Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/16/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die letzte Beratung von Bund und Ländern zur Pandemiebekämpfung am 22. März 2021 habe ich – das habe ich ja auch öffentlich gesagt – als Zäsur empfunden. Ich weiß, dass es nicht nur mir so gegangen ist, sondern vielen von uns. Zugleich wissen wir: Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen die dritte Welle der Pandemie bremsen und den rapiden Anstieg der Infektionen stoppen. ({0}) Um das endlich zu schaffen, müssen wir die Kräfte von Bund, Ländern und Kommunen bessern bündeln als zuletzt. Deshalb ziehen wir jetzt die im Wortsinne notwendigen Konsequenzen aus der Zäsur des 22. März. Am Dienstag hat die Bundesregierung dazu den Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Kabinett beschlossen, und heute beraten wir ihn in erster Lesung in diesem Hause. ({1}) Diese Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes heißt – auf den wichtigsten Nenner gebracht –: Wir setzen die Notbremse bundesweit um. Die bundeseinheitlich geltende Notbremse ist nach meiner Überzeugung dringend, sie ist überfällig. ({2}) Denn ich muss es auch heute leider wieder sagen: Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst. Wir alle müssen sie auch ernst nehmen. Die dritte Welle der Pandemie hat unser Land fest im Griff. Das sagen die täglichen Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts, das sagt die Entwicklung des R‑Werts, und das sagen vor allem die Zahlen der belegten Intensivbetten, gerade auch in dieser Woche. Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen. ({3}) Wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden? ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das dürfen wir nicht. Wir dürfen Ärzte und Pfleger nicht alleine lassen. ({5}) Alleine können sie den Kampf gegen das Virus in dieser dritten Welle auch mit bester medizinischer Kunst und dem aufopferungsvollsten Einsatz nicht gewinnen. Sie brauchen unsere Unterstützung. ({6}) Sie brauchen die Unterstützung von Staat, Politik, Gesellschaft. Ärzte und Pfleger brauchen die Unterstützung von uns Bürgerinnen und Bürgern, von uns allen. Deshalb müssen wir unsererseits alles tun, um die dritte Welle zu bremsen, um sie zu brechen und sie umzukehren. Deshalb müssen wir die Pandemiebekämpfung von Bund und Ländern mit der bundesgesetzlichen Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes auf neue Füße stellen. Genau das ist die bundeseinheitliche Notbremse, über die wir heute beraten. Wo die Inzidenz über 100 liegt, sollen künftig bundeseinheitliche Regelungen gelten. Die Notbremse ist dann nicht mehr Auslegungssache, sondern sie greift automatisch. Und neben der schon im Arbeitsschutzrecht vereinbarten Pflicht zum Homeoffice – wo immer das möglich ist – und der Pflicht von Arbeitgebern, in Zukunft – ab nächster Woche – Tests mindestens einmal in der Woche, zum Teil auch zweimal in der Woche, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzubieten, ({7}) bin ich mir sehr wohl bewusst, dass hier in diesem Gesetz harte Einschränkungen vereinbart werden für alle Kreise, in denen die Inzidenz oberhalb von 100 liegt: ({8}) Kontaktbeschränkungen, Schließungen von Geschäften, Kultur- und Sporteinrichtungen, nächtliche Ausgangsbeschränkungen. ({9}) Gerade über die Ausgangsbeschränkungen gibt es ja eine intensive Diskussion des Für und Wider, ({10}) sowohl hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Freiheitseinschränkungen ({11}) als auch nicht zuletzt darüber, ob sie überhaupt etwas bringen. Diese Einwände nehme ich ernst, ({12}) und ich setze mich natürlich auch mit ihnen auseinander. Ich möchte das auch hier tun. Zunächst. Ausgangsbeschränkungen sind keine neue Erfindung. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundeskanzlerin, darf ich eine allgemeine Bemerkung machen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, was immer wir für eine Meinung im Einzelnen haben: Glauben Sie angesichts der Notlage und der Sorgen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass wir dem nicht auch in der Art, wie wir das hier debattieren, Rechnung tragen müssen? Ich bitte Sie doch herzlich. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ausgangsbeschränkungen sind keine neue Erfindung. Sie sind im aktuell geltenden Infektionsschutzgesetz als Maßnahme bereits angelegt und in mehreren Bundesländern bereits seit Monaten angewandt. Auch eine Vielzahl anderer Staaten – Großbritannien, Irland, Frankreich, die Niederlande, Portugal – hat Ausgangsbeschränkungen praktiziert oder praktiziert sie noch. ({0}) Warum machen diese Länder das, zum Teil im Übrigen erheblich restriktiver, als wir das überlegen? Und warum steht diese Maßnahme auch heute in unserem Gesetzentwurf? Weil es in der Pandemiebekämpfung stets um die Reduzierung von Kontaktmöglichkeiten gehen muss, muss es immer auch um die Reduzierung von Mobilität gehen. Ich höre sehr wohl, wenn manche Aerosolforscher darauf hinweisen, dass man sich im Freien sehr viel weniger ansteckt als in geschlossenen Räumen. Aber bei der Ausgangsbeschränkung geht es ja um etwas anderes. Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen, im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs, zu reduzieren. Das heißt also für mich: Ausgangsbeschränkungen sind natürlich kein Allheilmittel gegen die Ausbreitung des Virus. Sie können ihre Wirkung in der Kombination mit anderen Maßnahmen entfalten, zum Beispiel auch mit strengen Kontaktbeschränkungen. Und so müssen wir dann entscheiden, ob der mit der Ausgangsbegrenzung verbundene Effekt den Nachteil – den natürlich nicht zu leugnenden erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit – rechtfertigen kann, ob Ausgangsbeschränkungen also unter Abwägung des Für und Wider eine geeignete, verhältnismäßige und erforderliche Maßnahme sind. ({1}) Und ich komme zu dem Ergebnis: Ja, die Vorteile dieser Maßnahme im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pandemie überwiegen die Nachteile. ({2}) Deshalb möchte ich auch für diese Maßnahme in der Form, wie wir sie im Gesetz vorgeschlagen haben, werben. ({3}) Ich möchte auch für weitere Maßnahmen des Gesetzentwurfs werben, obwohl sie gegenwärtig natürlich im parlamentarischen Verfahren alle heiß diskutiert werden. Schulen und Kitas spätestens ab einer Inzidenz von 200 schließen: ja oder nein? Homeoffice noch stärker durchsetzen: ja oder nein? Verpflichtendes Testangebot von Arbeitgebern: ja oder nein? Click-and-meet in Geschäften: ja oder nein? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kenne die Diskussion sehr wohl. Ich habe menschlich auch jedes Verständnis ({4}) für den Impuls, hier eine Erleichterung zu suchen, dort Maßnahmen etwas weniger streng zu gestalten bzw., wenn ich es bewusst etwas zugespitzt sagen darf, hier ein Schlupfloch zu suchen und dort jenes. Aber wenn das den Betroffenen wirklich helfen würde, wäre ich sofort dabei. Aber das tut es nicht, im Gegenteil. ({5}) Wenn wir nach 13 Monaten Pandemie eine Lektion doch wirklich gelernt haben, dann ist das diese: Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten; sie machen alles nur noch schwerer. Das Virus verzeiht kein Zögern; es dauert alles nur noch länger. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Es versteht nur eine einzige Sprache: die Sprache der Entschlossenheit. Entschlossenheit jetzt hilft am Ende allen so viel mehr – davon bin ich überzeugt –, als wenn wir jetzt wieder zögern und halbherzig vorgehen. ({6}) Alle Maßnahmen haben ein einziges Ziel: unser ganzes Land aus dieser furchtbaren Phase der stetig steigenden Infektionszahlen, der sich füllenden Intensivstationen, der bestürzend hohen täglichen Zahl der Coronatoten herauszuführen, und zwar zum Wohle aller, und dies eher, als wenn wir uns weiter durch diese Zeit irgendwie hindurchschleppen. Wir haben es doch schon einmal geschafft. Wir können es auch jetzt wieder schaffen ({7}) und haben jetzt, anders als im letzten Jahr, auch die Impfkampagne, die uns ja enorm hilft. Seit die Hausärzte mitmachen – auch die Betriebsärzte werden noch hinzukommen –, geht es richtig voran. Die Notbremse ist also das Instrument, die drohende Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern. ({8}) Systematisches Testen ist das Mittel, bei niedrigeren Inzidenzen kontrollierte und nachhaltige Öffnungen zu ermöglichen, und das Impfen ist der Schlüssel, die Pandemie zu überwinden. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann diese Rede nicht schließen, ohne auch heute wieder den Bürgerinnen und Bürgern zu danken. Wir Politiker machen es ihnen wirklich nicht immer leicht. ({10}) Aber diese übergroße Mehrheit der Bürger macht und hilft unverändert mit. ({11}) Ich danke für ihre Geduld, für ihre Einsicht, für ihre Fürsorge für andere und unser ganzes Land, auch nach dieser langen, langen Zeit immer noch. Danken möchte ich auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen wie auch der Oppositionsfraktionen, für Ihre kritisch-konstruktive Mitarbeit ({12}) und für die Bereitschaft, den Gesetzentwurf in Bundestag und Bundesrat zügig zu beraten. Denn machen wir uns nichts vor: Jeder Tag zählt. Jeder Tag früher, an dem die Notbremse bundesweit angewandt ist, ist ein gewonnener Tag. ({13}) Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, damit uns dieses wichtige Gesetz sehr bald helfen kann, die dritte Welle zu brechen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Fraktionsvorsitzenden der AfD, Frau Dr. Alice Weidel. ({0})

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch nie hat es eine Bundesregierung gewagt, in so wenigen Sätzen so viele Angriffe auf die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, auf Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien unterzubringen wie in diesem Gesetzentwurf. ({0}) Die vorgeschlagene Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes ist ein alarmierendes Dokument obrigkeitsstaatlichen Denkens. Dieser Rückfall in den autoritären Ungeist geht vom Kanzleramt aus und von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin. ({1}) Ihr Misstrauen gegenüber den Bürgern und den demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen hat bei diesem Gesetzesvorhaben eindeutig die Hand geführt. Sie misstrauen den Bürgern; deswegen wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren. Sie misstrauen den Ländern und Kommunen. Deswegen legen Sie die Axt an die Wurzeln der föderalen Architektur der Bundesrepublik und entmachten Ministerpräsidenten, Landräte und Bürgermeister per Bundesgesetz. Sie misstrauen den Gerichten, den berufenen Kontrolleuren staatlichen Handelns. Deswegen stellen Sie die Amts- und Verwaltungsgerichte durch Zentralisierung kalt – möglicherweise, weil diese nämlich eben zuletzt einige Ihrer Eingriffe in die Bürgerrechte gekippt haben. Und nun lassen Sie sich eine Ermächtigung – Ihre Wortwahl, nicht meine! – ins Gesetz schreiben, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrats zu erlassen. Wir sagen dazu: Ausgangssperren sind unverhältnismäßig und verfassungswidrig! ({2}) Für Millionen von Menschen, die nicht so privilegiert wohnen wie zum Beispiel Mitglieder des Bundeskabinetts, sind sie die Hölle. Im Kampf gegen das Virus sind Ausgangssperren dagegen nutzlos, ja sogar kontraproduktiv. Die Infektionsgefahr ist nun mal im Freien fast null und hängt auch nicht von Uhrzeiten ab. Willkürlich festgesetzte Inzidenzzahlen als ausschlaggebendes Kriterium sind ebenfalls absurd. Sie hängen von der Zahl der durchgeführten Tests ab und lassen sich nach Belieben hochtreiben. Ohne Rückkopplung an die Testquote, den Anteil tatsächlich Erkrankter und die Alterskohorten der Betroffenen sind sie auch nicht aussagekräftig. ({3}) Das bestätigen viele Wissenschaftler, zuletzt der frühere Chefvirologe der Charité, Professor Krüger. „Hört auf die Wissenschaft“, so lautet Ihr Mantra. Sie aber hören nur auf die Stimmen, die Sie hören wollen und die Ihre Vorurteile bestätigen. ({4}) Widerspruch tun Sie dagegen als Verschwörungstheorie ab. Dagegen wäre doch eine differenzierte und transparente Debatte dringend nötig, um bessere Entscheidungen treffen zu können. Ginge es Ihnen tatsächlich in erster Linie um die Pandemiebekämpfung, hätten Sie längst geeignete und zielgerichtete Maßnahmen ergreifen können, die auch wir hier immer wieder eingefordert haben. Covid-19 ist vor allem für bestimmte Risikogruppen gefährlich. Dann muss man auch diesen bedrohten Personen gezielte Schutzangebote machen, statt die Grundrechte für alle einzuschränken und das ganze Land an die Wand zu fahren. ({5}) Die Überlastung des Gesundheitssystems verhindert man weder mit Zusperren der Gesellschaft noch mit Krankenhausschließungen und Abbau von Intensivbetten, ({6}) sondern durch gezielte Investitionen in Personal und Infrastruktur. Dafür hatten Sie genug Zeit, die nicht genutzt wurde. Sie wollen mit diesem Gesetz etwas anderes: den endlosen Bundes-Lockdown, obwohl fünf Monate Wellenbrecher-Lockdown mehr als genug gezeigt haben, dass dieses primitive Rezept überhaupt nicht funktioniert. ({7}) Und Sie nehmen in Kauf, dass der Mittelstand zugrunde geht, der Arbeitsmarkt durch staatliche Dauerintervention zerstört wird, dass Innenstädte veröden, dass eine ganze Schülergeneration verloren geht und dass das Kultur- und Vereinsleben stirbt. Sie belegen ganze Branchen mit Berufsverboten. Sie enteignen Händler und Gewerbetreibende, Gastronomen und Tourismusbetriebe durch monatelange Zwangsschließungen ohne Aussicht auf einen Ausweg. Zahllose Geschäfte werden nie mehr öffnen. Generationenalte Familienbetriebe verschwinden für immer. Dem unternehmerischen Mittelstand bricht das Rückgrat. ({8}) Auf Deutschland kommt eine Insolvenzwelle von nie dagewesener Dimension zu, ein massiver Anstieg von Depressionen, geschädigten Kinderseelen, in Isolation verkümmernden älteren Menschen, verstörten Jugendlichen und zerrütteten Familien. Das sind die Kollateralschäden Ihrer Dauer-Lockdown-Politik! ({9}) Die Bürger verlieren das Vertrauen in einen Staat, der einem vor dem Ruin stehenden westfälischen Gastronomenehepaar, das aus Verzweiflung sein Café wieder öffnet, das Ordnungsamt und hohe Bußgelder auf den Hals schickt. Die Bürger verlieren das Vertrauen in einen Staat, der mit Polizeikommandos Rentnergeburtstage stürmt und Kinder vom Bolzplatz jagt, aber Drogenhändler im Park gewähren lässt. ({10}) Die Bürger verlieren das Vertrauen in einen Staat, dessen Polizisten Erholungssuchende in Parks mit Zollstöcken schikanieren, aber bei Clangroßhochzeiten untätig danebenstehen müssen. ({11}) Seit mehr als einem Jahr missbrauchen Sie die Coronakrise, um Zumutungen durchzusetzen, mit denen Sie unter normalen Bedingungen niemals durchkämen: Reise-, Kontakt- und Versammlungsverbote, das Einreißen der letzten Haltelinien bei der Staatsverschuldung, eine EU-Schuldenunion, die das Budgetrecht dieses Parlaments aushebelt und die deutschen Steuerzahler in Geiselhaft für Brüsseler Ausgabenorgien nimmt. Und jetzt versuchen Sie, am Grundgesetz vorbei unter dem Vorwand des Infektionsschutzes eine Notstandsgesetzgebung durch die Hintertüre einzuführen, die von unserer Verfassung aus guten Gründen nicht vorgesehen ist. ({12}) Nichts anderes bedeutet es, wenn Sie Bürger pauschal als potenzielle Gesundheitsgefährder unter Generalverdacht stellen, ({13}) ihrer Grundrechte berauben und einsperren wollen. ({14}) Es wäre grotesk und falsch, einer Regierung, die so oft und offenkundig versagt und das Recht gebrochen hat, derart weitreichende zusätzliche Kompetenzen zu geben. ({15}) Die AfD-Fraktion lehnt deshalb aus tiefer freiheitlicher und demokratischer Überzeugung diesen Gesetzentwurf ab. Ich bedanke mich. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Auch ich habe gerade keinen Vorschlag von Frau Weidel und der AfD-Fraktion gehört, ({0}) wie sie diese Situation bekämpfen will. Ich will noch einmal eindrücklich sagen: Die Lage ist ernst. Meine Fraktion und auch ich persönlich sind nicht bereit, die Hilferufe aus den Krankenhäusern nicht zu hören. Deshalb ist es wichtig, dass wir handeln. Natürlich kann man das als Ländervertreter auch schon jetzt tun. Ich bin froh, dass die ersten Länder sagen: Wir werden die Notbremse, die vor Längerem beschlossen worden ist, schon jetzt anwenden. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. ({1}) Dass wir das jetzt in ein Bundesgesetz gießen, hat natürlich den Hintergrund, dass viele Menschen von uns erwarten, dass es zu bundeseinheitlichen Maßnahmen kommt. Wie oft haben wir hier darüber diskutiert, dass es einen Flickenteppich gibt? ({2}) Die Infektionszahlen sind hoch. Sie sind hoch, weil eben nicht alle diese Notbremse, die möglich war, angewandt haben oder sie nicht rechtzeitig angewandt haben. Dieses Problem wollen wir jetzt mit diesem Gesetz, mit dieser Notbremse, lösen. Die Hilferufe der Intensivmediziner, aber auch der Pflegekräfte sind elementar für diese Entscheidung. Eine Infektion – die Zahlen steigen nach wie vor – ist keine Kleinigkeit, weil selbst die, die die Erkrankung lebend überstehen, lange damit zu kämpfen haben. Deshalb müssen wir die Kontakte beschränken. Dazu gehören auch Ausgangsbeschränkungen. Die Wissenschaft sagt uns, dass sie alleine betrachtet natürlich nicht relevant sind, aber im Paket mit vielen Maßnahmen wirken. Da, wo Präsenz nicht umgangen werden kann, braucht es verpflichtend Masken, braucht es verpflichtend Tests, und es braucht Kontaktbeschränkungen da, wo Begegnung, Präsenz nicht dringend notwendig ist. Das sind die entscheidenden Schritte, die wir jetzt auch in dieses Gesetz gießen. Sie sollten natürlich bei einer Inzidenz von über 100 einheitlich sein, damit wir die Zahlen drücken, damit wir die dritte Welle bekämpfen. Danach können wir auch über Stufenpläne reden; die liegen ja auch in allen Fraktionen vor. Auch das Robert-Koch-Institut hat Stufenpläne entwickelt. Denn wir brauchen auch eine Öffnungsperspektive. ({3}) Wenn wir jetzt diese Maßnahmen, diese Kontaktbeschränkungen, ergreifen, dann müssen wir eben auch eine Perspektive geben und deutlich machen, dass es gerade für Kinder und Jugendliche ein Aufholpaket geben muss. ({4}) Da geht es nicht nur um Nachhilfe, sondern es geht auch um frühkindliche Bildung, psychosoziale Maßnahmen, Förderprojekte in den Ferien. Das sind die Maßnahmen, die dann folgen müssen. ({5}) Dass wir die Hilfsprogramme ausbauen und ausweiten, auch das gehört für uns elementar dazu. Ausgangsbeschränkungen gehören eben auch dazu. Es ist wichtig, dass wir diese Maßnahmen jetzt ergreifen; denn es gibt entsprechende Notrufe. Ich will das auch noch an einem Beispiel deutlich machen, damit die Menschen verstehen, warum die Notrufe so wichtig sind: Ein Direktor der Kölner Universitätsklinik hat geschildert, was gerade passiert: dass eben zunehmend auch die Jüngeren, die wir im Moment noch nicht impfen können, weil wir nicht genug Impfstoff haben, jetzt auf den Intensivstationen landen. ({6}) Das hat zur Folge, dass Personen mit anderen Erkrankungen, die auch einen Intensivplatz brauchen – Herzinfarkte, Unfälle –, abgelehnt werden müssen und dass wichtige Operationen verschoben werden müssen. Wir sind in einer Situation, in der es fünf nach zwölf ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Maßnahmen ergreifen und das auch gemeinsam machen. Natürlich kann man sich über das eine oder andere jetzt im Verfahren auch noch unterhalten. Das werden wir auch tun. Denn diese Notbremse muss richtig sein, sie muss wirken, und sie muss auch verfassungskonform sein. ({7}) Daran arbeiten wir, und der Vorschlag ist dafür geeignet. Ich bitte Sie deshalb, konstruktiv in die Beratungen zu gehen und mitzuhelfen, diese dritte Welle zu brechen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der weit überwiegende Teil dieses Hauses wird bei der Beschreibung der Lage übereinstimmen: Sie ist ernst. Das zeigen uns die Infektionszahlen. Ich habe mich gestern von der Leitung der Charité noch einmal darüber unterrichten lassen, welche Entwicklung auf den Intensivstationen zu beklagen ist. Es hilft auch nichts, dass wir in Deutschland uns mit London vergleichen, wo es in dieser Woche ja Öffnungsschritte bei der Gastronomie und im Handel gegeben hat. Es macht auch keinen Sinn, zu beklagen, welche Managementfehler es in den vergangenen Monaten seitens der Politik gegeben hat. Das hilft uns in dieser Situation jetzt nicht. Es muss nun schnell, wirksam und rechtssicher gehandelt werden. ({0}) Eine wirksame Maßnahme ist die Maskenpflicht. Eine wirksame Maßnahme ist die Begrenzung der Kontakte der Haushalte. Eine wirksame Maßnahme ist eine Teststrategie; der Fingerzeig auf die Wirtschaft ersetzt eine solche Teststrategie indessen nicht. Angesichts der Soziodemografie der Schwererkrankten empfiehlt sich eine gesundheitliche Aufklärung auch nicht nur in der deutschen Sprache. Vor allem müssen wir das Tempo beim Impfen erhöhen ({1}) durch den Einsatz aller Reserven, durch die zeitliche Streckung zwischen Erst- und Zweitimpfung und durch die Einbeziehung des gesamten niedergelassenen Bereichs. Schnelle, wirksame und rechtssichere Maßnahmen stehen uns zur Verfügung. Der jetzige Gesetzentwurf ist ja eine Reaktion auf das Scheitern der sogenannten Osterruhe. Es ist richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird. Meine Fraktion hat bundeseinheitliche Wenn-dann-Regeln bekanntlich im Dezember vorgeschlagen. Hier in diesem Gesetzentwurf gibt es allerdings nur eine nicht differenzierte Regel für das ganze Bundesgebiet. Es ist im Übrigen auch richtig, den Deutschen Bundestag zu beteiligen und nicht ausschließlich auf die Bund-Länder-Runde der Regierungschefinnen und Regierungschefs zu setzen. Trotzdem nimmt es wunder, dass es nun gar keine Beteiligung der Länder mehr geben soll. Es hätte sie ja geben können. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hatte ja sogar ein Vorziehen der Bund-Länder-Runde vorgeschlagen. Montag wäre sie regulär gewesen, und nun gibt es keine. Ich glaube, dass das die falschen Konsequenzen aus dem Scheitern der Osterruhe sind, Frau Bundeskanzlerin, auch im Verfahren. ({2}) Im Kern dieser sogenannten Bundesnotbremse – das ging aus dem Beitrag der Bundeskanzlerin und auch der Kollegin der SPD hervor – steht nun die Ausgangssperre. In der Praxis bedeutet das, dass ein geimpftes Ehepaar aufgrund eines Ausbruchs kilometerweit entfernt in einem einzelnen Betrieb daran gehindert wird, alleine nach 21 Uhr zum Abendspaziergang vor die Tür zu treten. In diesem einen praktischen Beispiel, diesem Lebenssachverhalt, drückt sich die ganze, im Übrigen auch verfassungsrechtliche Problematik aus: keine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, keine differenzierte Bewertung des Infektionsgeschehens – Clusterausbruch oder diffus –, keine anderen Parameter. Deshalb haben die Praktikerinnen und Praktiker des Deutschen Landkreistages so vehement gegen diese Regelung protestiert. ({3}) – „Die sind immer gegen alles“, Herr Brinkhaus; das ist nun ein Misstrauensvotum gegenüber der kommunalen Ebene, das Sie gerade zum Ausdruck gebracht haben. ({4}) Im Übrigen ist auch die Wirksamkeit der Maßnahme umstritten. Der wissenschaftliche Beirat der französischen Regierung hat die dort über zwei Monate ab 18 Uhr bestehenden Ausgangssperren wissenschaftlich evaluieren lassen mit dem Ergebnis, dass sie eben keinen Beitrag zur Begrenzung der Infektionen geleistet haben. ({5}) Aus diesem Grund ist das, was Sie zur Ausgangssperre hier regeln wollen, hochproblematisch. ({6}) Wir werden Ihnen Vorschläge machen, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen. ({7}) – Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Brinkhaus. In dieser Situation verfassungsrechtliche Bedenken anzumahnen, wie wir das tun, das sollten Sie eher schätzen. Denn Sie können kein Interesse daran haben, dass dieses Gesetz, weil Sie auf keinen Hinweis eingehen, am Ende in Karlsruhe scheitert. ({8}) Der Schaden für das Vertrauen in die Pandemiepolitik insgesamt wäre immens, wenn Sie verfassungsrechtliche Bedenken nicht ernst nähmen. ({9}) – Es ist überhaupt nicht nur destruktiv. ({10}) – Herr Kollege Brinkhaus, die Art und Weise, wie Sie hier argumentieren, spricht eigentlich für sich. ({11}) Im Übrigen will ich sagen: Wenn Sie auf diese Bedenken, die ja nicht nur von uns vorgetragen werden, nicht eingehen, sehen wir aus der FDP-Fraktion uns gezwungen, den Weg nach Karlsruhe im Wege von Verfassungsbeschwerden zu gehen. ({12}) Diese Ausgangsbeschränkung ist im Übrigen nicht nur verfassungsrechtlich hochproblematisch. ({13}) Der Kollege Lauterbach hat gestern, wie ich glaube, realistischerweise darauf hingewiesen, dass aufgrund der Art und Weise, wie diese Notbremse ab einer Inzidenz von 100 nun automatisch ausgelöst werden soll, es an vielen Orten über viele Wochen zu einer Ausgangssperre kommen könnte. Da muss man unterscheiden: Es gibt diejenigen, die in komfortablen Wohnverhältnissen leben. Aber was ist denn mit den Studierenden im Einzimmerapartment? Was ist denn mit der Familie, die ohne Balkon in einer Etagenwohnung auf engerem Raum zusammenlebt? Diese Menschen werden möglicherweise, wenn Herr Lauterbach mit seiner Prognose recht hat, über Wochen in ihren Räumen sein, ({14}) während es draußen bereits hell ist. Der soziale Schaden, der damit verbunden ist, ist enorm. ({15}) Im Übrigen, Herr Kollege Brinkhaus, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf die Möglichkeit des testbasierten Öffnens gestrichen. Der Vorsitzende des Teams Vorsicht, der bayerische Ministerpräsident, hat am 7. April mit seinem Landeskabinett beschlossen, dass bei einer Inzidenz zwischen 100 und 200 Terminshopping mit Test und ab einer Inzidenz von 200 immer noch Handel nach dem Modell „Click and Collect“ möglich ist. ({16}) Das sagt der Vorsitzende des Teams Vorsicht! Verehrte Anwesende, liebe Kolleginnen und Kollegen, entweder ist das eine Frage des politischen Charakters, oder es könnte dafür sprechen, dass vom Handel ohne Kontakt tatsächlich kein Infektionsrisiko ausgeht. Ich neige der zweiten Interpretation zu. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Debakel der Osterruhe darf sich nicht wiederholen. Deshalb ist mein Appell an die Regierungsfraktionen: Nehmen Sie die aus den Ländern, aus der Rechtswissenschaft, von Praktikern und auch aus dem Parlament vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken ernst! ({18}) Machen Sie es sich bitte nicht so leicht wie der Kollege Brinkhaus! ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach, SPD. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, Herr Lindner: Sie haben mich richtig, aber nicht vollständig zitiert. Das ist in diesen Zusammenhängen bedeutsam. Ich habe darauf hingewiesen – damit haben Sie recht –, dass wir in sehr vielen Landkreisen eine Inzidenz von unter 100 nicht erreichen werden. In dem Fall würde die Notbremse mit den Ausgangsbeschränkungen gelten, so wie von Ihnen vorgetragen. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass das nicht so sein muss, weil wir andere Maßnahmen ergreifen können und müssen –. Aus meiner Sicht wäre es fair gewesen, das dazuzusagen. Ich habe dazu gestern auch konkrete Beispiele gebracht. Es wäre auch an Ihnen gewesen, entsprechende Beispiele heute vorzutragen. ({0}) Die habe ich nicht vernommen. ({1}) Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass wir die Impfintervalle strecken könnten. Das ist der Punkt, wo wir einer Meinung sind. Aber mit dieser Haltung, dass wir uns hier gegenseitig kompliziert erklären, was alles in Deutschland nicht funktioniert, was aber im Ausland nicht nur funktioniert, sondern auch gewirkt hat, ({2}) womit man dort die Welle brechen konnte und mittlerweile zu Inzidenzen von unter 30 gekommen ist, kommen wir in dieser Debatte nicht weiter. Wir brauchen Pragmatismus ({3}) und keine gegenseitige Aufklärerei, was alles nicht funktioniert. Daher bitte ich, dass wir in dieser Ausgangssperre tatsächlich eine notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahme sehen. ({4}) Eine Ausgangssperre alleine wird nicht reichen. Aber in keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit einer B.1.1.7-Mutation in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht auch – nicht alleine, aber auch – das Instrument der Ausgangsbeschränkungen – nicht der Ausgangssperren – genutzt hätte. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindner, bitte sehr. Sie können erwidern.

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Kollege Lauterbach, tatsächlich habe ich hier eben – das können Sie im Protokoll ja nachsehen – eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Ich sprach von Maskenpflicht, Begrenzung der Kontakte der Haushalte, Teststrategie, Aufklärung auch in Fremdsprachen und Beschleunigung des Impfens. Zur Ausgangssperre. Eine solche Ausgangssperre ist auch schon von Gesundheitsministern der FDP begrüßt worden. In Flensburg etwa sah sich die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin zusammen mit unserem FDP‑Gesundheitsminister bei einem diffusen Infektionsgeschehen und bei noch nicht großem Impffortschritt zu Anfang dieses Jahres zum Einsatz dieses Instruments genötigt. Insofern sind wir da nicht borniert. Aber so, wie Sie das hier in das Gesetz hineinschreiben wollen, ist es eben unverhältnismäßig. ({0}) Und lassen Sie mich hinzufügen: Wenn Sie schon mangelnde Vollständigkeit beklagen – das war von mir keine Absicht –, hätte ich mir gewünscht, dass Sie, als Sie gerade die Wirksamkeit einer Ausgangssperre noch einmal unterstrichen haben, auch auf die wissenschaftliche Untersuchung des Beirats der französischen Regierung eingegangen wären, der auf einer breiten Datenbasis den Nutzen der Ausgangssperre über zwei Monate ab 18 Uhr infrage gestellt hat. Es ist die Frage, ob von ihr nicht gar eine negative Wirkung ausgeht – aufgrund der Verdichtung von Kontakten. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben im vergangenen Jahr gegen den Rat auch der Opposition die Pandemiebekämpfung in die Ministerpräsidentenkonferenz verlagert – ein Gremium, das das Grundgesetz nicht kennt. Dieser Weg, Ihr Weg der Pandemiebekämpfung ist gescheitert. Die im Kanzleramt geschaffenen Handlungsleitplanken haben das Land in die dritte Coronawelle manövriert. Wir haben seit November einen permanenten Halb-Lockdown und sind immer nach der Welle. Es ist uns nicht gelungen, hier wirklich eine Veränderung vorzunehmen. Dann kam das bekannte Osterruhe-Desaster nach der letzten MPK. Ich hätte erwartet, dass Sie direkt danach mit wirkungsvollen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung in den Bundestag zurückkehren. Sie haben bei Anne Will gesagt: Viel Zeit haben wir nicht mehr. – Das ist drei Wochen her. Passiert ist danach nichts. Sie sagen: Das Virus versteht kein Zögern. – Aber die Lage ist jetzt so, dass es bereits zehn nach zwölf ist: Die Inzidenz steigt. Die Auslastung der Intensivbetten steigt. Es gibt dramatische Appelle, nahezu täglich, von den Intensivmedizinern. Die Folgen bei jungen Menschen, Long Covid, werden immer deutlicher sichtbar. Das ist die reale Situation. Das Versagen der Verantwortlichen im Umgang mit dieser Krise erscheint vielen Bürgern inzwischen als unverzeihlich, meine Damen und Herren. ({0}) Und dazu gibt es eine chaotische Kommunikation. Wir sehen es doch in anderen Ländern – lieber Herr Lindner, ich muss darauf hinweisen –: In Großbritannien öffnen die Pubs. In Israel öffnet man die Strände. Ich kann Ihnen sagen, wie diese Länder aus der Pandemie gekommen sind: Über millionenfache Impfungen und über konsequentes Handeln, meine Damen und Herren! ({1}) In den USA werden täglich 4 Millionen Menschen geimpft. Bei uns liegen 4 Millionen Impfdosen rum, und der Gesundheitsminister hat dafür keine reale Erklärung. ({2}) Inzwischen sind 22 Prozent der Amerikaner vollständig geimpft, 57 Prozent der Israelis, 24 Prozent der Chilenen. Und bei uns? Der zentrale Punkt, warum Deutschland beim Impfen sogar unter dem EU-Schnitt liegt, ist Ihrem Impfversagen und der Bürokratie geschuldet. Vier Monate zu spät bestellt! Das sind die vier Monate, die es jetzt für die Bürgerinnen und Bürger besonders schwer machen, meine Damen und Herren. Das ist die reale Lage. ({3}) Da, wo die Bundesregierung in der Pflicht war, haben Sie es eben vielfach nicht hinbekommen. Was macht eigentlich die Corona-Warn-App? Was ist denn eigentlich damit? Sie gucken gerade darauf, wie es mit ihr steht. ({4}) Was ist denn mit den bundesweiten Tests? Bis heute bestehen diese Mängel fort, und das Infektionsschutzgesetz behebt eben keinen davon. Es ist gut, dass die Bundesregierung auf dem Weg zurück in den Deutschen Bundestag ist. Aber es ist inakzeptabel, dass Sie den Bundestag faktisch mit diesem Gesetz nicht stärken, sondern entmachten ({5}) und selbst einen Blankoscheck haben wollen. ({6}) Das ist keine Stärkung des demokratischen Verfahrens, sondern eine Abrissbirne für den Parlamentarismus. ({7}) Und dann fällt Ihnen nach 14 Monaten vor allen Dingen die Ausgangssperre ein, und zwar eine bundesweite Ausgangssperre. Das ist richtig: Es gibt lange Ausgangssperren. Das ist auch möglich; das ist auch völlig in Ordnung. Aber das ist so widersinnig wie die Osterruhe. Es ist rechtlich höchst bedenklich. Es ist ein Grundrechtseingriff. ({8}) Die Aerosolforscher haben natürlich eine ganz andere Position. Sie sagen: Die Gefahr lauert in den Innenräumen. – Es geht doch um den Abendspaziergang oder das Jogging. Stellen Sie mal vor, Sie haben Homeoffice gehabt, Sie haben Homeschooling gemacht, und dann wollen Sie abends um 21 Uhr als alleinerziehende Mutter noch einmal für eine halbe Stunde raus, und das dürfen Sie nicht aufgrund Ihrer Beschränkungen! Kontaktbeschränkungen ja; aber das ist nicht die Lösung. Impfen, das ist der Schlüssel. ({9}) Wo ist denn der angekündigte Impfturbo? Wo sind denn die neuen Produktionsstätten? Wo ist eine nationale Teststrategie? ({10}) Nicht die Ministerpräsidenten sind das Problem, sondern es sind die Minister der CDU und der CSU im Bund. Sie haben hier schlecht regiert. Deswegen ist die Lage so, wie sie ist. ({11}) Es ist übrigens besonders verwerflich – weil Sie hier so laut sind, Herr Brinkhaus –, ({12}) dass die Union das ganze Land mit ihren Personalproblemen belästigt. ({13}) Es ist verwerflich! Das sind die schwersten Tage der Pandemie, und Sie reden über Söder und Laschet und darüber, wer hier denn im nächsten Bundestag Oppositionsführer ist. ({14}) Lassen Sie das endlich! Das wäre sinnvoll, meine Damen und Herren. ({15}) Der Bund war während der gesamten Pandemie nicht in der Lage, für Schulen Luftfilter und für Lehrer rechtzeitig Impfstoffe zu beschaffen, und nun soll das Kanzleramt autorisiert werden, in Passau oder in Rostock die Schulen zu schließen? Das ist niemandem zu vermitteln, meine Damen und Herren. Das ist die Situation. ({16}) Kinder sind bei Ihnen nämlich der blinde Fleck, lieber Herr Brinkhaus. ({17}) Kinder sind bei Ihnen der blinde Fleck in der Pandemiebekämpfung. Die Schulen hatten bei Ihnen nie Priorität. Zu Kindern und zu Familien sind Sie in der Pandemiebekämpfung hammerhart. Aber in der Wirtschaft, da sind Sie wachsweich. Das ist die Situation. ({18}) Haben Sie eigentlich Sorge, dass die Union keine Spenden für die Bundestagswahl kriegt? ({19}) Sie haben hier elf Leute, die wegen Korruption letztlich zurückgetreten sind. FC Eigene Tasche – das ist doch bei der Union derzeit der Fall. Ihnen fehlt immer noch der Fokus. ({20}) Pandemiebekämpfung bedeutet immer auch Einschränkung im Privaten bei Ihnen, bei den Haushalten; aber es geht nie darum, die Wirtschaft auch mal in Fokus zu nehmen. ({21}) Es geht nicht darum, die Wirtschaft anzuhalten – darum geht es nicht –, aber es muss darum gehen, das Arbeitsleben sicherer zu machen und Ansteckungen zu verhindern. Kein Kotau vor den Wirtschaftsverbänden! Kontaktbeschränkungen ja, aber nicht so, wie Sie das hier machen. ({22}) Was wir den Schülern zumuten, das muss bei Unternehmen doch gang und gäbe sein. Das wäre die Wahrheit. Frau Bundeskanzlerin, die Fraktion Die Linke kann so Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({23}) Ich hoffe auf Veränderung im parlamentarischen Verfahren. Sie erhalten von meiner Fraktion keinen Blankoscheck für Ihre Pandemiebekämpfung. Das Gesetz ist kein schnelles Instrument zum Brechen der dritten Welle. Es ist vielfach autoritäre Symbolpolitik. ({24}) Verbarrikadieren Sie sich nicht im Kanzleramt. Ich rate Ihnen – unabhängig von dem Gesetz –: Wir brauchen endlich einen breiten Dialog, einen Dialog auch von Virologen und Ärzten, aber eben auch Pädagogen, Psychologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Künstlern, Gewerkschaften usw. Nur dann werden wir Vertrauen zurückgewinnen können. ({25}) Das ist das wichtigste Kapital, das wir haben, und das haben Sie leider vielfach missbraucht. Herzlichen Dank. ({26})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Bitte, Frau Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Am Beginn der Pandemie gab es so etwas wie eine Vereinbarung zwischen den Bürgern und Bürgerinnen und der Regierung. Die ging so: Die Bürgerinnen und Bürger sind solidarisch. Sie schultern Auflagen und Einschränkungen bis weit an die Schmerzgrenze oder darüber hinaus zum Schutz für alle, ({0}) und dafür unternimmt die Regierung alles, was möglich ist, um Schutz zu gewährleisten und Härten abzumildern. Diese Verabredung ist einseitig zulasten der Bürgerinnen und Bürger aufgekündigt. ({1}) Hilfen kamen zu spät, oder sie kamen unzureichend. Stattdessen kamen im März Lockerungen – wider besseres Wissen und wider besserer Wissenschaft. Mehr Infektionen, mehr schwere Erkrankungen wurden zugelassen. Und jetzt? Menschen, die auf Intensivstationen liegen, die zu Hause mit der Krankheit kämpfen, die Spätfolgen haben werden, Ärztinnen und Ärzte, die am Ende sind. ({2}) Ich mache mir, wie viele hier, wirklich große Sorgen. Aber ich finde, es muss eben auch entsprechende Maßnahmen geben. ({3}) Menschen schlagen sich gerade mit dem letzten Cent durch. Theater, Kinos, Kultureinrichtungen, Restaurants, Cafés und Geschäfte – geschlossen seit Monaten. ({4}) Ich weiß nicht, wie es Ihnen ganz persönlich geht: Meiner Seele fehlen auch Begegnungen – auch zufällige –, Resonanz, Livemusik. Aber so vielen fehlen vor allem die Aussicht und das Vertrauen, dass es gut werden wird, dass es funktionieren wird, dass wir uns hier wirklich gemeinsam anstrengen, meine Damen und Herren. ({5}) Es sind inzwischen 80 000 Tote, die wir betrauern – Väter, Mütter, Großeltern, Freundinnen, Freunde, Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens noch vor sich hatten, Menschen, die uns fehlen werden, ihre Ideen, ihre Hoffnungen, ihr Lachen und ihr Beitrag zum Danach. ({6}) Das Gesetz, das wir heute hier diskutieren, ist nicht genug. Es reicht nicht aus, um die dritte Welle wirklich zu brechen. Es ist nicht das Alles-tun, Frau Merkel, was Sie hier heute Morgen gesagt haben. ({7}) Wir alle hier – bis auf ein paar notorische Leugner oder Querideologen – wissen: Wir müssen mehr tun, um die Zahlen wirklich und dauerhaft nach unten zu bringen. Bis jetzt ist es ein Infektionsschutzgesetz, das nicht ausreichend schützt. Es ist nicht konsequent genug. Ja, es kommt zu spät. Es ist ein Notbehelf, und es ist nicht die dringend benötigte Strategie für die nächsten Monate mit Stufenplänen, mit Aussicht, mit Klarheit darüber, was zugemacht werden muss und wann was geöffnet werden kann. ({8}) Erst bei einer Inzidenz von über 100 zu bremsen, ist zu spät. ({9}) Wir müssen konsequent zurück auf 50, besser noch auf 35 – mit entsprechenden Schritten von Öffnungen, mit Möglichkeiten, mit Testungen, ja, und natürlich konsequent mit sehr viel mehr Impfungen überall dort, wo es geht, meine Damen und Herren. ({10}) Ja, wir waren als Grüne immer für eine einheitliche, transparente, nachvollziehbare bundesweite Strategie der Bekämpfung der Pandemie. Aber sie muss eben auch wirksam sein. Wir bekommen sie leider erst in der Not. Dass es nicht möglich war – das sage ich hier nicht nur an die Adresse der AfD, von der ich nichts anderes erwartet habe, sondern auch an die Adresse von Herrn Lindner, und Herr Schneider hat sich leider auch so geäußert –, sehr schnell in dieser Woche – von mir aus in fünf Nachtsitzungen – dieses Gesetz zu beschließen, damit es sehr schnell – wenigstens das – auf den Weg gebracht werden kann, dafür fehlt mir jedes Verständnis, meine Damen und Herren. ({11}) Wir erwarten das von anderen ja auch. Wir erwarten von Eltern, dass sie über Nacht wieder irgendwie organisieren, wie es mit der Betreuung bei geschlossenen Schulen oder Kitas wird. Wir erwarten, dass Geschäfte sofort schließen können. Deswegen finde ich wirklich: Es kommt jetzt auf jeden Tag an. Das kann man nicht nur sagen; dafür muss man auch was tun. ({12}) Dennoch: Der vorliegende Entwurf muss dringend nachgebessert werden. Eine Notbremse, die wirksam ist, sieht anders aus. Da geht es für mich zuallererst um die Kontakte in der Arbeitswelt. Die müssen maximal rechtsverbindlich runter, und der Schutz muss hoch. ({13}) Dafür muss dieses Gesetz sorgen. Ob Kanzlei oder öffentlicher Dienst: Mobiles Arbeiten und Homeoffice muss Pflicht sein, und das muss auch kontrolliert werden, meine Damen und Herren. ({14}) Und dort, und zwar nur dort, wo dringend vor Ort gearbeitet werden muss, muss getestet werden. Es muss auch klar sein für beide Seiten, dass getestet werden muss. Auf der Baustelle muss doch auch ein Helm getragen werden, und in Pandemiezeiten muss eben getestet werden. So einfach ist das. ({15}) Da reicht eben ein Angebot nicht aus. Wir wollen übrigens ein Gesetz, das nicht wartet, bis die Schule gänzlich in Flammen steht, bevor jemand nach dem Feuerlöscher greift. Erst ab einer Inzidenz von 200 zu handeln, ist zu spät. Das ist kein Schutz für Schüler/‑innen. ({16}) Es ist übrigens auch kein Schutz für die Eltern, meine Damen und Herren. Das ist nicht im Sinne der Gesundheit unserer Kinder. Morgens testen, mindestens zweimal die Woche, muss immer und ohne Berücksichtigung der Inzidenzwerte selbstverständlich sein, auch in Kitas. Ohne Tests kein Präsenzunterricht. Und wenn Sie mich fragen – ({17}) wir reden ja hier nur über die Frage der Notbremse ab einer Inzidenz von 100 –, wenn Sie mich fragen, ({18}) sage ich: Eigentlich müsste klar sein, dass es in den Schulen Wechselunterricht ab einer Inzidenz von 50 gibt. Wechselunterricht bei einer Inzidenz von über 100 geht nur mit sehr verbindlichen Hygienekonzepten, geht nur mit Tests, geht nur in festen Gruppen und eigentlich auch nur mit Luftfiltern, meine Damen und Herren. Bitte: Wir wissen, dass die Mutation jetzt sehr stark Kinder betrifft, dass Kinder ihre Eltern anstecken. Auch das wissen wir aus dem Ausland. Deswegen sage ich: Sorgen wir zum Schutz der Kinder und Eltern dafür, dass dieser Schutz wirklich gewährleistet ist! ({19}) Dazu gehört aber auch, wenn man in solchen Fragen sehr konsequent ist: Wir brauchen lebensnahe Regeln. Lieber draußen als drinnen! Wer ins Außengelände des Zoos kann, der muss die Oma nicht zu Hause treffen. Wer hier über Ausgangssperren redet – es scheint ja gerade irgendwie das Hauptthema zu sein, wer wann wo klagt und was da passiert –, dem sage ich ganz klar: So was muss angemessen und muss verhältnismäßig sein. Es ist definitiv nicht verhältnismäßig, wenn Sie in der Wirtschaft weiter locker sind und die Tests nicht verbindlich sind und Sie auf der anderen Seite die Ausgangssperren machen. ({20}) Nur beides zusammen geht, sage ich, und nur dann haben Sie auch eine echte Verhältnismäßigkeit. Lassen Sie uns das Gesetz verbessern, damit es eine echte Notbremse ist, meine Damen und Herren! Dann ist nach der Notbremse vor dem Gesetz – vor dem Gesetz mit einem echten Stufenplan, mit echter Klarheit. ({21}) Hören wir in der Tat auf, darüber zu reden, was alles nicht geht und mit wem es nicht geht, sondern tun wir das, was geht, gerne gemeinsam, aber bitte auch konsequent und wirksam. Vielen Dank. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man fragen würde, wie man sich Normalität zurückwünschen würde, dann würden wahrscheinlich viele sich die Situation von Anfang letzten Jahres wünschen. Wir erleben das natürlich in den Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern und auch an uns selber, wie die Pandemie zu schaffen macht und wie die Pandemie auch müde macht. Wenn man das mit einem Marathon vergleichen wollte, dann müsste man vielleicht sagen: Wir sind jetzt bei Kilometer 38, da, wo den Marathonläufer die typische Krise erfasst und wo er glaubt, es gebe überhaupt kein Ende mehr, obwohl in 3 Kilometern das Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Dieses Licht am Ende des Tunnels heißt bei uns: Impfen. Das ist das Impfen! Wie man sich hierhinstellen und sagen kann: „Wo ist denn der Turbo?“, wo wir vorgestern 738 501 Impfungen in Deutschland hatten, das ist mir schleierhaft. ({0}) Wir impfen, und wir legen zu, und das ist das Licht am Ende des Tunnels. Aber die Wahrheit ist halt eben auch: Alleine zu impfen, reicht nicht. Da kann man den Blick beispielsweise nach Israel wenden, nach Großbritannien, in die USA oder jetzt auch nach Chile, die alle eine höhere Impfquote haben als Deutschland und voll in der dritten Welle sind. Das allein reicht nicht. Deswegen ist es unverantwortlich, wenn wir jetzt nicht die notwendigen Begleitmaßnahmen ergreifen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Zum Stichwort „Impfen“: Ich fand es total interessant, dass hier der Fraktionsvorsitzende der sozialistischen Fraktion die USA als leuchtendes Vorbild beim Impfen hinstellt. ({2}) Wir sind diejenigen, die Verantwortung nicht nur für uns selbst übernehmen, sondern auch für andere Länder. Die USA tun das nicht. Darüber kann man denken, wie man will. Aber dass die sozialistische Fraktion genau das als leuchtendes Beispiel hervorhebt, ist an Linkspopulismus wirklich nicht zu überbieten. ({3}) Das war eine schlimme Rede, lieber Herr Bartsch, die Sie hier gehalten haben. Ich will an dieser Stelle noch etwas anderes sagen. ({4}) Sie stehen hier und sprechen von der Abrissbirne für den Parlamentarismus, ({5}) wo wir hier ein Gesetz vorlegen, das dem Parlament so viele Möglichkeiten gibt wie nie zuvor. ({6}) Wir regeln mit einem bundesunmittelbaren Gesetz. ({7}) Wir sorgen mit einer Regelung für Rechtsverordnungen dafür, dass der Bundestag diesen zustimmen muss. ({8}) Mehr Parlamentarismus geht doch überhaupt nicht. ({9}) Sagen Sie doch mal, wie Sie es denn eigentlich gerne hätten! ({10}) Nichts, aber auch gar nichts haben Sie dazu gesagt. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Frei, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Ernst. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich dachte, der Herr Ernst wollte eine Frage stellen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Er hat auch das Wort dazu.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die kommt schon noch, Herr Frei. – Ich muss Ihnen sagen: Dieses Gesetz, das hier vorgelegt wird, besagt letztendlich nichts anderes, als dass der Bundestag beschließen soll, dass die Regierung in dieser Frage machen kann, was sie will. ({0}) Insofern ist es alles andere als eine Stärkung des Parlaments, sondern es ist nichts anderes als das, dass die Regierung einen Freibrief für Maßnahmen kriegt, die höchst umstritten sind. ({1}) Auf eines möchte ich Sie mal aufmerksam machen. Sie wissen ganz genau, dass wir verschiedene Kontakte haben, die tatsächlich zu mehr Infektionen führen. ({2}) Wir haben die Industrie, wir haben die Wirtschaft. Da gibt es faktisch null Beschränkungen. Sie sind nicht mal in der Lage, in dieses Gesetz reinzuschreiben, dass man doch bitte schön testen muss, bevor man sich am Arbeitsplatz aufhält und bevor man sich möglicherweise so verhält, dass man andere ansteckt. Warum schreiben Sie das nicht rein? ({3}) Wissen Sie was? Ich kann es Ihnen sagen: weil Sie den Unternehmerverbänden im Hintern hängen. Das ist die Tatsache. Das ist deshalb so schlimm, Herr Frei, weil ich, wenn ich hier zum Einkaufen gehe, einen Test brauche, dass ich ins Kaufhaus gehen kann; sonst komme ich gar nicht mehr rein. Wenn ich in den Einzelhandel gehe, brauche ich einen Test, sonst komme ich gar nicht rein. Aber bei der Industrie, wo sich täglich 40 Millionen abhängig Beschäftigte tummeln und andere anstecken können, drücken Sie die Augen zu und sagen: Die sollen doch machen, was sie wollen. – Unmöglich! Deshalb ist Ihr Gesetz insgesamt unmöglich. So kann man das nicht machen, Herr Frei. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Ernst, bleiben Sie bitte stehen. So sind die Regeln hier.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, ich will die Frage gerne beantworten. Sie sollten vielleicht sehen, dass wir nicht nur das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz machen, sondern auch eine Reihe von anderen Gesetzen, wo wir auch Regelungen im Bereich des Arbeitsrechtes und des Schutzes am Arbeitsplatz treffen. Zum zweiten Teil Ihrer Frage. Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass wir hier ein Gesetz machen, das einen Freibrief für die Bundesregierung bedeutet? ({0}) – Nein, wissen Sie, dass die Zwischenrufe von Ihnen kommen, wundert mich nicht. ({1}) Vor wenigen Wochen haben genau Sie so argumentiert, wie das der Herr Ernst jetzt macht. Nur: Falsch bleibt falsch. Falsch bleibt falsch! ({2}) Wir möchten gerne in das Infektionsschutzgesetz einen § 28b einfügen. Im Absatz 1 stehen zehn Maßnahmen drin. Das hat nicht die Bundesregierung entwickelt; ({3}) das haben die Bundestagsfraktionen der Union und der SPD vorgeschlagen, und sie stellen das hier heute und am kommenden Mittwoch zur Abstimmung. Das entscheidet das Parlament. Im Absatz 6 steht eine Verordnungsermächtigung drin, und zwar mit dem Zustimmungsvorbehalt von Bundesrat und Bundestag. Was ist denn daran ein Freibrief für die Bundesregierung? ({4}) Wenn Sie ins Gesetz schauen, dann sehen Sie, dass das, was Sie hier sagen, nichts, aber auch rein gar nichts mit der Wahrheit zu tun hat. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir hier vorlegen, ist ein Mix unterschiedlicher Maßnahmen, weil wir ganz genau wissen, dass nicht eine einzige Maßnahme die Wirkung erzielen wird, sondern nur die Summe dieser Maßnahmen. Wenn Sie jetzt hingehen und einzelne Maßnahmen herausgreifen, diskreditieren und mit Gutachten kommen, die Ihnen gerade in den Kram passen – ({6}) das hat auch die FDP gemacht, das hat der Herr Lindner gemacht –, dann ist das einfach nicht in Ordnung, sondern dann sollten Sie das gesamte Bild zitieren. Wir haben sehr gute Gutachten beispielsweise aus Kanada. Da hat man die Provinzen Quebec und Ontario untersucht. In Quebec gibt es eine Ausgangsbeschränkung. Da hat man festgestellt, dass im Vergleich zur Provinz Ontario die Bewegungen um 31 Prozent zurückgegangen sind. Das führt dazu, dass die Reproduktionsquote um 13 Prozent zurückgeht. Und wenn die Reproduktionsquote zurückgeht, führt das wiederum dazu – nicht durch die Ausgangsbeschränkungen alleine, aber durch die Ausgangsbeschränkungen in einem Bündel von Maßnahmen –, dass wir damit erreichen, dass das Gesundheitssystem entlastet wird und insbesondere die Intensivstationen. ({7}) Es ist doch offensichtlich – das hat hier noch keiner bestritten –, dass wir die Hilferufe der Notfall- und Intensivmediziner nicht in den Wind schlagen dürfen. Wir haben ständig steigende Belastungen auf den Intensivstationen. Der Höchststand von 6 000 Intensivpatienten mit Covid-19 wird wahrscheinlich noch in diesem Monat erreicht. Deswegen war der einzig richtige Satz in der Rede von Herrn Bartsch, dass wir zehn nach zwölf und nicht zehn vor zwölf haben. Das ist zutreffend, das ist richtig. Daraus muss man doch auch Konsequenzen ziehen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs. Das ist eine ziemlich impulsive Debatte, die wir hier erleben. ({9}) Das ist auch vollkommen in Ordnung. Aber ich möchte einfach dazu aufrufen, dass wir uns alle zusammenreißen und vor dem Hintergrund dieser Analyse, die ja weitestgehend geteilt wird, in den nächsten Tagen daran arbeiten, dieses gute Gesetz noch besser zu machen. Auch hier sage ich wieder: Wir reichen Ihnen ausdrücklich die Hand. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen schauen, wie wir dieses Gesetz noch besser und noch effektiver machen können. Natürlich, Frau Göring-Eckardt, gibt es Ansatzpunkte, wo man etwas tun kann. Sie haben das Thema Schulen angesprochen. Ja, das, was da geplant ist, ist noch keine gute Lösung. Das können wir noch besser machen. Und an der einen oder anderen weiteren Stelle wird es genauso gehen. Wir müssen natürlich sehen: Am Ende braucht jedes Gesetz hier im Deutschen Bundestag eine Mehrheit. Wie schwierig das ist, das zeigt auch die heutige Debatte. Im Übrigen – gerichtet an die Bundesratsbank – zeigt die Debatte in dieser Woche wie wohl auch die in den nächsten Tagen, dass es auch die Ministerpräsidenten in den letzten Wochen und Monaten nicht leicht hatten, dass es halt einfach eine objektiv schwere Aufgabe ist, diese unterschiedlichen Zielkonflikte aufzulösen. Aber das ist jetzt unsere Verantwortung, und diese Verantwortung gibt uns auch unsere Verfassung. Das sollte man an der Stelle nicht vergessen. ({10}) – Ach so, ich verstehe jetzt, was der Präsident mir signalisieren will. Deswegen komme ich zum Ende und sage: Hier liegt ein guter Gesetzentwurf vor. Wir sollten hart daran arbeiten, das Gesetz weiter zu verbessern. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung und Ihren konstruktiven Beitrag. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Spaniel hatte sich zu einer Zwischenfrage gemeldet, aber wenn die Redezeit eines Redners zu Ende ist, erteile ich nicht mehr das Wort zu Zwischenfragen. ({0}) Jetzt hat das Wort als nächste Rednerin die Kollegin Dr. Frauke Petry. ({1})

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ein demokratisches Dilemma, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, selten präzise zugehört wird; denn Sie haben im ersten Satz Ihrer Rede Ihre Motivation zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes glasklar benannt. Wissen Sie es noch? Es war die letzte MPK, Ihre persönliche Klatsche vor den Ministerpräsidenten der Länder, die Sie seitdem antreibt. In Klammern möchte ich hinzufügen: Landläufig nennt man so etwas Rache. Föderalismus und Pluralismus sind anstrengend; das stimmt. Schlimmer aber finde ich Folgendes: Sie ignorieren seit Monaten wissenschaftliche Argumente für wirklich aussagekräftige Covid-Indikatoren. Der PCR-Test war zu keinem Zeitpunkt geeignet, Covid-19 und seine Gefährlichkeit zu beschreiben. Wir sind uns einig, dass die Belegung der Intensivbetten dafür viel besser geeignet ist; aber dann müssten Sie auch zugeben, dass in unserem ach so teuren Gesundheitssystem jahrelang die falschen Prioritäten gesetzt wurden. Und Sie müssten für Korrekturen sorgen. Das ist Ihre Aufgabe als Bundesregierung. Frau Merkel, das müssen Sie alles wissen. Sie sind promovierte Physikerin. Vielleicht haben Sie auch schon einmal bei der Auswertung eines PCR-Tests, dem Ablesen und Fotografieren eines Gels, zugesehen. Wollen Sie den Bürgern, selbstständigen Unternehmern, Finanzwissenschaftlern, Ärzten und vielen anderen klugen Menschen in diesem Land tatsächlich erklären, dass es Ihnen um die Stärkung der Abwehrkräfte gegen eine Krankheit geht, mit der wir ab jetzt leben müssen? – Nein, darum geht es Ihnen nicht. Sie wollen nur ein unqualifiziertes „Basta!“. Sie schwächen damit nicht nur ein ganzes Land, sondern Sie entfernen sich von Ihrer eigenen Partei – vielleicht stehen Ihnen die Grünen ja auch viel näher –, und Sie schwächen Ihren Nachfolger im Amt. In der Politik geht es häufig um ganz andere Dinge, als der normale Bürger sehen kann. Sie wissen das aber sehr gut. Es ist nun an diesem Parlament, meine Damen und Herren, Ihrem asymmetrischen Kampf, Frau Merkel, gegen mündige Bürger und den Rest mündiger Volksvertreter ein Ende zu bereiten, indem diese Änderung des Infektionsschutzgesetzes glasklar abgelehnt wird. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dirk Wiese, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurt Schumacher hat einmal den Satz gesagt: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. – Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass wir momentan in einer sehr ernsten und zugespitzten Situation sind. Wir würden uns sicherlich eine andere Lage wünschen, wir würden uns sicherlich eine andere Situation wünschen; aber das können wir nicht. Darum ist es jetzt erforderlich, Maßnahmen zu treffen, Entscheidungen zu treffen und auch zu handeln. Somit ist es erforderlich – ich begrüße das ausdrücklich –, dass wir ein bundeseinheitlicheres Vorgehen jetzt auf den Weg bringen. Das ist übrigens etwas, was die SPD bereits im November gefordert hat und womit wir – das gehört leider auch zur Ehrlichkeit dazu, Frau Bundeskanzlerin – in den bisherigen Verhandlungen im Bundeskanzleramt nicht auf Wohlwollen gestoßen sind. Aber ich begrüße diesen Schritt jetzt ausdrücklich. Ich halte ihn ehrlicherweise auch für notwendig. ({0}) Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist dabei eines entscheidend: Keine dieser Bundesverordnungen kann einfach so in Kraft treten. Jede entsprechende Bundesverordnung, die auf den Weg gebracht wird, wenn wir dieses Gesetz nach der zweiten und dritten Lesung auf den Weg bringen, bedarf der Zustimmung des Deutschen Bundestages. Ich sage ausdrücklich für die SPD-Fraktion: Da wird es auch keine Widerspruchslösung geben. Es geht nur mit der Zustimmung des Deutschen Bundestages. ({1}) Dafür setzen wir uns in den laufenden Verhandlungen auch ein. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es auch ganz deutlich sagen, dieses Gesetz ist kein Misstrauensvotum gegen die Länder. ({3}) Für mich ist es eine Optimierung des Miteinanders der föderalen Ebenen; ({4}) denn wir müssen zwischen Bund, Ländern und der kommunalen Ebene gemeinsam zu besseren Lösungen kommen, zu mehr Nachvollziehbarkeit kommen, letztendlich auch zu mehr pragmatischem Handeln kommen. ({5}) Auch ich kann ja den Bürgerinnen und Bürgern manchmal nicht erklären – mein Wahlkreis ist der Hochsauerlandkreis an der Grenze zu Hessen –, dass in dem einen Kreis das eine gilt und in dem anderen Kreis das andere. Darum brauchen wir mehr Nachvollziehbarkeit, Einheitlichkeit. Das ist auch wichtig für die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wiese, der Kollege Hilse würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die hat keinen Mehrwert. Vielen Dank. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch mal deutlich machen, warum es letztendlich auch wichtig ist, bundeseinheitlicher voranzugehen. Ich war schon erstaunt – das muss ich wirklich so sagen –, dass in dieser Woche gerade zwei Ministerpräsidenten nicht den Schwerpunkt auf die Covid-19-Bekämpfung gelegt haben, sondern momentan versuchen, in anderen Situationen zu Lösungen zu kommen. Ich muss auch sagen, dass in einigen Bundesländern letztendlich auch das landespolitische Handeln viele Fragen aufwirft. Ich erinnere da an die nordrhein-westfälische Schulministerin Gebauer von der FDP, die sich für ein heilloses Chaos und Durcheinander in der Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen verantwortlich zeichnet. Herr Lindner, ich kann die Kritik an den Ausgangsbeschränkungen, auch die rechtlichen Argumente, nachvollziehen. ({1}) Das ist eine Debatte, die gerade geführt wird. Was allerdings zur Ehrlichkeit in der Debatte dazugehört, ist – und das haben Sie verschwiegen –, dass laut Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen Ausgangsbeschränkungen zulässig sind und einige Kreise in Nordrhein-Westfalen mit Ihrer Zustimmung in Düsseldorf das auch schon möglich machen. ({2}) Das verschweigen Sie hier. Ich habe von Ihnen kein kritisches Wort gegenüber den entsprechenden Anordnungen der nordrhein-westfälischen Landesregierung gehört. Das gehört aber zur Ehrlichkeit dazu. ({3}) Für uns als SPD ist es jetzt wichtig, bei den Ausgangsbeschränkungen zwischen 9 und 5 Uhr den Individualsport möglich zu machen. Wenn jemand von der Arbeit kommt und er hat einen langen Tag gehabt, dann muss er die Möglichkeit haben, joggen zu gehen, spazieren zu gehen, draußen unterwegs zu sein. Hierfür werden wir uns in den Beratungen noch mal einsetzen. ({4}) Ich halte das für sehr richtig und auch für vollkommen nachvollziehbar. Wir müssen auch noch mal darauf schauen, dass es nicht um den Inzidenzwert 100 herum einen Jo-Jo-Effekt zwischen Öffnen und Schließen gibt, dass wir hier doch zu einem Mehr an Rechtssicherheit kommen. ({5}) Ich glaube, das ist wichtig. Ansonsten: Impfen weiter voranbringen, mehr testen, klare Perspektiven für die Bürgerinnen und Bürger. Dafür setzen wir uns als SPD ein. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erhält jetzt das Wort der Kollege Karsten Hilse, AfD. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ganz ruhig, Frau Nissen. ({0}) Leider haben Sie die Zwischenfrage nicht zugelassen. Ihre Begründung, dass das Miteinanderreden keinen Mehrwert habe, lässt im Hinblick auf Ihre demokratische Einstellung tief blicken. Ich möchte Ihnen ein Zitat vorlesen: Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint. Dieses Zitat habe ich bei mir im Büro hängen. Sie wissen sicherlich, von wem dieses Zitat ist: Es ist von Willy Brandt. Herr Willy Brandt würde sich wahrscheinlich jetzt im Grabe rumdrehen, ({1}) wenn er sehen könnte, wie hier die SPD die Demokratie, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu Grabe trägt. ({2}) Sie geben dieser Bundesregierung die Ermächtigung, das Föderalismusprinzip auszuhebeln und die Gewaltenteilung auszuhebeln. ({3}) – Bitte? – Gut, ich würde gern wissen, ob ich dann, wenn die Demokratie angegriffen wird, auch Sie, so wie das Herr Willy Brandt machen würde, auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden werde. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wiese, mögen Sie antworten? – Dann haben Sie das Wort. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Hilse, ich antworte gerne auf Ihre Ausführungen, die Sie gerade getätigt haben. Ich will Ihnen aber ganz deutlich sagen: Wer wie Sie nicht mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ({0}) wer wie Sie gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung agitiert, von dem braucht sich die SPD-Bundestagsfraktion keine Ratschläge geben zu lassen. Ich kann Ihnen nur sagen: Der einzigste Grund, ({1}) warum Willy Brandt sich im Grabe umdrehen würde, wäre die Intervention, die Sie gerade gemacht haben. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die dritte Welle der Coronapandemie rollt über das Land, die Infektionszahlen sind auf einem Niveau wie zu Jahresbeginn. Dasselbe Bild bei den belegten Intensivbetten: Circa 4 700 Patienten sind in intensivmedizinischer Behandlung. Vor einem Monat war es knapp die Hälfte. Und die Hilferufe der Intensivmediziner sind nicht zu überhören: Sie raten uns zu starken Maßnahmen. Sie raten uns, mehr Maßnahmen zu ergreifen. Denn die Dynamik ist ungebrochen. Insbesondere die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich zum Teil dramatisch zu. Wir sind nicht bereit, die Warnungen der Mediziner zu ignorieren. Die Mediziner und Pflegekräfte sind es, die im Notfall helfen und Leben retten. Wenn wir vom Gesundheitssystem reden, das wir sichern und schützen wollen, dann meinen wir sicherlich auch die Betten, wir meinen die Geräte, aber im besonderen Maße meinen wir das Personal, die Mediziner und Pflegekräfte; denn sie sind das höchste Gut, das wir haben. Sie sind Gesicht, Hand und Herz dieses Gesundheitssystems. Deswegen müssen wir sie schützen. Und genau das tun wir jetzt mit diesem Gesetz. ({0}) Wir müssen handeln, und zwar so: Wir müssen die Kontakte reduzieren. Wir müssen die Infektionsketten unterbrechen. Gleichzeitig verimpfen wir, was geht. Aus der Impfdose kommt die Befreiung aus dieser Pandemie heraus. Impfen ist der Weg. Und genau das tun wir, auch mit wachsendem Erfolg in diesen Bereichen. Jetzt sind drei Bereiche zentral. Das sind das private Umfeld, das Arbeitsleben und natürlich Schule und Kita. Diese drei Bereiche spielen eine zentrale Rolle beim Infektionsgeschehen. Wir müssen Kontakte spürbar reduzieren, gerade im privaten Bereich. Dazu nutzt auch die Ausgangssperre. Sie ist ein wichtiges Instrument für die Beschränkung von Sozialkontakten; das bestätigen im Übrigen eine Vielzahl von Studien, auch internationaler Art. Deswegen gehen wir diesen Weg. Die Ausgangsbeschränkungen sind richtig. Für das Arbeitsleben haben wir mit der Arbeitsstättenverordnung den Rahmen bereits gesetzt: Homeoffice überall dort, wo möglich, und da, wo Präsenz zwingend notwendig ist, gilt Abstand, da gilt Maske und jetzt auch entsprechend das verpflichtende Testangebot durch die Arbeitgeber. Denn wir wollen Infektionen möglichst schnell erkennen und Infektionsketten unterbrechen. Auch die Schulen sind Teil des Infektionsgeschehens.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Lötzsch?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe mich an der Stelle gemeldet, als Sie auf das Arbeitsleben zu sprechen kamen. Wir haben ja hier häufig die Diskussion über systemrelevant und nicht systemrelevant. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir Überlegungen entwickeln sollten – und nicht nur Überlegungen entwickeln, sondern auch Beschlüsse fassen sollten –, nicht systemrelevante Produktionen für eine bestimmte Zeit stillzulegen? Und wenn Sie da mit mir einer Meinung sind: Können Sie mir sagen, was Sie unter „nicht systemrelevant“ verstehen würden? ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrte Frau Kollegin, wir müssen auch in dieser Pandemie darauf achten, dass wir da, wo es geht, das Wirtschaften auch ermöglichen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir Arbeitsplätze sichern wollen. Deswegen reden wir nicht über das Stilllegen von entsprechenden Wirtschaftszweigen – ganz im Gegenteil. Wir reden vielmehr darüber, Arbeitsplätze zu sichern. Da kommen wir auch mit unseren Coronahilfen zum Zuge; und so handeln wir in diesem Bereich. Gleichzeitig achten wir im Rahmen der Arbeitsstättenverordnung darauf, dass das Infektionsgeschehen, gerade auch im Betrieb, beherrschbar bleibt. Ich erfahre gerade aus den Unternehmen heraus eine sehr hohe Eigenmotivation. Denn die wenigsten wollen doch Infektionen im Betrieb haben, weil sich das letztendlich auf den Betriebsablauf und den Erfolg auswirkt. Das ist der Weg, den wir in diesem Bereich gehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Die Schulen sind Teil des Infektionsgeschehens. Wir wollen Schule. Aber auch in der Schule braucht es klare Schutzkonzepte. Deshalb setzen wir beim Präsenzunterricht auf die Testpflicht – zweimal in der Woche. Und wird der Schwellenwert von 200 bei der Sieben-Tage-Inzidenz überschritten, wird, so sieht es der Gesetzentwurf vor, der Präsenzunterricht an den Schulen eingestellt. ({1}) Angesichts dieses dynamischen Infektionsgeschehens, das wir derzeit verzeichnen, ist die Schwelle von 200 viel zu hoch. Wir müssen runter Richtung 100. ({2}) Das halte ich in diesem Bereich für richtig.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Stracke, der Kollege Kleinwächter würde noch gern eine Zwischenfrage stellen.

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Kollege Stracke, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Und ich stelle sie an Sie, weil Sie ja Jurist sind. Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie das Infektionsgeschehen eindämmen wollen und ähnliche Dinge. Das glaube ich Ihnen sogar. Ich gehe davon aus, dass Ihnen das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Menschen durchaus am Herzen liegen. ({0}) Aber ich habe eine Frage an Sie: Warum fügen Sie dann in das Gesetz, das sich heute in der ersten Lesung befindet und nächste Woche in der zweiten und dritten Lesung verabschiedet werden soll, ein, dass die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes, neben weiteren Grundrechten eingeschränkt und auch durch Rechtsverordnungen nach Absatz 6 des Gesetzes – das ist das, was dann unserer Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel zugutekommen soll – weiter eingeschränkt werden sollen? Also was ist der Sinn, dass Sie explizit festlegen, dass das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt wird, wenn Sie eigentlich – das kann ja die einzige grundrechtliche Begründung überhaupt für Ihre ganzen Infektionsschutzmaßnahmen sein – das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit irgendwie verstärken wollen? Können Sie mir das bitte juristisch mal aufdröseln, warum Sie ausgerechnet die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit einschränken wollen? Das ist ein Abwehrrecht der Menschen gegenüber dem Staat, dass ihnen nichts getan werden kann. Warum soll das hier und heute eingeschränkt werden?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kleinwächter, mit diesem Gesetzentwurf wollen wir Kontakte reduzieren, und das geht natürlich nur durch gewisse Schutzmaßnahmen, die wir ergreifen und im Rahmen dieses Gesetzentwurfs auch formuliert haben. Natürlich gehört es dazu, dass wir im Rahmen des Zitiergebotes auch die Dinge aufgreifen, bei denen unter Umständen eingegriffen wird. ({0}) Das ist ganz normal in diesen Bereichen. Und wir haben die Idee, mithilfe der Rechtsverordnung, die wir erlassen wollen, zu beobachten: Wie wirkt sich denn beispielsweise das Impfgeschehen, wie wirken sich Testungen aus? Und: Müssen wir vor diesem Hintergrund das geltende, jetzt zu verabschiedende Recht unter Umständen entsprechend anpassen? Das geht nur gemeinsam im Deutschen Bundestag, das geht nur gemeinsam mit dem Bundesrat, ist also nichts, was in dieser Zeit irgendwie gefährdend für die Menschen ist. Das ist nicht das Ziel. Ganz im Gegenteil: Wir wollen schützen, wir wollen das Leben schützen, wir wollen in dem Bereich retten. Das ist das Ziel, hinter dem wir uns gemeinsam versammeln. Es wäre schön, wenn Sie als AfD da auch mal mitmachen würden. ({1}) Aber das tun Sie nicht, weil Ihnen die Menschen egal sind, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Mit diesem Gesetz gelten für alle Städte und Landkreise, die eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 aufweisen, gleiche Regeln. Bei einer Inzidenz unter 100 bleiben die Länder zuständig und verantwortlich. Wir haben erneut eine schwere Zeit vor uns. Genau für diese Zeit gilt das nun vorliegende Gesetz, und danach kommen die notwendigen Schritte. Ich bitte Sie: Begleiten Sie dieses Gesetzesvorhaben konstruktiv. Es ist zentral für unsere Gemeinschaft. Herzliches Dankeschön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch. ({0})

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum vierten Mal verlangt diese Bundesregierung vom Parlament die Einschränkung von Grundrechten, die Kompetenzverschiebung in Richtung Exekutive und die Entparlamentarisierung dieser Republik. Mit keinem Wort hat Frau Merkel heute Morgen deutlich gemacht, warum der Bund das, was die Länder schon machen, besser kann und warum dieses Gesetz überhaupt erforderlich ist. ({0}) Was der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon letztes Jahr als verfassungsrechtlich fragwürdig bewertete, wird nun im vierten Aufguss zum Verfassungsbruch. Die Unverletzlichkeit der Wohnung: längst Vergangenheit. Demonstrationsrecht: massiv eingeschränkt. Bewegungsfreiheit wird zur Farce. Nichts hat diese Regierung in der Pandemie vernünftig geregelt bekommen, und jetzt maßt sie sich an, die hinterletzte Kneipe am ostfriesischen Strand oder im Bayerischen Wald regulieren zu wollen. Sie brocken uns das Impfdesaster ein, wälzen mit der Testpflicht auch noch das eigene Versagen auf die Unternehmen ab, deren Hilfen Sie nicht rechtzeitig auszahlen. Und als Gipfel der Unverschämtheit behauptet diese Bundesregierung auch noch, eine solche Gesetzesvorlage bräuchte nicht mal die Absegnung durch den Bundesrat, und es sei keine Zeit für lange wissenschaftliche Debatten. Und jetzt muss alles innerhalb von einer Woche durchgepeitscht werden. Nein, Sie hatten 14 Monate Zeit. Eine solche Verachtung parlamentarischer Verfahren ist wirklich der absolute Gipfel in der laufenden Legislatur. Der Bundestag wird zum reinen Abnickverein degradiert, der Ihnen einen Freifahrtschein für bundesweite Notstandsverordnungen geben soll. Denn so sinnvoll bundeseinheitliche Regelungen auch sein mögen: Dieses Gesetz schafft weit mehr und andere Fakten, die für die Bürger aktuell noch gar nicht kalkulierbar sind. Das Parlament bleibt Befehlsempfänger, während von Ihrer Seite weder Kurskorrekturen noch Verantwortungsübernahmen kamen. Die Größe eines Rücktrittes hat hier schon längst keiner mehr, während irgendwo im Land 4 Millionen Impfdosen rumliegen, bei denen keiner weiß, wo die eigentlich hingehören. Wir werden Corona nicht besiegen, indem wir den deutschen Föderalismus und die Grundlagen unserer parlamentarischen Demokratie zerstören. Echte Demokraten zeigen einer Regierung mit solchen Vorhaben eine klare Rote Karte. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Fechner, SPD. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Lage ist unbestritten dramatisch. Wir hatten in den letzten Tagen immer über 200 Tote pro Tag. Deswegen müssen wir jetzt handeln. Ein ausdrückliches Dankeschön auch von mir an dieser Stelle an alle Pflegekräfte, die sich aufopferungsvoll um alle Erkrankten kümmern. Ganz herzliches Dankeschön hierfür! ({0}) Dass sich die Lage zuspitzt, das hängt auch damit zusammen, dass die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz nicht umgesetzt wurden. Deswegen ist es nötig, dass wir hier heute vom Bund verbindliche Vorgaben für die Länder machen. Diese Bundesnotbremse ist notwendig. Ich will nicht verheimlichen, dass wir, wenn es nach uns gegangen wäre, dieses Projekt schon im November auf der Tagesordnung gehabt hätten. Das wollten die Kollegen von der Union damals nicht – aber besser nie als spät. ({1}) Jedenfalls ist es eine ganz wichtige Maßnahme, dass wir hier heute zu einheitlichen Maßnahmen kommen. Nach der Einführung der Notbremse, die wir hier heute zur Beratung vorliegen haben, werden die Länder bei den entsprechenden Maßnahmen keinen Spielraum mehr haben. Man kann sich darüber streiten, ob diese Maßnahmen, die wir hier vorsehen, überhaupt ausreichen werden, um die dritte Welle zu brechen, ({2}) oder ob nicht weitere Maßnahmen erforderlich sind. Aber eins ist auch klar: Wir können nicht zuschauen, wie die Zahlen, insbesondere die Todeszahlen, weiter ansteigen. Deswegen ist es richtig, dass wir hier für mehr Bundeseinheitlichkeit sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Das gilt insbesondere für die Testpflichten; das ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten Elemente hier. Danke an Hubertus Heil für die guten Vorschläge! Es ist sinnvoll, dass wir die Schülerinnen und Schüler testen, und auch, dass wir die Unternehmen verpflichten, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Testangebot zu machen. Eine ganz wichtige Maßnahme. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre Gift, wenn solche Maßnahmen – das gilt für alle Coronamaßnahmen – von Gerichten gekippt würden. Das würde massiv stören und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger schädigen. Deswegen müssen wir auch in der Pandemie ganz genau auf die Verhältnismäßigkeit und die Angemessenheit der Maßnahmen achten. Damit komme ich zum Thema Ausgangssperren. Ich finde, Ausgangssperren sind grundsätzlich ein geeignetes Mittel, um dafür – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Es gibt den Wunsch einer Zwischenfrage aus der AfD.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Die Debatte hat ein hohes Niveau. Das will ich nicht gefährden. ({1}) Die Ausgangssperren sind grundsätzlich geeignet, um die Kontakte einzuschränken, und deshalb sind sie sinnvoll. Aber ganz klar will ich auch hier erwähnen: Ich finde es gut, wie es zum Beispiel die Hamburger gemacht haben, dass es auch abends, nach Feierabend, noch möglich ist, mit der Partnerin oder dem Partner spazieren zu gehen oder im Freien Sport zu treiben. Deswegen ist für die SPD-Fraktion auf jeden Fall dieses Thema in den Beratungen gesetzt. ({2}) Ich finde, wir sollten hier – und zwar so, dass die Länder nicht wieder davon abweichen können – dafür sorgen, dass diese Ausnahme im Gesetz steht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Auch ganz klar ist, dass der Bundestag bei allen wesentlichen Entscheidungen das letzte Wort haben muss. Das gilt insbesondere für die Regelung, dass die Bundesregierung per Rechtsverordnung zu weiteren Maßnahmen befugt werden soll. Darüber muss der Bundestag entscheiden, insbesondere wenn es um die Frage geht: Wie gehen wir eigentlich mit Geimpften und Genesenen um? Das ist eine so wesentliche Entscheidung; darüber muss hier der Bundestag entscheiden. ({4}) Gehen wir also so in diese Beratungen. Frau Göring-Eckardt, wir sind flott: heute Mittag die Sachverständigenanhörung, Montag die Sondersitzungen der Ausschüsse und am Mittwoch der Abschluss. Wir sind hier also sehr flott unterwegs – der Lage angemessen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lea war immer ein sehr fröhliches Kind. Sie ist seit Monaten ganz ruhig. Ihre Freundinnen hat sie lange nicht mehr gesehen. Seitdem ihr Vater in Kurzarbeit ist, streiten sich ihre Eltern ständig. Mit ihrem Bruder teilt sie sich ein kleines Zimmer. An die Zeit vor Corona kann sie sich kaum noch erinnern. Finn liebt den Fußball. Ihm fehlt die Bewegung. Im Fernunterricht hat er völlig den Anschluss verloren. Die Kamera lässt er aus; dann fällt auch gar nicht auf, dass er gerade erst aufgestanden ist. Er ist sehr aggressiv in letzter Zeit. Jonas ist sauer. Seinen 18. Geburtstag wollte er ganz groß feiern; daraus wird wohl nichts. Die Klubs sind ohnehin geschlossen. Seine Freunde trifft er nur noch zu Hause zum Zocken. Zum Abschlussball wollte er eigentlich Amira endlich fragen, ob sie mit ihm ausgeht. Der Ball ist abgesagt, und auch seinen großen Traum, das Auslandsjahr, kann er vergessen. Mehmet macht eine Ausbildung im Reisebüro. Er kennt jedes Ziel und liebt es, Menschen in Urlaub zu schicken. Mit Stornierungen kennt er sich jetzt bestens aus. Sein Betrieb wird ihn im Sommer nicht übernehmen. Er hat keine Ahnung, wie es weitergeht. Und Jana schmeißt ihr Studium hin, im dritten Semester. Biochemie findet sie eigentlich echt spannend, aber ihr fehlt jede Motivation. Sie ist sehr einsam in ihrem Studentenzimmer. Ihre Professoren und Kommilitonen kennt sie nur vom Bildschirm, wie ein schwarzes Loch. Ihren Nebenjob hat sie verloren, und jetzt wird sie wohl zu ihren Eltern zurückziehen. Und die Bundesregierung? Die produziert fleißig Werbespots, in denen sie junge Menschen zum tapferen Herumgammeln auffordert. Es sei doch ganz leicht, ein Held zu sein. Der faule Tobi müsse einfach nur weiter zu Hause bleiben. Er solle einfach nichts tun und faul sein wie die Waschbären. – Alles Zitate. Was für ein zynisches Bild! ({0}) Über ein Jahr verpasste Jugendzeit ist keine Kleinigkeit. Lea, Finn, Jonas, Mehmet und Jana stehen für eine Generation, die in dieser Krise viel zu oft vergessen wird. Einsamkeit ist nicht nur in den Altersheimen ein Problem. Zwei von drei jungen Erwachsenen leiden massiv unter sozialer Isolation im Lockdown; das sind mehr als in jeder anderen Altersgruppe. Jeder dritte Schüler ist inzwischen psychisch auffällig, häufig depressiv, und jeder sechste Schüler hat inzwischen regelmäßig Gedanken an Selbstmord. Das darf die Politik nicht ignorieren! Den verpassten Abiball, das Gap Year und auch das erste Semester wird man nicht einfach später nachholen. Die junge Generation hat in dieser Krise viel geleistet und viel entbehrt, um die meist ältere Generation zu schützen. ({1}) Sie steht in der Impfreihenfolge ganz am Ende und wird die finanziellen Folgen dieser Krise tragen. Es geht dabei nicht um Jung gegen Alt, sondern es geht um Respekt und Verständnis für beide Seiten. 75 Prozent der Jugendlichen fühlen sich in der Coronapolitik völlig vergessen. Die Sorgen der Jugend sind kein Luxusproblem; sie gehören in das Zentrum der politischen Debatte. ({2}) Deshalb legen wir Freie Demokraten Ihnen heute 31 Vorschläge vor, um die Jugend im Lockdown zu stärken, darunter zum Beispiel eine realistische Öffnungsperspektive für Schulen und Hochschulen, ein Lern-Buddy-Programm zum Aufholen der vielen Lernrückstände, eine krisenfeste und elternunabhängige Studienfinanzierung, mehr Unterstützung bei psychischen Erkrankungen, eine konkrete Impfperspektive auch für Minderjährige, eine schrittweise Öffnung des Vereinssports, einen Coronajugendgipfel, eine generationengerechte Haushaltspolitik und vieles mehr. ({3}) Nehmen wir die mentale Gesundheit junger Menschen endlich genauso ernst wie ihre körperliche Gesundheit. Wenn schlecht belüftete Innenräume das eigentliche Problem sind, dann liegt die Lösung nicht in pauschalen Freiluftverboten. Mit guten Hygienekonzepten und Schnelltests sollten auch kleine Open-Air-Konzerte und gemeinsamer Sport im Freien wieder möglich sein. Junge Menschen brauchen jetzt dringend eine Perspektive, wann und wie die soziale Dauerisolation im Lockdown ein Ende findet. Stellen wir uns gemeinsam dieser Verantwortung, und helfen wir der Jugend im Lockdown! Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Marcus Weinberg, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brandenburg! Ich finde, am Anfang der Debatte müssen wir auch eine Brücke schlagen, und zwar zu der Debatte, die wir gerade geführt haben, in der es um die grundsätzliche Ausrichtung in dem konkreten Bereich, über den wir jetzt in dieser Debatte sprechen, in den nächsten Wochen geht. Deswegen geht es aus meiner Sicht um drei wesentliche Punkte: Erstens. Ich halte es – und das ist in den letzten 60 Minuten formuliert worden – für dringend geboten, dass wir bundeseinheitliche Regelungen schaffen. Es ist ein Notfallmechanismus mit Blick auf die dramatische Situation in den Krankenhäusern, mit Blick auf die B.1.1.7-Mutante, dass wir als Bundestag bundeseinheitliche Vorgaben machen. Ich bin auch ganz offen – in aller Klarheit –, was Ausgangsbeschränkungen angeht, was die Fragestellung angeht, mit wie vielen Personen man sich in einem Haushalt treffen darf. – Das ist der erste Punkt. Das ist der Rahmen, und dieser Rahmen muss jetzt ausgefüllt werden. Damit komme ich zu den zwei weiteren Punkten, die wichtig sind und wo wir, Herr Brandenburg, auch eng zusammenkommen. Das Zweite ist: Bei all den Wellen und Phasen müssen wir auch genau betrachten: Welche Gruppen sind besonders betroffen? In der ersten und in der zweiten Welle waren es die Hochbetagten, die älteren Menschen, die wir schützen mussten, weil sie von dem Virus besonders betroffen waren. Jetzt sind wir in einer Phase, wo wir uns um die Kinder, um die vulnerable Gruppe der Jüngeren kümmern müssen. Jetzt komme ich zum dritten Punkt. Das eine ist natürlich die körperliche Unversehrtheit, die körperliche Gesundheit. Was das bedeutet, erleben wir gerade in den Krankenhäusern. Aber – und da bin ich bei Ihnen – Menschen mit einer Depression, mit Magersucht oder Suizidgedanken landen in der Regel nicht im Krankenhaus und werden momentan nicht gezählt. Aber ihre Zahl nimmt extrem zu, und deswegen müssen wir intensiv darüber beraten, wie wir die psychosozialen Folgen jetzt abmildern und ein Programm entwickeln, um mit Blick auf die nächsten Jahre ({0}) – ich lasse keine Zwischenfrage zu; vielen Dank – sozusagen die Folgewirkungen abzumildern. ({1}) Es muss dem Grunde nach in dieser Phase einen Aufschrei für Kinder und Jugendliche geben. ({2}) Deswegen – nächster Punkt – will ich sagen: Ich muss leider unterstreichen, was Sie zu den Studien ausgeführt haben. Das Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf hat festgestellt, dass 80 Prozent der Kinder, also vier von fünf Kindern – wer mal eine Klasse mit 20 Kindern unterrichtet hat, der weiß, dass das eine gravierende Zahl ist –, besonders stark von der Pandemie belastet sind. Psychologen, Wissenschaftler und Kinderärzte reden von Entwicklungsschäden, und viele Eltern machen sich im Übrigen Sorgen um das Bildungsniveau ihrer Kinder. Deswegen gilt die grundsätzliche Aussage: Es geht um die kognitive Entwicklung, aber auch um die soziale und emotionale Entwicklung. Den Dreisatz kann man möglicherweise – das habe ich zumindest mal getan – auch später noch nachholen. Aber Schädigungen im Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung sind gravierend und – das ist momentan deutlich erkennbar – wirken auf die Kinder und Jugendlichen. Die Folge ist: Es findet keine Sozialisation mehr bei den Kleinkindern statt; die Peergroups in der Adoleszenz können sich nicht mehr treffen und nicht mehr austauschen. Das alles fehlt. Den Kindern fehlen Freizeit- und Sportangebote. Und – das ist die entscheidende Frage – wo findet die Sozialisation statt? In Kindertagesstätten, Schulen und Jugendeinrichtungen. Und man muss sicherlich darüber reden, wie sehr dies junge Menschen in besonderen Lebenslagen betrifft. Ich denke da an diejenigen, die keinen Drucker zu Hause haben und nichts ausdrucken können. Wer erlebt hat, wie ein junges Mädchen vor der Jugendeinrichtung steht und ihren Stick abgibt, damit in der Jugendeinrichtung die Matheaufgabe ausgedruckt werden kann, ({3}) der weiß: Das ist ein großes Problem und eine große Herausforderung. Deswegen ist es jetzt unsere Aufgabe, dies auch mit den Ländern gemeinsam zu besprechen und anzugehen. Die Fragestellung lautet also: Was ist beim Notfallmechanismus zu beachten? Impfen und Testen sind der erste Punkt. Dem Grunde nach ist das das Zentrale, und es betrifft auch Kinder und Jugendliche. Wir haben in das vorliegende Gesetz einen Inzidenzwert von 200 aufgenommen. Ich sage ganz offen: Eines muss uns alle umtreiben: Das Allerwichtigste ist, dass wir die Kitas und Schulen so lange wie möglich – irgendwann wird es mit Blick auf den Gesundheitsschutz nicht mehr möglich sein – offen halten, ({4}) unter Beachtung des Schutzes der Kinder. Das heißt, dass man auch mal differenziert überlegen muss: Wie kann man das machen? Wenn, wie wir im Gesetz formuliert haben, zweimal in der Woche getestet wird, dann ist das ja noch nicht das Ende. Man kann auch fünfmal in der Woche testen, und man kann auch ganz deutlich sagen: Jedes Kind, jede Lehrerin, jede Erzieherin muss entweder geimpft oder getestet in die Schule kommen. Das wäre eine Maximierung der Sicherheit und des Schutzes. ({5}) Vielleicht gelingt es uns dann, den Betrieb an den Schulen etwas länger aufrechtzuerhalten. Denken Sie daran: Die nächsten Wochen werden schwierig und ambitioniert, für uns alle, aber insbesondere für die Kinder und Jugendlichen. Schulschließungen werden irgendwann möglicherweise – einige Länder haben die komplette Schließung ab Montag ja wieder angeordnet – die Folge sein. Aber wenn wir versuchen wollen, das zu vermeiden, dann müssen wir, glaube ich, auch über diese Dinge noch mal nachdenken. Ab Mitte Juni kommt auch eine andere Phase, nämlich sechs Wochen Sommerferien. Früher haben sich sehr viele Menschen darüber gefreut, wenn sie mal sechs Wochen nicht zur Schule mussten; ich gestehe ein, ich auch. Wenn man erlebt, wie ein Grundschüler, der nie proaktiv erzählt hat, wie toll es in der Schule ist, sondern der immer gesagt hat: „Ja, Schule mache ich so“, jetzt auf einmal erlebt, wie wichtig ihm die Schule ist, der nach Hause kommt und als Allererstes erzählt, wie toll der Versuch war, den man in der Grundschule in der 4. Klasse gemacht hat, dann ist das doch ein Indiz dafür, wie die Situation bei den Kindern ist. Deswegen müssen wir beachten: Sommerferien heißt, dass möglicherweise bis Mitte August einige Kinder nicht mehr in die Schule gehen werden. Das muss uns dazu bewegen, darüber nachzudenken, wie wir mit einer Konkretisierung der Stellschrauben zu Veränderungen kommen. ({6}) Und dann – da bin ich beim Kollegen Brandenburg – geht es um das Durchstarten nach der Pandemie – Stichworte „psychosoziale Folgen“, „therapeutische Angebote“ und das Nachholen der kognitiven Lernfähigkeiten zum Beispiel durch Wochenendseminare. Das alles ist etwas, was die Länder als diejenigen, die in diesem Bereich die Kompetenz haben, hauptverantwortlich zu entwickeln haben. Wir als Bund werden das mit unterstützen und wollen das auch mit unterstützen. Die jetzige Phase ist die eine Phase. In der mittel- und langfristigen Phase danach müssen wir die Folgewirkungen für Kinder und Jugendliche abmildern. Damit haben wir eine Riesenaufgabe vor uns. ({7}) Daran müssen wir in den nächsten Wochen unsere Ziele ausrichten, Herr Kollege, und das werden wir auch tun. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zutiefst heuchlerisch, wenn alle Altparteien einerseits Kinderrechte im Grundgesetz verankern wollen, sie andererseits aber die bereits vollständig vorhandenen Rechte der Kinder und Jugendlichen durch den Ewigkeits-Lockdown aushebeln. ({0}) Die Kontaktbeschränkungen und die weitgehende Schließung von Schulen und Kitas sowie von Freizeit- und Sportangeboten ziehen bei Kindern und Jugendlichen schwerwiegende Krankheitsfolgen nach sich. Laut des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit erfüllten 57 Prozent der befragten Jugendlichen Kriterien einer leichten bis mittleren, 38 Prozent sogar einer mittleren bis schweren psychischen Belastungsstörung. Seit Beginn des Lockdowns treten durch Homeschooling, soziale Isolation und Maskierung vermehrt Angst- und Schlafstörungen sowie Depressionen und vor allem Essstörungen bei den Kindern und Jugendlichen auf. Zudem wird eine Zunahme psychiatrischer Notfälle und akuter Suizidalität verzeichnet, vor allem bei circa zwölfjährigen Mädchen. Anscheinend wissen weder Frau Merkel noch Herr Spahn oder Herr Altmaier – da sie selber keine Kinder haben –, ({1}) dass das, was sie unserem Nachwuchs zumuten, eine Katastrophe ist. ({2}) Gerade weil Familien im Lockdown mehrfach belastet sind, ist es wichtig, das Recht der Kinder auf schulische und frühkindliche Bildung und auf soziale Kontakte zu Gleichaltrigen zu gewährleisten und Eltern gleichzeitig zu entlasten. Der Lockdown muss daher unverzüglich beendet und dessen grobe Axt durch das feine Skalpell eines zielgenauen Schutzes der Risikogruppen ersetzt werden. ({3}) Wenn Sie mit offenen Augen durch die Welt gehen – auch Sie, Herr Grosse-Brömer –, dann sehen Sie verzweifelte junge Leute, deren Zukunftsperspektiven sich nun seit über einem Jahr rapide verschlechtern. Schüler haben Mühe, das Klassenziel zu erreichen. Abschlussklassen hadern mit ihren Abschlussprüfungen. Auszubildende finden keine Stelle, und die Zahl der jungen Arbeitslosen nimmt weiter zu. Im Februar 2021 gab es insgesamt 263 000 arbeitslos gemeldete Menschen unter 25 Jahren. Das sind 22 Prozent mehr als im letzten Jahr. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Jugendliche und vor allem solche mit geringen finanziellen Mitteln oder einem instabilen sozialen Umfeld laut JuCo-Studie ihr Vertrauen in die Politik komplett verloren haben, weil sie die Maßnahmen und Versprechungen letztlich als das wahrnehmen, was sie auch sind, nämlich Irrwege und Scheinlösungen. ({4}) Laut Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft werden Bund, Länder und Kommunen bis 2022 für die Coronapolitik 650 Milliarden Euro neue Schulden machen. Die Schuldenbremse muss daher angesichts einer künftigen Staatsschuld von 2,7 Billionen Euro unbedingt bestehen bleiben! Die Nachhaltigkeitslücke, die auch die implizite Staatsschuld umfasst, beläuft sich auf mindestens 357 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und das nicht in einem Dritte-Welt-Land, nein, sondern hier bei uns in Deutschland. Mit dem Ewigkeits-Lockdown ruiniert die Bundesregierung also nicht nur die deutschen Staatsfinanzen, sondern auch die Zukunft der kompletten nächsten Generation. ({5}) Eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen lässt sich dagegen nicht erkennen. Als Erstes muss die unsägliche Umkehrung der Beweispflicht endlich aufhören. Die Positivitätsrate bei den unter 14‑Jährigen ist in den letzten Wochen sogar gesunken trotz verdoppelter Anzahl der Testungen. In der aktuellen Testwelle sind Kinder und Jugendliche also keine Pandemietreiber und sollten auch nicht so behandelt werden. ({6}) Die Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin kommt zum Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche nicht überproportional zum Infektionsgeschehen beitragen. Schulschließungen haben darauf sogar überhaupt keinen nennenswerten positiven Effekt. Aber die negativen Folgen der Schulschließungen könnten zukünftige Generationen lauf ifo-Institut ganze 3,3 Billionen Euro kosten. Daher müssen Schulen, Kitas und Horte unbedingt geöffnet werden und geöffnet bleiben, ({7}) nämlich ohne Testpflicht und ohne den Zwang, eine Maske zu tragen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sönke Rix, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, die Gemüter beruhigen sich. – Gerade der letzte Satz von meinem Vorredner zum Thema „Schulen öffnen“ hat gezeigt – ich glaube, wir sind uns hier alle einig –: Wenn überhaupt Schließungen von Schulen und Kitas, dann ganz zum Schluss! – Dass Sie fordern, die Kinder ohne Sicherheitsmaßnahmen, ohne Schutzmaßnahmen einfach so wieder zur Schule gehen zu lassen, zeigt jedoch: Ihnen geht es gar nicht ums Kindeswohl, Ihnen geht es nur um blanken Populismus! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich – das ist das Problem, und Studien untermauern das auch – leiden Kinder und Jugendliche unter dieser Krise genauso wie die gesamte Bevölkerung. Deshalb ist es ja auch eine Krise. Dass in einer Krise die Menschen nicht himmelhoch jauchzend dabei sind und alles toll und großartig finden, liegt leider in der Natur der Sache. Es ist auch eine dramatische Krise. Es ist die dramatischste Krise, die dieses Land und Europa seit dem Zweiten Weltkrieg jemals erlebt hat. Deshalb sind davon leider auch die Kinder und Jugendlichen massiv betroffen. Die Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf – Kollege Weinberg hat es angesprochen – zeigt auch: Kinder sind vor allen Dingen dann betroffen, wenn auch ihre Eltern betroffen sind. Wenn die Situation der Eltern angespannt ist, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, weil sie unter Stress stehen, weil sie Homeoffice zu Hause erledigen müssen usw., dann spiegelt sich das natürlich auch bei den Kindern wider. Aber was können die Antworten von Politik sein? Da wir nicht mit einem Knopfdruck einfach alles wieder öffnen und sagen können: „Die Pandemie ist vorbei; alle können wieder locker und flockig in Schulen und Betriebe gehen und das Leben weiterleben“, weil das Virus nun mal noch unter uns ist, sind die Hilfen für diese Familien ein wesentlicher Punkt, den Politik leisten kann, nämlich ihnen zu sagen: Dein Arbeitsplatz ist nicht dramatisch gefährdet. Wir kommen mit einer guten Kurzarbeiterregelung über die Runden. Wenn du in finanzielle Nöte gerätst, erleichtern wir es, soziale Hilfen zu bekommen. Und ja, wir retten auch dein Unternehmen, deine Betriebe, indem wir Wirtschaftshilfen auf den Weg bringen. – So schaffen wir es, dass in den Familien der Stress weniger wird. Und ja, wir brauchen auch ganz individuelle Programme für Kinder und Jugendliche. Wir haben zu Recht Riesenpakete in Milliardenhöhe auf den Weg gebracht, um Arbeitsplätze zu sichern, um Betriebe zu sichern und damit auch die Situation in Familien zu erleichtern. Aber wir brauchen eben auch viel Geld für Programme für Kinder und Jugendliche. Gemeinsames Ziel dieser Koalition ist es, dieses Geld auch in die Hand zu nehmen. ({1}) Es gibt die ersten Verhandlungen über ein Paket von 1 Milliarde Euro – besser wären 2 Milliarden Euro. ({2}) – Keine Zwischenfragen, egal von welcher Fraktion. Genau den Kindern und Jugendlichen, die sich in einer Umbruchphase befinden und Nachteile dadurch haben, dass sie nicht dauerhaft am Schul-, am Kitaunterricht teilnehmen können, die nicht in eine Ausbildung starten können, weil es durch die Coronapandemie nicht geht, wollen wir Hilfe zukommen lassen mit zusätzlichen Mitteln zum Beispiel für Sprachkitas. Wenn ein Kind seit einem Jahr in eine Kita mit eingeschränktem Betrieb geht, dann hat es Defizite in der Sprachkenntnis, weil es nicht mit anderen Kindern wie gewohnt zusammenkommen konnte. Also müssen wir in der Zeit nach der Pandemie dafür verstärkt Mittel zur Verfügung stellen, ({3}) ebenso für Nachhilfe an Schulen, aber auch für Ferienmaßnahmen. Die Kinder und Jugendlichen hatten keine vernünftigen sozialen Kontakte. Ich finde es gut, dass Kollege Weinberg gesagt hat: Es geht auch um soziales Lernen. Wie machen wir das? Indem wir zum Beispiel in den Ferien Projekte organisieren und fördern. Kinderstädte – ich weiß nicht, ob Sie das kennen – gibt es in vielen Orten; das sind ganz tolle Demokratieprojekte, ganz tolle Projekte zum sozialen Lernen. Warum kann der Bund nicht solche Projekte zusätzlich unterstützen, damit die Kinder das aufholen können, was sie in der Vergangenheit verpasst haben? Das wollen wir tun. Dafür fordert die SPD zusätzliches Geld. Diese Mittel sind gut angelegt. Mit der SPD wird es diese Mittel auch geben. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Norbert Müller, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst – das mache ich in Reden selten – einen Dank aussprechen, nämlich einen Dank an die Kolleginnen und Kollegen von FDP, von Grünen und auch meiner eigenen Fraktion; denn ohne uns im Deutschen Bundestag wäre seit einem Jahr über die Situation von Kindern und Jugendlichen nahezu gar nicht gesprochen worden. ({0}) Ohne Anträge der demokratischen Oppositionsfraktionen hätte das, was wir heute diskutieren, hier überhaupt keine Rolle gespielt. Dann will ich ein weiteres Mal sagen: Ich finde es, ehrlich gesagt, inzwischen befremdlich, dass die Bundesjugendministerin bei diesen Debatten grundsätzlich fehlt. ({1}) Frau Ministerin Karliczek, vielleicht richten Sie Ihrer Kabinettskollegin aus: Der Job der Bundesjugendministerin ist, sich jetzt um die Situation von Kindern und Jugendlichen zu kümmern und nicht um die Abgeordnetenhauswahl von Berlin. Sie ist noch nicht Regierende Bürgermeisterin. Ihr Platz ist hier in diesen Debatten. ({2}) Kollege Rix, ich finde es super, dass die SPD-Fraktion ein 2‑Milliarden-Programm für die Jugendverbände, für die Jugendsozialarbeit, für die Kinder- und Jugendarbeit anstrebt. Das könnt ihr ganz einfach haben; den entsprechenden Antrag haben wir heute zur Abstimmung im Verfahren. In einer halben Stunde können alle Fraktionen über diesen Antrag abstimmen. Wir beantragen heute ein 2‑Milliarden-Programm für die Kinder- und Jugendarbeit, für die Jugendverbandsarbeit und für die Jugendsozialarbeit. Es wäre ein starkes Signal der SPD-Fraktion, unserem Antrag zuzustimmen. Dann müsst ihr nicht nur darüber reden, wenn die FDP mal wieder eine solche Debatte beantragt; ihr könntet heute direkt handeln. ({3}) Aber es gibt natürlich auch Punkte, die FDP, Grüne und uns trennen. Wir waren uns sehr früh einig – da hat die Regierung noch gepennt –: Wir brauchen Teststrategien. Wir waren uns sehr früh einig – da hat die Regierung noch gepennt –: Wir brauchen Strategien für die Kitas. Aber wir haben unterschiedliche Sichtweisen. Kollege Brandenburg, ich habe Ihren Antrag aufmerksam gelesen. Ich finde es richtig, auf die Situation von jungen Leuten hinzuweisen, bei denen jetzt Abiball und Auslandssemester, Ersti-Party ausgefallen sind. Ich finde es auch völlig nachvollziehbar, dass Sie sagen: Diese Entwicklungsschritte können sie nicht mehr aufholen. – Ja, das stimmt. Ich finde, das ist extrem schade für diese jungen Menschen. Aber das betrifft eben nur einen Teil dieser Generation. Was bei Ihnen überhaupt nicht auftaucht – das ist bei der FDP immer so ein bisschen unterbelichtet –, ist, dass von 14 Millionen Jugendlichen knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche in Hartz-IV-Haushalten und noch mal 2 Millionen in verdeckter Armut leben. Diese jungen Menschen machen in der Regel kein Abitur, sie brauchen über ein Auslandssemester im Master-Studiengang überhaupt nicht nachzudenken, maximal in Ausnahmefällen. Deren Realität vor einem Jahr war, dass aufgrund der Gedankenlosigkeit der Bundesregierung im ersten Lockdown, im März und April 2020, das kostenlose Mittagessen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket über Nacht nicht mehr da war. Die Eltern wussten im März 2020, als der Monat noch sehr lang, aber kein Geld mehr da war, nicht, wie sie zu Hause das Essen bezahlen sollten. Diese Kinder gehen seit Jahren nicht zu Kindergeburtstagen, weil die Eltern nicht wissen, wie sie die Geschenke finanzieren sollen. Familienurlaube finden zu Hause statt und nicht im Ausland. Ich finde, über diese Jugendlichen müssen wir dann auch noch mal reden. ({4}) Und sie haben im Übrigen ein höheres Infektionsrisiko, weil ihre Wohnsituationen in der Regel außerordentlich beschissen sind: Sie leben in kleinen Wohnungen, wo man eng aufeinandersitzt, und nicht im Einfamilienhaus mit großem Garten. Ja, wir haben eine Vielzahl an Maßnahmen hierzu beantragt: eine digitale Grundsicherung, wir haben Pandemiezuschläge zur Grundsicherung gerade für diese Familien beantragt. Das ist hier abgelehnt worden, auch mit den Stimmen der FDP. Ich finde, das wären wichtige Punkte gewesen; aber der Zug ist noch nicht abgefahren. Die Pandemie wird uns noch eine Weile plagen. Wir brauchen endlich Unterstützung für diese Familien, ({5}) weil sie zum Beispiel Tests kaufen müssen – die sind ja nicht überall kostenlos –, weil sie zum Beispiel nach wie vor Masken erwerben müssen – das ist in den Grundsicherungsregelsätzen immer noch nicht ausreichend abgebildet –; deswegen brauchen wir für diese Familien spezielle Unterstützung. Stattdessen sind nach wie vor wichtige Hilfesysteme für Familien ausgebremst. Wir brauchen jetzt eine Perspektive für junge Leute. Ich habe zur Teststrategie schon was gesagt. In Richtung rechts außen sage ich: Die demokratischen Fraktionen sind sich einig: ({6}) Der Weg, Schulen offen zu halten, ist das Testen. Und wenn Kinder und Jugendliche zweimal die Woche verbindlich in Schulen getestet werden – über Kitas können wir vielleicht auch noch reden –, dann gibt es keinen Grund mehr, Jugendhäuser zu schließen, dann gibt es keinen Grund mehr, die Jugendverbandsarbeit auszubremsen, dann gibt es keinen Grund mehr, Jugendsport auszubremsen. Wenn wir die Gewissheit haben, dass Schülerinnen und Schüler zum Beispiel zweimal die Woche verbindlich getestet werden, dann müssen sie die Chance haben, zu ihrer Jugendgruppe in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt zu gehen, dann müssen sie auch die Chance haben, wieder in den Jugendclub zu gehen, natürlich unter Einhaltung entsprechender Hygienemaßnahmen, ({7}) und sie müssen auch wieder die Chance haben, ihrem Vereinssport nachzugehen. Dafür ist das Testen der zentrale Schlüssel. In Richtung der AfD sage ich: Also, zu behaupten, die Pandemie würde herbeigetestet und dass die Pandemie erst entstehen würde, wenn jetzt Millionen Schülerinnen und Schüler zweimal pro Woche getestet würden, ist doch völlig verrückt. Wie kann man auf so eine Idee kommen? ({8}) Sie sagen doch jemandem mit Bluthochdruck auch nicht: Wenn er aufhören würde, regelmäßig seinen Blutdruck zu messen, dann würde die Erkrankung auf einmal aufhören und alles wäre gut. – Irgendwann kippt der Mensch um. Das ist das Problem! ({9}) – Also, jetzt rufen Sie schon wieder dazwischen. Sie sind doch die Fraktion, die immer alles wissen will. Sie wollen wissen, wer über die Grenzen ein- und ausreist, Sie wollen am liebsten wissen, welche Menschen welche sexuellen Neigungen haben. Das wollen Sie immer alles wissen! ({10}) Aber was Sie nicht wissen wollen, ist – da reden Sie dann von Bevölkerungsschutz –, dass Menschen mit einem gefährlichen Virus unter uns sind, in Schulen gehen und möglicherweise Lehrerinnen und Lehrer, möglicherweise sogar Angehörige von Risikogruppen oder andere Kinder anstecken, die zu Hause vielleicht zu pflegende Großeltern haben. Das wollen Sie nicht mehr wissen, da scheißen Sie dann auf den Bevölkerungsschutz. Ich finde das völlig inakzeptabel. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, bitte nicht, Herr Präsident! ({0}) Wenn wir schon beim Testen sind: Ja, ich verstehe Lehrerinnen und Lehrer, die sagen: Also, wir haben jetzt teilweise drei Lerngruppen gleichzeitig unterrichtet, diejenigen im Präsenzunterricht, diejenigen im Präsenzunterricht ohne Präsenzpflicht, die zu Hause sind, und diejenigen im Homeschooling. Wir sind jetzt nicht auch noch die Gesundheitsfachkräfte, wir wollen nicht testen. – Mein Sohn hat gestern eine Tüte mit Tests mitgebracht mit einem schlecht kopierten Zettel dazu. Ich verstehe auch die Eltern, die sagen: Also Leute, wir sollen jetzt auch noch testen, was denn eigentlich noch alles? Wir waren jetzt beste Freunde, Lehrer; das wird mit der Zeit ein bisschen viel. Das verstehe ich alles; das ist ein gutes Beispiel. Deswegen sage ich: Nach der Pandemie darf es nicht so werden wie vor der Pandemie. Wir brauchen in Schulen Gesundheitsfachkräfte wie in Österreich. Wir brauchen in Schulen eine ganz andere Ausstattung, ({1}) damit wir endlich pandemiesicher sind und nicht wieder in Zustände geraten wie vor einem Jahr, über die wir immer noch nicht hinweg sind. Vielen Dank! ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielen Menschen schlägt die Pandemie mit all ihren vielen Einschränkungen inzwischen schwer aufs Gemüt. Ganz besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Wir wissen aus der neuen COPSY-Studie, dass fast 85 Prozent der jungen Menschen durch die Coronakrise besonders belastet sind. Kein Wunder, trifft diese Krise Kinder und Jugendliche in einer kurzen Phase des Lebens, die nicht mehr nachzuholen sein wird: der erste Schultag, der Wechsel in eine weiterführende Schule, die Prüfungen, die Feiern des Schulabschlusses, ein Aufenthalt im Ausland, der Beginn einer Ausbildung oder der Start an der Hochschule. Statt unbeschwert die Welt zu entdecken, überwiegen Ängste, Sorgen und Niedergeschlagenheit. Viele fühlen sich einsam, isoliert, ungehört und auch abgehängt. Das macht mir große Sorgen, und dabei bleibt es leider nicht. Wir sehen einen besorgniserregenden Anstieg von Depressionen, Angst und Essstörungen und – das ist besonders erschreckend – auch von Selbstmordgefährdungen. Eine derart belastete Jugend sollte uns alle hier in Alarmbereitschaft versetzen. Doch von der Bundesregierung hört man kaum was dazu; Kollege Müller hat es gerade schon erwähnt: Frau Giffey macht lieber Wahlkampf in Berlin und überlässt die Arbeit der Opposition. Dann folgen Sie doch wenigstens unseren Anträgen! ({0}) Wir legen in unserem Antrag konkrete Vorschläge vor. Wir freuen uns, dass die FDP viele dieser Vorschläge übernommen hat; doppelt genäht hält besser. Dazu gehört auch die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Frau Giffey hat sich das ja medienwirksam auch selbst auf die Fahnen geschrieben. Warum tut sie es dann nicht, jetzt, noch in dieser Wahlperiode? Jetzt haben Sie die Chance! Nutzen Sie die! ({1}) Wir wollen auch, dass die Belange junger Menschen in der Pandemie endlich mehr gehört werden und dass auch politisch entsprechend gehandelt wird, und zwar jetzt endlich. Die Pandemie dauert noch lange und die Folgen währen. Deshalb fordern wir, endlich einen Pandemierat einzusetzen, der interdisziplinär besetzt ist und explizit die Expertise der Kinder- und Jugendgesundheit einbezieht; denn nur dann sind besonders die Perspektiven und Bedürfnisse von Heranwachsenden im Fokus. Das gilt auch für die Rolle der Schulen. Der Schulbetrieb bleibt drastisch eingeschränkt, und damit verlängert sich die Zeit, in der Kinder und Jugendliche nur ein eingeschränktes Bildungsangebot wahrnehmen können. Das Recht auf Bildung ist vielerorts nicht mehr gewährleistet. Und es verlängert sich auch die Zeit, in der Kinder enorm auf die Unterstützung durch ihr Elternhaus angewiesen sind. Wir wissen, wie sehr sich gerade dieser Umstand auf Bildungsgerechtigkeit auswirkt und die Familien belastet. War Deutschland schon vor der Pandemie das industrialisierte Land, in dem die Bildungschancen wie kaum in einem anderen Land vom Status des Elternhauses abhingen, so sind wir jetzt das Land, in dem die pandemiebedingte Bildungsschere so schnell aufgeht wie nirgendwo sonst in der OECD. Was macht Ministerin Karliczek? Sie lässt sich Zeit. Auf gut Schwäbisch: Man ka halt ned schnell gnuag langsam doa. Die Beispiele dafür sind bekannt: Nehmen wir die Administration, die wir beim DigitalPakt von Beginn an eingefordert haben. Die sichere Verfügbarkeit digitaler Infrastruktur ist der Schlüssel, wenn digitale Medien im Schulalltag selbstverständlich genutzt werden sollen. Der Ruf verhallte ungehört. Erst in den Nöten der zweiten Welle wurde die Finanzierung angegangen – oder besser: sollte angegangen werden. Heute, in der dritten Welle, kann weder die Ministerin selbst noch ihr Apparat Auskunft zum Stand der Umsetzung geben. Man schwankt: Ist das nun Unwille oder Unfähigkeit? Eines ist es sicher nicht: beherztes und verantwortungsvolles Handeln. ({2}) Nächstes Beispiel: Nachhilfeprogramm. Erst vollmundig angekündigt, jetzt auf das nächste Schuljahr verschoben. Das ist falsch, sowohl vom Ansatz her als auch von der Organisation. Erstens. Mit jedem Tag ohne Schule werden die Lücken größer. Je größer diese Lücken sind, umso früher müsste damit begonnen werden, sie zu schließen. Und zweitens. Es entsteht eine Bildungslücke, nicht eine Wissenslücke. Bildung ist viel mehr als Wissen. ({3}) Deswegen ist ein Nachhilfeprogramm, das nur Wissenslücken schließen soll, ({4}) viel zu kurz gesprungen. ({5}) Und es ist ja schön, wenn die SPD das erkennt. Dann soll sie auch unsere Anträge unterstützen. Wir brauchen einen bildungspolitischen Aufbruch, damit die nächste Krise nicht wieder auf Kosten der Schwächsten geht, damit Schulen in der digitalisierten und vernetzten Welt ankommen und die jungen Menschen auf die Zukunft vorbereiten, damit jedes Talent gefördert wird und Wertschätzung erhält, damit gleiche Bildungschancen Realität werden und Gerechtigkeit im Klassenzimmer selbstverständlich wird. Am dringendsten ist es aber jetzt in der aktuellen Notlage, eine Perspektive für eine sichere Lernumgebung und damit einen wenigstens tageweise möglichen Schulbesuch zu entwickeln. Dafür brauchen Schulen vor allem das ganze Instrumentarium an Maßnahmen: regelmäßige Tests, Luftfilter, zusätzliches Personal zur Betreuung kleiner Gruppen und zur Entlastung der Lehrkräfte von organisatorischen Aufgaben, auch – auch! – beim Testen. Wir legen ein praktikables Konzept dafür vor – für die aktuelle Notlage, aber auch darüber hinaus –, damit unsere Kinder und Jugendlichen nicht weiter zu den Verlierern der Pandemie gehören. Deswegen appelliere ich an Sie: Unterstützen Sie unsere Anträge! ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Bettina Margarethe Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Gesundheitsschutz in der Pandemie darf die Folgen von Lockdown-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche nicht aussparen. Deren besondere Schutzbedürftigkeit haben wir erst gestern im Rahmen der Kinderrechtsdebatte erörtert. Zur Gesundheit der Menschen gehört auch die seelische Gesundheit untrennbar dazu, und sie ist bei Kindern und Jugendlichen nach vielen Monaten reduzierter oder ganz wegfallender Sozialkontakte hoch gefährdet. Es beeindruckt zutiefst – und ich danke euch auch dafür sehr herzlich –, dass viele junge Menschen sich ihren Mut, ihren guten Willen, sich zu arrangieren, auf vieles zu verzichten und das Beste daraus zu machen, bewahrt haben und sogar sagen, sie würden die frühere Impfung, die die FDP in ihrem Antrag fordert, gar nicht wollen, wenn dafür Großeltern oder Eltern länger warten müssten. ({0}) Dennoch leiden eben auch viele, gerade diejenigen im schwierigen Alter von Abnabelung und Selbstfindung, die den Spiegel der Peergroup voraussetzen. Für junge Menschen, die erst am Anfang ihres bewussten eigenen Erlebens stehen, sind die absehbaren fünf Monate ohne Schule in Mittel- und Oberstufe, beispielsweise in Hessen, oder das Jahr ohne Teamaktivitäten wie Mannschaftssport, Orchester- und Theaterspiel, Jugendgruppen, Fahrten oder Feiern ein zu großer Teil ihres erinnerten Lebens, um sich nicht schmerzlich sozial amputiert zu fühlen. Hier geraten Entwicklungsprozesse aus der Spur, die mehr sind als Lernrückstände – das ist auch wichtig – durch nur digitalen Unterricht; siehe die Erklärung der Kinder- und Jugendärzte von Ende Februar, die COPSY-Studie aus Hamburg, die JuCo-Studie aus Hildesheim und anderes mehr; vieles ist schon genannt worden. Alle warnen sie vor Schutzmaßnahmen, die auf Kosten der psychosozialen Entwicklung der Kinder gehen; denn es geht – nochmals – auch um seelische Gesundheit. ({1}) Zum Kompensieren und Reparieren machen die Oppositionsfraktionen heute Vorschläge, darunter einige, die auch ich hier schon vorgetragen habe, zum Beispiel einen Jugendgipfel im Kanzleramt, Sonderprogramme für mehr Praktika, Jugendaktivitäten und Jugendaustausch, ({2}) systematische Lernstandserhebungen und Aufholunterstützung in Schule und Studium, Angebote zur psychosozialen Unterstützung. ({3}) Das sind gute Ansätze, die wir in der Union aktuell als Durchstartprogramm verfolgen. Vieles davon wird unumgänglich sein, und an vielem wird ja auch bereits gearbeitet. Zusätzlich ventilieren Sie aber ein ganzes Sortiment an Forderungen, die mit der Pandemie ungefähr so viel zu tun haben wie Freddie Mercury mit dem Thermometer. Liebe FDP, Minijobs zu Midijobs aufpumpen, ({4}) ein Gründungssemester einführen oder das Tanzverbot an „stillen Feiertagen“ abschaffen, Grenzen offenhalten, Schuldenbremse, Rentenreform und Klimaschutz: Das alles ist möglich, und das ist auch gar nicht schlecht, aber es ist kein stimmiges Programm zur Bewältigung der Coronakrise im Hinblick auf Kinder und Jugendliche. ({5}) Schließlich noch ein besonderer Punkt – Sie haben ihn vorhin auch erwähnt –: ein elternunabhängiges Baukasten-BAföG, für dessen Einsatz die wirtschaftliche Situation der Eltern keine Rolle spielen soll. Wo bleibt denn hier die Eigenverantwortung der kleinsten sozialen Gemeinschaft, der Familie, wo das Subsidiaritätsprinzip? Man staunt. ({6}) Der Antrag der Grünen „Jugend in der Krise“ ist ein ähnlicher Bauchladen mit bunten Themen rund um die Jugend. Digitale Endgeräte für bedürftige Jugendliche: Die gibt es inzwischen. SGB-VIII-Reform: nächste Woche im Plenum. Wahlalter 16 wegen Corona: an den Haaren herbeigezogen. ({7}) Ich bin unbedingt für systematische Beteiligung von Jugendlichen und auch Kindern an sie betreffenden Entscheidungen; das wissen Sie von mir, dafür setze ich mich ein und meine Fraktion auch. Das allgemeine Wahlrecht stellt aber eine Verantwortung dar, in die man hineinwachsen dürfen muss, und das gilt auch nach Corona. ({8}) Zu den Anträgen der Linken. Der Ruf nach immer mehr Geld – Sie haben auch vieles Richtige gesagt, Herr Kollege Müller – ist enttäuschend fantasielos. Allein für den wichtigen Bereich Jugendbildungsstätten sind bereits 200 Millionen Euro mobilisiert. Wir reden über weitere Programme; Kollege Rix hat es angesprochen. Die SGB-VIII-Reform steht vor dem Abschluss und wird auch nicht kostenlos umgesetzt werden können. Es ist schade, dass nicht mehr von Ihnen kommt. ({9}) Zurück zum Wesentlichen. So wichtig Auffang- und Reparaturmaßnahmen sind, viel wichtiger ist die Prävention. Viele Fehlentwicklungen können wir bremsen oder stoppen, indem wir alle verfügbaren Mittel auch wirklich zum Einsatz bringen und besonders die Systeme Schule, Kita, Jugendeinrichtungen zu sicheren Orten auch in der Pandemie machen. Gerade wenn jetzt über einen nochmals härteren Brücken-Lockdown gesprochen wird und er vielleicht notwendig wird, dann muss er mit einer geballten Testoffensive für offene Schulen, Kitas, Jugendeinrichtungen verbunden werden. ({10}) Denn deren Schutz als überschaubare Einrichtungen mit festen Gruppen ist organisatorisch relativ einfach und vergleichsweise billig. Engmaschige, am besten tagtägliche Selbsttests in Schulen und Kitas kombiniert mit dem wöchentlichen kostenlosen und ohnehin zugesagten Bürgertest, auf den ja auch Kinder und Jugendliche einen Anspruch haben, mit klarem Meldeprozess bieten nicht nur Schutz, sondern endlich auch echten Aufschluss zum Infektionsgeschehen in Schulen und Kitas. Deshalb dürfen sie eben nicht zu Hause gemacht werden. ({11}) Diese Testoffensive würde unseren 7,5 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern – das sind rund 25 Millionen Menschen in unserem Land – in der härtesten Phase der Pandemie einen Großteil Normalität zurückgeben. Davon profitieren würden auch Eltern und ihre Arbeitgeber, weil damit forderndes Homeschooling, die Kinder bei Laune zu halten, sie zu trösten oder Beratung für sie zu suchen, entfiele. Dies wäre ein Weg, noch einmal Akzeptanz für härtere Einschränkungen in anderen Bereichen zu finden. Ein Letztes. In Hessen ist die beaufsichtigte Anwendung von Selbsttests an über 20 Pilotschulen vor Ostern erfolgreich erprobt worden. Sie sollte jetzt auf alle Jahrgänge ausgeweitet werden. Es ist mir unverständlich – liebe Kollegin Stumpp, entschuldigen Sie –, warum die Grünen in Wiesbaden nicht mitziehen und stattdessen die testgesicherte Rückkehr der Klassen 7 bis 11 an die Schulen auf ihr Betreiben hin abgesagt wurde, noch weit unterhalb der Schwelle von Inzidenz 200. Ich sage: Lassen Sie es uns anders machen. Lassen Sie uns loslegen. Lassen Sie uns Kindern und Jugendlichen in der Pandemie ein Maximum an Normalität zurückgeben. Viele im Raum tragen dafür Verantwortung auf vielen Ebenen in diesem Land. Gestern wollten wir alle zusammen die Kinderrechte voranbringen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Wiesmann, Sie können weitersprechen, tun das aber auf Kosten Ihrer Kolleginnen.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute können alle dazu beitragen. Ich danke für die Aufmerksamkeit und für Ihre Geduld. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Debatte hat etwas Gespenstisches. Sie alle, alle Redner, haben bisher beschworen, wie schlecht es um die Jugend steht, wie schlecht es ihr geht. Sie haben die psychosozialen Folgen beschrieben, aber ausgesprochen haben Sie nicht, dass das nicht die direkten Folgen des Coronavirus, sondern dass es die Folgen Ihrer Maßnahmen sind. ({0}) Meine Damen und Herren, was haben Sie denn geglaubt, was passiert, wenn man die Schulen schließt? Wir reden nicht nur von Schulschließungen über wenige, kurze Wochen. Dem haben sogar wir zugestimmt vor Beginn der Sommerferien letzten Jahres. Wir reden über Schulschließungen, die sich jetzt schon über ein Jahr hinziehen. Was haben Sie denn geglaubt, was passiert, wenn man den Vereinssport zum Erliegen bringt, wenn man Jugendhäuser schließt, wenn man auch sonstige Möglichkeiten nimmt, die Freunde zu treffen usw. usf.? Denken Sie doch bitte mal zurück, wie wir unsere Kindheit erlebt haben. Es sind doch Erlebnisse, die es nur einmal zu machen gibt im Leben: 14 Jahre alt: die erste Party, die erste Freundin, das erste Tanzfest; 18 Jahre: der 18. Geburtstag, die Abiturfeier. All das fällt jetzt aus. Und wir wissen nicht, wie lange das noch weitergehen soll, meine Damen und Herren. Mit dem Beschluss, den Sie jetzt durchpeitschen wollen, geben Sie der Jugend keine Perspektive auf ein Ende der Pandemie, sondern Sie geben ihr nur die Perspektive, dass es keine Aussicht auf ein mögliches Ende gibt. Das ist ein Verbrechen an unseren Kindern und an unserer Jugend, meine Damen und Herren. ({1}) Vor Kurzem hat der „Spiegel“ eine Fotoserie der Fotografin Rebecca Hoppé veröffentlicht. Wenn Sie sich diese 14 Fotos ansehen, dann fällt eines auf: Es sind Jugendliche in der Pandemie. Gucken Sie sich diese 14 Fotos an. Ihnen wird etwas auffallen – vielleicht, hoffe ich –: Keiner dieser Jugendlichen lacht, keiner lächelt. Wir blicken in leere Augen wie in die Augen von Kindern, die sich in einem Land, in dem Bürgerkrieg oder Krieg herrscht, befinden. Meine Damen und Herren, was Sie der Jugend antun, ist dramatisch, und wir verstehen nicht, warum gleichzeitig Betriebe außen vor bleiben, warum niemand davon gesprochen hat, dass in Betrieben zum Beispiel verpflichtende Tests eingeführt werden sollen. Aber an Schulen: Die Schulen werden weiter gegängelt, werden geschlossen gehalten. Meine Damen und Herren, wir sagen: Bildung und Ausbildung ist genauso systemrelevant. Je länger die Situation dauert, desto wichtiger ist es, dass unsere Schüler auch wieder in die Schulen zurückkönnen. Dafür müssen wir viel mehr tun, als Sie bisher getan haben. ({2}) Herr Rix, ein letztes Wort noch. Es ist nicht wahr, dass wir sagen: Einfach die Schulen aufmachen. Seit einem Jahr liegen wir Ihnen in den Ohren und machen Ihnen konkrete Vorschläge, was man tun kann: mit intelligenten Rotationsmodellen, mit einer Sanierung der Schulen usw. ({3}) Nichts davon haben Sie getan. Sie haben Verantwortung in den Ländern. Sie haben geschlafen. Sie haben die Sommerferien über geschlafen. Sie haben ein ganzes Jahr lang geschlafen. Sie handeln immer erst dann, wenn es zu spät ist, und damit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Herren. Wir können das so nicht länger mittragen. Das sind die Auswirkungen Ihrer verfehlten Politik, und dafür müssen Sie die Verantwortung übernehmen, nicht wir. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Mal diskutieren wir an dieser Stelle Anträge, die junge Menschen und ihre schwierige Situation in den Blick nehmen. Das ist gut und richtig; denn sie leiden weiterhin unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Vielleicht helfen auch unsere Debatten, dass sich die jüngere Generation von der Politik besser wahrgenommen fühlt. Jugendliche und junge Erwachsene haben besondere Entwicklungsaufgaben. Der 15. Kinder- und Jugendbericht nennt als solche Herausforderungen die Qualifizierung, die Verselbstständigung und die Selbstpositionierung. Es fehlen also keineswegs nur das Feiern und Partymachen bis in die Puppen. Schule, Studium, Ausbildung, der Umzug in die erste eigene Wohnung, das Praktikum in einer fremden Stadt, aber auch alle Arten gemeinsamer Aktivitäten, abendliche Treffen im Freundeskreis, der Austausch untereinander, all das funktioniert im Moment nicht wirklich, und das bleibt nicht ohne Folgen für Bildungswege und seelisches Wohlbefinden. Es stimmt ja: Lernstandserhebungen und Aufholprogramme für Schülerinnen und Schüler sind wichtig. Einzelne Länder, wie zum Beispiel Hamburg, haben sie bereits auf den Weg gebracht, und auch der Bund wird sich hier ab Herbst beteiligen. Aber das reine Pauken in Form von Nachhilfe im Anschluss an den Unterricht oder in den Ferien greift meiner Meinung nach zu kurz. ({0}) Als SPD-Fraktion – und auch hier mein Dank an Saskia Esken für ihren Einsatz – haben wir uns deshalb für ein umfassendes Förderprogramm von 2 Milliarden Euro ausgesprochen, ({1}) das neben der frühkindlichen und schulischen Bildung auch die Kinder- und Jugendhilfe mit ins Boot holt. ({2}) So können gerade benachteiligte Gruppen junger Menschen über Schul- und Jugendsozialarbeit gut angesprochen werden. Auch außerschulische Freizeit- und Ferienprogramme sind zu integrieren und zu fördern, weil es bei der Persönlichkeitsentwicklung nicht nur auf die formelle Qualifizierung allein ankommt. Bei allem Verständnis für kurzfristige Aufholprogramme: Was wir brauchen, sind starke Regelsysteme. Dazu zählt die Reform der Kinder- und Jugendhilfe, die wir hoffentlich in der nächsten Woche beschließen werden. Dazu zählt eine reguläre und ausfinanzierte digitale Lernmittelfreiheit, die wir seit Monaten fordern. ({3}) Dazu zählt auch der Ausbau der Ganztagsbetreuung an Schulen, die auch eine Ganztagsförderung mit vielfältigen Angeboten zur außerschulischen, nicht formalen Bildung sein soll und die deshalb Lernrückstände ausgleichen kann.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bahr, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Müller?

