Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/21/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Egal wie man zur Pandemie steht, kann man, glaube ich, eines sagen: Alle Kolleginnen und Kollegen haben in den letzten 13 Monaten viel Zeit verbracht mit Einzelhändlern, mit Gastronomen, mit Familien, die verzweifelt waren, weil sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken konnten, und mit vielen anderen, die von der Pandemie betroffen sind. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mich bringt das manchmal um den Schlaf. Aber wenn ich nachts wach werde, dann denke ich nicht an Einzelhändler oder Gastronomen, sondern an die Menschen, die krank geworden sind, und an die Menschen, die sterben. Ich bin dem Bundespräsidenten sehr dankbar dafür, dass er diesen Menschen letzten Sonntag ein Gesicht gegeben hat. ({0}) Ich bin auch den Medien sehr dankbar, dass sie das mit vielen sehr berührenden Geschichten unterstützt haben und dass sie mal gezeigt haben, wie es ist, wenn man unter Long Covid leidet, welche Einschränkungen das mit sich bringt, und dass man Enkelkinder interviewt hat, die ihre Großeltern verloren haben – ja, auch alte Menschen sind wertvoll; das ist wertvolles Leben –: Das ist Verlust, das ist Leere, das ist Trauer. Für junge Menschen gilt das natürlich genauso. Meine Damen und Herren, wir diskutieren hier sehr viel über das Grundgesetz. Das ist richtig so; das ist auch überhaupt nicht zu kritisieren. Aber dieses Grundgesetz enthält Artikel 2 Absatz 2, und darin steht: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ ({1}) Es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete des höchsten Verfassungsorgans, dieses Leben zu schützen, Leben und Gesundheit zu schützen. Das ist mein Anspruch an Politik, und das ist der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. ({2}) Leben und Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind gefährdet. Das hat uns nicht nur Professor Marx von der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gesagt. Auch viele andere haben gesagt: Ihr müsst jetzt handeln! – Wir sind in einer Situation, wo nicht nur die Intensivmedizin überlastet ist, wo das gesamte Gesundheitssystem überlastet ist. Wir sind in einer Situation, wo zu viele Menschen krank werden und wo zu viele Menschen sterben. Deswegen ist es notwendig, dass wir hier und heute handeln. ({3}) Ich sage ganz bewusst „wir“, weil wir als Deutscher Bundestag gefragt sind. An diesem Rednerpult haben Dutzende von Rednerinnen und Rednern gestanden, die gesagt haben: Der Deutsche Bundestag muss die Entscheidungen treffen, es darf nicht die Ministerpräsidentenkonferenz tun. Der Bundestagspräsident hat es uns ins Gebetbuch geschrieben. Auch Verfassungsrechtler haben das gesagt. Ich glaube, wir waren immer korrekt in der Vergangenheit. Aber jetzt ist die Zeit, dass der Deutsche Bundestag entscheidet. ({4}) Wer sagt, die Ministerpräsidentenkonferenz könne sich ja nicht einigen und tage ja auch zu lange, dem müssen wir zeigen: Wir sind in der Lage, uns zu einigen. Wir sind in der Lage, auch Kompromisse hinzubekommen. Wir als Unionsfraktion haben zusammen mit unserem Koalitionspartner diesen Gesetzentwurf im Laufe des Verfahrens noch mal geändert, um Brücken zu bauen für all diejenigen, die kritisch sind. Aber über diese Brücken muss man jetzt auch hinübergehen. Und über diese Brücken hinüberzugehen, heißt, Kompromisse zu schließen. Ich sage ganz ehrlich: Wenn ich das Gesetz allein hätte entwerfen können, dann wäre es härter und schärfer geworden. Aber es gebietet der Respekt vor der Mehrheitsbildung, dass man an der einen oder anderen Stelle den Kompromiss eingeht. Und Kompromisse sind kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke in der pluralen Demokratie. Ich kann nur jeden aufrufen, zu sagen: Es fällt mir vielleicht an der einen oder anderen Stelle schwer, zuzustimmen, aber dieses Gesetz ist es insgesamt wert, dass es heute durch den Deutschen Bundestag geht. Denn wenn wir heute keine Mehrheit kriegen, dann wird es kein Gesetz geben. Wenn es kein Gesetz geben wird, dann wird es keine Notstandsregelung geben, und wenn es keine Notstandsregelung geben wird, ({5}) dann werden Menschen krank werden, und dann werden Menschen sterben. Und dass die AfD bei diesem Satz klatscht, meine Damen und Herren, zeigt die Fratze, die diese Partei hier in diesem Deutschen Bundestag hat. ({6}) Jetzt wird gesagt: Ja, das schränkt den Föderalismus ein. – Nein, dieses Gesetz ist vom hohen Respekt vor dem Föderalismus geprägt, ({7}) weil wir nämlich nicht bei einer Inzidenz von 10 einsteigen – das waren die Inzidenzzahlen letzten Sommer, als wir halbwegs Normalität hatten –, nicht bei 35, was wir selber ins Infektionsschutzgesetz geschrieben haben, nicht bei 50, was wir als Notfallgrenzwert in dieses Infektionsschutzgesetz geschrieben haben, sondern erst bei einer Inzidenz von 100, weil wir den Ländern zutrauen, dass sie es unter 100, regional differenziert mit Experimentierklauseln, mit Tests und vielen, vielen anderen Sachen, hinkriegen. Aber eine Inzidenz von 100 ist auch ganz unabhängig von den anderen Indikatoren so hoch, dass eingegriffen werden muss und dass wir eine bundesweite Regelung brauchen, und die schaffen wir heute, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Dann ist letzte Woche – ich weiß nicht, ob wahrheitswidrig oder versehentlich – behauptet worden, dass dieses Gesetz die Demokratie abschafft. Meine Damen und Herren, nie war so viel Demokratie in der Pandemiebekämpfung wie jetzt. ({9}) Es ist so, dass dieser Deutsche Bundestag als höchstes Verfassungsorgan eineindeutig entscheidet: Wenn A passiert, dann muss B die Folge sein. ({10}) Da gibt es keinen Spielraum für die Bundesregierung. Das ist Demokratie. Der zweite Punkt ist: Selbst bei der Rechtsverordnung, die die Bundesregierung erlassen kann, ist es so, dass wir noch mal nachgebessert und gesagt haben: Diese Rechtsverordnung bedarf der Zustimmung des höchsten deutschen Verfassungsorgans, des Deutschen Bundestages. – Und wenn da jemand sagt, dass Demokratie geschleift wird, dann frage ich mich: Hat er dieses Gesetz gelesen, oder hat es nicht gelesen? ({11}) Oder verbreitet er hier Unwahrheiten, um aufzuhetzen, um populistisch zu sein? Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann sich über die eine oder andere Maßnahme durchaus streiten; das ist auch gemacht worden, das ist überhaupt keine Frage. Jetzt wurde in der letzten Debatte, in der ersten Lesung, gesagt: Aber da muss man sich jetzt rausimpfen. – Ja, natürlich muss man sich rausimpfen. Und wir werden auch besser; Jens Spahn wird es gleich in seiner Rede sagen. ({12}) Aber das wird für die nächsten Wochen nicht reichen. Da brauchen wir zusätzliche Maßnahmen. Und dann wird gesagt: Das kriegen wir mit individuellen regionalen Testkonzepten hin. – Testen ist gut, Testen ist wichtig, Testen ist richtig; das ist überhaupt keine Frage. Aber mir ist kein Land bekannt, das sich von hohen Inzidenzzahlen runtergetestet hat. Am Anfang stand immer der Lockdown, und dann wurde getestet und regional gearbeitet. Deswegen brauchen wir diese Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen wollen. In der Debatte eben ist – auch von Herrn Korte; ich glaube, er hat es nicht so gemeint – gesagt worden: weil das und das in diesem Gesetz schlimm ist. – Oder in der ersten Lesung ist gesagt worden: Weil die Bundesregierung – ich halte das für falsch – nicht genügend Impfstoff beigebracht hat, weil nicht genügend getestet worden ist, können wir jetzt diesem Gesetz nicht zustimmen. Weil die Arbeitgeber nicht entsprechend belastet sind, können wir jetzt diesem Gesetz nicht zustimmen. – Herr Korte, wen wollen Sie bestrafen? Wen wollen Sie bestrafen? Wollen Sie alle bestrafen, weil Sie diesem Gesetz nicht vollumfänglich zustimmen können? ({13}) Es geht jetzt nicht um politische Vorteile, sondern es geht um die Gesundheit von den Menschen in diesem Land, und das sollte uns leiten. ({14}) Ich sage Ihnen eins: Dieses Gesetz ist notwendig. Dieses Gesetz muss hier im Deutschen Bundestag verabschiedet werden und nirgendswo anders. Dieses Gesetz respektiert den Föderalismus. Dieses Gesetz berücksichtigt, dass wir mehr impfen und dass wir mehr testen, und deswegen ist es begrenzt auf den 30. Juni. Dieses Gesetz ist nach unserer festen Auffassung, nach fester Auffassung des Bundesinnenministers und der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz auch verfassungsgemäß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe wirklich eine herzliche Bitte. Wir werden – das wird Jens Spahn gleich noch erläutern – mit einer unglaublichen Dynamik im Bereich Impfen in diesem Sommer aus dieser Pandemie rauskommen und viel, viel Normalität wieder zurückbekommen. Aber bis dahin ist es unsere Entscheidung hier im Deutschen Bundestag, wie viele Menschen erkranken und vielleicht auch sterben. ({15}) Deswegen kann ich Sie nur um eins bitten: Dieses Gesetz ist ein Gesetz fürs Leben. Dieses Gesetz beruht auf Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Bitte stimmen Sie diesem Gesetz zu! Stimmen Sie für das Leben! Treffen Sie dann auch die entsprechende Entscheidung, auch wenn es schwerfällt, in der zweiten und dritten Lesung! Ich habe wirklich die ganz, ganz herzliche Bitte: Schützen Sie Leben! Stimmen Sie zu! Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alexander Gauland. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bilde mir nicht ein, die Mehrheit für dieses Gesetz in diesem Hause mit einer Rede noch zu verändern. Und wenn ich da bis jetzt Zweifel gehabt habe, hat die Rede von Herrn Brinkhaus mir deutlich gemacht, dass die Regierenden nicht bereit sind, irgendetwas einzusehen. ({0}) Zu festgezurrt, Herr Brinkhaus, ist der Wille der Regierenden, mit untauglichen Mitteln die Pandemie zu bekämpfen, als dass Einreden der Opposition, die ja nicht nur von uns kommen, Ihren Angriff auf die Freiheitsrechte, den Föderalismus sowie den gesunden Menschenverstand noch stoppen können. ({1}) Wenn der Kollege Brinkhaus, wie am Freitag geschehen, Gegenargumente des Kollegen Lindner als „politische Profilierung auf Kosten von Kranken und Toten“ bezeichnet, ist jede sachliche Auseinandersetzung zu Ende und das Moralisieren an die Stelle von Politik getreten, Herr Brinkhaus. Merken Sie sich das bitte mal! ({2}) Sie stecken in Ihren Schützengräben fest und werfen der Opposition Destruktion vor. Aber diese Destruktion geht von jenen aus, die in der Impfstoffbeschaffung versagt haben, die ihre multilaterale Europaideologie wichtiger nehmen als den Lebensschutz der vielen, die auf den Eid der Bundeskanzlerin vertraut haben, Schaden von diesem Volke abzuwenden, Frau Bundeskanzlerin. ({3}) Statt Impfstoff zu beschaffen, wo immer es welchen zu beschaffen gibt – ganz gleich, welche geopolitischen Verwerfungen damit verbunden sind –, damit Hausärzte, Betriebsärzte und wer auch immer dazu in der Lage ist, Patienten zu impfen, wollen Sie das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Freiheitsrechte des Grundgesetzes einschränken. ({4}) – Nein, das ist kein Quatsch. Das ist Tatsache. – Und statt so viel Bewegung wie möglich an frischer Luft zu ermöglichen, wie es Immunologen und Aerosolforscher empfehlen, wird aufgrund einer Inzidenz, die jederzeit manipulierbar ist, das öffentliche Leben stillgestellt. Was Sie zu Beginn versäumt haben, sollen nun Beschränkungen zulasten der Menschen richten. Was das an Kollateralschäden für die Gesellschaft bedeutet, hat meine Kollegin Weidel bei der Einbringung dieses Gesetzes dargestellt. Mir bleibt nur, warnend darauf hinzuweisen, dass hier ein Experiment ausprobiert wird, von dem manche hoffen, man könne es bei anderen Gelegenheiten wiederholen. ({5}) Wenn die Bundeskanzlerin davon spricht, dass mit dem Virus nicht zu verhandeln ist, so werden wir bald hören, dass auch mit dem Klima nicht zu verhandeln ist und die Einschränkungen von heute auch für die schöne neue Welt von morgen taugen. ({6}) Meine Damen und Herren, der Publizist Heribert Prantl – weiß Gott kein Freund der AfD – ({7}) sagt, er fürchte, dass die aktuellen Grundrechtseinschränkungen als Blaupause für das nächste Virus, für den nächsten Katastrophenfall verwendet werden. Denn wo man nicht verhandeln kann, gibt es nur eine einzige Sprache der Entschlossenheit. Schließlich geht es immer ums Ganze: um die Weltgesundheit, das Weltklima, eben das Überleben der Menschheit. Dann kann man endlich aufhören, gesellschaftliche Ziele und die politischen Wege dorthin in den Parlamenten, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, und stattdessen gleich zur Tat schreiten, was Sie mit dem Gesetz ja auch tun. ({8}) Im Grunde lassen sich für fast jeden Bereich der Politik Inzidenzen, Quoten oder Zielwerte festlegen, deren Erreichen entschlossene und vor allem unverhandelbare Maßnahmen erforderlich machen. Wir werden uns bei der Klimapolitik wiedersehen. An die Stelle der langwierigen politischen Willensbildung im Kleinen tritt die objektive Notwendigkeit entschlossenen Handelns im Großen. Und die altmodische Trennung von Regierung und Opposition verwandelt sich in den scharfen Gegensatz von Vernünftigen und Querulanten. Aber die, die da draußen protestieren, sind nicht alles Querulanten. Sie können nicht das halbe Volk zu Querulanten machen, meine Damen und Herren! ({9}) Aber genau das – die Einschränkung unserer Grundrechte für wie auch immer begründete hehre politische Ziele – wollten wir nach den Erfahrungen zweier Diktaturen in der deutschen Geschichte nie mehr zulassen. ({10}) Meine Damen und Herren, die Grundrechte sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Der Staat ist immer übergriffig; das ist seine Natur. Deswegen wurden die Grundrechte geschaffen. Die Grundrechte stehen nicht – noch nicht! – unter Pandemie- und Klimavorbehalt. ({11}) Ich hoffe, das bleibt auch so. Wenn ich Ihre Argumentation sehe, weiß ich, dass es nicht so bleiben wird. ({12}) Deshalb ist dieses Gesetz ein Tabubruch, auch wenn Sie versucht haben, die Giftzähne am Ende ein wenig abzuschleifen und den Bundestag nicht ganz außen vor zu lassen. Meine Damen und Herren, die Belastung und Überlastung des Gesundheitssystems wäre ein richtigerer Maßstab politischen Handelns als die nur vorgebliche objektive Inzidenz. Allerdings: Für die Frage, in welcher Ordnung wir leben wollen, taugt er so wenig wie die magische Inzidenzzahl 100, 165 oder 200 Ihres Gesetzes. – Deswegen lehnen wir das Gesetz ab. Und, Herr Brinkhaus, das ist eine politische Auseinandersetzung. Mit dem Wort „Fratze“ haben Sie sich selber dekuvriert. ({13}) Wenn solche Debatten geführt werden, wie Sie sie führen, hat das mit Politik nichts mehr zu tun. Es ist nur noch Moralklapperei. ({14}) Ich bedanke mich. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Bundesfinanzminister Olaf Scholz. ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich eine wichtige, gute Nachricht des heutigen Tages hier besprechen: Das Bundesverfassungsgericht hat heute den Weg frei gemacht für die Ratifizierung des europäischen Wiederaufbauprogramms. Ein wichtiger Schritt in der Bekämpfung der Pandemie in ganz Europa und gemeinsam! ({0}) Er zeigt, dass wir noch lange damit zu tun haben, die Pandemie zu bekämpfen, ({1}) nicht nur, wenn es um die gesundheitlichen Folgen geht, nicht nur, wenn es um die Risiken für das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger geht, sondern eben auch, wenn es um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie geht. Ich sage an dieser Stelle noch einmal klar und deutlich: Es ist richtig, dass wir mit enormen fiskalischen Mitteln dazu beitragen, das Leben in unserem Land, Arbeitsplätze und Unternehmen zu retten und dass wir es in Europa gemeinsam tun. ({2}) Die Lage ist unverändert ernst. Das will ich sagen, weil man ja nicht immer sicher ist, ob alle das so sehen. Heute sind einige unterwegs auf den Straßen dieser Stadt, die sagen, es sei nicht ernst, es sei fast nichts los. Doch, es ist was los: 80 000 Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind gestorben, und darüber kann man nicht hinwegreden und auch nicht hinwegsehen. ({3}) Weil das so ist und weil die Lage unverändert ernst ist, muss auch etwas getan werden über das hinaus, was wir bisher unternommen haben. Das, was wir jetzt brauchen, sind Klarheit und Konsequenz bei der Beantwortung der Frage: Was ist, wenn die Inzidenzwerte, wenn die Infektionszahlen zu sehr steigen? – Wir sagen: Wenn die Inzidenzwerte über 100 gehen, dann muss etwas getan werden, und zwar – das gehört zur Klarheit und Konsequenz dazu – überall in Deutschland und auch immer und in jedem Fall. ({4}) Letztendlich sind das die Regeln, über die wir jetzt hier entscheiden. Ich glaube, dass sie zur Verständlichkeit für viele Bürgerinnen und Bürger beitragen werden und auch dazu, dass viele mitmachen. Denn das viele Durcheinander hat ja auch dazu beigetragen, dass man sich nicht mehr so sicher ist, was zu tun ist und ob das wirklich richtig ist. Ich glaube, mit diesem Gesetz werden wir noch einmal eine neue, große Unterstützung bekommen für all die Maßnahmen, die jetzt erforderlich sind, weil sie gemeinsam vollzogen sind und eine Angelegenheit der großen Gemeinschaft unserer Bürgerinnen und Bürger sind. Das müssen wir erreichen, und das werden wir mit diesem Gesetz. ({5}) Meine Damen und Herren, was dazu gehört, ist, dass wir uns klarmachen, dass die Lage für viele nicht einfach ist. Das hat auch mit dem Ernst dieser Lage zu tun. Zum Beispiel haben die Kinder, die ganz lange Zeit die Schulen nicht gesehen haben, die manchmal in sehr engen Wohnungen in sehr großen Familien leben, verdient, dass wir uns um sie kümmern. Sie haben verdient, dass wir sagen: „Die Schulen werden zuletzt geschlossen und als Erste wieder geöffnet“, trotz all dieser strengen Regeln. Aber sie haben auch verdient, dass wir ihnen eine Chance für die Zukunft geben. Das Aufholpaket ist eine Antwort darauf, was notwendig ist. ({6}) Und vergessen wir nicht: Unverändert sind viele alleine und einsam; auch das ist ja mit den verschiedenen Beschränkungen und Regeln verbunden. Auch die haben verdient, dass wir schnell durch diese Sache kommen und dass wir deshalb mit Klarheit und Konsequenz handeln. Klarheit und Konsequenz sind auch wichtig für die Unternehmen, die um ihre Existenz bangen, die Sorge haben, dass sie nicht durchhalten bis zum Ende der Pandemie, und die jetzt von uns die Botschaft haben wollen: Wir haben einen Kurs, den wir konsequent verfolgen und der dazu beitragen wird, dass wir neben den finanziellen Mitteln auch ein Ende der Pandemie zustande bringen. – Das ist die Aufgabe, die mit diesem Gesetz verbunden ist. ({7}) Denken wir auch an die Pflegekräfte, an die Ärztinnen und Ärzte, all diejenigen, die in den Krankenhäusern, den Altenpflegeeinrichtungen jeden Tag arbeiten und dafür Sorge tragen, dass die Gesundheit so vieler Bürgerinnen und Bürger geschützt wird. Sie können fast nicht mehr. Sie schuften jeden Tag. Auch sie haben verdient, dass wir mit Klarheit und Konsequenz handeln, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass auch dort all diese Anstrengungen einmal ein Ende finden, weil wir es geschafft haben werden. Das ist mit diesem Gesetz verbunden. ({8}) Meine Damen und Herren, die Entscheidungen, die wir jetzt hier treffen, fallen natürlich zusammen mit einer ganzen Reihe von weiteren Maßnahmen, die wir ergreifen, zum Beispiel, dass die vielen neuen und zusätzlichen Möglichkeiten für Tests jetzt auch ergriffen werden, dass wir sicherstellen, dass tatsächlich überall in Deutschland Testzentren eingerichtet worden sind und jetzt verfügbar sind, dass wir sicherstellen, dass in den Schulen zweimal die Woche getestet wird, dass wir sicherstellen, dass das in den Unternehmen der Fall ist – das wird im Rahmen der Arbeitsschutzverordnung geschehen –, dass wir dafür sorgen, dass das Homeoffice deutlicher durchgesetzt wird, auch durch eine neue starke Regelung im Infektionsschutzgesetz. ({9}) All das gehört dazu, um sicherzustellen, dass wir hier durchkommen. Und natürlich gehört auch dazu, dass wir die Hoffnung in den Blick nehmen, die mit dem Impfen verbunden ist. Denn tatsächlich machen die Impfungen große Fortschritte. Der Bundesgesundheitsminister wird das ausführlicher darstellen; da bin ich sicher. Aber ich will ausdrücklich sagen: Dass jetzt über 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger erstmalig geimpft sind, dass über 20 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, das ist ein Fortschritt, der wegen seiner Geschwindigkeit auch sichtbar werden lässt, dass wir eine Chance haben, im Sommer vielleicht auch mal wieder in einem Biergarten zu sitzen. ({10}) Das ist die Perspektive, die wir gemeinsam mit den strengen Regeln verfolgen müssen. Es geht nicht um einen Dauerzustand, es geht darum, die Pandemie zu überwinden. Darum sind die Regeln auch richtig. ({11}) Was wir darüber hinaus tun, ist, dass wir natürlich sehr sorgfältig abwägen, dass wir überlegen, was zu tun ist, wenn die Lage sich verändert. Deshalb ist es richtig, dass in diesem Gesetz eine Verordnungsermächtigung enthalten ist, über die wir hier in diesem Haus viel diskutieren werden – die Abgeordneten müssen zustimmen, und das finde ich richtig so –, über die wir mit den Ländern in Deutschland diskutieren werden. Was wir nämlich zu tun haben und was wir tun wollen, wenn es Geimpfte gibt, die die Möglichkeit haben, bestimmte Erleichterungen auch zu nutzen; denn das ist die Verordnungsermächtigung zuallererst –, ist, dass wir Festlegungen treffen: Was geschieht mit Geimpften? Was geschieht mit denen, die genesen sind? Was ist mit denjenigen, die Tests haben? Das wollen wir in einen guten, richtigen, nachvollziehbaren, vernünftig diskutierten Rahmen stellen und diesen bald festlegen; auch diese Erleichterungsmöglichkeit gehört zu dem strengen Gesetz dazu, sie ist ebenfalls erforderlich und notwendig. ({12}) Ein letzter Satz. Was wir hier machen und worüber wir heute beraten und was Sie heute hoffentlich beschließen werden, verehrte Abgeordnete, ist nicht frei gegriffen; es baut auf sehr sorgfältigen Verabredungen zwischen Bund und Ländern auf, die unterschiedlich umgesetzt worden sind, die aber doch einen gemeinsamen Rahmen hatten. Und dass wir uns darauf beziehen, dass wir das hier in eine strikte Regelung umsetzen, gehört zu Klarheit und Konsequenz auch dazu, und das ist das Gebot der Stunde. Schönen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir sind uns hier alle einig: Das Coronavirus stellt weiterhin eine große Gefahr für die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger dar, und es ist unsere oberste Aufgabe, das Virus zu bekämpfen. Und ja, wir als FDP-Bundestagsfraktion halten bundeseinheitliche Regelungen für wichtig, sonst hätten wir ja auch nicht schon vor Wochen einen Stufenplan vorgelegt, der genau das vorsieht. Den haben Sie, Herr Brinkhaus, mit Ihrer Fraktion damals abgelehnt. ({0}) Auch die aktive Zustimmung des Bundestages bei Erlass einer Rechtsverordnung ist selbstverständlich zu begrüßen; denn eine parlamentarische Beteiligung, meine Damen und Herren, ist immer auch eine Qualitätskontrolle. Bei dieser Qualitätskontrolle – das hat die Anhörung gezeigt – ist Ihr Gesetz aber durchgefallen, meine Damen und Herren. ({1}) Ihr Gesetzentwurf hat erhebliche handwerkliche Mängel; denn alle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus müssen auch geeignet sein. Herr Brinkhaus, erstaunlicherweise habe ich zur Geeignetheit dieser Mittel überhaupt nichts von Ihnen gehört. Ich wundere mich darüber auch nicht; denn die vorgesehenen Ausgangssperren sind eben keine geeigneten Maßnahmen. ({2}) Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, die belegt, dass Ausgangssperren die Verbreitung des Virus verhindern. Allein darauf zu hoffen, dass es etwas bringt, reicht nicht aus, um einen so schwerwiegenden Grundrechtseingriff zu rechtfertigen, meine Damen und Herren. ({3}) Wir benötigen wissenschaftliche Erkenntnisse und keine Behauptungen; das haben Gerichte so entschieden, das sagt der überwiegende Teil der Verfassungsrechtler, und wir als Bundestagsfraktion sagen das auch. ({4}) Meine Damen und Herren, es existieren ja wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Aerosolforscher haben es dargelegt: Ausgangssperren bringen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens rein gar nichts. Sie schränken nur in unzulässiger Weise die Grundrechte ein und treiben die Menschen weiter in den privaten Bereich. Das kann doch gerade nicht unser Interesse sein, meine Damen und Herren. ({5}) Der Fokus muss auf solchen Maßnahmen liegen, die tatsächlich zu einer Eindämmung des Virus führen. Das sind natürlich: Impfen, Impfen, Impfen, Testen, bessere Aufklärung über Kontaktvermeidung und AHA-Regeln im privaten Bereich. Nächster Punkt: die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie ist als alleiniger Maßstab völlig ungeeignet, das Infektionsgeschehen abzubilden. In unserem Stufenplan, den ich schon erwähnt habe, haben wir bereits diese Faktoren vorgeschlagen, und auch in unserem Änderungsantrag haben wir jetzt eine gewichtete Sieben-Tage-Inzidenz vorgeschlagen. Danach sollen folgende Indikatoren miteinbezogen werden: der Anteil der Positivbefunde, die Anzahl der geimpften Personen, Belastung der Intensivstationen usw. usw. Eine Anfrage an das Bundesministerium hat bestätigt: Die Anzahl positiver PCR-Testergebnisse allein zeigt nicht die Schwere der Pandemie an. Warum haben Sie das denn dann nicht in Ihr Gesetz geschrieben, meine Damen und Herren? ({6}) Nächster Änderungsantrag von uns: Modellprojekte. Die Bundesnotbremse darf doch nicht dazu führen, dass die wichtigen Modellprojekte, wie in Tübingen zum Beispiel, einfach abgebrochen werden. Das widerspricht jeglicher Evidenz, meine Damen und Herren. ({7}) Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben von Anfang an für konstruktive Gespräche bereitgestanden, auch unter Zeitdruck. Sechs Änderungsanträge und einen Entschließungsantrag haben wir Ihnen vorgelegt. Sie haben alle unsere Argumente einfach beiseitegeschoben. Es ist grob fahrlässig, hier eine verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetzesänderung auf den Weg bringen zu wollen. Ihre gescheiterte Osterruhe hat doch gezeigt, wie viel Vertrauen dabei verloren gehen kann. Ein solcher Vertrauensverlust darf sich nicht wiederholen, meine Damen und Herren! ({8}) Im Ergebnis werden wir das Gesetz ablehnen. ({9}) Gestatten Sie mir bitte noch den letzten Hinweis: Sollten Sie unsere Änderungsanträge ablehnen und sollte die Ausgangssperre kommen, dann werden wir eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe auf den Weg bringen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Fraktionsvorsitzenden der Linken, Amira Mohamed Ali. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, es geht um Leben und Tod. Das Infektionsgeschehen muss dringend eingedämmt werden. Aber was macht die Bundesregierung? Sie taumelt von einem Murks in den nächsten. Und auch jetzt legen Sie uns wieder ein Stückwerk vor, das die großen Probleme nicht lösen wird. Das ist unverantwortlich. ({0}) Ja, im Vergleich zur letzten Woche haben Sie im Bevölkerungsschutzgesetz einiges umgestrickt: Die Maßnahmen sind jetzt befristet, der Persilschein für die Bundesregierung, weitere Maßnahmen zu erlassen, ist entfallen. Gut. Aber die Wahrheit ist, dass Sie sich hier erst auch auf unseren massiven Druck hin bewegt haben. Wir erleben übrigens nicht zum ersten Mal in dieser Pandemie, dass Sie versuchen, Grundrechtseinschränkungen praktisch im Vorbeigehen und ohne Befristung einzuführen und die Befugnisse der Regierung massiv auszuweiten. Das ist und bleibt untragbar. Und ich kann ihnen versichern: Die Linke wird das niemals akzeptieren. ({1}) Wir lehnen Ihr Gesetz weiterhin ab, und ich sage ihnen auch, warum. Sie wollen Ausgangssperren pauschal ab einer Inzidenz von 100 verhängen, obwohl die Wirksamkeit dieser Maßnahme hoch umstritten, aber der Eingriff in die Grundrechte massiv ist. Was jedoch wissenschaftlich sehr gut belegt ist, ist der hohe Anteil an Ansteckungen am Arbeitsplatz. Trotzdem nehmen Sie nach wie vor die Arbeitgeber nicht richtig in die Pflicht. Unglaublich! ({2}) Ja, Homeoffice soll kommen; aber Sie kontrollieren es nicht richtig. Ja, Tests sollen kommen, aber nicht verpflichtend, nur ein Angebot für ein bis zwei Tests pro Woche. Das ist doch zahnlos. ({3}) Die Zeit, in der man immer nur „Bitte, bitte!“ zu den Unternehmern sagt, muss doch endlich vorbei sein. Wir brauchen endlich Schutz für alle Menschen an ihren Arbeitsplätzen und auch auf dem Weg zur Arbeit. ({4}) Zu den Schulen: Schon lange schlagen Schülervertreter, Eltern und Lehrer Alarm. Und was tun Sie? Obwohl Sie ab einer Inzidenz von 100 Ausgangssperren verhängen wollen, sollen die Kinder bis zu einer Inzidenz von 165 in die Schule gehen. Also, ich kann alle Eltern verstehen, die nur noch den Kopf schütteln. ({5}) Woher haben Sie eigentlich diese Zahlen? Würfeln Sie die aus? Es ist auch Irrsinn, dass die Kinder bis zu der 100er-Inzidenz in voller Klassenstärke unterrichtet werden sollen. Die Klassenstärken müssen reduziert werden. Das ist der Schlüssel. ({6}) Genauso kann man nur den Kopf schütteln über Ihre Pläne, dass Kinder bis 14 Jahren im Freien Sport treiben dürfen, ab 15 aber nicht mehr. Das ist doch absurd! ({7}) Brauchen Kinder ab 15 weniger Bewegung und Ausgleich? Wieder denken Sie nicht an die jungen Menschen, die eben keine großen Gärten und Spielzimmer haben. Aber das ist leider nichts Neues. Diese Bundesregierung ignoriert konsequent die Tatsache, dass die Gefahren von Covid-19 nicht für alle Menschen gleich sind. Das Ansteckungsrisiko und das Risiko eines schweren Verlaufs sind für Menschen mit niedrigem Einkommen nachgewiesenermaßen deutlich höher: wegen beengter Wohnverhältnisse, weil sie nicht im Homeoffice arbeiten können, weil sie in vollen Bussen und Bahnen zur Arbeit fahren müssen ({8}) und weil Menschen mit niedrigem Einkommen oft eine schlechtere Gesundheitsversorgung haben und sich gesunde Ernährung nicht leisten können. Das ist die Wahrheit. ({9}) Die Verkäuferinnen, die Lieferanten, die Erzieherinnen – es ist doch wirklich eine Schande, dass Sie die Menschen, die Sie hier wieder und wieder beklatscht und gelobt haben, weil sie die wahren Stützen unserer Gesellschaft in dieser Pandemie sind, immer noch nicht genügend schützen, sondern weiterhin im Stich lassen. ({10}) Unsere Position als Linke ist klar: Wir brauchen Infektionsschutz, und er muss solidarisch sein. Niemand darf auf der Strecke bleiben. Und das heißt: wirksamer Schutz an allen Arbeitsplätzen und auf dem Weg zur Arbeit, viel mehr Tests und Luftfilter für die Schulen, bessere Unterstützung von Lehrern und Eltern, auch im Homeschooling. Und natürlich müssen endlich die sozialen Härten dieser Pandemie vernünftig abgefedert werden. ({11}) Es geht nicht, dass Angst und Verzweiflung bei immer mehr Menschen um sich greifen. Deshalb drängen wir seit über einem Jahr darauf, endlich ausreichende und unbürokratische Hilfen für kleine Unternehmen zur Verfügung zu stellen – inklusive eines Unternehmerlohns für Soloselbständige, für Künstlerinnen und Künstler. ({12}) Wir brauchen außerdem unbedingt eine Verlängerung der Auszahlung von Arbeitslosengeld I, einen monatlichen Zuschlag für Menschen in Grundsicherung und eine angemessene Gehaltserhöhung für alle Pflegerinnen und Pfleger und alle anderen im Gesundheitswesen, im Einzelhandel und in der Logistik, die durch die Pandemie doppelt und dreifach belastet werden. ({13}) Und – ich werde nicht aufhören, das hier zu sagen –: Wohnungskündigungen und Stromsperren aufgrund finanzieller Nöte gehören verboten, Kolleginnen und Kollegen. ({14}) Aber ich befürchte, Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung: All das stößt bei Ihnen wieder auf taube Ohren, und Sie werden unsere Anträge, die wir hier heute einbringen, wieder nicht annehmen. Dabei wäre das so dringend nötig; ({15}) denn es ist vollkommen klar, dass es so nicht weitergehen kann – weder in dieser Pandemie noch danach. Wir brauchen ein Gesundheitswesen, in dem nicht der Profit, ({16}) sondern das Wohl der Patienten im Mittelpunkt steht. ({17}) Wir brauchen Schulen mit ausreichend Personal und Mitteln, um allen Kindern eine bessere Bildung zu garantieren. Wir brauchen einen Sozialstaat, der die Menschen zusammenführt und das Land fit für die Zukunft macht. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir als Linke dafür weiter entschlossen kämpfen. Vielen Dank. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Lage ist weiterhin ernst. Die Intensivstationen sind voll, Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte am absoluten Limit. Immer mehr junge Menschen erleiden schwere Verläufe. ({0}) Deshalb haben wir als Grünenfraktion bereits bei der Einbringung klargemacht: Wir brauchen einen schnell wirksamen Wellenbrecher; er ist zwingend erforderlich. ({1}) Herr Brinkhaus, Herr Scholz, ich habe Ihnen sehr gut zugehört. Es ist in der Tat so: Wir brauchen Klarheit, wir brauchen Konsequenz. Aber: Sie tragen die Verantwortung dafür, weil Sie allzu lange zugeschaut haben, dass wir zu spät, zu zögerlich, zu widersprüchlich gehandelt haben. Die Konsequenz dessen, was wir jetzt erleben, ist Resultat dieses Nichthandelns. ({2}) Ganz besonders bezeichnend ist, dass Sie auch jetzt wieder den Bereich der Arbeitswelt, in dem Kontaktbeschränkungen so wichtig sind, ausgelassen haben. ({3}) Das im Übrigen hat auch die FDP wieder in ausdrücklicher Weise getan. ({4}) Deshalb: Wir sind froh, dass es endlich dazu kommt, dass der Bund die Verantwortung wahrnimmt. Das finden wir richtig. Das fordern wir schon sehr lange. Wir haben deshalb auch durchaus gerungen gestern in der Fraktion; denn ein Weiter-so darf es nicht geben. Dieses Fahren auf Sicht war verantwortungslos, und es ist weiterhin verantwortungslos, wenn wir nicht jetzt klar und konsequent handeln. ({5}) Denn es lässt sehr, sehr viele Menschen an der Handlungsfähigkeit unseres Staates zweifeln. Gleichwohl müssen wir nach diesem herausfordernden Beratungsverfahren sagen: Wir können am Ende dieser Änderung des Infektionsschutzgesetzes, dieser Notbremse so nicht zustimmen; denn Sie handeln zu spät, ({6}) zu unwirksam, und Sie handeln weiterhin so, dass wir nicht das tun, was wir jetzt tun müssten. Wir anerkennen, dass es im Verlauf der Beratungen und Verhandlungen durchaus Verbesserungen gegeben hat: für die Arbeitswelt, beim Homeoffice, für die Schule – auch da bei der Präsenzpflicht – und auch beim Bereich der Ausgangsbeschränkungen. Aber insgesamt reichen diese Maßnahmen nicht aus, ({7}) um tatsächlich eine Trendumkehr hinzubekommen, und genau die würden wir brauchen. ({8}) Zusätzlich ist dieses Gesetz handwerklich schlecht gemacht. Es ist in sich inkonsistent. Wir haben eine 35er-Inzidenz, eine 100er-Inzidenz, eine 165er-Inzidenz und eine 150er-Inzidenz. Das versteht kein Mensch, ({9}) und das ist auch nicht wissenschaftlich hergeleitet. Deshalb: Diese Notbremse bleibt zu halbherzig, zu wenig wirksam, zu wenig konsistent, zu wenig verhältnismäßig. Deshalb können wir an dieser Stelle nicht zustimmen, sondern wir erwarten eine weitere Gesetzgebung, damit wir hinkommen zu echten Maßnahmen, die wirksam sind. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Setzen Sie bitte den Mund-Nasen-Schutz auf! So viel Zeit muss sein. ({0}) Jetzt hat das Wort der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. ({1})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Coronavirus hat Deutschland verändert – im Großen wie im Kleinen. Diese Pandemie und der Kampf gegen dieses Virus prägen unseren Alltag. Es verursacht Leid, Härten und Kosten – für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Und ja, seit über einem Jahr ist es notwendig, unter Abwägung, auch unter Unwägbarkeiten tiefgreifende Entscheidungen zu treffen. Heute sind weitere notwendig. Über jede einzelne dieser Entscheidungen muss es in einer freiheitlichen Gesellschaft Debatten geben, ({0}) und es muss ein Abwägen geben, so wie wir das in den Beratungen der letzten Tage – jedenfalls die, die an den Beratungen teilgenommen haben – gemacht haben. Manche fragen nun: Was ist anders als vor einem Jahr? Hat sich denn nichts geändert? Noch mal die gleichen Maßnahmen wie in der ersten und in der zweiten Welle? Doch viel hat sich geändert: Die Medizin, die Wissenschaft, jeder Einzelne von uns weiß heute mehr über dieses Virus: ({1}) wie es sich überträgt, was es im Körper anrichtet. Wir wissen auch besser, wie wir uns schützen können. Wir haben unseren Instrumentenkasten beständig erweitert. ({2}) Zwei Beispiele: Wir haben inzwischen beachtliche Testkapazitäten aufgebaut – in den Laboren, aber vor allem auch bei den Schnelltests. Seit der Bund den kostenlosen Bürgertest eingeführt und dessen Kosten übernommen hat, sind über 15 000 Teststellen im ganzen Land entstanden, und es werden jeden Tag mehr. ({3}) Auch die Impfkampagne hat sich enorm beschleunigt. Wir haben neue Tagesrekorde gesehen und werden bald weitere sehen. Allein gestern wurden über 535 000 Menschen geimpft. Mittlerweile ist jeder fünfte Deutsche geimpft, Anfang Mai wird es jeder vierte sein, in wenigen Wochen jeder dritte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ich finde, die Debatte ist schon lebhaft genug. Es geht jetzt ohne. Herr Gauland, Sie haben gerade über Impfstoffbeschaffung geredet. Ich finde es ja gut, wenn Sie hier grundsätzlich über Multilateralismus beim Impfen reden. Aber noch wichtiger fände ich, wenn Sie in dieser Phase für das Impfen werben würden. Sie persönlich tun das, mit Beispiel, aber Ihr eigener Bundesparteitag hat vor dem Impfen in dieser Pandemie gewarnt. ({0}) Sie können hier noch so viel über multilaterale Fragen und Grundsätzlichkeiten in der Pandemie reden: Wenn Sie selbst nicht für das Impfen werben, werben Sie nicht für den Weg raus aus dieser Pandemie. ({1}) Das ist das Problem mit Ihrer Partei: dass Sie am Ende nicht genau wissen, was Sie wollen in dieser Pandemie. Aber Impfen und Testen allein reichen nicht, um die dritte Welle zu brechen. Wir können das Virus nicht wegtesten. Wir können auch gegen eine Welle nicht animpfen. Das ist keinem Land gelungen, übrigens auch nicht Israel oder dem Vereinigten Königreich. Wir müssen also erst diese dritte Welle brechen. Dazu gibt es ein bewährtes, ein erprobtes, ein ebenso banales wie wirksames Mittel: ({2}) das Reduzieren von Kontakten und damit von Infektionen. So schwer es fällt, so leid wir es sind: Kontakte reduzieren hilft; denn nur, wenn wir anderen begegnen, hat das Virus eine Chance, sich zu verbreiten. ({3}) – Das Virus lässt sich übrigens auch nicht wegschreien und wegleugnen. Das hilft alles nichts. ({4}) Die Lage ist ernst, sehr ernst. Dafür reicht ein kurzer Blick auf die härteste Werbung in dieser Pandemie: ein Blick auf die Zahlen der Intensivstationen, die tagesaktuell sind und die sich nicht relativieren lassen. ({5}) Wir zählen wieder 5 000 Covid-19-Intensivpatienten, Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten. Wir dürfen nicht vergessen: Jeder dritte Covid-19-Patient in den Kliniken – nicht nur auf den Intensivstationen – stirbt. Die Lage ist in vielen Krankenhäusern weiter dramatisch. Patienten müssen verlegt werden, andere Behandlungen verschoben. ({6}) Seit unserer ersten Debatte hier im Bundestag war ein Ziel – jedenfalls für die Mehrheit dieses Hauses und für die Bundesregierung – immer klar: Wir wollen eine Überlastung unseres Gesundheitssystems vermeiden – eine Überlastung übrigens, die viele unserer Nachbarländer schmerzhaft erlebt haben. Und ja, Sie haben über das Grundgesetz geredet. Ralph Brinkhaus hat darauf hingewiesen. Im Grundgesetz gibt es auch Schutzrechte und Verantwortung für den Staat und für uns alle. Die gesundheitliche Unversehrtheit gehört dazu. ({7}) Wenn Sie schon das Grundgesetz und diese Frage in Ihren Debatten zum Maßstab machen, dann sollten Sie auch die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen, mitten in einer Pandemie, die so viel Leid verursacht. ({8}) Am vergangenen Sonntag habe ich die Intensivstation in Köln-Merheim besucht. Was Professor Karagiannidis und sein Team dort jeden Tag leisten – über menschliche Belastungsgrenzen hinweg –, darf für uns als Gesellschaft nicht selbstverständlich sein, und wir können ihnen nur Danke schön sagen für das, was sie jeden Tag tun. ({9}) Und wir können ihnen zusagen, dass wir ihre eindringlichen Warnungen ernst nehmen. Es gibt eine Korrelation zu der Zahl der Intensivbetten: die Zahl der Neuinfektionen. Da gibt es eine Korrelation. Einige versuchen immer, diese beiden Zahlen voneinander zu trennen, aber sie hängen miteinander zusammen. Das eine folgt logisch dem anderen. Wir haben das doch in den letzten Monaten gesehen, nicht nur in Deutschland, auf der ganzen Welt. Deswegen verstehe ich die Logik nicht, dass einige immer warten wollen, bis die Intensivstationen überfüllt sind, bevor sie Maßnahmen ergreifen. Wenn wir Leid vermeiden können, sollten wir es vermeiden, rechtzeitig, und Infektionen erst gar nicht entstehen lassen. ({10}) Genau dem dient dieses Gesetz: eine Notbremse per Bundesgesetz. „Notbremse“ heißt übrigens: Auch vorher sollte man das Bremsen schon beginnen durch regionale und lokale Maßnahmen. Es geht um drei Lebensbereiche, die die Infektionen aktuell ausmachen: der betriebliche Alltag – es ist schon angesprochen worden: mehr Homeoffice, mehr Testverpflichtung, weniger Mobilität –, der Alltag in Schule und Kita – auch dort mit klaren Vorgaben für regelmäßige Tests, für Wechselunterricht und Notbetreuung; bei den 6- bis 20-Jährigen sehen wir übrigens gerade sehr, sehr viele Infektionen – und der Bereich der privaten Kontakte. Das sind die drei Bereiche, in denen wir gerade viele Ausbrüche sehen. Zwei Drittel aller Ausbrüche in Deutschland finden im Moment im privaten Bereich statt. Deswegen sind Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen notwendig. ({11}) Es ist schwer – es fällt auch keinem von uns leicht –, diese Maßnahme, die sehr stark einschränkende Maßnahme zu machen. Aber mit vorübergehenden, maximal bis zum 30. Juni 2021 begrenzten Einschränkungen wollen wir diese Frage in dieser Phase der Pandemie adressieren. Diese Einschränkungen, die schwerfallen, die hart sind, sind angesichts der Lage angemessen, verhältnismäßig, und sie sind im Übrigen auch geeignet, Frau Kollegin, wie wir in nahezu allen anderen Ländern Europas gesehen haben. ({12}) Deswegen, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diese Bundesnotbremse ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses mit intensiven Beratungen und entsprechenden Anpassungen. Und es ist übrigens auch der Wunsch der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die sich einheitliche, verlässliche Regeln wünschen, denen sie vertrauen können. ({13}) Und nun werden wir auch diesen schweren, hoffentlich letzten Teil des Pandemiemarathons gut überstehen, wenn wir zusammenstehen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Testgestütztes Öffnen und vor allem das Impfen geben uns die notwendige Perspektive, nach der zu Recht viele fragen. Aber erst braucht es als Brücke ein Brechen dieser Welle. Dem dient dieses Gesetz, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Niemals gab es mehr zu tun und selten waren Aufgaben komplexer, Herausforderungen größer als in dieser Zeit. Nun ist der FDP vor einer Woche vorgeworfen worden, wir würden das von Ihnen beabsichtigte Eilverfahren bremsen. Und doch zeigt sich, dass Sie das ganze Wochenende Zeit gebraucht haben, um den Gesetzentwurf noch einmal zu überarbeiten. ({0}) Es gab Beratungsbedarf in der Koalition. Es gab Nachbesserungsbedarf beim Gesetz. Nicht die FDP war schuld, dass wir uns diese Zeit genommen haben. Und es hat sich gelohnt, meine Damen und Herren; denn immerhin ist der Gesetzentwurf jetzt besser geworden. Es zeigt sich: Es ist gut, ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen. ({1}) Nichtsdestoweniger sieht die FDP weiterhin Verbesserungsbedarf: Ein erster Aspekt ist, dass im Gesetz weiterhin Ausnahmen für Geimpfte und Genesene fehlen. Es gibt zahlreiche Studien, die uns sagen, dass namentlich durch Geimpfte praktisch keine Gefahren der Ansteckung mehr für andere Menschen ausgehen. Nun ist das Infektionsschutzrecht Gefahrenabwehrrecht. Das heißt also: Wenn von einer Person keine Gefahr mehr für andere ausgeht, dann gibt es auch keine rechtliche und auch keine moralische Rechtfertigung mehr, in die Grundrechtsausübung dieser Person einzugreifen. ({2}) Deswegen müssen wir diese Ausnahmen ins Gesetz hineinschreiben, meine Damen und Herren. Ein zweiter Aspekt ist: Wir nehmen die Gesundheitsgefahren durch Corona sehr, sehr ernst, aber wir nehmen auch die Nebenfolgen der Pandemiebekämpfungspolitik sehr ernst. Vor allem der Einzelhandel braucht Perspektiven, wie er zum Beispiel durch intelligente Teststrategien weiterexistieren kann. Denn wenn uns das nicht gelingt, meine Damen und Herren, dann werden wir unsere Innenstädte bald nicht mehr wiedererkennen können. ({3}) Der Punkt, der auch mir persönlich am wichtigsten ist: Wir dürfen die Bildungschancen unserer Kinder nicht aufs Spiel setzen. ({4}) Die Inzidenz von 165 – 165! warum nicht 166,5? – für Schulschließungen ist doch nicht das Resultat wissenschaftlicher Erkenntnisse; es ist das Ergebnis eines politischen Deals, meine Damen und Herren. ({5}) Wenn Sie sich doch nur mit gleicher Energie die Köpfe heißredeten, wie man Schulschließungen verhindern kann – durch technische Maßnahmen, durch eine intelligente Teststrategie auch für Schulen – oder, wenn es denn wirklich mal sein muss, wie ein wirklich guter Distanzunterricht für alle Kinder aussieht, meine Damen und Herren! Wenn Sie das so durchziehen, dann wird es in manchen Landkreisen Deutschlands in diesem Schuljahr zu gar keinen Schulöffnungen mehr kommen. ({6}) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ja die Gesundheitsgefahren sind sehr, sehr real. Aber wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und pädagogischen Nebenfolgen der Pandemiebekämpfung nicht genauso ernsthaft angehen wie die Pandemiebekämpfung selbst, dann werden wir nicht in das gleiche Land zurückkehren, aus dem wir gekommen sind. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Fraktion hatte beim Infektionsschutzgesetz von Anfang an das Ziel, den Gesundheitsschutz vor allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken und für mehr Einheitlichkeit und Nachvollziehbarkeit bei den Maßnahmen zu sorgen. Das haben wir geschafft, darauf haben wir uns konzentriert, und von nichts und von niemandem haben wir uns in diesen Tagen davon ablenken lassen, meine Damen und Herren. ({0}) Deswegen ist es gut, dass wir das Homeoffice gestärkt haben. Das Homeoffice dient mit dazu, Kontakte zu beschränken, und es sorgt auch für Gesundheitsschutz für die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich habe es sehr bedauert, dass Arbeitgeber die Möglichkeit, Homeoffice in einer größeren Zahl zur Verfügung zu stellen, nicht freiwillig genutzt haben. Sie haben es zu verantworten, dass wir eine entsprechende Regelung in dieses Gesetz haben bringen müssen. Es ist noch Luft nach oben. Ich bitte die Arbeitgeber, dies jetzt auch endlich zu nutzen. ({1}) Außerdem gibt es jetzt ein Testangebot zweimal die Woche für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Betriebe kommen müssen. Das ist wichtig. Ich frage mich schon: Warum wird das immer noch von dem einen oder anderen in den Unternehmensverbänden hinterfragt? Es ist doch nicht nur ein Schutz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch ein Schutz für das Unternehmen. ({2}) Es kann dann weiter wirtschaften. Diese Konsequenz haben wir in dieses Gesetz getragen. Meine Damen und Herren, ich bin froh – der Bundesfinanzminister hat es in der Debatte zum Nachtragshaushalt vergangene Woche angekündigt –, dass wir 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen wollen, um ein Aufholpaket auf den Weg zu bringen; denn Kinder und Jugendliche brauchen unsere Unterstützung. Wir brauchen, auch wenn wir medizinisch und gesundheitspolitisch die Pandemie eingegrenzt haben, Hilfen für diejenigen, die auf der Strecke bleiben. Außerschulische Hilfe, die Einbeziehung der Kinder- und Jugendhilfe und Freizeitangebote sind wichtig, um das wiedergutzumachen, was wir Kindern und Jugendlichen angetan haben. ({3}) Lassen Sie mich Ihnen die Realität etwas nahebringen. Was ist die Situation? Der Leiter einer Kölner Grundschule wusste vor einiger Zeit zu berichten, dass Kinder sich nicht testen lassen. Er ist dem nachgegangen. Und warum haben sich die Kinder nicht testen lassen? Na ja, weil die Eltern das nicht wollten, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt hätten, wenn sie in Quarantäne hätten gehen müssen. Das ist die Realität. Deswegen wenden wir uns genau denjenigen zu, die so viel Leid ertragen müssen. Ich bin dankbar, wenn das Kabinett nächste Woche über diese Frage beschließen wird. ({4}) Meine Damen und Herren, mit der Änderung beim Kinderkrankengeld sorgen wir noch mal für eine wesentliche Stärkung der Familien, die keine Betreuung ihrer Kinder gewährleisten können. Insbesondere diese Maßnahme ist wichtig, um finanzielle Unterstützung zu leisten. Und Herr Kollege Thomae: Genau das ist jetzt auch in diesem Gesetz verankert: Der Deutsche Bundestag wird sich, wenn wir sicher sind, dass Geimpfte das Virus nicht übertragen, mit einer entsprechenden Verordnung befassen. Das ist wichtig. Das ist eine große Kompetenz, die die Volksvertreterinnen und Volksvertreter hier einzubringen haben, meine Damen und Herren. Zum Schluss. In diesem Gesetz wird auch ein neuer Rechtsweg für die Bürgerinnen und Bürger eingezogen. Über eine vorbeugende Feststellungsklage können die Bürgerinnen und Bürger gegen Maßnahmen, die sie unmittelbar betreffen, vorgehen. Wir schaffen Rechtssicherheit, Rechtsklarheit, und wir schaffen eine Nachvollziehbarkeit der Maßnahmen, meine Damen und Herren. ({5}) Die Pandemie hat unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen von uns geprägt. Deswegen danke ich, dankt meine Fraktion dem Bundespräsidenten dafür, dass er eine würdige, eine angemessene Trauerfeier am vergangenen Wochenende hat veranstalten lassen. Es war insbesondere nicht nur eine Trauerfeier für die Toten, nicht nur eine Trauerfeier für die Genesenen und nicht nur eine Trauerfeier für die Familienangehörigen, die von ihren Verstorbenen noch mal Abschied nehmen konnten, sondern es war auch eine Trauerfeier für uns, für die Gesunden, weil wir Anteil nehmen konnten an dem Leid, an dem Schicksal, das diese Pandemie für dieses Land bedeutet, was nicht durch Gesetze aus der Welt geschafft werden kann. ({6}) Ich muss auch sagen: Ich finde es unwürdig, wie sich einige hier in diesem zutiefst verstörenden Augenblick verhalten. Es ist nicht nur unanständig, sondern es ist unwürdig gegenüber den Betroffenen und gegenüber den Familienangehörigen, dass Sie davon faseln, dass die Pandemie herbeigetestet wurde. Gehen Sie in die Krankenhäuser! Reden Sie mit den Familienangehörigen, die ihre Angehörigen verloren haben! Reden Sie mit den Pflegekräften, die sich aufopferungsvoll dieser Pandemie entgegenstemmen! ({7}) Sie haben die Gefahr der Pandemie kleingeredet in diesem Haus, und Sie haben sich schuldig gemacht; denn dadurch haben die Menschen die Situation vernachlässigt. ({8}) Es ist ungeheuerlich, dass Sie sich auf das Grundgesetz berufen. Verfassungsfeinde haben sich schon einmal der Verfassung bemächtigt. Wir, meine Damen und Herren, werden uns dem entgegenstemmen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Sonntag haben wir der Verstorbenen und schwer Erkrankten in der Coronapandemie gedacht. Inzwischen sind allein in Deutschland 80 000 Menschen gestorben. Sie – jede und jeder Einzelne – fehlen ihren Familien, fehlen ihren Freundinnen und Freunden, fehlen uns allen. Es muss uns doch Auftrag sein, unserer politischen Verantwortung nachzukommen und Maßnahmen zu beschließen, die geeignet sind, um die Infektionszahlen schnell und wirksam zu senken. ({0}) Wer dem Pflegepersonal, wer den Ärztinnen und Ärzten nicht nur im Gesundheitsausschuss zuhört, der weiß doch, wie ernst die Lage in unseren Krankenhäusern ist. Immer mehr junge Menschen liegen im Krankenhaus, und sie kommen oft erst sehr spät bzw. erst, wenn es schon fast zu spät ist. Die nächste Mutation klopft an. Einfach so weiter ist fahrlässig! ({1}) Die bundeseinheitliche Rahmung für die Maßnahmen ist überfällig. Das haben wir Grüne lange gefordert, und es ist gut, dass sie heute kommt. ({2}) Wir konnten glücklicherweise in den Beratungen noch deutliche Verbesserungen verhandeln. Doch die Koalition bleibt trotz alledem auf halber Strecke stehen. Wir haben doch heute hier treffende Analysen gehört. Warum ziehen Sie denn nicht die wirksamen Konsequenzen? ({3}) Wir brauchen mehr als eine halbherzige Notbremse ab einer Inzidenz von 100, die also erst greift, wenn der Zug schon an die Wand fährt. Wir brauchen eine echte Schubumkehr. Die dritte Welle muss gebrochen werden, die Infektionszahlen müssen dauerhaft gesenkt werden. ({4}) Nur so schaffen wir Perspektiven für Öffnungen, für Kultur, für Begegnungen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Kappert-Gonther, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muss sagen: Ich frage mich schon während der ganzen Debatte heute, wie eigentlich Reden und Handeln der Grünen zusammenpassen. Sie sprechen davon, dass Sie Verantwortung übernehmen wollen. Frau Haßelmann hat vorhin in der GO-Debatte zu Recht und leidenschaftlich gesagt: Wir müssen heute entscheiden und dringend handeln. – Jetzt wollen Sie sich bei der Abstimmung enthalten. Ich frage Sie, Frau Kappert-Gonther: Ist Enthaltung eine Haltung? ({0}) Heißt „Verantwortung übernehmen“ für die Grünen „Enthaltung“? Und wenn es um so viel geht, wie Sie ja auch deutlich machen, warum sitzt Ihre Kanzlerkandidatin dann in der letzten Reihe und schweigt? ({1})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, „Verantwortung übernehmen“ heißt, hier etwas Angemessenes vorzulegen. Das würde bedeuten: Maßnahmen, die zielführend sind, die abgewogen sind, die verfassungsrechtlich sauber sind und die geeignet sind, die Inzidenzen wirklich zu senken. ({0}) Wenn Sie uns hier ein Gesetz vorlegen, das nicht wirksam genug ist, das nicht konsequent genug ist und auch noch verfassungsrechtlich höchst umstrittene Ausgangssperren beinhaltet, dann können wir weder zustimmen noch ablehnen. Und dann ist es Ausdruck einer konsequenten Haltung, zu sagen: Wir erkennen an, was Sie tun, und wir sehen, was Sie versäumen und dringend nachbessern müssen. Das bedeutet in der Konsequenz: Enthaltung. ({1}) Nur so, wenn wir wirklich die Inzidenzen senken würden, würden wir eine Perspektive für Öffnungen, für Kultur, für Begegnungen schaffen. Gerade weil die Menschen auf dem Zahnfleisch gehen, weil die seelischen Erkrankungen zunehmen, die Menschen wütend und müde sind – es gibt dieses neue Wort: „mütend“ –, brauchen wir konsequentere Maßnahmen für eine echte Perspektive, deutlich konsequenter als das, was Sie hier heute vorlegen. ({2}) Konsequenter wäre, im Arbeitsbereich mehr Verantwortung zu übernehmen: verpflichtendes Homeoffice – das auch wirklich kontrollieren –, sonst FFP2-Masken-Pflicht und verpflichtende Schnelltests, und zwar mehrfach die Woche. ({3}) Statt für konsequente Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz, für Kinder, für Familien zu sorgen, verankern Sie aber die eben schon kurz angesprochene verfassungsrechtlich bedenkliche Ausgangssperre. Das schadet! Das schadet auch der Akzeptanz. Die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, sie müssen von der Bevölkerung nachvollzogen und dann auch eingehalten werden können. ({4}) Es ist unser größtes Potenzial, dass die Menschen wirklich mitmachen, und das ist nicht das, was Ihr Gesetz hier in Gänze ermöglicht. Nur Perspektive schafft Akzeptanz. ({5}) Ja – das erkennen wir mit unserem Abstimmungsverhalten ausdrücklich an –, dieses Gesetz leistet einen Beitrag; sonst würden wir den Gesetzentwurf ja auch ablehnen. Aber er reicht eben nicht aus und enthält die angesprochenen problematischen Seiten. ({6}) Das ergibt in einer seriösen Abwägung, in einer Abwägung all der Argumente, die wir vor uns haben, eine Enthaltung. Eins muss klar sein:

