zu Protokoll.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der größte Teil der Straftatbestände des Strafgesetzbuches stammt noch aus dem 19. Jahrhundert; Tötungsdelikte, Diebstähle und Körperverletzungen gab es irgendwie schon immer.
Der Wandel der Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen, und der Lebensumstände bringt aber neue strafwürdige Verhaltensformen hervor. Hierzu zählen ohne Zweifel auch Nachstellungen, die seit 2007 als solche unter Strafe gestellt sind. Nachstellungen – wir nennen es auch Stalking – sind für Betroffene oft schrecklicher Psychoterror. Stalkerinnen und Stalker verfolgen, belästigen und bedrohen Menschen oft Tag und Nacht und das über lange Zeit; die Übergriffe reichen bis hin zu körperlicher und sexueller Gewalt. Betroffen sind hiervon in der Regel Frauen. Aber auch geschlechterübergreifend liegt das Risiko, einmal Opfer eines Stalkers zu werden, bei über 10 Prozent.
Vor Kurzem wurde vor dem Landgericht Hannover ein entsetzlicher Fall verhandelt: Nach jahrelangem Stalking drang der Täter in die Wohnung seines Opfers ein und ermordete es. Das Opfer war eine junge Frau, gerade einmal 23 Jahre alt. – Meine Damen und Herren, solche Fälle dürfen sich nicht wiederholen. Stalkerinnen und Stalkern muss früh und engagiert die Rote Karte gezeigt werden, um noch schlimmere Taten zu verhindern.
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Wir haben, meine Damen und Herren, den Nachstellungsparagrafen erst vor vier Jahren geändert. Die von uns durchgeführte Evaluierung der damaligen Reform hat aber gezeigt, dass nach wie vor Probleme bei der Anwendung der Vorschrift bestehen. Tatsächlich gibt es Verhaltensweisen, die einerseits strafwürdiges Unrecht beinhalten und die Lebensführung der Betroffenen unzumutbar beeinträchtigen, andererseits aber nicht vom Gesetz erfasst sind. Deswegen sind erneut Anpassungen erforderlich.
Wir wollen sachlich nicht berechtigte Strafbarkeitshürden absenken und damit die Betroffenen besser schützen. Neben den allgemeinen Verschärfungen wollen wir den Fokus aber auch stärker auf das Cyberstalking richten. Stalking-Täterinnen und -Täter nutzen geschickt den technischen Wandel, um ihren Opfern auf perfide Weise nachzustellen. So ermöglichen Stalking-Apps und Hacking-Tools, die Betroffenen digital auszuspähen. Täterinnen und Täter legen Fake-Profile unter dem Namen der Betroffenen an, um ihnen zu schaden. Nicht selten werden dabei auch intime Bilder der Betroffenen veröffentlicht. Das sind drastische Eingriffe mit oft verheerenden Folgen. Dem gilt es einen Riegel vorzuschieben.
Anpassungsbedarf sehen wir auch bei einem weiteren Aspekt: Bislang sind die Möglichkeiten, besonders schwere Fälle von Stalking angemessen zu ahnden, sehr begrenzt. Jemand, der etwa besonders lange und besonders intensiv nachstellt, muss aber auch besonders hart bestraft werden können. Und wenn eine Stalkerin oder ein Stalker Daten des Opfers nicht nur illegal erlangt, sondern sie auch noch veröffentlicht, dann muss auch das besonders hart bestraft werden. Deswegen halten wir eine Regelung für nötig, die es erlaubt, schwerwiegende Nachstellungsfälle künftig besonders zu ahnden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam den Kampf gegen Stalking weiterführen. Lassen Sie uns ein deutliches Signal senden, dass wir Opfer von Nachstellungen nicht alleinlassen. Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir genau das angehen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion, mit dem Kollegen Thomas Seitz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Netzpolitik der Regierung lehnen wir grundsätzlich ab; das wissen Sie. Digitalisierung verschlafen, Meinungen verbieten, Kritiker verfolgen, Freiheit und Grundrechte entziehen – das ist die Netzpolitik der Regierung und dagegen kämpft die AfD.