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Ulrike Bahr, dass die Zwischenfrage zugelassen wird. – Ich habe vorhin darauf hingewiesen. Ich würde gerne wissen, ob die SPD-Fraktion zustimmen wird. Wir stellen in diesem Tagesordnungspunkt zur Abstimmung – ich zitiere –: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, 1. im Rahmen des Konjunkturpaketes die Angebote nach den §§ 11 bis 13 SGB VIII – das ist der Freizeitbereich – betreffend die Kinder- und Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit und Jugendsozialarbeit mit einem Investitionsprogramm in Höhe von 2 Mrd. Euro auszustatten … Ich habe aufmerksam zugehört. Ich bin ganz begeistert von deiner Rede. Aber du hast doch gerade genau das vorgeschlagen, was wir hier beantragen. Wird die SPD-Fraktion dem jetzt zustimmen, oder wird sie es selber einbringen; von mir aus auch wortgleich? Ich mache auch kein Copyright geltend. Wichtig ist doch, dass es jetzt endlich kommt und dass das hier nicht nur Wahlkampfreden werden. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist doch ganz einfach: Ich habe hier gesagt, dass unsere SPD-Fraktion dieses Förderprogramm einbringt. Wir wollen diese 2 Milliarden Euro haben. Aber wir sind auch in einer Koalition, und da sind wir natürlich darauf angewiesen, dass wir in dieser Koalition diesen Weg gemeinsam gehen. Das ist doch auch ganz klar. Und was die SGB‑VIII-Reform angeht: Da bin ich sehr gespannt auf die Debatte in der nächsten Woche, weil das alles in diesem SGB VIII drinsteckt. Die SGB‑VIII-Reform betrifft die Interessen und Belange aller Kinder und Jugendlichen. Ich verspreche mir von dieser Reform, die einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise einleiten wird, wie der Staat mit Kindern und Jugendlichen und auch mit deren Familien umgeht, sehr wohl eine konstruktive Diskussion. Ich freue mich schon auf die Oppositionsanträge. – Vielen Dank. ({0}) Ich komme zum Schluss. So ein umfassender Ansatz, wie ich ihn beschrieben habe, wird leichter auf allen Ebenen umsetzbar und das Geld dafür schneller zu finden sein, wenn wir zwei weitere Projekte beschließen würden, die sich ebenfalls in einigen Oppositionsanträgen befinden: die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz und die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Auch dafür setze ich mich, setzt sich unsere Fraktion weiterhin mit Nachdruck ein. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Wochen und Monaten waren in den sozialen Medien, aber auch im persönlichen und im privaten Bereich viele Wortmeldungen junger Menschen zu lesen und zu hören, die sich darüber gefreut haben, dass Angehörige geimpft worden sind: Eltern, Großeltern, ältere Bekannte, andere Familienangehörige. Ich glaube, dass diese Freude über die Tatsache, dass diese anderen Menschen zumindest teilweise immunisiert sind, etwas über den Charakter und das Verantwortungsbewusstsein der jungen Menschen aussagt. ({0}) Denn die zeigen in ihrer Freude, dass sie Anteil nehmen und Anteil haben an der besonderen Gefährdung älterer Bevölkerungsgruppen. Ich finde es deswegen gut und richtig, dass wir heute hier fraktionsübergreifend über die Perspektiven der jungen Generation diskutieren. Ich glaube, dass diese Debatte uns auch eine Lehre sein sollte dahin gehend, dass man verschiedene Generationen nicht gegeneinander ausspielen sollte. Dann bin ich aber schon verwundert, dass einer der wesentlichen Vorschläge aus der Unionsfraktion im Zusammenhang mit Kinder- und Jugendpolitik in den letzten Monaten die Wiederaufwärmung der allgemeinen Dienstpflicht war, in Gestalt eines sogenannten „Gesellschaftsjahres“. Wir müssen uns das mal klarmachen: Wir reden über eine Generation, die gerade einen enormen Freiheitsverlust hingenommen hat – keine Abipartys, keine Abschlussfeiern, keine Praktika, keine Studienfahrten, also ein Weniger an Freiheit. Und in dieser Situation kommt die Union um die Ecke und sagt: Jetzt verstaatlichen wir ein ganzes Lebensjahr, weil wir nicht auf euer Verantwortungsbewusstsein, weil wir nicht auf eure Freiwilligkeit, weil wir nicht auf eure Motivation, weil wir nicht auf euer Bewusstsein für die Situation der älteren Menschen setzen, sondern weil wir euch verordnen wollen, was richtig ist. – Und das geht nicht. ({1}) Wir müssen den Bundesfreiwilligendienst attraktiver machen, wir müssen das Freiwillige Soziale Jahr attraktiver machen, wir können auch darüber sprechen, wie wir die Bundeswehr attraktiver machen. Aber diese Haltung, diese Attitüde aus der älteren Generation, zu sagen: „Jetzt macht mal schön Dienstpflicht“ – in dieser Situation, wo es den Leuten ohnehin schon schlecht geht –, das ist wirklich der falsche Weg. Wir machen Ihnen als Junge Gruppe der FDP-Bundestagsfraktion konkrete Vorschläge im Bereich Digitalisierung, siehe DigitalPakt 2.0. Wir machen Ihnen konkrete Vorschläge mit Blick auf das Thema Bildung, siehe Lern-Buddys. Wir machen Ihnen konkrete Vorschläge mit Blick auf das Thema der wirtschaftlichen Perspektive: Erhöhung der Minijob-Grenze; endlich mal hoch, von 450 mindestens auf 560 Euro, und dann dynamisiert. Das wäre der richtige Weg. Das ist konkret und besser als Symboldebatten aus der Union mit Blick auf die Dienstpflicht. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will zum Abschluss noch kurz sagen, dass sich das, was momentan mit der jungen Generation passiert, nicht nur auf die Freiheitsbetätigung dieser Menschen auswirkt. Vielmehr hat das auch eine massive Auswirkung erstens auf die Perspektiven der dualen Ausbildung. Die Zahlen bei den Lehrstellen brechen momentan ein, sowohl Angebot als auch Nachfrage. Und, zweitens, was da passiert, hat eine massive Auswirkung auf die Internationalität dieser Menschen, weil Erasmus-Semester nicht gemacht werden können, weil sich Grenzschließungen ganz massiv auswirken. Wir sollten über unsere Maßnahmen sprechen, wir sollten aber auch darüber sprechen, wie wir die betriebliche Ausbildung und die internationalen Erfahrungen dieser jungen Generation nach der Krise stärken können. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Astrid Mannes für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte zeigt: Uns eint das gemeinsame Verständnis darüber, dass Kinder und Jugendliche besonders unter der Pandemie leiden und dass sie eben nicht Verlierer der Pandemie werden dürfen. Jeder muss daher während dieser Krisenzeit im Rahmen seiner Zuständigkeiten seine Hausaufgaben machen. Wir sehen aber die Unterstützung der Schülerinnen und Schüler durchaus als nationale Aufgabe an, bei der der Bund die Länder im engen Miteinander unterstützt. Uns besorgt es, wenn ein nicht unerheblicher Prozentsatz von jungen Menschen durch die Coronazeit große Lernrückstände hat. Wir möchten, dass Schülerinnen und Schüler gut gerüstet ihren weiteren Weg in Angriff nehmen können. Dafür verhandelt die Bundesministerin Anja Karliczek mit den Ländern über ein Nachhilfeprogramm für Kernfächer wie Deutsch, Mathematik oder auch die erste Fremdsprache. Dafür soll 1 Milliarde Euro als Anschubfinanzierung vom Bund bereitgestellt werden. Der Bund lässt die Länder also nicht alleine. Ich nenne auch die zu Jahresbeginn gestartete Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“, mit der die Bildungschancen von sozial benachteiligten Schülern verbessert werden sollen. 200 Schulen in sozial schwierigen Lagen werden bei der Erfüllung ihres Bildungsauftrages unterstützt. ({0}) Das ist ganz wichtig; denn wir alle wissen, dass gerade die Schüler, die unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen leben, auch schulisch in der Coronapandemie besonders betroffen sind. Ich erinnere an die 6,5 Milliarden Euro, die der Bund den Ländern zur Digitalisierung an den Schulen bereitgestellt hat. Einige Länder haben ja schon ordentlich Mittel abgerufen, andere müssen ihre Hausausgaben noch machen. Es gibt aus diversen Bundesländern sehr gute Beispiele, die uns zeigen, dass man nicht nur nach dem Bund rufen muss. In meinem Heimatland Hessen konnten Schulen ein Lerncamp für besonders förderbedürftige Schülerinnen und Schüler anbieten. Die Teilnahme war kostenfrei und freiwillig. Ich nenne ebenso den „Lernsommer“ in Schleswig-Holstein. Hamburg hat das Mentorenprogramm „Anschluss“ auf die Beine gestellt: Lehramtsstudierende, pensionierte Lehrer oder auch Volkshochschullehrer bieten in kleinen Gruppen Extrastunden am Nachmittag an. Darüber hinaus beraten, stärken und motivieren die Mentorinnen und Mentoren ihre Schülerinnen und Schüler in allen schulischen Fragen. Der Bund unterstützt aber nicht nur mit einem Nachhilfeprogramm, mit dem Programm für Schulen in sozial schwierigen Lagen oder im Bereich der Digitalisierung. Wichtig ist, auch während der Pandemie so viel Präsenzunterricht wie möglich stattfinden zu lassen und den Kindern so viel Normalität wie möglich zu ermöglichen; das haben die Vorredner ja auch schon betont. Dieses Ziel kann mit einer umfassenden Test- und Impfstrategie erreicht werden. In den vergangenen Wochen wurden Millionen von Schnelltests für die Schulen beschafft. In vielen Bundesländern werden Schülerinnen und Schüler zweimal wöchentlich zu Beginn der jeweiligen Unterrichtszeit getestet. Beschäftigte in Kinderbetreuungseinrichtungen, in der Kindertagespflege, aber auch die Lehrkräfte an Schulen werden oder wurden priorisiert geimpft. Und nachdem die Notfallzulassung für den Impfstoff von BioNTech/Pfizer in den USA und in der EU für Jugendliche ab 16 bereits bedingt genehmigt wurde, soll die Notfallzulassung nun für die Gruppe der 12- bis 15‑Jährigen ausgeweitet werden. Auch Moderna hat eine Studie zur Wirksamkeit und Verträglichkeit ihres Impfstoffes für die 12- bis 18‑Jährigen gestartet. Das gibt uns doch Hoffnung in Richtung Normalität. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Marja-Liisa Völlers für die SPD-Fraktion. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute insgesamt sieben Anträge der Oppositionsfraktionen. Hierbei handelt es sich teilweise um Altanträge, zum Beispiel den Antrag der Linken aus Juni 2020, oder um bekannte Forderungen, die einfach nur ein bisschen erweitert und dann neu verpackt worden sind. ({0}) Ich muss aber wirklich feststellen, dass uns alle oder fast alle hier in diesem Hause die große Sorge um die Kinder und Jugendlichen in unserem Land eint. Von daher begrüße ich die Debatte durchaus. Grundsätzlich finden sich in allen Anträgen gute Ansätze, die aber in weiten Teilen bereits bei der Bundesregierung adressiert sind, aber auch Zuständigkeiten der Länder berühren. In Anbetracht der Kürze der Zeit schaue ich mir exemplarisch den Antrag der FDP „Jugend im Lockdown“ ein bisschen genauer an. Kollege Brandenburg hat sicherlich einige richtige Ansätze skizziert. Dennoch muss ich feststellen: Dieser Antrag könnte genauso gut unter dem Titel laufen „Wir wollen alles, außer dafür bezahlen“. ({1}) Was macht die FDP? – Sie fordern einen Digitalpakt 2.0. Wie genau der finanziert werden soll, wird irgendwie nicht klar. Am Ende Ihres Antrags gehen Sie darauf ein, Sie wollen die Schuldenbremse natürlich nicht antasten. ({2}) Und wenn ich dann noch mal einen kurzen Blick in Ihr Wahlprogramm werfe, in dem steht, dass die Einkommensgrenze für die Anwendung des Spitzensteuersatzes von 58 000 Euro auf 90 000 Euro angehoben werden soll – über den Soli habe ich noch gar nicht angefangen zu reden –, dann weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, wie wir das hier alles miteinander bezahlen sollen, was Sie perspektivisch schon wieder fordern. ({3}) Von daher ist es dann doch wieder ein typischer Oppositionsantrag. ({4}) Meine Damen und Herren, viele der sieben Anträge betonen die Lernrückstände von Kindern und Jugendlichen. Ich bin selbst Lehrerin, und ich weiß: Schule ist noch viel, viel mehr als Lernen. Wenn man sich mit Kindern und Jugendlichen austauscht, wie ich erst gestern, indem ich mich mit einer meiner ehemaligen Schülerinnen, die dieser Tage ihr Abitur schreiben wird, unterhalten habe, dann wird sehr, sehr schnell deutlich: Ja, junge Menschen machen sich große Sorgen um Lernrückstände und ihre Zukunft. ({5}) Aber sie betonen eben auch den fehlenden sozialen Aspekt. Sie vermissen das Miteinander, das Miteinander-Lernen, das Miteinander-Streiten, den Austausch mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, aber auch mit den Lehrkräften. Schule ist für sie eine positive Atmosphäre, die aktuell aber nicht mehr existiert. ({6}) Umso wichtiger ist es, und das wurde heute bei vielen Rednerinnen und Rednern auch der Koalitionsfraktionen – Kollegin Bahr, Kollege Rix – deutlich: Wir müssen uns insbesondere um die psychosozialen Folgen der Coronakrise für unsere Kinder und Jugendlichen kümmern. Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Ich hoffe, dass wir hier in der Regierung noch einen weiteren großen Schritt machen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat gestern bei der Einbringung des Nachtragshaushalts gesagt: Ja, wir müssen ein Förderprogramm auflegen, um die Lernrückstände, aber eben auch die sozialen Folgen bei den Kindern und Jugendlichen zu beheben. ({7}) Nun ist es an Frau Karliczek und an Bundeskanzlerin Merkel, ({8}) das jetzt endlich umzusetzen, was unser Bundesfinanzminister gestern noch mal so stark gefordert hat. In diesem Sinne: Arbeiten wir daran weiter! Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Katrin Staffler das Wort. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zumindest bei dem Teil der Debatte, in dem es um die Schule, um das Lernen ging, habe ich beim Zuhören sehr deutlich das Gefühl gehabt, dass wir komplett vergessen haben, wo wir bei diesem Thema eigentlich herkommen. Es ist jetzt gerade mal ein gutes Jahr her, dass Debatten über das Thema „Digitalisierung in den Schulen“ im Grunde genommen meistens schon im Keim mit Argumenten wie den folgenden erstickt wurden: Ja, darauf müssen wir uns erst mal vernünftig vorbereiten; dafür haben wir noch gar kein richtig ausgearbeitetes Konzept; das geht nicht aus datenschutzrechtlichen Gründen usw. usf. Und dann ist das Virus gekommen, und plötzlich war alles anders. Von heute auf morgen haben wir nicht nur darüber diskutiert, wie wir die Schulen stärker digitalisieren, wir haben zeitweise sogar komplett auf Homeschooling umgestellt. Und jetzt wird hier so getan, als wäre das alles der komplette Untergang des Lernens. Natürlich, zugegeben: Es hat nicht von Anfang an alles perfekt funktioniert. Das tut es in Teilen auch heute noch nicht. Aber wir haben endlich mal angefangen, diese ganzen erdrückenden Bedenken abzuschütteln, und wir haben einfach angefangen, umzusetzen, einfach so. Großartig! ({0}) Und ja, es gehört zur Wahrheit dazu, dass uns das letzte Jahr teilweise sehr schmerzhaft vor Augen geführt hat, wo es in unserem Bildungssystem noch Verbesserungsbedarf gibt. Aber das ist doch kein Grund, jetzt vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen und von heute auf morgen wieder zurück in diese alten Verhaltensmuster zu fallen. Ich finde, wir sollten es uns alle zusammen – ich nehme uns selber da nicht aus – zur Aufgabe machen, dass wir in der Frage der digitalen Schule einfach mal ein Stück weit pragmatischer werden. Was den Verbesserungsbedarf anbelangt: Den gibt es natürlich, ja, aktuell zum Beispiel beim Thema Lernfortschritt. Das ist ein alarmierendes Thema, völlig außer Frage, und natürlich muss da gehandelt werden, und zwar schnell. Und wir müssen entschlossen handeln. Auf Basis der Kompetenzordnung unseres Grundgesetzes kann der Bund aber nur den nötigen Anschub leisten. Und genau deshalb ist es doch richtig und vernünftig, dass unsere Bildungsministerin auf die Länder zugegangen ist, um schnelle und zielgenaue Hilfen auf den Weg zu bringen. Den Ansatz, den sie dabei gewählt hat, sich dabei vor allem auf die Klassenstufen zu konzentrieren, bei denen ein Wechsel bevorsteht, und auch zunächst nur die Kernfächer und die Kernkompetenzen in den Blick zu nehmen, finde ich richtig. Genau das ist der Pragmatismus, den wir brauchen und der es möglich macht, dass wir schnell und fokussiert da ansetzen und da helfen, wo es am allernotwendigsten ist, ohne dass wir uns im Klein-Klein verlieren. ({1}) Und damit das Ganze jetzt zum Erfolg wird, müssen die Länder ihre Hausaufgaben machen. Sie müssen kräftig mithelfen, und ich würde mir eines wirklich sehr, sehr, sehr wünschen, nämlich dass auch die Länder da mit dem nötigen Quäntchen Pragmatismus vorgehen, um diese Dinge umzusetzen. Mit dem Bund-Länder-Programm erfüllt die Bundesregierung übrigens auch zahlreiche Forderungen aus den vorliegenden Anträgen, zum Beispiel das Chancen-Aufholprogramm, das die FDP fordert. Das steht jetzt natürlich nicht als Chancen-Aufholprogramm drin, aber die Inhalte sind sehr wohl enthalten. Für den Bildungsschutzschirm, der von den Grünen kam, gilt das Gleiche. All diese Dinge sind in diesem Programm mit drin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist in der Debatte heute eines schon mehrfach angesprochen worden, und das möchte ich auch noch mal sehr deutlich sagen: Die große, große Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland hat in der Krise nicht nur Disziplin gezeigt. Sie haben sehr, sehr deutlich gezeigt, wie groß ihre Solidarität mit der älteren Generation ist. Sie haben unter Beweis gestellt, dass sie ein großes Verantwortungsgefühl haben. Und deswegen sind wir es – wir! – unseren Jugendlichen, den jungen Menschen in diesem Land, jetzt schuldig, dass wir Zukunftsperspektiven aufzeigen, und zwar ganz pragmatisch, gemeinsam und vor allem schnell. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Jugend ausgebremst wird. Die Coronapandemie hält das Land seit über einem Jahr im Griff. Viele haben keine Kraft mehr und wollen zurück in ein Leben, in dem man Freundinnen und Freunde besuchen, Geburtstage feiern und in den Urlaub fahren konnte. Für die jungen Menschen, die für ihre persönliche Entwicklung auf den direkten Austausch mit anderen angewiesen sind, ist die Coronapandemie ein besonders großer Rückschlag. Für mich als Vater eines 18‑Jährigen, der in Abiturprüfungen steckt, ist eindeutig klar: Wir müssen alles dafür tun, ({0}) dass sich junge Menschen weiterentwickeln können und ihre Interessen berücksichtigt werden. Wenn ich höre, dass Depressionen bei Jugendlichen zunehmen, sich Einsamkeit breitmacht und Hoffnungen verlorengehen, dann haben wir eine ernste Krise. Und wir müssen sie überwinden. Abschlussfahrten werden abgesagt. Das Leben, das man verpasst hat, bekommt man nicht mehr zurück. Doch was wir tun können, ist, die Zukunft so zu gestalten, dass sich junge Menschen schnell wieder entfalten können. ({1}) Wir haben daher aus meiner Sicht drei wichtige Punkte bereits vorangebracht: Erstens. Wir haben massiv in die digitale Bildung investiert, damit alle Kinder und Jugendlichen Tablets und Laptops erhalten. Zweitens. Wir haben Ausbildungsprämien geschaffen, damit Unternehmen weiterhin ausbilden, auch in der Coronapandemie. ({2}) Drittens. Wir haben mit dem Kompetenzzentrum Jugend-Check einen Beitrag zu mehr Jugendgerechtigkeit geschaffen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Diaby, einen kleinen Moment, ich habe die Redezeit kurz angehalten. – Kollege Müller, Kollege Rix, Kollegin Bull, es ist alles gut. Man kann Zwischenrufe machen und anderes, aber ich finde es jetzt nicht angemessen, die Debatte parallel zur Rede des Kollegen Diaby und der Auseinandersetzung mit deren Inhalt zu führen. Ich bitte darum, der Debatte zu folgen. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Präsidentin. – Uns ist klar: Das alles reicht noch nicht. Wir müssen natürlich noch mehr machen, zum Beispiel Kinderrechte ins Grundgesetz schreiben, eine Ausbildungsplatzgarantie schaffen, das Wahlrecht ab 16 Jahren einführen und Studierende in Not besser unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen es nicht zulassen, dass die Jugend ausgebremst wird. Für mich passt es nicht zusammen, dass die FDP-Fraktion zwar will, dass wir mehr für die jungen Menschen im Land machen, aber gleichzeitig auf die Einhaltung der Schuldenbremse pocht. ({0}) Für uns steht fest: Wir können uns gerade jetzt keine Sparpolitik leisten. In dieser Phase der Pandemie müssen wir weiter investieren, und das werden wir als SPD auch tun. Das ist die beste Jugendpolitik. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona hat uns allen klar und deutlich gezeigt, wie groß die Aufgaben sind, die vor uns liegen. Aber, liebe Opposition, es besteht überhaupt kein Grund, schwarzzumalen. Wir sind es nämlich, die mit vereinten Kräften für Fortschritt sorgen. Denn Deutschland ist Innovationsland. Deutschland spielt in vielen Bereichen, gerade in der Grundlagenforschung, in der ersten Liga mit. ({0}) Das zeigt übrigens gerade die mRNA-Technologie. Sie hat es dank unserer Förderung zur Marktreife geschafft. Auf der ganzen Welt rettet der Impfstoff aus Mainz gerade Menschenleben. Die mRNA-Technologie ist nicht nur ein Gamechanger in der Pandemie, sondern sie bietet auch eine Riesenchance in der Krebsforschung. Seit 20 Jahren investieren wir dort. Das ist genau das, was wir als BMBF immer machen: Wir fördern die Zukunft. Wir fördern schon heute das, was uns in zehn oder in 20 Jahren Wertschöpfung im Innovationsland Deutschland sichert. Wir identifizieren Technologien der Zukunft und treiben sie dann durch unsere Forschungsförderung voran. Das BMBF steht wie kein anderes Ressort für Zukunft. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir als Bundesregierung neben dem Konjunkturpaket auch ein Zukunftspaket schnüren, das erhebliche Investitionen in Schlüsseltechnologien ermöglicht. Wir nutzen die Dynamik, die die Pandemie freigesetzt hat; denn heute entscheidet sich nicht nur, wie wir künftig leben wollen, sondern auch wovon. Für mich ist die Antwort klar: Wir müssen auf Zukunftstechnologien setzen, auf künstliche Intelligenz und auf Mikroelektronik. Denn demnächst werde ich, wenn ich in mein Auto steige, einfach sagen, wohin ich möchte, und dann fährt das Auto allein. Das verändert eben nicht nur unseren Alltag. Das verändert auch unsere Städte und den Verkehr. Wir wollen der Technik in diesen autonom fahrenden Autos unser Leben anvertrauen können. So wie die Smartphones unseren Alltag von Grund auf verändert haben – die Art wie wir leben, wie wir arbeiten, wie wir heute miteinander kommunizieren –, so werden uns auch die Fortschritte in der künstlichen Intelligenz, in der Mikroelektronik, bei den Quantencomputern ganz neue Perspektiven für die Zukunft eröffnen, zum Beispiel wie wir Krankheiten erkennen und heilen können, wie wir die besten Produkte aus unseren Maschinen herausholen, mit welchen Technologien wir das Klima wirksam schützen können. Wir müssen und wollen selbst in der Lage sein, diese Technologien zu verstehen, herzustellen und auch weltweit zu verkaufen; denn das sichert uns in der Zukunft den Wohlstand. ({1}) Ich will, dass Deutschland der große Innovationstreiber in Europa wird. Ich habe mir am letzten Dienstag von Herrn Dr. Kürz von der Firma Zeiss zeigen lassen, wie entscheidend optische Technologien und extrem ultraviolettes Licht für die Mikroelektronik sind; denn mit ultraviolettem Licht lassen sich die leistungsfähigsten Chips der Welt herstellen. Computerchips und Halbleiter sind schon heute aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stecken in unseren Smartphones, in unseren Autos, in unseren Computern. Sie sind die Schlüsseltechnologie für selbstfahrende Autos, für 5G, für 6G, für KI. Das extrem ultraviolette Licht garantiert uns einen Technologiesprung; denn die Mikrochips werden damit leistungsfähiger, energieeffizienter und auch günstiger. Im Moment ist nur die niederländische Firma ASML mit ihren deutschen Partnern Zeiss und Trumpf dazu in der Lage, hochleistungsfähige und präzise Maschinen für die EUV-Lithografie herzustellen. Und genau hier kommt das BMBF ins Spiel. Wir fördern als Bundesregierung seit den 1980er-Jahren die Mikroelektronik und arbeiten dabei auch ganz eng mit der Europäischen Union zusammen. Dieses Erfolgsbeispiel aus der Mikroelektronik zeigt, was wir für die Technologieförderung brauchen: einen langen Atem, einen klugen strategischen Ansatz und immer den Willen, weltweit die Besten zu sein. ({2}) Genau diesen Ansatz müssen wir jetzt auch auf anderen Technologiefeldern vorantreiben. Bei den Quantencomputern zum Beispiel ist das Rennen noch offen. Auch hier wollen wir Weltspitze sein. In der Grundlagenforschung gehören wir schon lange dazu. In den nächsten fünf Jahren wollen wir einen konkurrenzfähigen Quantencomputer made in Germany bauen; denn Quantencomputer werden auf einem kleineren Raum als Mikrochips sehr viel mehr Rechenleistung konzentrieren können. Die dritte Schlüsseltechnologie, die ich hier und heute ansprechen will und auf die wir in Zukunft setzen, ist die künstliche Intelligenz. Auch im Bereich künstliche Intelligenz fördern wir die Forschung schon seit den 1980er-Jahren. Wir wollen eine international sichtbare KI‑Nation sein, der attraktivste KI‑Forschungsstandort der Welt. Deswegen haben wir vereinbart, bis 2025 insgesamt 5 Milliarden Euro allein in die KI‑Förderung zu stecken. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Dr. Dehm?

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Na klar.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich danke Ihnen sehr. – Ich habe einen Moment für meine Wortmeldung gebraucht, weil sich das erst setzen musste. Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner, als immer den Willen zu haben, weltweit die Nummer eins sein zu müssen? Wenn Sie etwa in der Pandemiebekämpfung oder bei der künstlichen Intelligenz ankündigen, dass am Ende des Tages wir die Nummer eins sein wollen, wie soll mit diesem Generalanspruch eine solidarische Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern, wie soll eine Kooperation mit anderen Ländern möglich werden? Ich finde, diesen Satz sollten Sie einmal in semantischer, intellektueller, moralischer, aber vor allen Dingen in ökonomischer Hinsicht überprüfen. Führt es wirklich zu dem gewünschten Ergebnis, wenn Sie in allen Fragen immer, wie Sie sagten, die Nummer eins sein wollen? Geht es auch solidarisch?

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Lieber Herr Dehm, ich habe gesagt, dass wir in diesen Technologien, die ich hier gerade genannt habe, die Nummer eins sein wollen. Es ist doch die entscheidende Frage, ob wir in Zukunft unseren Wohlstand noch werden halten können. Wenn wir unser hohes Niveau, auch unser hohes Arbeitsniveau halten wollen, wenn wir unseren Wohlstand in diesem Land halten wollen, dann müssen wir in genau diesen Schlüsseltechnologien weltweit wettbewerbsfähig sein. Dann muss das Ziel sein, die Nummer eins zu sein; denn die Nummer zwei verdient kein Geld mehr. ({0}) Genau deswegen sind Investitionen in diese Schlüsseltechnologien ein richtig starkes Investment in unsere Zukunft. Am Ende steht auch ganz klar die Frage, ob wir den Wohlstand in unserem Land halten können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir alle spüren in unseren Wahlkreisen, dass die Geschwindigkeit des internationalen Wettbewerbs gerade gigantisch anzieht. Noch ist offen, welche Region in der Welt in der Entwicklung neuer Technologien den Ton angeben wird und wer künftig die technologischen und wertebasierten Standards setzen und damit auch durchsetzen kann. Das Rennen hat ganz klar begonnen. Wir haben in Deutschland und Europa eine hervorragende Startposition. Unsere Wirtschaft und Wissenschaft sind eng verzahnt. Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren intensiv daran gearbeitet, Wissenschaft und Wirtschaft immer enger zu verzahnen. Das, was wir hier erreicht haben, ist einmalig. Wir haben es jetzt selbst in der Hand, aus den 2020er-Jahren ein Jahrzehnt der Innovation, ein Modernisierungsjahrzehnt zu machen. Nur so werden wir die Grundlagen für den Wohlstand unseres Landes sichern. Nur so werden wir die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze in Europa halten. Nur so werden wir unserer Verantwortung für unsere nachkommenden Generationen in Deutschland gerecht. Wir brauchen jetzt Mut zur Veränderung. Wir brauchen den Mut, um all diese Wege in Kooperation – um das ganz klar zu sagen – auf der einen Seite mit unseren Ländern und Kommunen und auf der anderen Seite im internationalen Vergleich mit der demokratischen Welt gemeinsam zu gestalten. Gerade wenn es darum geht, Standards zu setzen, müssen wir das in vielen Bereichen auf internationaler Ebene ganz klar gemeinsam mit der freien demokratischen Welt machen. Packen wir es doch einfach an! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael Espendiller für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei Youtube! ({0}) Wenn wir heute über die Forschungspolitik dieser Bundesregierung und über ihre sogenannte KI-Strategie sprechen, dann sprechen wir über die Geschichte eines teuren und epischen Versagens. Und das ist auch nicht zum Lachen, werte Kollegen. Das Versagen begann bereits mit der Ernennung von Anja Karliczek zur Ministerin, die seit ihrer Amtsübernahme eine Sache nach der anderen vergeigt. Wir alle erinnern uns noch allzu gut an das Gemauschel bei der Wahl des Standortes für die neue Batterieforschungsfabrik. Was für ein Zufall! Die Wahl fiel auf Münster, den Nachbarwahlkreis von Frau Karliczek. Der Bundesrechnungshof rügte die 500‑Millionen-Euro-Vergabe. Frau Karliczeks CDU-Kollegin Eisenmann forderte ihren Rücktritt. Und jetzt wird die Batterieforschungsfabrik noch nicht einmal fertig! 2022 war geplant, daraus soll jetzt 2026 werden, wenn es denn überhaupt noch etwas wird. Diese Bundesregierung hat sichtlich keinen Plan, kein Konzept für die Zukunft und keinerlei Strategie. Während der Coronapandemie döste Frau Karliczek lange Zeit friedlich vor sich hin. Dieser Verschlafenheit verdanken wir, dass in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen noch immer keine adäquate digitale Ausstattung zur Verfügung steht. ({1}) Versagen auch beim Thema künstliche Intelligenz. Denn da gibt es ein ebenso simples wie schwerwiegendes Problem: Keiner auf der Regierungsbank kapiert KI. ({2}) Jede Stellungnahme der politischen Entscheidungsträger dieser Regierung zum Thema künstliche Intelligenz strotzt nur so vor technischer Inkompetenz. Die Vertreter dieser Regierung scheitern vermutlich schon bei der Installation von Apps auf ihrem Handy. ({3}) Genau aus diesem Grund können Sie im Moment noch nicht einmal erahnen, welches enorme Potenzial im Thema KI steckt. Egal ob Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Bildung, Forschung oder Landwirtschaft, KI hat das Potenzial, unsere Gesellschaft zu revolutionieren, unsere Gesundheit zu verbessern, Steuergeld zu sparen und unser aller Leben einfacher zu machen. Dieser Bundesregierung ist das einfach egal. Schlimmer noch: Obwohl kaum einer es kapiert, soll die KI in Deutschland schon wieder reguliert werden. Ein Beispiel ist das Personalwesen. Nur knapp 4 Prozent der Unternehmen in Deutschland setzen überhaupt auf digitale Werkzeuge zur Mitarbeitersuche. Aber die German Angst sorgt schon wieder mal dafür, dass man eine Diskriminierung durch KI fürchtet und schon mal prophylaktisch nach dem Gesetzgeber schreit. Dazu sagen wir klar Nein und lehnen in unserem Antrag auch eine Regulierung dieses Bereiches ab. ({4}) Vollends schizophren wird es mit dieser Regierung, wenn man sich mal die großen Versprechungen in der KI-Strategie ansieht und sie mit der Realität in Deutschland vergleicht. Denn wissen Sie, was die Hauptvoraussetzung für eine erfolgreiche KI-Strategie ist? Eine sichere Stromversorgung. Sämtliche KI- und Forschungsvorhaben haben eine Sache gemeinsam: Der Energiebedarf steigt erheblich; denn die Server und Rechner der kommenden Datenwirtschaft brauchen große Mengen an Strom; für die Grünen: Das ist das, was aus der Steckdose kommt. Genau dieser Strom wird in diesem Land immer mehr zur Mangelware, Stichwort „Atomausstieg“, Stichwort „Kohleausstieg“. Das muss man sich mal vorstellen, liebe Bürger: Sie sollen zukünftig alle mit Elektroautos herumfahren, und zeitgleich stellt man im Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier fest, dass der Strom in diesem Land nicht mehr reicht und deswegen rationiert werden muss. Als wäre das jetzt nicht schon irre genug, bleibt man eisern beim Weg der Energiewende ins Nichts. Erst vorgestern haben Sie alle in diesem Haus unseren Antrag abgelehnt, die Energieversorgung in Deutschland zu sichern und die Forschung zu Kernreaktoren der vierten Generation voranzutreiben. Sie sitzen hier offenbar alle sehr gerne im Dunkeln. Aber ich denke, das sehen sehr, sehr viele Bürger in diesem Land auch anders. Zusammenfassend bleibt zu sagen: Bei dieser Bundesregierung gilt: Sie führt Deutschland nicht zur Spitze, sondern in den Abgrund, und ich denke, immer mehr Bürger in diesem Land erkennen das auch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege René Röspel das Wort. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Nach dieser Vorrede kommt mir doch das Martin Luther zugeschriebene Zitat in den Kopf, dass wohl aus einem verzagten Arsch kein fröhlicher Furz kommen könne. ({0}) Nach den düsteren Beschreibungen dieses Landes, der Welt und der Gesellschaft möchte ich jetzt nach vorne gerichtet diskutieren. Ich freue mich ausdrücklich darüber, dass die Bundesregierung nach rund zwei Jahren die Fortschreibung der KI-Strategie vorlegt. Denn es ist ja in dieser Zeit eine Reihe von Berichten und Stellungnahmen erschienen, die einzubeziehen in die KI-Strategie sinnvoll ist. Die Datenethikkommission und die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages haben sich wie viele andere intensiv mit künstlicher Intelligenz befasst und auch Empfehlungen ausgesprochen. Es ist richtig und an der Zeit, dass die Bundesregierung – das war ja auch von uns als Parlamentarier gefordert – solche Erkenntnisse und Stellungnahmen auch einbezieht. Es ist nicht nur als schön und richtig zu bewerten, dass der Etatansatz von 3 auf 5 Milliarden Euro steigt. Das ist zwar wichtig; aber Geld ist nicht alles. Deswegen sind in dieser Fortschreibung zwei Schwerpunkte genannt. Der erste und wichtigste Punkt sind Köpfe, also Menschen; denn künstliche Intelligenz, Technologie und Innovation wird es nur geben, wenn wir in die Menschen investieren. Der zweite Punkt betrifft die technische Infrastruktur und die Voraussetzungen technologischer Souveränität. Ich will nicht viel dazu sagen; aber das ist in dem heute diskutierten Bericht zur Mikroelektronik auch nachzulesen. Darin wird eine Reihe von Maßnahmen genannt, und ich bin ausdrücklich dankbar, dass die Bundesregierung ab Seite 22 auf mehreren Seiten Pilotprojekte und Initiativen beschreibt, die auf den Weg gebracht werden sollen, damit wir bei künstlicher Intelligenz, Technologie und Innovation vorankommen. Ausdrücklich will ich sagen: Auch im FDP-Antrag finden sich Ansätze, die man mal prüfen könnte. Einiges ist durchaus legitim. Anderes – das muss ich nach der Debatte von vorhin zugeben – nervt doch ein bisschen. Wir finden es als SPD ausdrücklich richtig – ich habe das schon mal gesagt –, dass der Bund den Ländern im Bereich Schule und Bildung mehr Verantwortung und mehr Hilfestellung gibt. Wenn aber die FDP erneut fordert – auch in diesem Antrag wieder –, die Schulen zukunftsfähiger auszustatten, dann liegt es mir als aus NRW-Stammender mit Kindern in Schule und ehemals Kita nahe, mal anzuschauen, was die FDP dort in Verantwortung bringt. Dort weiß man nämlich freitagabends als Lehrer, Eltern und Schüler nicht, wie die Schule am Montag aussehen wird. Deswegen meine Bitte: Bevor Sie mit dem Finger auf andere zeigen, bitte die drei Finger berücksichtigen, die auf Sie selbst zurückweisen, ({1}) und in dem Land, in dem Sie auch Mitverantwortung tragen, für eine vernünftige Bildungspolitik sorgen. Was sind unsere Zielsetzungen bei künstlicher Intelligenz? Ziel ist es, alle Chancen und Potenziale und Möglichkeiten, die diese Technologie zur Verfügung stellt und zur Verfügung stellen kann, zu nutzen, um eine bessere Gesundheitsversorgung und bessere Pflegebedingungen auf den Weg zu bringen, um mehr Energieeffizienz zu erreichen, um im Bereich „Umwelt und Klimaschutz“ wieder weitere Schritte nach vorne machen zu können. Ja, das sind richtige Maßnahmen. Aber wir wissen auch: Es gibt auch Gefahren und Risiken neuer Technologien, mit denen wir umgehen müssen. Deswegen finde ich es ausdrücklich richtig, dass die Bundesregierung wie die Koalition und die SPD eben auch gewisse Maßstäbe an neue Technologien und die Maßnahmen, die beschrieben werden, einführen. Dazu gehört – das hat mich sehr gefreut –, dass künstliche Intelligenz zum Nutzen von Menschen eingesetzt werden soll, dass wir uns nicht nur immer daran orientieren, Weltspitze werden zu wollen, sondern dass wir uns international an den Nachhaltigkeitszielen orientieren. ({2}) Nach den Diskussionen in der Enquete-Kommission, wo wir lange Zeit mit der Frage verbracht haben, inwieweit KI eigentlich gemeinwohlorientiert sein soll, habe ich mich gefreut, dass die Bundesregierung den Vorschlag aufgenommen hat, KI solle eben auch gemeinwohlorientiert sein ({3}) und zum Nutzen der Gesellschaft beitragen. ({4}) Am Ende freut es mich auch, dass eine weitere Forderung der Enquete-Kommission aufgenommen worden ist, und zwar die Zivilgesellschaft einzubinden. Tatsächlich macht Regieren deswegen Spaß, weil wir jetzt schon wesentliche Maßnahmen umsetzen können. Künstliche Intelligenz wird in der Arbeitswelt eine große Veränderung bewirken – bei der Personalauswahl, in Arbeitsverfahren –, und ich freue mich, dass die SPD es durchsetzen wird, dass mit dem Betriebsrätestärkungsgesetz dafür gesorgt wird, dass die Betriebsräte bei Maßnahmen im Bereich der künstlichen Intelligenz mitbestimmen können. Das ist ein guter Fortschritt. Danke für diese Fortschreibung. Wir machen weiter gute und verantwortungsvolle Politik im Bereich der künstlichen Intelligenz. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Mario Brandenburg das Wort. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Redewendung besagt: Es sind die kleinen Dinge, die zählen. – Ob der Autor/die Autorin oder der Urheber/die Urheberin damals an Mikroelektronik gedacht hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Trotzdem kommen aktuell ganze Industriezweige ins Stottern, weil eben winzig kleine Bauteile fehlen. Deswegen ist es an der Stelle richtig und wichtig, dass wir heute das Rahmenprogramm „Mikroelektronik“ diskutieren. Doch lohnt sich in der Situation eben auch ein ganzheitlicher Blick. 400 Millionen Euro über vier Jahre, das klingt prinzipiell natürlich erst mal nett. Aber wenn man weiß, dass allein die Branchenführer aus Südkorea – und ich ziehe jetzt nicht die Chinakarte – für das nächste Jahr Investitionen von 28 Milliarden ankündigen, dann wirken unsere 100 Staatsmillionen schon ein bisschen wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Liebe Bundesregierung, wenn Sie das im Dokument so oft gelobte Ziel der digitalen Souveränität wirklich ernst nehmen, wird es mehr brauchen als das BMBF; dann braucht es eine abgestimmte und gezielte europäische Kraftanstrengung. ({0}) Die Mikroelektronik als Basistechnologie hat natürlich eine hohe strategische Bedeutung: autonomes Fahren, die hier so oft angesprochene künstliche Intelligenz, Robotik; ich brauche nicht alles aufzuzählen. Es ist auch klar: Wenn wir an dieser Stelle versagen oder in Abhängigkeiten geraten, brauchen wir keine KI-Strategien mehr aufzustellen und auch keine KI-Observatorien einzurichten. Ohne Hardware keine Software. Im letzten Rahmenprogramm „Mikroelektronik“ war übrigens der Marktanteil auch noch eines Ihrer Ziele. Da hat Sie aber leider die Realität eingeholt; denn bei komplexen logischen Schaltungen und Speichertechnologien spielt Europa leider fast keine Rolle mehr. Waren wir vor Jahren noch bei 10 Prozent Marktanteil, sind wir jetzt bei Halbleiterfertigungsausrüstungen in ganz Europa bei einer Quote von unter 5 Prozent. Aus dem technologischen Wettbewerb zwischen Europa, den USA und Asien ist leider ein Zweikampf geworden. Da muss man schon ansprechen, dass Sie, liebe Bundesregierung, aber auch die EU geräuschlos dem Verkauf des Chipherstellers Arm zustimmen, obwohl der neutrale europäische Technologieanbieter für einen guten Ausgleich im globalen Chipwettbewerb gesorgt hat, und das in einer Zeit, in der Ex-Präsident Trump einen Handelskrieg ausgelöst hat und China bzw. Peking ganz massiv in Halbleiter investiert. Ja, natürlich brauchen wir Forschung. Aber ich sage auch: Wir brauchen eindeutig mehr Mut, mehr Markt und eine entschlossenere Wirtschaftspolitik, am besten ohne Herrn Altmaier. ({1}) Deswegen: Locken Sie bitte ausländische Hersteller nach Deutschland, um hier Werke bauen zu lassen, um das Wissen zirkulieren zu lassen, um Start-up-Ökosysteme wachsen zu lassen! Ermöglichen Sie Investitionsbedingungen, die hier einen vitalen Markt schaffen! Und vor allem: Ermöglichen Sie wieder Produkte made in Europe auch im Chip- und Prozessordesign! Denn eines ist klar: Der Staat muss endlich aufhören, alles selbst nachbauen zu wollen. Aggressives Standortmarketing statt politischer Produktionshallen für Chips, Wasserstoff und Batterien! Denn der Staat hat weder das Geld noch die Kompetenz, im internationalen Technikwettbewerb mitzuhalten. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zweieinhalb Jahren – da hat René Röspel schon recht – ist die erste KI-Strategie der Bundesregierung vorgelegt worden. Vor anderthalb Jahren hat die Datenethikkommission ihr Gutachten geliefert. Vor einem halben Jahr hat die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ ihren Bericht vorgelegt. Also könnte man meinen, es ist genügend da, um darauf aufzubauen. Da unterscheiden wir uns aber. Genau das hat die Bundesregierung mit dieser überarbeiteten Strategie eben nicht geliefert. Ich will hier nur an unsere Forderung nach mehr Gemeinwohlorientierung erinnern. Über eine Überschrift ist dieses Thema bei dieser neuen Strategie überhaupt nicht hinausgekommen. Ich will auch sagen, dass mich das jetzt nicht so sehr überrascht. Was mich aber wirklich überrascht hat, ist die völlige Abwesenheit konkreter Vorschläge zur Regulierung. Ich halte das für einen kapitalen Fehler. ({0}) Sowohl die Datenethikkommission als auch die Enquete-Kommission haben konkrete Handlungsempfehlungen zu diesen Fragen vorgelegt. Zu denen hätte sich die Bundesregierung verhalten können und müssen; das tut sie aber nicht. Stattdessen werden Allgemeinplätze über Ordnungsrahmen und so etwas verbreitet. Das ist vollkommen unverständlich. Nun könnte man ja sagen: Okay, Sie wollen sich noch ein bisschen bedeckt halten, weil es ja jetzt auch um die Diskussion des europäischen Ordnungsrahmens geht. – Kann sein, dass Sie das tun wollen; das halte ich aber für falsch. Gerade jetzt müssten offensiv Ideen vorgestellt und aufgegriffen werden. Wenn man in Ihrer Logik denkt, dass wir da die Nummer eins oder was auch immer werden wollen, dann wäre das ja genau der richtige Punkt. Das tun Sie aber nicht. So haben wir beispielsweise in der Projektgruppe „Medien“ konkrete Handlungsempfehlungen für Plattformregulierungen erarbeitet. Ich darf da an algorithmische Transparenz erinnern, ich darf an unsere Empfehlung zum Mikrotargeting, also zu personalisierten Botschaften an besonders kleine Zielgruppen, erinnern, und ich darf auch daran erinnern, dass wir Empfehlungen zum Zugriff auf Daten von Plattformen zu Forschungszwecken gegeben haben. Nichts davon! Über all das wird ja im Rahmen des Digital Services Acts auf europäischer Ebene diskutiert. Wie Sie sich dort einbringen, erfahren wir jedenfalls nicht über diese Strategie. Das wäre aber notwendig, weil das nämlich hier mitten in die Debatte hineingehört. ({1}) Es kann aber auch sein, dass Sie wirklich noch im Dunkeln tappen. Das würde mich jetzt nicht wundern. Man liest viel von vertrauenswürdiger KI, man liest viel von vertrauenswürdiger Elektronik. Aber wenn es dann konkret wird, staunt man: So ein guter Ansatz wie GAIA‑X, mit dem ja vertrauenswürdige europäische Dateninfrastruktur geschaffen werden soll, wird begleitet von Unternehmen wie Palantir, die dort regelmäßig am Tisch sitzen. Und was macht dieses Unternehmen? Dieses Unternehmen verarbeitet große Datenmengen für Nachrichtendienste. Das würde ich jetzt nicht unbedingt als erste vertrauensbildende Maßnahme einschätzen. Und wieso setzt man explizit auf die Agentur für Innovationen in der Cybersicherheit? Auch diese entwickelt für militärische Zwecke, für offensive Einsätze. Auch das macht IT‑Ansätze für andere Anwender in der Wirtschaft nicht unbedingt an erster Stelle vertrauenswürdig. Also: Klären Sie – unsere letzte Empfehlung in dieser Rede – endlich, was Sie unter Angriff und Schutz verstehen! Ansonsten können Sie hier nicht vertrauenswürdig –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Sitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