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Verhandlungen für ein Paket mit entschlossenen Maßnahmen müssen jetzt unverzüglich weitergehen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Frauke Petry. ({0})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Große Koalition möchte heute das vierte Infektionsschutzgesetz verabschieden, von dem Sachverständige, Mediziner und weite Teile der Bürger und Unternehmer dringend abraten. Herr Brinkhaus, dies ist kein Gesetz „für das Leben“. Dies ist vor allem die Fortsetzung einer chaotischen Regierungsführung seit über einem Jahr, und dies ist offenbar ohne Perspektive, dass politische Vernunft wieder Einzug hält. Ich erinnere mich noch gut an das Lob – zu Recht – für die vielen guten lokalen Lösungsansätze im vergangenen Jahr, und zwar ganz ohne Ausgangssperren, ohne Maskenpflicht und vor allem ganz ohne Weisungen aus Berlin. Dann zogen mit der Ministerpräsidentenkonferenz die völlig unwissenschaftliche Bezugnahme auf PCR-Tests ohne Berücksichtigung tatsächlicher Krankheitssymptome, Zentralismus und Alarmismus in die deutsche Debatte ein. Sie wollen nun suggerieren, dass weitgehende Einschränkungen der Grundrechte, Beschäftigungsverbote und die wissenschaftlich unsinnigen flächendeckenden Ausgangssperren bessere Resultate erzielen als Entscheidungen vor Ort, wo man sich kennt. Wenn ein Covid-Ausbruch in einem Pflegeheim oder in einem einzelnen Wohnblock eines einschlägigen Wohngebietes – ob mit oder ohne schwere Verläufe, ob bei Geimpften oder Ungeimpften – eine ganze Region oder Stadt statistisch zur roten Zone werden lässt und das Leben lahmlegt, dann helfen Ihre Gesetzesänderungen überhaupt nicht. Sie helfen nicht den Erkrankten, aber Sie nehmen über 99 Prozent der unbetroffenen Bürger in Mithaftung. Nein, statt Zentralismus brauchen wir Föderalismus, weniger Kanzleramt, weniger „basta!“ und mehr kommunale Autonomie. Warum weigern Sie sich, Frau Bundeskanzlerin, die Untauglichkeit Ihrer PCR-Inzidenzen für die Beurteilung der Lage endlich anzuerkennen? Weil dann Angst und Dramatik Ihrer Pandemie als Instrumente zur Kujonierung der Bürger endlich als demokratieschädigend und unverantwortlich erkannt würden? Sie bringen die Polizei in unfassliche Konflikte, wenn Sie Beamte zwingen, Spaziergänger, spielende Kinder und überhaupt alle freiheitsliebenden Bürger zu kontrollieren und zu verfolgen, nur weil diese ihr normales Leben leben wollen, ganz zu schweigen von den Millionen Künstlern und Musikern, die Sie schon lange mundtot gemacht haben. Dieses Gesetz ist das in Paragrafen gegossene Misstrauen einer Regierung, die nicht ein Virus, sondern die mündigen Leistungsträger dieses Landes mit allen Mitteln bekämpft. Was für ein Niedergang eines ehemals freiheitlichen Landes im Herzen Europas. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Stracke, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen alles dafür tun, diese dritte Welle zu brechen, umzukehren. Deswegen schaffen wir ab einem Inzidenzwert von 100 ein einheitliches Instrumentarium, das für alle in gleicher Weise und gleich konsequent greift. ({0}) Damit erzielen wir eine größere Wirkung gegenüber regionalen Lösungen. Und darauf kommt es jetzt an; denn die Lage ist sehr ernst. Denn wir erleben längere Krankheitsverläufe, wir erleben Krankheitsverläufe von viel Jüngeren, und es sind die Berufstätigen, die gerade auf der Intensivstation liegen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Kollegin von Storch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Nein, danke. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen die Intensivbetten natürlich für Covid-19-Patienten; aber wir brauchen sie auch für diejenigen, die mit Herzinfarkt, aufgrund von Unfällen, aufgrund von Notfall-OPs in unsere Krankenhäuser kommen. ({1}) Wir haben eine Schutzpflicht gegenüber Leben und Gesundheit der Menschen, und diese Schutzpflicht nehmen wir mit diesem Gesetz wahr. Und wir setzen auf Schnelligkeit. Das bedeutet, dass wir dieses Gesetz am Freitag in Kraft setzen, wenn Bundestag und Bundesrat zustimmen. Das macht einen Unterschied ab Samstag in den Landkreisen. Wir setzen auf Wirksamkeit all dieser Maßnahmen, die wir ergreifen; denn wir greifen bei den Schulen an, wir greifen bei den Arbeitsstätten und im privaten Bereich an. Das sind die Hauptinfektionsherde in diesem Bereich. Und wir setzen natürlich auch auf Akzeptanz, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Für all diese Maßnahmen braucht es die notwendige Akzeptanz. Ich habe den Eindruck, dass diese in der Bevölkerung wieder stärker wächst, weil die Lage ernst ist. Wir werben dafür. Wenn Regeln nicht mehr in der Breite akzeptiert werden, dann beginnen sie auch, an Wirkung zu verlieren. Deshalb setzen wir beispielsweise auf die bewährten Lösungen im Einzelhandel: Click and Collect und Terminshopping mit Test. Und wir setzen auch bei den Ausgangsbeschränkungen darauf, dass die erst ab 22 Uhr eintreten. Das ist Ausdruck der Lebensrealität. Das nehmen wir ernst. Diese Balance von Schnelligkeit, von Wirksamkeit und von Akzeptanz ist bei diesem Gesetz gewahrt. Ich bitte um Zustimmung. Herzliches Dankeschön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Folgt der Wissenschaft!“, hören wir seit über einem Jahr – aus Sicht der Regierung, aber offensichtlich nur der ihr genehmen. Denn die andere Hälfte der am Freitag gehörten Sachverständigen sieht in diesem Gesetzentwurf ein so massives Problem, dass zwei von ihnen sogar damit rechnen, dass das gesamte Gesetz vom Verfassungsgericht kassiert wird. Herr Brinkhaus, ich möchte Sie fragen: Welche Brücken haben Sie denn gebaut, die Sie vorhin angekündigt haben? Wieder gibt es keine Begründung, warum der Bund es besser können soll als die Länder. Und obwohl es unmissverständliche Aussagen zum Gefährdungspotenzial innen und außen gibt, wollen Sie jetzt eine Testpflicht für einen Zoobesuch oder für Sport im Freien für die Begleitperson. Sie wollen sie nicht fürs Einkaufen, nicht für das Spazierengehen im Park, und auch für die heutige Sitzung hier im Saal, der gut besucht ist, war keine Testpflicht erforderlich. Ich frage Sie: Wo ist das Gefährdungspotenzial höher, gerade hier oder wenn die Familie allein im Freigehege im Zoo steht? Erklären Sie mir das. Bei den zahlreichen Einschränkungen von Grundrechten haben Sie doch im Entwurf glatt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit vergessen. Also, zack, fix mit einschränken. Ebenso die unternehmerische Freiheit: einfach abwürgen. Wenn Kinder- und Jugendärzte sagen: „Schulen sind nicht die Hotspots“, ist Ihre Reaktion: Zahl runter, 165, gewürfelt. Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter rügt diesen Entwurf. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft befürchtet keinen Zusammenbruch – obwohl die Lage schwierig ist; keine Frage. Sie wissen das alles; diese Stellungnahmen liegen Ihnen vor. Sie gibt es schwarz auf weiß. Jetzt wollen Sie Tests mit CE-Zertifizierung anerkennen. Das ist prima. Das Ministerium Spahn weiß, dass man bei Material aus Asien schnell mal eben mit 20 Prozent Ausschuss kalkulieren muss. Und jeder, der schon mal im echten Leben industrielle Waren von dort bezogen hat, weiß, dass nicht unbedingt überall, wo CE draufsteht, CE drin ist. Jetzt nehmen Sie Ihre Inzidenzen, an den Sie alles festmachen, stellen das diesen Unwägbarkeiten gegenüber und fragen sich, was das alles noch wert ist! Ich sage es ganz deutlich: Wer heute für dieses Papier abstimmt, dem muss die Hand abfallen. Geben Sie Ihr Mandat beim Rausgehen am besten gleich ab. Denn Sie wollen es ja anscheinend nicht wahrnehmen. Enthalten ist heute auch feige. Die Lage ist ernst; keine Frage. Aber wir sind als Volksvertreter aufgerufen, die Verfassung zu schützen und sie nicht entgegen besserem Wissen und trotz aller fundierten Warnungen zu brechen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind jetzt am Ende einer Debatte, in der viele Argumente hin und her gewogen wurden. Und es sind wirklich auch schwierige Fragen, politisch sehr schwierige Fragen, auch verfassungsrechtlich schwierige Fragen. Deswegen ist es gut, dass wir hier im Deutschen Bundestag darüber diskutieren. Aber ich glaube, man darf trotz der ganzen Argumente nicht vergessen, weswegen wir diese bundeseinheitliche Notbremse am Ende machen, und da möchte ich schon noch einmal zurückgehen, erinnern an das letzte Wochenende, an den letzten Sonntag. 80 000 Menschen haben im Zuge der Coronapandemie ihr Leben verloren – 80 000 Menschen. Das ist nicht nur irgendeine Zahl – dahinter stehen Schicksale, dahinter stehen Familien, die unsägliches Leid erfahren mussten. Manche konnten noch nicht einmal Abschied nehmen von den Menschen, die auf den Intensivstationen lagen und jetzt nicht mehr unter uns sind. Familien sind zerstört worden. Ich finde, es war richtig, dass wir ein solches Signal am letzten Wochenende ausgesendet haben. Aber ich finde auch – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht –, ich bin nicht dafür in den Deutschen Bundestag gewählt worden, um Signale auszusenden, sondern ich bin gewählt worden, um zu handeln, und das machen wir mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Denn wir haben eine Verpflichtung – politisch und auch rechtlich –, dass wir dem staatlichen Schutzauftrag nachkommen, dass wir das Leben und die Gesundheit der Menschen schützen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Luczak, würden Sie noch eine Zwischenfrage zulassen? ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, vielen Dank; wir haben die Argumente ausgetauscht. – Wir haben einen Schutzauftrag, dass wir das Leben und die Gesundheit schützen. Deswegen handeln wir, deswegen sind wir entschlossen, die dritte Welle zu brechen. Deswegen haben wir auch einen bunten Baukasten von Instrumenten. Die Ausgangsbeschränkungen, die jetzt von allen Oppositionsfraktionen so kritisiert worden sind: Ich weiß gar nicht, was Sie für Studien lesen. Gucken Sie sich das doch mal an; die wissenschaftliche Lage ist eindeutig: Selbstverständlich bringen Ausgangsbeschränkungen auch etwas bei der Pandemiebekämpfung. ({0}) Das ist ein Baustein von vielen. Deswegen brauchen wir auch diese Ausgangssperren, deswegen brauchen wir diese Beschränkungen, weil wir sagen: Wir müssen alles tun, damit das Leben der Menschen geschützt wird, meine Damen und Herren. ({1}) Einen letzten Punkt, der mir ganz wichtig ist – weil wir natürlich nicht nur Schutzmaßnahmen machen –: Wir geben auch eine ganz klare Perspektive. Wir geben der Bundesregierung jetzt eine Rechtsverordnungsermächtigung, um zu regeln, dass diejenigen, die nicht mehr infektiös sind, die geimpft sind, die getestet sind, die schon einmal eine Infektion durchlaufen haben, dass die wieder Freiheitsrechte zurückbekommen. Das ist richtig, das ist auch verfassungsrechtlich zwingend, ({2}) und deswegen werden wir hier vorangehen, dass wir schnellstmöglich wieder zurück in die Normalität kommen. Dazu leistet dieses Gesetz einen wichtigen Beitrag. Deswegen bitte ich Sie alle um Zustimmung an dieser Stelle. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Wir können die Debatte zum Thema Covid-19 global weiterführen. Das ist eine globale Pandemie, die wir nur weltweit besiegen können; das muss uns allen klar sein. 150 Millionen Infizierte, 3 Millionen Tote, davon zwei Drittel in Entwicklungs- und Schwellenländern – das ist die Situation. Was die Impfstoffe betrifft, schaut es so aus, dass 70 Prozent der Impfstoffe bisher an die zehn reichsten Länder gingen. Das kann nicht die globale Solidarität sein, die wir auf Weltebene einbringen. Wir brauchen Solidarität. Deutschland geht voran und hat die internationale Impfplattform Covax mit 2,1 Milliarden Euro finanziert. Es fehlen 22 Milliarden Euro, um 20 Prozent der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu impfen. Meine Damen und Herren, eine globale Bedrohung ist auch die Klimakrise. „Stellt uns’re Erde wieder her!“ – das ist das Motto des World Earth Day am morgigen Tag. Das sind auch die Herausforderungen, auf die wir, die deutsche Entwicklungspolitik, Antworten geben. Die Herausforderungen zu lösen, das ist die Aufgabe, und dabei müssen wir uns im Klaren sein: Wir sind Teil eines großen Ganzen. Deutschland stellt 1 Prozent der Weltbevölkerung, die EU noch 6 Prozent. Das Wachstum der Weltbevölkerung hat eine starke Dynamik angenommen. Bis 2050 wird sich die Weltbevölkerung auf 10 Milliarden Menschen vergrößern. Und das erfordert eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion um 50 Prozent und eine Steigerung der Energieproduktion um 70 Prozent.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, es hat nicht nur eine symbolische Bedeutung, dass wir auch mitten in den Bedrängnissen der Pandemie wissen, dass das nicht das einzige Problem ist, das die Welt beschäftigt. Das macht einen guten Sinn, setzt aber voraus, dass Sie die Ruhe im Saal und die Aufmerksamkeit herstellen, sodass wir während der Abstimmung zum Infektionsschutzgesetz zugleich die Regierungsbefragung mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Dr. Gerd Müller, durchführen. Mit dieser Unterbrechung, Herr Bundesminister, darf ich Sie bitten, Ihre Ausführungen fortzusetzen. ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Frau Kollegin Pau, die mich jetzt ablöst, darf ich bitten, bei Ihrer Redezeit zu berücksichtigen, dass ich Sie ein Stück weit unterbrochen habe.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Sehr gut. Vielen Dank, Herr Präsident. – Das schließt sich ja nahtlos an das an, was ich gesagt habe zur Covid-19-Pandemie in Deutschland und dazu, welche Strategie wir weltweit haben. Das alleine wäre schon ein Thema, über das wir uns jetzt unterhalten müssen. Die zweite globale Herausforderung ist die Klimakrise. Meine Damen und Herren, wir wissen, wir haben die Lösungen und die Technologien. Was fehlt, ist weltweit der politische Wille, diese Herausforderungen entschlossen anzugehen. Wir wissen, wie es geht: Wir haben den Weltzukunftsvertrag, die SDG-Agenda, aber wir hinken bei der Umsetzung dieser Ziele weit hinterher. Wir wissen, was notwendig ist: Das ist die Umsetzung der Paris-Agenda; aber nur zehn Länder haben die Ziele, die sie sich 2015 in Paris selbst gesteckt haben, heute erfüllt. Also, gehen wir voran! Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit gibt Antworten und Lösungen. „BMZ 2030“ ist der neue Politikansatz in der Entwicklungszusammenarbeit. Der Marshallplan mit Afrika ist ein neues Reformpartnerkonzept mit den afrikanischen Ländern. Wir setzen auf eine globale Energiewende für weltweiten Klimaschutz und den Erhalt der Biodiversität. Globalisierung muss gerecht gestaltet werden, und deshalb haben wir das deutsche Lieferkettengesetz, über das wir morgen diskutieren, auf den Weg gebracht. Das Textilbündnis und das Textilsiegel Grüner Knopf haben eine Signalwirkung in Europa. Wir bekämpfen Armut weltweit. Eine Welt ohne Hunger ist möglich. Aber dieses Thema steht nicht auf der Agenda der Politik, weder europäisch noch weltweit. Eine Welt ohne Hunger ist möglich, aber wir lassen sterben. Meine Damen und Herren, die OECD würdigt die starke deutsche Führungsrolle in der Flüchtlingspolitik und in den Flüchtlingsregionen, unsere große Aufbauleistung in Afghanistan, unser Engagement in Syrien und insgesamt im Krisenbogen. Beispielhaft bezeichnet die OECD in ihrem aktuellen Prüfbericht die Reaktion Deutschlands auf die Covid-19-Pandemie mit dem Corona-Sofortprogramm als vorbildlich. Die ODA-Zielmarke von 0,7 Prozent wurde 1974 aufgestellt. Seit 1974 ist dies das Ziel, das sich die Reichen selber gegeben haben. Es waren damals Willy Brandt und Erhard Eppler, einer meiner Vorgänger, die für Transfers vom Norden in den Süden gekämpft haben. Erhard Eppler ist einer der ganz wenigen Bundesminister – drei Bundesminister sind es bisher –, der zurückgetreten ist, weil ihm der Haushalt gekürzt wurde. Wir haben die Situation, dass wir erstmals seit 1974 die ODA-Quote in den Jahren 2019 und 2020 erreicht haben. Hier gilt mein besonderer Dank Ihnen, der Kanzlerin, aber auch den Bundesfinanzministern Schäuble und Scholz. Wir haben in den letzten acht Jahren den Haushalt des Entwicklungsministeriums verdoppelt, um die genannten Herausforderungen gezielt angehen zu können. Bis auf die AfD habe ich großartige Unterstützung aller Fraktionen im Haus. ({0}) So soll es weitergehen. Die Probleme sind lösbar: mit starkem Willen und Gestaltungskraft. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke, Herr Minister. – Die erste Frage stellt der Abgeordnete Frohnmaier.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Minister. – Wir versuchen natürlich auch, Ihre Arbeit zu unterstützen, ({0}) aber wir begleiten sie eben auch kritisch. Dazu gibt es eben Anlass. Sie werben immer wieder für Transparenz, für gute Regierungsführung, für Demokratie. Und da muss ich Sie schon mal fragen: Wie halten Sie es dann mit Ihrer externen Qualitätskontrolle der GIZ? – Wir hatten vor circa einem Jahr schon einmal die Gelegenheit, darüber zu sprechen. Ich will Sie auch heute noch mal darum bitten, dass Sie uns endlich diese Qualitätskontrolle zur Verfügung stellen, und zwar dem ganzen Parlament, weil es wirklich Grund zur Besorgnis gibt. Wir wissen, dass bei den Projekten eine durchschnittliche Wirtschaftlichkeit von circa 44 Prozent besteht. Wir sprechen hier über ein Staatsunternehmen, das mit Aufträgen von bis zu 10 Milliarden Euro auch aus Ihrem Haus in den letzten Jahren ausgestattet worden ist. Wenn da eine solche Wirtschaftlichkeit vorzufinden ist, dann müssen wir das wissen, und gerade auch, wenn wir uns die Mittelfehlverwendung anschauen – ich habe es Ihnen heute mal mitgebracht –: Von 2005 bis 2019 hatten wir 84 Fälle, das sind etwa sechs Fälle pro Jahr. Von April 2020 bis Januar 2021 waren es aber ganze 36 Fälle, Herr Minister, also eine Steigerung um 800 Prozent. Da ist es doch wichtig, dass das Parlament hier Einblick bekommt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter, könnten Sie bitte das Fragezeichen setzen!

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir wollen Sie natürlich dann auch kritisch unterstützen. Geben Sie uns daher bitte endlich die Qualitätskontrollen heraus. ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Zentral wichtig ist die Aussage: Kein Euro in korrupte Kanäle. – Ich bin stolz darauf, dass uns der Rechnungshof in den letzten Jahren diese gute Arbeit auch immer wieder bestätigt hat. Zur GIZ möchte ich sagen: eine großartige Organisation, eine Durchführungsorganisation, wie sie kein europäisches Land oder sonst ein Land auf der Welt hat. In den letzten Jahren haben sich das Budget und die Aufgaben massiv ausgeweitet. Deshalb haben wir eine Organisationsuntersuchung der GIZ abgeschlossen. Der Abschlussbericht wird dem Haushaltsausschuss, der diesen angefordert hat, zugeleitet. Die Ergebnisse werden wir hier oder im zuständigen Ausschuss diskutieren; sie sind in der Quintessenz sehr positiv, ein sehr positives Signal und Testat für die Arbeit der GIZ, aber zeigen natürlich auch Weiterentwicklungs- und Reformbedarf. Das ist nach zehn Jahren und bei einer Ausweitung des Haushalts auch für die GIZ um 60 Prozent ja auch ganz normal.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit einer Nachfrage. Ich bitte, auf die Zeit zu achten.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Minister, jetzt haben Sie leider meine Frage nicht beantwortet. Vielleicht noch einmal ganz konkret; möglicherweise war es missverständlich: Wann bekommen wir von Ihnen die externe Qualitätskontrolle? Noch einmal: Bei einer Wirtschaftlichkeit von circa 44 Prozent bei 10 Milliarden Euro – die GIZ ist ein Staatsunternehmen; das sind Steuergelder, über die wir hier sprechen – muss doch dem Parlament die Möglichkeit der Einsicht gewährt werden. Oder wollen Sie so etwas ganz grundsätzlich eben nicht? Journalisten haben Sie es in der Vergangenheit zur Verfügung gestellt. Warum hat die Presse mehr Recht auf Information als das Parlament hier?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Also, das einmal grundsätzlich an alle, die zuhören: Wir sind transparent und offen, und die Kontrolle des Parlaments wird von niemandem infrage gestellt. Die schriftlichen und mündlichen Anfragen, die Kleinen und Großen Anfragen haben sich in dieser Legislaturperiode verdoppelt: 3 000 Anfragen allein an mein Haus, auch zur GIZ. Sie bekommen alles; es ist alles transparent. Und kann man noch transparenter sein, als in dem Fall Ernst & Young zu beauftragen, sich von außen – nicht wir geben Ihnen einen Bericht – drei Monate mit den Strukturen der GIZ auseinanderzusetzen und einen Bericht anzufertigen, den jetzt der Haushaltsausschuss des Parlaments zur Diskussion bekommt? – Also vollkommene Transparenz; da gibt es nichts zu verstecken. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Sascha Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, erst mal: Ja, wir freuen uns auch, dass wir es mit Ihnen und vor allem auch mit unserem Finanzminister Olaf Scholz geschafft haben, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit jetzt so zu steigern, dass wir endlich die 0,7-ODA-Quote erreichen. Meine Frage zielt auf die Verwendung der Mittel. Wir haben jetzt durch die Coronapandemie eine extrem schlimme Situation in Entwicklungs- und Schwellenländern, nicht nur im gesundheitlichen Bereich, sondern vor allem durch die sozialen Folgen der Pandemie. Viele Menschen sind wieder in extreme Armut und Hunger gefallen. Sehr hilfreich ist da das Instrument der Social Cash Transfers, also dass man den ärmsten Menschen Geld gibt, konditioniert, eventuell an den Schulbesuch gebunden, wie es in Brasilien gemacht wird. Aber es ist halt ganz wichtig, dass diese sozialen Sicherungssysteme jetzt gestärkt werden. Ich weiß, dass dazu schon Ansätze im Etat sind; aber da ist noch deutlich Luft nach oben, und ich würde Sie fragen, ob Sie sich dafür einsetzen, dass wir jetzt hier in dem Bereich soziale Sicherungssysteme/sozialer Basisschutz noch mehr tun können. – Danke.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ja, das ist der richtige Ansatz, der von Ihnen kommt, und das wird sich auch im Haushaltsvorentwurf für das nächste Jahr niederschlagen. Ich habe das aufgenommen; denn wir alle müssen wissen: Diese Coronakrise ist weltweit auch eine Armuts- und Hungerkrise. Überlegen Sie sich mal, über was wir in Deutschland diskutieren, welche Hilfsmöglichkeiten, welche Programme, welche Stützung – alles gut. 300 Millionen Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren, damit Familien ihr Einkommen verloren. Deshalb müssen wir uns in den nächsten Jahren verstärkt auf den Weg fokussieren, den Sascha Raabe hier anspricht: die Entwicklung von sozialen Strukturen, von sozialen Sicherungssystemen in diesen Ländern; und da hat Deutschland ja eine ganze Menge zu bieten. Ich möchte mich an der Stelle ganz besonders bei Sascha Raabe bedanken, der lange Zeit entwicklungspolitischer Sprecher war und auch noch ist – ohne ihn hätten wir und auch ich als Minister diesen Erfolg nicht –, stellvertretend bei der SPD-Fraktion und bei Finanzminister Scholz, verbunden aber auch mit einer Mahnung: Der Finanzplan stürzt ab. Sascha und ich und viele Haushaltspolitiker werden nicht mehr dabei sein. Es kann nicht sein, dass wir heute bei 0,7 Prozent sind und morgen bei 0,4 Prozent sein werden. Deshalb: Stoppt diesen Finanzplan! – Das ist mein Aufruf an die kommende Generation hier im Haus. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben gleich die Möglichkeit zu einer Nachfrage. – Ich bitte Fragende wie Antwortende Danksagungen, Wünsche und anderes in die Frage- bzw. Antwortzeit entsprechend einzupreisen. Sie haben jetzt die Möglichkeit zu einer Nachfrage.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Gerd, danke für die netten Worte. Ich glaube, im Zweifelsfall werden wir uns dann beide auch, wie das hier immer so einige machen, mit Schildern in der Hand vor den Eingang des Reichstags stellen und Kolleginnen und Kollegen daran erinnern, ({0}) dass sie dann auch kräftig die Finanzplanung, die nur eine Regierungsfinanzplanung ist und nicht eine parlamentarische Finanzplanung, korrigieren. Das Parlament hat ja das Haushaltsrecht, und ich bin zuversichtlich, dass das dann vom Parlament auch korrigiert wird, so wie wir in den letzten Jahren ja auch als Parlament immer die niedrigen Finanzplanungen gemeinsam gut korrigiert haben. Eine Nachfrage hätte ich noch. Soziale Sicherung ist das eine; aber Menschen sollen ja auch von ihrer eigenen Hände Arbeit gut leben können und brauchen dazu faire Handelsbedingungen. Ich weiß ja, dass du genau wie Hubertus Heil ein großer Unterstützer des Lieferkettengesetzes bist. Aber wir brauchen auch faire Handelsverträge, und die SPD-Minister haben sich jetzt sehr positiv zu der neuen EU-Handelsstrategie positioniert und wollen, dass Verstöße gegen die Nachhaltigkeitskapitel, in denen Menschen- und Arbeitnehmerrechte verankert sind, auch sanktionsbewehrt sind und geahndet werden. Wie sieht das denn die CDU-Seite? Denn da muss ja die Bundesregierung jetzt eine Stellungnahme gegenüber der EU abgeben. Unterstützen das denn deine Kolleginnen und Kollegen auch und nicht nur du persönlich, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– dass da jetzt Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen die Menschen- und Arbeitnehmerrechte eingebaut werden?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Fairer Handel weltweit ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts und der Schlüssel für erfolgreiche Entwicklung. Wir können nicht mit Geldern diese Herausforderungen in Entwicklungs- und Schwellenländern lösen. Wir müssen sie mit Veränderung der Strukturen lösen, und das heißt: vom freien zum fairen Handel. Ich habe das vor 14 Tagen mit Dr. Ngozi, der neuen WTO-Chefin, besprochen. Das muss und wird ein nächster Schritt sein, Globalisierung gerecht zu gestalten. Bei den Welthandelsabkommen oder den EU-Handelsabkommen muss genau dieses Prinzip umgesetzt werden, dass faire Bedingungen, soziale und ökologische Mindeststandards in den Handelsvereinbarungen der EU mit Indonesien, mit Brasilien und anderen Ländern in verschiedenen Erdteilen eingehalten und Verstöße dagegen sanktioniert werden. Das gilt auch für den ökologischen Bereich, beispielsweise im Mercosur-Abkommen. Ich verrate aber kein Geheimnis, dass das eine offene Frage zwischen Entwicklungsminister und Wirtschaftsministerium in Deutschland ist. Aber auch da sehe ich Bewegung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich habe noch drei Nachfragen zu ebendiesem Thema vorliegen und bitte Sie, Herrn Minister, aber auch die Fragenden, daran zu denken, dass wir jetzt jeweils 30 Sekunden zur Verfügung haben.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

30?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ist das Speeddating, oder was? ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das ist schon etwas länger so, und die Herausforderung für die Abgeordneten ist, zu erkennen, da unsere optische Anlage eben nicht von 30 Sekunden, sondern nur von einer Minute herunterzählt, dass dann bei 31 Sekunden die Zeit aufgebraucht ist. – Gut. Die nächste Nachfrage stellt der Abgeordnete Kraft.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Minister, Sie haben in Ihrem Eingangsstatement und gerade gegenüber dem Kollegen Raabe sehr drastisch den Hunger in der Welt geschildert und gesagt, was das bedeutet. Nun kann ich nicht umhin, festzustellen, dass Ihre Regierung auch mit beteiligt ist – ständig –, die sogenannte konventionelle Landwirtschaft schlechtzureden und eine ökologische Landwirtschaft zu fordern. Es ist aber das BMEL, das Ministerium für Landwirtschaft, das festgestellt hat, dass eine Umstellung zum sogenannten ökologischen Landbau zu geringeren Flächenerträgen führt. Sie wollen das gleichzeitig hier in Deutschland etablieren und auch in die Entwicklungs- und Schwellenländer bringen. Deswegen frage ich Sie: Wie geht das zusammen? Ihr Aufruf, dass wir mehr gegen den Hunger tun müssen, und das Verfolgen einer Landwirtschaftspolitik, die geringere Flächenerträge bringt?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Weltweit ist in der Agrarwirtschaft das Schlüsselwort „Bioökonomie“, also die vorhandenen Ressourcen und Strukturen nutzen und unterstützen. Es sind vor allem – und das ist der Skandal – 500 Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die weltweit hungern. Hier müssen wir mit Methoden der Bioökonomie ansetzen. – 30 Sekunden. Mehr ist nicht machbar.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege von Holtz.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Kollege Raabe hat ja auf Covid-19 und die Folgen abgehoben. Eine der unmittelbaren Folgen bei Ihnen im Haus war ja, dass Sie das Thema „One Health“ auf die Tagesordnung gesetzt haben und die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Flachsbarth damit beauftragt haben, den „One Health“-Ansatz umzusetzen; denn man sagt, dass sich das Coronavirus aufgrund von Zoonosen verbreitet hat. Nun würde ich davor warnen, „One Health“ ausschließlich zur Pandemiebekämpfung einzusetzen, und möchte Sie fragen, inwieweit auch bei Ihrer Strategie im Haus bei der Umsetzung des „One Health“-Ansatzes berücksichtigt wird, dass dies nicht nur der Pandemiebekämpfung dient, sondern ein vollständiger interdisziplinärer Ansatz ist.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich weiß, dass Sie Fachmann sind, und bitte Sie, dazu eine Sondersitzung des Bundestages – mit zumindest einer Stunde Dauer – zu beantragen und eine Debatte zu initiieren, um über dieses zentral wichtige Thema zu diskutieren. Meine Damen und Herren, wir diskutieren über Methoden, um jetzt kurzfristig zu reagieren. Dieses Virus hat einen Hintergrund, einen Auslöser. Hier müssen wir ganzheitliche Antworten finden. Das heißt, Veterinär-, Humanmedizin und Landwirtschaft zusammenzubringen, um neue Lösungsstrukturen, auch in der Agrarpolitik, umzusetzen. Wenn wir fragen: „Woher kommt das Virus?“, „Wie ist es entstanden?“, dann bekommen wir auch die Antwort auf die Frage: Wie schaffen wir es, übermorgen nicht in eine Folgepandemie zu geraten? Denn Wissenschaftler sagen uns: Mindestens 40 solcher Viren sind bereits weltweit identifiziert. – 30 Sekunden, stimmt das?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich die nächste Nachfrage aufrufe, komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 1 a. Die Zeit für die namentlichen Abstimmungen über die Änderungsanträge der Fraktion der FDP ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmungen und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Abstimmungen werden Ihnen später bekannt gegeben. Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Dr. Hoffmann.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, für das Wort. – Sehr geehrter Herr Minister! Lieferkettengesetz: Sie wissen ja, dass verschiedene Verbände und vor allem auch die Mittelständler in Deutschland große Sorge haben bezüglich dieses doch recht bürokratischen Gesetzes, das ja eigentlich in die Gesetzgebungsbefugnis der Europäer gehört. Wir sprechen uns ja auch für ein europäisches Lieferkettengesetz aus. Die Frage ist aber eigentlich ganz kurz: Inwieweit glauben Sie, dass durch dieses bürokratische Monstrum – Sie gehen mit diesem Gesetz ja nicht nur auf eine Ware wie zum Beispiel Fisch ein, sondern auf das komplette Warensortiment und auf Vermengungen und Vermischungen – die alles entscheidende Investitionsneigung der privaten Wirtschaft bezüglich Entwicklungsländer, die wichtig für deren Wohlstand ist, gesteigert wird?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

In keiner Weise trifft Ihre Vermutung zu. Das Lieferkettengesetz, das wir hier morgen in erster Lesung beraten, ist ein Meilenstein hin zu fairen Handelsbeziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. ({0}) Zur Umsetzung von sozialen und ökologischen Mindeststandards und zur Verhinderung von Kinderarbeit für unsere Produkte sollte jeder diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Eine weitere Nachfrage stellt die Kollegin Sommer.

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Entwicklungsminister Müller, Sie haben ja Armut und Hunger während der Pandemie, insbesondere in den ärmeren Ländern, ja kurz erwähnt. Ich möchte Sie fragen: Welche zusätzlichen Anstrengungen wollen Sie unternehmen, um insbesondere in den ärmeren Partnerländern der EZ, also der Entwicklungszusammenarbeit, der dramatischen Verschärfung der Hungerkrise entgegenzuwirken, nachdem bereits im letzten Jahr über 130 Millionen Menschen pandemiebedingt in Hunger und Armut zurückgefallen sind?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir haben eine Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“, die wir natürlich weiterführen. Aber ich sage es noch einmal an Sie alle hier: Eine Welt ohne Hunger ist möglich, und zwar innerhalb von zehn Jahren – innerhalb von zehn Jahren! –, wenn wir bereit wären, zu investieren, unser Wissen und unsere Technologie zu transferieren und den Entwicklungs- und Schwellenländern zur Verfügung zu stellen. Das ist der Weg. Und was kostet das? Das kostet uns pro Jahr zusätzlich 15 Milliarden – nicht uns, sondern die Weltgemeinschaft. Was ist die Antwort? Ein „No“, „Lasst sie verhungern!“. Das kann nicht die Antwort der Weltgemeinschaft sein. Ich werde an diesem Thema weiterarbeiten. Denn es ist ein verschwindend kleiner Betrag, eine Welt ohne Hunger zu schaffen, wenn wir uns im Vergleich dazu die Ausgaben für Rüstung, für Militär, für Verteidigung anschauen. ({0}) Allein der US-Haushalt für Verteidigung ist in diesem Jahr um 50 Milliarden gestiegen. Ich freue mich aber, dass sich Joe Biden, der neue Präsident, bei „Eine Welt ohne Hunger“ wieder neu solidarisch einbringt. – Jetzt habe ich überzogen. ({1}) Aber das ist mein Herzthema, und die Frage kann man nicht in 30 Sekunden beantworten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie werden auch gleich die Möglichkeit haben, weiter dazu zu sprechen. Ich lasse noch zwei Nachfragen zu dieser Frage zu, und dann gehen wir weiter in der Reihenfolge. Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Spaniel. – Hat sich erledigt. Dann fragt der Abgeordnete Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Minister, mein Kollege Sascha Raabe hat ja schon Ihre Arbeit gewürdigt. – Kurze Frage: Der Weltbevölkerungsbericht liegt jetzt vor, und im Bereich der Sahelzone stellen wir nach wie vor eine sehr hohe Reproduktionsrate fest. Bei den Prioritäten, die Sie für die Sahelregion aufgestellt haben, findet sich das Thema Bevölkerungsentwicklung nicht wieder. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass wir gerade über die Bildung von Frauen eine Chance haben, um auch die Zukunft von Mali zu sichern. Sehen Sie das ähnlich?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Das sehe ich genauso wie Sie. Das Thema Familienplanung darf kein Tabu sein, im Gegenteil! Es ist Schwerpunkt unserer Regierungsverhandlungen und Kooperationen in all diesen Ländern. Dazu ist die entscheidende Grundlage: Gleichberechtigung, gleicher Zugang, voller Zugang der Frauen Afrikas und der Welt zu Bildung. Wenn wir dies erreichen, haben wir auch beim Thema Familienplanung große Erfolge. Ich nenne Ihnen ein herausragendes Beispiel – das ist geradezu ein Mirakel; aber da steht auch eine Frau an der Spitze –: In Bangladesch gab es vor 50 Jahren pro Frau sieben Kinder. Bangladesch hat volle Gleichberechtigung für Frauen in der Gesellschaft, in der Politik, in Staat und Wirtschaft umgesetzt. Nach 50 Jahren ist die Kinderzahl auf zwei Kinder pro Frau selbstbestimmt gesunken. Das kann und muss auch der Weg in vielen afrikanischen Ländern sein: Befreiung, Selbstbestimmung der Frau. Jetzt bin ich ein bisschen irritiert, dass keine Frau geklatscht hat. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Jens Beeck.

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Bundesminister Müller, ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie gleich zu Beginn Ihres Eingangsstatements darauf hingewiesen haben, dass wir die Pandemie im internationalen Kontext betrachten müssen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Wir gewinnen den Kampf gegen die Coronapandemie weltweit, oder wir verlieren ihn eben weltweit. Wir gewinnen ihn nicht national. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass sich 44 Länder in der Welt – das zeigen Daten von UNICEF – mit weit mehr Impfstoffdosen versorgt haben, jedenfalls vertraglich, als sie selbst brauchen. Auch Deutschland gehört mit einem Überversorgungsgrad von 370 Prozent zu diesen Staaten, die über viele überzählige Covid-19-Impfstoffrationen verfügen. Auf der anderen Seite wissen wir: In Afrika ist noch nicht mal 1 Prozent der Bevölkerung geimpft. In über 30 Staaten der Welt hat die Impfung noch nicht einmal begonnen. Vor diesem Hintergrund lautet die Frage: Wie ist der Stand der Verhandlungen zur Übertragung überzähliger Impfstoffreserven bei uns, sobald die Versorgung bei uns gesichert ist, und wird in der Bundesregierung auch überlegt, Kaufoptionen an Covax zu übertragen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Impfstoff als globales Gut auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern – dazu ist es notwendig, die Impfstoffproduktion weltweit massiv auszubauen. Wenn ich heute die Meldung von BioNTech lese, dass sie wesentliche Produktionssteigerungen innerhalb von fünf Monaten vornehmen können, dann sage ich: Bitte ein Go! – Das müssen wir weltweit auf den Weg bringen. Wir sind im Augenblick dabei – ich habe nur 30 Sekunden, um solch eine Frage zu beantworten – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Im Moment haben Sie eine Minute; denn es ist ja die erste Frage. ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ach so. Ich bin etwas verwirrt. – Wir sind als Haus dabei, beispielsweise konkret festzustellen, wo in Afrika es Produktionspotenziale gibt – das ist in Südafrika und im Senegal der Fall –; denn wir müssen davon ausgehen, dass die Impfstoffe und Impfungen auch in den nächsten Jahren notwendig sind. Es genügt nicht nur eine Einmalimpfung, sondern wir brauchen Impfungen auch in den nächsten Jahren. Deshalb brauchen wir alle Investitionen und alle Kraft zum Aufbau von Impfstoffproduktionen weltweit. Indien hat hier ein großes Potenzial. Dazu habe ich Gespräche mit der WHO, mit Tedros geführt. Die WHO muss diese Initiativen weltweit koordinieren und voranbringen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Jetzt gibt es eine erste Nachfrage. Da gilt die 30-Sekunden-Regel für die Frage wie auch für die Antwort. Danach haben wir auch die anderen Nachfragewünsche zur Ausgangsfrage sortiert. Bitte.

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Vielleicht passt in die 30 Sekunden für die Antwort noch die Antwort auf die gerade gestellte Frage: Wie weit sind wir mit der Übertragung unserer Überkapazitäten? Einen zweiten Aspekt würde ich gerne beleuchten. Wir haben vor zwei Wochen gelesen, dass insbesondere China und auch andere Staaten Impfstoffdiplomatie betreiben. Im konkreten Fall ist Paraguay aufgefordert worden, gegen die Lieferung von Impfstoffdosen die diplomatische Anerkennung Taiwans zurückzuziehen. Sind Sie mit uns der Auffassung, dass es eine strategische Reserve braucht, die wir aufbauen müssen, um diese Art von Impfstoffdiplomatie zu verhindern und als Covax dort einschreiten zu können?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Erstens. Wir haben keine Überkapazitäten. Es gibt Länder, die Überkapazitäten haben. Zweitens. Es ist in der Tat so, dass 80 Länder der Welt von Covid massiv betroffen sind und bis heute keine einzige Impfdosis erhalten haben. Drittens. Deshalb haben wir, die Weltgemeinschaft und die UN-Organisationen, dieses Accelerator-System und Covax auf den Weg gebracht. 195 Staaten der Welt haben sich zusammengeschlossen, um Impfstoffe zu produzieren und zu verteilen, um Logistik, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten aufzubauen. Die Systeme stehen und funktionieren. Was fehlt, sind die Impfstoffe und die Finanzierung. Ich sage es noch einmal: Um 20 Prozent der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, die am heftigsten betroffen sind, zu impfen, braucht es 22 Milliarden Euro Finanzierung. 22 Milliarden Euro!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Schreiber.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. – Herr Minister, Sie haben es selber gesagt: Covid besiegen wir nur weltweit zusammen oder gar nicht. – Es haben 200 NGOs, der CureVac-Chef, 170 Nobelpreisträger die Forderung Indiens und Südafrikas an die WTO nach einer temporären Patentfreigabe, also nach dem TRIPS-Waiver, für die rasche Ausweitung der Produktionskapazitäten angesichts der weltweiten Notlage unterstützt. Sie berufen sich ja bislang auf Covax, obwohl Covax aufgrund der Knappheit nicht genug zu verteilen hat. Die über 100 Länder, um die es geht, wollen aber nicht länger mit dem Retten von Menschenleben warten. Wie erklären Sie diesen Ländern und Fürsprechern der temporären Patentfreigabe die deutsche Position?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich gestehe Ihnen, dass ich zunächst auch für die Freigabe der Patente war, aber dann mit der Generaldirektorin der WTO diskutiert habe und genau diese Frage gestellt habe: Schaffen wir mit der Freigabe der Patente und der Lizenzen für die Produktion der Impfstoffe mehr und schnelleren Zugang für die Entwicklungs- und Schwellenländer oder nicht? Die Nigerianerin Dr. Ngozi sagte mir: Nein, sie sei nicht für eine Freigabe, weil es damit nicht getan sei angesichts der hochkomplizierten Situation. Wir müssen Technologien austauschen, wir müssen Kooperationen aufbauen, und wir brauchen Finanzierung, Finanzierungszusagen, um die Produktionskapazitäten in den Entwicklungs- und Schwellenländern auszuweiten bzw. aufzubauen. Aber die Freigabe der Lizenzen und Patente schafft nicht einen schnelleren und umfassenden Zugang zu Impfstoffen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Peter Heidt.