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Aber wenn selbst Sie das Stalking im Netz endlich als Gefahr und Problem erkennen, ist das ein Zeichen der Besserung und lässt hoffen, für die Opfer. Wir sind zwar Ihr politischer Gegner, aber wir stimmen im Interesse der Opfer von Nachstellungen und Stalking aller Art, auch im Netz, und auch im Interesse aller Bürger ab. Wir lehnen keine sinnvolle Regelung ab, nur weil sie von der „falschen“ Seite kommt; deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Die Kolleginnen und Kollegen Martens, Akbulut, Bayram, Dilcher, Alexander Hoffmann und Ingmar Jung geben ihre Reden zu Protokoll
Ich schließe mit einem großen Dankeschön diese Aussprache.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde die Redezeit, die ich hier gerade angezeigt bekomme, nicht ausschöpfen, zum ersten Mal in meinem Leben.
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– Ich werde trotzdem nicht Mitglied der FDP-Fraktion, trotz großer Sympathie für einzelne Mitglieder derselbigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Gesetzgebung sollten wir, denke ich, insbesondere bestimmten Menschen widmen: Das sind die Opfer des NS,
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die ihre Staatsangehörigkeit aus unterschiedlichen Gründen verloren haben; das sind deren Nachkommen, um die es geht; und das sind ganz besonders diejenigen, die – zum Beispiel in der Initiative „Article 116 Exclusions Group“, aber auch Nick Courtman und andere – mit großer Sorgfalt, Sachlichkeit, aber auch Intensität dafür gesorgt haben, dass es zu dieser Gesetzgebung kommen wird. Das ist nicht primär unsere Leistung, sondern das ist ihre Leistung, und dafür verdienen sie höchsten Respekt.
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Sie haben das auch damals, vor gut anderthalb Jahren, in einer Anhörung sehr beeindruckend demonstriert, nicht mit Schaum vorm Mund, sondern mit einer erstaunlichen Weise von Demut.
Das ist auch eines der Stichworte, auf die ich mich konzentrieren möchte. Die Stichworte lauten Scham, Stolz – aber nicht auf uns, sondern auf diese Personen –, Demut und Konsequenz.
Scham ist deswegen angebracht, weil es so lange gebraucht hat, bis wir diesen Weg jetzt einschlagen werden.
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Es ist nicht nachvollziehbar, dass es über viele Jahrzehnte aufgrund administrativer Beschränkungen, aber auch aufgrund fehlender gesetzlicher Möglichkeiten so vielen nicht möglich war, die Staatsangehörigkeit, die sie wünschten, wiederzuerlangen. Es geht, wie man es so gerne bezeichnet, um einen Akt der Wiedergutmachung. Aber auch dieses Wort ist schönfärberisch; denn nichts kann das, was diesen Personen, ihren Eltern, ihren Großeltern widerfahren ist, wiedergutmachen – es ist höchstens die Annäherung an so etwas wie Versöhnung.
Es gibt den Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz, der insbesondere diejenigen erfasst, die die Nachkommen sind von denjenigen, denen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Aber ganz viele waren über Jahrzehnte nicht erfasst: diejenigen, die die Staatsangehörigkeit verloren haben, zum Beispiel durch Zwangsmigration, durch Heirat; diejenigen, die sie durch den Unrechtsstaat gar nicht erlangen konnten; diejenigen, die als jüdische Bürgerinnen und Bürger in den annektierten Gebieten lebten; und zum Beispiel diejenigen, die Benachteiligte einer jahrzehntelang anhaltenden geschlechterdiskriminierenden Staatsangehörigkeitspraxis hier in Deutschland waren. All diejenigen haben auf diesen Moment jetzt gewartet.
Seit einiger Zeit haben zwei Erlasse für Besserung gesorgt – auch für diese Personengruppe –, aber sie haben immer noch nicht alle erfasst, und sie haben auch nicht Rechtssicherheit geschaffen. Deshalb ist jetzt tatsächlich der Moment, Scham auszudrücken, für die Taten, auch dafür, dass wir so lange gebraucht haben.
Wir wollen aber auch unseren Stolz ausdrücken, mit welcher Haltung die Nachkommen sich jetzt zeigen und auftreten. Es ist ein Moment, stolz zu sein auf diese Menschen, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes werden wollen. Das muss man sich einmal vorstellen: Nach dem, was ihren Eltern und Großeltern und Urgroßeltern angetan wurde, wollen sie sich für die deutsche Staatsangehörigkeit entscheiden. – Ich glaube, wir haben alles zu tun, um das zu ermöglichen.
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– Ja, das verdient Applaus.