über vertrauenswürdige Technik reden. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Anna Christmann das Wort. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, zum wiederholten Mal hören wir heute von Ihnen, dass alles fantastisch vorangeht. Das entspricht allerdings leider nicht der Wahrnehmung, die viele von uns in diesem Land haben; denn die Förderungen des Bundes sind in vielen Fällen viel zu kleinteilig und viel zu langsam. Es fehlt schmerzlich am versprochenen Wumms in der Umsetzung, den wir zur Bewältigung der großen Krisen wie Klima und Pandemie brauchen. ({0}) Liebe Frau Ministerin, es ist doch nicht Ihr Job, jetzt überall gute Laune zu verbreiten, sondern Ihr Job ist es, mit Inbrunst für die Wissenschaft zu streiten. Das haben Sie offenkundig in den letzten Jahren nicht ausreichend getan. ({1}) Denn die KI-Strategie, die heute so beschworen wird, ist ja schon jetzt im Grunde gescheitert. Sie reden immer von den 5 Milliarden Euro. Dafür müssten wir aber 500 Millionen Euro pro Jahr ausgeben. Im letzten Jahr waren es 137 Millionen Euro. Das heißt, es bräuchte 35 Jahre, bis wir bei den 5 Milliarden Euro ankommen. Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein! ({2}) Dass wir die Technologie für die Bekämpfung der Klimakrise, für bessere Gesundheit etc. brauchen, ist hier vielfach gesagt worden. Das ist uns als Grünen auch sehr klar. Wir haben deswegen eine grüne KI-Strategie vorgelegt, bei der wir vor allem auf ein starkes Europa setzen. Wir wollen europäische Forschungsnetzwerke mit der Wirtschaft gemeinsam fördern. Diese europäische Perspektive ist bitter nötig. ({3}) Sie haben das ja ein Stück weit von uns übernommen und sprechen jetzt auch immer von „KI made in Europe“. Aber Sie tun eben nichts dafür. Die einzige Förderung für gemeinsame Projekte war eine gemeinsame Ausschreibung mit Frankreich. Da ging es um genau 5 Millionen Euro. Dem standen 150 Projektanträge gegenüber. Das ist nicht „KI made in Europe“, das ist lächerlich. ({4}) Zu begrüßen ist, dass es jetzt die Agentur für Sprunginnovationen gibt. Das ist uns auch wichtig. Aber auch da sind bisher gerade mal gut 2 Millionen Euro für Projekte geflossen. Und warum? Weil Sie ihr nicht genug Freiraum geben. Das wird auch immer wieder kritisiert. Dort wären andere Fördermöglichkeiten notwendig als nur so einschränkende Förderungen wie bei einer 100‑prozentigen Tochter des Bundes. Das ist unattraktiv; deswegen funktioniert es nicht. Deswegen sind wir für mehr Freiraum für die Agentur für Sprunginnovationen. ({5}) Daneben schlagen wir aber auch nach vorne gewandt eine neue Innovationsagentur vor. Wir wollen eine D.Innova gründen, die Hochschulen und Mittelstand stärker zusammenbringt. Denn wir müssen doch alle diese Ideen, von denen Sie auch heute wieder gesprochen haben – seien es die emissionsfreien Fahrzeuge, sei es KI, die zum Beispiel in der Medizin Unverträglichkeiten von Medikamenten entdeckt –, in die Praxis bringen. Dafür brauchen wir mehr Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Dafür legen wir konkrete Ideen vor. Wir brauchen kein Schönreden, dass alles schon wunderbar laufe, sondern wir brauchen mehr Einsatz und beste Bedingungen für die Menschen, die an den Ideen arbeiten, die wir zur Umsetzung bringen müssen. Dafür machen wir sehr klare Vorschläge. Machen Sie sich dran! ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Korkmaz-Emre für die SPD-Fraktion. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung betont in der Fortschreibung der KI-Strategie den Regulierungsbedarf für künstliche Intelligenz. Deshalb ist es sehr passend, dass in dieser Woche der Regulierungsvorschlag der EU öffentlich wurde. Was wir da allerdings in Teilen lesen dürfen, Stand heute, ist ziemlich zahnlos, inkonsequent und in weiten Teilen gefährlich. Hochrisikoanwendungen müssen demnach eine Konformitätsprüfung durch Dritte bestehen. So weit, so gut. In vielen Fällen jedoch reicht dafür eine Selbstauskunft der Hersteller. So ist das zum Beispiel bei der Lernsoftware zur Überprüfung der Kreditwürdigkeit, beim Predictive Policing im Asylverfahren und auch zur Unterstützung der Rechtsprechung. Da sage ich: Das ist ziemlich krass. Darüber hinaus wird eine allgemeine Überwachung von KI-Systemen zwar erst einmal verboten, es sei denn, öffentliche Stellen halten sie für nötig. Da sage ich: Das ist mehr als krass, das ist gefährlich. Viele verstehen die Diskussion nicht. Sogar der Berliner Zoo macht sich auf den Weg und will durch Gesichtserkennung Warteschlangen ersparen. Wieso nicht? Klingt ja erst mal praktisch. Aber nein, verdammt noch mal, zum Mitschreiben: Biometrische Gesichtserkennung ist grundrechtsfeindlich. ({0}) Es kommt nicht darauf an, wer sie einsetzt. Wir geben damit so oder so wieder ein Stück Privatheit und Selbstbestimmung auf. Deshalb kann ich an dieser Stelle nur erneut die KI-Enquete-Sondervoten der SPD-Fraktion zur Lektüre empfehlen. Für die Einstufung von KI brauchen wir einen differenzierten, risikobasierten Ansatz, wie ihn auch die Datenethikkommission schon vorgeschlagen hat. Dabei zeigt die Datenschutz-Grundverordnung schon den Weg auf. Ausgehend von den Zwecken einer Datenverarbeitung werden Risiken identifiziert, angemessene Maßnahmen abgeleitet und schon beim Entwickeln implementiert. Die Instrumente dafür haben wir. Das nennt sich Data Protection und Data Security by Design. Verdammt noch mal, Datenschutz ist kein Hemmschuh. ({1}) Verantwortungsvolle Technologiepolitik schützt Bürgerinnen und Bürger vor potenziellem Missbrauch. ({2}) Die Datenschutz-Grundverordnung ist dabei das Versprechen, dass Technologie unsere Werte der analogen Welt beinhaltet. Was diesen nicht genügt, und das gilt auch für zum Beispiel – aus aktuellem Anlass – die Luca-App, darf eben nicht zugelassen werden. Wer sich dann noch mehrfach falsch äußert oder billigend Sicherheitslücken in Kauf nimmt, sollte auch nicht mit Steuermitteln unterstützt werden. Vertrauen allein, etwa in die Selbstverpflichtung von Herstellern, macht am Ende keine gute Technologie. Das gilt auch und gerade für KI. Der Gesetzgeber macht die Vorgaben, nicht die Technologie und auch kein Rapper. Vielen Dank. ({3})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen muss bezahlbar sein, und Wohnen muss vor allen Dingen bezahlbar bleiben. Das ist das Credo dieser Bundesregierung, und dafür haben wir mittlerweile vieles auf den Weg gebracht: Wir haben eine Mietpreisbremse verlängert und verschärft, für Mieterhöhungen wegen Modernisierung haben wir enge Grenzen gezogen, und außerdem werden wir noch die Möglichkeiten zur Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen stärker begrenzen. ({0}) Mit dem Gesetz, das wir heute beraten, gehen wir den nächsten Schritt. Wir reformieren einen Kernbereich unseres Mietrechts, nämlich das Mietspiegelrecht. Warum ist das notwendig? Weil eben ein wesentlicher Baustein in unserem sozialen Mietrecht die sogenannte ortsübliche Vergleichsmiete ist. Diese Vergleichsmiete markiert eine Grenze, wenn Vermieter die Miete im laufenden Mietverhältnis erhöhen wollen. Auch bei der Mietpreisbremse kommt diese Vergleichsmiete ins Spiel. Ob der Vermieter nämlich bei der Neuvermietung mehr verlangen darf als im alten Mietverhältnis, das hängt ebenfalls von dieser ortsüblichen Vergleichsmiete ab. Klar ist deshalb, Mieter und Mietinteressenten müssen die ortsübliche Vergleichsmiete einfach, zuverlässig und rechtssicher ermitteln können. Das beste Instrument hierfür sind qualifizierte Mietspiegel, also solche, die nach wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt werden. Leider scheuen viele Kommunen bislang den Aufwand für die Erstellung solcher Mietspiegel, und dort, wo qualifizierte Mietspiegel existieren, gibt es oft Streit um sie. Mit unserem Gesetz und einer begleitenden Rechtsverordnung schaffen wir da jetzt Abhilfe. Wir erleichtern die Erstellung von qualifizierten Mietspiegeln, und wir steigern deren Qualität und Transparenz; denn erstmals schreiben wir präzise fest, welche Standards bei der Erstellung von qualifizierten Mietspiegeln beachtet werden müssen. Zugleich stellen wir klar: Um einen qualifizierten Mietspiegel zu erstellen, reicht es im Regelfall aus, genau diese definierten Standards einzuhalten. Damit ist gewährleistet, dass sie im Streitfall auch von den Gerichten akzeptiert werden. Mit unserem Gesetz erleichtern wir außerdem den Zugriff auf vorhandene Datensätze bei der Erstellung von Mietspiegeln, und wir begründen Auskunftspflichten. Auch damit machen wir die Erstellung von Mietspiegeln einfacher und verbessern ihre Qualität. Für mehr Transparenz und bessere Nachvollziehbarkeit schreiben wir überdies fest: Mietspiegel und auch die zugrundeliegenden Dokumentationen müssen im Internet immer frei verfügbar sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mitspiegel, Mitpreisbremse, Vergleichsmieten, das sind sperrige Konzepte. Sie dürfen uns nicht den Blick auf das Wesentliche versperren. Es geht darum, dass sich alle Menschen ihre Wohnung, ihr Zuhause leisten können. Es geht um einen fairen Interessenausgleich. Dafür sind gute, aussagefähige Mietspiegel unverzichtbar. ({1}) – Ja, da darf ruhig geklatscht werden. – Sie schaffen nämlich Klarheit darüber, was zulässig ist und was nicht. Sie verhindern Rechtsstreit, und sie dienen damit den Interessen von Mietern und Vermietern gleichermaßen. Gerade deshalb ist unsere Reform so wichtig. Und deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Udo Hemmelgarn für die AfD-Fraktion. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Reform des Mietspiegelrechts zeigt wieder einmal, dass die Bundesregierung erstens Schwierigkeiten damit hat, dem deutschen Bürger die Wahrheit zu sagen, zweitens die Umgestaltung unserer Gesellschaft nach der Salamitaktik scheibchenweise vornimmt und drittens faktisch weitgehend rot-grüne Politik betreibt. Richtig ist, dass der Mietspiegel ein wichtiges Element des Mietrechts ist und den sozialen Frieden im Lande schützt. Umso wichtiger wäre es allerdings, hier nicht den üblichen Etikettenschwindel zu betreiben. Nach der Zielstellung des Gesetzentwurfs soll die Rechtssicherheit für qualifizierte Mietspiegel erhöht werden. Tatsächlich beschäftigt sich ein großer Teil der Neuregelungen allerdings mit Verlängerungen des Erstellungszeitraums für Mietspiegel von zwei auf drei oder von vier auf fünf Jahre. Das lässt sich natürlich mit den entstehenden Kosten wunderbar begründen. In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass die Bundesregierung wohl meint, den weiteren Anstieg der Mieten auf diese Art und Weise dämpfen zu können. Mit diesem Gesetzentwurf entfernt sich der Mietspiegel immer weiter von der aktuellen Marktlage. Dieser eigentliche Kern des Gesetzesvorhabens wird nicht offen kommuniziert. Damit ist offensichtlich, dass die Bundesregierung zu einem billigen Trick greift, um ihr Versagen in der Wohnungspolitik zu vertuschen. ({0}) Wieder einmal will man strengere Regulierung, ohne das Problem an der Wurzel zu packen. Und wieder einmal sagt man dem Bürger nicht die Wahrheit. Von den in dieser Legislatur versprochenen 1,5 Millionen Neubauwohnungen werden wohl nicht einmal 1,2 Millionen fertiggestellt. An diesem Versagen ändert sich auch nichts durch 700 000 Wohnungen, für die es Baugenehmigungen gibt, die aber nicht gebaut wurden. In Wohnungen, die nicht gebaut werden, wird nicht gewohnt. Der vorliegende Gesetzentwurf verabschiedet sich dabei ausdrücklich von den anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen, die bislang für die Erstellung qualifizierter Mietspiegel gelten. Künftig soll schon die objektive Einhaltung wissenschaftlicher Grundsätze für einen qualifizierten Mietspiegel ausreichen. Das soll angeblich der Rechtssicherheit dienen. Der Professor Drosten des Mietrechts wird wohl schon sehr bald gefunden werden. Aber es geht noch weiter. Die Mindestvoraussetzungen für einen qualifizierten Mietspiegel sollen künftig allein durch die Exekutive, ohne parlamentarische Kontrolle, festgelegt werden können. Auch insoweit hat man sich wohl am Konzept des geänderten Infektionsschutzgesetzes orientiert. Hier wie dort arbeitet die Große Koalition an der Entmachtung des Parlaments und verlagert elementare Kompetenzen auf die Regierung. ({1}) Jeder kann sich ausmalen, wie die Mietspiegelverordnung aussehen wird, falls die Grünen ab Herbst den Justizminister stellen. Sehr geehrte Damen und Herren, deutlicher als durch diese Art der Gesetzgebung kann man seine Missachtung der parlamentarischen Demokratie nicht zum Ausdruck bringen. ({2}) Dieser Gesetzentwurf ist nur einer von vielen Maßnahmen. Zu nennen wären hier die Mietpreisbremse, die Bürgerbegehren zu Enteignungen, das Umwandlungsverbot und völlig überzogene Umweltauflagen, die jede für sich genommen schon schwer erträglich wären. In der Gesamtheit aber haben sie eine katastrophale Wirkung. Bleibt am Ende die Frage, wo das Ganze hinführen soll. Leider ist die Antwort sehr eindeutig: Es ist ein folgenschwerer Gang hin in den Sozialismus. ({3}) Wohin sozialistische Allmachtsfantasien führen, kann man am Berliner Mietendeckel bewundern. Dieses gescheiterte Experiment lässt viele Mieter mit hohen Mietnachzahlungen zurück. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich Herrn Buch danken, dem Vorstandsvorsitzenden der Vonovia AG, dem größten deutschen Wohnungsvermieter, der nach dem gestrigen Urteil zum Mietendeckel auf Mietnachzahlungen verzichten will. Das wäre übrigens ein gutes Zeichen für andere größere Wohnungsvermieter hier in Berlin, diesem Beispiel zu folgen. Sehr geehrte Damen und Herren, die zunehmende Regulierung wird dazu führen, ({4}) dass sich zunächst kleinere und dann größere Privatinvestoren aus dem Wohnungsmarkt zurückziehen. Die nächste Krise auf dem Wohnungsmarkt wird dann wieder einmal hausgemacht sein, genauso wie die gegenwärtige. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Benutzen Sie bitte die Maske? – Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Carsten Müller das Wort. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bedeutung von Mietspiegeln hat in dieser Wahlperiode außerordentlich stark zugenommen. Die Große Koalition hat die Mietpreisbremse geschärft. Dadurch ist der Begriff der ortsüblichen Vergleichsmiete besonders in den Fokus gerückt worden. Die ortsübliche Vergleichsmiete ist heute für die preisliche Gestaltung von Mietverträgen im Wohnungsbereich die zentrale Referenz. Reichweite und Auswirkung der Mietpreisbremse hängen also entscheidend von einer rechtssicheren Datengrundlage ab. Wir wollen – das ist unser Ziel – unnötige Gerichtsverfahren vermeiden, indem wir genau diese rechtssichere Datengrundlage schaffen. Um diese rechtssichere Datengrundlage zu schaffen, brauchen wir bundeseinheitliche Kriterien. Wir müssen also, vollkommen unabhängig davon, wo sich der Mietmarkt in der Republik befindet und wie er sich entwickelt, bundeseinheitlich auf vergleichbare Grundsätze abstellen können. Als Union haben wir bereits parallel zur Einführung der Mietpreisbremse eine Reform der Mietspiegelregulierung gefordert. Wir freuen uns, dass diese jetzt vorliegt. Sie kommt für uns – das will ich deutlich sagen – allerdings etwas zu spät; wir hätten uns da mehr Beschleunigung beim Bundesjustizministerium gewünscht. Meine Damen und Herren, bundesweit zeigt sich ein höchst unterschiedliches Bild beim Blick auf die Mietspiegel. Die Mietspiegelkommission hat mal die 200 größten Städte Deutschlands in den Blick genommen und mit Stand Ende 2019 verglichen. Dadurch haben wir durchaus sehr interessante Feststellungen geliefert bekommen: Lediglich 73 der betrachteten Städte – das ist deutlich weniger als 40 Prozent – erstellen einen qualifizierten Mietspiegel, obwohl genau dies die sicherste Art und Weise darstellt, einen Mietspiegel zu gestalten. 91 Städte, also 46 Prozent, erstellen nur einen einfachen Mietspiegel. Mich persönlich hat sehr erschreckt, dass 36 Städte, also rund ein Fünftel der in den Blick genommenen Städte, gar keinen Mietspiegel erstellen. Darunter sind wiederum 15 Städte mit angespanntem Wohnungsmarkt. Dort gibt es also keine belastbare und sozusagen von vornherein streitschlichtende datensichere Grundlage. Das zeigt also: Es gibt viel zu tun. Ein Mietspiegel muss den tatsächlichen Mietmarkt widerspiegeln und soll nicht nur eine Betrachtung der Vergangenheit sein. Der Gesichtspunkt der ortsüblichen Vergleichsmiete ist eben kein politisches Steuerungsinstrument; sie muss die Situation am Mietmarkt widerspiegeln und darf sie nicht prägen. ({0}) Marktmechanismen sollen durch Mietspiegel nicht ersetzt werden; das wäre eine Zweckverfehlung. Wir wollen den Mietspiegel also nicht als Instrumentarium der politischen Gestaltung, der politischen Beeinflussung des Wohnungsmarktes verstanden wissen. Ich hatte es eben schon gesagt: Er soll den Markt widerspiegeln, aber darf ihn nicht ersetzen. Wir werden das bei der Beratung intensiv im Auge behalten. Meine Damen und Herren, ein letzter Punkt, den ich durchaus noch nennen will: Der Gesetzentwurf – das ist ihm bisher zu entnehmen – sieht eine Fiktion der Wissenschaftlichkeit vor, falls der Mietspiegel der ebenfalls vorgelegten Verordnung entspricht. Das ist ein höchst problematischer Ansatz; denn nicht nur bei den vorherigen Beratungen zu ganz anderen Punkten haben wir heute festgestellt: Wissenschaftlichkeit ist faktenbasiert, Wissenschaftlichkeit kann nicht fingiert werden. Deswegen ist das ein Punkt, der der Unionsfraktion in den Beratungen sehr wichtig sein wird. Wir begrüßen, dass künftig qualifizierte Mietspiegel nach klaren Kriterien erstellt werden sollen. Das stärkt nämlich das Instrument des Mietspiegels. Das Instrument des Mietspiegels mit der Vergleichsgröße der ortsüblichen Vergleichsmiete ist ein zentrales verbraucherschützendes Element in der mietrechtlichen Regulierung. Wir wollen es nicht aufgeweicht wissen; wir wollen es gestärkt, transparent und nachvollziehbar wissen. Daran werden wir uns in den Beratungen halten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Katharina Willkomm hat nun für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie jeder Spiegel soll der Mietspiegel für den Betrachter die Wirklichkeit abbilden. Wenn man weiß, was die anderen für vergleichbare Wohnungen zahlen, kann ein Mieter seine Miete und die Mieterhöhung überprüfen. Leider braucht es Zeit und Geld, um gute Mietspiegel zu erstellen. Es ist daher zu begrüßen, dass mit dem Gesetz den Behörden der Datenaustausch zur Vorbereitung der Mietspiegelerhebung vereinfacht wird. Aber ansonsten ist es ein Bürokratiemonster. Unverändert wird aus zu wenigen Stichproben durch aufwendigen statistischen Hokuspokus ein vermeintlich repräsentativer Mietspiegel destilliert. Nehmen wir als Beispiel Berlin: Hier leben die Menschen zu 80 Prozent in Mietwohnungen, auf einer bebauten Fläche von rund 490 Quadratkilometern. Für den qualifizierten Mietspiegel sollen 3 000 Stichproben ausreichen. Eine Stichprobe repräsentiert damit 163 000 Quadratmeter oder auch 23 Fußballfelder. Als FDP-Fraktion haben wir bereits vor über einem Jahr die Lösung gezeigt: Anstatt die Mietdaten durch aufwendige Umfragen doppelt zu erheben, nutzen wir doch gleich die Finanzämter. Die kennen durch die Steuererklärungen der Vermieter jedes Mietverhältnis in der Republik. ({0}) Diese Daten könnten dann verlässlich anonymisiert und an die Gemeinden weitergeleitet werden. Anstatt sich mit Vermutungen zu begnügen, stünde der Mietspiegel damit auf einer breiten Datenbasis. Zudem könnten sich dadurch auch kleine Kommunen einen qualifizierten Mietspiegel leisten, weil die teure Datenerhebung entfällt. ({1}) Leider verhindern Sie aber mit anderen Vorgaben, dass der Mietspiegel wirklich repräsentativ sein kann; denn Sie haben erst 2020 den Zeitraum für die Betrachtung aller einzubeziehenden Mieten auf sechs abgelaufene Jahre ausgeweitet. Nach diesem Gesetzentwurf wollen Sie das Verfallsdatum des Mietspiegels auch noch auf drei Jahre verlängern. Sie entkoppeln den Mietspiegel bewusst immer mehr von der Realität, weil Ihnen nicht gefällt, was ein aktueller Mietspiegel Ihnen zeigt: explodierende Mieten in den Großstädten. ({2}) Gleichzeitig fallen auf dem platten Land die Mieteinnahmen, und mit ihnen verfallen die Häuser. Die Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land driften immer weiter auseinander. Das liegt auch an Ihrem Versagen beim Internetausbau, beim ÖPNV-Ausbau und bei den fehlenden Jobs. Dies treibt immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Das macht den Wohnraum knapper, und was knapp ist, ist teuer. Diese einfache Wahrheit können Sie nicht wegregulieren. ({3}) Deshalb lahmt Ihre Mietpreisbremse, und deshalb war auch der rot-rot-grüne Mietendeckel keine Lösung. Die Mietpreise werden sich erst stabilisieren, wenn genug Wohnungen vorhanden sind. Wir brauchen mehr Mietwohnungen und eine Wende zur Eigentümernation. Wir müssen bauen, bauen, bauen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es würde wirklich höchste Zeit, dass die Mietspiegel endlich länger gelten und dass sie endlich rechtssicher gemacht werden; ({0}) denn zu oft werden die Mietspiegel von den Konzernen angegriffen und vor Gericht gekippt. Gerade große Wohnungskonzerne wie etwa Deutsche Wohnen verweisen beispielsweise gerne auf Vergleichswohnungen, um den Mietspiegel zu umgehen. Deswegen hatten wir uns auch gefreut, dass nach dem Referentenentwurf dieses beliebte Schlupfloch endlich geschlossen werden sollte und nur noch qualifizierte Mietspiegel als Maßstab gelten sollten. Auch dass ursprünglich vorgesehen war, Mietspiegel als wissenschaftlich anzuerkennen, haben wir begrüßt. Aber nein, im vorgelegten Gesetzentwurf sind beide Schlupflöcher wieder enthalten. Da hat die Lobby wieder ganze Arbeit gemacht. ({1}) Im Ergebnis werden die ohnehin recht wirkungslosen Mietspiegel wieder vor Gericht landen. Meine Damen und Herren, genau dieses mutlose Rumgemurkse haben die Mieterinnen und Mieter in diesem Land nicht verdient. ({2}) Die vorgelegte Mietspiegelreform ist angesichts der großen Herausforderungen wirklich ein schlechter Witz. ({3}) Ich will daran erinnern, dass in der Amtszeit dieser Koalition, in jetzt fast acht Jahren, die Mieten im gesamten Bundesgebiet explodiert sind: 5 Prozent höhere Mieten in einem einzigen Jahr. Das ist Ihre Verantwortung, und der sind Sie bis heute nicht gerecht geworden. ({4}) Die Union hat noch eins obendrauf gesetzt; das will ich am heutigen Tag schon noch mal erwähnen. Gestern hat ja das Verfassungsgericht in Karlsruhe den Berliner Mietendeckel gekippt, das einzige Gesetz in der ganzen Republik, das wirkungsvoll die Mieten begrenzt hätte. ({5}) Die Union und die FDP sind vor das Verfassungsgericht gezogen. ({6}) Gleichzeitig legen Sie heute wieder so ein Gemurkse, etwas Halbherziges vor. Das zeigt den Unterschied zwischen einer wirklich engagierten Mietenpolitik und einer Alibipolitik. Das will ich an der Stelle schon noch mal sagen. ({7}) Nun tun Sie doch nicht so, als würde es Ihnen hier um die Bundeszuständigkeit gehen. Herr Luczak, wo ich Sie gerade sehe: Ihnen ging es doch nur darum, dass die Mietenexplosion weitergehen kann und dass Ihre Buddys aus der Immobilienlobby weiter kassieren können. Das ist doch die Wahrheit. ({8}) Es ist ja sicherlich kein Zufall, dass im gleichen Jahr, in dem Sie vor das Verfassungsgericht gegangen sind, die Union 1,2 Millionen Euro Spenden aus der Immobilienwirtschaft erhalten hat. ({9}) 800 000 Euro spendete alleine der Baulöwe Christoph Gröner an die CDU Berlin. Meine Damen und Herren, das ist doch schamlos. ({10}) Bei einer Sache können Sie sich sicher sein: Wir werden uns von diesem Urteil nicht entmutigen lassen. Wenn es das Land Berlin nicht machen kann, dann machen wir es auf Bundesebene. ({11}) Wir kämpfen für einen bundesweiten Mietendeckel, und – eines weiß ich – das geht nur ohne die Union. Die Union raus aus der Regierung, so schnell wie möglich! ({12}) Nur so kriegen wir einen bundesweiten Mietendeckel hin. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Chris Kühn das Wort. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich hätte mir – das will ich in Richtung Unionsfraktion sagen – gestern mehr Demut nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewünscht. Gestern ist ja nicht entschieden worden, dass der Mietendeckel in Berlin inhaltlich nicht verfassungsgemäß ist; ({0}) es ging um seine Form. Das muss man an diesem Tag und in diesem Parlament schon noch mal festhalten. ({1}) Er ist in seiner Form nicht verfassungsgemäß, weil dem Land Berlin einfach nicht die Kompetenz zusteht, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen. Deswegen liegt der Spielball bei der Frage, wie wir in Zukunft mit den Mieten und der sozialen Krise in unseren Städten angesichts der gestiegenen Mieten umgehen, ganz klar hier, im Deutschen Bundestag. Wir müssen das Problem der steigenden Mieten in diesem Parlament lösen. Das ist unsere Verantwortung. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht war da gestern ganz klar: Der Gesetzgeber ist frei, hier sozialpolitische Erwägungen anzustellen. Jetzt stellen wir hier unterschiedliche Erwägungen an, bzw. Sie von der Union haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Sie hier keine sozialpolitischen Erwägungen anstellen, sondern der Lobby hinterherrennen und ein vernünftiges Mietrecht blockieren. Und Sie blockieren eben auch heute wieder, bei der Mietspiegelreform, weitreichende Maßnahmen. So ist es doch. ({3}) Wir sprechen heute über die ortsübliche Vergleichsmiete. Die ortsübliche Vergleichsmiete ist nicht trivial; denn sie ist der Fixpunkt, von dem aus Mieterhöhungen in Deutschland möglich sind. Deswegen ist die Reform, die Sie heute hier vorlegen, ganz klar viel zu wenig, um den Anstieg der Mieten in den Städten zu bremsen. Das ist eine vertane Chance für die Mieterinnen und Mieter, für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. ({4}) Das möchte ich anhand von drei Punkten ausführen: Erster Punkt. Der Betrachtungszeitraum beim Mietspiegel ist nach wie vor einfach zu gering. Die Ausweitung von vier auf sechs Jahre reicht doch nicht aus. Man kann sagen, dass die Mietspiegel heute Neuvertragsmietspiegel sind; aber sie sind eben keine Mietspiegel, weil sie die Mieten nicht in der Breite abbilden. Hier braucht es eine Reform; das ist doch vollkommen klar. ({5}) Zweitens, die Mieterhöhungsmöglichkeiten. Vom Referentenentwurf zum Kabinettsentwurf hat sich das ja dramatisch geändert; denn die Regelung mit den drei Vergleichsmieten ist wieder aufgenommen worden. Damit schaffen Sie ein Schlupfloch bei den Mietspiegeln und untergraben die wissenschaftlichen Mietspiegel noch mal. Das verstehen wir nicht. Hier hätten wir uns mehr Mut gewünscht, das Instrument aus dem Referentenentwurf in den Kabinettsentwurf zu retten. Ich hoffe, dass wir das im parlamentarischen Verfahren noch anders gestalten können. ({6}) Drittens. Es hätte die Chance gegeben – für die SPD, aber auch für die gesamte Große Koalition –, eine Lehre aus dem gestrigen Tag zu ziehen und die Kappungsgrenzen in Deutschland noch mal deutlich abzusenken. Denn das ist doch genau das Instrument, das in den Gebieten, in denen Wohnraummangel herrscht, wirken soll, um den Anstieg der Bestandsmieten zu bremsen. Hier fehlt Ihnen die Kraft. Ich kann nur sagen: Wir Grüne werden dieses Thema in diesem Jahr aufgreifen und zu einer wichtigen Frage im Bundestagswahlkampf machen. Denn eines ist klar: Der Mietenwahnsinn in unseren Städten muss gestoppt werden; sonst ist unser Zusammenhalt bedroht. Danke schön. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild Rawert das Wort. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer/‑innen und liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Frau Bundesministerin Lambrecht hat die Mietspiegelreform und vor allen Dingen deren Ziele schon sehr genau beschrieben. Daher an dieser Stelle nur ein Punkt – darauf ist seitens der Grünen gerade schon hingewiesen worden –: Ja, wir Sozialdemokraten werden noch eine wichtige Änderung erstreiten müssen, nämlich das Schlupfloch der Vergleichswohnung zu streichen. Wir wollen dieses Einfallstor zur Umgehung der ortsüblichen Vergleichsmiete nicht. ({0}) Dafür kämpfen wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens. Ein Wort zu gestern. Der Berliner Mietendeckel ist gekippt worden; das haben wir zur Kenntnis zu nehmen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat nicht darüber entschieden, ob ein Mietendeckel zulässig ist, sondern höchstens, wer diesen Mietendeckel erlassen darf. ({1}) Niemand, außer vielleicht der Widerstand in der Union, hindert uns als Bundesgesetzgeber daran, das Mietrecht an dieser Stelle sozialverträglich fortzuentwickeln. ({2}) Wir als Bundestagsabgeordnete sind aufgefordert, so schnell wie möglich ein entsprechendes Bundesgesetz zu erarbeiten, und ich sage auch deutlich: Wir als SPD wollen das. Andere progressive politische Parteien wollen das auch, ({3}) und zwar, um den Verflechtungen insbesondere mit den großen Lobbyisten der Immobilienwirtschaft zu widerstehen. Wir wollen bestehendes Bundesrecht um einen verfassungsgemäßen Mietenstopp in angespannten Wohnungsmärkten, gerade in Großstädten und Ballungsräumen, ergänzen. Wir fordern schon lange ein Mietenmoratorium im Bundesgesetz, um Mietwucher wirksam zu unterbinden. Wir wollen die Mietpreisbremse entfristen und Schlupflöcher schließen. Wir wollen den Betrachtungszeitraum bei Mietspiegeln auf acht Jahre verlängern. Und vor allen Dingen wollen wir eines – und das noch in dieser Legislatur –: Wir wollen mit dem Baulandmobilisierungsgesetz die Kommunen bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in Innenstadtlagen und bei der Ausübung von Vorkaufsrechten und Baugeboten stärken. Das schützt auch Mieterinnen und Mieter vor Verdrängung, indem wir nämlich die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen erschweren; meistens sind das sowieso nur spekulative Finanzgeschäfte. ({4}) Mit anderen Worten: Mit uns ist eine aktive und sozialverträgliche Mietenpolitik zu machen. Und eines ist klar: Das, was wir in dieser Legislatur nicht mehr schaffen, werden wir im Wahlkampf deutlich herausstellen. Wir kämpfen für eine bundeseinheitliche, verfassungskonforme Regelung für den Mietendeckel. Lassen Sie uns das gemeinsam tun, auch mit einem Kreuz bei „SPD“ bei der Bundestagswahl am 26. September. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Jan-Marco Luczak das Wort. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich reden wir jetzt ja über die Mietspiegel. Aber nachdem nun alle Redner auf das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel eingegangen sind, muss ich da, glaube ich, noch mal ein paar Dinge klarstellen. Sowohl die Grünen als auch die Linken als auch unser Koalitionspartner, die SPD, sagen jetzt – das verwundert auch nicht; Sie haben den Mietendeckel in Berlin ja gemeinsam auf den Weg gebracht –: Wir brauchen einen bundesweiten Mietendeckel. ({0}) Da muss ich mich doch schon sehr wundern. Wenn Sie sich die Entscheidung aus Karlsruhe anschauen, stellen Sie fest: Die war in ihrer Klarheit nicht zu überbieten. Es war eine einstimmige Entscheidung – 8 : 0 –, die besagt: Das Land Berlin hat für einen solchen Mietendeckel keine Kompetenz. – Es war ein Verfassungsbruch mit Ansage, den der rot-rot-grüne Senat in Berlin begangen hat; denn alle Experten haben gesagt, dass das nicht gehe. ({1}) Sie haben Ihre ideologische Verbohrtheit auf dem Rücken der Berlinerinnen und Berliner ausgetragen, weil die Berliner Mieter am Ende nämlich die Leidtragenden gewesen sind. ({2}) Gucken Sie sich doch mal an, was der Mietendeckel in Berlin wirklich bewirkt hat! ({3}) Zwei Jahre ist hier in Berlin nichts passiert. Zwei Jahre ist nichts passiert! Mit dem Beginn der Diskussion um den Mietendeckel ist nichts mehr passiert, weil all diejenigen, die vorher gesagt haben: „Ich möchte im Land Berlin investieren“, „Ich möchte hier neue Wohnungen bauen“, „Ich möchte altersgerecht umgebauten Wohnraum schaffen“, „Ich möchte etwas für den Klimaschutz tun und zum Beispiel die energetische Modernisierung voranbringen“, zu dem Schluss gekommen sind: Unter den Bedingungen des Mietendeckels funktioniert das nicht mehr, ist das wirtschaftlich nicht mehr tragbar. ({4}) Und was ist den Berliner Mietern noch passiert? Das Angebot an neuen Mietwohnungen – wenn Sie sich das pauschal anschauen – ist dramatisch eingebrochen. Um mehr als 50 Prozent sind die Angebote an Wohnungen zurückgegangen. Und was ist die Folge gewesen? Die Schlangen bei den Wohnungsbesichtigungen sind noch länger geworden. ({5}) Es war noch nie so schwierig, in Berlin eine Wohnung zu finden, wie unter dem Mietendeckel. Und das wollen Sie als Vorbild für den Bund nehmen? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! ({6}) Weil Sie jetzt sagen, das sei ja nur eine formale Entscheidung gewesen: Ja, richtig, selbstverständlich. Das Bundesverfassungsgericht – der Zweite Senat, weil der für Staatsorganisation zuständig ist – hat über die Frage der Zuständigkeit entschieden; das ist richtig. Und er hat, weil das so üblich ist, nicht in einem Obiter Dictum etwas zu den materiell-rechtlichen Fragen ausgeführt. Man kann aber sehr trefflich darüber streiten, ob unter dem Blickwinkel des Artikel 14, unter dem Blickwinkel des Artikel 12 und auch unter dem Blickwinkel des Artikel 3 eine solche Regelung zulässig wäre. Ich habe da meine großen Zweifel, ob das so ist. Ich will nur mal ein Beispiel zu Artikel 3 nennen. Wir reden am Ende ja auch über Verhältnismäßigkeitsfragen: Ist so etwas geeignet? Ist so etwas erforderlich? Ist es am Ende angemessen? – Wenn Sie sich die Auswirkungen des Mietendeckels – ein paar hatte ich schon genannt – und die soziale Steuerungswirkung dieses Mietendeckels anschauen, stellt sich die Frage: Wer hat denn eigentlich vom Mietendeckel profitiert? Die Mieten sind vom Gesetzgeber doch am stärksten in den topsanierten Altbauwohnungen am Ku’damm abgesenkt worden, dort, wo die gut verdienenden Zahnärzte – ich spitze es mal zu – wohnen. Die haben davon profitiert. Die haben vorher 17 bis 20 Euro Miete pro Quadratmeter gezahlt; die konnten es sich leisten. Dann haben sie am Ende nur noch 10 Euro bezahlt. Aber diejenigen, die in Marzahn wohnen, denen es wirtschaftlich wirklich nicht so gut geht, haben von diesem Mietendeckel überhaupt nichts gehabt. ({7}) Das ist doch eine schreiende soziale Ungerechtigkeit, was Sie da auf den Weg gebracht haben. Das kann doch nicht Vorbild für den Bund sein. ({8}) Nein, meine Damen und Herren, für uns als Union ist ganz klar: Wir wollen starke soziale Leitplanken im Mietrecht haben. Die haben wir als Bundesgesetzgeber auch auf den Weg gebracht. Deswegen kann ich auch unseren Koalitionspartner, die SPD, an dieser Stelle nicht verstehen. Wir haben in dieser Legislaturperiode so viele Dinge auf den Weg gebracht. ({9}) Wir haben die Mietpreisbremse verschärft. ({10}) Wir haben bei den Modernisierungsmieterhöhungen – dort, wo es wirklich zu deutlichen Mietsteigerungen gekommen ist – die Umlagefähigkeit von 11 auf 8 Prozent reduziert, ({11}) und wir haben sie vor allen Dingen gedeckelt. Das ist eine richtig starke soziale Leitplanke, die wir auf den Weg gebracht haben. Wir sollten doch unsere Erfolge, die wir als Koalition gemeinsam erreicht haben, nicht immer nur kleinreden. Wir haben nämlich für die Mieterinnen und Mieter in dieser Legislaturperiode richtig was gemacht. ({12}) Deswegen würde ich mir eines wünschen: Weil die Menschen dort draußen zum Teil wirklich Angst haben, ({13}) dass sie ihre Wohnung verlieren, dass ihnen gekündigt wird, ({14}) dass die Mieten zu stark steigen, würde ich uns alle ermuntern wollen: Lassen Sie uns nicht mit der Angst der Menschen spielen! Lassen Sie uns nicht mit der Angst der Menschen Wahlkampf machen, sondern machen wir ihnen Mut, dass sie das gesetzliche Instrumentarium, das wir haben und das noch mal starke soziale Leitplanken für die Mieterinnen und Mieter in unseren Städten bedeutet, auch nutzen. Die Mieterinnen und Mieter draußen sind gut geschützt. Dafür steht auch die Union. Wir wollen, dass sie gut geschützt sind. Deswegen: Kein Wahlkampf mit der Angst der Menschen vor steigenden Mieten! ({15})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben gegenwärtig eine Debatte, in der einige im politischen Raum, aber auch gesellschaftlich, der Überzeugung sind, dass das erhöhte Risiko des Kapitalmarkts Bestandteil des regulären Systems der Altersvorsorge sein soll. Friedrich Merz fordert eine Kultur des Aktiensparens statt – wörtlich – „unbezahlbare soziale Leistungsversprechen“. Die FDP will der gesetzlichen Rentenversicherung jedes Jahr 27 Milliarden Euro entziehen – 2 Beitragssatzpunkte –, und das dann bei vollem Risiko am Aktienmarkt anlegen, und das in einer Phase – das ist das Paradoxe an dieser ganzen Debatte –, in der die Kapitalmarktrisiken größer sind als je zuvor. Nächste Woche wird der IWF auf seiner Frühjahrstagung die Risiken der weltweiten Finanzmärkte besprechen. Das größte Problem, das der IWF identifiziert, ist die überbordende Liquidität. Ein Viertel der Unternehmen, wird befürchtet, sind Zombieunternehmen, die jetzt überschuldet sind, und zwar global. ({0}) Gleichzeitig bergen die Digitalisierung und die notwendige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft enorme Risiken. An dieser Stelle sei das Interview von EZB-Mitglied Isabel Schnabel aus dieser Woche genannt. Die sogenannte Carbon Bubble – dass in den Bilanzen Werte stehen, die überhaupt nicht realisierbar sind, zum Beispiel Gas- und Ölvorkommen – ist ein enormes Kapitalmarktrisiko. Das heißt: Wer fordert, Altersvorsorge maximal in den Kapitalmarkt zu verlagern, ({1}) spielt mit der Sicherungsgrundlage des größten Teils der Bevölkerung. Das geht nicht an! ({2}) Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich habe nichts gegen Anlegen am Kapitalmarkt, auch nichts gegen Aktiensparen. Im Gegenteil: Bündnis 90/Die Grünen bietet mit einem öffentlichen-rechtlichen Bürgerfonds sogar ein Instrument an, das provisionsarm und kostenarm ist und eine günstige Möglichkeit darstellt. ({3}) Aber das soll eine freiwillige Entscheidung sein. Das soll frei getragen werden von den Bürgerinnen und Bürgern, die sagen: Ich bin bereit, ein bestimmtes Risiko einzugehen. – Dann ist das auch vollkommen in Ordnung. Aber der Regelteil der Altersvorsorge – das, was auf alle Fälle stehen muss, worauf Verlass sein muss, gerade für Niedrigverdiener/‑innen und Durchschnittsverdiener/‑innen – müssen die gesetzliche Rente und das Umlageverfahren sein und bleiben. ({4}) Darauf zielt der Antrag, den wir hier eingebracht haben, eindeutig ab. In der gesamten Breite legt dieser Antrag, den wir heute beraten, dar, wie man die Grundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung stärkt und bessert. Wir verzahnen verschiedene Politikbereiche. Zum Beispiel weisen wir deutlich darauf hin – darüber haben wir gestern schon debattiert –, dass wir einen höheren Mindestlohn brauchen, um mehr Sozialversicherungsbeiträge zu generieren, ({5}) dass wir alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen brauchen, damit die Menschen länger gesund im Beruf bleiben können, dass wir eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen und ein echtes Einwanderungsgesetz brauchen, um das Erwerbspersonenpotenzial hochzuhalten. Das hängt alles miteinander zusammen. ({6}) Und dann ist es so, dass wir nicht zwangsläufig auf Beitragssatzsteigerungen in sonderlicher Höhe zurückgreifen müssen, um das Rentenniveau stabil zu halten. Das Rentenniveau kann stabil gehalten werden, und das muss auch die Zielsetzung sein, damit auch über 2025 hinaus auf die Basis der Alterssicherung Verlass ist. ({7}) Wir bringen mit diesem Antrag auch einen neuen Vorschlag ein, der – das muss ich sagen; das fand ich wirklich schön – tatsächlich als Erstes von der CDA aufgegriffen worden ist. Sie haben auch versucht, ihn in Ihr Beschlusspapier des Bundesfachausschusses Soziale Sicherung einzubringen; das hat dann wohl der Wirtschaftsflügel der Union verhindert. ({8}) Es handelt sich um einen etwas sperrigen Begriff, aber eine super Idee, nämlich um eine Mindestbeitragsbemessungsgrundlage. Das heißt: Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die Niedriglohnbeschäftigte haben, müssen bis zu einem bestimmten Wert – einem fiktiven Stundenlohn von 15,50 Euro – einen Rentenbeitrag zusätzlich zu dem, der ohnehin paritätisch abgeführt wird, aufbringen. Das heißt, die Rentenbeiträge bei Niedriglohnbeschäftigten werden entsprechend aufgestockt, sodass bei langjähriger Arbeit in diesem Bereich trotzdem eine armutssichere Rente, nämlich von circa 1 200 Euro – ich habe das mal durchgerechnet –, herauskommt. Das ist auch für die Arbeitgeber machbar und tragbar. Die werden natürlich über die Lohnnebenkosten schimpfen. Aber die Steigerung ist relativ moderat und gesamtwirtschaftlich gesehen im Vergleich zu höheren Steuerzuschüssen und dergleichen – Stichwort „Grundrente oder Garantierente“ – eine relativ günstige Angelegenheit. Ich würde mir wünschen, dass die CDA in ihrem Laden weiter kämpft und das zur Mehrheitsmeinung bei der Union macht. Vielleicht können SPD und vor allen Dingen auch Linke sich dem Vorschlag ebenfalls nähern. ({9}) Ich glaube, dass wir hier eine diskussionswürdige Überlegung einbringen, die man weiterentwickeln sollte. ({10}) Das zeigt auch, dass wir auf Innovationen nie verzichten. Wir sind für Anregungen und Ideen auch an dieser Stelle offen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Wer sich ein bisschen mit der jüngeren Geschichte der Rentenpolitik in Deutschland befasst hat oder darauf zurückschaut, der muss nach der Rede vom Kollegen Kurth Folgendes feststellen: Diese Rede war die Ansage der Grünen: Wir haben mit dem, was wir damals in Regierungsverantwortung getan haben, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. ({0}) Das kann man versuchen; aber es bleibt trotzdem an euch heften. Das will ich einmal feststellen. ({1}) Was die Mitbürgerinnen und Mitbürger in dieser Situation, in der wir uns heute befinden, besonders interessiert, ist: Stehen und funktionieren unsere Sozialversicherungssysteme auch in der Krise? Ich bin wirklich froh und erleichtert, dass wir feststellen können: Ja, die gesetzliche Rentenversicherung ist ein stabiler Anker in dieser Krise, auf die Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung ist Verlass, und vor allen Dingen: Sie ist auch finanziert. Sie ist natürlich auch deshalb finanziert, weil wir mit dem Kurzarbeitergeld dafür sorgen, dass der Rentenversicherung weiterhin in einem hohen Maße Beiträge zufließen. Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollten wir gemeinsam den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die Sorge haben, diese Botschaft mitgeben: Ja, auf die gesetzliche umlagefinanzierte Rente in Deutschland ist Verlass. ({2}) Wenn man jetzt die Änderungen im Rentenrecht anschaut, dann muss ich sagen: Die letzten Jahre waren allesamt Jahre – sie waren auch von einer bestimmten Koalitionskonstellation geprägt –, in denen wir ausschließlich Verbesserungen der Leistungen der gesetzlichen Rente beschlossen haben, im Gegensatz zur Vergangenheit, in der manchmal auch Verschlechterungen beschlossen worden sind. Wir blicken zurück auf deutliche Leistungsverbesserungen in den letzten Jahren – ich nenne sie noch mal –: Einführung der Mütterrente, Verbesserung der Erwerbsminderungsrente, wir haben für die Geringverdiener in der Midijobzone einen Zuschlag auf deren Rentenanwartschaften beschlossen; das ist schon eine Aufwertung. Dazu gehören aber auch – der Kollege Kurth hat es genannt – Verbesserungen bei Reha und Prävention. Wir haben der Deutschen Rentenversicherung zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, aus ihrem Rehabudget nicht nur Rehamaßnahmen, sondern auch Präventionsmaßnahmen zu finanzieren. Ich finde, in einer älter werdenden Gesellschaft und einer sich verändernden Arbeitswelt ist es eine wichtige Botschaft an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Die Rentenversicherung zahlt nicht nur Rente aus, sie sorgt auch dafür, dass mir geholfen wird, gesund zu bleiben und meine Gesundheit zu erhalten. Eine wichtige Leistung! ({3}) Deshalb sollte man in den Debatten nicht so tun, als sei nichts passiert. Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung wirklich gestärkt. Nun will ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, den auch der Kollege Kurth angesprochen hat: Was ist denn mit den anderen Alterssicherungssystemen? Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Gerade der Alterssicherungsbericht der Bundesregierung – den ich wirklich, obwohl es sehr viele Seiten sind, jedem zu lesen empfehle, weil er auf einer so breiten Datenbasis fußt, wie es sonst in keiner anderen Untersuchung vorzufinden ist – zeigt uns: Der große Unterschied hinsichtlich der Frage: „Wie hoch sind die Altersbezüge, die jemand zur Verfügung hat?