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Auslandsmitarbeiter in der Entwicklungszusammenarbeit oder auch bei Stiftungen können sich prioritär gegen das Coronavirus impfen lassen, wenn sie an Orten mit unzureichender Gesundheitsversorgung tätig sind und infolgedessen einem sehr hohen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind. Müssen die Betroffenen zurück nach Deutschland reisen, oder plant die Bundesregierung eine Impfung an dem jeweiligen Einsatzort? Wie soll das dann umgesetzt werden? Und wer trägt die Kosten für gegebenenfalls notwendige Reisen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Also, das ist wirklich ein Randproblem, würde ich mal sagen. Bei unseren Auslandsmitarbeitern von Stiftungen gehe ich davon aus, dass sie sich vor Ort impfen lassen können und auch impfen lassen und nicht eine Dienstreise nach Deutschland antreten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Dr. Hocker.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, verehrte Frau Präsidentin. – Verehrter Herr Minister, Sie haben bei Ihrem Besuch im Landwirtschaftsausschuss in der vergangenen Woche sehr eindrucksvoll dargestellt, welche Auswirkungen die Bevölkerungsentwicklung, die Bevölkerungsexplosion auch auf die Landwirtschaft hat, und haben darauf hingewiesen, dass die landwirtschaftliche Fläche weltweit durch Klimaveränderungen, durch Flächenstilllegungen, Flächenkonkurrenz kleiner wird und dass diese Fläche immer effizienter genutzt werden muss, um aufgrund der Bevölkerungsentwicklung dem Hunger in der Welt etwas entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund möchte ich von Ihnen gerne wissen, ob Sie die Bestrebungen und Pläne der Bundesregierung, ein Insektenschutzgesetz in Deutschland zu verabschieden, das umfängliche Flächenstilllegungen zur Folge haben wird, mehr Bürokratie für die Betriebe bedeutet und nachhaltige und effiziente Landwirtschaft eher erschwert als erleichtert, begrüßen können?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Seit Herbert Gruhl wissen wir, dass es ohne Insekten einen stummen Frühling gibt. Deshalb sind auch ein Insektenschutzgesetz und der Insektenschutz zentral für den Erhalt der Biodiversität. Es ist in der Tat so: Am heutigen Tag wächst die Weltbevölkerung um 250 000 Menschen. 400 000 Babys werden heute geboren. Pro Jahr müssen 80 Millionen Menschen zusätzlich auf dem Planeten ernährt werden. Parallel dazu schwinden die Ressourcen an Boden und an Wasser. Deshalb stellt sich die Frage: Wie ernähren wir eine jährlich um 80 Millionen wachsende Weltbevölkerung bei weniger Boden und weniger Wasser? Die Antwort darauf gibt unter anderem die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in zwölf Innovationszentren in Afrika und in Indien durch angepasste Entwicklungen der Strukturen. Da sage ich insbesondere wieder: Stärkung der Frauen, Einsatz von modernerem Saatgut, angepasste Technologie, Produktivitätsentwicklung. – Ich muss immer auf die Uhr schauen; ich könnte dazu einen Vortrag halten, klar.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es gibt zumindest die Möglichkeit, auf eine weitere Nachfrage zu antworten. Die stellt der Kollege Graf Lambsdorff.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Frau Präsidentin. – Eine Nachfrage zu der Frage des Kollegen Heidt. Lieber Herr Minister, Sie haben das vorhin so abgetan. Aber wir haben Tausende Bundesbeamte, Bundesbedienstete, Soldatinnen und Soldaten, Mitarbeiter bundeseigener Unternehmen wie der GIZ, unserer politischen Stiftungen, von NGOs; die will ich jetzt mal außen vor lassen. Wir haben ganz viele Menschen, Tausende, die im Fürsorgebereich des Bundes, der Bundesregierung sind. Denen ist zugesagt worden, dass sie in Ländern, wo es – das haben Sie selber eben eloquent dargelegt – keine Impfversorgung gibt, prioritär geimpft werden können, um ihren Schutz dort zu gewährleisten. Unsere Fraktion möchte gerne wissen, wie sich die Bundesregierung um diese Menschen kümmert. Das sind Menschen, die im Auftrag des Bundes, in unserem Auftrag da tätig sind. Wenn Sie das hier heute nicht beantworten können, würden wir das gerne schriftlich haben.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Lambsdorff, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage. Ich hatte die Frage des Kollegen Heidt bezogen auf die Mitarbeiter der politischen Stiftungen, und da kenne ich einige, die in fernen Ländern schon sechs Wochen, bevor ich mal in die Reichweite eines Impfstoffes kam, als 30- oder 40-Jährige Zugang bekommen haben. Aber diese Frage, die das gesamte deutsche Personal betrifft, so wie Sie es beschrieben haben, muss natürlich geklärt werden. Das ist Aufgabe des Außenministers und des Innenministers. Ich setze mich für eine schnelle und konsequente Impfung aller im Ausland für uns tätigen Diplomatinnen und Diplomaten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Institutionen ein – selbstverständlich –, und wenn das nicht vor Ort möglich ist, dann durch Unterstützung der nationalen Behörden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Volkmar Klein.

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Reformbereitschaft und Bekämpfung von Korruption sind ja nun mal ganz entscheidend für Entwicklungserfolg in Afrika. Im Jahr 2017 hat das BMZ mit insgesamt sechs Staaten in Afrika Reformpartnerschaften vereinbart. Das ist quasi ja auch unser deutscher bilateraler Beitrag zur G-20-Initiative Compact with Africa. Man ist jetzt gerade dabei, eine weitere Reformpartnerschaft mit Togo zu vereinbaren. Vielleicht können wir mal ein Stück Bewertung Ihrerseits bekommen zu diesem Konzept der Reformpartnerschaften und vielleicht auch zu der Frage, welche weiteren möglichen Partner in Afrika in Zukunft noch zu finden sind.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Vielen Dank, lieber Volkmar Klein. Es war unter anderem eine Initiative der Unionsfraktion und von dir, die Zusammenarbeit stärker zu konditionieren, das heißt, an Bedingungen zu binden. Das ist der Kern der Reformpartnerschaften: natürlich keinen Euro in korrupte Kanäle, jährlich sichtbare und messbare Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung, aber auch Erfolge im Bereich der Menschenrechte, Reformen, Rechtsstaatlichkeit. Das sind die grundlegenden Voraussetzungen, um deutscher Reformpartner zu werden. Es freut uns sehr, dass, wenn wir die Kenndaten, beispielsweise den Doing Business Index, aber auch den Index der wirtschaftlichen Entwicklung, betrachten, wir feststellen, dass sich diese Länder deutlich besser als unsere anderen bilateralen Partner entwickeln. Deshalb gehen wir diesen Weg konsequent weiter: Zusammenarbeit auf der Basis von Vorgaben und Bedingungen, die wir dann messbar gemeinsam besprechen. Togo wird das nächste deutsche Reformpartnerland und musste sich dafür durch einen Prozess in den letzten zwei Jahren, durch Wahlen und durch wirtschaftliche Reformen, auch erst qualifizieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit, noch eine Nachfrage zu stellen. Danach werde ich erst einmal zum Tagesordnungspunkt 1 zurückkommen. – Bitte.

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Tatsächlich eine kurze Nachfrage; denn die Lage in Äthiopien hat sich ja leider besonders zugespitzt. Haben wir wegen der Reformpartnerschaft vielleicht noch besondere Möglichkeiten, da einzugreifen und für den inneren politischen Dialog irgendeinen Beitrag zu leisten?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir haben zusammen mit den europäischen Partnern und der Europäischen Union Äthiopien und Abiy Ahmed ganz klar mitgeteilt: Bedingung für die Fortführung weiterer Kooperation und Zusammenarbeit – was wir wollen; was wir auch tun – ist der Zugang der humanitären Institutionen und Organisationen in der Tigray-Region und eine unabhängige Kommission der UN zur Aufklärung der Verhältnisse und der Gegebenheiten dort. Äthiopien ist ein starker Partner für uns. Aber wir setzen, zusammen mit der Europäischen Union, insbesondere die vom Haushaltsausschuss ja immer zu genehmigende Reformfinanzierung unter den Vorbehalt: Einhaltung dieser beiden Bedingungen.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Herr Minister, lassen Sie mich bitte bei den Reformpartnerschaften bleiben. Äthiopien. Wir haben das Problem, dass uns seit Wochen wirklich glaubhafte Berichte erreichen, die von Massenmord reden, die von Massenvergewaltigungen reden, die davon reden, dass wirklich schwerste Menschenrechtsverletzungen in Tigray begangen werden. Drei Viertel der 5,7 Millionen Menschen dort sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, und wir haben noch immer Probleme, dort humanitäre Hilfe zu leisten. Nun ist es in der Tat, wie Sie gerade sagten, ein Reformpartnerland. Da stellt sich mir die Frage, ob es ausreichend ist, wenn man nur diese 100 Millionen Euro, die man im letzten Jahr im Reformpartnerlandbudget, sage ich jetzt mal, zurückgehalten hat, auch weiter zurückhält. Was muss eigentlich passieren, um diese Gräueltaten zu vermeiden und den Partner noch mal ganz vehement zur Räson und an den gemeinsamen Tisch zu bringen? Wäre es nicht sinnvoll, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit bis dahin erst mal einzustellen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Nein, das wäre nicht sinnvoll. Wir setzen die laufende Projektarbeit erfolgreich weiter um und haben mit den europäischen Partnern und der Europäischen Union die Auszahlung der Mittel im Rahmen dieser Reformfinanzierung zunächst einmal zurückgestellt und die Gewährung dieser Mittel unter diese Bedingungen gestellt: Zugang der UN-Organisationen zur Tigray-Region für unabhängige Untersuchungen und voller Zugang für humanitäre Hilfe. Nun muss man die Dinge vor Ort schon differenziert bewerten, bevor man zu Be- und Verurteilungen kommt. Äthiopien ist ein großes Land mit vielen Ethnien. In der Tigray-Region herrschen besondere politische Bedingungen. Der Ausgangspunkt des Konfliktes war der Überfall eines Lagers von Regierungssoldaten. Ausgangspunkt der Aggressionen war also nicht ein Regierungshandeln. Das ist eigentlich allgemeiner Konsens der UN und aller Beobachter, die vor Ort waren. Dennoch – das ist richtig und wichtig – ist Abiy Ahmed aufgefordert, alles zu tun, um eine Befriedung der Regionen vor Ort herzustellen. Daran ist darüber hinaus auch Eritrea ein Stück weit beteiligt. Sie alle wissen, dass dies eine sehr schwierige, konfliktreiche Region ist. Wir haben aber großes Interesse daran, dass wir am Kap der Guten Hoffnung, in Somalia und im Sudan, wo wir schon Millionen von Flüchtlingen haben – davon habe ich mir selber vor Ort einen Eindruck verschafft –, wieder zur Normalität zurückkehren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Abgeordnete Sommer.

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Entwicklungsminister Müller, ich möchte eine Frage zum Krisenbogen Syrien stellen, und zwar: Welche thematischen Schwerpunkte wollen Sie bei der Stabilisierung des Krisenbogens in und um Syrien bzw. im Rahmen der Nexus- und Friedenspartnerschaft in Syrien oder auch im Jemen verfolgen, um die sich wechselseitig stärkenden Krisenfaktoren aus Krieg und Pandemie einzudämmen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Der Bürgerkrieg in Syrien ist die Tragödie des Jahrhunderts: zehn Jahre, 12 Millionen Flüchtlinge, 6 Millionen Menschen in Syrien, die absoluten Hunger leiden. Das ist die Ausgangslage. Dazu kommen 6 Millionen Flüchtlinge in den umliegenden Staaten. Deshalb ist Deutschland im Krisenbogen Syrien schwerpunktmäßig engagiert, sowohl das Auswärtige Amt als auch wir. Wir leisten hier insbesondere in Jordanien, im Irak und gerade auch im Libanon in der Flüchtlingsarbeit Unterstützung, das heißt beim Sicherstellen des Überlebens. Es kostet 50 Cent, das Leben eines syrischen Flüchtlings in der Bekaa-Ebene im Libanon zu retten – ein Menschenleben. Das muss man sich mal vorstellen. Wir investieren zweitens in Bildung. Es darf keine verlorene Generation geben. In den letzten zehn Jahren wurden dort Hunderttausende von Kindern während des Krieges geboren. Das sind Kriegskinder. Das ist der zweite Bereich. Der dritte Bereich ist es, Arbeit zu schaffen, zumindest kurzfristige Beschäftigungsmöglichkeiten für die Millionen von Flüchtlingen in dieser Region.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zu einer Nachfrage.

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte an der Stelle weitermachen und Sie fragen: Wie soll im Rahmen der Nexus- und Friedenspartnerschaft mit Syrien in der Praxis das Leitprinzip des menschlichen Bedarfs umgesetzt werden, und wie erfolgt die Koordinierung der Zusammenarbeit und mit welchen Stellen auf syrischer Seite?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Sie sprechen von Syrien. ({0}) Ich spreche vom Krisenbogen Syrien und den umliegenden Ländern, die Großartiges leisten bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Ich habe vergessen, die Türkei zu erwähnen, wo wir intensive Kooperationen haben. Das gilt auch für Ägypten, um einmal die Länder zu nennen, die Solidarität üben. Aber die eigentlich komplizierte und differenzierte Angelegenheit betrifft die Frage der Hilfe innerhalb Syriens. Wie sind die Verhältnisse für die Menschen, die unter dem Assad-System in Syrien überleben müssen? Dazu habe ich vor Kurzem mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf gesprochen, der Syrien bereist hat und der auch Zugang hat zu den Gefängnissen und zu den schwierigsten Gegenden Syriens. Ich kann Ihnen nur sagen: Es herrschen dramatische, katastrophale Zustände. Außenminister Maas hat sich im Rahmen der Sicherheitsratspräsidentschaft für eine Ausweitung des Engagements eingesetzt; denn ein einziger humanitärer Zugang ist nicht ausreichend. Deshalb müssen wir an die Staatengemeinschaft, die UN und den Sicherheitsrat appellieren: Lasst die humanitären Organisationen in Syrien arbeiten. Die Menschen brauchen Überlebenshilfe.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Uwe Kekeritz.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. – Herr Minister, Sie haben gerade auch von Reformpartnerschaften gesprochen und am Beispiel Togos erklärt, was denn so ein Land leisten muss, um als Reformpartner anerkannt zu werden. Jetzt wundere ich mich, dass Sie Togo als Beispiel nehmen. Die Korruption ist ungebrochen. Die Meinungsfreiheit ist eigentlich immer noch stark eingeschränkt; in diesem Land traut sich also keiner wirklich, die Meinung zu sagen. Außerdem beutet der dominierende Familienclan dieses Land seit 30 Jahren weiterhin aus. Da wundere ich mich schon, dass das die Qualifikation für eine Reformpartnerschaft ist. Ich will Sie mal zu Tunesien fragen: Wie passt eigentlich Ihr Reformpartnerschaftskonzept zu Tunesien? Seit über zwei Jahren wird die Regierung repressiver, autoritärer, und die Bevölkerung demonstriert mehr und mehr für ihre Rechte, weil die Situation sich permanent verschlechtert. Wir wissen auch, dass es seit Jahresbeginn Massendemonstrationen in Tunesien gibt und die Regierung mit absoluter Brutalität und Polizeigewalt diese Proteste niederknüppelt. Da frage ich mich natürlich schon, was Sie unter Reformpartnerschaften verstehen und wie Sie diese legitimieren.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Tunesien macht uns allen in der europäischen Staatengemeinschaft große Sorgen. Was Sie angesprochen haben, kann man darüber hinaus noch erweitern um die finanzielle Situation, die Stabilität in dem Land und vieles mehr. Aber ein Blick auf die Landkarte zeigt: Tunesien ist ein europäisches Partnerland, und der Mittelmeerraum ist eine natürliche Nachbarschaftsregion für die Europäische Union. In Tunesien hat die arabische Rebellion hin zur Demokratie ihren Ausgangspunkt. Wenn die Verhältnisse so sind, wie Sie sie beschreiben, dann würde ich als Quintessenz feststellen: Dann haben wir zu wenig getan, Demokratie zu stabilisieren, aufzubauen, Institutionen zu stärken. Ich war einmal Gast im tunesischen Parlament. Es sitzen dort Parlamentarierinnen und Parlamentarier wie Sie. Wir müssen Kontakte aufbauen und ausbauen. Demokratie entsteht nicht von heute auf morgen einfach so auf Zuruf. Deshalb brauchen Maghreb-Staaten wie Tunesien, Marokko und andere Staaten in der Mittelmeerregion die starke Hand Europas, die Öffnung des europäischen Marktes und eine neue Nachbarschaftspolitik, die sich hier zeigen muss. Was wäre denn die Alternative, wenn Tunesien zusammenbricht, meine Damen und Herren? Aber hier sind wir genau an einem Punkt, wo ich mal emotional werde. Wir müssen beginnen, über die Grenzen der Europäischen Union hinaus Politik zu gestalten als Deutschland, als Europäische Union, und wir dürfen uns nicht allein auf unsere Binnenprobleme konzentrieren, sei es im Hinblick auf die Pandemie oder auf andere Bereiche.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, im weiteren Verlauf sich wieder jeweils sowohl bei den Fragen als auch bei den Antworten zeitlich zu disziplinieren. – Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Müller, da gebe ich Ihnen ja voll und ganz recht, dass Deutschland da ohne Weiteres intervenieren und auch Hilfestellungen geben sollte. Aber man sollte das dann auch ehrlicher der Öffentlichkeit vermitteln. Denn die Reformpartnerschaften, so wie Sie sie definieren, haben damit herzlich wenig zu tun. Wir haben die Frauensituation oft angesprochen. Sie haben sie ebenfalls angesprochen, und zwar haben Sie in einer Presseerklärung zum Weltfrauentag bekundet: Frauen in vielen Entwicklungsländern tragen die Hauptlast der Arbeit, auf den Feldern, in Krankenhäusern oder in den Fabriken. Zugleich seien sie am stärksten von Armut betroffen. Das müsse man ändern. Das sehe ich auch so. Aber wie erklären Sie, dass Ihr Haus seit Jahren, seit Anbeginn Ihrer Amtszeit, weniger als 2 Prozent in die gezielte Förderung von Frauen und Mädchen steckt? Da stagnieren Sie auf sehr, sehr niedrigem Niveau. Ihre Vorgänger waren in diesem Bereich da schon weiter.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich glaube, das deutsche Entwicklungsministerium ist das Ministerium, das zum Beispiel durch den neuen Genderaktionsplan weltweit die stärksten Akzente in der Frage „Gleichberechtigung, Frauenförderung“ setzt. Zu den 2 Prozent. Das ist eine Rechnung, die Sie irgendwo in den Allgäuer Bergen gemacht haben. Die ist für mich nicht nachvollziehbar. ({0}) – Kollege Kekeritz kommt daher; deshalb sage ich das. Das wissen Sie gar nicht. Ich weiß mehr über Ihren Kollegen als Sie. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut. – Der Austausch über das Allgäu muss an anderer Stelle fortgesetzt werden. Ich würde mich da durchaus beteiligen, wie Sie wissen, Kollege Müller.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Jawoll. Wir treffen uns in Oberstaufen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Friedhoff.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Minister, ich möchte noch mal ziemlich zum Anfang der Veranstaltung zurückkommen. Die Menschen da draußen stehen gerade hier in Berlin, weil sie die Verhältnismäßigkeit zwischen Corona-Lockdown und allen anderen Maßnahmen nicht mehr sehen. Ich beziehe die Frage jetzt auf Afrika. Sie haben gerade schon einige Zahlen genannt; ich möchte Ihnen auch einige nennen. Die WHO hat gesagt, dass es in Afrika im schlimmsten Falle bis zu 600 000 Tote bedingt durch Corona geben könnte. Ich möchte Ihnen jetzt mal einige Zahlen, die durch den Lockdown bedingt sind, vorlesen. Sie haben selber gesagt: Afrika wird in seiner Entwicklung um zehn bis 20 Jahre zurückgeworfen. Mehr als 80 Millionen Kinder bekommen dort gerade keine Masernschutzimpfung – mit verheerenden Folgen –; denn gegen Corona wird vorrangig geimpft, oder die Ärzte haben Angst. Man schätzt, dass derzeit 1,16 Millionen Kinder zusätzlich nach der Geburt und 56 700 Frauen in den Wochenbetten sterben, weil einfach keine Hilfe mehr vor Ort ist. Hunderttausende sterben durch Aids, Tuberkulose, Malaria. 120 Millionen Menschen zusätzlich sterben den Hungertod. Im Verhältnis dazu stehen die vermutlich 600 000 Toten durch Corona, mit denen man rechnet. – Wie erklären Sie das den Menschen da draußen? Denn aus unserer Sicht ist die wirkliche Pandemie der Lockdown.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich freue mich, dass Sie den Fokus auch mal auf Afrika lenken. Die Zahlen sind ja, glaube ich, unsere Zahlen. ({0}) Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Meine Aufgabe ist es, genau darauf den Blick zu richten, statt unsere Möglichkeiten auszuspielen gegen das, was wir in den Entwicklungs- und Schwellenländern tun. Wir können die Pandemie weltweit besiegen, aber mit einem anderen Ausmaß des internationalen Engagements, als das bisher der Falle ist. Sie haben mit diesen Zahlen darauf aufmerksam gemacht: Es ist eine Polypandemie. – Durch den Lockdown in diesen Ländern brechen Versorgungsketten zusammen, zum Beispiel im Bereich Medikamente. Die Experten gehen von 2 Millionen Toten durch fehlende Impfstoffe gegen Masern, Tuberkulose, Malaria aus. Das sind die Folgewirkungen. Es sterben auf dem afrikanischen Kontinent derzeit wesentlich mehr Menschen durch die Folgen des Lockdowns als durch das Fehlen der Coronaimpfstoffe. Ich möchte an der Stelle aber auch sagen: Gott sei Dank haben sich die Vorhersagen von dramatischen Auswirkungen der Coronapandemie auf Afrika mit einigen Ausnahmen bisher nicht bestätigt. Offensichtlich weil wir dort eine sehr junge Bevölkerung haben; nur 6 Prozent der Menschen sind im Durchschnitt über 60 Jahre. Darauf stützt sich meine Begründung von vorhin: Wir kämen einen ganz entscheidenden Schritt voran, wenn 20 Prozent der Bevölkerung in diesen Ländern geimpft wäre; dann hätten wir nämlich die ältere Bevölkerung komplett geimpft. Das ist möglich, das ist auch zu finanzieren und umzusetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Friedhoff, bevor Sie Ihre Nachfrage stellen: Die Zeit für die namentliche Abstimmung endet um 14.17 Uhr. Sollten Mitglieder des Hauses anwesend sein, welche noch nicht abgestimmt haben, wäre es sicherlich sinnvoll, das jetzt zu tun. Sie haben die Möglichkeit zur Nachfrage.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen lieben Dank. – Ich springe jetzt ganz kurz, wenn es erlaubt ist, von Afrika nach Asien. Sie haben gestern bestimmt mitbekommen, dass in Schanghai die größte Automobilmesse mit Hunderttausenden von Livebesuchern vor Ort eröffnet hat. Das als Einstieg zum Thema Asien. Wir haben heute gehört, dass in Malaysia, in dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Land, die Covid-Zahlen gegen null laufen. ({0}) Gleichzeitig schließen Thailand und Vietnam aber die Grenzen, um eine Covid-bedingte Migration nach Vietnam und Thailand zu verhindern. Kann es sein, dass es da keine Covid-Fälle mehr gibt, weil einfach nicht mehr getestet wird? Oder, wenn alles perfekt ist, was machen Burma, Birma, Malaysia besser als Deutschland?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Um das zu beantworten wäre es notwendig, dass ich demnächst mal wieder reisen darf. Dann könnte ich mir das vor Ort anschauen. ({0}) Dazu kann ich keine differenzierten Aussagen machen. Da liegen mir die Kenntnisse hinsichtlich der Situation vor Ort nicht vor. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Christoph Hoffmann.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Sie haben am Anfang Ihrer Rede die Paris-Agenda zum Klimaschutz erwähnt. Sie haben auch erwähnt, dass das BMZ Antworten und Lösungen habe und dass Sie stets auf Augenhöhe mit unseren afrikanischen Partnern arbeiten.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ja.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber die Bundesregierung gibt für die Great Green Wall, also die große Grüne Mauer, die die Ausbreitung der Sahara verhindern soll und die ein Mikroklima erzeugt, in dem Ackerbau besser möglich ist und somit Nahrung gesichert wird, nichts. Der französische Präsident Macron hat dieser AU-Initiative 10 Milliarden Euro versprochen, –

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Versprochen. Und was hat er finanziert?

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und Sie haben gesagt: Wir geben nichts! – Das ist einfach nicht in Ordnung. Sie wollen hinsichtlich Klimaschutz und Aufforstung weiterhin nur bilateral zusammenarbeiten. Dabei haben Sie im Ausschuss gehört, auch auf die Einladung der CDU/CSU-Fraktion, dass diese größte Initiative der Menschheit von der Afrikanischen Union durchaus unterstützenswert sei. Wann ändern Sie Ihre Haltung?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich halte das Projekt für sehr interessant und spannend; das sollten Sie alle auch mal googeln. Das ist ein hoch spannender, innovativer Vorschlag. Der muss sich privat finanzieren. Mit öffentlichen Finanzmitteln ist da nichts zu machen. Das muss eine Privatinvestition werden, wie sie überhaupt zur Sicherung des Klimaschutzes weltweit notwendig ist. Meine Damen und Herren, 100 Milliarden Euro beträgt das Volumen der öffentlichen Gelder, die den Entwicklungs- und Schwellenländern für Anpassungsmaßnahmen versprochen wurden. Aber mit öffentlichen Geldern allein können wir die große Herausforderung Klimawandel nicht meistern; auch hier ist die Privatwirtschaft gefordert. Ich kann Ihnen sagen – ich weiß nicht, ob Sie sich damit mal beschäftigt haben –: Vor wenigen Monaten haben wir die Stiftung des öffentlichen Rechts Allianz Entwicklung und Klima gegründet, wo deutsche private Firmen, deutsche Sparkassen, Apotheken, die TSG Hoffenheim, SAP – inzwischen 1 000 Firmen – mitmachen und mit privatem Geld Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern mit uns finanzieren. Das ist ein Aufruf, den Klimawandel global, umfassend zu verstehen. Gerade die FDP müsste verstehen, dass wir hier privates Geld, private Rahmenbedingungen, private Initiativen brauchen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Müller, Sie irren. Ein paar private Investitionen sind gut; denn Investitionen in Arbeitsplätze sind auch in der Entwicklungszusammenarbeit gut. Das gilt für Produkte. Aber das Thema Wald ist ein durchaus anderes; denn Sie haben eine sehr lange investive Phase. Nicht umsonst sind zwei Drittel des Waldes auch in Deutschland in öffentlicher Hand. Das heißt, Sie brauchen hier staatliche Gelder. Wir brauchen einen Kreislauf, wo die CO2-Kompensationsmittel, die zum Beispiel durch den Verkauf von Klimaschutzzertifikaten erlangt werden, wieder in diesen Wald hineingehen. Deshalb braucht es Geld für diese Great Green Wall, wie es der französische Präsident vorgemacht hat. Ich hoffe, Sie können uns jetzt endlich mitteilen, wann Sie sich dieser Initiative anschließen. Denn es ist auch ein Thema der Afrikaner, und Sie haben immer gesagt: Lösungen, die auch Afrika helfen, werden wir bevorzugt unterstützen. – Jetzt haben Sie eine solche Lösung, und Sie unterstützen sie nicht. Wie kommt das?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich wünsche mir, dass die FDP im nächsten Bundestag nicht für ein Absenken des Entwicklungsetats ist, wie das bei meinem Vorgänger Niebel der Fall war, ({0}) sondern dass diese Zusatzmilliarde auf Antrag und Initiative der FDP kommt. Dann wird die neue Entwicklungsministerin oder der neue Entwicklungsminister – ich gehe davon aus, es wird eher eine Frau – die Möglichkeit haben, diese 1 Milliarde Euro einzusetzen. Aber da brauchen wir mal Rückenwind von Ihnen in der Entwicklungszusammenarbeit und nicht immer Gegenwind. ({1}) Sie sollten unsere Arbeit als wirtschaftliche Zusammenarbeit verstehen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir sind nicht im Zwiegespräch. – Die nächste Frage stellt der Abgeordnete von Marschall.

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie haben ja auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Europäische Union politisch aktiv wird. Nun machen wir ja ein nationales Gesetz zu Lieferketten, zu Sorgfaltspflichten; es gibt andere nationale Gesetzgebungen, beispielsweise in Frankreich, es gibt jetzt einen Vorschlag der EU-Kommission. Ich verfolge natürlich das Anliegen, dass wir in absehbarer Zeit zu einer gemeinsamen Regelung kommen, was ja auch sinnvoll wäre, um Verzerrungen im binneneuropäischen Wettbewerb zu verhindern. Wie können wir sicherstellen, dass unsere nationale Gesetzgebung der europäischen Regelung – wenn sie dann da ist – nicht im Sinne von darüber hinausgeht zuwiderläuft – Stichwort: „Gold-Plating“ – oder auch dahinter zurückbleibt? Vielleicht können Sie dem Parlament Ihre Anregungen mitgeben, da die entsprechenden Beratungen morgen beginnen. – Danke.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Acht Jahre ist es her, dass 1 135 Frauen unter den Trümmern des Rana-Plaza-Gebäudes gestorben sind. Ich habe diese Trümmer gesehen und mit Überlebenden gesprochen, Kolleginnen und Kollegen. Nach so einer Begegnung ändert sich Ihre Einstellung zum globalen Markt, zum Liberalismus, zu Lieferketten, zu der Art des Wirtschaftens, wie es im Augenblick in Europa stattfindet. ({0}) Acht Jahre haben wir mit vielen Freunden gekämpft – parteiübergreifend mit Kolleginnen und Kollegen hier und draußen mit den Kirchen, den NGOs –, diese Verhältnisse ein Stück weit zu verändern. Nach acht Jahren ist das deutsche Lieferkettengesetz ein entscheidender Schritt – nicht der letzte –, zu verhindern, dass Frauen in den Trümmern solcher Produktionsstätten sterben, dass Kinder arbeiten. Deshalb ist das ein großer Schritt voraus zu mehr Gerechtigkeit. Herzlichen Dank allen, die da mitmachen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich lasse diese Nachfrage – 30 Sekunden! – noch zu. Wir sind dann am Ende der Befragung, um das auch gleich zu sagen.

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Minister, das war gar nicht meine Frage. ({0}) Es ging mir darum, wie wir die nationale Gesetzgebung mit der europäischen in Einklang bringen. Das kann ich auch in weniger als 30 Sekunden nachfragen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte, Herr Minister.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Matern von Marschall ist ein Unterstützer meiner Politik. Ich weiß aber, dass es noch viel Widerstand bei den deutschen Verbänden, in der Wirtschaft gibt. Ich nutze diese Stunde auch, dazu aufzurufen, diesen Widerstand aufzugeben und sich im Kampf für Gerechtigkeit, für globale Lieferketten, die nicht auf der Basis von Kinderarbeit aufbauen, an die Spitze zu setzen und gerechte Mindeststandards im sozialen und ökologischen Bereich umzusetzen. Das ist auch die Leitidee meiner Ministerzeit: Gerechtigkeit, gerechte Globalisierung durch die Entwicklung des freien Handels zum fairen Handel zu schaffen. Damit schaffen wir die größten Entwicklungssprünge und sorgen für Gerechtigkeit in einer Welt, in der die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinanderläuft. – Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herzlichen Dank, Herr Minister, und herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die sich beteiligt haben. – Ich beende die Befragung. Ich mache darauf aufmerksam, dass um 14.17 Uhr die Zeit für die Abgabe der Stimmen zur namentlichen Abstimmung endet. Sollten also noch Kolleginnen und Kollegen des Hauses anwesend sein, die bisher nicht abgestimmt haben, dann sollten sie dies jetzt tun.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Grundgesetz ist die freiheitlichste Verfassung, die unser Land je hatte. Es garantiert jedem Einzelnen einen immensen Freiheitsraum und verleiht dem Einzelnen vielfache Rechte, diese Freiheit auch durchzusetzen. Daher respektieren Verfassungs- und Rechtsordnung sogar die Entscheidung des Einzelnen, über das eigene Leben zu verfügen und dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, auch mit fremder Hilfe. Aber unser Grundgesetz ist auch eine Werteordnung. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben mehr geschaffen als eine lose Sammlung subjektiver Rechte des Einzelnen, mehr geschaffen als einen Baukasten zur Durchsetzung individueller Rechte gegen andere oder gegen den Staat. So stehen zu Beginn unseres Grundgesetzes mit Artikel 1 die klare Aussage und der klare Auftrag: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist gleichermaßen die Eröffnung eines Freiheitsraumes für den Einzelnen wie seine Begrenzung im Interesse ethisch-moralischer Grundkonstanten. So durchzieht, ohne dass es einer besonderen Nennung bedarf, die Bejahung des Lebens von Artikel 1 ausgehend unsere Verfassung. Im Umgang mit der Beihilfe zur Selbsttötung zeigt sich das gesamte Spannungsfeld, der ganze Widerstreit zwischen dem Freiheitsraum und seiner legitimen Grenze. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Verfassung solche Grenzen zieht. Dort, wo es um die autonome Entscheidung des Einzelnen geht, muss dessen Autonomie geschützt werden, ({0}) geschützt werden vor Beeinflussung dieser Autonomie durch Dritte; denn nur, wo sie sich unbeeinflusst entfalten kann, bedeutet Autonomie tatsächlich Selbstbestimmung. Ich halte es daher für richtig, die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung grundsätzlich unter Strafe zu belassen, so, wie der Bundestag es schon im Jahr 2015 beschlossen hatte. Das Bundesverfassungsgericht lässt diesen Weg auch nach seiner Entscheidung von Februar 2020 ausdrücklich offen. Es ist nun Aufgabe des Gesetzgebers, nur dort eine Rechtfertigung zuzulassen, wo die tatsächliche Autonomie der Entscheidung des Einzelnen auch wirklich zuverlässig festgestellt werden kann. Die Ambivalenz eines Suizidwunsches ist wissenschaftlich erwiesen. Hier muss der Gesetzgeber seinem Schutzauftrag nachkommen; denn eine einmal getroffene Entscheidung ist irreversibel. Die Sorgfalt muss daher besonders groß sein. Das kann nur durch ernsthafte und umfassende Beratung, ethische Beratung – auch im Sinne von Alternativen zum Sterbewunsch – gewährleistet werden. Am Ende bleibt: Unsere Verfassung ist ein Grundgesetz für das Leben und nicht für das Sterben, und das muss sich in der gesamten Rechtsordnung widerspiegeln. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Heveling. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch aus der AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine Debatte über Suizidhilfe. Im Gegensatz zur Sterbehilfe geht es also nicht nur um Schwerkranke, sondern um alle Suizidwilligen. Das betrifft den schwer kranken 90-Jährigen, der im Sterben liegt, den 40-jährigen Familienvater, der gerade seine Existenz verloren hat, und den 19-Jährigen, den seine Freundin verlassen hat; wir sprechen über alle diese Fälle. Die unwiderruflich Sterbenskranken, die Leidenden brauchen Hilfe beim Sterben. Die moderne Palliativmedizin bietet diese Hilfe; so können auch bei schwersten Krankheitsverläufen die Schmerzen effektiv gelindert werden. Es wird Hilfe beim Sterben geleistet, aber eben nicht Hilfe zum Sterben. Die Menschen in akuten Lebenskrisen dagegen brauchen Hilfe zum Leben. Der Rückgang der Suizidrate in Deutschland in den 80er- und 90er-Jahren zeigt, dass professionelle Hilfe und Beratung effektiv Leben rettet. In fast allen Fällen bewerten die Betroffenen, die ihren eigenen versuchten Suizid überlebt haben, ihr Überleben später als Glück. Sich das Leben zu nehmen, ist nach meiner persönlichen, ganz festen Überzeugung kein Ausdruck autonomer Selbstbestimmung – es ist allermeistens ein Akt der vollständigen Verzweiflung. Suizidwillige brauchen daher keine staatlichen Angebote zum Sterben, sondern Menschen, die ihnen helfen. Mit der Förderung der Suizidbeihilfe öffnen wir die Büchse der Pandora. In der Schweiz hat sich die Zahl der assistierten Selbstmorde zwischen 2010 und 2018 verdreifacht. Suizidforscher und Palliativmediziner warnen nachdrücklich davor, den assistierten Suizid zu ermöglichen. Die Bundesärztekammer und der Marburger Bund befürchten, dass so die Erwartungshaltung entsteht, dass Ärzte Suizidhilfe leisten müssen. In seiner Rede zur Bioethik 2001 hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau eindringlich gewarnt – ich darf zitieren –: „Wo das Weiterleben nur eine von zwei … Optionen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet.“ Gott bewahre uns davor! Der assistierte Suizid begründet eine Kultur des Todes. Diese widerspricht nicht nur universellen ethischen Grundsätzen, sondern auch den Werten unserer christlich-abendländischen Kultur; davon bin ich zutiefst überzeugt. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci aus der SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen und, heute in besonderer Weise, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns zusehen! Das ist eine Debatte über das Sterben; aber eigentlich ist es eine Debatte über das Leben und über das Sterben, das ein Teil dieses Lebens ist. Dem müssen wir uns stellen. Es fällt gar nicht leicht, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Weil das so ist, müssen wir uns dafür Zeit nehmen, Zeit mit so einer Orientierungsdebatte, aber – das ich will eingangs auch sagen – auch Zeit über die wenigen verbleibenden Sitzungswochen hinaus; wir sollten nicht schon in dieser Wahlperiode zu einer endgültigen Entscheidung kommen. Es gibt einen Spruch, der wird im Zusammenhang von Leben, Sterben, Tod gerne zitiert; er heißt: „Alles hat seine Zeit.“ Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit, Pflanzen hat seine Zeit, Ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit usw. Die Wahrheit heute ist allerdings: Niemand hat Zeit. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht nur über Fristen reden, über Paragrafen. Wenn es gut gehen soll beim Leben und auch am Lebensende, dann brauchen wir andere Menschen, und die brauchen eben Zeit: Eltern für ihre Kinder, Kinder für ihre Eltern; Pflegekräfte für die Kranken, für die Älteren; ich für dich, du für mich. Nur so kann es gehen. ({0}) Ein gutes Deutschland von morgen ist eben nicht nur „höher, schneller, weiter“, sondern es ist ein Land, in dem wir füreinander einstehen, in dem wir aufeinander achten, einander respektieren; daran müssen wir arbeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun einen Auftrag gegeben und, ich möchte sagen, den respektiere ich ganz ausdrücklich. Ich respektiere die freien Willens, freiwillig getroffene Entscheidung, sich selbst das Leben zu nehmen – auch wenn ich traurig bin in jedem einzelnen Fall. Ich respektiere auch, dass dafür die Hilfe anderer in Anspruch genommen werden kann. Aber ich muss doch daraus kein Modell machen! ({1}) Denn wenn es ein Modell würde, welche Entscheidungen werden dann so freiwillig künftig noch getroffen? Dann wird doch gefragt werden: Lohnt sich das noch – die nächste Operation oder auch nur die Anschaffung? Dann wachsen Erwartungen der Gesellschaft – oder ich denke nur, sie könnten da sein –, es könnte die Überlegung kommen, dass das Häuschen doch zur Pflege nicht draufgehen soll. Oder: Ich bin nur noch eine Last. Da sage ich: Stopp! Niemand in diesem Land ist überflüssig. ({2}) Mehr noch: Niemand in diesem Land soll sich überflüssig fühlen. Deswegen: Ja zu selbstbestimmten Entscheidungen, aber auch – bitte, Kolleginnen und Kollegen – darauf achten, dass gesellschaftlich nicht noch mehr ins Rutschen gerät. Deshalb bin auch ich für Schranken – für Schranken, die wir auch im Strafrecht setzen müssen. Es braucht Schutz der Selbstbestimmung, auch für verletzliche Gruppen, Prävention, eine gute Versorgung. Dafür müssen wir jetzt einen neuen Anlauf miteinander wagen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von fünf Fraktionen lade ich herzlich dazu ein, mitzuwirken. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Helling-Plahr aus der FDP-Fraktion. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“ und „hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen“, so hat es das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr formuliert. Einen gegen die Autonomie gerichteten Lebensschutz, so das Gericht, darf es nicht geben. Ich finde, wir sollten einen selbstbestimmten Sterbewunsch nicht nur respektieren, wir sollten uns als Gesetzgeber an die Seite der Menschen stellen, die selbstbestimmt sterben möchten. ({0}) Ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben darf es nicht nur auf dem Papier geben. Es gebietet die Menschlichkeit, dass selbstbestimmt handelnde Betroffene auch Zugang zu Medikamenten zur Selbsttötung erhalten und nicht länger entweder ins Ausland gehen oder auf unsichere und schmerzhaftere Möglichkeiten zur Selbsttötung verwiesen werden. Wir sollten deshalb noch in dieser Wahlperiode tätig werden. Lassen Sie uns ein verständliches und umfassendes Suizidhilfegesetz auf den Weg bringen, das die folgenden fünf Gedanken beherzigt: Wir brauchen ein Gesetz, das ein flächendeckendes, niederschwelliges, hochwertiges, umfassendes und bevormundungsfreies Beratungsangebot für jedermann etabliert; das es jedem, der sich aus autonom gebildetem freien Willen heraus entschließt, zu sterben, ermöglicht, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen; das es im Grundsatz erlaubt, Menschen, die selbstbestimmt gehen möchten, zu helfen; das klarstellt, dass jeder – auch ein Arzt – Suizidhilfe leisten darf, und das die Möglichkeit der ärztlichen Verschreibung von Mitteln zur Selbsttötung für selbstbestimmt Handelnde vorsieht. Dass wir uns innerhalb der verfassungsrechtlichen Leitplanken bewegen müssen, sollte selbstverständlich sein. Lassen Sie uns auch deshalb die folgenden fünf Dinge nicht machen: Lassen Sie uns gedanklich nicht an die verfassungswidrige Norm des § 217 Strafgesetzbuch anknüpfen. Schaffen wir nicht wieder ein grundsätzliches Verbot jeglicher Hilfe, und lassen wir die Finger vom Strafrecht. ({1}) Lassen Sie uns nicht an materielle Kriterien wie Erkrankungen anknüpfen; das hat uns das Bundesverfassungsgericht explizit untersagt. Lassen Sie uns die Entscheidung über den Zugang zu einem Medikament zur Selbsttötung nicht zu einer Behördenentscheidung machen. ({2}) Schließlich: Lassen Sie uns die Zahl erforderlicher Gutachten und zwischengeschalteter Entscheidungsprozesse und die Länge abzuwartender Fristen nicht so gestalten, dass das Recht auf einen selbstbestimmten Tod de facto wieder leerläuft. ({3}) Meine Damen und Herren, wir müssen Sicherungsmaßnahmen ergreifen; aber wir dürfen unsere eigenen Moralvorstellungen nicht über die individuelle Selbstbestimmung stellen. Betroffene brauchen keine Bevormundung, nicht den erhobenen Zeigefinger, sie brauchen unser Verständnis. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Helling-Plahr. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Sitte aus der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sterbehilfe ist Lebenshilfe für Menschen, die im Verlaufe ihres Lebens über dessen Ende nachdenken und die eben vorbereitet sein wollen; für Menschen, denen unmittelbar das Sterben vor Augen steht – weiterzuleben scheint ihnen unmöglich, aus welchem Grund auch immer; darüber haben wir nicht zu befinden, und wir haben uns nicht darüber zu erheben –; für Menschen, die andere zeitlebens oder eben auch am Lebensende begleiten und sich mit ihnen zu Sterben und Tod austauschen, ob als Angehörige, Ärzte, Pflegende oder eben Freunde. Jeder oder jede von uns hegt wohl den Wunsch, dass Sterben keine Qual werden möge. Man möchte einfach im Frieden mit sich selbst gehen, und man möchte sich auch verabschieden können. Wir wissen, wie existenziell wichtig dieser Wunsch gerade in diesen Zeiten ist, um ein Leben in Ruhe zu beenden, wie wichtig das für Familien ist. ({0}) Manche nehmen Sterben in Demut hin; aber die Mehrzahl der Menschen möchte doch eher mit der Vorstellung leben, es auch selbstbestimmt entscheiden zu können, möchte es in der eigenen Hand haben. In dieser Hoffnung lassen sich Ängste und Ohnmachtsgefühle sehr wohl abbauen. Das Sterben verliert dann eben auch das Bedrohliche. Damit lässt sich ganz sicher besser leben, und deshalb ist für mich eben Sterbehilfe auch Lebenshilfe. In diesem Sinne hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben, ungerechtfertigte Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht von Menschen auszuschließen. Es geht um Rechtssicherheit für Betroffene, für Angehörige und Ärzte. Seit 2015 bestehen aber unüberwindliche faktische Hürden dafür. Wir müssen auch die Frage klären, wie der oder die Sterbewillige – nach langem Nachdenken, nach Gesprächen, nach Beratungen und letztlich eben auch einer Entscheidung – legal an ein Medikament kommt. Maßstab unserer gesetzlichen Regelung, meine Damen und Herren, kann nicht sein, ob der oder die einzelne Abgeordnete hier in diesem Hause selbst Sterbehilfe beanspruchen möchte oder es ausschließt. Maßstab sollten die Wertevorstellungen und Wünsche von Menschen im Land sein, welche das Grundgesetz formuliert und eben auch schützt. Nach diesen Werten und in Würde leben und sterben zu können, dafür haben wir hier so weit Räume zu öffnen, dass niemand an seiner selbstbestimmten Entscheidung gehindert wird oder damit andere in ihrer Entscheidungsfreiheit einschränkt. ({1}) Nicht Misstrauen in die Entscheidungsfähigkeit und in die Entscheidungskraft von Menschen sollte uns leiten; nicht Verbote, sondern ergebnisoffene, auch präventive Angebote sollten ihnen helfen. Meine Damen und Herren, entscheiden wir uns für gute Suizidprävention, und entscheiden wir uns damit auch für Lebenshilfe. Danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat den alten § 217 StGB für nichtig erklärt. Es hat gesagt: In jeder Lebenslage – wirklich: in jeder Lebenslage; es wurde nicht nach Alter, nach Krankheit oder anderem differenziert – beinhaltet das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und ein Recht, sich dabei auch Hilfe von Dritten zu holen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch gesagt, dass der Gesetzgeber/die Gesetzgeberin – das sind wir – Schutzvorschriften machen und Sterbehilfe regulieren kann. Was mich beeindruckt, wenn ich diesen Text noch mal lese: Darin steht auch, dass es einen Weg geben muss, dass die Menschen das Recht haben müssen, ihren verfassungsrechtlichen Wunsch in zumutbarer Weise zu verwirklichen. Das bewegt mich, meine Damen und Herren. Hier ist jetzt über Freiheit geredet worden und darüber, dass unser Grundgesetz das Leben will. Ja, das stimmt; aber wir haben eben auch dieses allgemeine Persönlichkeitsrecht, und wir wissen doch heute, nach dieser Gerichtsentscheidung: Sterbehilfe und Beihilfe findet statt. Vereine gehen in Altersheime und beraten über das Recht am Ende des Lebens, Ärztinnen und Ärzte sind damit konfrontiert. Und da meine ich, dass wir es nicht bei der Gerichtsentscheidung belassen können, sondern auch einen klaren, rechtssicheren Weg eröffnen müssen. ({0}) Ein rechtssicherer Weg heißt: Zugang zu Medikamenten, die jetzt auf irgendwelche klandestine Art und Weise – keiner weiß, welche eigentlich – genommen werden. Fassen wir uns ein Herz, und machen wir eines: Finden wir im Rahmen des Respekts vor dieser Selbstbestimmung einen Weg, der sicher und zumutbar ist. Ich sage zu Herrn Castellucci: Es geht nicht darum, ein Modell zu eröffnen; es findet längst statt, ohne dass wir einen Schutzrahmen haben. Ich meine, es geht hier nicht um die Frage, ob Sie oder ich, ob irgendjemand von uns das richtig oder nicht richtig findet oder ob Kirchen oder religiöse Menschen das richtig oder nicht richtig finden. Es ist das Persönlichkeitsrecht. Das Grundgesetz fordert faktisch von uns, zu sagen, wie Betroffene ihr Recht auf selbstbestimmtes Sterben rechtssicher umsetzen können, wie wir den Schutzraum organisieren können, meine Damen und Herren. Der Ort für eine solche Regelung ist definitiv nicht das Strafgesetzbuch, sondern – meine Kollegin Katja Keul und ich haben ja einen Entwurf, der von anderen unterstützt wird, vorgelegt – ein eigenes Schutzgesetz, das differenziert zwischen Menschen in medizinischer Notlage und Menschen, die aus anderen Gründen ihr Leben enden wollen. Wir sagen nicht: „Der eine darf, der andere darf nicht“, sondern wir eröffnen unterschiedliche Wege und respektieren das Recht beider, meine Damen und Herren. ({1}) Ich will eines an der Stelle hinzufügen: Wir sagen auch – und ich finde, dass man das regeln muss –: Für Sterbehilfevereine muss es Regeln geben, für die Begleitung muss es Regeln geben. Es muss die Zuverlässigkeit der Personen geregelt werden, meine Damen und Herren. Was uns auf alle Fälle bleibt: Wir können nicht zulassen, dass das Bundesverwaltungsgericht gesagt hat, es muss Zugang zu Betäubungsmitteln geben, und der Bundesminister sagt: Es gibt hier gar keine Abwägung; ihr als Behörde sagt immer Nein. – Das können wir rechtlich nicht akzeptieren. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann bleibt für mich, zu sagen: Lassen Sie uns einen rechtssicheren, guten, sauberen Weg finden, und denken wir im Übrigen immer daran: An 365 Tagen im Jahr ist Zeit, neben dieser Regelung endlich gute Prävention und gute Betreuung zu organisieren und zu finanzieren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Künast. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Pilsinger aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dieser Grundsatz aus Artikel 1 des Grundgesetzes gilt auch am Ende des Lebens. Deshalb ist die Diskussion, wie wir mit schwer kranken und sterbenden Menschen umgehen, eine zentrale Frage unseres Gemeinwesens. In den letzten Jahren hören wir zunehmend Stimmen, die am Ende des Lebens in der Sterbehilfe einen gangbaren Ausweg sehen. Diesen Weg hat in gewisser Weise nun auch das Bundesverfassungsgericht eingeschlagen. In seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Gericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben und somit auch die Autonomie als Ausdruck der Menschenwürde stärker gewichtet als den Schutz des Lebens. Ich bin der Überzeugung: Der Schutz der menschlichen Würde steht nur dann auf festem Grund, wenn auch der Schutz des Lebens bis zum Ende uneingeschränkt gilt. ({0}) Denn wahre Autonomie kann es nur geben, wenn sie in einen übergeordneten gesellschaftlichen Grundkonsens eingebettet ist. Der einzelne Mensch lebt nämlich nicht nur für sich allein; er lebt mit und für andere und damit in einer Gemeinschaft, die auf das Leben ausgerichtet ist. Mit der intellektuellen Trennung des Einzelnen vom Ganzen wird dieser gesellschaftliche Grundkonsens nun aufgebrochen. Ich bin der Auffassung: Mit der Trennung von Lebensschutz und Menschenwürde macht sich am Ende eine Kultur des Todes breit; denn sobald die Selbsttötung als legitimer alternativer Weg gewissermaßen Normalität in der Gesellschaft erlangt, wird die Selbsttötung eine immer breitere gesellschaftliche Akzeptanz finden. Damit wird der Suizid zu einer echten Alternative, und dies kann in bestimmten Fällen zu Erwartungshaltungen führen. Es besteht dann die konkrete Gefahr, dass Menschen aufgrund einer Pflegebedürftigkeit oder Krankheit das Gefühl bekommen, ihre Angehörigen durch eine Selbsttötung entlasten zu müssen. Aber kann das ein Weg sein, den die Politik gehen möchte? Ich selbst habe in meiner Zeit als Krankenhausmediziner einige Zeit auf einer Palliativstation gearbeitet. Ich weiß, dass mit der modernen Palliativmedizin die Linderung von Schmerz und Leid möglich ist. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass es einen viel stärkeren Ausbau des Hospiz- und Palliativwesens in Deutschland geben muss. ({1}) Es bedarf zudem einer psychologischen Betreuung von Suizidwilligen, um eine Depression oder andere psychische Erkrankungen von einem nachhaltigen Sterbewunsch unterscheiden zu können; denn diese Entscheidung kann nicht rückgängig gemacht werden. Sosehr im Einzelfall gute Gründe für eine Selbsttötung sprechen mögen, so muss Politik am Ende doch immer das große Ganze im Blick behalten. Solche politischen Entscheidungen haben gesamtgesellschaftliche Auswirkungen und müssen deshalb intensiv diskutiert werden. Ich bin der Überzeugung: Es braucht jetzt eine intensive inhaltliche und fachliche Debatte, die den Wert des Lebens verdeutlicht und geeignete Alternativen zur Selbsttötung aufzeigt. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Pilsinger. – Nächster Redner ist der Kollege Volker Münz, AfD-Fraktion. ({0})