Wir strengen uns oft an, restriktiv zu sein und zu beschränken, allzu sehr, finde ich. In diesem Moment ist es aber geboten, das Gegenteil zu praktizieren und wirklich alle Wege zu suchen, um all denjenigen, allen möglichen Einzelfällen in diesem Zusammenhang, die deutsche Staatsangehörigkeit zu ermöglichen.
Daher ist es auch ein Moment der Demut; denn wir können zutiefst dankbar sein, dass diese Geste der Versöhnung von Nick Courtman und anderen ausgeht. Das ist nicht etwas, was wir uns verdient haben, sondern das ist ein Entgegenkommen derer, die gelitten haben unter dem NS-Staat, unter dem, was in deutschem Namen getan wurde, sowie ihrer Nachkommen.
Als Letztes das Stichwort „Konsequenz“. Konsequent wäre es gewesen, nach dem Dritten Reich direkt im Staatsangehörigkeitsrecht dafür zu sorgen, dass all diese Verletzungen zumindest annähernd geheilt werden. Das ist uns nicht gelungen. Viele, über die wir jetzt sprechen, mussten erleben, wie sie dann wieder, in Behörden, denjenigen begegneten, die ihre Eltern oder Großeltern misshandelt, gequält und verfolgt hatten; auch das ist ein Teil der Geschichte. Konsequenz bedeutet jetzt, dass wir endlich konsequent sind und die Schlussfolgerungen aus den Erlassen ziehen und das, was wir damals ankündigten, zur Wirklichkeit machen, dass wir dieses Gesetzgebungsverfahren im Sinne der Betroffenen umfassend und erfolgreich beenden.
Wir verneigen uns vor all denjenigen, die um die deutsche Staatsangehörigkeit so lange gekämpft haben und uns auf diesen Weg brachten. Vielen Dank, Nick Courtman, vielen Dank für euer Engagement!
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Vielen Dank, Kollege Lindh.
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- 1 Minute und 40 Sekunden hat er uns geschenkt.
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Das Wort geht an die AfD-Fraktion, mit Dr. Gottfried Curio.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt, in tiefer Nacht, weitet der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung die Wege zur deutschen Staatsbürgerschaft erheblich aus. In eine gut gemeinte Wiedergutmachungsregelung wurden nebenbei etliche Kuckuckseier allgemeinster Gesetzesaufweichung abgelegt.
Generell muss, wer nach acht Jahren eingebürgert werden will, unter anderem eine Sprachprüfung und einen Einbürgerungstest bestehen. Schon dieser Test ist übrigens ein Witz. Eine Frage lautet: „Wie heißt die deutsche Verfassung?“ „Volksgesetz“, „Bundesgesetz“, „Deutsches Gesetz“ oder „Grundgesetz“? Die nächste Frage aber lautet: „Was steht nicht im Grundgesetz von Deutschland?“ – Oder: „Wie viele Besatzungszonen gab es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg?“
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In einer anderen Frage liest man: Wie waren die vier Besatzungszonen Deutschlands verteilt? – Oder: „In welchem Jahr wurde Hitler Reichskanzler?“ Aber dann: Was errichteten die Nazis mit Hitler 1933 in Deutschland? – Oder: „Wer baute die Mauer in Berlin?“ Und dann: „Wann baute die DDR die Mauer …?“ – Und so geht das laufend weiter. Zum Vergleich: Bei der theoretischen Führerscheinprüfung ist man dann schon mit zwei falsch gesetzten Kreuzen durchgefallen. Beim Einbürgerungstest kann man 16 von 33 Fragen falsch beantworten.
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Die acht Jahre auf sieben abkürzen konnte man bislang durch Teilnahme an einem 100-stündigen Integrationskurs zu deutscher Rechtsordnung, Geschichte, Kultur.
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Bei Vorliegen besonderer Integrationsleistungen, etwa höhere Sprachkenntnisse, konnten es sechs Jahre sein. Nun winken die sieben oder gar sechs Jahre auch schon bei „besonders guten schulischen Leistungen“ oder „zivilgesellschaftlichem Engagement“. Nichts mehr mit 100 Stunden Kurs – darauf hatten wohl zu wenige Lust. „Zivilgesellschaftliches Engagement“, was ist denn das? Mit NGOs Fluchthilfe geleistet, gegen eine Abschiebung demonstriert, vielleicht gegen die eigene? Geht es noch schwammiger? – Und „besondere schulische Leistungen“, was wird das werden? Erfolgreich in der Trampolin-AG? Nicht sitzen bleiben? – Man spricht vergebens viel, um zu gewähren; der Bewerber hört aus allem nur das Ja.