“, ergibt sich durch Folgendes: Hat jemand nur eine gesetzliche Rente, oder hat er auch eine Zusatzrente? Wenn man sich die betriebliche Altersvorsorge anschaut, wird der Unterschied umso krasser. Man kann über den Daumen gepeilt Folgendes sagen – das zeigen auch die Zahlen des Alterssicherungsberichts –: Wer in einem Unternehmen mit über 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet, wer dort einen überdurchschnittlichen Lohn bezieht, hat auf jeden Fall eine gute Betriebsrente; das gilt für 80 bis 90 Prozent der dort Beschäftigten. Wer in einem Kleinbetrieb arbeitet und dort unterdurchschnittlich verdient, hat in der Regel keine Betriebsrente. Daraus ergibt sich diese große Differenz. Deswegen hätte ich von einer innovativen Partei, die die Grünen sein wollen, erwartet, dass sie Vorschläge macht, wie diese Differenz aufgehoben werden kann. ({4}) Wir als Große Koalition haben wenigstens begonnen, etwas dafür zu tun, diese Lücke zu schließen: Erstens. Wir haben eine eigene Geringverdienerförderung für die betriebliche Altersversorgung eingeführt, wir haben sie noch einmal verdoppelt; das ist also eine rein arbeitgeberfinanzierte Leistung für Geringverdiener, damit sie überhaupt mit der Betriebsrente anfangen können. Zweitens. Wir haben in das Betriebsrentenstärkungsgesetz das Sozialpartnermodell hineingeschrieben mit der festen Absicht, tarifliche Vereinbarungen zur Altersversorgung endlich auszuweiten, also mehr Tarifbindung herzustellen. Ehrlich gesagt habe ich mir im Nachhinein ein bisschen mehr erwartet; aber ich will ausdrücklich feststellen: Ich gratuliere der Gewerkschaft Verdi, dass sie zum allerersten Mal zusammen mit einem Arbeitgeber eine Vereinbarung zu einem solchen Sozialpartnermodell im Tarifvertrag hat treffen können. ({5}) Ich sage dazu: Ich würde mir wünschen, dass vielleicht auch weitere diesem Beispiel folgen. Ich sehe große Herausforderungen für die kommende Legislaturperiode des Bundestages. Dazu gehört selbstverständlich, an der Stärkung der gesetzlichen Altersversorgung durch die gesetzliche Rente weiterzuarbeiten, aber auch dafür zu sorgen, dass zur Zusatzrente, vor allem zur betrieblichen Altersversorgung, alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – vor allem diejenigen mit geringen Löhnen – Zugang erhalten, damit sie eine anständige, auf mehreren Beinen stehende Altersversorgung im Alter erwarten können. ({6}) Das muss unser Ziel sein. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Sie sind ja noch dran, Herr Kollege Birkwald. ({0}) – Ich mich auch. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing, AfD-Fraktion. ({2})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Verehrte Bürger! Mit dem hier vorliegenden Antrag soll die gesetzliche Rentenversicherung stabilisiert und perspektivisch zu einer Bürgerversicherung für alle Erwerbstätigen ausgebaut werden. Diese Absicht ist erst einmal löblich. Wer möchte das nicht? Eine sichere und ausreichende Altersversorgung für die Bevölkerung ist eine der zentralen Aufgaben des Staates, an der die Politik leider seit Jahrzehnten scheitert. Ideen für eine langfristig ausgerichtete Gestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es; allerdings ist die Anzahl der Stellschrauben in diesem System begrenzt. Nicht alles, was uns in der Vergangenheit als Reform verkauft wurde, war gut. Ich sage das, weil auch die Grünen, deren Antrag wir heute besprechen, maßgeblich am Kahlschlag des Rentensystems beteiligt waren. ({0}) Genauer gesagt: Es waren die Grünen, denen der Einstieg in die private, kapitalbasierte Altersvorsorge 2001 gar nicht schnell genug gehen konnte. Dafür wollten sie nicht nur die Hinterbliebenenrente abschaffen und die Leistungen für Familien und Kindererziehung kürzen, sondern auch das Rentenniveau noch schneller senken, als es die Kollegen von der SPD wollten und letztlich auch getan haben. ({1}) Wir sehen, die Zeiten haben sich geändert. ({2}) Die ersten drei Seiten Ihres Antrags sind ein einziges Loblied auf das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem. Aber der hier vorliegende Antrag ist vor allem ein bunter Strauß schön klingender Ideen. Nicht alle davon sind schlecht. Wir als AfD unterstützen zum Beispiel die Weiterentwicklung in Richtung Bürgerversicherung, die Verbesserung für Erwerbsminderungsrentner und einiges mehr. Anderes, wie zum Beispiel die Garantierente, lehnen wir ab; denn damit würden die Fehler der Grundrente nicht behoben, sondern sogar noch verschärft. ({3}) Auch die Erhöhung des Arbeitgeberanteils an den Rentenversicherungsbeiträgen – in Ihrem Antrag so lyrisch „Mindestbeitragsbemessungsgrundlage“ genannt – wird nur zu einem führen: der Verteuerung des Faktors Arbeit für die Unternehmen. ({4}) Was Sie insgesamt fordern, ist ein buntes Sammelsurium aus arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, von mehr Gesundheitsförderung im Betrieb, mehr Erwerbstätigkeit von Frauen, mehr Erwerbsbeteiligung von Migranten, mehr Maßnahmen, die älteren Beschäftigen – ich zitiere – „ein gesünderes und längeres Arbeiten“ ermöglichen, mehr dieses und mehr jenes. Es zeugt von einer gewissen Blauäugigkeit, was den direkten Einfluss des Staates auf die Entwicklung der Erwerbsquote angeht. Es ist zum Beispiel bemerkenswert, dass die Erwerbstätigkeit von Migranten allein dadurch erhöht werden soll, dass diesen ein – ich zitiere – „unkomplizierter und nachhaltiger Zugang zum Arbeitsmarkt“ gewährt werden soll und „bürokratische Hürden“ im Rahmen der Aufenthaltsverfestigung beseitigt werden sollen. ({5}) Die Ursachen für die erschütternd geringen Beiträge von Zuwanderern in die Sozialkassen sind aber nicht etwaige „bürokratische Hürden“, ({6}) sondern fehlende Bildung, fehlende Motivation und fehlende Qualifikation. ({7}) Es sind Zahlen der Bundesregierung, die belegen, dass die Zuwanderer aus den Top-8-Asylherkunftsländern selbst dann keine Altersrente oberhalb der Grundsicherung erreichen würden, wenn sie auf 45 Beitragsjahre kämen. Und das ist ja gar nicht der Fall. Daraus folgt, dass die propagierte Einwanderung wenig zur Stabilität des Rentensystems beiträgt, dafür aber zu einer erheblichen Belastung der Sozialsysteme wird, nämlich über die zu erwartenden Transferleistungen, das heißt die Grundsicherung im Alter. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ideologie lassen sich keine Sozialkassen sanieren. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Einwanderungspolitik. Wenn auch nur ein Teil von dem umgesetzt würde, was Sie in Ihrem Wahlprogramm in Bezug auf Umwelt-, Energie- und Verkehrspolitik androhen, wäre das das Ende für viele Unternehmen und ihre Arbeitsplätze. Wer wird dann noch Beiträge in die Rentenkasse zahlen? Steuermittel, um die Löcher zu stopfen, werden Sie nicht haben; denn die werden anderweitig verbraten. Nun, wenn alles nichts hilft und kein Geld mehr da ist, dann wird es eben Beitragserhöhungen geben; das hat jedenfalls Kollege Kurth in seiner Pressemitteilung zum Antrag der Grünen angekündigt. Und das sollten alle potenziellen Wähler der Grünen wissen. Vielen Dank. ({9})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schielke-Ziesing, Ihr Beitrag hat mich erstaunt, aber eigentlich auch wieder nicht. Die AfD schwadroniert ja im Moment über den Ausstieg aus der EU. Das hätte auch erhebliche Auswirkungen auf die Altersversorgung. ({0}) Wenn der Export einbricht und Arbeitsplätze verloren gehen, ({1}) hätte das Auswirkungen auf die gesetzliche Rente. ({2}) Diese Zusammenhänge sind aber vermutlich etwas zu anspruchsvoll, und deshalb haben wir dazu auch nichts gehört. Zum Antrag der Grünen. Die Grünen fordern die Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung. Gut so! Auch für uns steht die gesetzliche Rente im Mittelpunkt. Deshalb haben wir sie auch in den vergangenen Jahren gestärkt; Peter Weiß hat schon ein paar Beispiele genannt. Ich will es hier noch einmal erwähnen: Wir haben die Anerkennung von Erziehungsleistungen verbessert, wir haben den Zugang zur Erwerbsminderungsrente verbessert, und wir haben mit der Grundrente dafür gesorgt, dass das Kernversprechen des Sozialstaats gilt: dass derjenige und diejenige, die lange gearbeitet haben, auch im Alter etwas davon haben. ({3}) Das sind nur ein paar Beispiele. Die Akzeptanz – das ist im Antrag der Grünen völlig richtig – der gesetzlichen Rente hängt in der Tat davon ab, dass sie eine Altersversorgung garantiert, die sich am erworbenen Lebensstandard orientiert, konkret: dass man im Alter nicht allzu große Einschnitte hinnehmen muss. Das bedeutet auch, dass sich die Renten an der Entwicklung der Löhne und Gehälter orientieren müssen, damit Rentnerinnen und Rentner weiter am Wohlstandszuwachs teilhaben. Deshalb wird das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent sinken, und die Beiträge werden nicht über 20 Prozent steigen. Das haben wir, das hat die SPD durchgesetzt. ({4}) Wir wollen das Rentenniveau langfristig bei mindestens 48 Prozent halten. ({5}) – Das mag sein, aber darüber reden wir dann bei Gelegenheit noch mal. Die gesetzliche Rente steht besser da, als uns manche glauben machen wollen. Aber klar ist: Es gibt noch einiges zu tun. Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten: Derzeit sind in der GRV alle abhängig Beschäftigten pflichtversichert. Nicht pflichtversichert sind alle Beamten, Selbstständige, Berufe mit eigenen Versorgungswerken und Politiker. Damit haben wir in Deutschland eine vielfältige Rentenlandschaft. Diese Vielfalt führt immer wieder zu Diskussionen über die Leistungsgerechtigkeit in der Rente. Die Rentensysteme jenseits der GRV werden von der Bevölkerung als Privilegien betrachtet, an denen sie nicht teilnehmen können. Und jetzt kommt es: Für die CDU ist vorstellbar, die GRV in eine Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickeln. Das ist aus einem Beschlussvorschlag für den eben schon erwähnten Fachausschuss der CDU. Beschlossen worden ist es dann allerdings nicht. Schade, liebe CDU! Da hat Sie offenbar der Mut verlassen. ({6}) Denn die Idee einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung ist ja richtig. ({7}) Deshalb hat sie hier auch bei allen Unterschieden im Detail eine breite Unterstützung. Natürlich kommt jetzt das Argument: Mehr Beitragszahler bedeuten auch mehr Ansprüche. Das stimmt – allerdings erst in 40 oder 50 Jahren. Damit könnte die Erwerbstätigenversicherung auch dazu beitragen, die finanziellen Herausforderungen abzufedern, die dadurch entstehen, dass die Babyboomer in Rente gehen. ({8}) – Das bestreitet niemand ernsthaft. – In erster Linie geht es aber um Solidarität in der Alterssicherung, und das bedeutet eben, dass alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Das hat etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Das Problem geringer Rentenansprüche durch niedrige Einkommen kann aber nicht allein durch die Rente gelöst werden. Ordentliche Löhne – das ist eben auch schon erwähnt worden – sind der Schlüssel für ordentliche Renten. Deshalb brauchen wir eine Erhöhung des Mindestlohns auf mindestens 12 Euro. ({9}) Die Grünen wollen eine Garantierente als Weiterentwicklung der Grundrente. Darüber kann man reden; denn im Ziel sind wir uns ja einig, nämlich Altersarmut dadurch zu reduzieren, dass geringe Rentenansprüche trotz langer Beschäftigung aufgewertet werden. Die umlagefinanzierte Rente muss die Basis bilden. Betriebliche und private Vorsorge sollen ergänzen, aber eben nicht ersetzen; denn die Idee vom Ersatz hat schon in der Vergangenheit nicht so richtig funktioniert. Kollege Vogel wird gleich die Aktienrente der FDP anpreisen. Über freiwillige Lösungen können wir reden, über eine Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. ({10}) Wir wollen im Gegenteil allen gesetzlich Versicherten die Möglichkeit einräumen, freiwillig ergänzend in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Das könnte auch ein Weg für Arbeitgeber sein, betriebliche Altersversorgung dort zu organisieren, wo es sie noch nicht gibt. Zum Schluss noch ein Gedanke. Es gibt ja immer wieder die schlichte Forderung: Wir müssen länger arbeiten, weil wir länger leben. – Dazu steht im Antrag der Grünen nichts. Für uns ist klar: Eine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters würde für viele, die nicht länger arbeiten können, eine Rentenkürzung bedeuten. Das ist ungerecht, und deshalb machen wir das nicht mit. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, das ist ein erhellender Antrag und eine erhellende Debatte hier, nicht nur, weil ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe, dass der Kollege Kurth sich bei Einbringung seines eigenen Antrags erst mal die ersten 30 Sekunden an unserem Konzept abarbeiten musste, was zumindest für dessen Relevanz spricht – ich komme gleich noch ausführlicher darauf –, ({0}) sondern auch, weil es uns die Möglichkeit gibt, darüber zu reden, wie die Grünen in der Rentenpolitik wirklich ticken. Eine der Lehren aus dieser Krise ist ja, dass einen absehbare Versäumnisse früher oder später einholen. Wir wussten zum Beispiel, dass wir in der Digitalisierung hintendran sind. Plötzlich wird es zu einer Frage von Leben und Tod, wenn in den Gesundheitsämtern nur Faxe verschickt werden. Deswegen ist die Aufgabe für die nächste Legislaturperiode, darüber zu reden: Was sind die nächsten absehbaren Versäumnisse, die uns sicher einholen werden? Wie sieht ein verantwortungsbewusstes Denken in Jahrzehnten aus? Während wir uns beim Thema „Klimawandel und Dekarbonisierung“ im Ziel noch völlig einig sind, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, verlässt euch bei der Rentenpolitik der Realitätssinn. So wie ihr von Wissenschaftsorientierung nicht mehr viel wissen wollt, wenn es um Homöopathie geht, verschließt ihr die Augen vor der Realität, wenn es um die Demografie geht, und das ist unverantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({1}) Denn man hat in den letzten Monaten – ich bin immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten – durchaus viele spannende Anregungen, Einzelstimmen aus den Reihen der Grünen vernehmen können: von Danyal Bayaz, selbst von Sven Giegold, von den Schwarz-Grünen aus Hessen, die durchaus ähnlich wie unsere Gedanken klangen. Aber wenn man guckt, was diejenigen denken und aufschreiben, die in der Sozialpolitik wirklich das Sagen haben, dann ist nicht nur der heutige Antrag sehr erhellend, sondern letztens auch ein interessanter Gastbeitrag von Markus Kurth, dem Chefrentenpolitiker, in der „Frankfurter Rundschau“. Da schreibt er: Die kapitalgedeckte Altersvorsorge ist generell nicht geeignet. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss man erst mal wirken lassen. Da klatscht überraschenderweise nur die Linkspartei. ({3}) Die Schweiz, die Niederlande, Schweden, die Skandinavier, die alle mehr Aktien in der Altersvorsorge nutzen als wir, sie alle haben unrecht. Markus Kurth hat recht, wenn es nach den Grünen geht. Die deutschen Verbraucherzentralen, die das nachdrücklich einfordern und unsere Konzepte begrüßt haben, werden von Markus Kurth in seinem Gastbeitrag sogar konkret angegriffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin oft der Meinung, wenn die Wählerinnen und Wähler wüssten, wie links die Grünen in der Sozialpolitik sind, ({4}) würden viele von ihnen weglaufen. Heute ist der Beweis dazu wieder einmal erbracht worden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich nehme gerne eine Zwischenfrage der Kollegin an.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte schön.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Vogel, es macht ja Spaß, über die Zukunft der Rente zu sprechen, weil es so oder so eine große Herausforderung ist. Wären Sie bereit, zuzugestehen, dass die Aussage des Kollegen Kurth, was den Beitrag der Kapitaldeckung in der Rente angeht, den er kritisch gesehen hat, sich ausschließlich darauf bezog, dass dieser Beitrag nicht die Regelversorgung ersetzen darf und dass bei einer Zusatzversorgung von uns – auch von Herrn Kurth – ausdrücklich gewünscht wird, auch mehr Kapitaldeckung vorzunehmen?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich habe das sehr genau gelesen. Ich bin in der Tat der Meinung, dass der Kollege Kurth und auch der hier vorliegende Antrag deutlich machen, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen der Meinung sind, kapitalgedeckte Altersvorsorge darf es nur beim Sahnehäubchen obendrauf geben. Sobald es um die Substanz der Alterssicherung geht, finden Sie die kapitalgedeckte und aktienbasierte Altersvorsorge – nicht die Probleme bei der Riester-Rente, die wir teilen – generell nicht geeignet. Das ist Ihre Position. Interessanterweise bleiben Sie jede Antwort schuldig, wie Sie das Ganze angesichts einer alternden Gesellschaft und des Renteneintritts der geburtenstarken Jahrgänge finanzieren wollen. ({0}) Sie müssen diese Frage beantworten. In Ihrem Antrag findet sich dazu nichts. Das halte ich für eine unverantwortliche Alterssicherungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({1}) Besser wäre, eine Modernisierung der Altersvorsorge vorzunehmen. Was schlagen wir vor? Der Kollege Kapschack hat mich aufgefordert, das noch mal darzustellen, und die letzte Minute will ich dazu gerne nutzen. Wir brauchen einen flexiblen Renteneintritt nach schwedischem Vorbild, weil die Lebensläufe heute vielfältig sind. Wir brauchen zielgenaues Vorgehen gegen Altersarmut. Wir müssen die betriebliche und die private Vorsorge besser machen, verbraucherfreundlicher, aktienorientierter. Und – ja, in der Tat – wir schlagen als ganz neues Element eine Gesetzliche Aktienrente nach schwedischem Vorbild vor. Was würde das erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Es würde nach einem Gutachten von Professor Werding, einem der renommiertesten Wissenschaftler in unserem Land, wenn es um öffentliche Finanzen geht, dazu führen, dass wir stabile Rentenfinanzen hinkriegen, dass wir stabile Staatsfinanzen hinkriegen und dass wir den Sinkflug des Rentenniveaus in der ersten Säule aufhalten und langfristig sogar umkehren können. Das heißt, wir stärken die erste Säule der Rentenversicherung und Geringverdiener profitieren auch noch überproportional. Ich finde, das klingt nach einem überzeugenden Konzept, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir brauchen eine Rentenpolitik, die die Rente für alle Generationen stabil und für die ganze Gesellschaft fair macht. Ich freue mich auf die Debatte im Wahljahr, wie wir das erreichen können. Bei Ihrem Antrag bleiben da aber viele Fragen offen. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Der nächste Redner: der Kollege Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Am 26. September sind Bundestagswahlen. Nach der Entscheidung in Baden-Württemberg wissen wir: Bündnis 90/Die Grünen würde mit der Union regieren. Der Entwurf des grünen Bundestagswahlprogrammes zeigt das deutlich. Dort heißt es zur Rente erstens: Die Grünen wollen die Absenkung des Rentenniveaus von 53 Prozent aus dem Jahr 2000 auf heute gut 48 Prozent für die Zukunft festschreiben. – Diese Rentenkürzung um fast 10 Prozent hatten Sie zu Beginn des Jahrtausends mit der SPD durchgesetzt – ein schlechter Vorschlag. ({0}) IG Metall, Verdi, fast alle Sozialverbände und wir Linken fordern: Die Menschen mit mittleren Renten brauchen mehr. Wir wollen das Rentenniveau schrittweise wieder auf 53 Prozent anheben; das hieße 10 Prozent mehr Rente. ({1}) Zweitens. Die Grünen halten an der Rente erst ab 67 fest. Wer künftig ab 65 Jahren statt ab 67 in Rente gehen muss, weil es gesundheitlich nicht mehr länger geht oder 35 Jahre Maloche genug sind, wird mit dem Segen der Grünen die Rente noch mal um 7,2 Prozent gekürzt bekommen – ein schlechter Vorschlag. ({2}) Die Gewerkschaften, die Sozialverbände und wir Linken fordern: Arbeiten bis 65 reicht grundsätzlich. ({3}) Drittens. Die Grünen wollen die kapitalgedeckte Vorsorge in Form eines Bürgerfonds wiederaufleben lassen, der – ich zitiere –: „die Risiken breit streut und auf teure Garantien verzichten kann“. Das wird CDU und CSU freuen. Arbeiten bis zum Umfallen mit niedriger Rente, und dann organisieren die Grünen – Zitat – den „Kleinsparer*innen“ noch das Verbrennen ihres Festgeldkontos auf dem Aktienmarkt. Nein, das ist keine Rentenpolitik für die Mehrheit der hart arbeitenden Menschen, sondern ein Koalitionsangebot an die Rentenkürzer/‑innen der Union, und das ist schlecht. ({4}) Meine Damen und Herren, lieber Markus Kurth, liebe Grüne, euer Antrag „Gesetzliche Rentenversicherung stärken, verlässliche Alterssicherung für alle sicherstellen“ liest sich zum Glück anders als der grüne Wahlprogrammentwurf. Darum bin ich gespannt auf eure Änderungsanträge zu eurem Wahlprogramm; denn in eurem Antrag gibt es neben viel Schatten durchaus viel Licht. Im Einzelnen: Ihr fordert in einem ersten Schritt, Selbstständige, Minijobbende, Hartz-IV-Betroffene und Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und perspektivisch auch die Freiberuflichen und die Beamtinnen und Beamten. Das finden wir Linken sehr gut, aber das werdet ihr nie und nimmer mit der Union hinbekommen, und das ist schlecht. ({5}) Das ist noch nicht alles. Die Linksfraktion kämpft seit Langem für eine Erwerbstätigenversicherung. Das heißt, alle Menschen mit Erwerbseinkommen mögen Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und erhielten dann später entsprechende Renten. Das wollen alle Gewerkschaften, alle Sozialverbände, die SPD und wir Linken. Aber, meine Damen und Herren, die Grünen fordern die Verbeitragung aller Einkommensarten, also auch der Zinseinkünfte der Millionärinnen und Millionäre, der Mieteinnahmen usw. Sie nennen das Bürgerversicherung. Die ist gut in der Kranken- und Pflegeversicherung, aber sozial ungerecht in der Rentenversicherung; denn Vermieter/‑innen und Aktienbesitzer/‑innen erhielten dann im Alter zum Teil unglaublich hohe gesetzliche Renten, und das, obwohl sie im Gegensatz zu den Arbeitsplätzen normaler Arbeitnehmer/‑innen im Alter weiterhin ihre Aktienpakete und vermieteten Wohnungen hätten. Manche hätten bei eurer Bürgerversicherung, lieber Markus Kurth, im Alter fast 10 000 Euro Alterseinkommen und eine Standardrentnerin nach wie vor nur 1 540 Euro. Dabei bräuchten wir dringend Geld für deutlich höhere Erwerbsminderungsrenten und für 53 Prozent Rentenniveau, also für eine außerordentliche Rentenerhöhung um 10 Prozent. ({6}) Deshalb sage ich klar und deutlich: Alle Erwerbseinkommen und vor allem die sehr hohen Erwerbseinkommen müssen zur Finanzierung einer guten gesetzlichen Rente verbeitragt werden, und das sofort. Konkret: Um die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken, will Die Linke die heutige Beitragsbemessungsgrenze schrittweise verdoppeln und perspektivisch abschaffen. Aus den sehr hohen Beiträgen ergäben sich künftig dann auch sehr hohe Renten. Dann brächte es der solidarischen Sozialversicherung nichts, und darum müssten künftige sehr hohe Renten im verfassungsgemäß höchsten zulässigen Maße abgeflacht werden. Sonst hätten wir gesetzliche Renten von 6 000, 7 000 Euro und mehr, und die müssten Krankenpfleger, Fliesenleger/‑innen, Erzieherinnen und Verkäufer erarbeiten. Das lehnen wir Linken ab, und darum fordern wir eine Beitragsäquivalenzgrenze. ({7}) Meine Damen und Herren, wie sieht es mit der grünen Bekämpfung der Altersarmut aus? Nun, wer zu krank zum Arbeiten ist, erhält oft eine Erwerbsminderungsrente. Fast allen Betroffenen wird sie gekürzt; „Abschläge“ heißt das auf Vornehm. Diese Abschläge der Erwerbsminderungsrenten kranker Menschen abzuschaffen oder wertgleich auszugleichen, fordern auch wir Linken. Darum, liebe Grüne, volle Unterstützung dafür von unserer Seite; denn das ist bitter nötig, weil die Große Koalition hier komplett versagt hat. Im Übrigen: Für niedrige Löhne und Gehälter einen Rentenzuschlag einzuführen, den allein die Arbeitgeber/‑innen zahlen mögen, ist eine hervorragende Idee. Großes Lob! ({8}) Nur: Im Wahlprogramm für die schwarz-grüne Koalition steht dazu leider nichts. Schade eigentlich! Warum ist das so wichtig? Wer zu niedrigen Löhnen 45 Jahre arbeiten muss, erhält in heutigen Werten eine Rente von knapp über 1 040 Euro netto. Genau darum kann man die grüne „Garantierente“ für alle Menschen vergessen, die keine selbstfinanzierte sogenannte betriebliche Altersvorsorge übrig haben, weil das Geld fehlt. Denn bei der grünen „Garantierente“ kämen nach 30 Jahren Arbeit gerade mal 910 Euro zusammen, also nur 75 Euro mehr als bei der Grundsicherung. Die Armutsgrenze der EU liegt bei 1 176 Euro.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Kampf gegen die Altersarmut ist die grüne „Garantierente“ also garantiert ein Rohrkrepierer, leider. Deshalb – Herr Präsident, letzter Satz – fordert die Linksfraktion, eine einkommens- und vermögensgeprüfte „solidarische Mindestrente“ als Zuschlag einzuführen – ähnlich wie in Österreich –, damit niemand im Alter von weniger als 1 200 Euro leben muss. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. Sie haben die Redezeit gerade sozialisiert. – Nächster Redner ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Rede werden die Fragezeichen, wie Grün-Rot-Rot in diesem Land funktionieren soll, größer; ({0}) aber wahrscheinlich ist das für die Zukunft unseres Landes auch besser so. Ich bin, wie der Kollege Vogel, dankbar für diesen Antrag der Grünen, weil er zeigt, was die Grünen über die Rente sagen und wie sie wirklich handeln. Es lohnt sich, mal einen Blick darauf zu werfen. Ich möchte tatsächlich mit einem kleinen Lob anfangen; denn Sie haben beim CDU-Bundesfachausschuss Soziale Sicherung und Arbeitswelt abgeschrieben; das freut mich natürlich. ({1}) Zum Beispiel wollen Sie die Erwerbsminderungsrenten im Übergang zur Altersrente verbessern, und Sie wollen auch die Nachhaltigkeitsrücklage stärken. Diese Punkte finden sich eins zu eins in unserem Papier. Ich kann Ihnen nur raten: Schreiben Sie ruhig etwas mehr ab. Das lädt zu Spekulationen darüber ein, was nach dem 26. September passieren kann. Das hat die FDP ja übrigens auch getan. Herr Kurth, einen Punkt möchte ich Ihnen mitgeben, weil Sie gerade Ihre Mindestbeitragsbemessungsgrundlage so gefeiert haben: Soweit ich es richtig gesehen habe, steht die auch noch nicht in Ihrem Wahlprogramm. Also, da haben Sie in Ihrer Fraktion auch noch ein bisschen Arbeit zu leisten. Spannend finde ich allerdings, womit Sie die gesetzliche Rentenversicherung wirklich stärken wollen. Sie sagen, bei der Rentenversicherung gibt es viele Herausforderungen; das Haus steht quasi in Flammen. Aber Sie kommen mit einem einzigen Glas Wasser zum Löschen um die Ecke. Das kann natürlich nicht funktionieren. Sie führen einen Eiertanz um die wirklich zentralen Fragen auf: Wie sieht es mit dem Rentenniveau aus? – Da wollen Sie nichts verändern. Wie sieht es mit dem Rentenbeitragssatz aus? – Da wollen Sie nichts verändern. Wie sieht es mit dem Renteneintrittsalter aus? – Da haben Sie eine ganz tolle Formulierung im Antrag. Sie sagen nämlich, Sie möchten längeres Arbeiten ermöglichen, aber eine Teilrente ab 60 ebenfalls schon einführen. Das ist eine Dialektik, die kennen wir als Union aus Bayern. Aber auch das lädt ja vielleicht zu Spekulationen ein, was nach dem 26. September passiert. Interessant ist aber, dass Sie lediglich bei einem Punkt wirklich etwas verändern wollen, nämlich beim Steuerzuschuss in die Rentenkasse: den wollen Sie erhöhen. Aber Sie sagen nicht, wie Sie ihn finanzieren wollen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer etwas aus dem Steuertopf rausnehmen will, der muss vorher etwas reintun. So viel Ehrlichkeit sollten Sie den Wählerinnen und Wählern vor der Wahl einschenken. ({2}) Dann möchte ich noch auf einen Punkt eingehen. Es ist auch spannend, zu sehen, was nicht in Ihrem Programm steht, obwohl es eigentlich drinstehen sollte. Sie geißeln ja hier – das war eigentlich der Tenor Ihrer Rede –, die kapitalgedeckte Altersvorsorge für eine Rentenversicherung und verweisen darauf, dass sie dafür nicht tauglich ist. Das ist bemerkenswert – da gehe ich noch ein bisschen weiter als der Kollege Peter Weiß –; denn damit haben Sie das Scheitern Ihrer eigenen Politik von vor 20 Jahren hier mal schwarz auf weiß eingestanden. Warum die Wählerinnen und Wähler Ihnen das Vertrauen dann wieder schenken sollten, ist aus meiner Sicht zweifelhaft. ({3}) Aber Sie widersprechen sich ja eigentlich. In Ihrem Antrag sagen Sie, Sie wollten keine kapitalgedeckte Altersvorsorge. In Ihrem Wahlprogramm steht exakt das Gegenteil. Da sagen Sie, dass Sie eine kapitalgedeckte Altersvorsorge für sinnvoll erachten. Da frage ich mich schon: Ja, was gilt denn jetzt bei den Grünen? Was gilt denn hier? ({4}) Und da muss ich mal einen Aspekt herausgreifen, der über den Tag hinausgeht: Sie und Ihre Partei kritisieren immer wieder – auch hier, im Deutschen Bundestag –, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Das ist gerade bei der Vermögensfrage der Fall. Und, ja: Über 40 Prozent der Menschen in diesem Land haben netto kein Vermögen. Daher fände ich es durchaus überlegenswert, wie man Millionen von Menschen mittelbar an der Entwicklung von Vermögen in Deutschland und auch außerhalb Deutschlands beteiligen kann, damit sie an der Vermögensbildung teilhaben können, damit sie auch ein Stück vom Kuchen haben können und Sie nicht ständig zu Umverteilung und Enteignungsmaßnahmen greifen müssen; Ihre Anhänger waren ja gestern wieder hier auf den Straßen in Berlin unterwegs. Ich finde, es lohnt sich, mal zu sagen: Wir brauchen eine kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzend zur gesetzlichen Rentenversicherung, um ebendiese Lücke zwischen Arm und Reich besser zu schließen und eine höhere Rente im Alter zu ermöglichen. Wir als Union haben dazu ebenfalls Vorschläge eingebracht. Ich glaube, das sind die Konzepte, über die wir nach der Wahl reden sollten. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Kleinwächter, AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte „Kolleg-innen“ von den Grünen! Sie begründen ja Ihre Reformvorschläge für die gesetzliche Rentenversicherung mit der Aussage, dass die Riester-Rente grottenschlecht ist. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ja, die Riester-Rente ist grottenschlecht. Mich verwundert das auch nicht wirklich; sie ist ja schließlich ein Produkt von Rot und Grün gewesen, und dabei kommt gewöhnlich immer nur Mist heraus. ({0}) Wissen Sie, das liegt auch an der offenbaren Unfähigkeit, Systeme oder volkswirtschaftliche Prinzipien richtig zu erkennen. Das zeigte sich damals bei der Riester-Rente, als Ihre Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller sich hinstellte und für 2030 ein Rentenniveau von 70 Prozent prognostizierte. Die Prognosen liegen jetzt bei 43 Prozent. ({1}) So ist es halt, wenn man Grüne wählt: 70 Prozent werden versprochen, 43 Prozent kommen am Ende dabei heraus. Wer grün wählt, der vernichtet seinen Wohlstand. ({2}) Aber selbst heute, Herr Kurth, können Sie das ja noch nicht auseinanderhalten, weil Sie Riester-Rente und kapitalgedeckte Vorsorge miteinander vermischen und verwechseln. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wer vor 15 Jahren in den DAX investiert hat, hat eine durchschnittliche Rendite von 10 Prozent per annum gehabt. Wer in die Riester-Rente investiert hat, hatte 0 bis 2 Prozent, bei 10 Prozent jährlichen Verwaltungskosten. Nicht die kapitalgedeckte Altersvorsorge ist per se schlecht; Ihre Riester-Rente ist schlecht. ({3}) Ich hätte erwartet, dass Sie sich heute hierhinstellen und sich entschuldigen bei all den Menschen, bei den vielen Millionen, die durch Sie ihr Vermögen und ihren Wohlstand im Alter vernichtet haben. Das muss man hier mal so deutlich und klar sagen. Das Verständnis dafür, was für eine wirkliche Reform der Alterssicherung, der Rentenversicherung wirklich notwendig wäre, ist bei Ihnen immer noch nicht angekommen. Das, was wirklich notwendig ist, benennen Sie nicht: Wir haben das Problem, dass uns die Kinder fehlen. Wir sind in einem Umlagesystem – – ({4}) – Ja, Herr Birkwald, das können Sie gerne glauben. – Wir sind in einem Umlagesystem, in dem die Erwerbstätigengeneration die Rente derer finanziert, die nicht mehr erwerbstätig sind. Das bedeutet, die nicht mehr Erwerbstätigen sind auf Erwerbstätige einer Generation darunter angewiesen. Und: Wir haben in Deutschland viel zu wenige Kinder. ({5}) Das werden wir nicht bewältigen, Herr Kurth, mit irgendwelchen Gender-Pay-Gap-Lösungen. Das werden wir auch nicht mit Migration lösen. Wenn Sie die entsprechenden Papiere von Martin Werding, den Sie selber zitieren, gelesen haben, dann wissen Sie, dass Migranten mindestens die durchschnittliche Qualifikation der Wohnbevölkerung bräuchten, um einen positiven Effekt auf die Rentenversicherung zu haben. Hans-Werner Sinn hat berechnet, dass die Fiskallast durch einen jeden Zuwanderer in den ersten zehn Jahren 2 300 Euro netto jährlich beträgt. Also: Migration ist keine Lösung; Migration ist das Problem. ({6}) Die einzige Möglichkeit, unsere Rentenversicherung dauerhaft zu stabilisieren, besteht nicht im Drehen an Schräubchen, an denen Sie hier zu drehen versuchen, sondern darin, dass wir auf Kinder setzen und unsere Familien auch bei der Rente fördern. Nicht nur, dass wir in der Rentenversicherung Kinderfreibeträge einführen sollten, ({7}) sondern wir sollten auch dafür sorgen, dass in der gesetzlichen wie in der privaten Altersvorsorge ein Beitrag geleistet wird. Wir fordern 20 000 Euro Beitragsbonus für jedes Kind in der gesetzlichen Rentenversicherung plus 100 Euro monatlich ins Depot für die Kinder, damit sie schon mal einen Altersvorsorgesparbetrag haben, damit sie etwas haben für Arbeit, Ausbildung usw. Meine Damen und Herren, grün steht für so was wie die Riester-Rente. Wenn Sie grün wählen, kriegen Sie so was noch mal – etwas, von dem selbst die Grünen eingesehen haben, dass das schlecht ist. Wählen Sie die Zukunft, wählen Sie Familien, und dann sind Sie automatisch bei der AfD. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. – ({0}) Der nächste Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion. ({1})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich auf jeden Fall bin ein sehr großer Fan der umlagefinanzierten Rentenversicherung; ({0}) denn sie hat sich bewährt. Wir sehen doch, wie es denen ergangen ist, die in den Kapitalmarkt investiert haben, ob bei Lebensversicherungen oder Bausparverträgen; es waren hohe Summen. Das war vielleicht vor 20 Jahren alles ganz gut. Aber wie ist es denn heute? Deswegen ist Ihr Antrag, der von den Grünen, ja in Ordnung, und er gefällt mir auch; er geht in die richtige Richtung. Aber eines sage ich euch, lieber Markus Kurth. Auf Seite 3, letzter Absatz, werft ihr uns vor: In den letzten sieben Jahren ist nichts mehr passiert. – Wie könnt ihr so was behaupten? Der Peter Weiß, der Ralf Kapschack und viele Redner haben erläutert, was passiert ist. Bei 9,5 Millionen Menschen haben wir die Anrechnung der Erziehungszeiten verbessert, Stichwort „Mütterrente“. Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen nach 45 Versicherungsjahren früher in Rente gehen können. Das haben viele wahrgenommen. Da sind Blumensträuße verteilt worden, weil sie dankbar waren. Die Andrea Nahles hat auch einen bekommen. ({1}) Wir haben das Rentenniveau stabilisiert, wir haben die Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung stabilisiert, und wir haben auch die Erwerbsminderungsrenten mehrfach angepasst und verbessert. Auch haben wir die Grundrente eingeführt. Ja, man kann das alles noch besser machen. Aber das war eine ganze Menge. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Alterssicherung in Deutschland – das ist heute öfter gesagt worden – ist trotz mancher Diskussionen, Unkenrufen, Verunglimpfungen, Unwahrheiten – was wird nicht alles erzählt! – gut aufgestellt. Das müssen wir doch einfach noch mal zur Kenntnis nehmen. ({3}) Unsere Aufgabe ist es jetzt, das zu sichern, zu halten und noch zu verbessern. Wenn wir über die Rente sprechen, dann hat das zwei Dimensionen: einmal die 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner, die Bestandsrentner, diejenigen, die in Rente sind, aber auch alle, die auf eine gute, ordentliche Rente hoffen. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, der muss eine auskömmliche Rente bekommen. Das ist ein Grundversprechen des Sozialstaates, und das ist ein Grundversprechen der Rentenversicherung. Die Frage ist aber auch: Wann ist denn das richtige Renteneintrittsalter? Ich glaube, darüber habt ihr, liebe Grünen, gar nichts geschrieben. ({4}) Viele fragen sich: Wann ist das richtige Renteneintrittsalter? – Ich habe gestern Abend das „heute-journal“ gesehen. Da wurde über die Diskussion über 69 als Renteneintrittsalter berichtet. Mit der SPD ist das nicht zu machen. ({5}) Ich sage hier an dieser Stelle: Schon 67 ist viel zu viel. ({6}) Ja, einige Menschen wollen länger arbeiten – die können das vielleicht auch; ({7}) das dürfen die auch –; aber die allermeisten halten nicht durch, die schaffen das nicht. Deswegen gilt es, drei wichtige Fragen zu beantworten: „Wollen?“, „Können?“ und „Dürfen?“. Ich glaube, das ist wichtig: „Wollen?“, „Können?“ und „Dürfen?“, das kommt zusammen. Wenn man jenseits der 60 weiterarbeiten will und auch darf, dann ist das unabhängig von der Arbeit, die man ein Leben lang gemacht hat. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters hier zu fordern, ist wie die Forderung nach einer Rentensenkung. Viele wollen früher in Rente gehen – das hat eine an der Universität in Wuppertal anlässlich der Coronapandemie durchgeführte Studie ergeben –, weil sie einfach nicht mehr durchhalten. Noch etwas passt nicht zusammen: All die, die länger arbeiten müssen, weil sie ihr Leben lang wenig verdient haben – zum Glück lässt sich das in der Statistik alles nachweisen; nichts ist mathematisch und statistisch besser zu bewerten als die Rente –, sind auch diejenigen, die früher sterben. Deswegen ist das nicht nur ungerecht, sondern es ist auch menschlich schlimm. Aber das ist auch ein Problem des Äquivalenzprinzips. Deswegen müssen wir vieles stärken. Wir haben vieles schon gestärkt. – Hier blinkt der Präsident. Es ist Freitagnachmittag. ({8}) Ich glaube, wichtig ist, zu sagen: Die Rente ist immer ein Spiegelbild des Arbeitslebens. Deswegen brauchen wir auch gute Löhne im Arbeitsleben, damit es eine gute Rente gibt. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Rützel, herzlichen Dank. – Ich will nur darauf hinweisen: Nicht der Präsident blinkt, sondern die Lampe dort. ({0}) So weit sind wir noch nicht, dass Sie meine Augen blinken sehen können. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({2})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen der Grünen, die Farbe meiner Krawatte hat heute keinen politischen Hintergrund. ({0}) Es geht zwar um einen Antrag der Kollegen der Grünen; allerdings muss ich sagen: An vielen Stellen sind die Problembeschreibungen vielleicht richtig, die Lösungsvorschläge sind aber mindestens diskussionswürdig, wenn nicht sogar schon jetzt klar abzulehnen. Richtig ist sicherlich die Beobachtung – das teilen wir schon seit vielen Jahren –, dass es eine Pflicht zur Absicherung im Alter auch für Selbstständige und Freiberufler geben muss. Die Erwerbsbiografien sind heute anders als in den vergangenen Jahrzehnten. Zickzacklebensläufe erfordern, dass wir hier tatsächlich genauer hinschauen. Die Lösung, die ihr aber vorschlagt, nämlich eine verpflichtende Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung als einzige Absicherungsmöglichkeit, lehnen wir ab. Wir sagen: Hier muss Freiheit sein, auch andere Lösungen anzustreben, beispielsweise private Rentenversicherungen, Immobilienvermögen, Unternehmensvermögen, aber selbstverständlich, wenn das gewünscht ist, auch die gesetzliche Rentenversicherung. Hier ist richtig, was generell in der Altersvorsorge richtig ist: auf verschiedene Säulen zu bauen. Deshalb ist dieser Vorschlag an dieser Stelle nicht zielführend, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die gesetzliche Rentenversicherung wird immer ein ganz wesentlicher Pfeiler für die Altersvorsorge bleiben; das ist überhaupt keine Frage. Aber daneben wird es auch weiterhin die private Altersvorsorge als weitere Säule geben müssen, die betriebliche Altersvorsorge als weitere Säule, berufsständische Versorgungswerke als weitere Säule, und – nicht zu vergessen; darüber reden wir hier im Deutschen Bundestag viel zu selten – natürlich ist auch das mietfreie Wohnen im Alter eine Chance für ein auskömmliches Alterseinkommen. Das sollten wir möglichst vielen ermöglichen. Es ist die richtige Richtung in der Alterssicherungspolitik, in der Rentenpolitik, auf diese fünf Säulen zu setzen und alle diese fünf Säulen zu stärken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es ist schon bezeichnend, dass die Kollegen der Union jetzt sehr verschämt in ihre digitalen Endgeräte schauen; denn wenn es um die Stärkung der Säulen geht, dann geht es natürlich nicht, dass Sie die Rentenversicherung ständig schwächen – wie auch jetzt zu Beginn dieser Legislaturperiode und in den vergangenen Regierungsjahren. Da haben Sie mit der Rente mit 63, mit der Grundrente, mit der doppelten Haltelinie laut Bundesrechnungshof bis zum Jahr 2025 Kosten von 177 Milliarden Euro verursacht. Das schadet der Stabilität der Alterssicherung künftiger Generationen, und da müssen Sie einen neuen Weg einschlagen. Da gebe ich Ihnen recht, lieber Herr Whittaker: Das wird nicht mit den Grünen gehen; das wird nur mit den Liberalen gehen. Nur mit den Liberalen ist eine nachhaltige, generationengerechte Alterssicherung möglich. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Achten Sie auf unsere Rentenpolitik, und finden Sie die vernünftigen Lösungen bei uns im Wahlprogramm. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Lezius, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Beitragssatz in der Rentenversicherung bleibt konstant. Die Haushaltseinkommen der Rentnerinnen und Rentner sind von 2015 bis 2019 gestiegen. Die positive Wirtschaftsentwicklung bis zur Pandemie kam auch bei der älteren Bevölkerung an. Insgesamt haben rund 66 Prozent der Beschäftigten eine zusätzliche Altersvorsorge. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Rente ist stabil, und gerade die zweite Säule zeigt eine positive Entwicklung. Kollege Weiß hat auch schon darauf hingewiesen. Aber trotz guter Zahlen: Ja, wir müssen die Rente weiter stärken und reformieren. Sie muss stetig angepasst werden an die Entwicklung und die Lebensweise unserer Gesellschaft. Bei der Einführung der Altersversicherung vor weit über hundert Jahren hatten die Männer und Frauen, die das 65. Lebensjahr erreicht hatten, im Durchschnitt nur noch zehn Lebensjahre zu erwarten und waren erst ab 70 leistungsberechtigt, Herr Kapschack und Herr Kollege Rützel. Heute reden wir glücklicherweise von ganz anderen Zahlen: Die allermeisten von uns fangen wesentlich später an zu arbeiten, arbeiten kürzer und leben länger. Das ist eine sehr erfreuliche Nachricht. Es ist Ausdruck unseres stetig steigenden Wohlstands und hoher Arbeitsproduktivität. Es ist das Ergebnis des gesundheitlichen und medizinischen Fortschritts und einer immer weniger auf körperlicher Anstrengung beruhenden Arbeitswelt. Wenn die Differenz zwischen Arbeitsleben und Rentenzeit immer größer wird, müssen wir uns aber ehrlich machen und akzeptieren, entweder früher mehr Geld zurückzulegen oder länger zu arbeiten. Und dabei meine ich eben nicht, dass ein 70‑Jähriger noch als Dachdecker auf ein Wohnhaus klettert. Aber die Expertise und das Engagement von älteren Menschen werden doch immer wichtiger. Flexibilität und kreative Lösungen sind hier gefragt, gerade auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung. Jede zweite Person in Deutschland ist älter als 45 und jede fünfte älter als 66 Jahre. Es fehlt unserem Land an Fachkräften. Die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte stellt einen großen Gewinn für unseren Arbeitsmarkt und auch für unsere sozialen Sicherungssysteme dar. Das liberale deutsche Arbeits- und Migrationsrecht ist durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verbessert worden, die Antragstellung ist vereinfacht worden, und die Möglichkeiten sind erweitert worden. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, kann ich Ihren Antrag und Ihre Forderung nach einem Punktesystem einfach nicht nachvollziehen. Unterstützen hingegen kann ich das Bestreben, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, auch das Homeoffice weiter zu verbessern und die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu fördern – aber beileibe nicht so, wie die AfD das vorgeschlagen hat. ({0}) Die Union hat in den vergangenen Monaten und Jahren viel auf den Weg gebracht, um die Rahmenbedingungen für Familien zu verbessern. So wurde der Ausbau der Kinderbetreuung vorangetrieben, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert; Alleinerziehende wurden entlastet. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Wichtig ist uns auch, die Geringverdiener bei der Rente zu unterstützen. Deswegen haben wir schon beim Betriebsrentenstärkungsgesetz mit einem rein arbeitgeberfinanzierten Zuschuss dafür gesorgt, dass sie leichter eine Zusatzrente aufbauen können. Im Zuge des Gesetzes zur Grundrente haben wir die Förderung in diesem Jahr sogar verdoppelt. Und wir haben den Kreis erweitert; es sind jetzt über 2 Millionen Berechtigte mehr. Ein weiteres wichtiges Anliegen – es wurde schon mehrmals angesprochen – bleibt die Rente der Selbstständigen. Hier ist die finanzielle Situation im Alter sehr unterschiedlich. Jeder Selbstständige sollte abgesichert sein, ob nun durch eine gesetzliche Rente oder eine andere insolvenzfeste Vorsorgeart. Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem uns vorliegenden Antrag wird uns nahezu das gesamte sozialpolitische Programm der Grünen präsentiert. Einige Punkte sind durchaus sinnvoll. Aber Ideen wie die Bürgerversicherung, die ein funktionierendes Altersvorsorgesystem aushebelt, oder die Garantierente, die nur schwer finanzierbar ist, lehnen wir ab. Richtig ist vielmehr, dass wir unser Säulensystem weiter stärken und wir mit einer klugen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik für hohe Beschäftigungszahlen und Löhne sorgen. Das ist die Basis für eine gute Rente im Alter, und hierfür steht die Union. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lezius. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Legislatur rentenpolitisch durchaus kräftig zugeschlagen und auch vieles bewirkt, wenngleich es immer noch vieles zu verbessern gibt; und das halten wir uns fest für die kommende Wahlperiode. Vieles ist schon von meinen Kollegen Kapschack und Rützel gesagt worden, aber ich will noch einmal daran erinnern, was wir geschaffen haben – und dies war keine Kleinigkeit –: Ich muss den Rentenpakt noch einmal hervorheben und an die doppelte Haltelinie erinnern; wir garantieren darin ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent – mindestens 48 Prozent! – und einen Rentenbeitragssatz von 20 Prozent bis 2025. Um diese Haltelinie abzusichern, nehmen wir ordentlich Geld in die Hand und stabilisieren das System mit 2 Milliarden Euro Steuergeldern jährlich über den Demografiefonds. Darüber hinaus fließen dynamisierende Sonderzahlungen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr in die Rentenversicherung. Natürlich muss unser nächstes Ziel die Absicherung der Haltelinie bis 2040 sein, und, meine Damen und Herren, das werden wir tun. Aber wir haben auch andere Gruppen nicht vergessen, zum Beispiel die Menschen, die Erwerbsminderungsrente beziehen, die eben nicht bis 67 oder länger arbeiten können und sollen. Für diese Gruppe haben wir bereits 2017 Verbesserungen erzielt. 2018 haben wir noch einmal zugelegt und die Zurechnungszeiten der Erwerbsminderungsrente bis zur Regelaltersgrenze verlängert. Damit fallen Erwerbsminderungsrenten deutlich höher aus. Wir haben damit auch einen dringenden Wunsch der Gewerkschaften erfüllt. Ich weiß, welcher Einwand jetzt kommt: Die Verbesserungen gelten bislang nur für Rentenbezieher, die eine Erwerbsminderungsrente ab dem 1. Januar 2019 beziehen. Das ist zweifelslos bitter für alle, die vor diesem Stichtag in Rente gegangen sind. Es ist eine unserer Aufgaben für die Zukunft, hier nachzusteuern. Es darf nicht sein, dass jemand wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung in Armut gerät, nur weil sein Antrag vor einem besonderen Stichtag eingegangen ist. ({0}) Auch müssen wir bei den Abschlägen korrigieren. Kranke Menschen – Herr Birkwald hat es auch schon gesagt – dürfen nicht mit 10,8 Prozent Abschlag bestraft werden, weil sie unfreiwillig in die Rente eintreten. ({1}) Hier hat der DGB vollkommen recht, wenn er eine Korrektur fordert. Wir unterstützen das. Das Beste, meine Damen und Herren, ist jedoch, wenn es erst gar nicht zu einer Erwerbsminderungsrente kommt. Das Beste sind doch Prävention, betriebliche Gesundheitsförderung und geeignete Rehamaßnahmen, um Erwerbsminderung zu verhindern oder so kurz wie möglich zu halten. Hier müssen wir mehr sensibilisieren und aufklären. Mein Ziel ist, Erwerbstätige vor Berufsunfähigkeit zu bewahren. ({2}) Das hat leider in der Pandemie eine neue Bedeutung und Dimension bekommen. Ich denke an die vielen Covid-19-Erkrankten. Wir wissen alle noch sehr wenig über Long Covid, die Langzeitfolgen von Corona, an denen einige erkrankt sind. Es gibt viele Menschen, die diese Krankheit nicht nur für sich selbst als eine Herausforderung sehen; auch für die Mediziner und auch für unser System ist das eine Herausforderung. Wie gliedern wir diese Menschen in Jobs ein, wenn sie eines Tages vielleicht nur noch zwei Stunden oder noch kürzer am Tag arbeiten können? Wie helfen wir ihnen, sich langsam wieder ins Berufsleben einzugliedern, wenn der Zug für sie eigentlich schon abgefahren ist? Wie finden sie den Wiedereinstieg? Hier brauchen wir neue Lösungen. Da haben wir noch einiges vor uns, und darauf sollten wir uns jetzt schon vorbereiten. Als Letztes: Unser Rentensystem ist gut. Aber Gutes kann man immer noch verbessern. Mit guten tariflichen Löhnen wäre ein erster Schritt getan. Längere Arbeitszeit ist mit uns nicht zu machen. Herzlichen Dank und Glück auf! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gerdes. – Ihr habt doch nur gute Leute bei der SPD, nicht? – Genau. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte des Antrags der Grünen, der ja auch im Hinblick auf die Bundestagswahl eingebracht worden ist – um sozusagen darzulegen, dass Sie, die Grünen, eine Skizze hätten für die zukünftige Rentensicherung –, ({0}) bleibt es mir übrig, vielleicht noch etwas zusammenzufassen: Es ist ein Antrag, bei dem einzelne Punkte sicherlich durchaus diskussionswürdig sind, worüber man reden kann. Es ist aber auch ein Antrag mit wohlfeilen Versprechungen – Versprechungen, die hinterher möglicherweise nicht zu halten sind bzw. mit der Einstellung der Grünen in keinster Weise finanzierbar sein werden, wenn sich die Demografie so entwickelt, wie sie sich entwickelt. Dennoch wird von den Grünen heute das Versprechen abgegeben, dass man dann schon ab 60 in die Rente eintreten kann. Im Übrigen bin ich überrascht, dass Pascal Kober uns wegen des Renteneintritts mit 63 kritisiert hat. Die FDP will doch immer, dass man bereits mit 60 in Rente gehen kann. Also, das passt ja in der Regel nicht zusammen. Steigende Lebenserwartung und früher in Rente gehen: Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger draußen merken, dass das nicht zusammenpasst. ({1}) Die Grünen versprechen in ihrem Antrag eine Verbesserung der EU-Rente; das wollen wir alle. Wir haben dies in dieser Koalition auch bereits auf den Weg gebracht. Der Kollege Weiß, der Kollege Kapschack und die Kollegin Frau Lezius haben darauf hingewiesen, was wir hier bereits geleistet haben. Es ist erstaunlich, dass die Grünen keine Antwort darauf gefunden haben, dass die bestehenden EU-Renten dann irgendwie erhöht werden sollen. Auch dazu machen sie in ihrem Antrag keinen Vorschlag.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pascal Kober?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! – Lieber Kollege Max Straubinger, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP in Bezug auf den Renteneintritt mit 60 immer fordert, dass das Renteneintrittsalter frei sein soll, falls ein Alterseinkommen – dann aber mit korrekten Zu- und Abschlägen – oberhalb der Grundsicherung gewährleistet ist? Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie hier die FDP leider – aus Versehen vermutlich – falsch zitiert haben? Und wären Sie bereit, die Einladung auf einen Kaffee von mir anzunehmen, wenn es dann coronabedingt wieder möglich ist, damit ich Ihnen das Rentenkonzept der FDP noch mal erläutere? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme gerne nicht nur einen, sondern auch einen zweiten Kaffee an, weil wir wahrscheinlich länger brauchen. ({0}) Ich habe aber nichts Falsches gesagt. Sie wollen den Renteneintritt mit 60 ermöglichen, und nur das habe ich zum Ausdruck gebracht. Allerdings möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass das eine Gefahr für die gesetzliche Rentenversicherung ist. Wenn nämlich die Betuchten, die hohe Beiträge eingezahlt haben, es sich leisten können, mit dem 60. Lebensjahr und einem Abschlag von 25 Prozent in Rente zu gehen, dann plündern sie letztendlich die Finanzkapazität der Rentenversicherung. ({1}) Das muss man ja mit feststellen, und das ist die Gefahr für die gesetzliche Rentenversicherung. Deshalb ist das ein unbrauchbarer Vorschlag von der FDP hier in der gesamten Diskussion, lieber Pascal Kober. ({2}) Wir können uns aber gerne austauschen; Ihr Angebot nehme ich gerne an. Daneben gibt es natürlich auch noch die Frage nach der Demografie. Die grüne Fraktion sagt hier, wir müssten die Erwerbsbeteiligung der Frauen wesentlich stärker erhöhen. Ich bin auch sehr dafür – und das sage ich jetzt sozusagen nicht nur als Mann –, aber ich darf hier nur daran erinnern und darlegen, dass die Erwerbsbeteiligung der Frauen, seitdem die Union in der Koalition – ich muss sagen: in den verschiedenen Koalitionen – regiert, stark gestiegen ist. ({3}) – Doch, doch. – Hatten wir 2005 eine Erwerbsbeteiligung der Frauen von 59,5 Prozent, so ist sie bis jetzt auf 72,8 Prozent gestiegen. Das ist doch was, werte Damen und Herren! ({4}) Das zeigt auch die Nachhaltigkeit unserer Rentenpolitik und ist vor allen Dingen auch ein großer Beitrag dafür, die Rente zu sichern. ({5}) Es geht hier auch um die Frage der Beiträge, also um die Bezahlbarkeit. Hier schlagen die Grünen, aber auch die SPD, unser Koalitionspartner, vor: „Alle sollen gleichermaßen in die Rentenversicherung einzahlen“, ({6}) ohne dabei zu erklären, ob dann bei den Beamten möglicherweise auf Pensionsansprüche zu verzichten ist. Wenn nämlich die Anwartschaften weitergeführt werden, ist das ein Nullsummenspiel. Die Beamten mit ihrer Langlebigkeit – sie haben eine höhere Lebenserwartung als die durchschnittliche Lebenserwartung der in der Rentenversicherung Versicherten – in die Rentenversicherung aufzunehmen, gleichzeitig aber die Leistungen fortzuführen: Das wird nicht unbedingt eine gute Finanzsituation in der Rentenversicherung bedeuten. – Das müssen sich alle die, die dies fordern, eigentlich auch vor Augen führen. Das haben Sie offensichtlich nicht getan. Lieber Kollege Kapschack, Sie sagen, erst in 40, 50 Jahren würden die Leistungen fällig sein. Kriegen die Beamten in der Zwischenzeit dann nichts? ({7}) – Ja, wie denn? Wie denn? ({8}) – Ja, ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anwartschaften müssen für alle gesichert werden und bleiben. ({9}) Das bedeutet letztendlich: Auch die Finanzlasten müssen fortgeschrieben werden. – Darauf haben Sie keine Antwort. Dasselbe gilt im Prinzip auch für die FDP, wenn sie sagt: „2 Prozent aus der gesetzlichen Rentenversicherung nehmen wir weg, um es ins Aktiensparen zu geben“, während sie die Antwort schuldig bleibt, wer dann die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung in der Zwischenzeit des Ansparens des Aktienkapitals erbringt. Das ist so.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und über die AfD mag ich gar nicht reden. Der Herr Kollege Kleinwächter sagt: Wir brauchen mehr Kinder in Deutschland. – Ich gebe ihm recht, dass wir mehr Kinder brauchen, ({0}) aber das ist jetzt wahrscheinlich noch nicht die richtige Strategie, um unser Rentenversicherungssystem in die Zukunft zu führen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben hier vielfältigste Möglichkeiten, die wir letztendlich bisher genutzt haben, um die Rente in eine gute Zukunft zu führen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Straubinger, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Dafür ist die Union der beste Garant. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit schließe ich die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Urlaub, Reisen: Das ist wohl die schönste Zeit des Jahres und eine Zeit der Erholung, auf die sich viele sehr freuen. – Ich hoffe – wahrscheinlich gemeinsam mit Ihnen allen –, dass es alsbald wieder dazu kommt, dass wir alle diese Zeit auch unbeschwert genießen können. ({0}) Zu diesem Unbeschwert-genießen-Können gehört aber auch, dass die rechtliche Absicherung gegeben ist, und dazu möchte ich heute mit diesem Gesetzentwurf einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten. Meine Damen und Herren, innerhalb der gesamten EU gilt für Pauschalreisen – und das ist richtig; deswegen müssen wir diesen Grundsatz auch weiterhin genau so umsetzen –: Die Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht die Leidtragenden sein, wenn ihr Reiseveranstalter insolvent wird. – Mit dem Gesetzentwurf, den ich heute vorstelle, stellen wir den Verbraucherschutz im Reiserecht auf ein neues, auf ein stabileres Fundament; denn das ist nötig. Sie alle erinnern sich: Im September 2019 haben die Reiseveranstalter der Thomas-Cook-Gruppe Insolvenz angemeldet – die bis dato größte Pleite eines Touristikkonzerns. Der deutsche Kundengeldabsicherer hat den Pauschalreisenden nur einen Bruchteil der Ausfälle ersetzt. Das hat viele Menschen hart getroffen. Diese Menschen konnten wir dann nicht im Regen stehen lassen – Sie erinnern sich –, und deshalb sind wir als Staat eingesprungen. Mit der freiwilligen Ausgleichszahlung haben wir vieles aufgefangen. Wir haben aber auch klargemacht, dass wir uns dieses Geld, mit dem wir in Vorleistung getreten sind, von denen, die Verantwortung haben, auch wieder zurückholen, wenn das möglich ist. Klar ist aber auch, dass es in Zukunft nicht erneut zu solchen Feuerwehreinsätzen der öffentlichen Hand kommen soll, und deswegen schaffen wir jetzt ein besseres System. Unser Gesetzentwurf sieht einen Fonds vor, in den die Reiseanbieter von Pauschalreisen einzahlen. Wird dann ein Reiseanbieter insolvent und kann seine versprochenen Leistungen deshalb nicht mehr erbringen, dann springt dieser Reisesicherungsfonds ein. Damit schaffen wir ein komplett neues Absicherungssystem. Im alten System erfolgte die Kundengeldabsicherung, indem die Reiseveranstalter Verträge mit Banken oder Versicherungen abgeschlossen haben. Diese Kundengeldabsicherer konnten ihre Gesamteinstandspflicht aber auf 110 Millionen Euro pro Jahr begrenzen. Das war eben ein großes Problem, wie sich bei der Thomas-Cook-Pleite herausgestellt hat. Denn sie hat uns gezeigt, dass die Möglichkeit, die Haftung zu begrenzen, zu Unsicherheiten führt, wenn es darum geht, wer denn jetzt der Leidtragende ist. Es besteht die Gefahr, dass Pauschalreisende – wie im vorliegenden Fall – auch durch die Reiseveranstalter nur unzureichend abgesichert werden. Dieser Gefahr begegnen wir jetzt mit dieser Fondslösung ganz effektiv. Die Möglichkeit der Haftungsbegrenzung auf 110 Millionen Euro pro Jahr wird im neuen System komplett abgeschafft. Die gibt es nicht mehr. Auf diese Weise gewährleisten wir, dass Kundinnen und Kunden auch dann nicht auf ihrem Schaden sitzen bleiben, wenn ein großer Reiseveranstalter in die Knie geht. Gerade die gegenwärtige Coronapandemie zeigt uns ja, wie wichtig es ist, auch für schlechte Zeiten der Reisebranche gewappnet zu sein. Der Fonds muss eine Insolvenz des umsatzstärksten Reiseanbieters auffangen können und die Insolvenz eines mittelgroßen Anbieters noch dazu. Das macht also deutlich: Das wird eine Summe sein, die dann auch ausreichend ist. Deswegen haben wir diese beiden Größen angesetzt. Das Fondsvermögen bauen die Reiseanbieter selbst auf, und spätestens Ende 2026 soll der Fonds sein Zielvolumen erstmalig erreicht haben. Was ist bis dahin? Bis es so weit ist, übernimmt der Staat die nötige Garantie für Bankkredite, die der Fonds eventuell aufnehmen muss, damit im Entschädigungsfall die Leistungen bis dahin auch erbracht werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wünschen uns, dass die Reisebranche nach der Coronapandemie ganz, ganz schnell wieder auf die Füße kommt. Dafür braucht es aber auch das Vertrauen von Verbraucherinnen und Verbrauchern, sodass sie dann, wenn es – hoffentlich bald – wieder möglich ist, auch verreisen. Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen wichtigen Beitrag dazu, dass diese Rechtssicherheit dann auch da ist, und schaffen dadurch Vertrauen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin Lambrecht. – Herr Kollege Dr. Brunner, Sie haben gleich nur noch etwas mehr als drei Minuten. Es nützt ja nichts. Das schaffen Sie auch in drei Minuten. Also, Sie haben ein bisschen mehr; ich bin da ein bisschen großzügiger. Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Münzenmaier, AfD-Fraktion. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach geltendem Recht können Kundengeldabsicherer, die bei Pauschalreisen Insolvenzschutz bieten und bereitstellen, die Haftung pro Geschäftsjahr auf 110 Millionen Euro begrenzen. Wir wissen alle, dass diese Regelung im September und Oktober 2019 relevant wurde, als die deutschen Töchter von Thomas Cook die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragten und die Haftungsbegrenzung dafür gesorgt hat, dass letztendlich der Steuerzahler für eine Summe von ungefähr 160 Millionen Euro einstehen musste. Aus diesem Grund ist es schon länger dringend notwendig, dass endlich ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt wird, und wir begrüßen ausdrücklich, dass die Bundesregierung dem jetzt endlich nachkommt. Wir haben im Tourismusausschuss frühzeitig und vor allem fraktionsübergreifend eine Neuregelung gefordert, auch über den vorliegenden Entwurf schon debattiert und uns dazu mit vielen Sachverständigen unterhalten. Deshalb finde ich es ganz besonders schade, dass die Bundesregierung die Hinweise und Anregungen der Branchenvertreter und der vielen Experten schlicht und ergreifend in den Wind schlägt, meine Damen und Herren. ({0}) Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass mit einer Sicherheitsleistung von 7 Prozent des Umsatzes und einem Entgelt von 1 Prozent des Umsatzes viele Unternehmen zukünftig doppelt so hohe Beiträge an den Reisesicherungsfonds zahlen müssten, als bisher für die Insolvenzversicherung zu zahlen sind. Die mit der geplanten Neuregelung erstrebte Verbesserung der Insolvenzabsicherung für die Kunden großer Reiseunternehmen könnte daher zu einer Mehrbelastung kleinerer und mittlerer Reisenternehmen führen. Ähnlich sieht es auch der Internationale Bustouristik Verband, der RDA, der in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf davon spricht, dass die Ausfallrisiken internationaler Großkonzerne im Reisemarkt über die Mechanismen des Reisesicherungsfonds faktisch auf mittelständische und vor allem familiengeführte Reiseunternehmen abgewälzt würden. Man belastet mit diesem Entwurf also wieder einmal die kleinen und mittelständischen Unternehmen und ignoriert deren Bedenken. Dieses Vorgehen wäre auch in normalen Zeiten schon schwach von der Bundesregierung. Aber in einer der größten Krisen der Tourismuswirtschaft, in der viele fleißige Unternehmer und Angestellte schlicht und ergreifend am Ende sind, ist das Verhalten der Regierung ein Skandal, meine Damen und Herren. ({1}) Ich hätte gern Herrn Staatssekretär Bareiß – er ist zumindest Tourismusbeauftragter der Bundesregierung – persönlich angesprochen, aber er ist wieder einmal nicht hier; ({2}) es sei denn, er sitzt da hinten irgendwo. – Ach, Herr Bareiß, ich grüße Sie! Sie kennen doch die Situation der Branche. Es ist Ihre Aufgabe, dass die Bundesregierung sich für die Touristiker einsetzt. Vielleicht nehmen Sie heute ja extra da hinten Platz, weil Sie es hier vorne nicht mehr hinkriegen, Herr Bareiß. ({3}) – Ja, aber anscheinend ein treffendes. Denn Herr Bareiß ist Teil der Regierung und sollte sich in der Regierung mal dafür einsetzen. ({4}) Aber anscheinend kriegt er das nicht ordentlich hin. Kommen wir zum Gesetzentwurf zurück. Die Bemessungsgrenze von 3 Millionen Euro Umsatz, unter der man die Möglichkeit hat, aus der Zwangsmitgliedschaft des Fonds auszuscheiden und sich anderweitig abzusichern, halten viele Experten für deutlich zu tief gegriffen. Wir sollten endlich mal darüber diskutieren, ob wir da nicht auf 10 bis 15 Millionen Euro erhöhen könnten. Aber die Hektik und die vielen offenen Fragen und vor allem auch das Ignorieren der Einwände der Experten liegt wohl daran, dass die Bundesregierung sehr lange nichts getan hat und jetzt plötzlich gemerkt hat, dass man dringend handeln muss, weil wir sonst Ende des Jahres ein riesiges Problem haben. An mehreren anderen Stellen zeigt sich, dass der Gesetzentwurf mit der heißen Nadel gestrickt ist und jetzt schnell durchs Parlament gepeitscht werden soll. Die GmbH, die den Fonds betreiben soll, bleibt vage. Keiner weiß so ganz genau, wie die Ausgestaltung funktionieren wird. Hat der ominöse Beirat denn irgendeine Einflussmöglichkeit, oder wird dort der eine oder andere Grüßaugust installiert, der nur berät und letztendlich Geld kostet? Wieso übernimmt eigentlich das BMJV bzw. das Bundesamt für Justiz die Aufsicht? Und vor allem: Wieso rechnet man im Entwurf mit nur einer halben Stelle, die die Aufsicht über einen Fonds mit 750 Millionen Euro führen soll? Auch da bin ich sehr gespannt, wie Sie uns dieses Missverhältnis in den weiteren Beratungen erklären werden. Insgesamt sehen Sie, meine Damen und Herren: Der Entwurf lässt wichtige Fragen offen, ignoriert wesentliche Einwände der betroffenen Touristiker und scheint mir noch nicht völlig durchdacht zu sein. Ich freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen im Ausschuss und hoffe, dass Sie in Zukunft sinnvolle Anregungen in Ihre Arbeit einfließen lassen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Steineke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein Thema besprechen, das fast jeden Einzelnen von uns betrifft. Ich bedanke mich ganz besonders beim Bundeswirtschaftsminister und bei Thomas Bareiß, dass er das besonders gut mit vorbereitet hat. ({0}) Wie wichtig das Thema Urlaub ist, verdeutlichen auch die Zahlen, die wir bereits im Jahr 2019 hatten. Die deutschen Reiseunternehmen haben damals circa 71 Millionen Reisen verkauft, ungefähr die Hälfte davon Pauschalreisen, und damit ungefähr 69,5 bis 70 Milliarden Euro umgesetzt. Das zeigt eindrucksvoll – die Ministerin hat es ja auch gesagt –, wie wichtig dieser Zweig für die deutsche Wirtschaft ist. Nun kam mit voller Wucht die Pandemie dazwischen und hat den Wirtschaftszweig getroffen wie kaum einen anderen in der Bundesrepublik. Doch bereits vor der Pandemie – auch darüber wurde schon gesprochen – haben die Pleiten von Tour Vital und Thomas Cook gezeigt, welche Probleme die unzureichende Haftung bisher mit sich gebracht hat. ({1}) Die Kunden haben ihre Gelder nicht zurückbekommen, der Rücktransport war nicht gesichert. Insofern war es übrigens nur folgerichtig, dass insbesondere auch auf den Druck der CDU/CSU die Thomas-Cook-Kunden entschädigt worden sind. Das war eine Selbstverständlichkeit, und mit diesem Entwurf wollen wir vermeiden, dass diese Fehler sich wiederholen, und rechtssichere Neuregelungen im Pauschalreiserecht auf den Weg bringen. Der Entwurf sieht deswegen auch insgesamt eine Systemumstellung vor, die wir sehr begrüßen: Pauschalreisende sollen künftig über den Reisesicherungsfonds abgesichert werden. Der Fonds wird als GmbH errichtet und finanziert sich überwiegend aus Einzahlungen der abgesicherten Reiseanbieter. Nur Kleinstanbieter – darüber wurde schon gesprochen – sollen weiterhin die Möglichkeit haben, sich über Versicherungen und Banklösungen anderweitig absichern zu können. Das Hauptproblem der Thomas-Cook-Pleite, nämlich die 110‑Millionen-Euro-Begrenzung, wird vollständig entfallen. Die Reisenden können sich zukünftig vollständig darauf verlassen, dass der von ihnen gezahlte Reisepreis auch vollständig zurückgezahlt wird. Damit stellen wir sicher, dass aus Urlaubsträumen kein Albtraum wird, und wir schaffen vor allen Dingen die Voraussetzungen dafür, dass nicht noch einmal der Steuerzahler in Anspruch genommen wird. Allerdings sehen auch wir bei der konkreten Ausgestaltung noch einigen Gesprächsbedarf; das muss man sagen. Wir müssen darauf achten, dass die kleinen und mittelständischen Reiseveranstalter nicht unverhältnismäßig belastet werden. Deswegen ist definitiv über die Umsatzgrenze zu diskutieren, die bisher bei 3 Millionen Euro liegt. Das kann von unserer Seite nicht so bleiben. Ein weiterer Punkt ist sicherlich die Frage der Höhe der Entgelte zur Bildung des Fondskapitals. Da wir gerade wegen Corona eine sehr prekäre Situation erleben, scheint der Ansatz beim festgelegten Entgelt mit 1 Prozent doch sehr hoch. Auch darüber müssen wir reden. Auch beim Thema Sicherheitsleistungen, die in Höhe von 7 Prozent des Vorjahresumsatzes vorgesehen sind, muss man die Coronafolgen mitbedenken und möglicherweise über einen temporären Aufwuchs nachdenken, um für eine Besserstellung zu sorgen. Und natürlich muss auch die Steuerbefreiung des Fonds sichergestellt werden. Denn es kann ja nicht ernsthaft sein, dass der Staat an dem Fondsvermögen partizipiert. Der wichtigste Diskussionspunkt – das haben auch der GDV und viele andere schon gesagt – ist aber das Thema „Haftungsübernahme durch den Fonds“. Das Gesetz soll zum 1. Juli in Kraft treten, aber erst nach dem 31. Oktober 2021 soll die Haftungsübernahme greifen. Das ist aus unserer Sicht deutlich zu spät. Warum ist es zu spät? Weil die meisten, gerade die kleineren Unternehmen überhaupt nur einen Versicherungsschutz bis Mitte Juni dieses Jahres haben und danach keinen Schutz mehr haben. Das wäre tatsächlich fatal, weil dann das Thema Pauschalreisen in diesem Jahr wohl gar keine Rolle mehr spielen würde, und das kann doch nun wirklich keiner wollen. Deswegen müssen wir die Reisesaison auch in diesem Punkt retten. Ich glaube, da brauchen wir einen verbindlichen Zeitpunkt, der deutlich früher liegt. ({2}) In der kommenden Woche – wir haben es schon gehört und darüber geredet – werden wir die öffentliche Sachverständigenanhörung zu diesem Thema haben – schon am nächsten Mittwoch. Wir müssen sehr zügig vorankommen. Das Datum habe ich gerade genannt. Wir wären auch früher bereit gewesen. Wir haben unsere Vorschläge Ende 2019 auf den Tisch gelegt. Leider hat es etwas länger gedauert. Deswegen müssen wir jetzt Tempo aufnehmen, um das Ganze gut zum Abschluss zu bringen. Aber ich bin mir relativ sicher, dass wir bei den Vorschlägen, die auf dem Tisch liegen, schnell zu weiteren Lösungen kommen. Ich freue mich auf die Debatten in den nächsten Wochen und darauf, dass wir zu einem guten Abschluss für die Verbraucherinnen und Verbraucher kommen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steineke. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. September 2019 meldete Thomas Cook Insolvenz an. Tausende von Kunden konnten damals nicht ihren Urlaub aufnehmen. Und noch viel schlimmer, es war die Frage im Raum: Bekommen sie ihre angezahlten Kundengelder wieder zurück? Es kamen zwei weitere Fragen dazu: Wer trägt dafür die Verantwortung? Und: Wie soll es nun konkret weitergehen? Am 11. Dezember 2019 habe ich hier im Plenum Justizministerin Lambrecht gefragt, ob sie denn nun, nach ihrer Ankündigung, dass die Kunden mit Steuergeldern entschädigt werden sollen, für die Fehler in der Vergangenheit auch die Verantwortung übernehmen möchte. Sie verneinte es. Weiterhin fehlte es an einem Plan, wie es in der Zukunft weitergehen sollte. Erst heute, am 16. April 2021, beraten wir in erster Lesung die Reform einer Insolvenzabsicherung für angezahlte Kundengelder bei Reiseveranstaltern. Gut, dass sich nun nach 18 Monaten endlich etwas tut und wir wissen, wohin die Reise geht. Es ist aber auch ein klares Schuldeingeständnis der Bundesregierung. Das sagen wir nun ganz klar. ({0}) Trotz erheblicher Bedenken bei der Reform der Insolvenzabsicherung im Jahr 2017 wurde die Haftungshöchstgrenze pro Versicherung nur bei 110 Millionen Euro angesetzt. Das war angesichts der damals schon gigantischen Reiseumsätze schlicht fahrlässig und wahrscheinlich auch europarechtswidrig und hat den deutschen Steuerzahler am Ende somit mehrere Hundert Millionen Euro gekostet. Aber wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt so in das Bild der SPD, nämlich dass sie, was die Tourismuspolitik in den letzten vier Jahren angeht, eigentlich nur einen Vergleich zulässt: den mit Schalke 04 in der aktuellen Spielzeit der 1. Bundesliga. Das ist überaus beschämend, was Sie dort abgeliefert haben. Bei allen wichtigen Themen haben Sie nicht gepunktet. Es mussten immer von der Opposition Eingaben gemacht werden, damit dort endlich etwas geschah. Nun liegt der Vorschlag eines Insolvenzfonds auf dem Tisch. Das begrüßen wir als Freie Demokraten ganz ausdrücklich. Ich sage aber auch: Es gibt Nachbesserungsbedarf. Die Punkte wurden auch schon angesprochen. Ich nenne die Opt-out-Schwelle für kleine Reiseveranstalter. Wir denken, dass wir hier von einer Höhe von 3 Millionen Euro auf 12 Millionen Euro hochgehen müssen. Es darf nicht passieren, dass die kleinen Veranstalter die Zeche dafür zahlen, dass die großen Unternehmen in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Das wäre nicht richtig. ({1}) Darüber hinaus müssen wir auch über das Thema der Aufbauzeit des Fonds reden. Andere Länder haben sich hierfür teilweise 20 Jahre Zeit genommen. Wir wollen das in fünf Jahren schaffen. Das ist in der schwersten Wirtschaftskrise der letzten 76 Jahre wohl kaum der angebrachte Zeitraum, um eine solch wichtige Maßnahme zu begleiten. Dann noch etwas Allgemeines – das wurde hier auch bereits erwähnt –: Wenn man sich schon 18 Monate für ein solches Projekt Zeit lässt, dann sollte man sich vielleicht auch mit mehr als nur mit acht Interessenvertretungen zusammensetzen, die davon wirklich Ahnung haben. Das ist dann doch etwas, was man nicht nachvollziehen kann. Sich so lange Zeit lassen, aber dann nicht mal mit jemandem aus der Branche darüber reden: Tut mir leid, das versteht niemand. ({2}) Wir helfen Ihnen gerne bei diesen Punkten. Unser Anliegen ist es, dass die Pauschalreisen in Zukunft wieder sicher sind. Dafür machen wir uns stark. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller-Böhm. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es mutet ja schon fast wie etwas aus der Zeit gefallen an, wenn wir uns heute hier mit Reiserecht befassen, wo im Moment keinerlei Reisen möglich sind. Aber es ist gerade jetzt wichtig, dass wir uns an die Branche mit 3 Millionen Beschäftigten und 105 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung erinnern – ein ganz wichtiger Bereich der Wirtschaft unseres Landes. Deshalb ist es wichtig, dass wir Sorge dafür tragen, dass wir bald wieder reisen können und dass das Reisen auch sicherer wird, auch in finanzieller Hinsicht. Wir alle erinnern uns ja an die Situation damals, als Thomas Cook die Insolvenz anmeldete: Es gab bei vielen Menschen tiefe Bestürzung, und es waren auch riesige Verluste zu beklagen, weil wir eben nicht genügend Vorsorge getroffen hatten. Am Ende blieben die Ausfälle bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern sozusagen auf der Tasche liegen. Das dürfen wir nicht noch einmal geschehen lassen, und wir haben die Verpflichtung, hier Änderungen vorzunehmen. Jetzt, fast zwei Jahre später, legt die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vor – spät, aber vielleicht noch nicht zu spät. Wir sollten jetzt die Zeit nutzen, um aus diesem Vorschlag einen tatsächlich umsetzbaren, brauchbaren und das Risiko abdeckenden Vorschlag zu machen. Ich habe drei gravierende Beanstandungen zu diesem Gesetzesvorhaben. Die erste betrifft – das hatten die Vorredner auch schon gesagt – die Beitragsverpflichtung ab einer Umsatzhöhe von 3 Millionen Euro. Das hört sich nach viel an. Aber wenn man weiß, was Reisen kostet, weiß man, wie schnell 3 Millionen Euro zusammen sind. Und die Reisevermittler brauchen auch diese Umsätze, einfach weil die Margen sehr gering sind und sie von irgendetwas leben müssen. Also ganz klar: Hier müssen wir die Grenze für die Verpflichtung hochsetzen, damit nicht viele Kleine wieder den Ausfall von wenigen Großen bezahlen müssen. ({0}) Die zweite wichtige Beanstandung betrifft den Umstand, dass wir das tatsächliche Risiko absichern müssen. Ich sage es mal als Beispiel: Die Klassenreise nach Prora auf Rügen in meine Lieblingsherberge ist sicherlich teurer als der Familienausflug nach Malle. Doch das Risiko, dass etwas schiefgeht auf dem Weg dahin und zurück, ist eben wesentlich größer als bei der Bahnfahrt auf die Insel Rügen. Deshalb muss auch hier ganz klar differenziert werden. Die dritte Beanstandung ist: Wir brauchen etwas länger Zeit als fünf Jahre, um den Fonds zu speisen. Viele Unternehmen fangen jetzt wieder an und sind nicht so liquid, wie Sie sich und wir uns das wünschen. Deshalb ganz klar: Dieser Zeithorizont muss erweitert werden. Im Übrigen wünsche ich mir, dass diese Bundesregierung dem Tourismus wirklich die Aufmerksamkeit zukommen lässt, die er braucht. Das reicht nicht, was uns im Moment hier geboten wird. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kassner. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Tressel, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass jetzt endlich überhaupt ein Gesetzentwurf zur Neuregelung der Insolvenzabsicherung im Pauschalreiserecht vorliegt. Der Kollege Müller-Böhm hat es ja gesagt: Wir haben lange darauf warten müssen, und die Branche hat lange darauf warten müssen. Die Unternehmer und die Verbraucher brauchen Sicherheit, und das zügig, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Aus Verbraucherschutzsicht bin ich bei dem vorliegenden Gesetzentwurf durchaus guter Dinge, dass der neue Fonds Kundengelder zuverlässig absichern kann. Man hat sich hier an den Modellen der europäischen Nachbarn orientiert. Das ist ein großer Fortschritt zu dem, was wir vorher immer diskutiert haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage auch: Aus tourismuspolitischer Sicht bin ich deutlich weniger positiv gestimmt. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Reisesicherungsfonds – und es darf nur einen Fonds geben – als GmbH aus der Branche heraus gegründet werden soll. Nur, wer ist denn die Reisebranche? Wer vertritt denn die Reisebranche? Unter die EU-Pauschalreiserechtlinie fallen ja nicht nur die klassischen großen Anbieter, die Urlauber an den Strand oder aufs Kreuzfahrtschiff fliegen. Es gibt eine riesige Spannbreite: große, mittlere, kleine Unternehmen mit diversen Geschäftsmodellen. Da sind die Marktführer, die Spezialanbieter, die örtlichen Busunternehmen, Freizeitparks. Alle sind davon betroffen. Jedes dieser Geschäftsmodelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedeutet aber auch ein anderes Risiko im Insolvenzfall. Damit das in der Praxis funktionieren kann, müssen diese unterschiedlichen Interessen innerhalb der Reisebranche auch in der Konstruktion dieses Fonds abgebildet sein. ({1}) Und genau deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich es für einen Fehler, dass die Bundesregierung die Gründung dieses Reisefonds dem freien Spiel der Kräfte in der Branche überlassen möchte. Wer nämlich am Ende diesen Reisesicherungsfonds kontrolliert, wird eine enorme Gestaltungsmacht über die ganze Branche haben. Es ist in diesem Gesetzentwurf kein Prozess, kein Vergabeverfahren definiert, in dem die potenziellen Betreiber des Fonds verglichen und bewertet werden können. Und es gibt auch kein ordentliches Kontrollgremium, in dem die verschiedenen Akteure der Branche sich wiederfinden. Und ein Beirat, der nur beratende Funktion hat, der wird da nicht ausreichen. Da braucht es Instrumente, die der Pluralität der Branche gerecht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ein weiterer Aspekt bereitet mir große Sorgen. Der Fonds soll sein Zielkapital von 750 Millionen Euro innerhalb von fünf Jahren erreichen. Dann endet die Absicherung durch den Bund. Dass die Branche ihre Risiken selbst absichert, ist dem Grunde nach richtig. Auch dass der Bund seine Haushaltsrisiken an dieser Stelle begrenzen will, ist nachvollziehbar. Aber dieser Aufwuchs in nur fünf Jahren wäre ja schon in normalen Zeiten sportlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. In und nach Corona bedeutet er für viele kleine und mittlere Reiseveranstalter eine außerordentliche Belastung. An diesem Thema müssen wir noch weiterarbeiten, damit es da nicht zu einer überbordenden Belastung kommt und am Ende noch viel mehr kleine und mittlere Unternehmen auf der Strecke bleiben. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Tressel. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Da mir nur drei Minuten zur Verfügung stehen, fällt das Lob an die Ministerin etwas kürzer aus, liebe Christine, aber das sei so gestattet. ({0}) Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten uns ja alle bis zur Thomas-Cook-Pleite ganz gut an den Reisesicherungsschein gewöhnt. Er gehörte zu unserem täglichen Leben dazu, er gehörte zur Buchung dazu, und er hat sowohl in der Branche als auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher eine Sicherheit – so sage ich es heute im Nachhinein – vorgegaukelt, die als solche nicht vorhanden war, weil durch die Haftungsbegrenzung auf 110 Millionen Euro ein viel zu niedriges Risiko abgesichert war. Deshalb ist es gut und richtig – ich bedanke mich recht ausdrücklich dafür –, dass wir jetzt mit der Schaffung des Reisesicherungsfonds einen Paradigmenwechsel herbeiführen. Mit diesem Wechsel ändern wir das System, gehen weg von der reinen Versicherungslösung hin zu einem Absicherungsfonds, mit dem Abschied von der Absicherungsgrenze in Höhe von 110 Millionen Euro genommen wird, die tatsächlichen Haftungsrisiken in den Mittelpunkt gestellt werden und gleichzeitig versucht wird, die Quadratur des Kreises zu erreichen. Wir wissen alle miteinander, dass wir bei Pauschalreisen, gleich welcher Art, ganz unterschiedliche Akteure auf diesem Markt haben. Wir haben einmal die Reisebüros, die die Vermittlungen durchführen, wir haben die Reiseveranstalter, also Unternehmen wie ehemals Thomas Cook und andere, wir haben Freizeitparks, die teilweise verbundene Leistungen, teilweise Einzelleistungen anbieten, wir haben Omnibusunternehmen, wir haben Unternehmen, die über 3 Millionen Euro Umsatz haben, wir haben Unternehmen, deren Umsatz darunter liegt. Wir haben bisher eigentlich nur zwei Abgrenzungen im Verfahren gefunden. Deshalb freue ich mich, dass wir nächste Woche mit vollem Elan in die öffentliche Anhörung gehen und unsere Sachverständigen dahin gehend löchern können, wie es uns vielleicht gelingt, die Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Unternehmen besser hinzubekommen, als das bis jetzt der Fall ist. Beispielsweise könnten wir fragen: Wo können 3 Millionen Euro und wo 5 Millionen Euro die richtige Abgrenzung sein? Wo sind weitere Abgrenzungen erforderlich? Bei den Vermittlern verbundener Reiseleistungen haben wir die ja im Gesetz drin. Was machen wir beispielsweise mit den Freizeitparks? Was machen wir mit den kleinen Omnibusunternehmen? Ich denke, wir kommen hier zu einem guten und vernünftigen Ergebnis. Dabei vergessen wir nicht, dass die Reisebranche nach dieser Pandemie wieder aus dem Tal raus muss. Deshalb hoffe ich, dass wir für den Aufbau dieses Fonds einen anderen Termin als 2026 finden; denn ich sehe diesen Termin angesichts der derzeitigen Umsätze, die fast bei null sind, als zumindest gewagt und kühn an. Vielleicht können wir einen anderen Termin und gemeinsam eine Lösung finden, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern möglichst schnell gerecht wird, die der Branche unter die Arme greift, die Rechtssicherheit schafft und den Paradigmenwechsel so anständig über die Bühne bringt, wie wir uns dies immer gewünscht haben. Dazu wünsche ich uns gute Beratungen und hervorragende Sachverständige, die uns gut beraten. Ich freue mich nach den Berichterstattergesprächen auf einen schönen, guten, runden Gesetzentwurf, dem wir alle zustimmen können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. Die Einhaltung der Redezeit ist ja vorbildlich. ({0}) – Ach so, Entschuldigung. Offensichtlich sind Sie einer der wenigen, die das tun. Vielen Dank noch mal! Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir verkaufen Träume – so haben uns die Reisebüros, die Reiseveranstalter bei vielen Demonstrationen im letzten Jahr hier am Brandenburger Tor ihre Aufgaben beschrieben. Wir verkaufen Träume! Und ja – von den Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen –, die etwa 3 Millionen Beschäftigte in der Tourismusbranche, die Reiseveranstalter, die Reisebüros, die Gastronomie, die Hotels, die Busreisen, die Veranstaltungsbranche, die Caterer, die Freizeitparks, um nur einen Teil aus dem ganzen breiten Segment des Tourismus zu benennen, freuen sich natürlich darauf, wenn nach der Pandemie das Geschäftsleben wieder losgeht. Gleichwohl, lange vor der Pandemie wurde durch die Insolvenz eines großen Reiseveranstalters die Notwendigkeit einer besseren Insolvenzabsicherung offenbar. Im letzten Jahr, während der Pandemie, musste das Justizministerium die noch nicht ausgeglichenen Anzahlungen zurückleisten. Ich bin der Frau Justizministerin ausdrücklich dankbar für den jetzt vorliegenden Entwurf. Aber wir haben eine Deadline. Unsere Lebensabschnittspartnerschaft endet – das wissen Sie – im Sommer. Und wir wissen noch nicht, mit wem wir uns nach dem 26. September verbrüdern wollen und können. Das heißt, wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Wir wissen, dass wir in den nächsten Wochen Nägel mit Köpfen machen müssen. Ich bin dankbar, dass Sie den Entwurf jetzt vorlegen. Ich bin auch dankbar, dass es uns zusammen mit dem Wirtschaftsministerium, mit Staatssekretär Thomas Bareiß und Peter Altmaier, bisher gelungen ist, die Branche in dieser Zeit über Wasser zu halten. Wir haben in diesem Segment im letzten Jahr erstaunlicherweise nicht sehr viele Insolvenzen festgestellt. Ja, wir haben die Insolvenzanmeldungspflicht mehrfach ausgesetzt, aber wir brauchen für den Endspurt unseres Marathonlaufs in den nächsten drei, vier Monaten noch ein bisschen Ausdauer, also über den Sommer hinweg, bis wir geimpft sind, bis wir wieder Reisen buchen können. Mit dem Gesetzentwurf wird jetzt nach langer Unsicherheit für Urlauber und Reiseveranstalter endlich ein besserer Insolvenzschutz bei Pauschalreisen auf den Weg gebracht. Die Kunden werden künftig vor allem durch einen sogenannten Reisesicherungsfonds umfassend gegen die Insolvenz eines Reiseveranstalters geschützt. Die Thomas-Cook-Pleite im September 2019 hat die unzureichende Wirksamkeit der bisherigen Regelungen gezeigt; alle Vorredner haben darauf hingewiesen. Ich kann meine Rede daher etwas abkürzen und etwas Zeit sparen. Die Versicherungswirtschaft muss entsprechende Angebote zu akzeptablen Konditionen für die Veranstalter bereitstellen. Die Rahmenbedingungen hierfür sollten sehr genau auf den Markt abgestimmt werden. Ja, wir haben am kommenden Mittwoch eine Anhörung dazu, wo Verbesserungsvorschläge zu diesem Gesetzentwurf auf den Weg gebracht werden. Ja, wir müssen schauen, dass wir in der aktuell angespannten finanziellen Lage der Branche die Branche nicht überfordern. Die Frage ist, ob die Funktionsfähigkeit des Fonds tatsächlich beeinträchtigt wird, wenn wir bei der Jahresumsatzgrenze von 3 auf 10 Millionen Euro gehen, Herr Kollege Brunner. Ich würde die von Ihnen vorgeschlagene Grenze von 5 Millionen Euro gerne überschreiten. Der Bundesrat sagt, wir sollten 20 Millionen Euro in Erwägung ziehen. Lassen Sie uns darüber nachdenken. Der Marktanteil der Veranstalter, die sich dann zwingend über den Fonds absichern müssten, würde dann nur geringfügig sinken, von bisher 94 Prozent auf zukünftig dann skandalöse 93 Prozent. Das heißt, wenn wir die kleinen und mittleren Veranstaltungsunternehmen hier besser schützen und ihnen die Opt-out-Regelung einer versicherungstechnischen Lösung anbieten, würden wir für die Branche viel tun, ohne den Fonds tatsächlich in nennenswerter Weise zu schwächen. Ebenfalls ist es wichtig, zu überlegen: Schaffen wir das mit dem Entgelt von 1 Prozent des Umsatzes in den nächsten Jahren? Oder können wir uns vorstellen, liebe Frau Ministerin, die Bürgschaft des Bundes nicht nur bis 2026, sondern vielleicht sogar bis 2027 oder 2028 zu verlängern, um gerade dieser massiv gebeutelten Branche die nächsten Jahre etwas mehr Luft zu geben, hier eben eine vernünftige Ansparphase zu erreichen? Es ist einiges zu tun. Allein die 22 größten Unternehmen in der Branche erwirtschafteten circa 86 Prozent des Gesamtumsatzes. Die großen Elefanten werden auf jeden Fall im Fonds bleiben; da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Aber wir sollten versuchen, die kleinen und mittelständischen Unternehmen mit einer Opt-out-Regelung fairer und gerechter zu behandeln. Da haben wir etwas zu tun. Es gilt das Struck’sche Prinzip. Ihr Kollege Struck hat ja mal gesagt: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es reingekommen ist. – Lassen Sie uns die bisher vorgelegten guten Entwürfe von der Frau Justizministerin noch etwas besser machen. Ich hoffe, dass wir das hinbekommen. Wer sich wie bisher über eine Versicherung oder ein Kreditinstitut absichern kann, der sollte das auch in Zukunft weitgehend dürfen. Die Versicherungswirtschaft geht davon aus, dass dies bis zum Jahresumsatz von 10 Millionen Euro weiterhin möglich sein sollte. Ja, momentan haben wir das Problem, dass die Versicherungen bis zum 30. Juni laufen. Vom 1. Juli bis 1. November haben wir einen unbestimmten Übergangszeitraum. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Phase überbrücken. Ich gehe aber davon aus, dass ab 1. Juli bei dem absehbaren Risiko, wenn nur eine entsprechende Unternehmensgröße mit einem Umsatz von 10 oder 20 Millionen Euro im Raum steht, die Versicherungswirtschaft eine ganz andere Bereitschaft zeigen wird, dieses Risiko abzusichern. Da sind wir in konstruktiven Gesprächen. Wir haben noch ein paar ganz spannende intensive Monate vor uns. Wir sind zum Erfolg verdammt. Wie gesagt, wir müssen schauen, dass wir bis zum Sommer tatsächlich eine vernünftige Lösung hinbekommen. Ich bitte alle, in dem Fall sogar ausnahmsweise auch die Opposition, hier konstruktiv mitzuarbeiten – ({0}) – ja –, dass wir es bis zum Sommer vernünftig hinbekommen. Die Branche hat es verdient.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Nein. – Darf ich fertigmachen, Herr Präsident?