Volker Münz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004835, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht leitet in seinem Urteil das Recht auf selbstbestimmtes Sterben mit der Möglichkeit der Suizidhilfe aus der Achtung vor der Würde des Menschen ab. Dieser These kann ich nicht zustimmen. Das Gegenteil halte ich für richtig, nämlich dass die Menschenwürde die Achtung und die Erhaltung jedes menschlichen Lebens gebietet. Dies folgt aus dem christlichen Menschenbild. Albert Schweitzer bezeichnet dies als „Ehrfurcht vor dem Leben“. Ja, niemand will selbst im Sterben leiden oder andere, insbesondere Angehörige, leiden sehen. Der assistierte Suizid kann aber kein Ausweg aus der Not des Leidens und Sterbens sein. Auch eine vorgeschaltete Beratungspflicht, wie vereinzelt vorgeschlagen, kann aus meiner Sicht keine Lösung sein. Danach wäre die erfolgte Beratung eine Voraussetzung dafür, sein Leben mithilfe eines Dritten beenden zu können, analog zum Schwangerschaftsabbruch, also der Beendigung des Lebens eines ungeborenen Kindes. Es gibt kein Recht auf Abtreibung, genauso kann es auch kein Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung geben. Der assistierte Suizid darf nicht zu einer staatlich geregelten Art des Sterbens werden. Er darf nicht zu einer Normalität werden. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass alte und kranke Menschen sich einem zumindest indirekten Druck ausgesetzt sehen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, um ihren Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Wir dürfen die Büchse der Pandora nicht öffnen. Schon jetzt geht es ja beim Thema Sterbehilfe nicht nur um sterbenskranke Menschen, sondern auch um die, die aus Verzweiflung nicht mehr leben wollen. Was kommt dann als Nächstes: Suizidbeihilfe bei Minderjährigen oder Tötung auf Verlangen? Was es ja alles schon in Nachbarländern gibt. Wir haben nicht zu wenig Selbstmorde, sondern leider zu viele, gerade auch in Coronazeiten. Der Staat und deshalb auch wir in diesem Hohen Hause sollten die Voraussetzungen dafür verbessern, dass Menschen in scheinbar auswegloser Lage geholfen wird, dass sterbenskranken Menschen so weit wie möglich die Schmerzen genommen werden und dass Sterbende in Würde und in Begleitung ihrer Angehörigen sterben können. Es müssen also Suizidprävention, Palliativmedizin und Hospizarbeit gefördert werden. Die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung darf nicht legalisiert werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Münz. Ich unterbreche die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 4, und ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 1 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist vorbei. Ich frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist natürlich überraschend, dass das so viele Kolleginnen und Kollegen sind. Aber wir haben ja Zeit. Es ist nicht so, dass wir jetzt in Eile sind. Ich habe heute auch keinen Nachtdienst. Ich weiß, als Präsident der Herzen ist das – – ({0}) Ich frage noch einmal: Ist noch jemand anwesend, der seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Schlussabstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich komme zurück zur Aussprache zu Tagesordnungspunkt 4, der Vereinbarten Debatte zur Suizidhilfe, und erteile als nächster Rednerin der Kollegin Dr. Nina Scheer aus der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt schon vielfach erwähnt worden: Es handelt sich um eine Zäsur, die wir letztes Jahr im Februar durch ein Verfassungsgerichtsurteil erlebt haben. Ich möchte noch mal konkretisieren: Es ist nicht nur das Recht auf selbstbestimmtes Sterben festgestellt worden, sondern es wurde ein Grundrecht formuliert: ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben. Frau Kollegin Künast hatte gerade schon davon gesprochen: Was ist zumutbar? Wenn ich davon ausgehe, dass ich ein Grundrecht habe, und dann hinzunehme, dass es zumutbar sein muss, in einem Staat, von der Gemeinschaft so behandelt zu werden, dass ich das Recht auf einen Suizid eben nicht in unzumutbarer Weise verwirklichen muss, dann bedeutet das schlechterdings, dass hierbei Hilfe gegeben werden muss. Sonst ist es im Verborgenen, und sonst findet es in unwürdigen Situationen statt, dass Menschen – unentdeckt von der Allgemeinheit und von der Gesellschaft – im Verborgenen sich das Leben nehmen. Das ist für mich ein Ausdruck von Unwürdigkeit. ({0}) Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte schon Fälle zu entscheiden, in denen das so offenkundig ist. Damit sind ja Hilfeschreie verbunden von schwer kranken und unheilbar erkrankten Menschen. Es liegen auch viele Anträge beim Bundesministerium vor mit dem Wunsch, Hilfe zu bekommen in Form des heute medizinisch Möglichen, in Form von Betäubungsmitteln. Das sind Hilferufe von vielen Menschen, die genau in dieser Situation sind. Wenn da schon das Verwaltungsgericht gesagt hat, man muss im Grunde genommen in diesen Situationen den Weg eröffnen, ist damit schon eingegrenzt, wie diese Zumutbarkeit zu fassen ist. Letztendlich hat das Bundesverfassungsgericht uns jetzt klar aufgezeigt, dass wirklich ein Handlungsbedarf besteht. Wir können uns diesem Handlungsbedarf nicht länger widersetzen und wir sollten es auch nicht; denn auch aus der lebensbejahenden Warte heraus muss es doch unser aller Interesse sein, dass die Menschen sich mit ihren Nöten an die Gemeinschaft wenden. Wenn man ein Beratungsnetzwerk aufbaut, was eigentlich die logische Konsequenz sein muss – mit Begutachtungsverfahren –, dann haben wir damit einen Andockpunkt für alle Menschen, die in einer solchen Lebenssituation sind, die sich mit solchen Gedanken beschäftigen. Nur so können wir gemeinsam nach Lösungen suchen und die Menschen, die wieder den Willen zum Leben haben, die wieder auf den Weg des Lebens zurückwollen, und zwar nach den Kriterien selbstbestimmt, also autonom, dauerhaft und ernsthaft, erfassen. Andersherum, wenn wir ihnen den Weg versperren, wenn wir sagen: „Wir haben keinen Handlungsbedarf, wir werden hier nichts tun“, riskieren wir, dass diese Menschen, alleingelassen, ihrem Leben ein Ende setzen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, nicht zu handeln, würde bedeuten, dass wir unter dem Strich mehr Selbstmorde haben. Und das will ich auf jeden Fall vermeiden. Vielen Dank. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbstbestimmung in allen Lebenslagen, das ist nicht nur eine Lebenseinstellung, die ich als junger Mensch und Liberaler habe. Es ist ein Wert, auf den sich, glaube ich, ganz viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus verständigen können; denn Selbstbestimmung ist auch Ausfluss der Würde eines Menschen. Und trotzdem ist nicht alles im Leben planbar und auch nicht alles im Leben selbstbestimmt. Es gibt Situationen, die uns sprichwörtlich aus der Bahn werfen: Drogen, Schulden, Depressionen, eine schwere körperliche Erkrankung. Es sind diese Grenzsituationen im Leben, die oftmals mit einer als unerträglich empfundenen Lebenssituation und vor allem einer tiefen Hoffnungslosigkeit einhergehen. Hoffnungslosigkeit engt uns ein und führt vor allem zu einer Einschränkung unserer Selbstbestimmung. ({0}) Es gibt Menschen, die diese Situation als unerträglich empfinden und sich das Leben nehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil den assistierten Suizid legalisiert, uns aber auch vor schwerwiegende Fragen gestellt, und diese Fragen diskutieren wir aus meiner Sicht noch zu wenig: Was bedeutet selbstbestimmtes Sterben denn konkret? Und wie sichern wir als Gesetzgeber auch in Grenzsituationen den freien Willen des Einzelnen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht dem Fehler unterliegen, Autonomie mit Autarkie zu verwechseln. Menschen sind keine autarken Wesen. Ob wir es wollen oder nicht, wir sind eingebunden in eine Gemeinschaft. Wir alle werden beeinflusst von unseren Wahrnehmungen und unseren Mitmenschen, im Positiven wie im Negativen. Wer also selbstbestimmtes Sterben ernst nimmt, der muss Menschen gerade in diesen Grenzerfahrungen effektiv vor missbräuchlichem Druck durch Dritte oder eine unausgesprochene gesellschaftliche Erwartungshaltung schützen. ({1}) Das muss für uns als Gesetzgeber der Anspruch sein. Das Bundesverfassungsgericht selber erkennt in seiner Entscheidung an, dass von der Normalisierung des assistierten Suizids als Form einer Lebensbeendigung und dem Angebot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe eine Gefahr für die Selbstbestimmung des Einzelnen ausgeht. ({2}) Wir sollten deshalb aus meiner Sicht das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe weiter im Strafrecht regeln, um Missbrauch von Dritten bei der freien Entscheidung des Einzelnen effektiv zu unterbinden. Selbstbestimmtes Sterben ist ohne eine effektive Suizidprävention nicht denkbar. Den Betroffenen muss klar sein, welche Auswege es aus ihrer Hoffnungslosigkeit gibt. Der Zugang zu einem todbringenden Medikament darf nicht einfacher sein als derjenige zur Palliativversorgung oder zu anderen Angeboten. ({3}) Ein einmaliges Beratungsgespräch, liebe Kollegen, ist keine Suizidprävention. Die bestehenden Angebote beispielsweise der Sucht- und Schuldnerberatung müssen effektiv ineinandergreifen und zeitnah zur Verfügung stehen. Und ja, zur Stärkung der Suizidprävention muss diese auch mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nach dem Urteil handeln. Wir können die Menschen nicht im Ungewissen lassen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber echte Selbstbestimmung im Sterben zu gewährleisten, ist ohne ein wirksames Schutzkonzept, das vor Missbrauch schützt, nicht denkbar. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kathrin Vogler aus der Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geherzter Präsident! Meine Damen und Herren! Menschen, die nicht mehr leben wollen, befinden sich oft in einer Ausnahmesituation. Sie leiden am Leben, so wie es gerade ist, sei es durch Krankheit, Depression, Einsamkeit, den Verlust von geliebten Menschen oder eine soziale Notlage, und in dem Moment sehen sie keinen Ausweg. In dieser Situation sind sie besonders verletzlich und müssen vor Beeinflussung geschützt werden, auch deshalb, weil Suizidgedanken oft ambivalent und kurzfristig sind. ({0}) Als ich am 2. Juli 2015 den Gesetzentwurf mit eingebracht habe, den das Hohe Haus später mit großer Mehrheit verabschiedet hat, ging es mir vor allem darum, das Treiben selbsternannter Sterbehelfer zu unterbinden, die aus dem Sterbewunsch von Menschen ein zynisches Geschäftsmodell machen. Damals hat mich ein Video besonders berührt, in dem eine Mitarbeiterin eines dieser Vereine einen alten Mann regelrecht bedrängte, seine eigenen Bedenken gegen seinen vorher geäußerten Suizidwunsch beiseitezulegen. Dieses Video ist inzwischen von der Website verschwunden. Dafür hat sich der Mindestpreis für die Dienstleistung Suizid von damals 1 000 auf heute 2 000 Euro erhöht. Das allein finde ich schon abstoßend und empörend genug. Die Suizidforschung sagt aber ganz klar, dass allein die Existenz solcher Angebote und die Werbung, die dafür gemacht wird, die Zahl der Suizide erhöhen kann. ({1}) Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil grundsätzlich bestätigt, dass der Staat die hochrangigen Verfassungsgüter Leben und Autonomie auch mit dem Strafrecht schützen kann. Jedoch müsse er sicherstellen, dass im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Deswegen werbe ich dafür, den § 217 StGB mit einer Ausnahmeregelung genau für solche Einzelfälle zu ergänzen. Geschäftsmäßige Hilfe zum Suizid sollte nur straffrei bleiben, wenn die freiverantwortliche Entscheidung gesichert ist und trotz Beratung über mögliche Alternativen bestehen bleibt. Das bedeutet auch, dass Minderjährigen und Personen, die nicht in der Lage sind, einen freien Willen zu bilden, keine Mittel zur Selbsttötung verschafft werden dürfen. ({2}) Gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte darf nie wieder möglich sein, dass Dritte darüber entscheiden, ob ein Leben wert ist, gelebt zu werden oder nicht, ({3}) oder dass Menschen dazu gedrängt, genötigt oder auch nur ermuntert werden, den Weg in den Tod zu wählen. In unserer kapitalistischen Gesellschaft scheint ja alles einen Preis zu haben, aber fast nichts mehr einen Wert. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der jedes Leben wertvoll ist und bis zum Ende gelebt werden darf. Der Tod gehört dazu. Aber wenigstens sollte er nicht auf dem freien Markt gehandelt werden. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein Begriff ist in der Debatte um die Hilfe zur Selbsttötung zentral: Selbstbestimmung. Jeder Suizidwunsch verdient grundsätzlich Akzeptanz. Das Bundesverfassungsgericht hat etwas sehr Wichtiges klargestellt. Es sagt: Die Selbstbestimmung von Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, kann durch vielfältige innere und äußere Einflüsse, durch Drucksituationen gefährdet sein. Ein Schutzkonzept sichert hier also die Selbstbestimmung. ({0}) Stellen Sie sich zum Beispiel eine alte, pflegebedürftige Frau vor. Sie hat eine geringe Rente und Angst, ihren Angehörigen zur Last zu fallen, und sie hat Sorge um ihr mühsam zusammengespartes Erbe. Wenn sie über einen Suizid nachdenkt, dann mögen diese Gedanken ausgelöst sein durch diese Sorgen. Auch seelische Erkrankungen, die Angst vor Autonomieverlust, Einsamkeit können solche Drucksituationen sein. Das Bundesverfassungsgericht spricht von sozialen Pressionen und Nützlichkeitserwägungen, die dazu führen können, dass sich der assistierte Suizid als normale Form, das Leben zu beenden, insbesondere bei alten und kranken Menschen durchsetzt. Ich meine: Eine solche Normalisierung darf niemals eintreten! ({1}) Kein Mensch darf vom Staat das Signal bekommen, sie oder er sei überflüssig und werde nicht gebraucht. Stand der Wissenschaft ist, dass die allermeisten Suizidwünsche volatil, also unbeständig sind. Genau das kann ich aus meiner langjährigen Praxis als Ärztin und Psychotherapeutin bestätigen. Der suizidale Gedanke ist zumeist nicht der Wunsch nach dem Tod, sondern der Wunsch nach einer Zäsur, der Wunsch nach einer Pause von einer als unerträglich empfundenen Situation. Je leichter der Zugang zu Suizidmitteln ist, desto häufiger sind Suizide. Menschen in Krisen brauchen Hilfe, um aus dieser Situation herauszukommen und wieder selbstbestimmt leben zu können. Das können die Schuldnerberatung, die Suchtberatung genauso wie ärztliche oder psychotherapeutische Unterstützung sein. Die Hilfe zum Tod hingegen zementiert das Ende der Selbstbestimmung. Menschen auf dem Sterbebett erleben durch menschliche Zuwendung, durch palliative Versorgung, dass ihre Selbstbestimmung gewahrt wird. Das Bundesverfassungsgericht warnt vor Versorgungslücken, die gerade angesichts des steigenden Kostendrucks im Pflege- und Gesundheitssystem zu Ängsten vor dem Verlust der Selbstbestimmung führen und dadurch Suizidentschlüsse fördern. Das heißt: Wir brauchen eine bessere Suizidprävention. ({2}) Die Hilfe zum Suizid muss unbedingt eingebettet sein in ein Schutzkonzept. Nur so kann die Selbstbestimmung jeder und jedes Einzelnen gewahrt werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther. – Nächster Redner ist der Kollege Hermann Gröhe aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich gehören der Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Schutz des Lebens untrennbar zusammen; denn das Leben selbst ist die Voraussetzung für jede Selbstbestimmung, der mit der Selbsttötung unwiederbringlich die Grundvoraussetzung schlechthin entzogen wird. Ich bedaure daher die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. ({0}) Auch die 2015 hier im Bundestag zu § 217 Strafgesetzbuch vertretene Gegenposition wurde vom Bundesverfassungsgericht verworfen. Der damalige Entwurf für ein Suizidhilfegesetz sah ausdrücklich vor, die Zulässigkeit der Suizidhilfe an eine unheilbare, unumkehrbar zum Tode führende Erkrankung zu knüpfen. Einzig zulässige Voraussetzung für eine rechtmäßige Inanspruchnahme von Selbsttötungshilfe sei, so das Bundesverfassungsgericht, ein autonom gebildeter, freier Wille, von dem nur bei einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit ausgegangen werden könne. Vieles ließe sich dazu sagen. Hier will ich mich nur darauf konzentrieren, zu betonen, dass auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich Gefahren für eine solche freiverantwortliche Entscheidung benennt und jedenfalls insoweit auch ein Schutzkonzept für geboten hält. Druck von außen auch durch ein gesellschaftliches Klima abzuwehren, sei daher legitim. Dazu sei grundsätzlich auch das Strafrecht ein denkbares Mittel. ({1}) Wegen dieser Gefahren für eine freiverantwortliche Entscheidung und weil es um Leben und Tod geht, halte ich die Verortung einer entsprechenden Regelung im Strafrecht für geboten, meine Damen, meine Herren. ({2}) Dass ein Selbsttötungswille einer freiverantwortlichen Entscheidung entspricht, lässt sich nicht leicht feststellen. Aus Hospizen und Pflegeeinrichtungen wissen wir, dass sich der Wunsch, zu sterben, und der Wunsch, weiterzuleben, immer wieder abwechseln können und welch segensreiche Wirkung palliative und hospizliche Versorgung hier entfalten können. Uns alle eint der Wille, diese Angebote, auch Angebote der Suizidprävention, weiter auszubauen. Es steht einer solidarischen Gesellschaft gut zu Gesicht, Menschen auch in Krisen zum Leben zu ermutigen, meine Damen und Herren. ({3}) Zu einer solchen Kultur der Ermutigung zum Leben gehört nicht nur, dass der Einzelne nicht zur Selbsttötungshilfe gezwungen werden darf, wie dies Vertreter aller Positionen anerkennen, sondern auch, dass Einrichtungen für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbindlich festlegen können, dass solche Angebote nicht zu ihrem Selbstverständnis gehören. Ich weiß, dass nicht nur kirchliche Einrichtungen, sondern auch viele Hospize darauf großen Wert legen. ({4}) Meine Damen, meine Herren, vor uns stehen schwere Entscheidungen. Ich will ein persönliches Dilemma bekennen: Jedes Verfahren, das wir brauchen, um etwa seelisch erkrankte Menschen zu schützen, birgt die Gefahr einer Gewöhnung an Selbsttötungshilfe in sich. Das ist ein schweres Dilemma, über das wir sicher noch viele Diskussionen führen und am Ende eine schwierige Entscheidung treffen müssen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gröhe. – Nächster Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter aus der AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Haben wir die Macht, Regelungen über Leben und Tod zu treffen? Dürfen und sollten wir Biopolitik im eminenten Sinne betreiben? Ich finde, nein. Das Leben und der Tod müssen sich politischer Entscheidung entziehen. Meine Damen und Herren, wie wollen wir denn sinnvoll Regelungen treffen, wann wer für assistierten Suizid qualifiziert ist? Wie wollen wir diese souveräne Entscheidungskompetenz an eine Stelle delegieren? Die Erfahrung zeigt leider, dass, wenn biopolitische Entscheidungen getroffen werden, diese oft zugunsten des Todes getroffen werden. Wir sehen das an den hohen Abtreibungsraten. Wir sehen das auch an unseren Nachbarländern Niederlande und Belgien, wo die Suizidhilfe gestattet ist und wo das mittlerweile 2 Prozent aller Todesfälle ausmacht. Wenn wir biopolitische Entscheidungen per se ablehnen, dann gibt es nur zwei Richtungen, in die wir gehen können. Die eine Richtung ist die der absoluten Freiheit und der absoluten Autonomie. Dadurch wäre quasi das Persönlichkeitsrecht absolut gesetzt. Die andere Richtung ist die Möglichkeit des Lebensschutzes, die Verantwortung vor Gott und den Menschen, die auch in der Präambel unseres Grundgesetzes verfasst ist. Aus meiner tiefsten Überzeugung, aus meinem Gewissen, auch aus meinem Glauben heraus möchte ich Sie bitten, den Weg des Schutzes des Lebens zu gehen. Das wird umso deutlicher, wenn wir uns anschauen, was Suizidwünsche tatsächlich sind. Einige Kollegen haben es vor mir schon ausgeführt. Sie entstehen oft aufgrund schwerer Erkrankungen psychischer oder physischer Natur, auch aufgrund chronischer Erkrankungen oder manchmal aufgrund des Gefühls, nicht mehr gebraucht werden, vielleicht jemandem zur Last zu fallen, vielleicht sogar ein Kostenfaktor zu sein. Aber wenn wir über Krankheiten sprechen, dann müssen wir darüber sprechen, wie wir sie lindern können, wie wir sie heilen können. Wenn wir das noch nicht adäquat genug wissen, dann sollten wir in Forschung investieren. Wir sollten unsere Hospizangebote ausbauen, unsere Palliativangebote ausbauen, unsere Hilfen ausbauen, wir sollten Brücken ins Leben bauen und nicht Brücken zum Tod. Eine solche Brücke zum Tod ist aber zum Beispiel eine organisierte Suizidhilfe. Was ist denn das für ein Modell? Man zahlt 2 000 Euro. Dafür bekommt man eine Beratung und ein Mittel, mit dem man sich selbst töten kann. Das senkt jede Hemmschwelle. Je verfügbarer der Tod wird, desto häufiger wird er auch gesucht werden. Meine Damen und Herren, gerade beim Suizid ist der Wille zum Leben tatsächlich am größten. Das zeigen Überlebensberichte von zwei Männern, die sich von der Golden Gate Bridge gestürzt haben, Ken Baldwin und Kevin Hines. Sie sagten, just in dem Moment, in dem sie die Reling losgelassen hatten, haben sie das zutiefst bereut. Sie sagten, da war der Wille zum Leben am größten, in diesen drei Sekunden vor dem Aufprall, weil sie erkannt haben, dass es irreversibel war, dass es der größte Fehler ihres Lebens war. Lassen Sie uns nicht eine Kultur der opportunen Tötung, sondern eine Kultur des Lebens pflegen. Haben Sie vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh aus der SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin hier ganz kurzfristig eingesprungener Redner. Viel berechtigter als ich wäre einer der Initiatoren eines der Gesetzentwürfe, die im Raum stehen, Karl Lauterbach, der aber heute nicht teilnehmen kann. Deshalb werde ich, der gerungen hat um diese Position, das etwas tentativer und vielleicht zögernder zu tun, diesen Gesetzentwurf begründen. Ich stelle fest: Es tut unserem Parlament, glaube ich, auch gut, dass wir eine sehr ernsthafte und würdevolle Debatte quer über die parteipolitischen Grenzen hinweg führen. Ich könnte es mir einfach machen und das Beispiel einer Person anführen, für die die aktuelle Situation als Sterbewilliger unerträglich ist und vor grausame Hürden stellt, um meine Position zu begründen. Aber ich tue das bewusst nicht. Ich nenne als Beispiel eine Frau, die ich seit vielen Jahren begleiten darf, seit sie nach Deutschland gekommen ist, deren Eltern wir, als sie dem Tode wirklich nahe war, hergeholt haben, die infolge einer Genmutation erst ein Glioblastom hatte und viele weitere Krebserkrankungen und die, wie sie nur kann, darum kämpft, zu leben. Es wäre für sie unvorstellbar, selbst aus dem Leben zu scheiden oder sich dabei assistieren zu lassen. Man muss das zutiefst respektieren und bei jeder Gesetzgebung dafür sorgen, dass sie gerade in dieser Entscheidung frei ist. Aber es gibt auch jene, die das anders sehen. Ich glaube, es steht uns nicht zu, Maßstäbe zu entwickeln und anzunehmen, dass deren Selbstbestimmung keine wirkliche Selbstbestimmung ist. Das finde ich anmaßend. Es gibt aber auch die andere Situation. Wir müssen uns verdeutlichen, dass Menschen aufgrund der gegenwärtigen Lage – darauf bezieht sich ja auch der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes – in die unerträgliche Situation gebracht werden, sich Medikamente zu beschaffen. Ziel sollte es einerseits sein – deswegen befürworte ich eine entsprechende Gesetzgebung zur Suizidhilfe –, die Organisationen, die es gegen Bezahlung machen, aus dem Weg zu räumen. Das müsste aus meiner Sicht auch Ziel eines solchen Weges sein: legale Wege zu schaffen, ({0}) autonom, im Vollbesitz seiner Kräfte frei entscheiden zu können, aber auch mit einer entsprechenden Beratungsinfrastruktur. Die halte ich nicht für trivial, sondern für ernsthaft. Wir haben ja Fälle, wo Beratung funktioniert. Ich finde es falsch, das einfach so abzutun. Das ist keineswegs eine Aufforderung oder ein Anreiz, zu sterben. Andererseits ist auch denjenigen, die assistieren wollen, die Möglichkeit dazu zu geben. Es geht nicht um ein Muss der Assistenz, sondern um ein Dürfen. Es geht auch nicht um eine Verpflichtung. Diejenigen, die meinen, dass durch eine solche Gesetzgebung ein Automatismus entstehen würde, irren. Ich denke, es liegt an uns als Gesellschaft und als Gesetzgeber, Wege zu finden, denjenigen, die wirklich frei die Entscheidung treffen, sterben zu wollen, das auch zu ermöglichen und gleichzeitig nicht diejenigen unter Druck zu setzen, die das nicht tun wollen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb ist diese Gesetzgebung mitnichten deckungsgleich mit dem Schrecken, den wir unter dem falschen und furchtbaren Begriff „Euthanasie“ kennen. Ich glaube – das ist mein letztes Wort –, dass vielleicht gerade bei diesem Thema die Gelegenheit bestünde, noch stärker die Bürgerschaft in Form von Beteiligung einzubeziehen und eine gesamtgesellschaftliche Debatte zu organisieren; denn es ist eine zutiefst autonome, aber letztlich auch eine gesellschaftliche Frage, über die wir heute sprechen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg aus der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Eid des Hippokrates hieß es ganz unmissverständlich: Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. 2 000 Jahre später heißt es beim Präsidenten der Bundesärztekammer: Sterbehilfe ist keine ärztliche Aufgabe. – Dann denkt man darüber nach, was denn ärztliche Aufgaben sind. Schauen wir dazu in die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer. Dort heißt es: Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es …, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten … Also auch die Bundesärztekammer sagt: Beim Sterben darf der Arzt nicht abseitsstehen. Meine Damen und Herren, Sterben ist etwas Endgültiges und auch etwas Unvermeidliches. Wir alle haben den Tod vor Augen, unseren Tod vor Augen. Wir alle sehnen uns danach, im Zeitpunkt des Sterbens nicht allein zu sein. Wir sehnen uns danach, unsere Liebsten bei uns zu haben. Aber wir sehnen uns auch danach, einen Arzt bei uns zu haben, und zwar nicht nur deshalb, weil er uns Schmerzen nehmen soll, sondern weil er uns taktvoll, aber auch ehrlich sagen soll, wie es um uns steht. Das, meine Damen und Herren, ist die Aufgabe des Arztes – des ehrlichen, verschwiegenen und professionellen Helfers. Und diese Rolle muss der Arzt immer ausüben, vom ersten bis zum letzten Atemzug seines Patienten. Dazu gehört, schwerste Entscheidungen mit dem Patienten zusammen zu treffen, ihn zu beraten, wenn es darum geht, gefährliche Operationen vornehmen zu lassen, wenn es darum geht, sehr gefährliche Medikamente mit gravierenden Nebenwirkungen einzunehmen. Wie kann man nur meinen, dass ein Arzt das machen und dem Patienten auch schlimmste Diagnosen mitteilen soll, dass er aber abseitsstehen soll, wenn es um den Freitod geht? Meine Damen und Herren, das kann ich, ehrlich gesagt, nicht verstehen. ({0}) Ich bin der Meinung, ein Arzt sollte immer bei seinem Patienten sein und nicht nur immer ein offenes Ohr haben, sondern auch immer für ihn da sein. Und wenn der Patient wohlüberlegt seinen Freitod wünscht, dann darf es dem Arzt auf keinen Fall verboten sein, diese letzte barmherzige Hilfe zu leisten, meine Damen und Herren. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist – ich weiß es als Medizinrechtler – davon geprägt, dass der Wille des Patienten das Entscheidende ist. Das gilt überall. Wieso sollte es denn nun ausgerechnet hier gerade nicht gelten, meine Damen und Herren? ({1}) Der Staat greift schon oft genug in das Arzt-Patienten-Verhältnis ein. Ich möchte nicht, dass der Staat auch noch Ärzten verbietet, diese letzte barmherzige Hilfe zu leisten. In diese Richtung sollten wir denken. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schinnenburg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch aus der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder Mensch hängt am Leben, und jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung und seinen freien Willen. In der Bundestagsdebatte von 2015 zum Thema Sterbehilfe wurde alles gesagt, was gesagt werden musste. Und es gibt ein klares Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das ich nicht kritisiere, sondern sehr gut finde. Das Bundesverwaltungsgericht hat der Regierung schon 2017 klare Vorgaben für das Verfahren gemacht: Über den Erhalt der tödlichen Gabe entscheidet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Doch die Bundesregierung boykottiert dieses Urteil. Ich finde das nicht akzeptabel! ({0}) Es kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung nur die Urteile umsetzt, die ihr ideologisch gefallen. Meine Damen und Herren, das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist klar und eindeutig. Dem Gericht zufolge umfasse das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der Menschenwürde „als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, und das schließe auch das Recht ein, sich das Leben zu nehmen. Das Verbot in § 217 Strafgesetzbuch mache es „Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen“, sodass „dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt“. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung – damals beginnend mit Herrn Gröhe, als er noch Minister war, dann den Staffelstab an Jens Spahn übergebend – alles tut, um die Durchsetzung dieses Urteil zu verhindern. ({1}) Ich kann über die Beweggründe nur spekulieren. Ich habe den Eindruck, dass Sie meinen, Sie wüssten besser, was den Menschen guttut. Das Bundesverfassungsgericht hat aber ganz einfach erkannt, dass diese Weltsicht dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen widerspricht. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will ein Gesetz, dass das Selbstbestimmungsrecht der Menschen stärkt. Ich will, dass Sterbende vor skrupellosen Geschäftemachern geschützt werden. Und ich will, dass Ärztinnen und Ärzte nicht länger in einer juristischen Grauzone arbeiten müssen. ({3}) Meine Damen und Herren, darum – das ist unschwer erkennbar – unterstütze ich den Gesetzentwurf von Dr. Petra Sitte, Dr. Karl Lauterbach und anderen und hoffe, dass wir gemeinsam entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes hier zu einer Lösung kommen, die der Würde, der Selbstbestimmung und dem freien Willen entspricht. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sechs Jahren stand ich hier und habe als Minderheitenposition die geltende Rechtslage zur Sterbehilfe verteidigt, nach dem Motto „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“. Das gilt erst recht fürs Strafrecht, dem schärfsten Schwert des Staates, das nur als Ultima Ratio, also als letztes Mittel, zum Einsatz kommen darf. Das Verfassungsgericht war in seiner Entscheidung deutlicher, als ich es je zu hoffen gewagt hatte. Sterbehilfe ist aufgrund des Urteils in Deutschland wieder möglich und wird auch praktiziert. Dennoch stehe ich heute hier und vertrete einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe, den ich gemeinsam mit der Kollegin Renate Künast verfasst habe. Das ist zugegebenermaßen erklärungsbedürftig. Warum also tue ich das? Erstens. Der Zugang zu Pentobarbital als sicherstem tödlichen Mittel wird den Sterbewilligen nach wie vor verwehrt. Trotz eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts hat der Bundesgesundheitsminister mit seinem Nichtanwendungserlass die Betroffenen im Regen stehen lassen. Wir wollen daher den gesetzlichen Zugang und den Anspruch auf die Verschreibung von Pentobarbital zum Zwecke der Selbsttötung festschreiben. Zweitens. Aktuell beurteilen Sterbehelfer selbst, ob der Sterbewunsch auf einer freien, unbeeinflussten Willensbildung beruht oder nicht. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf das Vieraugenprinzip verankern und die Zulassung von Sterbehilfevereinen an bestimmte Kriterien binden. Ja, das ist eine einschränkende Reglementierung, aber das ist legitim – auch im Sinne des Verfassungsgerichtes, das ausdrücklich betont hat, dass wir als Gesetzgeber den berechtigten Sorgen vor Missbrauch oder Übervorteilung durch Ausgestaltung des Verfahrens Rechnung tragen können. Drittens. Anders als andere wollen wir ein differenziertes Verfahren vorsehen, je nachdem, ob ein Sterbewilliger sich in einer medizinischen Notlage befindet oder schlicht aus anderen Gründen sein Leben beenden will. In einer medizinischen Notlage stehen in der Regel die behandelnden Ärzte und Ärztinnen in der Verantwortung, die unter Einbeziehung einer weiteren Kollegin die Lage einzuschätzen vermögen. Ein Sterbewilliger jenseits der medizinischen Notlage hat allerdings keine Ärztin an seiner Seite, und es ist auch kaum vorstellbar, dass sich Ärzte und Ärztinnen finden, die in solchen Fällen bereit wären, Sterbehilfe für einen gesunden Menschen zu leisten. Hier braucht es also einen zusätzlichen Weg, wenn wir diesen Menschen den Zugang zur Sterbehilfe nicht verwehren wollen. Deswegen schlagen wir hier eine verpflichtende Beratung durch eine unabhängige Beratungsstelle vor. Diese Beratungsstellen müssen geeignetes, qualifiziertes Personal vorhalten und dürfen die Beratung nur bescheinigen, wenn sie keine Mängel bei der Willensbildung des Sterbewilligen feststellen können. Außerdem müssen zwei Beratungen in einem zeitlichen Mindestabstand stattfinden, um die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches zu dokumentieren. Eine solche Pflichtberatung trägt im Übrigen auch zur Suizidprävention bei. ({0}) Am Ende eröffnet die Bescheinigung einer solchen Beratungsstelle dann den Anspruch auf den Bezug des tödlichen Mittels unabhängig von einer medizinischen Notlage. So regeln wir die Sterbehilfe jenseits des Strafrechtes in einem Rahmen, der den Sterbewilligen einen gewissen Schutz bietet, den Sterbehelfern eine gewisse Rechtssicherheit und die Selbstbestimmung am Lebensende achtet. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Keul. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte wurde erforderlich, weil die Reform zur Sicherung der Selbstbestimmung von Sterbewilligen, die wir im Jahr 2015 mit überwältigender Mehrheit fraktionsübergreifend hier und nach einer langen gesellschaftlichen Debatte beschlossen hatten, vom Bundesverfassungsgericht in einem sehr ungewöhnlichen Urteil verworfen wurde. Dabei wurde nicht nur das unbestrittene wie ja existierende Recht auf Assistenz beim Suizid weit ausgedehnt; es wurde zudem ein Schutzkonzept verlangt, das Menschen in vulnerablen Lebenslagen vor Druck schützen soll und das teils im klaren Widerspruch zum Urteil steht. Das fundamentale Urteil, mit all seinen Widersprüchen, ist gesprochen – und die wurden dem Parlament zur Lösung überlassen. Hier wird nichts weniger verlangt als die Quadratur des Kreises. Es bleibt unsere Aufgabe, Autonomie und Selbstbestimmung nicht nur formal, sondern real zu schützen. Denn niemand von uns könnte sich der Verantwortung entziehen, falls ein zu schwacher Schutz gegen Missbrauch dazu führt, dass wegen der Ausweitung selbst auch der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe nun Menschen dem Druck nachgeben und getötet werden, selbst gegen den eigenen Willen. Wir haben also – und das ist die Büchse der Pandora, die das Urteil geöffnet hat –, diese neue Qualität der Bedrohung des Lebens von Menschen in schwerer Notlage. Während die Reform von 2015 zuallererst den Schutz und die Selbstbestimmung von vulnerablen Personen im Blick hatte, haben andere vor allem diejenigen im Blick, die ohne weitere Auflagen ihrem Leben aus freier Selbstbestimmung ein Ende setzen wollen, ohne dass es die Antwort gibt, wie die „Freiverantwortlichkeit“, die „Dauerhaftigkeit des Suizidgedankens“ eigentlich konkret festgestellt werden können. Das ist nicht weniger als ein echter Paradigmenwechsel. Die Schwachen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind zumeist auch die Stillen, die Stummen. Denen eine Stimme zu geben, sie nicht schutzlos dem Druck leicht verfügbarer, sprichwörtlich tödlicher Angebote auszuliefern, das bleibt vor unserer Geschichte und unserer Verfassung unsere wichtigste Aufgabe. Niemand darf – auch nicht versehentlich – Säulen wegräumen, die die gesamte Statik des Grundrechts auf Selbstbestimmung auch am Lebensende zusammenbrechen lassen können. Unsere Verantwortung bleibt: Wir müssen die Schwachen vor allem schützen, weil wir eine Gesellschaft mit menschlicher Qualität bleiben wollen. An Fragen wie diesen entscheidet sich auch katalytisch, weit über die Einzelfrage hinaus, in welche Richtung eine Gesellschaft auf Dauer geht. Zwischen diesem fundamentalen Urteil und dem Grundrecht auf Leben die richtige Antwort zu finden, das ist tatsächlich die Quadratur des Kreises. Und umso mehr müssen wir jedes Detail, jeden Grundsatz sehr sorgfältig daraufhin überprüfen, dass wir nicht einen einzigen Menschen unfreiwillig in den Tod getrieben sehen. Das sind wir diesen Menschen und auch uns selbst schuldig. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brand. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Seitz aus der AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Allen Mandatsträgern ist klar, wie ernst das Thema ist, weil es die wohl extremste menschliche Situation überhaupt berührt. Uns allen muss klar sein, dass es keine gesetzliche Regelung geben wird, die allen Weltanschauungen und Lebensentwürfen gleichermaßen entspricht. Aber wir haben eine gemeinsame Diskussionsgrundlage, und die hat sogar bereits Gesetzeskraft. Das Bundesverfassungsgericht nämlich hat festgestellt: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Hieran müssen wir anknüpfen. Wir reden nicht über Sterbehilfe. Es geht nicht um Tötung auf Verlangen und schon gar nicht um Euthanasie, auch nicht um Behandlungsabbruch. Unser einziges Thema heute ist die Suizidhilfe, also der Wunsch nach Unterstützung bei der Beendigung des eigenen Lebens. Bitte lassen Sie uns das sachlich feststellen, damit wir überhaupt dem schwierigen Thema gerecht werden können, ohne Polemik. Es geht um die Selbstbestimmung des Menschen am Ende seines Lebens. Natürlich gibt es da auch die Gefahr des Missbrauchs; deshalb muss ja die Selbstbestimmung gerade geregelt werden. Aber ich erinnere an einen Grundsatz: Abusus non tollit usum. – Der Missbrauch hebt den – ich ergänze: rechtmäßigen – Gebrauch nicht auf. So schafft man eben nicht einfach das Erbrecht ab, nur weil es Menschen gibt, die vielleicht ihren Erbonkel umbringen wollen. Also: Eine gesetzliche Regelung ist notwendig, Tabuisierung hilft keinem. Zum verfassungsmäßigen Recht auf selbstbestimmtes Sterben gehört auch der Wunsch nach einem selbstbestimmten Todeszeitpunkt. Auch das ist zu respektieren. Ein Rechtsstaat schreibt seinen Bürgern nicht vor, wie das Lebensende auszusehen hat. Denn individueller und persönlicher kann keine Entscheidung sein. Ein anderer Gesichtspunkt. Es heißt zu Recht: Voluntas aegroti suprema lex – der Wille des Kranken ist das höchste Gesetz. Das weiß jeder verantwortungsbewusste Arzt und keiner macht es sich einfach mit seiner Entscheidung. Der Mensch, der freiwillig aus dem Leben gehen will, hat auch ein Recht auf Respekt. Ein System, das hier die Hilfe verweigert und den hilfswilligen Mediziner bestraft, führt auch dazu, dass es Menschen gibt, die sich vor Züge werfen oder in den Autoverkehr hineinrasen. Das ist schrecklich, und das kann nicht im Interesse einer humanen Gesellschaft sein. ({0}) Kein Arzt macht es sich leicht mit dem Tod. Verantwortungsvollen Ärzten sollte es deshalb erlaubt sein, unter festgelegten Bedingungen als Helfer in der Not zu wirken, auch beim Lebensende. Die Bedingungen müssen allerdings sicherstellen, dass der Sterbewunsch ernsthaft ist und auf einer freien Willensentscheidung beruht. Er darf weder abschreckend noch verhindernd, aber auch nicht einladend wirken. Ich möchte mit einer persönlichen Erinnerung schließen. Aus der Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht ist mir besonders eine Schilderung im Gedächtnis geblieben: Die sichere Gewissheit, dass er mit assistiertem Suizid jederzeit seinen Sterbewunsch würde umsetzen können, hat einem Betroffenen die Kraft gegeben, seine Krankheit weit länger zu ertragen als ursprünglich für ihn vorstellbar. – Selbst wenn final viele davon keinen Gebrauch machen: Für viele Menschen wird das Wissen um die reine Möglichkeit schon ausreichen, um Schmerz und Angst zu verringern und zu ertragen. Das scheint mir human zu sein. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Seitz. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese aus der SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 2015 hat der Deutsche Bundestag nach intensiver Debatte und mit einer sehr großen Mehrheit beschlossen, den geschäftsmäßigen, also auf Wiederholung angelegten, assistierten Suizid mit dem § 217 StGB unter Strafe zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz am 26. Februar 2020 aufgehoben. Dieses Urteil ist zu respektieren, und wir haben uns intensiv damit beschäftigt, was daraus folgt. Das Gericht hat uns, den Gesetzgeber, aufgefordert, zu klären, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gesichert werden kann. Für mich ist ganz wichtig: Selbstbestimmung heißt Schutz vor Druck, Schutz vor einer schweren, irreversiblen Entscheidung; denn es geht in diesem Fall um Leben und Tod. ({0}) Eine einsame alte Dame, ein schwerkranker Mann, der zu Hause von seinen Angehörigen gepflegt wird, ein Bettlägeriger im Pflegeheim, ein seit vielen Jahren pflegebedürftiger schwerstbehinderter Mensch, ein Mensch in einer schweren depressiven Phase: Sie alle haben das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht, vor fremdbestimmten und übereilten Sterbewünschen geschützt zu werden. Selbstbestimmung kann ohne den Schutz der Schwachen nicht funktionieren. ({1}) Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen endet dort, wo das Recht auf Leben eines anderen infrage gestellt wird. Die Achtung vor dem Leben, auch vor dem leidenden, dem schwerkranken und behinderten Leben, gehört zur Selbstbestimmung dazu. ({2}) Menschen in extremen Leidenssituationen dürfen nicht in eine Situation geraten, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie Angebote zum Beispiel von sogenannten Sterbehilfevereinen ablehnen. Niemals darf sich jemand dafür rechtfertigen müssen, dass er oder sie weiterleben will. ({3}) Für mich ist daher klar, dass es das Geschäft mit dem Tod und Werbung dafür nicht geben darf. Deswegen darf es Suizidbeihilfe im Rahmen des Grundgesetzes nur dann geben, wenn die Selbstbestimmung durch umfassende Beratung und Begutachtung sichergestellt und vor allem und zuallererst mit Angeboten der Suizidprävention verbunden ist. Denn wir wissen von den vielen Forschungen und Erfahrungen der Psychiatrie, der Palliativmedizin und der Seelsorge, dass ein Sterbewunsch sich oft – und manchmal sogar sehr schnell – wieder ändert und dass er fast immer ein Hilferuf ist, so nicht weiter leben zu wollen. Auf einen Sterbewunsch und auf die Ängste von Menschen vor Schmerzen und Leid ist die richtige Antwort eben nicht der Giftbecher auf dem Nachttisch für den einsamen Suizid, sondern wir haben Patientenverfügungen, die sichern, dass der Wille des Patienten gilt. Niemand muss Behandlungen mit sich machen lassen, die er oder sie nicht will, keine Therapie, auch kein künstliches Weiterleben. Die Angst vor Schmerzen kann mit den inzwischen sehr weit entwickelten Möglichkeiten der Palliativmedizin beantwortet werden. Niemand darf und niemand muss qualvoll sterben. Und die Angst vor Einsamkeit können wir nicht mit einem Gesetz nehmen, sondern dafür brauchen wir eine sorgende Gesellschaft, und das geht jeden Menschen jeden Tag an. ({4}) Wir haben die Pflicht, nicht nur die Selbstbestimmung des Einzelnen im Blick zu haben, sondern auch die Auswirkungen auf unser Zusammenleben, auf das gesellschaftliche Klima. Ich befürchte, dass eine verhängnisvolle neue Normalität entstehen kann, in der der assistierte Suizid zum Normalfall werden kann, wenn wir bundesweit Suizidberatungsstellen aufbauen, wie es andere Entwürfe fordern. Unsere Nachbarländer zeigen, wohin der Weg führt, wenn der assistierte Suizid erleichtert wird: Die Zahlen steigen an, und nicht nur Schwerstkranke wollen die Möglichkeit in Anspruch nehmen. In einigen Ländern ist auch die aktive Sterbehilfe, die in Deutschland ja nach § 216 StGB verboten ist, der Normalfall geworden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb müssen wir auf Suizidprävention setzen. Die Antwort muss sein, dass Menschen im Alter, in psychischen Krisen und bei Krankheiten Hilfe, Unterstützung und Zuwendung bekommen. Der Satz „Ich will sterben“ ist immer einer, der vom Gegenüber verlangt, sich Zeit zu nehmen, Zeit, nach den Gründen zu fragen, Zeit für Hilfe und Zuwendung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Und dann kann es immer auch ethische Einzelentscheidungen geben. Ich möchte in einer sorgenden und solidarischen Gesellschaft leben. Ich unterstütze deshalb den Ansatz der Kolleginnen und Kollegen Lars Castellucci, Ansgar Heveling, Kirsten Kappert-Gonther, Benjamin Strasser und Kathrin Vogler.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist gut, dass wir uns aus allen fünf demokratischen Fraktionen zusammengefunden haben, um die bestmöglichen Konsequenzen aus dem Urteil zu entwickeln, damit die Würde des Lebens und die Selbstbestimmung, die immer zusammengehören, geachtet werden. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie mir den Hinweis, dass ich das von Ihnen extrem unsolidarisch finde. Wir haben uns auf drei Minuten Redezeit geeinigt; Sie haben vier Minuten und zehn Sekunden gesprochen, trotz meiner mehrfachen Hinweise. ({0}) – Alles gut. Ich will gerade bei dieser Debatte die Rede nicht unterbrechen oder Ihnen das Wort entziehen, weil ich das für unangemessen halte. Aber wir sollten uns vielleicht doch an die Regeln halten. Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine knapp bemessene Redezeit in dieser Debatte den Angehörigen von Suizidenten widmen. Der Suizid eines Menschen bleibt – das darf ich Ihnen als Seelsorger sagen; das wissen Sie auch alle – nicht folgenlos für das Leben und auch für die Freiheit der nahen Angehörigen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen betont, seinen ganz persönlichen Wunsch, sterben zu wollen, erfüllen zu können. Dem müssen wir Rechnung tragen. Es hat die Sorge betont, dass gesellschaftliche Werte sich verändern können. Dem wollen wir auch Rechnung tragen. Was aber außerhalb des Blickfeldes geblieben ist, ist die Frage, welche Folgen sich für Angehörige ergeben könnten, übrigens auch für Angehörige, die den Suizidwunsch des Betroffenen unterstützen. Der wissenschaftliche Fachdiskurs geht im Schnitt von sechs Personen aus, die von einem Suizid betroffen sind, für deren Leben der Freitod ihres Nächsten einen tiefen Einschnitt in ihr Leben bedeutet. Es geht um Menschen, die ihren Partner verlieren. Es geht um Eltern, die ihre Kinder verlieren. Es geht um Kinder, die ihre Eltern verlieren. Es geht um Geschwister, die ihre Geschwister verlieren. Was wäre unser Wunsch, wenn es um unseren Partner ginge, als der, dass der Sterbewunsch so sorgfältig wie nur möglich geprüft würde und dass Missbrauch so sorgfältig wie nur möglich verhindert wird? ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet es eigentlich, einen Menschen mehrere Wochen zu begleiten, der einen Sterbewunsch in seinem Herzen trägt, vielleicht sogar schon das Rezept für das Medikament in seiner Tasche? Gibt es Beratungsangebote, Unterstützungsangebote für die Angehörigen? Lassen wir sie mit ihren Fragen, ihren Sorgen, Ängsten, eventuell Schuldgefühlen und Traumata allein? Erschöpft sich gesetzgeberische Verantwortung in der Respektierung der Freiheit des Sterbewilligen, oder haben wir als Gesetzgeber nicht auch eine Verpflichtung zur Sorge für alle beteiligten Betroffenen, also auch gegenüber den Angehörigen? ({1}) Zumindest müssen wir den Angehörigen die Versicherung, das Versprechen geben können, dass der Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches ein besonders sorgfältiges Augenmerk geschenkt wird, dass versucht wird, Missbrauch besonders sorgfältig zu verhindern, dass aber auch Beratung den Zugang zu den individuell benötigten Hilfsangeboten niederschwellig und auch erreichbar eröffnet, um vielleicht einen anderen Ausweg zu finden als den Freitod. ({2}) Wir brauchen Beratungs- und Hilfsangebote für den Sterbewilligen, aber auch für sein Umfeld, seine Angehörigen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Friedrich Straetmanns aus der Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren das Thema Suizidhilfe, und in der Debatte drückt sich eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem Thema aus, weil es uns alle angeht. Tod und Sterben sind aus dem Bewusstsein unserer Gesellschaft verdrängt worden. Anders als bei meinen bäuerlichen Vorfahren wird der Tote eben nicht mehr in der Diele des Bauernhauses aufgebahrt und von den Nachbarn zum Friedhof begleitet. Wir haben uns eine emotionale Distanz zum Tod aufgebaut und schlicht gesagt: Tod passt in unsere Gesellschaft gnadenloser Effektivität kaum noch hinein. – Denn was ist am Tod eines Menschen effektiv oder gar schön? Nun hat uns das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 aufgetragen, die Frage der Sterbehilfe neu zu regeln. Als Grundsätze – es ist angesprochen worden – sind natürlich die Autonomie des oder der Sterbewilligen zu beachten, aber auch, dass soziale Nöte und Zwänge der Betroffenen nicht noch zusätzlich wirtschaftlich ausgenutzt werden sollten. Ich bin überzeugt: Es muss zwar eine grundsätzliche Straffreiheit der Hilfe beim Suizid geben, dennoch stehe ich dafür ein, dass wir weiterhin die Strafbarkeit der täterschaftlichen aktiven Sterbehilfe, wie sie im Strafgesetzbuch geregelt ist, behalten. Aber wir als Gesetzgeber sind durch die Gerichtsentscheidung verpflichtet, Alternativen anzubieten. Wir können uns hier nicht kleinmachen und wegducken. Damit ist zugleich aber auch die Abgrenzung klar: Der Weg der Selbsttötung darf eben nicht komplett verstellt sein, aber dieser Weg hat sich nach meiner Überzeugung an Leitplanken zu orientieren. Diese Leitplanken möchte ich ein bisschen beleuchten. Es bedarf zum einen einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über dieses Thema. Es bedarf aber auch einer Enttabuisierung des Themas Sterben. Es bedarf auch einer Verhinderung des Gefühls einer Normalisierung von Selbsttötung. In dem Moment, wo ich das ausspreche, bin ich mir bewusst: Es wird der schwierigste Punkt sein, dass es eben nicht zu einer Selbstverständlichkeit oder Normalität wird. ({0}) Wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auswertet, sieht auch: Die Richterinnen und Richter haben auch erörtert, ob die soziale Situation von Betroffenen die Entscheidung für den Tod wesentlich beeinflusst. Sie haben dazu versucht, die Situation durch Vergleiche mit anderen Ländern zu beleuchten, was sehr schwierig ist. Die größte Frage ist, ob die soziale Situation – verbunden mit der eventuellen Überzeugung, den eigenen Angehörigen Mühe und Kosten zu sparen – zum Entschluss der Selbsttötung beiträgt. Ich komme zum Schluss. Ich denke, wir brauchen einen massiven Ausbau sämtlicher Beratungsangebote und einen massiven Ausbau der Palliativmedizin; auch das ist ein wesentlicher Punkt. Und ich plädiere dafür, dass wir in der Beratung, die hier notwendig ist, insgesamt Wert darauf legen, eine Bejahung zum Leben zu bewirken. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Mit 68 Jahren bin ich das älteste Mitglied meiner Fraktion, und ich stelle mir Fragen: Wie will ich sterben? Wie will ich leben? Wann will ich nicht mehr leben? Und wenn ich nicht mehr leben will, wie steht mein Staat mir dann gegenüber? Reicht er mir die Hand, oder begrenzt er mich? Schützt er mich vor meinem Willen? Wir müssen ein neues Gesetz zu genau diesen Fragen machen. Zu dem vom Bundestag in seiner Mehrheit gemachten Gesetz – ich hatte dem Gesetz nicht zugestimmt – hat das Bundesverfassungsgericht Nein gesagt. Mit einem Gesetz zur Beihilfe zum Suizid sind wir am Kern unserer Verfassung: der Selbstbestimmung. Der Mensch in seiner unantastbaren Würde und Freiheit – das klingt großartig. Dann stehen wir vor dem Spiegel und sehen uns: das kleine Ich, das so abhängig ist von allem um es herum – von Zuwendung, Anerkennung, sozialen Beziehungen. Niemand von uns ist nur ein Selbst. Jeder von uns ist Teil von Gemeinschaft: Familie, Freundschaften, soziale Zusammenhänge, Gesellschaft. Das ist das Selbst. Was kann Selbstbestimmtheit sein in einer Welt, die bestimmt wird von diesen Abhängigkeiten, von Regeln und Normen, aber auch Unwägbarkeiten? Wo bestimmt sich das Selbst unbeeinflusst? Überfordert uns unser Grundgesetz mit seiner Vorstellung des selbstbestimmten Menschen? Der freie Wille, wann ist er frei, wann unumstößlich? Wie sollen wir das wissen? Auch Wille ist nicht absolut. Muss also der Staat einen nie als absolut zu betrachtenden Willen eines letztlich nicht selbstbestimmt sein könnenden, weil abhängigen Menschen versuchen, zu verändern, wenn dieser Wille unbegreiflich scheint? Ich halte das für ein Missverständnis. Unser Grundgesetz weiß das alles. Es sieht bei Selbstbestimmtheit nicht Menschen, die unabhängig von ihrer Umgebung ihre Entscheidungen fällen. Es sieht Menschen im sozialen Umfeld, Menschen, die nach Glück streben und die Ängste haben. Ja, auch beim Wunsch nach Suizid spielen Ängste eine Rolle: Angst vor Leiden, vor Autonomieverlust, Angst, eine Last zu sein. Was immer der Staat gegen solche Ängste aufbieten kann, das muss er tun. Aber Gefühle wie Verlorenheit, Trauer, Angst, Lebensmüdigkeit zu eliminieren, kann nicht gelingen. Sie gehören zu uns Menschen. Wir haben ein Recht auf sie. Selbstbestimmtheit zu erreichen, ist wie reif werden ein Prozess. Unser Grundgesetz gibt uns mit seinen vielfältigen Grundrechten, mit seinem Freiheitsangebot die besten Voraussetzungen für diesen Prozess. Und was immer wir individuell daraus machen: Es passt nicht dazu, ausgerechnet am Ende dieses lebenslangen Prozesses die Freiheit zu beschneiden, dem Menschen abzusprechen, am Ende seines Weges seinen Willen zu kennen. Unserem einzigartigen Grundgesetz entspricht eine Gesellschaft, in der die Menschen im Rahmen des Gemeinwesens leben dürfen, wie sie wollen, und sterben dürfen, wenn sie wollen. Deshalb muss die Beihilfe zum Suizid geregelt werden, aber nicht im Strafrecht; da gehört sie nicht hin. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kotting-Uhl. – Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt aus der Fraktion CDU/CSU. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Höchstpersönliche Entscheidungen und Wege zu kategorisieren, zu objektivieren, das ist eine gesetzgeberisch allerhöchste Herausforderung, der wir uns nun zuwenden müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den Mittelpunkt seines Urteils den freien Willen jedes einzelnen Menschen gestellt. Komme er zu einer autonomen Entscheidung, sei seine Entscheidung – auch zum Suizid – zu respektieren. Fördern muss der Staat dies allerdings nicht; unmöglich machen darf er es aber auch nicht. Auf diese grundsätzlichen Erwägungen muss man aber auch in einem größeren Werterahmen, denke ich, antworten. Wir können und dürfen nicht unsere gesetzgeberische Aufgabe nur darin sehen, sozusagen ein Suizidbegleitgesetz dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachzusenden. Wir haben bei allem Respekt vor der freien Entscheidung des Einzelnen die gemeinsame Aufgabe, ein schützendes Konzept hin zum Leben zu schaffen und diese schwerste aller Entscheidungen, die denkbar sind, nicht noch gesellschaftlich zu befördern. Davon zu unterscheiden ist die Aufgabe, wie der Rahmen für nicht geschäftsmäßige Unterstützung eines Suizidwilligen zu setzen ist; wir hatten das ja bei der Neufassung des § 217 StGB im Jahre 2015 durchaus im Blick gehabt. Es gibt also keinen Anspruch auf quasi staatliche Unterstützung, aber auch keine Erlaubnis zur Verunmöglichung solch einer Entscheidung. Das heißt, dass Ärzte und lebenserfahrene Menschen schon auch mit dem Suizidwilligen prüfen dürfen und müssen, ob dieser Wille wirklich frei gebildet ist. Wir haben gerade bei Kollegin Kotting-Uhl verstanden und wieder gesehen, wie schwierig dies ist. Dem Menschen als Zoon politikon wohnt eine gewisse Ambivalenz inne: Er lebt eben nicht alleine aus sich heraus, sondern ist immer Einflüssen ausgesetzt. Es geht darum, zu unterscheiden, ob die Entscheidung dem eigenen, freien Willen entspringt oder Zwängen von außen unterliegt und von einem entsprechenden soziokulturellen Mainstream mit einer Vorstellung des Zur-Last-Fallens oder von einem anderen unangemessenen Druck befördert wird. Das muss herausgefunden werden; das ist außerordentlich schwer. Ich glaube, wir werden hierauf besonders viel Energie verwenden müssen. Wir müssen uns allerdings auch völlig klar sein, dass ein Schutzkonzept keine suizidermutigende Umwelt zulassen sollte, sozusagen kein Werther-Syndrom, aber auch kein Enke-Syndrom. Hier sind die Interdependenzen außerordentlich intensiv und groß. ({0}) Gesellschaftlich allgemein und für vulnerable Gruppen insbesondere müssen sozusagen spezial-, generalpräventive und assistierende Konzepte entwickelt werden. Die Prävention ist die Schwester einer gesetzgeberischen Regelung, die Suizid in einem gewissen Rahmen bei freier Entscheidung dann auch ermöglicht. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund aus der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Während meiner Zeit als Assistenzarzt fragte mich eine todkranke Patientin, ob sie eine Spritze haben könne; sie wolle einfach nicht mehr leben. Sie begründete das damit, dass sie nicht mehr zur Last fallen möchte – nicht den Angehörigen, nicht dem Pflegepersonal –, und besonders solle sie keiner mehr in diesem Zustand sehen, vor allem ihre Familie und vor allem ihre Enkel nicht. Dann habe ich sie gefragt: Wenn alle diese Gründe nicht bestünden, würden Sie dann weiterleben wollen, auch wenn es nur für zwei, drei Wochen wäre? Dann sagte sie eindeutig: Ja. – Ja zum Leben, meine Damen und Herren! Die meisten Menschen wünschen nämlich im Grunde keine Selbsttötung, sondern sie möchten Hilfe, sozialen Beistand in der Gesellschaft oder eben eine vernünftige Sterbebegleitung. So lehnen zum Beispiel 64 Prozent der Ärzte eine aktive Sterbehilfe ab. Der Weltärztebund bekräftigte dies in seiner Ablehnung von Sterbehilfe und ärztlich unterstütztem Selbstmord. Die Europäische Vereinigung für Palliativmedizin sieht Ärzte in einem fundamentalen Konflikt rechtlicher und ethischer Werteprinzipien, medizinisches Töten gegen den Willen des Patienten zuzulassen. Und, meine Damen und Herren, das Schlimmste ist, insgesamt Tötungshandlungen zu verharmlosen und sie damit vor allen Dingen gesellschaftsfähig zu machen. Damit, meine Damen und Herren – das wurde heute schon so oft gesagt – ist die Büchse der Pandora geöffnet. Da nützt auch keine verfassungsrechtliche Legitimation. Wenn wir dennoch als Politiker gefordert sind, eine rechtliche Lösung zu finden, dann müssen diese Hürden de facto so hoch gehängt werden, dass eine Selbsttötung fast nicht möglich ist; denn es gilt einfach der ethische Grundsatz, und für Ärzte ganz besonders: Du sollst nicht töten. – Jemanden umzubringen, ist auch nicht Aufgabe eines Arztes, sondern die Aufgabe ist es, das Leben eines jeden Menschen möglichst bis zum letzten Atemzug menschenwürdig und erträglich zu gestalten. Ich denke, dass bei einer gut ausgebauten Palliativversorgung und psychologischer Betreuung, insbesondere junger Menschen, der Wunsch nach dem Tod sehr, sehr schnell nachlässt. Gerade wenn wir an die Geschichte Deutschlands denken, dürfen wir, insbesondere was die Sterbehilfe angeht, nicht Vorreiter sein, da die bestehende Gesetzeslage durchaus ausreichend ist. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke aus der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Politik sollten Urteile der höchsten Gerichte respektieren. So hat das Bundesverwaltungsgericht – das ist mehrmals angesprochen worden – 2017 entschieden, dass bestimmte Sterbewillige ein letal wirkendes Medikament oder Mittel erhalten können. Darauf warten die Berechtigten, wenn sie überhaupt noch leben, aber bis heute vergebens. Das ist aus meiner Sicht absolut nicht in Ordnung. ({0}) Es ist auch nicht in Ordnung, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass sich ranghohe Vertreter von Politik – einer redet gleich nach mir – und auch die Ärzteschaft über dieses Urteil ganz klar hinweggesetzt haben und das auch bei uns im Gesundheitsausschuss so deutlich kommuniziert haben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Jahr, wie wir alle wissen, ein Urteil mit klarem Tenor gefällt: Wer sterben will, darf sich dabei unterstützen lassen. – Das ergibt sich, so das Bundesverfassungsgericht, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Diese Entscheidung sollten wir, ja müssen wir respektieren und als Politik umsetzen. ({1}) Dafür wollen und müssen wir einen verbindlichen Rahmen schaffen, der Sterbehilfe ermöglicht, einen Rahmen, der die Würde des Einzelnen, der die Autonomie des Einzelnen respektiert und sichert, einen Rahmen, der aber auch – und das sage ich ganz klar – verhindert, dass Menschen in den Suizid getrieben werden. Menschen müssen beraten werden; Menschen müssen auch zum Leben beraten werden. Der Gesetzentwurf, den Renate Künast, Katja Keul und andere vorgeschlagen haben, setzt zumindest den richtigen Rahmen und ist auch eine gute Diskussionsgrundlage für die weiteren Debatten. Ich will drei Gründe nennen, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum der Entwurf vernünftig und sachgerecht ist. Erstens. Der Entwurf setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zulässig um. Für alle, die nicht mehr leben wollen, aus welchem Grund auch immer, schafft er einen klaren Weg. Sie können mit der Unterstützung anderer selbstbestimmt sterben. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass dieser Entwurf auch rechtssicher ist. Zweitens. Der Entwurf steht auch im Einklang selbst mit christlichen und humanistischen Werten. Er nimmt die Menschen gerade in ihrem Sterbewunsch ernst und zeigt ihnen, dass die Gesellschaft sie in schwierigen Zeiten nicht allein lässt, sie berät und ihnen hilft. Das ist auch eine Form von gelebter Solidarität, Respekt und auch von gelebter Nächstenliebe. Drittens. Der Vorschlag stellt auch das Leben in den Mittelpunkt; denn die Sterbewilligen bekommen alle Wege aufgezeigt, die dafür sprechen, weiterzuleben. Dem Sterbewilligen wird deutlich gemacht: Uns als Gesellschaft liegt viel an dir; es liegt uns viel daran, dass du weiterlebst. – Ihm werden auch Perspektiven für das Leben aufgezeigt. So kann man vielleicht sogar Leben retten, indem man mehrere Möglichkeiten ergebnisoffen aufzeigt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt einen würdigen und sicheren Rahmen für die Sterbehilfe in Deutschland schaffen, also ein Gesetz, das nicht nur Respekt vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zeigt, sondern auch Respekt vor den Menschen, die in einer besonderen, außergewöhnlichen Notlage eine autonome Entscheidung treffen wollen. Ich danke Ihnen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Franke. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen in dieser Debatte auch über großes Leid, das Menschen widerfährt. Es geht um Menschen, deren Schmerzen, deren Leiden, deren Leiden vielleicht auch an der Welt so groß sind, dass sie sterben wollen – eine für die meisten eigentlich unvorstellbare Vorstellung und doch auch Ausdruck von Freiheit und freiem Willen in manchen Fällen –, und es geht gleichzeitig um die Fürsorgepflichten des Staates, der Gesellschaft, um unsere Werteordnung – ein ethisches Dilemma in vielerlei Hinsicht. Jeder, der sich mit den Schicksalen dahinter beschäftigt, mit den Betroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß das. Ich muss sagen, dass ich erst mal schwer schlucken musste, als ich von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im vergangenen Jahr hörte. Karlsruhe hat das uneingeschränkte Verbot der Beihilfe zum Suizid für verfassungswidrig erklärt und gleichzeitig ein umfassendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben erkannt – „in jeder Phase menschlicher Existenz“, so heißt es im Urteil. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn wir nun darüber debattieren, ob und wie Sterbehilfe in Deutschland künftig geregelt – allein schon das Wort „geregelt“; es geht ums Sterben – sein soll. Das Bundesministerium für Gesundheit hat diesen Auftrag auch für sich angenommen und als Beitrag für die gesellschaftliche Debatte einen Arbeitsentwurf – ich sage ausdrücklich: einen Arbeitsentwurf – zur Verfügung gestellt. Das darin vorgeschlagene abgestufte Schutzkonzept basiert auf zwei Säulen: Erstens. Die Hilfe zur Selbsttötung sollte mit einem neuen Straftatbestand in § 217 StGB unter Strafe stehen; die Hürden zur assistierten Selbsttötung sollten sehr, sehr hoch bleiben. Für mich ist klar: Es darf unter keinen Umständen einen sanften Druck geben, gesellschaftlich oder auch im privaten Umfeld, Angebote der Sterbehilfe annehmen zu sollen, was Sie, Herr Kollege, als Modell, das da entstehen kann, beschrieben haben. Eine solche Entwicklung wäre für unsere Gesellschaft fatal. ({0}) Es sollte zweitens einen regulatorischen Rahmen, wenn denn schon, mit klar definierten Ausnahmen geben, der Ärztinnen und Ärzte eindeutig vor Strafverfolgung schützt, wenn sie Sterbehilfe leisten. Zu diesem Rahmen zählen aus unserer Sicht unter anderem eine ergebnisoffene ärztliche Aufklärung, die Einbeziehung von gemeinnützigen Beratungsorganisationen, notwendige Wartefristen zwischen Entscheidung und Umsetzung, ein ganz klares Werbeverbot. ({1}) Was aus meiner Sicht übrigens klar nicht dazugehört – das will ich hier sagen, weil das hier von einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden ist –, ist eine Verpflichtung des Staates, selbst Medikamente zur Selbsttötung zur Verfügung zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr klar gemacht, dass es zwar ein umfassendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben gebe, aber eben keinen Anspruch darauf, dass dabei geholfen wird. Der Staat sollte nicht darüber entscheiden – kein Beamter einer Behörde und erst recht nicht ein Minister nach seiner politischen Laune –, ob jemand sterben darf oder nicht und nach welchen Kriterien diese Medikamente zur Verfügung gestellt werden. ({2}) Das sollte nicht der Staat entscheiden. ({3}) – Nein. Im Übrigen, wenn wir schon bei der Juristerei sind: Ein Bundesverwaltungsgerichtsurteil im Einzelfall ist was anderes als ein Bundesverfassungsgerichtsurteil. Verwaltungsgerichte entscheiden mittlerweile in dem Sinne, wie wir entschieden haben nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. ({4}) Auch das bitte ich in der Debatte zu berücksichtigen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich weiß, ich bin über der Zeit. Aber weil es von Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden ist, wollte ich das noch erwähnen. Der Staat jedenfalls sollte es nicht entscheiden. Es sollte eine individuelle Entscheidung von Arzt und Patient in einem besonderen Vertrauensverhältnis sein, das – ja – geregelt sein muss. Das ist eine Debatte nicht mit schwarz und weiß, eine Debatte, wie wir sie führen. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Daniela De Ridder aus der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft nach wie vor stark tabuisiert, und allzu oft verdrängen wir die Grenzen des Lebens. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir hier heute diese Debatte führen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Es ist also eine höchst individuelle Entscheidung, dem eigenen Leben, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen. Die Bewertung von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit sind dabei die Maßstäbe. Uns hat das Bundesverfassungsgericht aufgetragen, klare Kriterien für den Zugang zu Hilfsmitteln zu definieren, die zur Umsetzung dieses Suizidwunsches notwendig sind. Wichtig ist mir dabei – da weiß ich mich in guter Gesellschaft mit Katja Keul, Renate Künast und Edgar Franke –, dass insbesondere Schwererkrankte ein Recht auf würdevollen Suizid haben. Aber auch denjenigen, die aus anderen Gründen, nämlich etwa in allerallerschwersten Lebenskrisen, ihrem Leben ein Ende setzen wollen, dürfen wir ein Recht auf Suizid nicht verwehren. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Sich etwa mit Niereninsuffizienz verhungern und verdursten zu lassen, schwermütig und des Lebens überdrüssig sich verzweifelt vor den Zug zu werfen oder sich im Wald zu erhängen, all das halte ich nicht für würdevolle Suizide. Es passiert aber tagtäglich. Suizidale benötigen in allererster Linie Beratung und Information im Kampf gegen ihre Verzweiflung. Und dennoch kann es auch danach so sein, dass der Wunsch nach Selbsttötung fortbesteht. In allen Fällen aber kommt Ärztinnen und Ärzten eine besondere Verantwortung zu, wenn sie sich nach intensiven Gesprächen und Beratungen vom freien Willen zum Suizid bei ihren Patientinnen und Patienten überzeugen sollen. Dies nämlich ist eine Conditio sine qua non für die Abgabe von todbringenden Mitteln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich, wie wir im weiteren Gesetzesverfahren debattieren und um Lösungen ringen werden, keine der Entscheidungen darf Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte kriminalisieren oder begleitende Angehörige kulpabilisieren. Uns aber bleibt die Verantwortung, Hilfen und Beratung deutlich auszubauen. Ganz besonders gilt dies für Hospiz- und Palliativmedizin. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. De Ridder. – Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rudolf Henke aus der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ja, es ist wahr: Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe aufgehoben, und daran können wir nicht vorbei. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber und die Gesellschaft legitimiert bleiben, einer Entwicklung entgegenzutreten, an deren Ende sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen zu entfalten. – So das Urteil vom 26. Februar 2020, Randnummer 248. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, in Deutschland sterben jedes Jahr etwa 10 000 Menschen den Suizidtod. Die Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl der Suizidversuche etwa beim 10- bis 30-Fachen liegt. Von denen, die einen Suizidversuch überleben, wissen wir, dass circa 90 Prozent keinen zweiten Versuch unternehmen. Deswegen, glaube ich, steht ganz im Vordergrund unserer Aufgabe, die Suizidprävention so zu organisieren, dass die Rahmenbedingungen, die wir vorfinden, nicht dazu ermuntern, dass die Zahl der Suizide steigt. Unsere erste Aufgabe ist die Suizidprävention. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu gehört, sich damit auseinanderzusetzen, was Suizidalität bedeutet. Suizidalität ist kein individuell über die Zeit beständiges Phänomen. Der in der Psychiatrie bekannte Zustand der kognitiven Einengung akut suizidgefährdeter Personen kann über Wochen hinweg den Eindruck einer eindeutigen Entschlossenheit hervorrufen. Suizidalität ist dennoch ein Phänomen, welches sich in menschlichen Beziehungen entwickelt, sich in Beziehungen ereignet und durch Erfahrungen in Beziehungen auch verändert. Sie ist kein beständiger psychischer Zustand; vielmehr befinden sich suizidale Menschen meist in einem Zustand der Ambivalenz, und auch die Einschränkung der medialen Verbreitung von Suizidmethoden und Anleitung hat nachweislich suizidpräventive Effekte. ({1}) Deswegen, finde ich, muss zunächst einmal die Frage der wirksamsten Suizidprävention in den Vordergrund. Dazu gehört auch eine gehörig lange Zeit, um diese fehlende Konstanz des Willens und die Dynamik der Entwicklung der Suizidalität in Begegnungen, in Beziehungen und in menschlichem Miteinander sich entwickeln zu lassen. ({2}) Ich bin sicher, dass das noch etlicher Debatten bedarf. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Swen Schulz aus der SPD-Fraktion auf. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor der Aufgabe, das vom Bundesverfassungsgericht beschriebene Freiheitsrecht auf Suizid zu gewährleisten und gleichzeitig Wildwuchs und Missbrauch zu verhindern. Es geht darum, Hilfe zum Leben zu leisten, aber, wenn es die Betreffenden denn wirklich selbst wollen, auch Hilfe zum Suizid zu ermöglichen. Ich möchte hier darstellen, warum bei diesem Abwägen das Strafrecht meiner Meinung nach ein ungeeignetes Instrument ist, und zwar anhand eines Erlebnisses in meinem privaten Umfeld. Eine mir gut bekannte Frau erhielt eine schlimme Diagnose, ALS. Sie beschloss, ihrem Leben ein baldiges Ende zu setzen. Unter den Bedingungen des alten Strafrechts war das schwierig, aber sie hat über Umwege trotzdem etwas organisiert, und ihr Mann hat dann beim Suizid assistiert. Alles gut also? Ich denke, nicht. Die Frau musste sich illegal Medikamente besorgen und alles still und heimlich machen, ohne professionelle Hilfe. Und ihr Mann, der gerade seine Frau in den Tod begleitet hatte, wurde direkt nach dem Suizid zur Polizei gebracht und verhört, anstatt mit seiner Familie trauern zu dürfen. Dieses Beispiel hat mir gezeigt: Es ist ein Weg nötig, der den Menschen den selbstbestimmten würdigen Abschied ermöglicht: sicher, schmerzlos, begleitet, auch von Ärzten, und mit Angehörigen, die dann nicht die Polizei fürchten müssen. ({0}) Der Entwurf „Helling-Plahr, Sitte, Lauterbach und andere“, den ich unterstütze, schlägt einen solchen Weg vor und setzt dabei auf Hilfe und gute Beratung anstatt auf die Strafandrohung. Mir ist dabei aber wichtig, zu betonen, dass die Beratung auch Wege ohne Suizid aufzeigen muss und dass wir mehr palliativmedizinische Angebote und Hospizplätze schaffen müssen, auch psychologische Hilfe in verzweifelten Lebenslagen. Es geht hier nicht darum, die Menschen schnell in den Tod zu befördern, sondern es geht darum, ihnen zu helfen – und dann, wenn sie es wirklich wollen, auch beim Suizid. Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema hat auch noch eine andere Dimension. Bisher ist es so, dass diejenigen mit Kenntnissen, mit Kontakten, mit Geld schon Wege finden. ({1}) Die fahren halt, mal grob gesagt, zur Not in die Schweiz. Diejenigen ohne solche Möglichkeiten stehen da, können ihr Recht auf Suizid nicht gut wahrnehmen, leiden weiter oder verfallen auf unsichere schmerzhafte Suizidmethoden. Es ist Hilfe für alle Menschen nötig, unabhängig von Geld und Status. ({2}) Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und hoffe, dass wir zu einer schnellen Gesetzgebung kommen; denn die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht Unterstützung, Regeln für die Suizidassistenz und einen sicheren rechtlichen Rahmen. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. – Ich rufe als Nächsten den Kollegen Peter Weiß aus der CDU/CSU-Fraktion auf. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es gibt ihn, den autonomen, selbstbestimmten, frei handelnden Menschen, der sich im Zweifel entscheidet: Ich will den Freitod. – Aber wenn wir in einer solchen Parlamentsdebatte Orientierung suchen – was und wie sollen wir als Parlamentarier gesetzlich etwas regeln? –, dann beschäftigt mich zuallererst einmal die Tatsache, dass über 90 Prozent derer, die eine Suizidhandlung vorgenommen haben, Menschen sind, die an einer psychischen Erkrankung leiden; in der Regel an einer Depression. Alle Erfahrung aus der Arbeit mit solchen Menschen zeigt, dass diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit passgenauen, zielgruppenspezifischen und niedrigschwelligen Suizidpräventionsangeboten sehr wirksam geholfen werden könnte. ({0}) Wer sich selbst das Leben nehmen will, befindet sich meist in einer absoluten Ausnahmesituation, in einer Situation von schrecklicher Verzweiflung und großer Lebensangst. Deshalb trifft nur eine sehr geringe Zahl eine wirklich dauerhaft frei getroffene Entscheidung. Aus meiner eigenen Erfahrung, die ich in den letzten Jahren mit aus meiner Familie Verstorbenen gemacht habe, weiß ich, dass am Lebensende sehr oft Todeswunsch und Lebenswunsch sehr nahe beieinanderliegen, im gleichen Gespräch oft nur zwei, drei Sätze auseinander. Was folgt jetzt daraus? Ich glaube, wenn wir als Parlament etwas regeln wollen, dann sollten wir als Allererstes darauf Wert legen, dass wir ein umfassendes legislatives Schutzkonzept schaffen, zu dem folgende Maßnahmen gehören müssen: ein verlässlicher und flächendeckender Ausbau von Hospiz- und Palliativangeboten mit sowohl medizinisch-pflegerischer als auch psychosozialer und seelsorgerischer Begleitung, der Ausbau von suizidpräventiven Angeboten sowie der Ausbau von Angeboten gegen Einsamkeit und Isolation. Eine frei verantwortliche Entscheidung kann man nur treffen, wenn alle möglichen Alternativen und alle Möglichkeiten, die das Leben bietet, bekannt, offen und auch zugänglich sind. Freier Wille ist nur wirklich frei bei ausreichender und umfassender Information. Ich finde, das zu gewährleisten, ist zuallererst unsere Verpflichtung und Aufgabe als Politiker und Gesetzgeber. ({1}) Ich glaube, wenn wir das schaffen, dann verhindern wir, dass unsere Gesellschaft möglicherweise auf eine schiefe Bahn gerät, weil wir dem Lebensschutz gerade der vulnerablen Gruppen nicht mehr den gebührenden Rang einräumen. Das sollten wir zuvörderst zur Aufgabe der Politik machen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Peter Weiß. – Für die SPD-Fraktion ist die nächste Rednerin die Kollegin Claudia Moll. ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass wir heute diese offene Orientierungsdebatte zur Suizidhilfe führen. Ich selbst bin noch auf der Suche nach der richtigen Lösung. Viele Jahre habe ich als Altenpflegerin und als Fachkraft für Gerontopsychiatrie gearbeitet. Dabei habe ich viele schöne, rührende Situationen, aber auch viele traurige Ereignisse mit den mir anvertrauten Menschen erleben dürfen. Für mich ist und war es immer selbstverständlich, den letzten Weg gemeinsam zu gehen. Dabei habe ich bei schwerstkranken austherapierten Menschen die Angst, die Schmerzen und die Verzweiflung hautnah miterlebt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eröffnet uns eine Möglichkeit zur Suizidhilfe, die nicht nur alten und schwerstkranken Menschen hilft, sondern auch Menschen in jeglichen furchtbaren Krisensituationen sowie Menschen mit schwersten psychischen Erkrankungen Hilfe anbieten kann. Meines Erachtens gibt es dort keine Begrenzung. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns intensiv mit der Suizidprävention auseinandersetzen. Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie glauben nicht, wie oft ich den Satz gehört habe: Ach, wäre ich doch schon tot! – Oft verblasst dieser Wunsch, wenn die Menschen gut umsorgt, begleitet und palliativ gut versorgt werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich dringend appellieren, dass wir uns darum kümmern, diese immer noch bestehenden Defizite in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu beseitigen ({0}) und den weiteren wichtigen Bedarf und Ausbau voranzubringen. ({1}) Denn Hospiz- und Palliativversorgung sind schon in sich ein wichtiger Teil der Suizidprävention. Suizidhilfe muss das bleiben, was sie bislang gewesen ist: eine Ausnahme in Extremsituationen schwersten Leidens. Ich möchte keine Regelung, die die Suizidhilfe zu einer neuen Normalität des Sterbens macht. ({2}) Am meisten haben die Menschen Angst, dass ihr Leben an technischen Geräten hängend endet. Nur: Man muss am Lebensende nicht alles über sich ergehen lassen, und da besteht ein riesiges Informationsdefizit. Therapieabbruch und Therapieverzicht gehören auch zu einer guten Palliativversorgung. Wir werden auch noch darüber nachdenken müssen, wie die Einrichtungen selbst mit diesen Fragen umgehen werden. Ich möchte in keiner Einrichtung arbeiten, wo Suizidhilfe gestattet ist. Ich möchte keine Suizidhilfe leisten. Möchten Sie das? – Ich verurteile keinen Suizid. Glauben Sie mir, auch das habe ich schon ganz oft erlebt, und es ist furchtbar. Ich möchte nicht, dass daraus ein Dienstleistungssystem wird. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Moll. – Der nächste Redner, CDU/CSU-Fraktion, ist der Abgeordnete Erich Irlstorfer. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Suizidforschung zeigt, dass die überwiegende Zahl der Suizidversuche auf psychischer und sozialer Not basieren. Die Versuche sind in den meisten Fällen Verzweiflungsreaktionen auf ein schwerwiegendes Ereignis oder eine soziale Notsituation. Der Wunsch, früher aus dem Leben zu scheiden, ist deshalb ganz oft ein ambivalentes bzw. kurzfristiges Phänomen, das häufig abklingt, wenn man es nicht befeuert. Darf es in einem Land, welches gerade alles dafür tut, um einzelne Menschenleben zu retten, flankierend ein Geschäft mit dem Tod geben? War nicht unser Grundsatz immer, dass wir die Hand zur Hilfe und nicht zur Tötung reichen? Menschen sollten auf ihrem letzten irdischen Weg palliativmedizinisch oder durch die Hospizbewegung begleitet werden, um ihnen Leid, Schmerzen, Angst und solche Dinge zu nehmen und um nicht von Angeboten umschwirrt zu werden, die ihr Leben abkürzen. Durch gesetzliche Regelungen, welche den assistierten Tod erlauben und ermöglichen, wird natürlich auch ein Grundsatz – und erlauben Sie mir diese persönliche Meinung – aus dem christlichen Bereich komplett weggewischt. Kardinal Höffner sagte 1987: Der Mensch stirbt nicht an einer Krankheit oder an einem Leiden, sondern dann, wenn Gott ein Leben vollendet hat. – Wir dürfen gerade in dieser schwierigen Zeit, welche natürlich auch von Schmerz und Entbehrung geprägt ist, den Schwächeren in unserer Gesellschaft nicht einfach die Tür der Lebensabkürzung aufstoßen. Es ist vielmehr ein Zeichen der Achtung, dass wir ihnen sowohl gesellschaftlich als auch medizinisch und persönlich Aufmerksamkeit schenken und Kummer sowie Leiden ernst nehmen. So verstehe ich diese Debatte. Ich danke Ihnen allen für Ihre Eindrücke und für Ihre Meinungen; denn diese sind wichtig und können zur Lösung beitragen. Gerichte entscheiden, ob richtig oder falsch. Gestern bei unserem Vorgespräch – und das hat mich beeindruckt – hat Herr Professor Beine, Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke, gesagt, dass auch andere Maßnahmen, wie zum Beispiel Änderungen beim Bau von Autobahnbrücken oder auch bei der Führung von Eisenbahnlinien, eine Rolle spielen, um die ganzen suizidären Aktivitäten zu beschränken. Vorsorgemaßnahmen, verbesserte Aufklärung sowie gewachsene Sensibilität in der Berichterstattung und auch die Verkleinerung der Medikamentenpackungen spielen hier eine Rolle. Daran wollen wir weiterarbeiten. Uns leitet: Leben stärken, je nach Situation, und Suizidprävention fördern. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich rufe den nächsten Redner auf: Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frage nach dem assistierten Suizid ist die Frage, was das Leben bedeutet. Als Christ sehe ich das Leben als bedingungslos wertvoll an, vom Anfang bis zum Ende. Das Leben ist für mich ein Geschenk Gottes und deshalb für uns Menschen nicht verfügbar. Und: Das Sterben gehört zum Leben dazu. Sterben ist ein wichtiger Abschnitt im Leben, wo man vor dem inneren, geistigen Auge sein Leben noch mal Revue passieren lässt, wo man darüber nachdenkt: „Was war mir wichtig gewesen im Leben?“, wo man darüber nachdenkt: „Was kommt nach dem Tod?“, und wo man vielleicht auch darüber nachdenkt, was Martin Luther sich gefragt hat: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Jetzt gibt es Situationen, in denen ein Mensch sein Leben als wertlos betrachtet und an Selbstmord denkt. Wenn es aber eine Hilfestellung für den Selbstmord gibt, dann betrachtet nicht nur der Betroffene sein Leben in diesem Moment als wertlos, sondern dann tut das eine ganze Gesellschaft. Das Signal, das von dieser Beihilfe ausgeht, ist doch klar: Wir als Gesellschaft, wir brauchen dich nicht, du bist wertlos. Nun spricht das Bundesverfassungsgericht davon, dass der assistierte Suizid nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden dürfe. Ich glaube aber, genau dieser Effekt wird eintreten, wenn man es ermöglicht. Das zeigen ja die Beispiele in den Niederlanden und in der Schweiz. Meine Befürchtung ist, dass der Druck auf alte und kranke Menschen wachsen wird – mit der unausgesprochenen Botschaft: Du hast doch die Möglichkeit zum Sterben. Warum fällst du uns eigentlich noch zur Last? Es gab noch nie so viele Möglichkeiten, Schmerzen wirksam zu behandeln, wie heute. Diese Möglichkeiten sollten wir ausschöpfen; wir sollten Sterbenden zur Seite stehen. Wir brauchen keine Hilfe zum Sterben, sondern wir brauchen eine Hilfe beim Sterben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mein Vater war an seinem Lebensende schwer pflegebedürftig und wurde zu Hause von meiner Mutter gern, aufopferungsvoll und liebevoll gepflegt, wie das viele Tausende pflegende Angehörige auch heute tun. Bei mir hat sich ein Satz eingebrannt von einem Arzt, der zum Hausbesuch gewesen ist. Er hat meinen Vater gefragt: Sehen Sie nicht, was Sie Ihrer Frau antun? – Mein Vater konnte sich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr bewegen, und er konnte auch schon lange nicht mehr sprechen. Ich möchte nicht, dass ein alter oder kranker Mensch bei uns im Land diese Frage gestellt bekommt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Alexander Krauß. – Der Nächste: Professor Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag zeigt doch in einer gewissen Dramatik die Konfliktsituation zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz auf der einen Seite und Freiheitsrechten auf der anderen Seite. Heute Morgen haben wir bei der Diskussion um die Reform des Infektionsschutzrechts vor genau derselben Frage gestanden: Leben und Gesundheit zu schützen und abzuwägen gegen Freiheit. Jetzt führen wir dieselbe Diskussion über das Ende des Lebens mit Blick auf die Entscheidungsmacht, die Entscheidungsfreiheit, die Rechte des Einzelnen. Für mich ist dabei die Priorisierung immer klar gewesen: Ohne Lebens- und Gesundheitsschutz gibt es keine Basis für die Freiheit. ({0}) Dieser Entscheidungslage ist der Deutsche Bundestag in einem mit großer Mehrheit verabschiedeten Gesetz gefolgt; fast zwei Drittel der Abgeordneten haben dem Gesetz zugestimmt. Wir haben die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat ebenso deutlich, nämlich einstimmig, dieses Gesetz aufgehoben und sogar noch weitergehend uns einen Regelungsauftrag für die Schaffung des Rahmens für das Recht auf selbstbestimmten Freitod gegeben. Das Urteil hat durchaus zu Irritationen geführt; denn es gab kaum ein Gesetz, das so intensiv vorbereitet, erörtert und am Ende abgewogen wurde, wie das vom Bundesverfassungsgericht am Ende einstimmig aufgehobene Gesetz, über dessen „Neufassung“ wir jetzt hier beraten müssen. Ich tue mich schwer, diesem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu folgen, eine Regelung für das Sterben zu finden. Ich tue mich schwer, als Demokrat hier in der Legislative einem Auftrag der Judikative folgen zu müssen. Und ich tue mich schwer vor meinem Gewissen, diesem Auftrag Folge leisten zu müssen. Denn wenn man das weiterdenkt, öffnet sich der Raum für Fragen über Fragen, vor allen Dingen zur Abwägung, zur Aufgabe der Lösung unzähliger Diskriminierungen, zur Notwendigkeit, unterschiedliche Lebenssituationen zu würdigen: Wie ist das mit dem jungen Menschen, der wegen seines Liebeskummers sterben will? Und wie ist es mit dem alten Menschen, der irreversibel krank ist? – Das sind Entscheidungen, die ich vor meinem Gewissen so nicht einfach verantworten kann. Deshalb halte ich den Ansatz für richtig, den Ansgar Heveling vorgetragen hat, mit einer strafrechtlichen Regelung weiterzumachen, sicher abgeschwächt, aber vielleicht beschränkt auf die Werbung. Denn eines ist klar: Die Selbstbestimmung, die das Bundesverfassungsgericht betont hat, adressiert eine irreversible Entscheidung, und die Beurteilung erfolgt nicht durch den, der wirklich die Entscheidung trifft, sondern durch Dritte, und das ist die eigentliche Schwierigkeit. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich rufe den Kollegen Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion, auf. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht als Auslöser der heutigen Debatte hat § 217 StGB für nichtig erklärt, weil er das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck der persönlichen Autonomie und die Möglichkeiten, dafür bei Dritten Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen, zu sehr einschränke. Es gilt gegenwärtig der Rechtszustand, der zum Kern der Juristenausbildung gehört: Beihilfe zum Selbstmord ist nicht strafbar, Tötung auf Verlangen aber sehr wohl. Dennoch können wir uns damit nicht zufriedengeben. Wir spüren alle das Bedürfnis nach ergänzenden Regelungen. Allen Initiativen, die heute vorliegen, zolle ich wirklich größten Respekt. Sie sind geprägt von einem verantwortungsvollen Ringen um eine gute Lösung, beweisen Gestaltungswillen und haben juristische Qualität. Ich will ein paar allgemeine Gedanken in die Diskussion einbringen, die mich ganz persönlich bewegen, die mir aber auch viele Menschen, mit denen ich in Gesprächen war oder mich in Diskussionen befand, mitgeteilt haben und von denen ich mir wünschen würde, sie würden bei der weiteren Debatte Berücksichtigung finden. Auffallend ist bei einzelnen Initiativen, dass sich anscheinend die Überzeugung durchgesetzt hat, der Staat müsse Strukturen schaffen oder zumindest unterstützen, die es dem Selbsttötungswilligen ermöglichen, seinen Willen in die Tat umzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nur untersagt, die Umsetzung des autonom gefassten Willens zur Selbsttötung zu unterbinden. Eine Verpflichtung, ein Verfahren zu entwickeln, das diese Möglichkeit bis ins kleinste Detail regelt, das diesen innersten Prozess eines Menschen auf normenbasierten Regeln weiter ausgestaltet, hat es nicht explizit ausgesprochen. Hier scheint mir doch Zurückhaltung angesagt. Zu den höchsten Aufgaben eines Staates gehört es, das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen; das geht hinein bis in den pränatalen Bereich, wo wir Verfahren haben, in denen das staatliche Wächteramt, wie beim Schwangerschaftsabbruch beispielsweise, greift. Kritisch sehe ich daher, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung die Menschenwürde mit der persönlichen Autonomie des Individuums auf eine Stufe gestellt hat und dabei den Menschen als sozial verfasstes Wesen aus meiner Sicht etwas aus dem Blick verloren hat. Hier sollte der Horizont des Gesetzgebers, also der unsrige, etwas weiter gehen. ({0}) Für mich verträgt sich das nicht mit dem biblischen Grundsatz – dem Inbegriff menschlicher Solidarität – „Einer trage des andern Last“. Die Initiativen beziehen auch die Berufsgruppe der Ärzte mit ein, die sich bislang eher zurückhaltend zur assistierten Suizidhilfe geäußert haben; ihre Aufgabe ist es, Kranke zu heilen und deren Leiden zu lindern. Hier sehe ich auch noch Diskussionsbedarf mit dieser Berufsgruppe. Ich möchte noch einmal zurückkommen auf den einleitenden Satz unseres Grundgesetzes. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sind die einleitenden Worte des Grundgesetzes. Nach meinem christlichen Verständnis ist Leben ein Geschenk Gottes, das man weder ablehnen noch zurückgeben kann. Sterben ist ein Teil des Lebens; daher muss es klare Restriktionen geben. Ich wünsche uns weiterhin eine von solch hohem Respekt geprägte Debatte, wie ich sie heute erleben durfte. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Axel Müller. – Der nächste Redner: der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Deutsche Bundestag vor sechs Jahren das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung beschlossen hat, habe ich die damaligen intensiven Debatten – damals noch als Jurastudent, aber mit großer Begeisterung – verfolgt. Ich empfand es als Sternstunde des Parlaments: intensiv, ernsthaft, sensibel, abgewogen und am Ende ausgewogen. Umso entrüsteter war ich dann aber, als ich mich intensiver mit der aufhebenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem zurückliegenden Jahr auseinandergesetzt habe. Ich empfand und ich empfinde es als übergriffig, dass Karlsruhe uns als Gesetzgeber so stark beschnitten hat, dass selbst der damals weitgehendste Entwurf zu einer Liberalisierung wahrscheinlich verfassungswidrig gewesen wäre. Während der Gesetzgeber der letzten Legislaturperiode, während viele Kollegen, die sich auch heute in der Debatte geäußert haben, die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen aus, wie ich finde, nachvollziehbaren Gründen eher in der Dimension der Autonomiegefährdung gesehen haben, hat das Bundesverfassungsgericht dieses Bild in das Gegenteil verkehrt und Sterbehilfevereine quasi zu Autonomiewahrern erhöht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Metamorphose, diese Umkehr des Willens des Gesetzgebers und dieses Autonomieverständnis gehen mir zu weit. ({0}) Das Bundesverfassungsgericht ist der Letztinterpret, aber eben nicht der Alleininterpret unserer Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Wächterfunktion, aber nicht die primäre Gestaltungsfunktion – die haben wir als Parlament. Deswegen möchte ich zum Ende dieser Orientierungsdebatte dafür plädieren, dass wir mehr als eine Schreibstube des Bundesverfassungsgerichts in diesem Verfahren sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum – das haben viele Vorredner gesagt –, dass wir in der Frage der Maßstäbe deutlich machen, dass das Grundgesetz für uns nicht eine Verfassung des Sterbens, sondern zuallererst eine Verfassung für das Leben ist. Das Grundgesetz verlangt, dass der Staat sich schützend für das Leben einsetzt, und das Grundgesetz sieht Menschenwürde und Schutz des Lebens als unteilbar. Dabei ist klar – und das muss uns leiten –, dass die Menschenwürde immer auch Grund und Grenze der Selbstbestimmung ist. Die Menschenwürde kulminiert am Ende eben nicht in Selbstbestimmung, sondern jedes Verständnis von Selbstbestimmung, über das wir reden müssen, muss sich aus der Menschenwürde ableiten können, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist eine Entscheidung zur Suizidprävention, eine Entscheidung zur Beschränkung der Suizidhilfe kein Widerspruch zur Selbstbestimmung, sondern ein Beitrag zum Schutz der Menschenwürde, und dafür müssen wir werben. Vier klare Punkte: Ich warne vor einem Suizidunterstützungsgesetz und werbe vielmehr für ein Menschenwürdeschutzgesetz. Wir brauchen ein klares Schutzkonzept. Wir sollten eine Regelung im Strafrecht treffen, und wir müssen für eine Wahrung der kirchlichen Autonomie und für einen Tendenzschutz der Religionsgemeinschaften werben. Tun wir das selbstbewusst in einem klaren und auch definierenden Verfassungsverständnis von Selbstbestimmung und Menschenwürde! Herzlichen Dank. ({1})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetz zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes, das ist ein ziemlich unspektakulärer Titel, aber durchaus ein brisantes Thema. Es geht um Grundstücksgeschäfte via Share Deals. Es gibt nämlich eine ziemlich große Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft: Während Käuferinnen und Käufer kleiner Einfamilienhäuser Grunderwerbsteuer von bis zu 6,5 Prozent des Kaufpreises zahlen müssen, entziehen sich finanzstarke Konzerne auf dem Immobilienmarkt selbst beim Erwerb ganzer Straßenblöcke vollständig der Besteuerung. Der Trick geht im Grunde genommen so: Anders als bei Privatleuten werden eben nicht das Grundstück oder die Immobilie selbst verkauft, sondern Anteile an einer Gesellschaft, die das Grundstück oder die Immobilie hält. Solange innerhalb von fünf Jahren weniger als 95 Prozent der Anteile auf neue Anteilseigner übergehen, wird keine Grunderwerbsteuer fällig; der Fiskus geht leer aus. Es gibt gewaltige Steuermindereinnahmen für die Bundesländer. Das ändern wir jetzt mit diesem Gesetz. Wir haben es im Koalitionsvertrag vereinbart, und auf der Zielgeraden liefern wir, zugegebenermaßen nicht so umfangreich, wie wir Sozialdemokraten es wollten – dazu war unser Koalitionspartner nicht bereit –; aber am Ende haben wir einen Kompromiss geschlossen. ({0}) Künftig wird die Steuer bereits fällig, wenn mindestens 90 Prozent der Anteile einer grundstücksbesitzenden Gesellschaft innerhalb von zehn Jahren die Eigentümer wechseln. Außerdem werden künftig auch Änderungen der Beteiligungsverhältnisse an grundbesitzenden Kapitalgesellschaften erfasst. Wie bei Personengesellschaften gelten künftig eine Beteiligungsgrenze von 90 Prozent und eine Zehnjahresfrist. Wir haben dafür gesorgt, dass der Verkauf von Anleihen an Kapitalgesellschaften über die Börse grundsätzlich keine Grunderwerbsteuer auslöst. Das ist unseres Erachtens auch sachgerecht; denn beim Börsenhandel geht es nicht vorrangig um die Einsparung von Grunderwerbsteuer, sondern um die Stärkung der Ertragskraft von Kapitalgesellschaften; deshalb ist das so geregelt. Ich weiß, die Opposition hält diese Börsenklausel für unzureichend, einerseits weil deswegen Share Deals nicht hinreichend erfasst werden, andererseits weil sie unter Umständen zu weit geht. Verbände und Unternehmen fordern noch kurz vor der Verabschiedung Änderungen, weil – ich zitiere – „der Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag nun doch sehr plötzlich und sehr schnell“ beraten wird, wie mir gestern noch um 19.30 Uhr von interessierten Verbänden geschrieben worden ist. Share Deals haben eigentlich schon die letzte Große Koalition beschäftigt. Der damalige Bundesfinanzminister hat nicht geliefert. Erst Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, auf den sich zuvor die Länder verständigt haben. Er ist ein richtiger Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit. Nun stellt sich immer die Frage: Gibt es Alternativen? Gibt es bessere Lösungsvorschläge? Ja, es gibt immer Alternativen. Allerdings sind die Oppositionsanträge, die einen Systemwechsel fordern, nicht nur von uns, sondern auch von der Länderarbeitsgruppe diskutiert und verworfen worden – wohlgemerkt auch von den Ländern, in denen diejenigen, die hier in der Opposition sind, mitregieren. Es gab weder aus Baden-Württemberg noch aus Nordrhein-Westfalen irgendwelche eigenen Initiativen. ({1}) Wir Sozialdemokraten wollen die Steuervermeidung mittels Share Deals beenden. Die weitere Absenkung der Beteiligungsschwelle auf 75 Prozent wäre eine leicht realisierbare, verfassungsrechtlich stabile Option – gutachterlich belegt und verfassungsrechtlich sauber. So wollten wir es. ({2}) Julia Klöckner hat das verstanden und hat es auch unterstützt. Was sie aber falsch eingeschätzt hat, war die fehlende Unterstützung. Die hatte sie fälschlicherweise bei Olaf Scholz vermutet; aber der wäre durchaus ihrer Auffassung gewesen. Das war nur leider mit ihrer eigenen Fraktion nicht zu machen. Schade eigentlich. ({3}) Für uns ist dieses Gesetz dennoch eine wichtige Etappe. Wir stimmen dem Gesetzentwurf deshalb auch zu. Aber ich vermute, das Thema wird uns weiter beschäftigen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion ist der nächste Redner der Abgeordnete Udo Hemmelgarn. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Die Share Deals im Immobilienbereich sind eine offensichtliche Ungerechtigkeit im System der Grunderwerbsteuer. Während jeder Häuslebauer die Grunderwerbsteuer zu entrichten hat, die in einigen Bundesländern bis zu 6,5 Prozent des Kaufpreises beträgt, entziehen sich große institutionelle Investoren dieser Steuerpflicht durch einen Anteilskauf, dem sogenannten Share Deal. Das Thema Share Deals wurde bereits vor circa anderthalb Jahren hier im Plenum behandelt. Heute stehen wir wieder hier und debattieren über genau denselben Gesetzentwurf; die Bundesregierung hat ihn damals genau so vorgelegt. Nach wie vor bleibt es dabei, dass die Beteiligungsgrenze von 95 auf 90 Prozent abgesenkt wird – nicht sonderlich viel. Die Haltefrist wird von fünf Jahren auf zehn Jahre verlängert. In der seinerzeitigen Anhörung zu diesem Gesetzentwurf waren die Ansichten der Sachverständigen sehr deutlich: Die Attraktivität der Share Deals sinkt. Gelöst wird das grundsätzliche Problem nicht. Lediglich die Kaufpreisgrenze für Share Deals wird nach oben verschoben. – Wir sind also seit anderthalb Jahren keinen Schritt weiter. So sieht verantwortliches Handeln der Bundesregierung aus. Das ist also der große Wurf in der Gesetzgebung. ({0}) – Ja, gucken Sie es sich an. Werte Damen und Herren, das Bedenkliche an der ganzen Sache ist die offensichtliche Reformunfähigkeit der gegenwärtigen Bundesregierung. Obwohl völlig klar ist, dass der vorgelegte Gesetzentwurf das Problem nicht löst, sondern nur verschiebt, ist man nicht in der Lage, sich von der erkennbar untauglichen Methode zu lösen und das bestehende System neu aufzusetzen. Man kann es auch ganz einfach sagen: Man schleift einen toten Hund, weil man einfach nichts Besseres kann bzw. einem nichts Besseres einfällt. ({1}) Wir haben zum Thema Share Deals einen Antrag vorgelegt, der ein quotales System fordert und das Problem damit endgültig löst. Folgende Schritte sind dafür erforderlich: Erstens: Begrenzung der Grunderwerbsteuer auf 3,5 Prozent. Das Problem der Share Deals entsteht nicht zuletzt dadurch, dass die Grunderwerbsteuer seit 2006 in den meisten Bundesländern deutlich angestiegen ist. ({2}) – Warten Sie doch ab! – Waren es 2005 noch bundesweit 3,5 Prozent, die zu entrichten waren, sind es jetzt in einigen Ländern schon 6,5 Prozent. ({3}) Natürlich fördert das die Neigung der Investoren zu Umgehungsgeschäften. Wir haben deshalb hier und an anderer Stelle immer wieder die Absenkung der Grunderwerbsteuer auf 3,5 Prozent gefordert. Das würde nicht nur das Problem der Share Deals entschärfen, es würde daneben auch den Erwerb von Wohneigentum durch die Bürger unseres Landes fördern, und das wäre gut so. Alles Vernünftige, was dazu beiträgt, die Wohneigentumsquote in Deutschland zu erhöhen, wird von uns unterstützt. Die Grunderwerbsteuer muss deshalb auf dem Wege einer Verfassungsänderung auf maximal 3,5 Prozent gedeckelt werden. ({4}) Zweitens: Änderung des Länderfinanzausgleichs. Die Fehleranreize des Länderfinanzausgleichs, nach denen eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer für das betreffende Land mit noch mehr Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich belohnt wird, sind abzuschaffen. ({5}) Es ist offensichtlich, dass das keinen Sinn macht. Hier fördert man ein Rennen um den höchsten Steuersatz bei der Grunderwerbsteuer. Drittens: Richten des Fokus auf den Kern des Geschäfts. Natürlich ist es richtig, dass der Erwerb eines Immobilienunternehmens der Grunderwerbsteuer unterliegen muss, wenn es wirtschaftlich um den Erwerb eines Grundstücks geht. Genauso muss aber auch sichergestellt werden, dass nicht jeder Gewerbebetrieb, der ein untergeordnetes Betriebsgrundstück hat, mit der Grunderwerbsteuer belegt wird, wenn der Betrieb übertragen wird. ({6}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind uns leider recht sicher, dass Sie unseren Vorschlägen nicht zustimmen werden. Es bleibt uns der Trost, dass mangelnde Reformfähigkeit und die Unfähigkeit, Probleme der Bürgerinnen und Bürger zu lösen, ein passendes Bild der letzten Regierung Merkel abgeben. Ich bedanke mich. ({7}) – Lesen Sie sich unseren Antrag doch einfach durch. Das scheinen Sie nicht getan zu haben. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste ist der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja 2019, bei den Beratungen zum damaligen Jahressteuergesetz, ganz bewusst das Thema „Neuregelung bei der Grunderwerbsteuer“ abgetrennt, weil wir schon damals gesehen haben, wie komplex dieses Thema ist, und wir haben das richtig eingeschätzt. Dieser Komplexität ist es auch geschuldet, dass wir jetzt doch anderthalb Jahre hier im Deutschen Bundestag darüber beraten haben. Da ist die Zeit, in der die Länder sich schon zuvor den Kopf darüber zerbrochen haben, noch gar nicht mitberücksichtigt. Was wir jetzt haben – das hat der Kollege Daldrup ja richtig gesagt –, ist ein Kompromiss. Es ist ein guter Kompromiss – er hat Stärken, und er hat Schwächen –, aber es ist eben ein Kompromiss. Bei diesem Kompromiss haben wir uns an dem im Koalitionsvertrag verabredeten Ziel orientiert, Missbrauch bei den sogenannten Share Deals zu verhindern. Die entscheidende Frage ist – und sie war die ganze Zeit in der Diskussion –: Ab wann ist denn der Erwerb von Grund und Boden mittels eines Share Deals ein Missbrauch? Wann ist die Grenze überschritten? Wann ist noch von einer zulässigen Gestaltung auszugehen, und ab wann muss man von einer Grenzüberschreitung bis hin zu einem Missbrauch ausgehen? Das konnte – und das ist die Wahrheit – bei der ganzen Debatte, bei den ganzen Diskussionen bis heute keiner der Sachverständigen und auch sonst niemand beantworten. ({0}) Im Gesetzgebungsverfahren haben wir uns dann an dem Entwurf orientiert, den uns die Länder vorgegeben haben; auch das war schon ein Kompromiss. Allen, die immer wieder abweichende Vorschläge gebracht haben, muss ich sagen: Wir operieren hier nicht im luftleeren Raum, sondern wir haben ein zustimmungspflichtiges Gesetz, und wir alle kennen die langen Diskussionen der 16 Bundesländer, die erst zu diesem Kompromiss geführt haben. Deswegen ist das, was wir jetzt vorliegen haben, ein großer Schritt zur Missbrauchsverhinderung, und wichtig ist auch, dass wir hier Kapital- und Personengesellschaften gleichgestellt haben. ({1}) Durch unsere Maßnahmen erreichen wir, dass ein Immobilieninvestor, wenn er heute beispielsweise ein großes Kaufhaus erwirbt, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zur Finanzierung des Staatswesens genauso beitragen muss wie der kleine Bürger, wie die Familie, die ein Eigenheim erwirbt. Nun hätten wir uns gewünscht, dass unser Koalitionspartner gerade in diesem Bereich, bei diesem Vergleich der beiden Fälle – nämlich Familie und Großkonzern – auch mitgemacht hätte bei einem Freibetrag für den Ersterwerb der selbstgenutzten Wohnimmobilie. Wir wissen, dass der Traum vom Eigenheim bei jungen Familien oft daran scheitert, dass nicht genug Eigenkapital da ist. Und hierbei spielen die Erwerbsnebenkosten natürlich immer eine große Rolle, und bei den Erwerbsnebenkosten ist die Grunderwerbsteuer der größte Brocken und das größte Hindernis. Deswegen an dieser Stelle noch mal der Appell an die Bundesländer: Unterstützen Sie den Ersterwerb eines Familienheims mit einem Freibetrag, mit einer Senkung oder mit dem Erlass der Grunderwerbsteuer! ({2}) Das wäre, glaube ich, ein richtiger Ansatz. ({3}) Die befürchteten Steuerausfälle sind sicherlich mit den Mehreinnahmen, die die hier jetzt vorgesehene Regelung bringen wird, zu kompensieren. Die Länder sind am Zug. Sie haben für diese Steuer die Verwaltungskompetenz und die Ertragskompetenz gemäß Grundgesetz. Und die Länder waren es ja auch, die uns in diesem ganzen Verfahren ein Korsett angelegt haben, in dem wir nur mit minimalinvasiven Eingriffen arbeiten konnten, weil bei allen größeren Würfen, bei allen finanz- und vor allem verfassungsrechtlich sauberen Regelungen wie zum Beispiel einer quotalen Erhebung der Grunderwerbsteuer die Länder von vornherein blockiert und den Mehraufwand in der Administration des Gesetzes befürchtet haben. ({4}) Von Länderseite dann immer wieder anzumahnen, der Bundestag möge doch das Verfahren beschleunigen, gleichzeitig aber den großen Wurf zu verhindern, das ist Handeln nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. – So kommen wir natürlich auch nicht voran. Mein Fazit nach diesen langen und intensiven Beratungen: Ich glaube, das gesamte Grunderwerbsteuerrecht muss mittelfristig komplett auf neue Füße gestellt werden; denn so, wie wir es jetzt haben, ist es einfach nicht mehr reformfähig. Deswegen erwarten wir auch in der nächsten Legislaturperiode zügig Vorschläge der Bundesländer, die hier zuständig sind, wie wir diese wichtige Einnahmequelle für die Bundesländer zukunfts- und missbrauchssicher gestalten können. Für heute ist es ein guter Kompromiss, dem man ohne Weiteres zustimmen kann. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut – wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass diese Volksweisheit wahrlich nicht immer stimmt, dann liegt er hier mit diesem Gesetzentwurf vor. Es ist fast schon abenteuerlich fantasielos, was uns hier nach so langer Beratungszeit vorgelegt wird. ({0}) Ich will noch einmal daran erinnern: Ziel der Aufgabenstellung war, Steuerumgehung bei sogenannten Share Deals zu bekämpfen, nicht etwa Anteilserwerbe oder ‑verkäufe an sich zu erschweren. Seit Jahren häufen sich – und das ist auch bei uns völlig unbestritten – leider solche Fälle von Übertragungen, die den Share Deal vor allem nutzen, um eine Regelung im Grunderwerbsteuergesetz auszunutzen, die viele Jahre zuvor überhaupt kein Problem darstellte. Seitdem aber die Bundesländer ihre Freiheit nutzen und bei den Steuersätzen – ich will mal sagen – wahre Steuererhöhungsorgien in Gang gesetzt haben, spielt die Grunderwerbsteuer bei der Übertragung von Grundvermögen eine leider immer größer werdende Rolle – und deshalb auch der Versuch der Vermeidung der Grunderwerbsteuer. In der Problemanalyse, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir uns da, glaube ich, weitgehend einig. Es ist niemandem zu vermitteln, dass bei dem Erwerb eines Einfamilienhauses bei einer Familie bis zu 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer anfällt, während eine Gesellschaft, die nahezu ausschließlich Immobilienvermögen überträgt, keine Grunderwerbsteuer zahlen muss. Und jetzt dieses Gesetz, das die Beteiligungsquote ein bisschen anpasst und auch die Haltedauer ein wenig anpasst! ({1}) Sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf ein sachgerechter Lösungsansatz ist? Ich habe Ihren Wortbeiträgen von gerade entnommen: Nein, Sie sind es selber nicht. ({2}) Heute Morgen im Finanzausschuss hat der Kollege Güntzler – er ist, glaube ich, gar nicht da – mit Stolz darüber berichtet, mit welcher Akribie und Detailverliebtheit die Koalition Steuergesetze macht. Dieses Gesetz jedenfalls kann er dabei nicht gemeint haben; denn das geht tatsächlich in die Hose. ({3}) Wir machen Ihnen deshalb einen Lösungsvorschlag, der etwas mehr in die Tiefe geht. Dieser Vorschlag sieht unter anderem eine zweifache 50-Prozent-Prüfung vor: Grundsätzlich sollte die Steuerpflicht beim Erwerb von Gesellschaftsanteilen nur entstehen, wenn eine Gesellschaft erworben wird, deren Vermögen zu mindestens 50 Prozent auch aus dem Eigentum an Grundstücken besteht. Und zweitens sollte Grunderwerbsteuer dann anfallen, sobald der Erwerber mindestens eine Beteiligung von 50 Prozent plus 1 Gesellschaftsanteil erwirbt, damit eine gewisse Beherrscherstellung auch tatsächlich geändert wird. Schließlich, und das ist sehr wichtig, darf dann die Grunderwerbsteuer nur anteilig in der Höhe erhoben werden, wie der Käufer Anteile an der Firma erwirbt, der die Immobilie gehört. Spätere Aufstockungen müssen dann natürlich berücksichtigt werden. ({4}) Das von Ihnen vorgelegte Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir deshalb leider ablehnen. ({5}) Denn das wichtigste Ziel dieser Neuregelung, nämlich die Bekämpfung des Gestaltungsmissbrauchs im Zusammenhang mit Share Deals, wird hier nicht erreicht. Es ist ein typischer Kompromiss, in dem Falle einer, –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, die Redezeit ist zu Ende.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– bei dem am Ende niemand zufrieden ist. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Abgeordnete Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die CDU bleibt treuer Partner der Spekulanten“, ({0}) titelte der „Tagesspiegel“ Ende März. Und offensichtlich weiß das auch die Immobilienbranche. Einen Spitzenwert von 1,25 Millionen Euro an Großspenden über 50 000 Euro hat die CDU im vergangenen Jahr allein von Immobilienunternehmen erhalten. Und sie liefert. ({1}) Die seit Jahren überfällige Schließung des Steuerschlupflochs Share Deals wird auch mit diesem Gesetzentwurf nicht erreicht, ja nicht einmal ernsthaft versucht. Ein schwer erträglicher Skandal. ({2}) Worum geht es? Wer ein Haus oder eine Eigentumswohnung kauft, zahlt dafür Grunderwerbsteuer. Bei einem Haus im Wert von 200 000 Euro macht das in meinem Bundesland Hessen – und in vielen anderen Bundesländern auch – 12 000 Euro. Kaufen große Wohnungsgesellschaften oder Investoren allerdings eine ganze Wohnsiedlung im Wert von Hunderten Millionen, zahlen sie dafür meist gar keine Steuern. Der Trick – darüber wurde schon gesprochen –: Man kauft nicht einzelne Immobilien, sondern Unternehmen, denen Immobilien gehören. Und nur, wenn man mehr als 95 Prozent eines immobilienbesitzenden Unternehmens erwirbt, muss man überhaupt Grunderwerbsteuer zahlen, dann auf den gesamten Kaufwert. Deshalb kaufen Investoren bei großen Immobiliendeals erst mal „nur“ 94,9 Prozent einer Immobilienfirma, suchen sich für die restlichen 5,1 Prozent einen Pro-forma-Partner und teilen sich dann die ergaunerte Steuerersparnis. Unerträglich und sozial ungerecht. ({3}) Und was will die Koalition nun dagegen tun? Das ist jetzt nicht weniger als Realsatire. Sie will diese Schwelle von 95 auf 90 Prozent absenken. Das ist ungefähr so wirksam, wie wenn man nach einem Gasunfall oder bei einem Großbrand den Anwohnern empfiehlt, jedes zweite Fenster zu schließen. In der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf haben praktisch alle Sachverständigen diese Regelung als weitgehend wirkungslos abgelehnt. Sie ist kinderleicht zu umgehen und beseitigt nicht einmal die Spitze des Eisbergs. ({4}) – Ja, hilft ja nichts. Deshalb haben die auch nicht recht. – Notwendig ist ein grundlegend anderer Ansatz; auch das ist schon angesprochen worden. Zukünftig sollte die Grunderwerbsteuer nicht ab einer bestimmten Beteiligungsschwelle und dann auf den Gesamtpreis, sondern eben anteilig oder quotal fällig werden. ({5}) Wer 60 Prozent Anteile an einem Immobilienpaket erwirbt, zahlt für die 60 Prozent eben quotal Steuern. ({6}) Zusätzlich bedarf es der Einführung eines zentralen Immobilien- und Transparenzregisters, aus dem dann auch die tatsächlichen Eigentümer klar hervorgehen. Das wäre ein wesentlicher Beitrag auch zur Eindämmung von Geldwäsche. Vielleicht gelingt es ja in der nächsten Wahlperiode – ohne den treuen Partner der Spekulanten –, dieses Problem zu lösen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich rufe auf den Abgeordneten Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor über zwei Jahren war ich mit anderen Kolleginnen und Kollegen eingeladen zu einer Veranstaltung hier in Berlin-Mitte in einem schicken Hotel, und zwar von einer Consulting-Agentur zu einer Tagung. Normalerweise nehme ich solche Einladungen nicht an; aber diese fand ich ganz interessant, weil der Titel sehr vielversprechend war. Er lautete nämlich: „Share Deals ade?“ Diese Veranstaltung war eine, die eigentlich auf Steuerberater abzielte. Warum wir in dem Verteiler waren, ist, glaube ich, nie ganz klar geworden. Die Steuerberater jedoch, die bei dieser Veranstaltung waren, sprachen über einen Gesetzentwurf. Dieser Gesetzentwurf hatte im Kern die Regelung, dass die Grenze für Share Deals von 95 auf 90 Prozent abgesenkt wird. Bei dieser ganzen Tagung ging es nur darum, wie man nun diesen neuen Gesetzentwurf wieder kreativ umgehen kann, um weiterhin keine Grunderwerbsteuer zu zahlen. ({0}) Ihr Gesetzentwurf ist deswegen Makulatur, weil die Finanzindustrie sich schon seit zwei Jahren darauf eingestellt hat. Er wird in der Praxis nichts ändern. Sie sind zu langsam, und Sie sind nicht konsequent genug. ({1}) Sie schließen das steuerpolitische und wohnungspolitische Schlupfloch mit diesem Gesetzentwurf nicht. Wenn man sich anschaut, was ein Einfamilienhaus in Baden-Württemberg heute kostet, und wenn man sich dann anschaut, dass man dafür Grunderwerbsteuer zahlen muss, ({2}) und wenn man sich dann anschaut, dass ein Paket von Wohnimmobilien anschließend getauscht wird und dabei kein Cent Grunderwerbsteuer anfällt, dann ist das eine schreiende soziale und steuerpolitische Ungerechtigkeit, ({3}) und die heben Sie heute nicht auf. Und das wird von einer Partei verhindert, Herr Gutting, die sich eigentlich für die Eigentümer/-innen in diesem Land einsetzt. Wenn Sie nun sagen, dass Sie hier in den Verhandlungen mit der SPD die Grunderwerbsteuerfreiheit eingebracht hätten, sage ich: Ich habe das zwischen den Reihen in den letzten Wochen und Monaten von den Kolleginnen und Kollegen der SPD nicht gehört, ({4}) und ich glaube, dass Sie hier ein Märchen erzählen. Ich glaube, dass Sie eigentlich mit diesem Gesetzentwurf ganz zufrieden sind, weil er an der Realität nichts ändert, und das auch Ihre wahren Interessen sind. ({5}) Auch ich hätte mir da von den Ländern mehr erhofft – das sage ich ganz klar –, auch von den Ländern, in denen wir Grünen regieren. Ich glaube, deswegen müssen wir, die Interesse daran haben, dieses Schlupfloch wirklich zu schließen, gemeinsam in den nächsten Jahren weiter mit unseren Ländern sprechen, aber auch weiter hier untereinander sprechen. Sie brechen letztlich das Versprechen im Koalitionsvertrag, die Share Deals zu beenden. Das haben Sie da ganz klar hineingeschrieben. ({6}) Sie brechen dieses Versprechen. ({7}) Die Steuerumgehungsmöglichkeit bleibt weiter bestehen, und das ist letztlich ein Skandal. ({8}) Sie hebeln damit weiter kommunale Vorkaufsrechte aus. Sie sorgen dafür, dass die Länder 1 Milliarde Euro weniger Steuereinnahmen haben. Das ist genau die Summe, die wir in diesem Land an Bundesmitteln für den sozialen Wohnungsbau ausgeben. Damit hätten wir wohnungspolitisch viele Neubauten im sozialen Wohnungsbau auf den Weg bringen können. Ich sage Ihnen: Wären Sie auf das eingegangen, was wir vorgeschlagen haben, eine Absenkung auf 50 Prozent, dann wären City Grabbing und Land Grabbing in Deutschland endlich beendet worden. Danke schön. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat als Nächste das Wort die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute das Share-Deal-Gesetz beschließen können. ({0}) Wir haben monatelang mit der Union um das Gesetz gerungen. Eigentlich hätten wir es schon vor mehr als einem Jahr beschließen können. ({1}) Wir als SPD waren dafür bereit; doch bei der Union haben wir auf Granit gebissen. Ehrlich gesagt, ich habe nicht mehr geglaubt, dass diese Reform noch kommt. Unsere Hartnäckigkeit hat aber den Widerstand aus den Reihen der Union zerbröseln lassen. ({2}) Mit aller Kraft wollte die Union der Lobby leider treu bleiben. Und auf dem Umfragehoch fühlten sich die Kolleginnen und Kollegen der Union scheinbar unantastbar. Dann kam aber der jähe Absturz. Wir mussten lernen, dass wir kein Problem mit Dealern im Görli haben, sondern hier im Bundestag. Zu viele Maskendealer in den Unionsreihen! Ein Unding, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({3}) Doch es hatte auch gute Folgen. Nicht nur, dass wir jetzt eine Minute länger heute hier reden können. Die Union konnte auch ihren Widerstand immer schlechter rechtfertigen. Endlich ist der Einsatz für Immobilienhaie auch in der Union anrüchig. So konnte es endlich im Kampf gegen die Steuertrickserei weitergehen. Der heutige Gesetzentwurf geht auf eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zurück. Norbert Walter-Borjans hat sie seinerzeit mit eingerichtet. Sie sollte steuervermeidenden Share Deals ein Ende setzen. Nach drei Jahren kommt das Gesetz. Endlich, liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie können sich natürlich hierhinstellen und ein Modell X oder ein Modell Y fordern. Aber ich will hier noch einmal daran erinnern, dass alle Bundesländer, alle Parteien – also in Baden-Württemberg die Grünen, in Thüringen die Linken – diesem Vorschlag im Bundesrat zugestimmt haben. ({4}) Würden wir das hier nicht umsetzen, dann hätten wir noch in fünf Jahren kein Gesetz, das steuervermeidende Share Deals erschweren würde. ({5}) Sie wissen genauso wie wir: Die Länder müssen zustimmen; es ist ein zustimmungspflichtiges Gesetz. Sie sind es letztendlich auch, die auf die Grunderwerbsteuer angewiesen sind. Und die Länder haben den Weg vorgeschlagen, den wir jetzt auch gehen. Deswegen ist es gut, dass wir diese Reform auf den Weg bringen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als SPD wollten wir auch noch weiter gehen; deshalb hat es auch so lange gedauert. Statt die Schwelle auf 90 Prozent abzusenken, haben wir für 75 Prozent plädiert. Aber die Union verließ der Mut, und am Ende blieb sie ihren Spendern treu. Die Union ist leider nicht bereit gewesen, hier bei der Schwelle noch weiter nach unten zu gehen. – Ich drücke Ihnen übrigens die Daumen, dass Sie sich von dieser Last befreien können. Viel Glück dabei! ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch Kleingedrucktes in diesem Gesetz, wichtiges Kleingedrucktes. Das wird den Steuertricksern zusätzlich erhebliche Kopfschmerzen bereiten. Und besonders freut es mich, dass wir endlich Co-Investorenmodellen mit Kapitalgesellschaften einen Riegel vorschieben. Eine Lücke, die Unternehmen wie Akelius bis in die vermutliche Illegalität ausnutzen. Damit wird jetzt endlich Schluss sein. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen auch: Gerade die zwielichtigen Deals werden in notorischen Steueroasen und an Schattenfinanzplätzen abgewickelt. Undurchsichtigkeit und die damit verbundenen Ermittlungshemmnisse spielen den Tricksern in die Hände. Dem müssen wir ein Ende setzen. Und dafür brauchen wir für Steuerpiraten und ihre Steueroasen nicht nur schärfere Regeln. Wir brauchen auch ein couragiertes Vorgehen von den Behörden, von der Öffentlichkeit und von der Politik. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kühn, hören Sie genau hin, weil Sie vorhin den Koalitionsvertrag falsch zitiert haben. Hier steht geschrieben: Nach Abschluss der Prüfarbeiten durch Bund und Länder werden wir eine effektive und rechtssichere gesetzliche Regelung umsetzen, um missbräuchliche Steuergestaltungen bei der Grunderwerbsteuer mittels Share Deals zu beenden. ({0}) Die gewonnenen Mehreinnahmen können von den Ländern zur Senkung der Steuersätze verwendet werden. Aktuell ist es so, dass die Grunderwerbsteuer je nach Bundesland unterschiedlich hoch ist. In Bayern sind es 3,5 Prozent, in Sachsen 3,5 Prozent; aber der Höchstsatz liegt in vielen anderen Ländern bei 6,5 Prozent, übrigens auch in Thüringen, wo die Linken regieren, ({1}) und auch in Baden-Württemberg haben die Grünen damals als erste Amtshandlung die Grunderwerbsteuer auf 5 Prozent erhöht. ({2}) Mit diesem Gesetz ist es jetzt wirklich auch an der Zeit für die Bundesländer, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese hohen Steuersätze zu senken, weil die hohen Steuersätze wiederum auch dafür verantwortlich sind, dass man eben Umgehungen zu erreichen versucht. Und dafür wollen wir uns einsetzen, dass die Länder dies tun. ({3}) Ich glaube, es ist dringend notwendig. Ansonsten müssten wir aus meiner Sicht als Bundesgesetzgeber einen einheitlichen Steuersatz wieder bei 3,5 Prozent ansetzen. Um was geht es? Damit auch da kein falscher Eindruck entsteht: Wenn man ein Grundstück kauft, also zum Beispiel ein Einfamilienhaus, ist bei dem Kauf aus dem Kaufpreis Grunderwerbsteuer fällig. Kauft eine GmbH & Co. KG, also eine Personengesellschaft, ein Grundstück, ist selbstverständlich auch Grunderwerbsteuer fällig und wird bezahlt. Aber werden nun die Anteile von dieser GmbH & Co. KG an einen anderen Erwerber verkauft, war es bislang so: Wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 95 Prozent der Anteile verkauft worden sind, kam noch mal Grunderwerbsteuer hinzu – deswegen „noch mal“, weil beim Grundstückskauf, beim ursprünglichen Geschäft, selbstverständlich auch die Grunderwerbsteuer angefallen ist. ({4}) Deshalb, wegen dieser Lücke, gab es bislang Möglichkeiten, ohne dass Grunderwerbsteuer fällig wurde, Anteile an Gesellschaften zu verkaufen, die Grundstücke halten, und diese Lücke wollen wir ein Stück weit schließen. Aber da von „Missbrauch“ zu sprechen, ist falsch; denn die gesetzlichen Regelungen haben dies bisher abgedeckt. Aber wir wollen es politisch ändern, und deswegen machen wir dieses Gesetz. ({5}) Dem Entwurf, der ursprünglich vorlag, konnten wir 2019 nicht zustimmen. Deswegen haben wir hart und lange gerungen und konnten auch einige wichtige Änderungen erreichen. Es ist ein Kompromiss zwischen den Koalitionsfraktionen. Die Änderungen waren aus unserer Sicht aber notwendig, um überhaupt eine Zustimmung zu ermöglichen. Was haben wir in den Verhandlungen erreicht? Erster Punkt. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war eine Rückwirkung enthalten. Wir haben gesagt: Es kann nicht sein, dass ein Steuergesetz mit Rückwirkung in Kraft tritt, sondern es kann erst nach dem Tag in Kraft treten, an dem es verabschiedet wurde – eine richtige Maßgabe, die wir aushandeln konnten. Zweiter Punkt. Der Kollege Daldrup hat es ja gesagt: Die SPD wollte schon bei einem Verkauf von 75 Prozent der Anteile Grunderwerbsteuer anfallen lassen. ({6}) Wir haben gesagt – wir haben übrigens auch bei den verfassungsrechtlichen Fragen eine andere Meinung –: Wir machen das bei 90 Prozent mit. – Wir haben 90 Prozent durchgesetzt, bei einer Frist von zehn Jahren. Und wir haben die Regelung in richtiger Weise auf die Kapitalgesellschaften ausgedehnt. Aber es gibt eben bei den Kapitalgesellschaften auch zwei wesentliche Ausnahmen, und die sind sehr notwendig und wichtig: Erstens. In einem Konzern werden natürlich auch durch Umstrukturierungen – das sind ganz normale, tägliche Geschäfte – Grundstücke von einer Konzerntochter vielleicht an die andere Konzerntochter gegeben. Deswegen haben wir auch mit dem Gesetzentwurf gewartet, bis rechtliche Klarstellungen bei der Konzernklausel erfolgten. Das heißt, dass Grundstücksgeschäfte innerhalb eines Konzerns grunderwerbsteuerfrei bleiben. Das war notwendig; denn sonst hätte es zu einer ungerechtfertigten Belastung in Firmengruppen und Konzernen geführt. Die zweite wichtige Regelung – die konnten wir reinverhandeln – ist die sogenannte Börsenklausel. Bei Unternehmen, die an der Börse gehandelt werden – und die Anteilseigner drehen sich bei großen Börsengesellschaften mindestens einmal im Jahr –, hätte sonst für jedes Grundstück jedes Jahr erneut Grunderwerbsteuer im gesamten Konzern gezahlt werden müssen. Deswegen war die Börsenklausel wichtig, die wir geregelt haben. In der Tat – das will ich abschließend sagen – steht in unserem Koalitionsvertrag aber auch, und zwar vor dem Share-Deals-Passus –: Wir prüfen einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer beim erstmaligen Erwerb von Wohngrundstücken für Familien ohne Rückwirkung beim Länderfinanzausgleich. ({7}) Wir würden uns wünschen, dies noch gemeinsam mit unserem Koalitionspartner auf den Weg zu bringen. Wir werben dafür, weil es wichtig ist, Eigentum zu schaffen. Manche wollen ja Einfamilienhäuser verbieten; aber wir wollen Eigentum ermöglichen. Deswegen werben wir dafür und hoffen, dass wir das in dieser Wahlperiode noch miteinander durchsetzen können. Herzlichen Dank. ({8})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Über 2 Millionen Mieterinnen und Mieter in Berlin konnten aufatmen: Seit Juni 2019 stiegen ihre Mieten nicht mehr, anders als im ganzen Rest der Republik. Sie alle haben sich gefreut, dass sich endlich eine Regierung traut, nämlich Rot-Rot-Grün in Berlin, etwas gegen diesen Mietenwahnsinn zu tun, und es war richtig, etwas dagegen zu tun. ({0}) Doch 248 Bundestagsabgeordnete von Union und FDP ({1}) kippten den Berliner Mietendeckel vor Gericht. ({2}) Hunderttausende Mieter/-innen, die ihre überhöhten Mieten sogar absenken konnten, können sich jetzt bei Ihnen bedanken. Danke für nichts, kann ich da nur sagen. ({3}) Eines will ich klarstellen, auch weil Sie mich ja persönlich ansprechen, Herr Luczak: Dieses Urteil war kein Urteil gegen den Mietendeckel an sich; ({4}) es war ein Urteil gegen die Zuständigkeit der Länder. ({5}) Und wenn die Länder die Mieten nicht deckeln können, dann muss es eben der Bund tun. ({6}) Wir kämpfen für einen bundesweiten Mietendeckel. Die Mieten sind doch in den sieben Jahren GroKo explodiert – bundesweit. In Hamburg stiegen die Angebotsmieten seit 2014 um 19 Prozent, in Stuttgart um 34 Prozent; da zahlt man jetzt im Schnitt 13 Euro pro Quadratmeter. Das kann sich doch keine Busfahrerin, das kann sich doch kein Krankenpfleger mehr leisten. ({7}) Jetzt tut endlich ein Bundesland etwas dagegen, und da pochen Sie auf Ihre Zuständigkeiten, also ausgerechnet diejenigen Abgeordneten von Union und FDP, die hier doch wirklich alles dafür getan haben, dass der Mietenwahnsinn weitergeht. Das ist doch eine einzige Heuchelei! ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Müller-Rosentritt, FDP-Fraktion?