Beim Deutschtest soll statt schriftlicher Sprachbeherrschung auf B1‑Niveau auch schon B1 beim Hören und Lesen reichen. Schreiben? Unnötig! Nachrichten hören reicht voll und ganz fürs spätere Ankreuzen in der Wahlkabine.
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Womöglich will man vom Neubürger ja auch gar nicht mehr. – Generalziel also: Einbürgerung so leicht wie möglich machen.
Geht’s nicht noch leichter? Ja. Zitat:
Ein Ausländer, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, kann … eingebürgert werden, wenn Bindungen an Deutschland bestehen, die eine Einbürgerung rechtfertigen.
Früher galt das nur für Lebenspartnerschaften, unter Vermeidung von Doppelstaatlichkeit, bei ausreichenden Sprachkenntnissen. All diese Voraussetzungen wurden abgeräumt,
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vom streng konditionierten Spezialfall zur schwammigen Generalöffnung.
Im deutschen Einbürgerungsamt ist Black-Friday-Schlussverkauf, aber ganzjährig.
Wem das noch nicht reicht, der liest im Wahlprogramm der Grünen, dass man Einbürgerung
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schon nach fünf Jahren Aufenthalt – rechtmäßig oder nicht – beanspruchen kann, übrigens selbst bei ungeklärter Identität.
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Dass selbst das noch getoppt werden könnte – kaum vorstellbar.
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Aber die FDP
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belehrt uns eines Schlechteren: Laut Wahlprogramm soll Einbürgerung nach drei Jahren Aufenthalt möglich sein.
Im Kampf um den Wähler, bietet da jemand weniger? Staatsbürgerschaft für Durchreisende? Deutsches Wahlrecht für alle Europäer?
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Vielleicht noch Quoten für Klimaflüchtlinge?
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Sehen wir bald, wie Kanzlerin Baerbock ihren Innenminister Laschet am Nasenring durch die Manege zieht? Die Geister, die man rief, wird man dann nicht mehr los. So ist das.
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Halten wir fest: Einwanderung ist kein Menschenrecht. Einbürgerung ist kein Menschenrecht. Bedingungen für Einwanderung und Einbürgerung
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sind keine Diskriminierung oder gar Angriffe auf die Menschenwürde. – Klingt selbstverständlich? Warten Sie mal die grün-schwarze Liebesheirat ab. Da werden Ihre kühnsten Albträume übertroffen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, mit Filiz Polat.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Jahrzehnten der Unsicherheit sollen nun alle Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus endlich die ihnen zustehenden Rechte erhalten. Verfolgte, wie Jüdinnen, Juden, Sinti*zze und Rom*nja und viele andere, wurden mit dem Entzug ihrer Staatsangehörigkeit rechtlich zu anderen gemacht, zu Fremden, zu Staatenlosen.
Die Kehrtwende der Bundesregierung zum Ende dieser Legislaturperiode war dringend nötig und überfällig. Die grüne Bundestagsfraktion hat sich wiederholt – nicht nur in dieser Legislaturperiode – für einen gesetzlichen Anspruch eingesetzt und konkrete Vorschläge vorgelegt. Die Erfahrungen aus der bisherigen Einbürgerungspraxis nach Ermessen haben gezeigt, Herr Lindh, dass sich durch Verwaltungsvorschriften allein dieses Unrecht nicht beseitigen, die bestehende Gesetzeslücke nicht schließen lässt.
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Dieses Gesetz ist weder ein Gnadenakt noch ein Geschenk, sondern die Chance unserer Staatsorgane – und hier möchte ich aus einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde einer Klägerin aus dem letzten Jahr zur Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht zitieren –, „das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden ist, im Rahmen des Möglichen“ auszugleichen. Und dem kommt die Bundesregierung jetzt nach, meine Damen und Herren.
Umso größer ist die Entschuldigung voller Demut an all diejenigen, die über Jahrzehnte vergebens um ihre Rechte gekämpft haben. Und ich möchte meinen Dank, stellvertretend für meine Fraktion, ebenfalls an jede Einzelne und jeden Einzelnen aussprechen, die nicht aufgegeben haben, wie beispielsweise die Tochter eines jüdischen Emigranten, die aus eigener Kraft nach sieben Jahren das eben erwähnte Bundesverfassungsgerichtsurteil erstritten hat, oder die schon genannte Article 116 Exclusions Group, die sich mit unermüdlichem Einsatz – Sie wissen das, Herr Krings – für diese Gesetzesänderung eingesetzt hat.
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Meine Damen und Herren, die Nachkommen von Zwangsausgebürgerten im Nationalsozialismus sollen ein starkes und klares Signal aus der Mitte des Deutschen Bundestages – so wie sie es sich bei der Anhörung gewünscht haben –, dieses Bekenntnis zur Wiedergutmachung erhalten. Deshalb freuen wir uns auf die Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Die Kollegin und die Kollegen Thomae, Jelpke und Kuffer geben ihre Reden zu Protokoll.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Doping schadet. Es schadet den Sportlerinnen und Sportlern, die sauber bleiben und es gegen unfaire Konkurrenz nicht auf das Treppchen schaffen. Es schadet den Dopenden selbst, die sich vielleicht gedrängt fühlen, leistungssteigernde Mittel zu nehmen, und dadurch ihre Gesundheit gefährden. Und es schadet dem Sport als Ganzes, der durch Dopingskandale für Zuschauerinnen und Zuschauer an Reiz verliert – und wir schauen einfach nicht mehr hin.
Das Anti-Doping-Gesetz war bereits ein deutliches Zeichen des Rechtsstaats für einen sauberen und fairen Sport. Aber wir müssen auch kontinuierlich prüfen, was noch verbessert werden kann. Deshalb haben wir die Auswirkungen der im Anti-Doping-Gesetz enthaltenen straf- und strafverfahrensrechtlichen Regelungen im vergangenen Jahr evaluiert. Die Evaluierung bestätigte, dass es richtig war, die Regelungen zur Dopingbekämpfung im Anti-Doping-Gesetz zusammenzuführen und zu erweitern. Es zeigte sich aber auch, wie schwierig es ist, die Dopingstrukturen im Bereich des Leistungssports aufzudecken.
Insgesamt gibt es zu wenige Verfahren im Bereich des Profisports. Das könnte daran liegen, dass zu wenige Informationen aus der Szene den Ermittlungsbehörden bekannt werden. Zu diesem Ergebnis kam auch die Evaluierung: Die Sachverständigen stellten fest, dass die Ermittlungsbehörden die nötigen Hinweise auf Dopingverstöße zu etwa 65 Prozent von der Nationalen Anti Doping Agentur und zu 25 Prozent aus anderen Strafverfahren erhielten. Aus dem Spitzensport selbst, also insbesondere von den Sportlerinnen und Sportlern oder ihrem Umfeld, gab es praktisch kaum Hinweise.
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Das geltende Recht bietet zwar über die allgemeine Kronzeugenregelung und die Regelungen zur Strafzumessung und Verfahrenseinstellung bereits Anreize, Informationen an die Ermittlungsbehörden weiterzugeben; diese allgemeinen Regelungen scheinen aber nicht auszureichen. Der Grund hierfür wird vor allem darin gesehen, dass das bestehende Anreizsystem von den Betroffenen nicht hinreichend wahrgenommen wird.
Deshalb empfahl der Evaluierungsbericht, in Anlehnung an das Betäubungsmittelgesetz eine zusätzliche bereichsspezifische Kronzeugenregelung im Anti-Doping-Gesetz einzuführen. Für Täterinnen und Täter sollten deutlichere Anreize geschaffen werden, ihr Wissen mit den Ermittlungsbehörden zu teilen, damit diese die bestehenden kriminellen Strukturen aufbrechen können.
Wir haben daher die Empfehlungen aus dem Evaluierungsbericht aufgegriffen und den entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, den wir heute beraten. Insider sollen dadurch ermutigt werden, mit ihrem Wissen Doping im Sport offenzulegen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Unterstützung – für einen fairen Sport.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Das Wort geht an die AfD-Fraktion, mit dem Kollegen Jörn König.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen – es sind keine mehr da –
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und an den Bildschirmen! Um diese Uhrzeit bräuchte man vielleicht leistungssteigernde Mittel, aber die wollen wir nicht.