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, bitte schön.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Lay, Sie haben ja gerade gesagt, dass es an uns liegt, dass die Mieterinnen und Mieter die Mieten zurückzahlen müssen. Ist es nicht vielmehr richtig, dass es an Ihnen und Ihren populistischen Maßnahmen liegt, daran, dass Sie rechtswidrige Gesetze beschließen und den Leuten vorgaukeln, dass Sie bestimmen können, wie die Mieten sind? ({0}) Ist es nicht Ihre linke und die grüne Fraktion, die hier in Berlin den Leuten vorgaukeln, die Mieten festlegen zu können? Es ist Ihr Versagen. Stimmen Sie dem zu? ({1})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dem stimme ich selbstverständlich nicht zu; denn von einem bin ich überzeugt, und das werden wir in dieser Debatte auch noch sehen: dass es Ihnen nicht darum ging, dass Sie als Bund dafür zuständig sind, die Mieten zu deckeln. Ihnen ging es doch darum, dass der Mietendeckel gekippt wird. ({0}) Ihnen geht es doch darum, dass Ihre Freunde aus der Immobilienwirtschaft weiter an diesem Mietenwahnsinn verdienen können. ({1}) Darum geht es doch. ({2}) Ich schätze die Auffassungen des Bundesverfassungsgerichtes sehr. Aber an eines will ich erinnern: ({3}) Wir haben hier im Deutschen Bundestag – ich bin mit der Antwort noch nicht fertig – ({4}) vor drei Jahren einen Vorschlag gemacht, was wir bundesrechtlich tun können, um die Mieten zu deckeln, und vor zwei Jahren haben wir es wiederholt. Das haben Sie abgelehnt, das hat die Union abgelehnt. Insofern ist das einfach nicht zielführend, was sie sagen. Das sind vorgeschobene Gründe. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Mit der Antwort fertig? – Okay.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren, wir geben Ihnen mit diesem Antrag die Chance, zu beweisen, worum es Ihnen geht: ob es Ihnen tatsächlich nur um die Zuständigkeiten geht oder ob Sie einfach wollen, dass dieser Wahnsinn weitergeht. ({0}) Wir wollen als Linksfraktion einen bundesweiten Mietenstopp. Keine Mieterhöhung auf angespannten Wohnungsmärkten! Das fordert auch das bundesweite Bündnis Mietenstopp. ({1}) Am schlimmsten trifft es diejenigen, die eine neue Mietwohnung suchen. Es kann nicht sein, dass eine wirkungslose Mietpreisbremse einen effektiven Mietendeckel verhindert. Hier muss man deutlich nachschärfen. „Deckeln statt bremsen“, das ist die Devise. ({2}) Schließlich: Was die Mietenexplosion für die einen ist, das ist der Reibach für die anderen. Nehmen wir als Beispiel die großen Konzerne. Eine Mieterin von Vonovia zahlt fast 200 Euro ihrer Monatsmiete nur für die Dividende der Aktionäre. ({3}) Dieses skrupellose Geschäft auf dem Rücken der Mieter muss endlich aufhören. ({4}) Deswegen wollen wir Mietobergrenzen, und wir wollen, dass diejenigen, die Wuchermieten zahlen müssen, diese Miete auch endlich absenken können. ({5}) Zu guter Letzt, meine Damen und Herren – man kann es ja nicht oft genug sagen –: Mindestens die Union ließ sich den Gang nach Karlsruhe auch vergolden. Im gleichen Jahr haben Sie über 1 Million Euro Spenden aus der Immobilienwirtschaft kassiert. Alleine der Baulöwe Christoph Gröner spendete 800 000 Euro an die Berliner CDU, ({6}) die dann justament die Klage in Karlsruhe einreichte. Also das stinkt doch wirklich zum Himmel. ({7}) Mit der CDU, der Partei der Miethaie und Immobilienlobbyisten, ist kein Mietendeckel zu machen. Mit Ihnen ist, ehrlich gesagt, gar nichts mehr zu machen. ({8}) CDU raus aus der Regierung! Nur ohne Sie kriegen wir einen bundesweiten Mietendeckel hin. ({9}) Etwas Ermutigendes will ich zum Abschluss noch sagen. Am gleichen Tag, als das Urteil gesprochen wurde, waren allein hier in Berlin 20 000 Menschen auf der Straße, Mieterinnen und Mieter, die gesagt haben: Das lassen wir uns nicht mehr bieten, wir kämpfen für einen bundesweiten Mietendeckel. ({10}) Das war erst der Anfang; das verspreche ich Ihnen. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Lay, dass Sie sich jetzt hierhinstellen ({0}) und auch noch rühmen, dass nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hier in Berlin Mieterinnen und Mieter auf die Straßen gegangen sind und demonstriert haben, und dabei ausblenden, dass es gewalttätige Ausschreitungen gab, ({1}) wo viele Polizistinnen und Polizisten verletzt worden sind, finde ich wirklich eine Unverschämtheit. Das finde ich wirklich eine Unverschämtheit. ({2}) Den Polizistinnen und Polizisten, die uns heute hier im Deutschen Bundestag beschützt haben, als wir das Infektionsschutzgesetz auf den Weg gebracht haben, fallen Sie damit in den Rücken. Das ist eine Unverschämtheit sondergleichen, wenn ich das mal sagen darf. ({3}) Dass Sie sich jetzt hierhinstellen und diesen Verfassungsbruch mit Ansage in Form des Berliner Mietendeckels hier auch noch verteidigen, sagt viel über Ihr rechtsstaatliches Verständnis aus. Das sagt wirklich viel über Ihr rechtsstaatliches Verständnis aus. ({4}) Alle Experten, alle Gutachten, die es vorher gab, die ernst zu nehmen waren, haben gesagt: Das Land Berlin hat für diesen Mietendeckel keine Kompetenz. – Alle haben das gesagt. Ihre eigene Senatorin Frau Lompscher, die zwischenzeitlich wegen Steuerhinterziehung zurücktreten musste, ({5}) hat gesagt: Liebe Mieterinnen und Mieter, gebt das Geld, das ihr jetzt möglicherweise einspart, lieber nicht aus; es könnte sein, dass ihr das zurückzahlen müsst, weil wir nicht sicher sind, dass dieser Mietendeckel hält. Ich kann Ihnen was sagen: Sie haben am Ende mit der Angst der Menschen Wahlkampf gemacht. Sie haben das populistisch ausgenutzt und haben Ihre ideologische Verbohrtheit auf dem Rücken der Berliner Mieter und Mieterinnen ausgetragen. ({6}) Das finde ich heuchlerisch, liebe Frau Lay, das finde ich heuchlerisch. ({7}) Sie sagen jetzt: Na ja, das ist ja nur ein formales Urteil gewesen, es ist ja nur um die Zuständigkeit gegangen. ({8}) – Ich habe es gelesen und, ich glaube, auch ein bisschen intensiver gelesen als Sie, Herr Kollege. ({9}) Es ist natürlich so, dass das Verfassungsgericht nichts zur materiellen Verfassungsgemäßheit ausgesagt hat, weil es das auch gar nicht musste, weil die formelle Frage schon so eindeutig war. Aber wenn Sie sich mit der verfassungsgerichtlichen Judikatur mal ein bisschen näher auseinandersetzen würden, zum Beispiel mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Mietpreisbremse, dann würden Sie sehr genau verstehen, dass es dort klare verfassungsrechtliche Planken gibt, die dieser Mietendeckel ganz eindeutig eingerissen hätte. Wenn es nämlich darum geht, Staatsmieten – nichts anderes ist der Berliner Mietendeckel gewesen – zu vereinbaren, dann ist festzustellen, dass es eine völlige Entkopplung des tatsächlichen Mietmarktes von diesen Staatsmieten gibt. Das ist mit Blick auf Artikel 14 Grundgesetz, mit Blick auf die Eigentumsgarantie nicht zu rechtfertigen. Das wäre ein verfassungswidriger Eingriff. Ein solcher Mietendeckel wäre auch materiell verfassungswidrig. Deswegen wird es ihn auch nicht geben. ({10}) Aber ich will mal diese verfassungsrechtlichen Fragen, über die man auch immer treffend streiten kann, völlig ausblenden und fragen: Was hat denn der Berliner Mietendeckel tatsächlich verursacht? Was hat er denn verursacht? Es gab einen dramatischen Einbruch beim Angebot von Mietwohnungen, einen dramatischen Einbruch. ({11}) Die Schlangen, die wir bei den Wohnungsbesichtigungen in Berlin tatsächlich haben – das kann ja niemand wegdiskutieren –, sind durch den Berliner Mietendeckel doch nur noch länger geworden. Bis zu 50 Prozent weniger Wohnungsangebote gab es durch den Mietendeckel. Zwei verlorene Jahre waren das. Seitdem man angefangen hat, über den Berliner Mietendeckel zu diskutieren, sind die Genehmigungszahlen für den Wohnungsbau massiv heruntergegangen. All diejenigen, die hier investieren wollten, die neuen, bezahlbaren Wohnraum schaffen wollten, die in altersgerecht umgebauten Wohnraum investieren wollten, die für den Klimaschutz energetisch modernisieren wollten, haben das abgeblasen. Es gab hier nichts mehr in den letzten zwei Jahren. Das wollen Sie doch nicht ernsthaft als Erfolg verkaufen und als bundesweites Vorbild nehmen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, liebe Frau Lay. ({12}) Wenn man dann noch an die soziale Steuerungswirkung denkt, die dieser Mietendeckel gehabt hat, fragt man sich: Wer hat denn wirklich davon profitiert? Wer war es denn, der davon profitierte? Wo sind denn die Mieten am stärksten abgesenkt worden? ({13}) Bei den topsanierten Altbauwohnungen am Ku’damm, wo man 17, 18, 19, 20 Euro je Quadratmeter Miete gezahlt hat, weil man ein gut verdienender Rechtsanwalt oder Zahnarzt ist, der sich das auch leisten kann. Die haben nur noch 10 Euro zahlen müssen. Das ist doch keine soziale Wohltat; das ist doch völlig daneben. Die Mieter in Marzahn haben überhaupt nichts von diesem Mietendeckel gehabt. ({14}) Ich kann nur noch mal sagen: Dieser Berliner Mietendeckel ist wirklich eine populistische Scheinlösung gewesen. Er ist verfassungswidrig gewesen. Er hat völlig falsche Auswirkungen gehabt. Wir wollen als Union starke soziale Leitplanken haben. Wir wollen, dass niemand aus seiner Wohnung verdrängt wird. Deswegen haben wir in den letzten Jahren auch gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sehr viele Dinge auf den Weg gebracht: angefangen bei der Mietpreisbremse bis zur Deckelung der Umlage für die Modernisierungskosten. Wir verhindern, dass jemand aus seiner Wohnung herausmodernisiert wird. Wir haben echt viel auf den Weg gebracht. Deswegen brauchen wir Ihre populistischen Scheinlösungen nicht, um etwas für Mieterinnen und Mieter in diesem Land zu tun. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Udo Hemmelgarn. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucher auf den Tribünen und an den Bildschirmen! In den zurückliegenden Jahren hat die AfD immer wieder darauf hingewiesen, dass es politische Kräfte in diesem Land gibt, die den Umbau unserer Gesellschaft anstreben und den schleichenden Gang in den Sozialismus vorantreiben. Wir wurden dafür wahlweise als Hetzer, Rechtspopulisten oder Verschwörungstheoretiker verleumdet. ({0}) Heute stehen wir hier und debattieren ernsthaft über einen bundesweiten Mietendeckel. Der Antrag zur Debatte wurde von den Linken eingebracht. Aber: Auch die Grünen und die SPD plädieren für einen bundesweiten Mietendeckel. ({1}) Die Idee dafür kommt dabei wieder einmal aus dem rot-rot-grün regierten Berlin, das sich derzeit auf dem Weg zur sozialistischen Stadt befindet und zu Recht als Failed State bezeichnet wird. ({2}) Die Berliner Methode ist dabei sehr einfach: Man vernachlässigt seine eigentlichen Pflichten, um dann auf Kosten anderer, meist Eigentümer oder Steuerzahler, eine teure, aber untaugliche Scheinlösung zu präsentieren. Nachdem Berlin den Neubau von Wohnungen jahrelang vernachlässigt hat, war man ernsthaft der Meinung, man könne das Problem steigender Mieten mit dem Mietendeckel in den Griff bekommen. Der Erfolg war verblüffend: Während sich der Gutverdiener über 6,50 Euro pro Quadratmeter in den besten Lagen freute, sank das Angebot an Mietwohnungen um die Hälfte, und es wurde für viele Menschen praktisch unmöglich, in Berlin eine neue Wohnung zu finden. Der nächste Akt des Dramas kommt jetzt, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel für nichtig erklärt hat. Viele Mieter hier in Berlin sehen sich hohen Nachforderungen ihrer Vermieter ausgesetzt, die sie nicht ohne Weiteres zahlen können. Es bleibt nur zu hoffen, dass niemand infolge dieses sozialistischen Experiments seine Wohnung verliert. Ein wirklich „wunderbares Ergebnis"! Sicher ist es richtig, dass das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel „nur" wegen der fehlenden Zuständigkeit des Landes Berlin gekippt hat. Aber stellen wir uns einmal vor, die Linken, die Grünen und die SPD hätten sich mit der Forderung nach einem bundesweiten Mietendeckel durchgesetzt. ({3}) Was wäre denn, wenn der wegen Verstoßes gegen das Eigentumsrecht, Artikel 14 Grundgesetz, gekippt worden wäre? Wie viele Mieter müssten dann bundesweit Hilfe in Anspruch nehmen? Wie viele Mieter würden ihre Wohnung so ohne Weiteres verlieren? Wie viel Geld müsste für Unterstützungsprogramme zur Vermeidung von Zwangsräumungen ausgegeben werden? Und vor allem: Wessen Geld? Ich bin mir jedenfalls sicher: Das Geld kommt nicht von den Linken, von der SPD oder den Grünen. Die Forderung nach einem bundesweiten Mietendeckel ist hochgradig verantwortungslos. Hier wird von der Linken und allen anderen Befürwortern wieder einmal va banque auf Kosten der Mieter gespielt. ({4}) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die lautesten Befürworter des Mietendeckels auch die sind, die am lautesten rufen: Wir haben Platz! ({5}) Solange man es nicht fertigbringt, sich einzugestehen, dass die Flüchtlingskrise von 2015 dieses Land überfordert hat und immer noch überfordert, ({6}) solange man sich nicht eingesteht, dass der massenhafte Zuzug illegaler Einwanderer den Mietwohnungsmarkt schlagartig überfordert hat ({7}) und solange man sich nicht eingesteht, dass diese Schieflage andauert, bis man die Grenzen effektiv schützt, so lange wird es keine Lösung für die Probleme am Wohnungsmarkt geben. ({8}) Die Probleme des Wohnungsmarktes, die die Linken, Grünen und die SPD beklagen, haben sie selbst durch ihre Politik mitverursacht. Der Mietendeckel ist dabei nur ein Zwischenschritt. Canan Bayram von den Grünen hat es offen ausgesprochen: „Wenn wir jetzt die Mieten deckeln, wird später das Enteignen leichter", ({9}) was ja wahrscheinlich dann auch stimmt, Frau Nissen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Umgestaltung unserer Gesellschaft ist für viele noch nicht beendet. Einige Ergebnisse können aber schon heute hier in Berlin besichtigt werden. Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass sich beim Wähler die politische Vernunft durchsetzt und er den sozialistischen Allmachtsfantasien eine deutliche Absage erteilt, egal ob sie rot oder grün gefärbt sind. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion der SPD ist der Abgeordnete Klaus Mindrup. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, vorsichtig ausgesprochen, bedauerlich, wenn eine Landesregierung ein Gesetz erlässt, an dessen Verfassungsmäßigkeit bereits vor der Verabschiedung erhebliche Zweifel bestanden. Aber noch bedauerlicher ist es, wenn eine Landesregierung dies als einzigen Ausweg aus einer wohnungspolitischen Situation sieht, die von einem außer Rand und Band geratenen und von Spekulationen geprägten Mietwohnungsmarkt geprägt ist. Diese Notwehr war verständlich. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe wesentliche Aspekte der Berliner Gesetzgebung durchaus kritisch gesehen. Ich bin aktiv in einer Mietergenossenschaft, und von dort gab es auch viel Kritik an diesem Vorhaben. ({1}) Ich sehe jetzt die Chance, dass man sich in Berlin wieder mit den Genossenschaften zusammentut, dass man einen Neuanfang wagt und – das ist durchaus richtig – dass man in Teilen den Weg von Hamburg mit dem „Bündnis für das Wohnen“ verfolgt. Das ist vollkommen klar. ({2}) Ich sehe es aber auch als notwendig an, dass Berlin sich damit beschäftigt, wie es eigentlich in diese Lage gekommen ist. Wir brauchen dafür eine kritische Bestandsaufnahme. Das darf man nicht vergessen. Berlin hat Fehler gemacht: ({3}) der Ausstieg aus der sozialen Wohnraumförderung vor 20 Jahren, das Verscherbeln öffentlichen Vermögens 2004, 65 000 städtische Wohnungen der GSW mit einem Schlag weg, nicht mehr rückholbar. Also, da kann man eigentlich nur eine Entschuldigung verlangen. Hauptverantwortlicher war Herr Sarrazin, der schon in dieser Frage keine Weitsicht gezeigt hat. ({4}) Es ist noch schlimmer: Vor zehn Jahren sollte noch die damalige Berliner Immobilien Holding verschenkt werden – „verschenkt“, sage ich. Die CDU war dafür, Die Linke war dafür, die FDP war, glaube ich, auch dafür, die SPD-Führung war in Teilen dafür. Raed Saleh, Torsten Schneider und in besonders starkem Maße ich haben das damals verhindert. Heute wissen wir: Wir haben 2 Milliarden Euro für den Berliner Landeshaushalt gespart; das können Sie an der Bilanz der Nachfolgegesellschaft sehen. ({5}) Es ist schon gesagt worden, dass wir im Bundestag ein paar Sachen auf den Weg gebracht haben. – Wo ist der Herr Kollege Dr. Luczak? – Ich kann Ihnen sagen: Alles – das wissen Sie aus den Verhandlungen – ist hart von uns als SPD erkämpft worden. Tatsächlich ist es so, dass die Mietpreisbremse deutlich verbessert worden ist und dass wir die Luxusmodernisierungen durch die Einführung der Kappungsgrenze weitgehend gestoppt haben. Das hat eindeutig funktioniert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das Herausmodernisieren haben wir damit beendet. Aber wir haben auf Bundesebene trotzdem noch viel zu tun. Wir haben die Aufgabe, gute Vermieterinnen und Vermieter zu fördern. Die haben aber auf den Grundstücksmärkten gegen Spekulanten keine Chance. Deswegen brauchen wir eine andere Bodenpolitik und einen Umwandlungsschutz. Ich hoffe, dass wir dies in den nächsten Wochen gemeinsam miteinander hinbekommen. ({7}) Weiterhin gehe ich davon aus, dass Bund und Länder mittelfristig die Förderung des sozialen Wohnungsbaus deutlich aufstocken müssen. Ohne Neubau geht es nicht. Wenn hier ein Gegensatz zum Klimaschutz aufgebaut wird, kann ich nur sagen: Schauen Sie sich das Konzept des Bauhauses der Erde an, das heute von Professor Schellnhuber vorgestellt wurde – beides geht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup, dass Sie die Frage zulassen.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, klar.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin ein bisschen überrascht über Ihren Redebeitrag. Sie sind ja auch Mitglied der Berliner SPD, und mein Kenntnisstand ist, dass wir in Berlin eine rot-rot-grüne Koalition haben ({0}) und das Projekt des Berliner Mietendeckels dort auch gemeinsam verabredet haben. Sie haben sich jetzt da sehr kritisch geäußert. Meine Frage, jetzt anknüpfend an die Position, die beispielsweise auch Ihre Spitzenkandidatin für die Berliner Abgeordnetenhauswahl, eine gewisse Frau Giffey, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geäußert hat, die sich für einen bundesweiten Mietendeckel ausspricht: Teilen Sie diese Position? Ist die SPD für einen bundesweiten Mietendeckel nach dem Vorbild des Berliner Mietendeckels, ja oder nein? Ich fände, das wäre mal ein gutes Projekt, mit dem wir auch zeigen könnten, dass Rot-Rot-Grün einen Unterschied machen kann. Aber da muss dann die SPD auch Farbe bekennen –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kurz und präzise.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und nicht dann, wenn es schwierig wird, sich verdrücken. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, weil Sie meine Redezeit etwas verlängern. Ich wäre zu diesem Punkt noch gekommen. Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion schon vor Jahren ein solches Konzept ausgearbeitet. Wir haben die gesetzmäßige Kompetenz. Es gibt im Augenblick die Möglichkeit, dass innerhalb eines bestimmten Rahmens die Miete um 20 oder 30 Prozent in drei Jahren erhöht werden kann. Das liegt natürlich weit über der Einkommensentwicklung. Mit der sogenannten Kappungsgrenze haben wir im Bund die Möglichkeit, das rechtlich zu verändern. Es gibt meines Erachtens keine Möglichkeit, dass das verfassungsrechtlich nicht funktioniert. Wir wollen als SPD ganz klar – und das haben wir schon vor Jahren vereinbart; das steht auch bei uns im Wahlprogramm – einen Mietenstopp, der sich an der Inflationsrate orientiert. Denn das ist rechtssicher, und das sollte in angespannten Wohnungsmärkten funktionieren. ({0}) Das wäre als Nächstes in meiner Rede gekommen. Sie haben mir jetzt die Möglichkeit gegeben, das noch weiter auszuformulieren. ({1}) Aber das muss natürlich an andere Maßnahmen gekoppelt sein, und dazu komme ich jetzt noch. ({2}) Also, ich habe es schon gesagt: Wir müssen an das Mietrecht ran. Das Instrumentarium ist da. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu nicht geäußert. Wir müssen die Entkopplung der Einkommensentwicklung von der Mietentwicklung stoppen. Das bedeutet eindeutig, dass wir unsere gesetzgeberischen Kompetenzen hier nutzen müssen. Wir können das als SPD sofort machen, falls unser Koalitionspartner sich dazu bereit erklärt. Es gibt aber noch ein weiteres Thema, das wichtig ist, nämlich das Problem der sogenannten Eigenbedarfskündigung. Wir haben über 100 000 Wohnungen in Berlin, die in den letzten zehn Jahren von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden, und in den Fällen ist es sehr, sehr leicht, den Mietern zu kündigen. ({3}) Es kann nicht sein, dass Mietern gekündigt wird, weil Familien Au-pair-Kräfte in ihrer Zweitwohnung unterbringen wollen, und Familien aus angespannten Wohnlagen somit verdrängt werden. Hier muss dringend etwas passieren. Das ist auch Teil unseres Programms: Klare Regelungen der Eigenbedarfskündigung, Einschränkung der Umwandlungs- und der Umgehungsmöglichkeiten. ({4}) Ich möchte es so zusammenfassen: Starker Schutz für Mieterinnen und Mieter geht nur mit der SPD. Wir verbinden beides: Mieterschutz und Investitionen in neue und bezahlbare Wohnungen. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Lay, in Berlin brennen Autos, auf Demos werden Polizisten angegriffen, das Wahlkreisbüro unserer Kollegin Kluckert wird beschmiert, und Sie beenden Ihre Rede mit: „Das war erst der Anfang ...“ – Zuerst kommt die Sprache, dann kommt die Gewalt. Sie machen das Gleiche wie die AfD. Schämen Sie sich! ({0}) Sie können sich gern dafür entschuldigen. Das ist absolut okay. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat der Kollege Föst.

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich lasse es mir auch von den beiden Rändern des demokratischen Spektrums nicht nehmen. – Der Mietendeckel in Berlin ist gescheitert. Was aber bleibt – das müssen Sie sich eingestehen –, ist die Wohnkostenkrise, das Ergebnis Ihres sozialistischen Experiments, ({0}) werte Kollegen von SPD, Grünen und Linken. Die Wohnkostenkrise ist nach wie vor da. Ihr staatliches Preisregime ist ja nicht nur juristisch gescheitert, sondern vor allen Dingen auch politisch und sozial. Sie haben ohne Rücksicht auf die Folgen einen Keil in die Gesellschaft der Hauptstadt getrieben. ({1}) Sie, SPD, Grüne und Linke, haben wider besseres Wissen einen verfassungswidrigen Mietendeckel eingeführt und den Mieterinnen und Mietern das Blaue vom Himmel versprochen. Sie haben wertvolle Zeit vertan, Grüne, SPD und Linke, die Probleme nachhaltig zu lösen. Und Sie haben dafür gesorgt – Kollege Luczak hat es völlig zu Recht erwähnt –, dass das Angebot an Wohnungen drastisch eingebrochen ist, dass die Sanierungen auf Eis gelegt wurden – übrigens insbesondere im Bereich des Klimaschutzes, werte Grüne – und dass Neubauprojekte weggebrochen sind. Es ist völlig unverständlich – völlig unverständlich! –, wie man nach dieser Bilanz den Mietendeckel auf Bundesebene fordern kann. Bei den Linken weiß ich ja, dass die Ideologie immer vor den Lösungen für die Menschen steht. Aber dass sich SPD und Grüne vor diesen Karren spannen lassen und nicht die nachhaltigen Lösungen für die Menschen im Blick haben, das ist schon sehr entlarvend, insbesondere mit Blick auf die Bundestagswahl. ({2}) Selbst der Hamburger Erste Bürgermeister Peter Tschentscher twitterte vergangene Woche: „Der wirksamste Mietendeckel ist der Wohnungsbau.“ – Was passiert in Berlin? Rot-Rot-Grün verdaddelt jede Chance, in dem Bereich voranzukommen. ({3}) Eins muss ich Ihnen versprechen, werte Kolleginnen und Kollegen: Wir Freie Demokraten werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Rot-Rot-Grün mit seinen sozialistischen Ideen nie in die Lage versetzt wird, die Regierung in Deutschland zu stellen. Wir brauchen eine Mietpolitik, die funktioniert, und keine destruktive Politik, wie Sie sie fordern. ({4}) Wir Freie Demokraten beschäftigen uns lieber mit den Lösungen. Den Weg dorthin haben wir immer aufgezeigt, oft und im Detail. Wir müssen schneller genehmigen. Wir müssen Bauplanungen und Ämter digitalisieren, Baukosten senken, Investitionen fördern, Bauland auch wirklich mobilisieren, statt nur umzuverteilen, Flächen klug nutzen. Und wir dürfen den ländlichen Raum nicht weiter ausbluten lassen. All das trägt zur Entlastung des Wohnungsmarkts bei. All das trägt zur Senkung der Wohnkosten bei. Ein Mietendeckel zerstört den Markt, zerstört Vertrauen, führt die Wählerinnen und Wähler hinters Licht. Deswegen darf er auf Bundesebene niemals kommen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Caren Lay. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Herr Kollege, wissen Sie, als jemand, dessen Abgeordnetenbüro über 30-Mal angegriffen wurde, beschmiert wurde, beschädigt wurde, als jemand, der mehrfach persönlich als Abgeordnete angegriffen wurde, muss ich mir das, glaube ich, an dieser Stelle nicht vorwerfen lassen. ({0}) Ich will ganz klar sagen: Gewalt gegen Abgeordnetenbüros ist kein demokratisches Mittel. ({1}) Friedliche Demonstrationen und der Streit in der Sache sind demokratische Mittel. Ich freue mich sehr, dass es eine neue Mietenbewegung gibt. Ich freue mich, dass wenn immer ich mit den Menschen auf der Straße war, es friedliche Demonstrationen gegeben hat. Und ich freue mich, dass immer mehr Menschen sagen: Wir wollen eine Politik, die uns als Mieterinnen und Mieter nicht sieht, nicht mehr gefallen lassen. – Wir kämpfen für einen bundesweiten Mietendeckel, und ich hoffe, dass bei der nächsten friedlichen Demonstration noch mehr Menschen – Mieterinnen und Mieter und alle, die sich solidarisch zeigen – auf der Straße sein werden. Denn eins haben wir gesehen: Diese Regierung kann es nicht. Wir brauchen jetzt den friedlichen Druck auf der Straße. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie etwas dazu sagen? – Bitte schön.