Wie Herr Lange schon sagte: Nach fünf Jahren – so war es Beschlusslage – sollte das Anti-Doping-Gesetz überprüft werden. – Das ist geschehen. Vielen Dank an alle Sachverständigen und an alle Kollegen im Sportausschuss. Das Ergebnis war, dass das vorhandene Anti-Doping-Gesetz ein wichtiger Schritt war, dem jetzt aber Nachbesserungen aus den Erkenntnissen der Evaluierung folgen müssen.
Zu den positiven Seiten:
Erstens. Mit dem Gesetz wurde Doping ein Straftatbestand.
Zweitens. Die Staatsanwaltschaften erhielten Ermittlungsmöglichkeiten, die Sportverbände halt nicht haben.
Zu den Seiten, wo noch Potenzial ist: Der Großteil der Verfahren wurde eingestellt. Hauptgründe dafür waren unter anderem, dass die Strafverfolgungsbehörden, erstens, nur selten belastbare Informationen erhielten, zweitens die zu engen tatbestandlichen Voraussetzungen, sprich: Einschränkungen und Ausnahmeregeln.
Was kann man tun? Schon beim ersten Anti-Doping-Gesetz wurde die Aufnahme einer Kronzeugenregelung diskutiert. Diese soll jetzt mit der Gesetzesänderung kommen, da klar geworden ist, dass die allgemeine Regelung aus dem Strafgesetzbuch für den Bereich der Dopingstrafbarkeit nicht ausreicht. Wir stimmen dem ausdrücklich zu. Aber dies ist nach der Gesetzesvorlage leider der einzige Punkt, um den das Anti-Doping-Gesetz ergänzt werden soll. Und das reicht nicht.
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Die Wissenschaftler, die die Evaluierung vorgenommen haben, warnen ausdrücklich davor, die Einführung einer Kronzeugenregelung als einen Gamechanger oder gar als ein allein maßgebliches Instrument zu betrachten. Der wesentlichste Grund für die Kritik an den zu engen tatbestandlichen Voraussetzungen ist der § 4 Absatz 7 des Anti-Doping-Gesetzes. Eine positive Dopingprobe reicht danach für die Strafbarkeit nicht aus. Zum einen fordert das aktuelle Gesetz, dass der beschuldigte Sportler „Einnahmen von erheblichem Umfang“ – ein unbestimmter Rechtsbegriff – aus dem Sport erzielt haben muss. Die zweite Einschränkung ist, dass das Gesetz nur für Sportler gilt, die bereits einem Testpool angehören, also einen bestimmten Kaderstatus haben. Das führt in der Folge dazu, dass in ein und demselben Wettkampf Sportler starten können, für die dieses Gesetz dann gilt, während es für andere – in demselben Wettkampf – aber nicht gilt. Das ist völlig sinnfrei. Diese Regelung muss weg.
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Ein weiterer Punkt ist eine klarere Regelung zum Begriff „Fahrlässigkeit“. Die Wissenschaftler plädieren für eine Eliminierung der Fahrlässigkeitsstraftatbestände. In der Sportgerichtsbarkeit ist jeder Sportler zu 100 Prozent für das verantwortlich, was sich in seinem Körper befindet. In Bezug auf den strafrechtlichen Bereich, um den es hier geht, sagten viele Richter, dass das Gegenteil von Fahrlässigkeit, also Vorsatz, oft nicht nachzuweisen sei.
Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf ist gut, aber nicht gut genug. Uns fehlen drei Punkte: erstens § 4 Absatz 7 des Anti-Doping-Gesetzes ersatzlos streichen, zweitens den Begriff der Fahrlässigkeit in diesem Fall besser definieren; drittens plädieren wir neben der Kronzeugenregelung auch für einen besseren Schutz von Whistleblowern. Noch ein weiterer Punkt – aber hier sind die Bundesländer gefragt –: Es gibt bereits Antidoping-Schwerpunktstaatsanwaltschaften in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz; solche Staatsanwaltschaften sollte es in allen Bundesländern geben.
Wir freuen uns auf die Beratungen im Ausschuss. Aus unserer Sicht gibt es eine einmalige Chance für ein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Sports im Antidopingkampf. Nutzen wir diese Chance gemeinsam.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Die Kolleginnen und Kollegen Dassler, André Hahn, Lazar, Auernhammer und Florian Post geben ihre Reden zu Protokoll.
Ich schließe damit die Aussprache.