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Lay. – Ich muss Sie ergänzen: Gewalt gegen Abgeordnetenbüros ist natürlich untragbar. Aber Gewalt ist immer untragbar, nicht nur wenn sie gegen Bundestagsabgeordnete gerichtet ist. ({0}) Nachdem bei den Demonstrationen Polizisten angegriffen wurden, nachdem vor den Demonstrationen Autos angezündet wurden, nachdem nach der Demonstration das Wahlkreisbüro durch Vandalismus zerstört wurde, schließen Sie Ihre Rede mit den Worten: „Das war nur der Anfang …“ – Es tut mir wirklich leid, Frau Lay, wenn ich Sie da falsch verstanden habe; ({1}) aber Ihr Signal kann man da auch sehr, sehr leicht missverstehen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Christian Kühn. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zurück zum Thema: den Ursachen dieser Wohnungskrise in Deutschland. Am 15. September 2008 ist durch die Pleite der Lehman-Brothers-Bank eine Kettenreaktion ausgelöst worden, die dazu führte, dass die Immobilienpreise in Deutschland in nie dagewesene Höhen geklettert sind. Durch die Niedrigzinsphase floss das freiwerdende internationale Kapital in die Immobilienmärkte in Deutschland. Wir sprechen heute von Betongold; das ist der Sprech bei den Anlegern. Diesem Finanzmarktdruck muss etwas entgegengesetzt werden; sonst kriegen wir die Wohnungsfrage nicht in den Griff. ({0}) Im Kern geht es doch darum: Ist eine Wohnung ein Anlageobjekt, ein Renditeobjekt, oder ist es das Zuhause von einem Menschen? Das ist doch die Frage. ({1}) – Sie sagen zu Recht: Es ist beides. – Dann müssen wir aber auch so vorgehen, dass es für beides ist. Da müssen wir die Regeln auch in der sozialen Marktwirtschaft so aufstellen, dass es für beides ist. Denn das Grundrecht auf Wohnen in dieser Gesellschaft ist bei diesen exorbitanten Mietsteigerungen massiv gefährdet. ({2}) Wir müssen die Finanzmärkte hier in den Griff kriegen. Und das werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU, nicht nur durch Bauen, Bauen, Bauen hinbekommen, weil die Finanzmärkte dann einfach noch mehr Geld in den Neubau schieben. Aber es geht doch um den Bestand, und der muss reguliert werden. ({3}) Und wenn Sie nur bauen wollen und nicht regulieren, dann werden Sie die soziale Frage nicht lösen. Das ist Ihre Lebenslüge. ({4}) Deswegen braucht es einen Bundesmietenstopp im Mietrecht, ({5}) damit die Wohnungsmärkte, auf denen die Preise völlig aus dem Ruder gelaufen sind, reguliert werden und das Recht auf Wohnen erneuert werden kann. ({6}) Jetzt nenne ich Ihnen von der FDP eine Zahl, weil Sie ja hier die ganze Zeit dazwischenrufen: Der Anteil der Menschen in Deutschland, die mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete zahlen, liegt bei 14,2 Prozent. So viele Menschen in Deutschland sind das. Jeder Siebte zahlt mehr als 40 Prozent seines Einkommens fürs Wohnen. ({7}) Damit belegt Deutschland bei der Wohnkostenüberlastung einen der Spitzenplätze in Europa. Der Durchschnitt in Europa liegt bei 9,6 Prozent. Das zeigt doch: Wir haben ein massives Problem mit der Wohnkostenüberlastung in diesem Land. ({8}) Das hat damit zu tun, dass vor allem in den letzten 16 Jahren eine falsche Wohnungspolitik in diesem Land gemacht worden ist. ({9}) Dass Sie über das Urteil aus Karlsruhe jubeln und feixen, ist ein Problem. Herr Luczak, Sie sagen, man solle mit diesem Thema keinen Wahlkampf machen. Dazu sage ich Ihnen eines: Laden Sie uns alle doch einfach mal ein. Dann setzen wir uns an einen Tisch und lösen in den letzten vier Sitzungswochen dieses Bundestags, in denen wir noch tagen werden, dieses Problem. Wir sind jederzeit bereit, mit Ihnen auch überfraktionell über diese Frage zu sprechen. Aber wenn Sie das nicht machen, dann ist das natürlich ein Thema in diesem Wahlkampf. Denn es geht die Menschen in diesem Land an, wie viel Geld am Ende des Monats in ihren Geldbeuteln ist und wie viel für die Miete draufgeht. ({10}) Wir werden es thematisieren, und wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, ({11}) dass Sie in den letzten Jahren beim Mietrecht alles blockiert haben und viel zu wenig dafür getan haben, dass das Grundrecht auf Wohnen in diesem Land Bestand haben kann. Danke schön. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Abgeordnete Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst noch einen Satz zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts verlieren: Auch der eindeutige und klare Verstoß gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist ein Regelbruch des Grundgesetzes, und das darf man nicht gutheißen. ({0}) Des Weiteren gab es letzte Woche Demonstrationen gegen das Urteil. Das ist im freiheitlichen Verfassungsstaat ein Grundrecht. Was aber inakzeptabel ist, ist die Gewalt auf diesen Demonstrationen und auch der Angriff gegen Polizeibeamte. Dazu haben Sie geschwiegen, und das sagt einiges über Sie aus. ({1}) Auf das Wahlkreisbüro unseres Kollegen Jan-Marco Luczak und wohl auch auf das Wahlkreisbüro der Kollegin Kluckert von der FDP-Fraktion gab es Anschläge. Was mich auch empört, ist, dass der Kollege Jan-Marco Luczak als Miethai dargestellt worden ist. ({2}) Das ist nicht nur infam, sondern auch eine Entmenschlichung seiner Person, ({3}) und das ist unter der Würde der politischen Auseinandersetzung. ({4}) Der Mietendeckel ist aber nicht nur juristisch angreifbar, sondern auch ökonomisch unsozial und falsch. Er schafft nicht mehr Wohnraum, er schafft nicht besseren Wohnraum, sondern er macht das Wohnen für alle schlechter. Warum? ({5}) Erstens. Gerade bei größeren Wohnungen sorgt der Mietendeckel dafür, dass die Preise unter den sogenannten Gleichgewichtspreis fallen. Das heißt, diejenigen, die wohlhabend sind und eine besonders große Wohnung haben, können sich wesentlich günstiger einmieten, als das normalerweise der Fall wäre. Somit ist der Mietendeckel eine Subvention für Wohlhabende. Das ist die Politik der Linken. ({6}) Zweitens. Dass die Wohnungen durch den Mietendeckel unter dem Gleichgewichtspreis vermietet werden können, bedeutet, dass diejenigen, die eine Wohnung haben, gar nicht mehr ausziehen. Ökonomisch gesehen spricht man vom Lock-in-Effekt. Lock-in-Effekt bedeutet, dass die Märkte stehen bleiben. Das Ergebnis haben wir gesehen: nicht nur ein Einbruch bei den Neuvermietungen, sondern auch ein dramatischer Rückgang beim Angebot und übrigens auch bei den Sanierungen. – Mit einem Mietendeckel gibt es also weniger Wohnungen, und die Wohnungen, die es gibt, werden auch nicht saniert. Das heißt, alle verlieren. Und das nennt sich Sozialismus, meine Damen und Herren. ({7}) Der entscheidende Punkt ist, dass die Wohnungsmärkte nicht funktionieren, wenn wir eine staatliche Preisfestsetzung haben, ({8}) sondern wir brauchen eine Mischung aus vernünftiger Preisregulierung und neuem Angebot. Was Sie nicht erwähnt haben, ist der Umstand, dass in den letzten drei Jahren hier im Deutschen Bundestag etliches zum Thema Preisregulierung geschehen ist: ({9}) Die Modernisierungsumlage wurde gekürzt. Die Kappungsgrenze bei Mieterhöhungen wurde zum Schutz der Mieterinnen und Mieter verbessert. Wir haben auch die Mietpreisbremse nachgeschärft; wenn ein Vermieter zu viel verlangt, dann muss er das zu viel Verlangte auch hergeben. – Das haben Sie völlig verschwiegen, weil es nicht in Ihr Weltbild passt. Die Politik der letzten Jahre war im Prinzip auf zwei Säulen ausgerichtet: zum einen auf eine Preisregulierung, und zum anderen auf mehr Angebot. – Das ist die marktwirtschaftliche Antwort der Vernunft, die sich gegen eine Politik des Mietendeckels richtet. Wir brauchen künftig noch weitere Schritte. Die müssen so aussehen, dass wir gerade Familien unterstützen, die für sich Wohneigentum schaffen. Wir sollten zum Thema Grunderwerbsteuerfreibetrag sprechen und auch über die Frage, ob wir das Erfolgsmodell des Baukindergeldes fortschreiben könnten. ({10}) Aber auch Fragen bezüglich kürzerer Genehmigungsverfahren und einer noch besseren öffentlichen Bewirtschaftung von Grundstücken gehören dazu. So schaffen wir mehr Wohnraum, so bleiben Mieten bezahlbar. Das ist unsere Lösung, und die bringt den Menschen mehr als Ihre Experimente. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Groß, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war ja eine interessante Debatte. Ich habe von den Kollegen der AfD, Union und FDP 20 Minuten lang gehört, wie man Abwehrkämpfe zulasten der Mieterinnen und Mieter führt, aber keinen einzigen Vorschlag dazu, wie wir in Deutschland bezahlbares Wohnen sicherstellen. ({0}) Herr Ullrich hat gerade gesagt: Wir haben eine marktwirtschaftliche Antwort auf das Problem bezahlbaren Wohnens. – Eine marktwirtschaftliche Antwort! Wir haben eine soziale und marktwirtschaftliche Antwort. Das ist der Unterschied zu Ihnen. ({1}) Hier geht es nicht um Rechtsbruch, weder um Rechtsbruch bei Demonstrationen zulasten von Polizistinnen und Polizisten noch um Rechtsbruch gegen die Bundesverfassung. ({2}) Hier geht es vielmehr darum, dass Menschen am Ende des Monats, in der letzten Woche, nicht genug Geld haben, um noch Dinge bezahlen zu können, weil der Vermieter sie ausnimmt, weil der Vermieter dafür sorgt, dass zu wenig von ihrem Lohn übrigbleibt. Darum geht es hier in Deutschland. ({3}) Wir haben die Situation, dass im letzten Jahr die Reallöhne gesunken sind, während die Mieten weiter gestiegen sind. Der Markt wird es alleine nicht regeln. ({4}) Wir haben sogar im Ruhrgebiet – das wird Ihnen vielleicht noch mal zu denken geben – in den letzten 18 Monaten die Situation, dass die Mietpreisentwicklung im unteren Preissegment höher liegt als in ganz Deutschland in den letzten fünf Jahren. Im Ruhrgebiet gibt es besonders viele Menschen, die ein geringes Einkommen haben. Für diese Menschen – das sage ich im Namen der SPD-Fraktion – brauchen wir einen bundesweiten Mietpreisdeckel, regional definiert durch die Länder. ({5}) Sie erzählen hier seit zwölf Jahren immer dasselbe. ({6}) Sie erzählen seit zwölf Jahren, dass wir bauen, bauen, bauen müssen. ({7}) Ich kann Ihnen nur sagen: Die Frage wird sein: Wer baut für wen und was? ({8}) Das ist die zentrale Frage. Sie wollen, dass diejenigen, die Geld haben, im höherpreisigen Segment Wohnungen bauen. ({9}) Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen das nicht bezahlen können. So sieht Ihre Realität aus. ({10}) – Ich erlaube die Zwischenfrage.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das ist sehr freundlich von Ihnen. ({0})

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Preiswertes und günstiges Wohnen ist auch ein Anliegen der Liberalen; das will ich hier nur mal sagen. Nicht, dass das falsch rüberkommt. ({0}) Aber um das zu bekommen, müssen wir bauen, bauen, bauen. Ich frage Sie: Was spricht gegen Sozialwohnungsbau auf dem Tempelhofer Feld? Es liegt in Ihrer Hand. Es liegt in der Hand von Grün-Rot-Rot, das Tempelhofer Feld mit Sozialwohnungen zu bebauen. Und was machen Sie? Sie wollen dort kompostieren oder Tomaten pflanzen; weiß ich nicht. Warum nutzen Sie es nicht, um Tausende Sozialwohnungen zu bauen? ({1})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine Entscheidung, die die Berliner treffen müssen. Das ist auch eine Frage, die die Bürger und Bürgerinnen in Berlin beantworten müssen. ({0}) Das ist eine Entscheidung, die die Berlinerinnen und Berliner bei den nächsten Wahlen treffen müssen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In meiner Heimatstadt wird zurzeit der Mietendeckel diskutiert. Es ist die ortsübliche Vergleichsmiete diskutiert worden. Es ist festgestellt worden, dass bei uns die Mieten steil nach oben gehen. Dann sagt mir der Geschäftsführer des kommunalen Wohnungsunternehmens: Ich kann noch für 8,50 Euro pro Quadratmeter bauen. ({1}) Die örtlichen Lobbyisten der privaten Investoren sagen: „Nein, nein, ich brauche mindestens 11 Euro pro Quadratmeter; denn ich muss Gewinn machen“, während der kommunale Investor sagt: Ich will mir keine goldene Nase verdienen. – Das ist der Unterschied zu Ihnen. ({2}) Wir brauchen eine soziale Wohnungsbaupolitik, ein soziales Mietrecht. Das ist unser Ziel. Und ich hoffe, wir werden mit der CDU hier noch Lösungen finden. Herzlichen Dank! Glück auf! ({3})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag entscheidet heute über die weitere Beteiligung der Bundeswehr an der Mission Atalanta. Worum geht es dabei? Die Mission Atalanta ist 2008 eingerichtet worden, um die Seewege vor der somalischen Küste und dem Golf von Aden vor Piraterie zu schützen. Diese Seewege sind aus zwei Gründen wichtig: Zum einen ging es damals darum, die humanitäre Versorgung Somalias abzusichern, das heißt, die Schiffe zu schützen, die Nahrungsmittel bringen, und dafür zu sorgen, dass diese sicher anlanden können. Zum Zweiten geht es auch um den Schutz der Seewege. Erinnern wir uns kurz zurück: Es ist noch nicht lange her, dass ein Schiff im Suezkanal quer stand. Der Golf von Aden ist die Einfahrt ins Rote Meer und später in den Suezkanal; er ist die Seestraße, über die 20 Prozent des Welthandels laufen. Deshalb ist es wichtig, diese Seewege auch weiterhin zu schützen. ({0}) Die Mission Atalanta ist eine europäische Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ein klarer Ausdruck dafür, dass wir Europäer gemeinsam Sicherheitsverantwortung übernehmen. Die Mission ist in den letzten Jahren sehr erfolgreich gewesen. Ich erinnere an das Jahr 2011; das war das Jahr, in dem über 30 Schiffe von Piraten in der Region gekapert worden sind. Wir haben es geschafft, die Piraterie zurückzudrängen. In letzter Zeit sind keine Schiffe mehr gekapert worden. Aber der Schmuggel in der Region weitet sich aus. Deshalb soll die Mission in Zukunft nicht nur dafür sorgen, dass keine Piraterie mehr stattfinden kann, sondern auch dafür, dass Schmuggel in der Region bekämpft werden kann. ({1}) Warum ist das wichtig? Das ist wichtig, weil sich bewaffnete Gruppen, die weiterhin in der Region ihr Unwesen treiben, über diesen Schmuggel finanzieren. Die Situation in Somalia ist nach wie vor sehr instabil. Die für Februar geplanten Wahlen haben leider nicht stattgefunden. Dafür wachsen die politischen Konflikte in Somalia wieder. Auch auf der anderen Seite des Golfes, im Jemen, gibt es viele ungelöste Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen. Hier besteht eine große Notwendigkeit für humanitäre Hilfe. ({2}) Das heißt, die Mission bleibt zum Schutz der humanitären Hilfe und zum Schutz der Seewege weiterhin wichtig. Das hat uns auch der Bericht des UN-Generalsekretärs vom November letzten Jahres deutlich vor Augen geführt, der sagt: Wenn diese Mission nicht mehr stattfindet, dann ist die Gefahr sehr groß, dass die Piraterie in der Region wieder aufflammt, dass die Seewege unsicher werden. – Deshalb geht es heute darum, dass wir diese Mission fortsetzen, dass sich der Bundestag dafür entscheidet. Ich will an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten danken, die dort für uns im Einsatz sind, wünsche ihnen eine gute Arbeit und auch eine sichere Heimkehr aus ihrer Mission. ({3}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ein Gedanke zum Schluss: Natürlich engagieren wir uns nicht nur beim militärischen Schutz dieser Seewege, sondern wir verfolgen, wie in anderen Konfliktregionen auch, einen vernetzten Ansatz. Wir versuchen mit erheblichem Aufwand, die politische Situation in der Region zu stabilisieren. Allein die EZ-Maßnahmen für Somalia belaufen sich insgesamt auf 377 Millionen Euro. Das ist eine gewaltige Summe, und das zeigt, dass wir nicht eindimensional denken, sondern dass wir wissen, dass Sicherheit immer auch von gelingender Entwicklung und von gelingender politischer Steuerung abhängt. Ich bitte Sie heute um Zustimmung für dieses Mandat. Die SPD wird der Verlängerung zustimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Matschie. – Das Wort hat Jan Nolte von der AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Operation Atalanta ist einer der wenigen Bundeswehreinsätze, dem wir zustimmen. Der Auftrag wurde ja vor Kurzem noch ein bisschen erweitert; jetzt werden auch Drogenschmuggel, Waffenschmuggel und der illegale Holzkohlehandel bekämpft. Diese Punkte waren es allerdings nicht, die uns dazu bewogen haben, hier heute zuzustimmen, sondern uns geht es weiterhin um den Kernauftrag, und der besteht in der Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika. ({0}) Wir waren da in der Vergangenheit durchaus sehr erfolgreich. Im Jahr 2010 gab es noch 174 Angriffe von Piraten am Horn von Afrika. Das ist über die Jahre immer weniger geworden: 2019 war es noch ein Angriff, und im letzten Jahr gab es dann gar keinen mehr, und das, obwohl die Piraterie weltweit wieder leicht gestiegen ist. Wir legen einen strengen Maßstab an, wenn es darum geht, ob wir Auslandseinsätzen zustimmen oder nicht. Der nationale Nutzen eines Einsatzes muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem Risiko stehen, das unsere Soldaten tragen, und das Mandat muss auch ethisch passen. Für die Alternative für Deutschland bedeutet das: Wir möchten nicht, dass unsere Bundeswehr als Weltpolizist missbraucht wird. ({1}) Das ist hier aber alles gegeben. Unsere Soldaten tragen ein geringes Risiko, und wir haben natürlich das gute Recht, unsere Schiffe zu schützen. Als Nächstes soll ja die Fregatte „Bayern“ in das Mandat eingebunden werden. Die wird sich dann auf dem Weg Richtung Indopazifik und Südchinesisches Meer befinden und soll dort – und das ist wirklich bemerkenswert – im Namen Deutschlands die Chinesen so ein bisschen zur Räson bringen: eine Fregatte – ein ambitioniertes Vorhaben, geradezu verwegen, was unsere Verteidigungsministerin da plant. Ich bin mal gespannt, wie beeindruckt die Chinesen davon dann wirklich sein werden; aber man soll sich ja immer große Ziele setzen. ({2}) Wir meinen, dass es unser Anspruch sein muss als Bundesrepublik Deutschland, in der Lage zu sein, die Schiffe deutscher Reedereien vor dem Zugriff Krimineller zu schützen, und deswegen stimmen wir heute hier zu. Zum Abschluss noch ein paar Sätze zum erweiterten Aufgabenspektrum, speziell zur Bekämpfung des Drogenhandels: Da sind wir als Bundesrepublik Deutschland natürlich kein glaubwürdiger Akteur. Denn man könnte ja im Prinzip zu einem solchen Drogenhändler, den man da vor Somalia aufgegriffen hat, hingehen und sagen: Junge, sei nicht dumm! Komm doch nach Deutschland! Du brauchst keine Angst zu haben, dass du abgeschoben wirst. Du kannst bei uns gerne dein Drogenhändlerhandwerk verrichten, zum Beispiel im Görlitzer Park. Wir würden dich nur bitten: Bleibe in den extra für Drogendealer ausgewiesenen Bereichen, und halte dich an die Coronahygienemaßnahmen. ({3}) Das ist der ganz normale Irrsinn in der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren, ganz massiv vorangetrieben – auch das muss man hier noch einmal ansprechen – vom Traumkoalitionspartner der CDU, von den Grünen. Von daher: Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika ist eine gute Sache. Aber wenn es um andere Formen der Kriminalität geht, dann muss man hier doch noch mal den deutlichen Wunsch an die Bundesregierung und an die Parteien, die sie bilden, formulieren, dass sie endlich aufhören müssen, hier in Deutschland Teil des Problems zu sein, was die Kriminalität angeht, und anfangen, Teil der Lösung zu werden. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollege Nolte. – Das Wort geht an Jürgen Hardt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich könnte Zahlen beisteuern: Die höchste Zahl von Überfällen auf Schiffe gab es, glaube ich, 2011. Es waren 176. Außerdem kam es zu 25 Entführungen, ein schreckliches Schicksal für die an Bord befindlichen Seeleute, die Wochen und Monate unter erbärmlichsten Bedingungen gefangen gehalten waren. Einige sind dabei auch zu Schaden oder sogar ums Leben gekommen. Das ist zum Glück vorbei. Deswegen ist dieser Einsatz der Europäischen Union, die Mission Atalanta, ein wirkliches Erfolgsstück der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Ich kann uns eigentlich nur dazu beglückwünschen, dass wir diese im Deutschen Bundestag immer unterstützt haben. ({0}) Die Einsatzobergrenze soll mit dem neuen Mandat von 400 auf 300 abgesenkt werden. Das ist richtig so; denn wie gesagt: Der Einsatz bedarf gegenwärtig nicht der Präsenz, wie es früher einmal der Fall war. Wir können darauf verzichten, dauerhaft deutsche Schiffe in diesen Einsatz zu entsenden. Andere Nationen tun dies. Vielleicht wird man eines Tages auch uns wieder fragen. Aber es ist richtig: Wenn wir tatsächlich die Fregatte „Bayern“ nach Südostasien schicken, wovon ich fest ausgehe, wird sie einen guten Teil der Seereise in dem Seegebiet des Einsatzgebietes Indischer Ozean verbringen und dann auch einen wichtigen Beitrag zu diesem Einsatz leisten. Ich habe mich selbst vor zwei Jahren von der Arbeit der deutschen Soldaten in Dschibuti überzeugen können. Mich hat sehr beeindruckt, dass Deutschland, obwohl es zum Teil nur eine kleine Zahl von Soldaten, etwa im Sanitätsbereich, entsendet hat, doch extrem wichtige Hochwertfähigkeiten zur Verfügung gestellt hat. Die Taucherdruckkammer für die Einsatzkräfte in Dschibuti ist von Deutschland betrieben worden. Das ist eine Fähigkeit, die von den Kameradinnen und Kameraden anderer Nationen sehr geschätzt wurde. Es zeichnet unsere Einsatzphilosophie immer aus, dass wir sagen: Wir gehen rein mit dem Besten, was wir haben, und wir machen das, wo es am nötigsten ist. – Und das ist eben hier konkret der Fall gewesen. Ich glaube, ein Auftrag an uns alle ist: Nach der erfolgreichen Bekämpfung von Piraterie und dem Schutz des Welternährungsprogramms und der Afrikanischen Union in Somalia müssen wir jetzt unsere Anstrengungen weiter intensivieren, Somalia zu einem Land zu machen, das selbst in der Lage ist, die Situation der Piraterie an der Küste in den Griff zu bekommen. Sie erinnern sich, dass wir vor einigen Jahren das Einsatzgebiet des Mandates ein Stück weit ausgeweitet hatten auf die Küsten, weil wir gesagt haben: Diejenigen, die Piraterie ausüben, liegen mit ihren Schnellbooten am Strand. Wenn wir sie dort bekämpfen können, dann ist das ein wirksamer Beitrag zur Verhinderung von Piraterie. – Das ist tatsächlich nur in ganz wenigen Fällen und erst recht nicht durch die Bundeswehr notwendig gewesen, aber es war ein Abschreckungsmoment. Eigentlich müsste die somalische Regierung selbst in der Lage sein, mit ihren Polizei- und Militärkräften und der Küstenwache Piraterie zu verhindern. Da sehe ich eine enorm große Aufgabe. Es stimmt mich hoffnungsvoll – das sehen wir auch in der Sahelzone –, dass wir immerhin erleben, dass in Afrika die Bereitschaft in multilateralen Strukturen – der Afrikanischen Union oder der entsprechenden Wirtschaftsstrukturen – zunimmt, die Probleme selbst in die Hand zu nehmen und einen eigenen Beitrag zur Lösung der Herausforderungen in Ländern Afrikas zu leisten. Ich kann die Europäische Union nur ermutigen, auf diplomatischem Wege für eine Stabilisierung Somalias ganz eng mit der Afrikanischen Union und den gutwilligen politischen Führern der Region zusammenzuarbeiten. Da sehe ich ein großes, noch ungenutztes Potenzial. Da werden wir sicherlich noch viele Erfahrungen machen müssen. Aber am Ende geht es nur so: Hilfe zur Selbsthilfe, auch für die Herausbildung von Multilateralismus in Afrika, der tatsächlich in der Lage ist, solche schwierigen Staaten wie Somalia – andere ließen sich hinzufügen – in den Griff zu bekommen. In diesem Sinne: weiterhin gutes Gelingen für die Soldatinnen und Soldaten in dem Einsatz! Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Mandat zustimmen. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Hardt. – Das Wort geht an Christian Sauter von der FDP-Fraktion. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag beschäftigt sich in dieser Woche mit insgesamt vier Mandaten der Bundeswehr. Über die Ziele und den Zweck der Mandate wird vor dem Hintergrund des Erreichten und auch der Zeitachse diskutiert. Die Operation Atalanta am Horn von Afrika ist ein gutes Beispiel für Einsätze, die auch über einen längeren Zeitraum erfolgreich sein können. Der Einsatz begann Ende des Jahres 2008, als durch stark zunehmende Zahlen von Piratenangriffen schnelles Handeln notwendig wurde. Ein wesentlicher Punkt dabei ist der Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms der VN zur AMISOM-Mission. Die internationalen Seewege zu sichern, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt. Freier und sicherer Seehandel auf wichtigen, aber verwundbaren Handelsrouten ist im Interesse Deutschlands als Handelsnation. ({0}) Der Erfolg zeigt sich hier aus zweierlei Gründen: Die ständige Präsenz hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Zahl der Angriffe ist stark zurückgegangen. Zudem haben auch private Reeder ihre Schiffe sicherer gemacht und für ausreichend Eigenschutz gesorgt. Der Einsatz konnte also nachhaltig zur Sicherung des Mandatsgebiets beitragen. Insgesamt 34-mal steuerte die Deutsche Marine Schiffe und Boote als operativen Teil zu Atalanta bei. Seit 2016 unterstützt Deutschland die Operation nicht mehr mit seegehenden Einheiten, sondern stellte den Seefernaufklärer P-3C Orion bereit. Unser herzlicher Dank gilt daher den Soldaten, die wesentlich zum Erfolg beigetragen haben. ({1}) Die Bereitstellung dieser hochwertigen Fähigkeit der Marine steht erneut vor dem Aspekt der mangelnden Verfügbarkeit durch technische Probleme. Dringend muss nun über die Nachfolge des Systems und eine mögliche Zwischenlösung entschieden werden. Die drohende Fähigkeitslücke wird hier offensichtlich. Die später zu beratende Operation Irini zeigt die Bedeutung des nun in Atalanta nicht mehr eingesetzten Seefernaufklärers. Damit ändert sich die deutsche Beteiligung an diesem Einsatz erneut grundlegend. Kürzlich wurde das Einsatzkontingent in Dschibuti zurückverlegt. Der deutsche Beitrag wird gemäß Mandatstext nun anders ausgerichtet. Obwohl die Ausweitung der Ziele auf Waffen, Drogen und Holzschmuggel formuliert wird, werden deutsche Einheiten vorwiegend nur noch auf Durchfahrt angemeldet wie demnächst die Fregatte „Bayern“. Zukünftig wird sich der deutsche Beitrag im Wesentlichen auf die Bereitstellung von Führungspersonal im Stab der Operationen konzentrieren, um dort Flagge zu zeigen. Auf die zivilen Komponenten und die sich stark beeinflussenden Faktoren nicht nur auf See, sondern auch in der Region und in Somalia selbst haben wir bereits in der ersten Lesung hingewiesen. Hier gibt es sehr viel zu tun. Wir als Fraktion stimmen der Mandatsverlängerung zu. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Sauter. – Das Wort hat Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will den Bundeswehreinsatz im Rahmen der EU-Mission Atalanta mit bis zu 300 Soldaten weiter verlängern. Ein absurder Antrag! Denn am letzten Donnerstag hat Fregattenkapitän Michael Langhof als letzter Leiter des Einsatzkontingents in Dschibuti den operativen Einsatz der Bundeswehr am Horn von Afrika beendet. Bislang hat die Bundesregierung das Mandat immer damit begründet, zivile Schiffe und insbesondere Hilfslieferungen nach Somalia vor Piratenschiffen schützen zu wollen. Tatsächlich aber hat Atalanta schon seit Jahren kein Piratenboot mehr aufgebracht. Ja, Piraterie an afrikanischen Küsten ist weiter ein Problem, aber nicht vor Somalia, sondern auf der anderen Seite des Kontinents, im Golf von Guinea. Also diese Begründung taugt nicht mehr so recht. Es ist also höchste Zeit, diese Mission zu beenden und die 21,4 Millionen Euro, die sie die deutschen Steuerzahler/-innen jährlich kostet, in humanitäre Hilfe zu investieren; ({0}) denn 25 Millionen Menschen in Jemen und Somalia stehen akut vor dem Hungertod. Aber was macht die EU? Sie sucht sich einfach neue Aufgaben. Atalanta soll ab jetzt nicht nur gegen Seeräuber, sondern auch gegen Drogen- und Waffenschmuggel, gegen illegale Fischerei und den Schwarzhandel mit Holzkohle vorgehen. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, meine Damen und Herren. ({1}) Es glaubt Ihnen kein Mensch, dass sich eine EU-Mission mit den schwimmenden Fischfabriken der EU-Staaten anlegen würde, die den Indischen Ozean und den Golf von Aden leerfischen und damit die somalischen Fischer überhaupt erst nötigen, ihren Lebensunterhalt auf illegale Art und Weise zu verdienen. Ihnen geht es doch nicht um die Holzkohle, deretwegen in Somalia die letzten Wälder gerodet werden. Und genauso wenig wie Sie im Mittelmeer den regen Waffenschmuggel nach Libyen unterbinden, werden Sie das im Golf von Aden tun; denn da müssten ja auch Verbündete kontrolliert werden. Worum geht es dann eigentlich? Bei den EU-Missionen hat man zunehmend das Gefühl, es geht vor allem darum, eine dauerhafte Militärpräsenz zu etablieren und damit die EU zu einem globalen militärischen Akteur zu machen; denn es geht um geostrategische Interessen und um die Kontrolle von Rohstoffen und Handelswegen, und das sagen Sie ja auch mit immer größerer Offenheit. Wenn sich in Dschibuti alle Großmächte ein Stelldichein liefern, dann will die EU nicht beiseitestehen. Und irgendwie muss die Bundeswehr auch dabei sein, auch wenn sie gar nicht mehr dabei ist. Meine Damen und Herren, Die Linke will alle Bundeswehreinsätze beenden, ({2}) und Atalanta wäre eine sehr gute Gelegenheit, damit anzufangen. ({3}) Sagen Sie mit uns zusammen Nein zu diesem Mandat. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Vogler. – Das Wort geht an Jürgen Trittin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Morgen hat es erneut einen schweren Anschlag in Mogadischu gegeben. Das zeigt: Die Krise, der Staatszerfall, die Not, verschärft durch eine Nahrungskrise, verschärft durch die Coronapandemie in dieser Region, halten an. Wir haben doch zur Kenntnis zu nehmen – das will ich an dieser Stelle einmal sagen, wenn man so Nonchalance darüber hinweggeht –, dass Save the Children im April noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass dort eine Hungersnot droht, die 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung Somalias betrifft. Vor diesem Hintergrund finde ich es keine Bagatelle, wenn die Europäische Union unter Beteiligung von Deutschland international dafür Sorge trägt, dass Schiffe des World Food Programms durchkommen. ({0}) Wenn das den Effekt hat, dass faktisch keine Piratenangriffe mehr stattfinden, dann finde ich das gut und finde keinen Grund dafür, das zu beenden. ({1}) Sie haben natürlich recht, es ist auch ein Stück Symptombekämpfung. Ja, die Erweiterungen des Mandats zeugen davon, dass man an dieser Stelle mehr machen muss. Natürlich brauchen wir eine andere Fischereipolitik der Europäischen Union, selbstverständlich brauchen wir auch eine andere Fischereipolitik der Chinesen, die dort fischen, aber ich kann mich doch nicht hinstellen und sagen: Die Symptome will ich gar nicht bekämpfen, wenn diese Symptome bedeuten, dass drei Viertel der Bevölkerung Somalias anschließend Hunger leiden. ({2}) Dann bin ich, ehrlich gesagt, für Symptombekämpfung. Ich komme jetzt an einen Punkt, an dem ich eine ganz komische Gemeinschaft entdecke zwischen der Linken und der Bundesregierung. ({3}) Die Linke ist gegen diesen humanitären Einsatz mit UN-Mandat und allem, weil sie daran ein Stück Militarisierung der Außenpolitik sieht. Frau Vogler hat das ja eben beschrieben. ({4}) Die Regierung sagt: Zumindest die Option für diese Militarisierung wollen wir uns offenhalten. Anders macht es nämlich keinen Sinn, dass eine Option, die die SPD übrigens lange Zeit vehement abgelehnt hat – ich erinnere mich noch an die Reden des Kollegen Mützenich –, immer noch in diesem Mandat steht, nämlich die Option, auch an den Strand zu gehen, um bis zu 2 Kilometer ins Land rein Krieg zu führen. Meine Damen und Herren, wenn Sie darauf hinweisen, dass diese Option in den letzten Jahren nie gezogen worden ist, warum steht sie dann immer noch im Mandat? ({5}) Warum ist sie immer noch drin, wenn Sie es ernsthaft nicht wollen? Ich finde aber – ja, ich stehe zur Symptombekämpfung –, man darf ein solches Mandat nicht missbrauchen, auch nicht für solche Optionen. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Sie es geschafft hätten, dieses Mandat endlich – ich sage betont: wieder ‑zustimmungsfähig zu machen, indem Sie auf diese Aktion verzichten, mindestens auch um den Preis, dass Sie den Linken damit ein Argument weggenommen hätten. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Trittin. – Das Wort geht an Matern von Marschall von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Kollege Trittin, Sie haben die absolute Verantwortungslosigkeit der Linken sehr zutreffend aufgezeigt, indem Sie – was ja wesentlicher Kern auch dieses Mandates ist – darauf hingewiesen haben, dass ihm eine beachtliche humanitäre Zielsetzung zugrunde liegt. Beides – humanitäre Grundsätze und gleichzeitig Sicherung der freien Seeschifffahrt in unserem Interesse, im europäischen Interesse, aber auch im Interesse derjenigen, die Güter zu uns liefern wollen – verbindet dieses Mandat erfolgreich. Die Tatsache, dass es jetzt nicht aufgegeben, sondern fortgeführt wird, Herr Trittin, dient in Zukunft der Abschreckung. Dazu gehört natürlich auch die Möglichkeit, die Piraten und Banditen am Strand zu verfolgen. Insofern finde ich auch diesen Aspekt korrekt und zutreffend. ({0}) Kollege Matschie und auch Jürgen Hardt haben betont, dass wir nicht von einem einzelnen kleinen Mandat sprechen, sondern von einem Aspekt einer umfassenden Außen-, Sicherheits- und – das betone ich, weil ich Staatssekretär Barthle sehe – Entwicklungspolitik, weil wir selbstverständlich – über den Sahel ist gesprochen worden, der mir in meiner Arbeit im Entwicklungsausschuss besonders wichtig ist – beides verbinden müssen: eine Stabilisierung auch durch militärische Einsätze, aber vor allen Dingen die Ertüchtigung der Länder dort. Stichwort „G-5-Sahelinitiative“. Es ist ein mühsamer Weg, aber ein Weg, den wir weiter beschreiten müssen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich afrikanische Länder mit unserer Unterstützung sukzessive selber in die Lage versetzen, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Aber solange das nicht möglich ist, wollen und müssen wir auch im Interesse der Sicherheit dieser Menschen dazu beitragen, indem wir auch Einsätze wie diesen hier, Atalanta, bekräftigen, ihm zustimmen. Das ist eine Aufgabe, der wir uns, glaube ich, ganz überwiegend in diesem Hause sehr beherzt stellen. ({1}) Den Soldatinnen und Soldaten ist gedankt worden, deshalb will ich zum Abschluss sagen: Nur allein von Dank können sie ihren Einsatz natürlich nicht bewältigen. Es geht auch um die Ausrüstung, um die Befähigung der Soldaten, diese schwierigen Aufgaben kompetent und mit der korrekten, der richtigen Ausrüstung, gerade auch im Bereich des Großmaterials, erfolgreich zu bewältigen. Deswegen mein Appell in die Zukunft gerichtet, auch an die Haushälter: Lassen wir nicht aus unserem Blickfeld geraten, dass die korrekte Ausrüstung gleichfalls Bestandteil für einen erfolgreichen Einsatz sein muss. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Joe Weingarten von der SPD-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Seit 2008 beteiligt sich die Bundeswehr an Einsätzen am Horn von Afrika. Aber keine Bundeswehrmission und keine Missionsverlängerung ist Routine. Sie dürfen auch nie Routine werden. Auch bei der Operation Atalanta müssen wir jedes Mal Sinn und Ziele auf den Prüfstand stellen. Das haben die Bundesregierung und auch die sozialdemokratische Bundestagsfraktion getan. Wir sind der Überzeugung: Atalanta ist eine notwendige Mission für die Stabilität der Region und für die Freiheit der Seewege. ({0}) Sie ist auch ein Beleg für die Bereitschaft der EU, gemeinsam mit internationalen Partnern Verantwortung für Sicherheit und Freiheit in der Welt zu übernehmen. Wir haben dabei einige Erfolge zu verzeichnen: die Rückdrängung der Piraterie, die Sicherung von Schiffen des Welternährungsprogramms und der Kampf gegen Organisierte Kriminalität. Allein schon im Sinne der annähernd 6 Millionen Menschen in Somalia, die auf freie Zugänge über See für ihre überlebensnotwendigen Nahrungslieferungen angewiesen sind, war und ist Atalanta richtig. Für die dabei erzielten Erfolge und ihren Einsatz danke ich im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort für Frieden und Sicherheit sorgen. Ihnen gilt unser ganzer Respekt. ({1}) Aber die Ziele der Mission sind noch nicht erfüllt. Für die Sicherung der Seewege und für den Kampf gegen den internationalen Waffen-, Drogen- und Menschenhandel ist das deutsche Engagement als Teil der EU-Mission weiterhin unerlässlich. Mit der Fortführung der Operation Atalanta stellen wir sicher, dass die Regeln der internationalen Gemeinschaft auch auf See gelten. Denn die Piraten sind nicht weg. Sie haben quasi nur umgeschult: Statt mit Waffengewalt zivile Handelsschiffe zu kapern, schmuggeln sie nun vielfach Waffen und Drogen, arbeiten als Schlepper und Schleuser. Das dürfen wir im Interesse der ausgebeuteten, beraubten, misshandelten Menschen in Somalia nicht hinnehmen. Solange das Horn von Afrika durch Chaos und Kriminalität geprägt ist, müssen wir uns dort für Stabilität einsetzen. Ohne Stabilität gibt es keine Zukunftsperspektive für diese Region. Deshalb stehen wir auch zur temporären Beteiligung von Marineeinheiten, etwa die der Fregatte „Bayern“, im Einsatzgebiet. Notwendig sind auch die zusätzlichen Schwerpunktsetzungen der Mission: die Durchsetzung des Waffenembargos der Vereinten Nationen gegen Somalia, die Bekämpfung des Drogenschmuggels und die Lagebilderstellung über die Erscheinungsformen der maritimen Kriminalität. Der Verzicht auf die bisherige Präsenz in Dschibuti zum 31. Mai ermöglicht wiederum eine Beschränkung der Zahl der beteiligten Soldatinnen und Soldaten auf 300. Das zeigt, dass hier mit Augenmaß vorgegangen wird. Und Herr Kollege Trittin, da wir gerade von Augenmaß sprechen und damit hier keine falschen Bilder gezeichnet werden: In dem Antrag der Bundesregierung steht ausdrücklich, dass die Truppen nicht an Land eingesetzt werden sollen. Es ist richtig: Um langfristig Wohlstand in die Region zu bringen, reichen militärische Maßnahmen alleine nicht aus. Die Bundesregierung unterstützt richtigerweise eine Vielzahl von Entwicklungs- und Aufbauprojekten in der Region. Auch wenn die politische und wirtschaftliche Lage in Somalia weiter äußerst labil ist, bleibt dies richtig und notwendig. Militärische Missionen sind dennoch weiter unverzichtbar. Sie sind die entscheidende Voraussetzung für den Anfang positiver Entwicklungen. Heute beschließen wir, eine schwierige, aber sehr nutzbringende Mission der deutschen Streitkräfte zu verlängern. Das liegt im Interesse unserer europäischen und afrikanischen Partner, aber auch unserer Bürgerinnen und Bürger. Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie unser Mitwirken am gemeinsamen europäischen Handeln, und stimmen Sie für die Verlängerung der Operation Atalanta bis zum 30. April 2022. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Weingarten. – Zum Abschluss dieser Debatte spricht Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Auch ich will meine Rede mit einer Zahl beginnen: null. Seit 2018 gab es keinen erfolgreichen Piratenangriff mehr am Horn von Afrika. Diese Zahl belegt: Der europäische Antipiraterieeinsatz vor der Küste Somalias ist erfolgreich. Seit 2008 sorgt die Bundeswehr mit ihren europäischen Partnern für sichere See- und Handelswege, die ein strategisches Interesse Deutschlands und Europas sind. Daher engagieren wir uns gemeinsam, auch militärisch. Deswegen möchte ich allen Soldatinnen und Soldaten für ihren erfolgreichen Einsatz danken. ({0}) Auch wenn es seit 2018 keine Übergriffe mehr gab, ist die Mission weiter nötig. Die Piraterie wurde wirksam zurückgedrängt, aber terroristische Aktivitäten und andere Formen der Kriminalität existieren weiterhin. Deswegen ist es richtig, dass die Aufgaben der Mission erweitert wurden: die Durchsetzung des Waffenembargos gegen Somalia und die Bekämpfung des Drogenschmuggels; beide sind wichtige Erweiterungen. Meine Damen und Herren, wir müssen zudem leider festhalten: Die Sicherheitslage in Ostafrika ist schwierig: in Äthiopien kriegerische Auseinandersetzungen in der Region Tigray, in Somalia ein politisches Machtvakuum, im Sudan und im Südsudan fragile Regierungen. Hinzu kommen Dürren, Überschwemmungen, Wirbelstürme und Heuschreckenplagen. Aktuell sind viele Menschen auf Hilfe und Nahrungsmittellieferungen angewiesen. Auch deshalb bleibt der Schutz der Seetransporte und vor allem die des Welternährungsprogramms Kernaufgabe der EU-Mission Atalanta. Meine Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist aber immer das gesamte Bild. Entscheidend ist unser vernetzter Ansatz, also nicht nur die Beteiligung am militärischen Einsatz, sondern zum Beispiel auch an den zivilen Missionen EUCAP Somalia und UNSOM. Natürlich engagiert sich Deutschland auch bilateral intensiv in Somalia, allein letztes Jahr mit rund 100 Millionen Euro für humanitäre Maßnahmen, in diesem Jahr bereits mit 22 Millionen Euro – ein Beitrag, um Lebensperspektiven zu verbessern und Konfliktbewältigung, Stabilität und friedliche Entwicklung zu fördern. Im Vergleich dazu: Der Bundeswehreinsatz kostet in diesem Jahr rund 21 Millionen Euro. Das militärische Engagement ist ganz entscheidend zur Absicherung der humanitären und entwicklungspolitischen Maßnahmen. Deswegen stimmen wir diesem Mandat zu. Ich rufe alle Kolleginnen und Kollegen auf, dies ebenso zu tun. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marokko gilt als Perle des Orients und als Tor zu Afrika. Marokko ist nicht nur ein wunderschönes Reiseziel, sondern auch zentraler Partner Deutschlands und der EU in der MENA-Region. Dies gilt etwa für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Migration, Forschungskooperationen oder Klimaschutz. Wir honorieren auch die Verfassungsreform von 2011, auch mit Blick auf Menschen- und Frauenrechte. Wenn es um die marokkanische Besetzung der Westsahara geht, haben wir allerdings auch eine klare Haltung. Westsahara verfügt über wichtige natürliche Ressourcen wie Phosphat und über einen der größten Fischgründe der Welt. Und Marokko ist sichtlich daran interessiert. Marokkos territoriale Ansprüche auf Westsahara halten wir allerdings weiterhin für völkerrechtlich höchst problematisch. Das macht auch die Mission MINURSO deutlich. Dieser Konflikt reicht weit zurück. Der 1991 geschlossene Waffenstillstand hatte weitreichend positive Folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist auch gut so. Die Frente Polisario hält sich an den Waffenstillstand; sie hat seit Langem dort den bewaffneten Kampf eingestellt. Mit der Resolution 619 betonte der UN-Sicherheitsrat das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis. Seit Langem aber befürchten diese, und dies keineswegs zu Unrecht, dass der Westsahara-Konflikt so deutlich vernachlässigt wird, dass niemand mehr davon Notiz nimmt und er ein eingefrorener Konflikt bleibt. Das allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre fatal. Frustration und Enttäuschung, gerade bei der jungen Generation, bergen nämlich die Gefahr einer Radikalisierung, und das gilt ganz besonders für die Situation in den Lagern. Ich nenne hier nur exemplarisch Rabouni und Tindouf; es wären aber auch noch andere zu nennen. Die marokkanische Regierung bietet Westsahara Autonomie, aber eben keine Unabhängigkeit. Und das ist kein kleiner, sondern ein ganz bedeutsamer Unterschied. In dieser Situation wirkt ein Ereignis wie ein Schuss vor den Bug: Im Dezember 2020 nämlich hat Donald Trump die marokkanische Souveränität über Westsahara anerkannt. Als Gegenleistung normalisierte Marokko seine Beziehungen zu Israel. Dieses Vorgehen hat in der Tat dann auch Erwartungen Marokkos an Deutschland und an andere europäische Partner geweckt. Die so verursachte diplomatische Krise in den Beziehungen zwischen unserem Land und Marokko zeigt, zu welchen Konsequenzen solche Alleingänge führen können. Auch das ist problematisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir hoffen, dass die Biden-Administration hier mehr Sensibilität und mehr Verständnis für die Situation in der Region zeigt. ({0}) Es ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Waffenstillstand eingehalten wird und das Völkerrecht unverletzt bleibt. Wir wiederum wollen den Dialog sowohl zu Marokko als auch zu Westsahara weiter aufrechterhalten, dies im Übrigen auch im Gespräch mit unseren spanischen und unseren französischen Kolleginnen und Kollegen, der Afrikanischen Union, aber auch mit Algerien, die in diesem Konflikt keineswegs eine unproblematische Rolle spielen. Mit Blick auf Westsahara müssen wir allerdings auch unseren Gesprächspartnern in Marokko sagen: We agree to disagree. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin De Ridder. – Das Wort geht an Professor Dr. Lothar Maier von der AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Völkerrecht durchsetzen – das steht über zwei der drei Anträge, die wir hier beraten. Da stellt sich natürlich die Frage: Um welches Völkerrecht handelt es sich in diesem Fall, und wer ist das Volk, das davon betroffen ist? Lassen Sie uns, um den Konflikt in seiner Essenz besser zu verstehen, in der Geschichte ein Stück zurückgehen, 120, 130 Jahre. Damals war das Gebiet der heutigen Westsahara ein politisches Niemandsland. Es gehörte zu keiner der Herrschaften in der gesamten nordwestlichen afrikanischen Region. Aber es war kein wirtschaftliches und es war auch kein kulturelles Niemandsland; dieses Gebiet war wie selbstverständlich ausgerichtet auf das Sultanat in Marokko. Im Übrigen: Dort lebte ja kaum jemand. Es war ein Sandhaufen, ein riesengroßer, ein 250 000 Quadratkilometer großer Sandhaufen. Geändert hat sich daran etwas, als die Spanier das Gebiet für ihre Kolonisationsbestrebungen entdeckten, zunächst aus strategischen Gründen und dann, erst viel später, als sie dort nach Öl suchten, keines fanden, wohl aber Phosphat. Die spanische Kolonie Saguia el Hamra – so hieß das damals seit 1912 – hat diesen einst wirtschaftlich, kulturell, religiös geschlossenen Raum zerschnitten. Wenn Sie sich die Grenzen der heutigen Westsahara, die auch diejenigen der Kolonie Saguia el Hamra waren, anschauen, dann werden Sie feststellen: Die sind mit dem Lineal gezogen. Und da weiß man von vornherein: Da ist keinerlei Rücksicht genommen worden auf ethnische Belange. Mit der Entkolonisierung des Gebietes war damit keineswegs Schluss. Als sich Spanien zurückgezogen hat, ging der große Nordteil der Westsahara an Marokko, der Süden jedoch an Mauretanien. Mauretanien hat sich nach den bewaffneten Konflikten mit der Polisario-Bewegung dort zurückgezogen. Marokko schießt nach und hat jetzt den ganzen Raum besetzt. Gleichwohl erhebt die Polisario, soweit mir bekannt, auch Anspruch auf Teile von Mauretanien. Die Bevölkerungszahl ist inzwischen etwas größer geworden. Sie wird auf insgesamt ungefähr 150 000 geschätzt – das ist nicht viel; das ist eine deutsche Mittelstadt –, auf einem Gebiet so groß wie die alte, westliche Bundesrepublik. 40 000 Menschen davon leben im Übrigen gar nicht in diesem Gebiet, sondern in Lagern in Algerien, wo sie das Rekrutierungspotenzial für die Polisario bilden. Marokko hat das Gebiet wirtschaftlich ganz beträchtlich entwickelt; das ist eben schon erwähnt worden. Die Phosphatproduktion geht weiter, die Fischwirtschaft spielt eine große Rolle. Was aber ist jetzt die Lösung für diesen Konflikt? Man muss sich eines klarmachen: Marokko wird sich aus diesem Gebiet ohne Krieg nicht mehr zurückziehen. Spanien hat das erkannt. Frankreich hat das erkannt. Die USA haben das erkannt. Marokko bietet eine Lösung, die ich für durchaus akzeptabel halte, nämlich eine Autonomie, die eine für alle politischen Gebiete zuständige saharauische Regierung zulässt, mit Ausnahme der Verteidigung und der Außenpolitik. Viel mehr ist im Moment nicht zu erreichen. Die Polisario wird ihren Maximalismus aufgeben müssen, den sie in der Vergangenheit hier praktiziert hat. Daran sollte sich auch die Bundesrepublik orientieren. Pragmatismus ist gefragt und nicht das Festhalten an alten Dogmen. Danke Ihnen. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Maier. – Das Wort hat Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind als CDU/CSU-Fraktion den Antragstellern sehr dankbar, weil diese Debatte einen Konflikt in unsere Mitte ruft, der sehr rasch eskalieren kann. Drei Punkte sind aus unserer Sicht wichtig: Erstens. Bereits mit der Erreichung der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956, vor 65 Jahren, hat Marokko den Anspruch auf die Westsahara erhoben. Bis in die Mitte der 70er-Jahre schwelte der Konflikt, und dann haben wir eine kriegerische Auseinandersetzung, einen Krieg gehabt, der sich über 15 Jahre hinzog und der sehr blutig war. Erst seit Beginn der 90er-Jahre sind die Vereinten Nationen in der Lage, zu versuchen, den Konflikt einigermaßen einzudämmen. Diese Eindämmung des Konflikts ist nur bedingt gelungen, weil die beabsichtigte internationale Befassung bis hin zu einem Referendum mangels Zusammenarbeit der Konfliktparteien auf Eis gelegt ist. Das führt mich zum Zweiten. Im vergangenen Jahr haben Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien Konsulate eröffnet, und zwei Wochen später haben die Vereinigten Staaten von Amerika unter Trump quasi völkerrechtlich Westsahara anerkannt. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2019 immer darauf gedrungen, dass der VN-Prozess durchgesetzt wird. Wir müssen hier unserem früheren Bundespräsidenten und VN-Sonderbeauftragten Köhler hoch dankbar sein, ({0}) dass es ihm gelungen ist, noch bis zum Frühjahr 2019, die Konfliktparteien zusammenzubringen. Er hat aus unterschiedlichen Gründen aufgegeben. Aber durch die Blockade, die auch von Marokko mitverursacht wurde, ist diese Stelle nicht weiter besetzt. Es ist auch unsere Aufgabe, heute in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass diese Blockade schädlich ist. Sie ist auch deshalb schädlich, weil sie zu einer Zuspitzung führt, in falscher Einschätzung der politischen Lage vor Ort. Denn Marokko hat mit der Anerkennung durch die Vereinigten Staaten – die gegen jede völkerrechtlich sinnvolle Handlung war – sämtliche Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft über Nacht eingestellt. Es gibt keine Gesprächskanäle. Außenminister Bourita hat Weisung gegeben, nicht mit der Bundesrepublik Deutschland zusammenzuarbeiten. Und, was uns als Parlamentarier natürlich besonders berührt: Die Zusammenarbeit mit unseren politischen Stiftungen ist auf Eis gelegt. Von der heutigen Debatte muss auch das Zeichen an die marokkanische Botschaft in Berlin gehen: So kann man nicht mit einem Signatarstaat der Vereinten Nationen – von 1973, seitdem sind wir Mitglied – umgehen, ({1}) und so kann man auch nicht mit einem Land umgehen, dessen früherer Bundespräsident sich intensiv für Konfliktmediation und Konfliktlösung eingesetzt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das führt mich zum dritten Punkt. Es ist misslich, dass innerhalb der Europäischen Union Frankreich und Spanien – auch wenn Kollege Professor Maier das lobend herausgehoben hat – sich auch vom völkerrechtlichen Prozess verabschiedet haben. Was ist unsere Aufgabe? Wir können es nicht alleine leisten. Aber es ist Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Union hier für eine Lösung zu sorgen, Herr Staatsminister Annen, und Verbündete in der Afrikanischen Union zu suchen, die, wie beispielsweise Kenia, Südafrika und andere, auch das Verhalten Marokkos missbilligen. Ich denke, dass wir hier sehr gut beraten sind, weiterhin auf dem völkerrechtlichen Prozess zu beharren und alles dafür zu tun, dass die Europäer mit einer Stimme sprechen. Aber eines geht nicht: dass Marokko versucht, die völkerrechtlich relevanten Positionen aufzugeben. Wir appellieren auch an die Biden-Administration, zurückzukehren zum Status quo vor November letzten Jahres. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aktuell sind Deutschlands diplomatische Beziehungen zu Marokko von Spannungen geprägt. Seit dem 1. März herrscht quasi Funkstille zwischen der deutschen Botschaft in Rabat und den marokkanischen Regierungsinstitutionen, und das, obwohl bei meinem Besuch zur Versammlung der Interparlamentarischen Union zum Migrationspakt 2019 die Beziehungen zwischen Deutschland und Marokko noch in bester Ordnung schienen. Doch wie schnell sich das ändern kann – auch trotz unseres starken finanziellen Engagements für Marokko –, haben unsere Diplomaten anhand der Reaktion Marokkos unlängst hautnah erleben müssen. Was war passiert? Liegt die Verschlechterung der Beziehungen nur an einem kleinen diplomatischen Scharmützel? Mitnichten. Vielmehr spielt sich Weltpolitik in und um den Konflikt in Westsahara ab, welcher mit einer der letzten Amtshandlungen von Donald Trump ein neues Level erreicht hat. Nicht umsonst sind die Vereinten Nationen seit Jahrzehnten mit der Mission MINURSO vor Ort, um eine friedliche Lösung zu finden. Doch mit Trumps Anerkennung der Westsahara als Teil Marokkos durch die USA hat er schweren Schaden angerichtet. Manche Beobachter würden sagen, dass er Fakten geschaffen hat. Doch das wäre nicht notwendig gewesen; denn Fakten werden durch internationales Recht und dessen Einhaltung geschaffen. ({0}) Schließlich gilt das Völkerrecht und nicht das Recht des Stärkeren. ({1}) Wenn wir es mit dem Recht genau nehmen – was wir auch machen sollten –, dann müssen auch wir uns für die Umsetzung der Resolution 690 von 1991 zur Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit von Westsahara einsetzen. Lassen wir die Menschen vor Ort sprechen! Doch dies allein und übereilt wird leider keinen Frieden schaffen. Vielmehr brauchen wir jetzt deeskalierende Schritte, Verhandlungen zwischen den verschiedenen involvierten Parteien, vertrauensbildende Maßnahmen und einen neuen UN-Sondergesandten für die Region. Dabei kommt Deutschland in der Vermittlung in diesem Konflikt eine gewichtige Rolle zu, da wir mit unserem Altbundespräsidenten Professor Dr. Horst Köhler den letzten Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für diesen Konflikt stellten. Jedoch wurde diese Position seit seinem Ausscheiden 2019 leider nicht neu besetzt. Umso wichtiger ist es, hier gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft neue Impulse zu setzen. Durch das schwere Erbe von Donald Trump ist die Lösung des jahrzehntealten Konflikts nicht einfacher geworden. Jedoch ist es jetzt umso wichtiger, die richtigen Hebel in Bewegung zu setzen und gemeinsam Verhandlungen aller Parteien unter Einbeziehung der Vereinten Nationen anzustoßen, sodass sich die Ausgangslage nicht verschlechtert. Das inkludiert auch Gespräche mit unseren Partnern in den USA. Die Menschen in der Westsahara und in Marokko haben eine friedliche Lösung verdient. Die Weltgemeinschaft sollte alles dafür tun, damit es dazu kommt. Den Anträgen der Grünen werden wir als FDP-Bundestagsfraktion – Überraschung, Überraschung! – beides Mal zustimmen. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Lechte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen, dass zum Tagesordnungspunkt 7 Abstimmungsende um 19.58 Uhr ist. Wir setzen die Debatte fort mit dem Beitrag von der Fraktion Die Linke, Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, für die perfekte Aussprache. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 45 Jahren nun währt die illegale Besetzung der Westsahara durch die Monarchodiktatur Marokko. Die Befreiungsbewegung Frente Polisario strebt weiter und auch zu Recht nach Unabhängigkeit. Seit 30 Jahren wartet nunmehr die Bevölkerung auf das international vereinbarte Referendum über die Zukunft der Westsahara. Das Regime in Marokko blockiert diese Volksabstimmung und kommt auch noch mit den anhaltenden illegalen Ausbeutungen der natürlichen Ressourcen der Westsahara durch. Insgesamt 66 Resolutionen des UN-Sicherheitsrates sahen die Sahrauis seit 1991 – dazu fünfzehn UN-Sonderbeauftragte, fünf UN-Generalsekretäre und vier Sondergesandte für die Westsahara –, ohne dass sie ihrer Freiheit von der marokkanischen Besatzung nähergekommen sind. Der letzten Kolonie in Afrika wird weiter das Recht auf Entkolonialisierung und Selbstbestimmung verwehrt. Schlimmer noch ist, dass der vorige US-Präsident Donald Trump für einen miesen Deal die illegale marokkanische Besatzung anerkannt hat, und sein Amtsnachfolger Joe Biden tut es ihm gleich. Die Linke jedenfalls steht an der Seite der Sahrauis. Den Sahrauis dürfen nicht länger Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung verwehrt werden, meine Damen und Herren. ({0}) Es ist so, dass die Geduld der entrechteten sahrauischen Bevölkerung an ihre Grenzen gelangt ist. Die Jugend, die nichts anderes kennt als ein Leben im Flüchtlingslager ohne Freiheit und Selbstbestimmung, als ein Leben in Armut und Abhängigkeit von internationalen Hilfslieferungen, will und kann nicht länger stillhalten und die Entrechtung erdulden und ertragen. Ohne jede Perspektive, endlich auf einem friedlichen Weg zu ihrem Recht zu kommen, und angesichts neuer militärischer Gewalt der marokkanischen Militärs hat die Frente Polisario im November 2020 den fast 30 Jahre währenden Waffenstillstand aufgekündigt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Besatzern und antikolonialer Befreiungsbewegung, und nachdem Rabat nun auch noch den Nachbarn Algerien zur wahren Konfliktpartei in der Westsahara erklärt hat, droht gar eine zwischenstaatliche Eskalation in der Region. Deshalb ist es ganz, ganz dringend, jetzt zu handeln, als Bundesregierung und vor allen Dingen als Europäische Union. ({1}) Ich finde, in diesem Zusammenhang – neben Ihrer Kritik, die ich wohl höre, Herr Kiesewetter – muss die Bundesregierung auch anfangen, hier in Richtung Durchsetzung des Völkerrechtes tatsächlich zu handeln. ({2}) Warum ist es deutschen Unternehmen gestattet, sich an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen in den besetzten Gebieten der Westsahara zu beteiligen und weiter diesen Abbau zu betreiben? ({3}) Warum haben Sie sich nicht dafür eingesetzt, dass das Fischerei- und das Agrarabkommen entsprechend dem EuGH-Urteil von 2018 die besetzten Gebiete ausnimmt?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das haben Sie nicht getan, und das, finde ich, ist ein Skandal und ein Armutszeugnis dieser Bundesregierung. In diesem Sinne muss jetzt gehandelt werden. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Dağdelen. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann es mir nicht verkneifen, ich muss etwas zu Ihnen sagen, Herr Dr. Maier. Man kann in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung sein. Aber sich hierhinzustellen und über eine Region mit einer 700-jährigen Geschichte zu sagen: „Das ist doch einfach nur ein Haufen Sand“ und dann zu sagen: „Es gab da nie Leute, es gab noch nie eine Kultur“ – ich war schon mal in El Aaiún; da gibt es eine wunderschöne Altstadt. Wenn Sie das alles ignorieren, wollen Sie diese Realität entweder nicht wahrnehmen, oder es ist einfach nur altkoloniales Denken, und das ist einfach unerträglich. ({0}) Meine Damen und Herren, am 10. Dezember 2020 haben Marokko und Israel eine Übereinkunft darüber erzielt, dass sie ihre Beziehungen normalisieren wollen. Wir wissen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die unsere Unterstützung verdient. Gleichzeitig aber haben die Amerikaner die Souveränität Marokkos über Westsahara anerkannt. Das können und dürfen wir nicht akzeptieren. ({1}) Wenn wir eine multilaterale Ordnung in den internationalen Beziehungen wollen, dann müssen wir das Völkerrecht, die Grundlage dieser Ordnung, achten. Es gibt nicht die eine oder die andere Völkerrechtsgrundlage, es gibt nur ein Völkerrecht. ({2}) Das gilt für die gegenwärtige Annexion der Krim, das galt für die Annexion Osttimors bis 2002, und das gilt natürlich auch für die Annexion Westsaharas. Die Eskalation der Situation in Guerguerat im Oktober 2020 hat es doch gezeigt: Es gibt sehr, sehr viele junge Sahrauis in den von Marokko nicht kontrollierten Gebieten, die einfach nur noch resigniert haben. Es ist gerade gesagt worden: Die Resolution 690 der Vereinten Nationen ist aus dem Jahre 1991, und die dort festgeschriebene Durchführung eines Referendums ist bis heute ausgeblieben. Gleichzeitig versucht Marokko, immer mehr Staaten davon zu überzeugen, die Souveränität des Landes so anzuerkennen, dass sie auch für Westsahara gelten würde. Es gibt mittlerweile über 20 dort eröffnete diplomatische Vertretungen. Das erzeugt bei den Sahrauis Frustration und Resignation, aber eben auch Wut. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Ohne schnelles Handeln droht hier die Gefahr von Radikalisierung und auch von militärischer Eskalation. Dieser Status quo kann deshalb nicht wie bisher einfach hingenommen werden, nach dem Motto: Wird schon gut gehen. Es spricht sehr vieles dafür, dass es nicht einfach gut gehen wird, und das muss verhindert werden, damit in Nordafrika nicht noch ein weiterer Regionalkonflikt eskaliert. ({3}) Um aus dieser Sackgasse zu entkommen, braucht es stetige Initiative. Wir sind sehr dankbar für all das, was Altpräsident Köhler bis 2019 geleistet hat. Es war eine hervorragende, dankenswerte Arbeit. Ich muss jedoch sehen, dass diese Bundesregierung, dass Heiko Maas das Arbeiten an diesem Thema seitdem eingestellt hat, und der Dornröschenschlaf wird erst dann unterbrochen werden, wenn es knallt. Genau in solchen Konflikten kommt man mit dieser Strategie des Nichtstuns nicht weiter. ({4}) Es reicht nicht, nur aktiv zu werden, wenn es eskaliert. Es muss einfach ein stetiger Raum der Initiative da sein, damit die dicken Bretter auch gebohrt werden können. Das bedeutet: mehr Kohäsion innerhalb der Europäischen Union, mehr Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union. Natürlich muss man alles dafür tun, damit die Konfliktparteien wieder an einen Tisch kommen und konstruktiv an Lösungen arbeiten. Und es geht um nicht weniger, als die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten. Dafür müssen wir alles tun, was in unserer Macht steht. Das steht gut nachlesbar in unseren Anträgen für die ich um Ihre Zustimmung bitte. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Nouripour. – Als Nächste hat das Wort Gisela Manderla von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der bereits ausführlich beschriebene Konflikt gilt als einer der vergessenen dieser Welt. Dies scheint unglaublich, nicht nur angesichts der Lage vor Ort, die geprägt ist von menschenwidrigen Umständen, von Gewalt und von Armut, sondern auch im Hinblick auf die geografische Nähe der Geschehnisse; denn es handelt sich um eine Weltgegend, die unmittelbar an Europa grenzt. Die Kanarischen Inseln sind nur ein paar hundert Kilometer weit entfernt. Auch deshalb ist es richtig, dass wir uns hier heute im Bundestag mit diesem Konflikt beschäftigen. Erneute Aufmerksamkeit und Brisanz bekam dieser Konflikt letztes Jahr, als die Trump-Administration einen Deal auf Kosten Dritter einfädelte – das ist auch schon gesagt worden –: die Anerkennung Israels gegen die Billigung der Annexion Westsaharas durch Marokko. Ich möchte es auch noch mal deutlich sagen: Das war ein großer Fehler. ({0}) Mittlerweile jedoch gibt es Anzeichen dafür, dass die USA unter der neuen Administration wieder mehr auf Verhandlungslösungen setzen. Deutschland, liebe Kollegen und Kolleginnen, hat auf diesen unhaltbaren Zustand deutlich hingewiesen und deutliche Kritik an der Trump-Linie geübt. Die Reaktion Marokkos – auch das ist schon gesagt worden, ist allen bekannt – war unversöhnlich. Es folgte ein Abbruch aller Kontakte gegenüber offiziellen, aber leider auch gegenüber inoffiziellen deutschen Stellen. Doch selbst derartig rüde Zurückweisungen werden wir früher oder später überwinden können; davon bin ich fest überzeugt. Denn wenn die deutsche Außenpolitik für etwas steht, dann für die Fähigkeit zur Deeskalation und zur Konfliktmediation, meine Damen und Herren. Deutschland wirkt im Rahmen der Vereinten Nationen kontinuierlich auf eine friedliche und dauerhafte Lösung im Konflikt hin – auch das ist schon gesagt worden –, bis 2019 mit unserem ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Horst Köhler, der sich auch für diese Region unermüdlich eingesetzt hat. Wir haben es hier mit einem Konflikt zu tun, der seit 1975 ungelöst ist. Das bedeutet, dass in diesem Fall neben unermüdlichen Bemühungen auch Geduld und Frustrationstoleranz absolut unerlässlich sind. Der Westsahara-Konflikt mag zwar in den öffentlichen Wahrnehmungen als vergessener Konflikt gelten. Dem deutschen Engagement hat dies aber nie Abbruch getan. Und gerade weil Marokko und die Westsahara auch zukünftig eine noch größere Bedeutung haben werden – ich spreche hier das Thema Windenergie an, das den Menschen einen gewissen Wohlstand bringen wird –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ich komme zum Schluss –, meine Damen und Herren, müssen wir weiter an einer Lösung der Konflikte arbeiten. Wir lehnen jedoch die Anträge der Grünen und der Linken ab. Danke schön. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Manderla. Bevor wir die Aussprache fortsetzen, komme ich zum Tagesordnungspunkt 7 zurück. Die Zeit für die Abstimmung ist vorbei. Gibt es dennoch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das sehe ich nicht. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Es geht weiter in der Debatte mit Kerstin Tack von der SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 29. April 1991 hat der UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 690 verabschiedet; das ist fast auf den Tag genau 30 Jahre her. Das sind 30 Jahre in der Hoffnung und mit dem Wunsch nach Souveränität und nach Anerkennung, 30 Jahre, in denen die Familien auf Zusammenführung gehofft haben, 30 Jahre, in denen diverse Sonderermittler versucht haben, zu schlichten, 30 Jahre, die ein Leben in Flüchtlingslagern unter wirklich schwierigsten Bedingungen bedeuteten. 30 Jahre – und nichts, aber auch gar nichts hat sich bewegt. Die Debatte heute ist deshalb so gut und so richtig, weil sie gerade angesichts der schwierigen Situation, die im Moment in den diplomatischen Beziehungen der Bundesregierung mit Marokko besteht, von diesem Haus ein sehr deutliches Signal aussendet. Darum möchte ich mich ganz herzlich für die Einhelligkeit bedanken, mit der heute alle demokratischen Fraktionen gesagt haben, welche Lösung dieses Konfliktes sie sehen möchten. ({0}) Aber – auch das ist richtig – die Aufkündigung des Waffenstillstandes ist keine Antwort auf 30 Jahre Stillstand. Deshalb muss klar sein, dass sowohl die Frente Polisario als auch die marokkanische Armee aufhören müssen, kämpferische Tätigkeiten auszuüben. Auch das ist ein sehr klares Signal, das dieses Haus in der Bewertung der Situation eint. ({1}) Wer aber möchte, dass der Waffenstillstand wiederhergestellt wird, der muss den Menschen und dem Prozess eine Perspektive geben; denn nur so kann man insbesondere den jungen Leuten, die trauern, weil noch immer nichts passiert ist, Mut machen für weitere Jahre möglicher Gespräche. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung hier ein Zeichen gesetzt hat. Da will ich mich beim Außenminister bedanken; denn er war es, der die Situation – insbesondere nach dem Rückzug von Horst Köhler als UN-Sonderbeauftragtem, aber auch nach den bewaffneten Auseinandersetzungen – im UN-Sicherheitsrat angesprochen und gefordert hat, schnellstmöglich einen neuen Sonderbeauftragten zu installieren und Gespräche zu führen. Dafür möchte ich mich bedanken. Das war ein richtiges Zeichen, das die Bundesrepublik Deutschland hier gesetzt hat. ({2}) Vor zwei Jahren haben wir Aminatu Haidar in dieses Hohe Haus eingeladen, nachdem sie den Alternativen Nobelpreis bekommen hat. Der Deutsche Bundestag hat ihr hierzu nicht nur gratuliert, sondern hat auch seine Unterstützung für ihren Kampf in der Freiheitsbewegung noch mal sehr klar zum Ausdruck gebracht.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn sie heute an dieser Debatte teilgenommen hätte, dann hätte sie gemerkt, dass sie hier echte Unterstützung hat. Das ist ein guter Tag für die Situation in der Westsahara. Wir hoffen alle, dass sie nach über 30 Jahren ein ordentliches Ende findet. Das haben alle Parteien, aber insbesondere die Menschen im Land verdient. Herzlichen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Zum Abschluss der Debatte spricht Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Kollegin Tack, das sind 30 Jahre, in denen es viele Initiativen gegeben hat, die aber wenig gefruchtet haben, und das in einer Region, in der es Flüchtlingslager gibt; das ist angesprochen worden. Deswegen dürfen und können wir nicht ruhen. Wenn ich den Antrag der Grünen mit der Liste der Aufforderungen lese, lieber Kollege Nouripour, kann ich feststellen, dass die Bundesregierung in der Tat beide Seiten zur Besonnenheit, zu Gewaltverzicht und Deeskalation aufruft. Auch die Forderungen in den Punkten zweitens bis fünftens werden eigentlich alle beachtet – und trotzdem bewegt sich nichts. ({0}) Danke an die Bundesregierung. Wir haben im Sicherheitsrat zwar etwas gemacht, aber das wird wohl nicht ausreichend sein. Ich empfehle, dass wir den Blick auch auf unsere Freunde, Nachbarn und Mitglieder in der Europäischen Union richten. ({1}) Wenn ich heute das Fischereiabkommen sehe, das ich in früheren Zeiten mit zu beobachten hatte, und die Umsetzung im Anschluss an das Urteil des EuGH – na ja. Da ist der Begriff „Pragmatismus“ nicht so ganz weit weg. Ich denke, dass dies auch ein Zeitpunkt sein sollte, in dem wir uns in der Europäischen Union trotz der bekannten Unterschiedlichkeiten in den Positionen mit den Freunden in Paris und in Madrid über die Fragen zum Völkerrecht und zur gemeinsamen Vorgehensweise besprechen. In der Tat: Niemand will eskalieren, jeder will deeskalieren. Das heißt auch, dass man vernünftige Wege gehen können muss, um einen Modus Vivendi zu finden, auch ohne die Probleme endgültig rechtlich gelöst zu haben. Wir haben noch einige andere Konfliktbereiche, wo das Völkerrecht eine eminent wichtige Rolle spielt. Lassen Sie mich nicht nur die Krim ansprechen – sie ist schon genannt worden –, sondern auch die Ostukraine im negativen Sinne mit all dem, was sich da in der nächsten Zeit hoffentlich nicht bewegen wird. Da ist es wichtig, dass wir klar und deutlich bleiben, und das geht nur mit der Europäischen Union und mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Das Quidproquo war ein diplomatischer und völkerrechtlicher Hammer, den sich Donald Trump kurz vor Ausscheiden aus seinem Amt geleistet hat, also die Regelung, die Anerkennung Israels und diplomatische Beziehungen gegen einen Völkerrechtsbruch auszutauschen. Das kann es nicht sein. Ich vertraue in die Administration Biden und hoffe, dass wir zu diesen Themen in ein vernünftiges Gespräch kommen und es dann wieder ein Stück in die richtige Richtung für eine friedliche Entwicklung des Westsahara-Konfliktes geht. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Schmidt.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute befassen wir uns mit der Mandatsverlängerung von EUNAVFOR MED Irini. Ich möchte dies gleich mit dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten verknüpfen, die bei dieser Mission, bei diesem Mandat aktiv sein müssen. Sie haben Ihren Applaus verdient. ({0}) Primäres Ziel des VN-Mandates ist die Kontrolle und Durchsuchung von Schiffen zur Durchsetzung des Waffenembargos in Libyen. Zweitens sollen illegale Ausfuhren von Erdöl aus Libyen verhindert und Informationen darüber gesammelt werden. Fortlaufend wird das Libyen-Expertenpanel der Vereinten Nationen über Verstöße gegen das Waffenembargo informiert, und dies erhöht den Druck auf alle beteiligten Parteien, Verstöße auch tatsächlich zu unterlassen. Drittens unterstützt Irini den Aufbau von Kapazitäten der libyschen Küstenwache sowie die Ausbildung für die Wahrnehmung von Strafverfolgungsaufgaben auf hoher See. Der Libyenkonflikt ist leider längst zum Stellvertreterkrieg geworden. So haben insbesondere die Türkei, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten jeweils unterschiedliche Konfliktparteien unterstützt und mit Waffen versorgt. Die Folge: unsagbares menschliches Leid für die Zivilbevölkerung und insbesondere für Flüchtlinge in Libyen. Deutschland hat sich im libyschen Friedensprozess als Facilitator und Mediator bewiesen. Die Berliner Konferenz im Januar des vergangenen Jahres ist ein zentraler Meilenstein, und Bundesaußenminister Heiko Maas und die Bundeskanzlerin sowie der UN-Sonderbeauftragte Salamé haben die Konfliktparteien und deren Unterstützer an einem Tisch vereinen können. Der politische Prozess, liebe Kolleginnen und Kollegen, nahm dadurch einen guten Start. Zwar hat das Expertenpanel der UNO in seinem letzten Bericht weiterhin Menschenrechtsverletzungen in Libyen aufgelistet, so auch Angriffe gegen staatliche Institutionen; gleichwohl ist dort auch von spürbaren Verbesserungen die Rede. Seit Juni letzten Jahres etwa gibt es wesentliche Kampfhandlungen nicht mehr, und im Oktober des vergangenen Jahres ist ein Waffenstillstandsabkommen in Kraft getreten. Wir dürfen hoffen, dass Ende dieses Jahres dort auch Wahlen stattfinden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in Libyen brauchen wieder einen funktionierenden Staat und keine Anarchie. Sie brauchen soziale Infrastrukturen und unsere Unterstützung aus diesem Hohen Haus. Bewaffnete Kämpfer müssen entwaffnet werden. Auch sie benötigen dringend eine berufliche Perspektive, um ihren Lebensunterhalt anders als durch Kriegshandlungen sichern zu können. Der Versöhnungsprozess und die Friedensmediation müssen deshalb weitergeführt werden. Dafür ist allerdings ein Waffenstillstand unabdingbar. Irini als Instrument zur Verhinderung von Waffenlieferungen an Konfliktparteien kann daher ein wichtiges Zeichen setzen, darf aber nicht von anderen Kontrollmechanismen und erst recht nicht von Friedensverhandlungen abgekoppelt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, EUNAVFOR MED Irini bietet eine tatkräftige Unterstützung für den Berliner Prozess in Libyen. Lassen Sie uns daher gemeinsam mit unseren Verbündeten im Interesse des Friedens in der Mittelmeerregion weiter daran arbeiten. Ich bitte um Unterstützung für dieses Mandat. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin De Ridder. – Das Wort geht an den Kollegen Jan Nolte von der AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zuletzt gab es ja durchaus mal erfreuliche Nachrichten aus Libyen. Es hat sich eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, und diese soll dann am 24. Dezember Wahlen durchführen. Man kann wirklich nur hoffen, dass das auch gelingt und nichts dazwischenkommt. Und ja, sicherlich haben auch die diplomatischen Bemühungen der Bundesregierung daran ihren Anteil gehabt. Operation Irini allerdings, über die wir heute reden, hat nicht das Potenzial, substanzielle Beiträge zur Verbesserung der Lage in Libyen zu leisten; wir haben es ja deutlich gesehen im letzten Jahr. Wir haben einfach keine Handhabe, Schiffe zu durchsuchen, wenn der Flaggenstaat dem widerspricht. So kann man keine Waffenschmuggler aufhalten. ({0}) Operation Irini wird so zu einem weitgehend symbolischen Einsatz. Könnten wir die Waffenschmuggler aufhalten, würde sich das übrigens sehr asymmetrisch auswirken, hauptsächlich auf eine Konfliktpartei. Aber wir können es nicht. Operation Irini ist ein zahnloser Tiger. Obendrein besteht noch Potenzial, dass Operation Irini zum Pull-Faktor für illegale Migration wird, mit allen negativen Begleiterscheinungen. Deswegen werden wir das heute ablehnen. ({1}) Das Prinzip, das man hier anwenden möchte, ist das Prinzip des Naming and Shaming. Man möchte also diejenigen, die Waffen nach Libyen bringen, vor der Weltöffentlichkeit benennen und bloßstellen. Aber da kommen wir wieder zu dem, was ich schon angesprochen habe: Wenn man gar nicht auf ein Schiff kommt, um festzustellen, dass Waffen geschmuggelt werden, dann hat man natürlich auch keine Grundlage dafür, einen Waffenschmuggler vor der Weltöffentlichkeit zu benennen. Der ganze Ansatz des Naming and Shaming funktioniert so natürlich nicht. Man hat das trotzdem ein bisschen mit Erdogan probiert. Weil er sich der Durchsuchung seiner Schiffe widersetzt hat, hat man versucht, das Prinzip des Naming and Shaming trotzdem anzuwenden. Aber schauen wir doch mal auf das vergangene Jahr. Hat wirklich jemand den Eindruck, dass Erdogan kleine Brötchen gebacken hätte oder dass er irgendwie eingeschüchtert gewesen wäre? Ich habe nicht den Eindruck. Er hat sich aggressiv gegenüber Griechenland verhalten, er hat sich aggressiv gegenüber Frankreich verhalten, und als die EU-Kommissionspräsidentin bei ihm war, hat er sie kurzerhand auf die hinterste Ecke seines Sofas gesetzt und wirkte auch nicht besonders eingeschüchtert. ({2}) Also, dieser Ansatz funktioniert nicht. Trotzdem müssen wir natürlich in Libyen dranbleiben; denn dass der Frieden hält, ist nicht klar. Khalifa Haftar ist nicht so in der neuen Regierung repräsentiert, wie er sich das gewünscht hätte, und die libysche Armee vermeldet, dass ihm vor Kurzem wieder Waffen aus Ägypten geliefert worden seien. Aber – ich hab es schon mehrmals gesagt – Operation Irini ist hier nicht das richtige Werkzeug. Hier muss man diplomatisch weiter aktiv sein, mit den Akteuren sprechen, nicht nur innerhalb Libyens; das hat die Vorrednerin eben angesprochen. Es gibt viele Staaten außerhalb Libyens, die Interessen in Libyen haben, die Waffen liefern. Wir brauchen, gerade was die Waffenlieferungen an General Haftar angeht, endlich eine Handhabe, dass das aufhört, und es müssen natürlich die Söldner aus Libyen abgezogen werden. Für ein entsprechendes diplomatisches Vorgehen hat die Bundesregierung auch die Unterstützung der AfD, aber nicht für diesen Einsatz, der ein zahnloser Tiger ist und der das Potenzial birgt, sich zum Pull-Faktor zu entwickeln. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Nolte. – Das Wort geht an den Kollegen Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Oktober herrscht Waffenstillstand in Libyen. Das bedeutet, dass nach nahezu zehn Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen die Waffen erstmals schweigen. ({0}) Das verdanken wir in besonderem Maße dem Berliner Prozess, der von der Bundesregierung lange schon angestoßen und erfolgreich seit Februar letzten Jahres umgesetzt wird. Ich freue mich sehr, dass Sie, Herr Außenminister, dieser Debatte durch Ihre Anwesenheit die Anerkennung verleihen, die die Bundesregierung umgekehrt für diesen Ansatz verdient. Ich möchte ausdrücklich sagen: Was das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt seit Februar letzten Jahres hier leisten, verdient die Anerkennung auch dieses Hauses. ({1}) Denn dadurch, dass die Konfliktparteien an einem Tisch sitzen, dadurch, dass wir Ende dieses Jahres Wahlen haben werden, gelingt es auch, innerhalb Libyens die Konfliktparteien, die dort einen fürchterlichen Drohnenkrieg geführt haben, an einen Tisch zu bringen. Durch den Berliner Prozess ist es auch gelungen, die externen Einflussstörgrößen, wie sie eben benannt wurden – die Türkei oder Russland oder der eine oder andere arabische Staat –, mit einzubeziehen. ({2}) Was bedeutet das für die Bundesrepublik? Wir sind auf der einen Seite im Berliner Prozess auf der diplomatischen Ebene gebunden; aber das reicht nicht aus. Deshalb brauchen wir die Operation Irini, und deshalb unterstützen wir als Unionsfraktion zusammen mit unserem Koalitionspartner diese Operation der Europäischen Union im Mittelmeer. Es ist ein sehr schlechtes Zeichen, wenn eine der hier anwesenden Fraktionen diese Operation als Pull-Faktor für Migration bezeichnet und damit die Ablehnung begründet. Genau darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir als Bundesrepublik Deutschland mit unserer Marine, mit unserer Luftwaffe Präsenz zeigen in der Embargokontrolle, damit kein Öl geschmuggelt wird. Was das bedeutet, hat Haftar über acht Monate gezeigt, als er eine Blockade verursacht hat. Und das zeigt auch, dass wir Störern im europäischen Umfeld, wie der Türkei, aufzeigen, dass das Verhalten von uns nicht gebilligt wird. Es entstand für die Türkei ein großer diplomatischer Schaden durch die Art und Weise, wie sie mit der Operation Irini umgegangen ist. Das führt mich zum dritten Punkt. Natürlich gibt es Schwachstellen in der Operation. Sie aber nicht zu leisten, würde den politischen Prozess schwächen. Durch die Operation zeigen wir zumindest seeseitig sehr klar auf, dass diejenigen, die schmuggeln wollen, bei Bedarf kontrolliert werden. Wo aber ist Handlungsbedarf? Zum einen bei der Durchsetzung der Sanktionen und zum anderen – das klang vorhin an – in der Frage, wie wir landseitig den Schmuggel über die Grenze von Ägypten überwachen. Auch das gilt es anzusprechen. Wie wir sehen, hat sich die Operation über die vergangenen Monate immer weiter entwickelt, und es muss in unserem Interesse sein, dass nicht nur mögliche Verbindungswege zur international anerkannten Regierung kontrolliert werden, sondern dass auch die Opposition bzw. die Gegner um Haftar stärker einer Kontrolle unterworfen werden. ({3}) Da wir morgen eine Aktuelle Stunde zu Russland haben, lassen Sie mich hier auch ganz gezielt ansprechen, dass dies insbesondere mit dem Vorgehen, das Russland gegenwärtig zeigt, nicht mehr vereinbar ist, also damit, wie dort die „Gruppe Wagner“ als privates Sicherheitsunternehmen im Auftrag der Duma, im Auftrag des Kreml handelt. Deshalb ist es so wichtig, den diplomatischen Prozess, den Berliner Prozess, und die Embargodurchsetzung über Irini gemeinsam zu handhaben. In dem Sinne werbe ich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die europäische Mission Irini haben wir in der FDP-Fraktion von Anfang an kontrovers diskutiert, und wir haben uns die Entscheidung dazu nicht leicht gemacht. Mit Irini werden richtige und wichtige Ziele verfolgt; aber man ist leider an vielen Stellen nicht bereit, das Nötige zu tun, um diese Ziele auch zu erreichen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, und das zieht sich wie ein roter Faden durch diese „neue“ Mission. Das begann schon mit der Entstehung von Irini als Nachfolgerin der Mission Sophia. Bei Sophia zählte die Bekämpfung von Menschenhändlernetzen bekannterweise noch zu den Hauptzielen; bei Irini ist es nur noch eine Sekundäraufgabe. Diese Herabstufung liegt aber nicht daran, dass wir hier schon viel erreicht hätten, sondern daran, dass die Flüchtlingsthematik in Europa schlicht äußerst umstritten ist und man sie deshalb nicht ganz oben auf die Agenda setzen wollte. Das Mittelmeer ist nach wie vor die Grabstätte unzähliger verzweifelter Flüchtlinge, die vergeblich versuchten, nach Europa zu kommen. Aber der österreichische Kanzler Kurz hat mit seinen rechtspopulistischen Freunden in Europa dafür gesorgt, dass wir nicht mehr so genau hinsehen, und das ist ein Armutszeugnis für die Europäische Union und ihre moralischen Werte. ({0}) Für die Zeit unserer EU-Präsidentschaft – das wäre jetzt der Moment, aufzupassen, Herr Bundesaußenminister – hatten wir uns eigentlich vorgenommen, bei der Flüchtlingsthematik etwas voranzubringen. Das hatte zumindest Bundesinnenminister Seehofer von der CSU vollmundig angekündigt. Aber passiert ist nichts. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier bei der Bundesregierung, wie so oft, weit auseinander. Das Gleiche gilt für das Hauptziel der Irini-Mission, die Überwachung des UN-Waffenembargos gegen Libyen. Das Waffenembargo ist ein wesentlicher Bestandteil des Friedensprozesses in Libyen und damit auch ein Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung nicht nur in Libyen, sondern in der ganzen Region bis zu den Sahelstaaten. Umso blamabler ist es, wie wir jetzt dieses Waffenembargo durchsetzen bzw. eben nicht durchsetzen. Die türkische Seite ist hier schon erörtert worden. Deswegen springe ich ein wenig, um im Zeitrahmen zu bleiben. Es kommt noch grotesker. Mit der EU-Mission Irini und der NATO-Mission Sea Guardian haben wir zwei Missionen im Mittelmeer mit überlappenden Aufgabenbereichen; aber die Türkei hat als NATO-Mitglied dafür gesorgt, dass diese beiden Missionen nicht mehr Informationen über die Lage austauschen dürfen, wie das vorher bei der EU-Mission Sophia der Fall war. Wie absurd ist das denn? Wir haben im Auswärtigen Ausschuss darauf hingewiesen, aber ich habe bis heute noch keine vernünftige Antwort der Bundesregierung bekommen, wie wir da mit unseren Partnern in der NATO auf einen vernünftigen Weg kommen. Das kann nicht sein, und es kann auch nicht sein, dass wir uns da von der Türkei so an der Nase herumführen lassen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich bewundere unsere Soldatinnen und Soldaten, die trotz solch widersprüchlicher Signale aus der Politik eine hervorragende Arbeit machen. Vielen herzlichen Dank dafür! Wir als FDP-Fraktion stimmen dem Mandat zu, weil wir die Ziele teilen, legen aber auch einen Entschließungsantrag vor, in dem wir die Hausaufgaben aufgeschrieben haben, die die Bundesregierung noch erledigen muss. Es wäre sehr schön, wenn das Haus diesem wunderbaren Antrag folgen würde. Ich weiß, dass ihn hier gleich wieder alle ablehnen werden; aber eigentlich ist dieser Antrag Entschließungsantrag die perfekte Blaupause, wie man die Probleme dieses Mandats angehen könnte. Deswegen wünsche ich frohes Lesen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Lechte. – Das Wort geht an die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte daran erinnern: Die Bundeswehr wird aus Afghanistan abziehen; die Bilanz ist jetzt schon verheerend. Es wäre eigentlich gut, wenn die Fraktionen, die diesem Krieg jahrelang zugestimmt haben, auch mal Lehren daraus ziehen und endlich die Bundeswehr aus anderen Auslandseinsätzen abziehen würden. ({0}) Heute geht es um die Folgen eines weiteren NATO-Krieges, und die sind nicht minder gravierend als die in Afghanistan. In diesem Monat jährt sich die NATO-Intervention in Libyen zum zehnten Mal. Deutschland hat der Resolution für die Flugverbotszone aus guten Gründen im UN-Sicherheitsrat nicht zugestimmt. ({1}) Denn daraus wurde ja dann ein brutaler Regime-Change-Krieg in Libyen. Infolge des NATO-Krieges ist Libyen ein völlig zerstörtes Land, geteilt in Ost und West, zwischen Warlords und islamistischen Terrormilizen. Mühsam versucht die internationale Gemeinschaft, dort einen Friedensprozess zu etablieren. Die EU-Marinemission trägt den griechischen Namen „Irini“, auf Deutsch „Frieden“ – dazu kann ich nur sagen: George Orwell lässt grüßen –, und soll zur Stabilisierung Libyens beitragen, indem sie den Waffen- und Ölschmuggel in das Land unterbindet. Allein, die Mission hat damit nur wenig zu tun. Denn die türkischen Waffenlieferungen an Tripolis wollen und können Sie gar nicht unterbinden, da der NATO-Partner Türkei auch nicht davor zurückschreckt, militärisch gegen die sogenannte Friedensmission vorzugehen. Es geht hier also allein um einen geopolitischen Fußabdruck in der Region, nicht darum, Waffenschmuggel zu unterbinden. ({2}) Sie täuschen hier ganz offensichtlich die Öffentlichkeit. Und es geht um die Flüchtlingsabwehr. So wird die berüchtigte sogenannte libysche Küstenwache ertüchtigt, der massive Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge vorgeworfen werden. Ich frage schon, Herr Maas: Wie viel Menschenverachtung braucht man eigentlich, um Leute ausbilden zu wollen, die andere quälen und sterben lassen? ({3}) Die Mission Irini wurde gegenüber der Vorgängermission Sophia sogar bewusst weg von den Migrationsrouten in die Gewässer vor der Ostküste Libyens verlegt, damit ihre Schiffe nicht länger Flüchtlingsbooten begegnen, die dann gerettet werden müssten. So wurde sage und schreibe bisher kein einziger Mensch von der Mission Irini vor dem Ertrinken gerettet. In 2020 und 2021 sind bisher nach offiziellen Zahlen indes fast 2 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Gleichzeitig werden zivilgesellschaftliche Seenotrettungsschiffe immer wieder durch EU-Staaten am Auslaufen gehindert. Solange diese zynische Praxis anhält, haben Sie hier keinerlei Berechtigung, anderen Ländern etwas vom Schutz der Menschenrechte erzählen zu wollen. ({4}) Beenden Sie diese unsinnige, kostspielige und zynische Mission endlich! Meine Fraktion stimmt gegen diese Verlängerung des Bundeswehrmandats und setzt sich stattdessen für eine zivile Seenotrettung gegen das Sterben im Mittelmeer ein. Diese kann dann auch gerne den Namen Irini tragen. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Hänsel. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mitte März hat das private Seenotrettungsschiff „Ocean Viking“ innerhalb von 48 Stunden etwa 350 Menschen aus Seenot gerettet. Im ersten Quartal dieses Jahres wurde im Rahmen der Mission Irini hingegen keine einzige Person gerettet. Der Grund ist nicht, dass es keine Menschen gibt, die man retten muss, sondern der Grund dafür ist, dass politisch so entschieden worden ist, dass das Operationsgebiet im Gegensatz zu dem von Sophia genau so festgelegt ist, dass man vor dem Sterben im Mittelmeer gut die Augen verschließen kann. ({0}) Das ist einer der Gründe, warum dieser Antrag für uns nicht zustimmungsfähig ist. ({1}) Gleiches gilt auch für die Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache. Diese Küstenwache, zutiefst involviert in Kriminalität und Verbrechen aller Art, ist zwar nicht Teil der derzeit laufenden Mission, aber die Möglichkeit, dass ihre Beteiligung jederzeit wieder aufgenommen wird, ist bei Irini enthalten. Auch deswegen können wir diesem Mandat heute nicht zustimmen. ({2}) – Ich habe noch nichts über das Thema ausgeführt, über das Sie sich aufregen. Deshalb ist es gesünder, wenn man erst zuhört und sich dann aufregt. ({3}) Ich möchte jetzt erklären, warum wir dennoch auch sehr viel Gutes in Irini sehen. Es gibt die grundsätzliche Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, dass keine Waffen mehr nach Libyen kommen. Es gibt ein Expertengremium der Vereinten Nationen. Das hat vor Kurzem einen sehr beeindruckenden Bericht von über 500 Seiten vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie 2020 über 600 militärische Transportflüge nach Libyen unternommen wurden, und in dem dokumentiert wird, wie das Embargo von den Vereinigten Arabischen Emiraten, von Ägypten, von Russland, von der Türkei und von Jordanien gebrochen wird. Es gab allein 600 Militärtransportflüge von den VAE und Russland nach Libyen. Nun ist das Entscheidende für uns, warum wir uns enthalten, dass Irini genau bei dieser Dokumentation einen wichtigen Beitrag geleistet hat und auch weiterhin leistet. Diese Dokumentation durch die Vereinten Nationen ist von großer Bedeutung, ({4}) damit endlich eines Tages hoffentlich auch von der Bundesregierung die Namen der Embargobrecher benannt werden. Ich sage es noch mal: Das sind Russland, Jordanien, Vereinigte Arabische Emirate, Ägypten und die Türkei. ({5}) – Ich bitte Sie: Melden Sie sich, und stellen Sie Fragen, dann können wir uns unterhalten; aber man kommt schon akustisch bei Ihren vielen Zwischenrufen nicht mit. – Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal deutlich machen, dass es wirklich unerträglich ist, dass die Bundesregierung all diese von Irini gewonnenen Informationen schlicht nicht nutzt, um die Embargobrecher zu benennen und, noch schlimmer, nicht einmal darüber nachdenkt, an genau diese Staaten keine Rüstungsexporte mehr zu genehmigen. ({6}) Das führt das gesamte Regime des Berliner Prozesses und die Frage von Waffenembargos und des Monitorings komplett ad absurdum. Deshalb ist dieses Mandat für uns definitiv nicht zustimmungsfähig. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Ursula Groden-Kranich. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mission Irini trägt den Namen einer Friedensgöttin und will genau das: als substanzieller Beitrag der Europäischen Union daran mitarbeiten, dass Libyen zu Frieden und Stabilität findet. Wenn es dort Stabilität gäbe, wäre dies ein gutes Signal für diese sehr schwierige Situation in der gesamten Region. Deutschland bringt sich wie schon bei der Vorgängermission Sophia mit ein und hat unter anderem im September 2020 bewiesen, wie sinnvoll und notwendig dieser Einsatz im Mittelmeer ist, um das VN-Waffenembargo gegen Libyen effektiv zu überwachen und durchzusetzen. Denn die Fregatte „Hamburg“ stoppte damals einen Tanker mit militärisch nutzbarem Kerosin und konnte so eine der Kernaufgaben der Mission umsetzen. ({0}) Deutschland engagiert sich in Libyen aber auch mit erheblichen Mitteln im Bereich der humanitären Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit. Unser Ansatz ist die langfristige Unterstützung eines Dialogs und Friedensprozesses, der alle politischen Akteure mit einbezieht und die Zivilgesellschaft nicht außen vor lässt. Die messbaren Erfolge der letzten Jahre bestärken uns genau wie die Vereinten Nationen in diesem Engagement. Die Zahl der innerstaatlichen Flüchtlinge und Migranten, die in sogenannten Detention Centers festgehalten werden, hat sich in den letzten vier Jahren seit 2017 von über 20 000 auf etwa 2 700 Menschen verringert. Dennoch gibt es weiterhin viel zu tun und vieles, was uns Sorgen bereit, von den zusätzlichen Auswirkungen durch die Coronapandemie ganz zu schweigen. Aufseiten beider Konfliktparteien gibt es weiterhin Verstöße gegen das Waffenembargo. Auf beiden Seiten stehen weiterhin Söldner im Land bereit. Der Waffenstillstand bleibt fragil, und die Herstellung einer legitimen Übergangsregierung steht als weitere große Herausforderung im Raum. Daher bleiben auch die Präsenz der europäischen Streitkräfte im Mittelmeer und die Beteiligung der Bundeswehr aus unserer Sicht absolut notwendig. Die Operation Irini wurde am 31. März 2020, kurz nach der Berliner Libyen-Konferenz, eingeleitet, die ein wirklicher Meilenstein für den libyschen Friedensprozess war. Irini war zunächst bis zum 30. April dieses Jahres befristet und soll nun um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die Bundeswehr beteiligt sich im Wechsel mit einem Seefernaufklärungsflugzeug und einem Schiff an der Operation. Derzeit befindet sich der Einsatzgruppenversorger „Berlin“ im Einsatzgebiet. Hinzu kommt Personal im operativen Hauptquartier in Rom und auf dem Flaggschiff. Die Personalobergrenze soll weiterhin bei 300 Menschen liegen. Ich werbe um breite Zustimmung für die Mandatsverlängerung. So können wir deutlich machen, dass wir hinter diesem wichtigen Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten stehen. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Groden-Kranich. – Als Nächstes geht das Wort an die SPD-Fraktion mit Dirk Vöpel. ({0})

Dirk Vöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004433, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Hauptaufgaben der Operation EUNAVFOR MED Irini gehört es, zur Umsetzung des durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängten Waffenembargos gegen Libyen einen Beitrag zu leisten. Darüber hinaus soll Irini zur Verhinderung der illegalen Ausfuhr von Erdöl aus Libyen beitragen. Die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Operation Irini ist Teil des gemeinsamen Handelns der Europäischen Union im Kontext der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP. Sie unterstreicht das beständige europäische Engagement Deutschlands und entspricht der Verpflichtung im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, substanzielle Unterstützung zu GSVP-Einsätzen zu leisten. Für die deutsche Beteiligung wird die Obergrenze von 300 Soldatinnen und Soldaten beibehalten. Damit kann eine Teilnahme mit einer seegehenden Einheit und einem Seefernaufklärer erfolgen. Darüber hinaus wird Stabspersonal in die Operationsführung eingebracht. Unser Beitrag – es wurde gerade schon erwähnt – besteht seit dem 17. März aus dem Einsatzgruppenversorger „Berlin“, dem Stabspersonal für das Operationshauptquartier in Rom sowie aus dem Personal auf dem Flaggschiff der Operation, der italienischen „Carlo Margottini“. Mit Stand 12. April waren 198 unserer Soldatinnen und Soldaten konkret im Einsatz. Ihnen gilt unser Dank. ({0}) Durch die vielseitigen Aufklärungsfähigkeiten wird die Erstellung eines engmaschigen Lagebildes hinsichtlich etwaiger Embargoverstöße insbesondere auf hoher See möglich. Die beschafften Informationen dienen, unter anderem durch Weitergabe an das Expertenpanel der VN, einer verstärkten Transparenz innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Somit werden die politische Sichtbarkeit von Staaten, die gegen das Waffenembargo verstoßen, und der Druck durch die internationale Gemeinschaft erhöht. Da bei Durchsuchungen die Zustimmung des Flaggenstaates notwendig ist, kann die Mission eine effektive Kontrolle des Waffen- und Ölembargos nicht gewährleisten. Eine wirksame Kontrolle wäre nur dann möglich, wenn eine Durchsuchung auch ohne Zustimmung bzw. gegen den Widerstand des Flaggenstaates durchgeführt werden könnte. Hierzu müsste jedoch der VN-Sicherheitsrat einen rechtlichen Rahmen schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die politischen Ziele des Mandates sind zu begrüßen. Bei allen bekannten Schwächen bei der Ausgestaltung der Mission werden wir einer Verlängerung zustimmen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Vöpel. – Zum Abschluss der Debatte hören wir Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen beginnt die Konferenz zur Zukunft Europas. Was hat das jetzt mit der Mission Irini zu tun? Ich meine, eine ganze Menge. Es wird bei der Frage nach der Zukunft Europas auch darum gehen: ({0}) Welche Rolle nehmen wir in der Welt wahr, und welche Verantwortung übernehmen wir im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik? Eine Antwort wird und muss sein, dass sich Europa in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zur Stabilisierung und zum Erhalt des Friedens stärker engagieren muss, und das tut Europa mit dieser Mission. ({1}) Wenn man sich ansieht, wo wir in den letzten zehn Jahren standen und wo sich Libyen heute befindet, dann muss man eines feststellen: Es hätte noch vor drei oder vier Jahren niemand gedacht, dass in einem Land, das zerrissen ist in kriegerischen Auseinandersetzungen, das zerfällt, das ein Failed State ist, ein Friedensprozess und Stabilisierung nicht nur möglich erscheinen, sondern tatsächlich in Gang gekommen sind. Es gibt eine Übergangsregierung. Am 24. Dezember sollen Wahlen stattfinden. Eine Waffenruhe ist vereinbart. Das ist ein Erfolg deutscher und europäischer Außenpolitik. Diese Mission hat den politischen Prozess befördert, zu diesem Erfolg zu kommen, und das darf nicht kleingeredet werden. ({2}) Und ja, bei dieser Mission ist nicht alles perfekt. Aber es geht hier um Entscheidendes. Es geht darum, dass der Konflikt nicht von Neuem entfacht werden kann durch illegale Waffenlieferungen. Es geht um die Verhinderung von schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenrechtsverletzungen. Und es geht darum, dass Europa eine klare Botschaft aussendet. Deswegen bitte ich Sie, vor dem Hintergrund dieser Gesamtgemengelage zuzustimmen, weil auch wir ein Interesse haben, dass sich diese Region stabilisiert und dass das Versprechen von Frieden, von geordneten Verhältnissen und von freien Wahlen auch in diesem Teil der Erde eingehalten wird. Ich bitte Sie um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({3})