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, an sich nicht. Sie haben jetzt 30 Sekunden überzogen, Herr Kollege Lehrieder. Angesichts der Tatsache, dass Sie erklärt haben, Sie wollten auf einen wesentlichen Teil Ihrer Rede verzichten, fragen wir uns hier, auf was Sie verzichten wollten. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe das am Schluss angehängt. Aber, wie gesagt, von den 30 Sekunden haben Sie 20 Sekunden gesprochen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja, Sie dürfen noch.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich wünsche auch Ihnen ein schönes Wochenende. Damit schließen wir die Aussprache.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD legt uns heute drei Anträge mit einem bunten Potpourri aus unterschiedlichen Forderungen vor. Alle Anträge beschäftigen sich im weitesten Sinne mit den Auswirkungen der Coronapandemie. Und in allen Anträgen wirft die AfD der Bundesregierung vor, nicht ausreichend zu handeln und unzureichend zu unterstützen. Diese Unterstellungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weise ich energisch zurück. ({0}) Niemals in der Geschichte der Bundesregierung hat es so große Hilfspakete für Wirtschaft und Beschäftigung gegeben wie jetzt in der Coronapandemie. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch gut und richtig so. ({1}) Ich komme zum ersten Antrag. Hier fordert die AfD, dass Arbeitgebern die gesetzliche Möglichkeit eingeräumt werden soll, Sozialversicherungsbeiträge in einem erleichterten Verfahren zu stunden. Diese Forderung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist überflüssig; denn Arbeitgeber haben bereits heute die Möglichkeit zur vereinfachten Stundung. Die Sozialversicherungen berücksichtigen gerade jetzt in der Pandemie Notsituationen von Unternehmen und gewähren sehr wohlwollend Stundungen der Sozialbeiträge. Die AfD schreibt ja im Übrigen selbst in ihrem Antrag, dass die Sozialversicherungsträger „großzügig“ in dieser Sache vorgehen. Was also soll Ihr Antrag? Eine gesetzliche Regelung, wie Sie, Kolleginnen und Kollegen der AfD, sie fordern, ist überflüssig. Wir lehnen den Antrag ab. ({2}) Ich komme zum zweiten Antrag. In Ihrem Antrag fordern Sie, den Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld auszusetzen. Auch diesen Antrag lehnen wir ab. ({3}) Er ist unnötig, genau wie der andere Antrag auch, da das Thema im Rahmen des Jahressteuergesetzes bereits ausführlich diskutiert wurde. Aus Sicht der SPD-Fraktion wäre ein Aussetzen des Progressionsvorbehaltes eine Ungleichbehandlung gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die kein Kurzarbeitergeld erhalten und im vergangenen Jahr regulär Steuern gezahlt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am besten wäre es doch, wenn das Kurzarbeitergeld 100 Prozent des jeweiligen Lohns betragen würde. Wir von der SPD haben das von Anfang an gefordert. Gegen den Widerstand des Koalitionspartners konnten wir eine deutliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes durchsetzen. Das ist gut für die Beschäftigten, ({4}) und es ist hilfreich für die Unternehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Kurzarbeitergeld ist unser scharfes Schwert gegen Arbeitslosigkeit, Insolvenzen und Fachkräftemangel. Gut, dass wir es haben! ({5}) In ihrem dritten Antrag fordert die AfD, dass Fitnessstudios umgehend geöffnet werden sollen. ({6}) Sie, Kolleginnen und Kollegen der AfD, schreiben, dass bislang nicht geklärt sei, wie es sich mit der Öffnung von Fitnessstudios verhalte. Das wundert mich doch sehr. Denn im Bund-Länder-Beschluss vom 3. März ist klar geregelt, dass in einem vierten Öffnungsschritt auch – ich zitiere – „kontaktfreier Sport im Innenbereich“ wieder möglich sein soll. ({7}) Das haben Sie wohl überlesen. ({8}) Aber, meine Damen und Herren, schon klar: Die AfD ist ja generell der Meinung, dass es überhaupt keine Pandemie gebe und man somit auch alles öffnen könne. ({9}) Traurige Realität ist aber, dass sich immer mehr Menschen infizieren, jetzt in der dritten Welle auch immer jüngere Menschen von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind und täglich Menschen an Covid sterben. Es ist wissenschaftlich belegt, dass die höchsten Ansteckungen in Innenräumen erfolgen. ({10}) Ich treibe selbst Sport und frage mich, wie das bei den hohen Infektionszahlen, die wir zurzeit haben, dann im Studio wohl ablaufen soll. ({11}) Soll man beim Sport die Luft anhalten, um keine Aerosole in die Raumluft abzugeben? ({12}) Wie stellen Sie sich das vor? Den Schutz durch eine Maske und das Testen hält die AfD ja, wie Sie selbst immer wieder betonen, für überflüssig. Hier wird wieder einmal deutlich, dass es der AfD nicht um den Schutz der Menschen geht, nein, sondern lediglich um reinen Populismus. ({13}) – Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. ({14}) Wir von der SPD-Fraktion hingegen setzen uns für angemessene und umsetzbare Öffnungskonzepte ein. In dem Fünf-Punkte-Programm von Bund und Ländern sind dazu bereits Strategien aufgezeigt. Diese gilt es jetzt im Infektionsschutzgesetz weiter auszubauen. Begleitend dazu haben wir, die SPD-Fraktion, ein Positionspapier vorgelegt, indem wir uns für starke Hilfsprogramme und realistische Öffnungsperspektiven aussprechen. Das wurde bereits heute Morgen hier im Plenum von meinen Kolleginnen und Kollegen erläutert. ({15}) Eines ist aber auch klar, meine Damen und Herren: Öffnungsstrategien können nur dann realisiert werden, wenn wir die Infektionszahlen wieder auf ein niedriges Niveau drücken können; denn es ist keineswegs so, dass das Infektionsgeschehen sukzessiv abnimmt, wie es die AfD in der Begründung ihres Antrags formuliert. Wir befinden uns mitten in der dritten Welle und müssen alles daransetzen, diese rasch zu brechen, meine Damen und Herren. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist angesichts der derzeitigen Situation nicht nachvollziehbar, sich allen Ernstes für die Abschaffung der Maskenpflicht und gegen Impfen, Testen und Kontaktverfolgung zu stellen. Aber genau das hat die AfD auf ihrem Parteitag am letzten Wochenende allen Ernstes getan und beschlossen. Das, meine Damen und Herren, ist unverantwortlich gegenüber der Bevölkerung, ({17}) es ist zynisch gegenüber den Menschen, die auf den Intensivstationen um ihr Leben kämpfen, ({18}) und es ist unmenschlich und grausam gegenüber den Angehörigen und Freunden der an Covid Verstorbenen. Dafür sollten Sie sich, Kolleginnen und Kollegen der AfD, in Grund und Boden schämen. ({19})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an den nächsten Redner: Martin Sichert, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir legen hier drei konkrete Forderungen vor, um die Bürger und Unternehmen in dieser schwierigen Zeit zu entlasten: Wir wollen die Kurzarbeit nicht dem Progressionsvorbehalt unterwerfen, um Nachzahlungsforderungen von den betroffenen Arbeitnehmern abzuwenden und um zusätzliche Steuererklärungen zu vermeiden. Wir wollen, dass Fitnesseinrichtungen öffnen dürfen, da die Fitness ein elementarer Faktor für die Gesundheit der Menschen ist. ({0}) Und wir wollen, dass Unternehmen, die aufgrund der Lockdown-Politik von Umsatzeinbrüchen betroffen sind, leichter ihre Sozialversicherungsbeiträge stunden können. Es ist viel schadhafter, wenn Unternehmen pleitegehen, weil sie die Beiträge nicht mehr zahlen können, als wenn diese Unternehmen überleben und die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge später nachzahlen. Wir fordern, dass auf jene Beiträge, die aufgrund der Lockdown-Politik gestundet werden, keinerlei Zinsen anfallen und dafür keinerlei Sicherheitsleistungen erforderlich sind. ({1}) Wie Sie sehen, unterbreiten wir von der AfD immer wieder konkrete Vorschläge, wie man Unternehmen und Bürger entlasten kann, damit möglichst viele diese Krise überstehen können. Es ist völlig unverständlich, dass sämtliche anderen Parteien im Ausschuss Entlastungen wie die Stundung von Sozialbeiträgen für die heimische Wirtschaft ablehnen. ({2}) Denn solch eine Forderung ist vernünftig, und sie ist nachhaltig. Sie kostet den Staat kurzfristig vielleicht etwas Geld, bewirkt langfristig aber mehr Wirtschaftskraft und damit auch mehr Steuereinnahmen. Die Stundung von Sozialbeiträgen in der Krise ist eine Investition in die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. ({3}) Die paar Millionen wollen sämtliche anderen Parteien hier nicht investieren, wohlgemerkt dieselben Parteien, die kein Problem damit haben, mal eben 750 Milliarden Euro deutsches Steuergeld für die EU auszugeben. Sie haben eine völlig falsche Prioritätensetzung, meine Damen und Herren. ({4}) Wir haben nun schon über ein Jahr die Lockdown-Krise, und das Vorgehen der Bundes- als auch der Landesregierungen ist immer noch absolut stümperhaft. Niemand weiß, wie viele Menschen an Corona erkranken, wie viele wegen Corona auf der Intensivstation liegen oder daran sterben. Auf irgendwelchen Fake-Zahlen wie dem Inzidenzwert basieren massivste Grundrechtseinschränkungen. Die aktuellen Regelungen in Deutschland sind absolut verrückt, und ich bin mir sicher: Wenn das in hundert Jahren jemand liest, wird er darüber lachen, wie man so verrückt sein konnte. – Wenn ein vollkommen Gesunder seine Kleidung nicht im Supermarkt, sondern im Bekleidungsgeschäft kaufen möchte, dann muss er einen negativen Test vorweisen. Angenommen, er wird positiv getestet, will aber trotzdem in das Bekleidungsgeschäft, dann macht er also drei weitere Tests an verschiedenen Teststationen, bis er einen negativen Test hat. Durch die drei positiven Tests erhöht er den Inzidenzwert, in den nun drei zusätzliche Fälle einfließen. ({5}) Wenn er auf dem Weg zum Bekleidungsgeschäft nun einen Unfall hat und deswegen auf die Intensivstation muss, ist er ein Coronaintensivpatient, und wenn er an dem Unfall stirbt, dann ist er sogar ein Coronatoter, und das, obwohl Corona mit seinem Tod oder seiner Verletzung überhaupt nichts zu tun hat. Das, meine Damen und Herren, ist absolut unseriös. ({6}) Die einzig seriösen Statistiken, die wir haben, sind die der Sterblichkeit und der Auslastung der Intensivbetten. Bei der Sterblichkeit lagen wir im März 11 Prozent unter der durchschnittlichen Sterblichkeit der letzten fünf Jahre. Die Auslastung der Intensivbetten ist seit vielen Monaten konstant bei um die 20 000 belegten Betten bundesweit. ({7}) Die Bundesregierung weiß das, und sie hat folglich 8 500 bestellte Beatmungsgeräte wieder abbestellt. ({8}) – Ja, das wollen Sie alles nicht hören; das ist mir schon klar. ({9}) Sie machen lieber Kindergeburtstage zu illegalen Massenveranstaltungen und sorgen dafür, dass jetzt schon jedes zwölfte Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren massive psychische Probleme wegen des Lockdowns hat. ({10}) Haben Sie sich überhaupt mal überlegt, was Sie Kindern antun, die im Klassenverband getestet werden und die dann bei so einem öffentlichen Massentest als Einzige einen positiven Test haben? Die werden dann wie Aussätzige im Mittelalter behandelt. Was das mit der Psyche eines Kindes anstellt, das wünsche ich, ehrlich gesagt, keinem. ({11}) Ja, wir wissen, dass etliche Abgeordnete der Regierungsfraktionen sehr gut an der Krise verdienen ({12}) und dass die Grünen gerne nach der nächsten Bundestagswahl an diese Fleischtöpfe wollen. ({13}) Aber während Sie sich hier bereichern, muten Sie den Menschen alle Folgen zu, und Sie sind nicht mal bereit, für ein wenig Entlastung zu sorgen. Zeigen Sie, dass Ihnen das Schicksal der vielen leidgeprüften Menschen nicht egal ist, und stimmen Sie unseren Anträgen für wenigstens etwas Entlastung der Menschen zu. ({14}) Vielen Dank. ({15})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Als nächster Redner der CDU/CSU-Fraktion spricht Max Straubinger zu uns. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser unsäglichen Rede des Kollegen Sichert kehre ich jetzt wieder zur Realität zurück. Werte Damen und Herren, die AfD stellt mehrere Anträge; Frau Kollegin Hiller-Ohm hat bereits alle drei Titel hier genannt. Es zeigt sich sehr deutlich, wie rückwärtsgewandt die AfD ist. Dass die AfD nicht auf der Höhe der Zeit ist, hat sie mit ihren Anträgen natürlich wieder bewiesen. Der Antrag, der es erleichtern soll, die Sozialversicherungsbeiträge zu stunden, geht völlig an der Realität vorbei; denn es ist gelebte Realität, dass wir den Betrieben, wenn sie in Notlagen gekommen sind, die entsprechende Unterstützung geben. Das ist gelebte Realität, nämlich seit dem 24. März des vergangenen Jahres. ({0}) Offensichtlich hat die AfD das nicht mitbekommen. Aber das liegt natürlich an der Rückwärtsgewandtheit Ihrer Politik – ja, natürlich, Herr Kollege Kleinwächter; Sie schütteln mit dem Kopf – und offensichtlich auch an Ihren Mitarbeitern; denn die hätten es zumindest mitbekommen können. Es zeigt sich also sehr deutlich, was Anträge der AfD hier in diesem Hause wert sind: Es ist nur bedrucktes Papier ohne richtigen Inhalt, verehrte Damen und Herren. ({1}) Um es Ihnen kurz zu erklären, möchte ich darlegen, dass der GKV-Spitzenverband die Unternehmen bereits am 24. März 2020 auf die Möglichkeit der Stundung hingewiesen hat. Dass 85 000 Unternehmen von der Stundungsmöglichkeit Gebrauch gemacht haben, haben Sie völlig übersehen. In einem Umfang von 1,1 Milliarden Euro wurden Sozialversicherungsbeiträge gestundet, um damit letztendlich die Liquidität der Unternehmen zu gewährleisten. Gott sei Dank tritt mittlerweile eine positive wirtschaftliche Entwicklung ein. Dies zeigt sich daran sehr deutlich, dass mittlerweile die Stundungen wieder auf das normale Maß zurückgeführt werden konnten, wie sie im ganz normalen wirtschaftlichen Alltag stattfinden. Das geht an der AfD vorbei, wie die Wirklichkeit insgesamt an der AfD vorbeigeht – aufgrund Ihrer Rückwärtsgewandtheit, die Sie ständig an den Tag legen. ({2}) – Ja, da schütteln Sie von der AfD mit dem Kopf, aber es ist so. Das Zweite ist: Wir schützen auf der einen Seite die Sozialversicherungsträger, damit sie zu ihren Geldern kommen. Das ist wichtig. Es ist wichtig, dass die sozialen Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger weiterhin erbracht werden können. Dafür haben wir Gott sei Dank in der Rentenversicherung mittlerweile seit 2019 eine Nachhaltigkeitsrücklage von 40 Milliarden Euro. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Pflegeversicherung haben wir solche Schwankungsreserven – Gott sei Dank. Das ist auch Ergebnis vergangener großartiger wirtschaftlicher Entwicklung; deshalb können wir dies auch schultern. Aber wir schützen auf der anderen Seite auch Betriebe, wenn sie durch Covid in Bedrängnis kommen, damit sie nicht sofort einen Insolvenzantrag stellen müssen, wodurch möglicherweise die Sozialversicherungsbeiträge für unsere sozialen Einrichtungen verloren gehen. Unter diesem Gesichtspunkt haben wir gehandelt und das Insolvenzaussetzungsgesetz bis zum 31. März 2022 verlängert. Das zeigt also sehr deutlich: Diese Koalition handelt. Sie schafft die nötigen Grundlagen, damit unsere sozialen Sicherungssysteme weiterhin leistungsfähig sind, aber die Unternehmen nicht überfordert werden. Mit einer Politik der AfD würde das sicherlich nicht gelingen; denn Sie sind rückwärtsgewandt und wollen letztendlich aus der EU austreten. ({3}) Was würde das für unsere exportorientierten Betriebe und ihre Arbeitnehmer bedeuten, die den größten Absatz in der EU haben? ({4}) Das würde für die Arbeitnehmer Arbeitslosigkeit und soziale Tristesse bedeuten. Das muss man den Bürgerinnen und Bürgern hier auch verdeutlichen. In diesem Sinne lehnen wir alle Anträge der AfD ab. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Das Wort geht an die Kollegin Britta Katharina Dassler von der FDP-Fraktion. ({0})

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier und heute über Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Coronakrise, unter anderem auch über die Branche der Fitnessstudios. Fitnessstudios leisten neben den Sportvereinen einen wesentlichen Beitrag für die Gesundheit der Bevölkerung und unterstützen mit ihren Angeboten Tag für Tag uns alle dabei, regelmäßig und ausreichend körperlich aktiv zu sein und somit dem Risiko verschiedener physischer und psychischer Beschwerden in allen Lebenslagen vorzubeugen. ({0}) Ich möchte Ihnen hier und heute kurz aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von meinem sehr geschätzten Kollegen Pascal Kober und mir vorlesen. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, würde ich gerne zitieren: Diesem Ziel dienen aber auch Aktivitäten im Alltag wie Gartenarbeit, Fahrradfahren, Laufen, häufige längere Spaziergänge … ({1}) Diese Antwort, meine Damen und Herren, ist eine bodenlose Frechheit, ({2}) eine bodenlose Frechheit, die damit jedem Fitnessstudiobetreiber dessen Existenzberechtigung abspricht. Das haben wir schwarz auf weiß, und ich kann das jedem Kollegen gerne zukommen lassen. Der Bundesregierung scheint damit nicht nur das Gefühl für die Bewältigung der Impfstrategie verloren gegangen zu sein, sondern auch das Gefühl für die Breite der Gesellschaft, der Sportvereine und auch der Fitnessstudios. Die Bundesregierung verkennt den gesundheitsfördernden Wert und auch die ehrenamtliche Arbeit all derer, die diese Arbeit Tag für Tag mit ihrem Angebot als Beitrag für die Gesundheit der Bevölkerung leisten. ({3}) Aber all das, meine Damen und Herren der Bundesregierung, hat für Sie keine große Relevanz. Die Bürger können ja auch spazieren gehen oder im Garten arbeiten. Ohne Worte! Dabei hat schätzungsweise nur maximal jeder zweite Bundesbürger einen Garten. Frage an Sie: Stellt denn die Bundesregierung all den Bürgern, die keinen Garten besitzen, ebendiesen leihweise während der Pandemie zur Verfügung? Wäre schön! ({4}) Fitnessstudios, meine Damen und Herren, sind auch keine „Muckibuden“. Grundsätzlich ist das Angebot der Fitnessanlagen als präventive Gesundheitsmaßnahme zu sehen. Und die Visitenkarte der Zukunftsbranche heißt „Prävention, Fitness und Gesundheit“. 4,16 Milliarden Euro Gesamtumsatz, 10,31 Millionen Mitglieder, 176 900 Mitarbeiter, 5 938 Fitnessanlagen – das sind die Zahlen von 2020. Ich glaube, verehrter Herr Minister Altmaier – schade, dass Sie heute nicht anwesend sind –, ({5}) diese Zahlen sprechen für sich. Denn damit sind Fitnessstudios nicht nur ein elementarer Bestandteil unseres Lebens, sondern auch ein wesentlicher monetärer Wirtschaftsfaktor. Deshalb fordere ich Sie, Herr Minister Altmaier, in Abwesenheit heute auf – Sie können es vielleicht auch Ihrem Kollegen Spahn mitteilen –, endlich dafür zu sorgen, dass eine Öffnung der Fitnessstudios vorangebracht wird; denn sie haben mit Hygienekonzepten, mit Raumfilteranlagen alles erdenklich Mögliche getan, –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– um den Menschen wieder körperliche Betätigung näherbringen zu können. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Dassler. – Das Wort geht an Thomas Lutze von der Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich kurz zur Sache kommen. Der Antrag der sogenannten AfD, über den wir abstimmen werden, und die anderen Anträge sind überflüssig. ({0}) Die Stundung von Sozialversicherungsbeiträgen ist von Beginn an das letzte Mittel, um pandemiebedingt in Not geratene Unternehmen zu entlasten. Wir brauchen stattdessen andere und vor allem bessere Instrumente, um den Unternehmen, aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam zu helfen und sie zu entlasten. Erstens. Das Kurzarbeitergeld muss auf 90 Prozent angehoben werden. ({1}) Für den Niedriglohnbereich fordert meine Fraktion eine Anhebung auf 100 Prozent. ({2}) Unterhalten Sie sich doch einfach mal mit den Betroffenen, die teilweise Wochen, wenn nicht sogar monatelang auf große Teile ihres Einkommens verzichten müssen, darüber, wie deren Situation ist. Ich glaube, da reichen zwei, drei Gespräche aus, um sich ein klares Bild zu machen. ({3}) Zweitens muss die Stundung von Gewerbemietrückständen, welche in der ersten Coronawelle geregelt wurde, rückwirkend fortgeführt werden. ({4}) Keinem Unternehmen, welches pandemiebedingt drastische Einnahmeneinbußen hat, darf in dieser schweren Zeit das Mietverhältnis gekündigt werden. Drittens. Unternehmen, die von Schließungen oder starken Einschränkungen betroffen sind, müssen weitere Staatshilfen gewährt werden. Soloselbstständige und Kleinunternehmer brauchen zudem auch endlich einen Unternehmerlohn. ({5}) Wir schlagen 1 200 Euro pro Monat vor. Doch alle Hilfsgelder helfen nur, wenn sie pandemiebedingte Pleiten verhindern. Pleiten verhindern sie aber nur dann, wenn die Hilfen vor einer Pleite bei den betroffenen Unternehmen ankommen. Das ist derzeit oft nicht der Fall. Um das zu ändern – das ist mein vierter Punkt –, müssen die Vergabeverfahren endlich vereinfacht werden. ({6}) Die Verantwortung für diese miserable Situation, in der wir zurzeit alle sind, trägt zuallererst der Virus. Aber der Bundeswirtschaftsminister Altmaier, CDU, macht es durch sein Handeln nicht viel besser. Über Monate war sein Ministerium hoffnungslos überlastet. Eine Wirtschaftskompetenz, die man der Union oft nachgesagt hat, gab es höchstens in homöopathischen Dosen. Das ist dann hoffentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ende September Geschichte. ({7}) Scharf und gründlich müssen wir überlegen – und das vor allen Dingen auch außerhalb des Wahlkampfes –, ob die bisherigen Regelungen unseres Föderalismus noch zeitgemäß sind. Es gibt sicherlich vieles, was sich bewährt hat und was nicht schlecht ist; es ist aber auch vieles dabei, was sich als ungeeignet erwiesen hat. Wenn wir es im Gesundheitswesen, gerade in den Krankenhäusern, mit einem Wirtschaftssystem zu tun haben, in dem 6 bis 8 Prozent Rendite erwirtschaftet werden müssen, dann gehört auch das dringend korrigiert. Das sind wir den Patientinnen und Patienten und auch den Beschäftigten in den Krankenhäusern schuldig. ({8}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen ein frohes Wochenende. Glück auf! ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Lutze. – Das Wort geht an den Kollegen Markus Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neben politischen und persönlichen Motiven gibt es auch noch ein praktisches Motiv, warum ich mich im Wahlkampf besonders engagieren werde für ein besseres Ergebnis von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich dass wir nicht als Letzte in der Debatte drankommen. In diesen Debatten sind dann nämlich alle guten Argumente schon von den Vorrednern und Vorrednerinnen genannt, ({0}) jedenfalls soweit es Herrn Lutze, Frau Hiller-Ohm und Herrn Straubinger anbelangte. In der Tat sind alle drei Anträge untauglich bzw. komplett überflüssig. Völlig bizarr ist, dass Sie wirklich nicht gemerkt zu haben scheinen, dass es die vereinfachte Stundung von Sozialversicherungsbeiträgen gibt. Gleichzeitig ist es nicht die Aufgabe der Sozialversicherung, Konjunkturstützungen zu betreiben. Das ist vielmehr Aufgabe des Ministeriums, das Herr Altmaier führt. Da haben wir leider gesehen, dass das nicht gut funktioniert hat. Meine Kollegin Katharina Dröge, die hier vorne sitzt, hat das oftmals beklagt. Da müssen Sie von der Regierung einfach wesentlich besser und schneller werden. Das ist der entscheidende Punkt. ({1}) Das wäre die Debatte, die man in Bezug auf die von Corona betroffenen Unternehmen führen müsste. Dann haben Sie einen Antrag gestellt, dass der Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld ausgesetzt werden soll. Ich kann verstehen, wenn Personen, die letztes Jahr in Kurzarbeit waren und die jetzt von Steuernachzahlungen betroffen sind – das Kurzarbeitergeld wurde ja einkommensteuerfrei gezahlt –, nicht gerne eine Steuernachzahlung machen. Wer macht das schon? Aber worum es im Steuerrecht nun mal geht, ist die Gleichbehandlung von Steuerzahlenden. Diejenigen, die nicht in Kurzarbeit waren, die beispielsweise im Einzelhandel an der Kasse gesessen haben und die das Gleiche verdienen wie jemand, der in der Automobilindustrie oder woanders vielleicht zwei, drei Monate in Kurzarbeit war, müssen genauso den gleichen Steuersatz zahlen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Das ist ganz elementar, auch wenn Leute sicherlich nicht gerne die Überweisung an das Finanzamt machen. ({2}) Somit hat sich dieser Antrag auch erledigt. Wirklich unterirdisch ist der Antrag zu den Fitnessstudios. Da fragt man sich wirklich: Haben Sie den Schuss denn noch nicht gehört? Auch die Kollegin Dassler von der FDP hat an der Stelle sehr eigenwillige Ansichten; das muss man sagen. Wir wissen, dass es schon bei der Wildvariante des Virus bei Gottesdiensten und gemeinsamen Gesängen zu Superspreader-Events gekommen ist. Wie ist das dann jetzt mit der britischen Mutante, die inzwischen 90 Prozent ausmacht? Wie soll das in einem Fitnessstudio funktionieren? Ich bin selbst Mitglied in einer großen Fitnessstudiokette und weiß, wie das da zugeht. Wie man diese Schlussfolgerung ziehen kann, Herr Sichert, aber auch Frau Dassler, das erschließt sich mir überhaupt nicht. Sie sollten mal die gängigen wissenschaftlichen Studien lesen; das hilft Ihnen vielleicht. Danke schön. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Kurth. – Als letzten Redner in der Debatte hören wir von der CDU/CSU-Fraktion Jens Lehmann. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn nicht große Teile der AfD Corona leugnen und schon simpelste Maßnahmen wie das Maskentragen ablehnen würden, wäre uns allen tatsächlich schon viel geholfen. ({0}) Vielleicht auch den Fitnessstudios; denn die achten auf Hygiene, auch schon vor Corona. Tücher und Desinfektionssprays zur Säuberung von Geräten gehören zum grundlegenden Hygienestandard eines jeden Studios. ({1}) Ich selbst möchte auch, dass die Menschen wieder Sport treiben können. Ich selbst würde auch gerne wieder offene Fitnessstudios sehen. Mein Sportlerherz blutet, wenn ich mit Studiobetreibern rede, wenn ich mit Menschen spreche und ihre Sehnsucht nach intensiven Trainingseinheiten heraushöre. Ich leide mit allen Sportlern, die gerne wieder Sport treiben würden wie früher, es aber derzeit nicht oder nur eingeschränkt können. Es ist furchtbar; das muss man eindeutig sagen. Man muss aber auch klar sagen, dass wir mitten in der dritten Welle der Coronapandemie stehen. ({2}) Schauen Sie sich die Inzidenzzahlen der Landkreise an: Greiz 474, Hof 460, Wartburgkreis 372. Soll ich Ihnen die Telefonnummern von Betroffenen geben, die geliebte Menschen verloren haben? ({3}) Oder möchten Sie mal das Klinikpersonal anrufen und deren Stimmungslage erfragen? Seit über einem Jahr verrichten die Pflegekräfte in deutschen Kliniken Schwerstarbeit. Wenn Sie sich die Bettenauslastung in den Kliniken anschauen, dann sehen Sie im DIVI-Intensivregister freie Betten im Bereich zwischen 9 und 21 Prozent. Da ist nicht mehr viel Luft nach oben. Die Zahl der freien Betten ist die eine Sache. Der aus meiner Sicht viel wichtigere Indikator ist das Personal. Als Radsportler sage ich Ihnen: Die fahren auf der letzten Rille. ({4}) Das Krankenhauspersonal arbeitet unermüdlich. Sie sind seit einem Jahr total erschöpft, sie sind an ihrer Belastungsgrenze. Und da reden wir nicht nur über Coronapatienten. Nein, es kommen zusätzlich zu den Coronapatienten auch andere Patienten auf die Stationen. Wir müssen an dieses Personal denken, und wir müssen an deren Belastung, an deren Überlastung denken. Wir sollten an dieser Stelle allen Pflegern und Ärzten für ihre harte und unermüdliche Arbeit danken! ({5}) Sie wissen alle, dass ich als Sportler immer für den Sport eintrete. Ich möchte sehr gern, dass wir alle wieder unserem Lieblingssport nachgehen können. Deshalb muss es uns gelingen, Sport und Bewegung zu ermöglichen. Ich selbst unterstütze in Leipzig das Modellprojekt RESTART-19 des SC DHfK Leipzig und der Universität Halle, um auch wieder Zuschauer in die Arenen zu lassen. Voraussetzung dafür aber sind niedrigere Inzidenzahlen. Aber bei Zahlen um die 400 müssen wir unsere Wünsche, so schwer es auch sein mag, hintanstellen. Wegen der erneut steigenden Zahlen sehe ich es also als schwierig an, dass wieder Sport in Fitnessstudios gemacht werden kann oder Zuschauer bei Sportveranstaltungen zugelassen sind. So sehr das auch schmerzt! Dennoch sind Kontaktreduzierungen weiterhin nötig; denn die Inzidenz liegt aktuell bei 160. Ich bin auch kein Fan von Inzidenzwerten als alleinigem Maßstab. Ich denke, wir müssen weitere Faktoren wie die Bettenauslastung oder die Impfquote in die Bewertung für künftige Maßnahmen miteinbeziehen. Weil wir aber jetzt den Inzidenzwert verwenden, möchte ich es noch einmal betonen: 160! Zum Zeitpunkt Ihres Antrages am 18. März lag der Wert bei 90. Das ist ein Anstieg von 77 Prozent in nicht mal einem Monat. Da hätte ich mindestens eine Überarbeitung Ihres Antrags, besser noch eine Rücknahme erwartet. ({6}) Aber gut, mit Zahlen haben Sie es scheinbar nicht so. Denn ich wüsste nicht, dass am „25. Februar 2012 sukzessive Öffnungen … ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 35“ vereinbart wurden, so wie es im Antrag steht. Am 25. Februar 2012 spielte Kaiserlautern noch in der Bundesliga und hat 0:4 gegen Mainz verloren; aber so viel nur am Rande. ({7}) Sehr geehrte Kollegen von der AfD-Fraktion, falls Sie die Entwicklung aufmerksam verfolgt haben: Es gab im Bund-Länder-Beschluss vom März dieses Jahres einen vereinbarten Stufenplan, der auch kontaktfreien Sport im Innenbereich beinhaltet. Insofern haben die Länder bereits einen einheitlichen Rahmen erarbeitet, auf dessen Grundlage die Öffnung von Fitnessstudios möglich ist. Schauen Sie sich beispielsweise gerne mal die sächsische Coronaordnung an: § 8 oder § 8a. Abschließend stelle ich fest, dass es bereits Regelungen für die Öffnungen von Fitnessstudios gibt, weswegen Ihr Antrag abzulehnen ist. Stattdessen sollten wir uns alle darauf konzentrieren, die Pandemie so schnell wie möglich mit zielgerichteten Maßnahmen einzudämmen, damit wir nicht nur Fitnessstudios wieder öffnen können, sondern auch Kinos, Gaststätten, Theater und den Einzelhandel. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Lehmann. – Ich schließe die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Internet bietet großartige Möglichkeiten für den Austausch von Ideen, von Informationen, von Waren und Dienstleistungen. Seit dem Ausbruch der Coronapandemie ist das Netz in unserem Alltag noch ein Stück präsenter geworden als vorher. Für die meisten Menschen vergeht kein Tag, an dem sie nicht mit Netzanwendungen zu tun haben. Wir alle wollen, dass das Internet dem gesellschaftlichen Fortschritt nützt. Deshalb dürfen wir es auch nicht tolerieren, wenn das Netz zum Schauplatz für kriminelle Machenschaften wird. Anfang des Monats ist deshalb unser Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität in Kraft getreten, für den Schutz aller Menschen, die im Netz beleidigt und bedroht werden. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, gehen wir gegen kriminelle Handelsplattformen im Internet vor. Wir schließen damit nicht hinnehmbare Lücken. ({0}) Wir sorgen für eine effektive und konsequente Strafverfolgung, auch im digitalen Raum. Meine Damen und Herren, auf kriminellen Handelsplattformen werden abscheuliche Geschäfte gemacht. Es gibt Geschäfte mit entsetzlichen Bildern von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Es werden Geschäfte mit Waffen, mit Drogen gemacht und Geschäfte mit Passwörtern und Kreditkartendaten, die Hacker bei ihren digitalen Raubzügen erbeutet haben. Kurzum: Cybercrime ist ein Geschäftsmodell. Selbstverständlich sind alle diese einzelnen Geschäfte, die ich eben beschrieben habe, also beispielsweise Diebstahl oder Betrug, auch nach dem heute geltenden Recht bereits strafbar; aber das hilft oft nicht, um die Betreiber der kriminellen Plattformen und Infrastrukturen zu belangen. Darum geht es. Die Ermittlungen sind oft schwierig, weil die Betreiber sich ahnungslos geben: Sie reden sich damit raus, sie hätten die Plattform ja nur bereitgestellt, und was darauf geschehe, sei nicht ihr Ding, dafür trügen sie keine Verantwortung. Damit muss Schluss sein! Dem schieben wir mit diesem Gesetz einen Riegel vor, denn mit dem neuen Straftatbestand stellen wir den Betrieb von kriminellen Plattformen unter Strafe. Wir ziehen die Betreiber damit zur Verantwortung, deren Plattformen darauf ausgerichtet sind, die Begehung von bestimmten Straftaten zu fördern. Dabei definiert der neue Straftatbestand rechtsstaatlich auch ganz präzise, um was es geht, um welche Straftaten es genau geht. Daneben wollen wir auch die Bereitsteller von Serverinfrastruktur erfassen. Sie machen sich künftig strafbar, wenn sie wissen, dass auf ihren Servern entsprechende kriminelle Handelsplattformen betrieben werden. Dass wir hier tätig werden, ist dringend notwendig, meine Damen und Herren. Die Bedeutung von solchen Handelsplattformen nimmt immer mehr zu, und es werden hierdurch schwere und schwerste Straftaten ermöglicht. So kaufte etwa der Täter des schrecklichen Amoklaufs im Münchener Olympia-Einkaufszentrum seine Waffe über eine solche Plattform. Natürlich war es sowohl für ihn strafbar, eine solche Waffe zu kaufen, als auch für den Verkäufer, die Waffe zu verkaufen. Aber an die Plattform ranzukommen, darauf kommt es an. Da müssen wir rangehen. ({1}) Deswegen ist dieser Straftatbestand so wichtig; er wird auch durch Änderungen im Strafprozessrecht ergänzt. Meine Damen und Herren, die Digitalisierung eröffnet neue, tolle Möglichkeiten – ich habe es beschrieben –, sie bietet uns allen Zugang zur ganzen Welt. Sie eröffnet aber leider auch Möglichkeiten für kriminelle Machenschaften. Dem müssen wir entgegenwirken und die entsprechenden Grenzen ziehen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als nächsten Redner hören wir Tobias Peterka von der AfD-Fraktion. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Im Koalitionsvertrag von 2018 zwischen Union und SPD findet sich der Satz: Bei bestehenden Strafbarkeitslücken werden wir eine Strafbarkeit für das Betreiben krimineller Infrastrukturen einführen. – Das nenne ich mal einen Paukenschlag. Es sollte eigentlich ganz selbstverständlich sein und ist kein Grund zur Selbstbeweihräucherung, dass verantwortungsvolle Regierungen jedes kriminelle Handeln einer Strafbarkeit zuführen. Aber selbst diesem billigen und langatmigen Schaufenstereffekt werden Sie hier nicht einmal richtig gerecht; denn: Wo ist genau die Strafbarkeitslücke? Es drängt sich einfach auf, dass mit dem neuen § 127 StGB vor allem Ermittlungsmaßnahmen wie Onlinedurchsuchungen, Telekommunikations- oder Verkehrsdatenerfassung ausgeweitet werden sollen. Das kann man dann bitte auch gleich so nennen, und den Gesetzentwurf von der Strafprozessordnung her aufbauen. Dass unsere Gesetzgebung vielen digitalen Entwicklungen heillos hinterherläuft, habe ich selber bereits mehrfach betont. Man kann ja durchaus den Standpunkt vertreten, dass gewisse Ermittlungsbefugnisse auf den Prüfstand gehören, aber dann bitte auch für entsprechend geschultes Personal bei den Ermittlungsbehörden sorgen. Da liegt nämlich das eigentliche Problem. ({0}) Der jetzige Gesetzentwurf zur Strafbarkeit des Betreibens krimineller Handelsplattformen und Serverinfrastruktur zielt entgegen früheren Initiativen neben dem riesigen Darknet auch auf das relativ überschaubare World Wide Web ab, das Otto Normalverbraucher so kennt. Damit soll wohl dem Vorwurf begegnet werden, der Beihilfevorsatz, der ja durch § 127 hinfällig werden soll, sei doch praktikabel und an sich auch feststellbar, nämlich durch Darknetforen mit den Namen wie „Cocaine Market“ oder „Fraudsters“, also Betrüger, und sonstige Offensichtlichkeiten. Gleichzeitig wird aber keine Plattform und kein Server im offenen Internet lange Waffen, Kinderpornos oder Drogen anbieten können, ohne durch technisch versierte Behörden schnell erwischt werden zu können, zumindest bei effektiver internationaler Zusammenarbeit. Geht es also eigentlich doch nur um die Zugriffsrechte der Ermittlungsbehörden? Dann – noch mal – bitte auch das Kind beim Namen nennen. ({1}) Der neue § 127 StGB erfordert jetzt also keinen direkten Vorsatz, nur einen anderen tatenfördernden Zweck der eigenen Plattform oder des eigenen Servers. Kann man so machen, geht aber am Problem, wie gesagt, vorbei. Darknet-Akteure sind mit neuester Verschlüsselungstechnik und mehrfach anonymisiert unterwegs. Auch wenn ich nach einem zusätzlichen deutschen Straftatbestand strafbar bin, muss ich erst einmal von steinzeitlich ausgerüsteten Behörden dingfest gemacht werden, und zwar ich selbst, nicht einer meiner Tarnrechner, den ich als Zombie unter dem Schreibtisch einer Rentnerin irgendwo im Ausland betreibe. Die Tatbestandsqualifikationen an sich, nämlich gewerblich und bandenmäßig, zeugen von schablonenhafter Ahnungslosigkeit; denn aus Liebhaberei ist kaum jemand im Darknet derart unterwegs, und eine lohnende Serverstruktur betreiben in der Regel auch mehrere Personen. Daher wäre der Aufbau des zentralen Paragrafen als gewerblicher Grundtatbestand mit einem minderschweren Fall, also quasi aus dem Jugendzimmer heraus, viel sinnvoller. Das alles ist dann im Ausschuss zu beleuchten, genauso wie viele Stimmen in der Wissenschaft, die nämlich kaum ein gutes Haar an dieser Form des Gesetzentwurfs lassen. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke, Kollege Peterka – Als nächsten Redner hören wir Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute diesen Gesetzentwurf in der ersten Lesung, um eine wirklich drückende Strafbarkeitslücke zu schließen. Es geht um – die Justizministerin hat es bereits erläutert – kriminelle Handelsplattformen im Internet, deren Zweck es ist, eine Plattform zu bieten, auf der gehandelt werden kann, und um die dafür notwendige Infrastruktur in Form von Servern. Dieses sogenannte Darknet ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl separater Netzwerke, die untereinander nicht vernetzt sind und so die Anonymität gewährleisten. Um es ganz klarzumachen: Darknet ist nicht nur ein Ort der Kriminalität. Es gibt beispielsweise Journalisten, Oppositionellen und Regimekritikern in Diktaturen die Möglichkeit, sich auszutauschen, ohne ausgespäht zu werden. Wir wollen aber mit diesem Gesetzentwurf nicht diese Gruppe, sondern gerade eine andere Gruppe treffen, deren einziges Ziel es ist, die Anonymität des Darknets für kriminelle Handlungen zu nutzen, und das tun wir auch – entgegen den Ausführungen des Vorredners. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es darf keine rechtsfreien Räume geben, auch nicht im Darknet. Deshalb möchte ich Ihnen die Notwendigkeit der Umsetzung unseres Vorhabens an zwei Beispielen erläutern, die das deutlich machen: Erstens. Über das Darknet wurde in einer Handelsplattform mit dem Namen „Wall Street Market“ von drei Männern ein Drogenhandel betrieben – sie stammten aus Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen –, bei dem sie unbemerkt 75 Kilo Kokain, 11 Kilo Heroin, 2,4 Tonnen Cannabis, 460 000 Ecstasy-Pillen, 240 000 Portionen LSD im Gesamtverkaufswert von 36 Millionen Euro über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren gehandelt hatten. Der Betreiber der Plattform bezog aus diesen Geschäften 2 bis 3 Prozent Provision, insgesamt eine Dreiviertelmillion Euro. ({0}) Inzwischen ist die Plattform aufgelöst. Es gab dort 1 150 000 Kundenkonten, 5 400 Verkäufer und 63 000 Verkaufsangebote – wohlgemerkt: alles im kriminellen Bereich. Die Bezahlungen bieten oftmals keinen Ansatzpunkt für Ermittlungen; denn oftmals erfolgen sie über Kryptowährungen wie Bitcoin. Das zweite Beispiel wurde bereits von der Ministerin genannt: dieser schreckliche Amoklauf von München, dem neun Menschen zum Opfer fielen und bei dem fünf schwer verletzt wurden. Es war dem Täter gelungen, über das Darknet eine Schusswaffe und 567 Schuss Munition zu erwerben. Der Verkäufer konnte ausfindig gemacht werden. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung, aber nicht wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Der Betreiber der Plattform blieb am Ende straflos. Der Grund dafür ist, dass es eine Strafbarkeitslücke in unserem Strafrecht in seiner jetzigen Form gibt; die Ministerin hat es bereits deutlich gemacht. Es gelingt uns deshalb nicht, diejenigen zu sanktionieren, die entweder eine solche Plattform zu kommerziellen Zwecken betreiben oder die Infrastruktur kommerzieller Art zur Verfügung stellen. Sie waschen ihre Hände in Unschuld wegen angeblicher Unkenntnis der Straftaten, die darauf begangen werden. Jetzt ein kleiner Exkurs für den Kollegen Peterka, was das Strafrecht anbelangt. Strafrecht, Herr Kollege, ist ein Täterstrafrecht. Der Haupttäter, der gewissermaßen selbst Hand anlegt, und sein Teilnehmer der Haupttat, der ihn beispielsweise unterstützt – ein Gehilfe –, können sich strafbar machen und auch verfolgt werden. Für den Gehilfen oder Helfer und Helfershelfer gilt das aber nur, wenn er weiß, welche Haupttat der Haupttäter begehen will, und ihn in Kenntnis dessen unterstützen möchte. Das ist genau die Strafbarkeitslücke, um die es hier geht; denn die Plattformbetreiber oder die Zurverfügungsteller der Infrastruktur können ja immer für sich in Anspruch nehmen, dass sie nicht gewusst haben, was darauf passiert. Versuche, diesen Personenkreis mit anderen Mitteln unseres Strafrechts einzubeziehen, sind gescheitert. Sie sind keine Bandenmitglieder, weil sie nicht an der Absprache dieser Straftaten beteiligt sind, und sie sind auch keine Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, weil diese eine gewisse Organisation und einen gewissen Abstimmungsgrad erfordert. Dass dieser Zustand insgesamt unerträglich ist, das dürfte, denke ich, Konsens sein. Deshalb brauchen wir den neuen § 127 StGB, der einen Katalog von Straftaten nennt, wegen derer man sich strafbar machen kann, wenn man eine solche Plattform betreibt und diese Straftaten zulässt oder gar unterstützt und fördert, und der Strafen bis zu zehn Jahren Höchststrafe vorsieht. Die entsprechenden Handhaben für die Ermittlungsbehörden wurden auch bereits genannt. Wir haben noch etwas draufgesattelt bei der Telefonüberwachung und der Onlinedurchsuchung. ({1}) Alles in allem ist das, glaube ich, mit der Einbringung dieses Gesetzentwurfs heute der Anfang, um diesem Treiben ein Ende zu bereiten, und damit ein guter Tag für das Strafrecht und die Strafverfolgung und ein schlechter Tag für das Verbrechen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Müller. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion mit Dr. Jürgen Martens. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz so rosig wie mein Vorredner vermag ich den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zur Einführung eines § 127 Strafgesetzbuch, Betreiben krimineller Handelsplattformen im Internet, nicht zu sehen; denn die Kernprobleme, etwa das Problem des Nichtwissens des Betreibers einer Plattform, auf der illegale Dinge geschehen oder gehandelt werden, beseitigen Sie mit diesem Entwurf nicht wirklich. Denn auch nach diesem Entwurf muss der Täter wissen, ({0}) was auf seiner Plattform passiert. Das heißt im Gesetzentwurf dann so: „Wer eine Handelsplattform im Internet betreibt, deren Zweck darauf ausgerichtet ist …“. Die Plattform muss zu dem Zweck betrieben werden, dort Straftaten zu vermitteln und zu ermöglichen. Der von Ihnen angesprochene Fall wird damit auch nicht abgedeckt. ({1}) Ähnlich ist es bei folgender Frage: Wer eine Plattform im Darknet betreibt, auf der beispielsweise, wie Sie gesagt haben, tonnenweise Drogen im Wert von 36 Millionen Euro gehandelt werden, und wer Hunderttausende Euro Provision dafür kriegt, der macht sich auch schon nach jetzigem Recht strafbar; denn das ist offensichtlich Beihilfe zum Handel mit Drogen. Der kann bei bestem Willen nicht behaupten, er wüsste nicht, was er da im Darknet getan hätte, meine Damen und Herren. ({2}) Mit dem Straftatbestand tun sich allerdings noch einige andere Probleme auf. Erstens: das Vorsatzproblem. Sie haben eine Strafbarkeitserhöhung, indem Sie es zum Verbrechen qualifizieren, wenn die ermöglichte rechtswidrige Handlung ein Verbrechen ist; das ist nachvollziehbar. Aber das große Problem ist: Auch hier kommen Sie nicht daran vorbei: Sie kriegen nur die, die wir mit der deutschen Justiz fassen können, weil sie ihre Geschäfte in Deutschland betreiben. An die Server, die im Ausland aufgestellt sind und von dort als Handelsplattformen genutzt werden, kommen Sie nicht wirklich ran, jedenfalls nicht, wenn es sich um ausländische Täter handelt. Aber das ist ein Großteil der Geschäfte, die hier inkriminiert werden sollen. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Wir haben noch ein weiteres Problem, und das ist das rein tatsächliche Problem der Ausbildung und der Kapazität der ermittelnden Behörden. Das ist wie bei den vorherigen Tatbeständen, die eingeführt worden sind: Wir müssen uns auch um die Kapazitäten der Ermittlungsbehörden kümmern. Ansonsten greifen diese Tatbestände nicht. Das Strafrecht läuft ins Leere – es kann auch noch so scharf sein –, wenn niemand da ist, der mit ihm hantieren kann. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Martens. – Das Wort geht an Niema Movassat von der Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der laut Begründung gegen illegalen Waffenhandel und Kinderpornografie wirken soll. Wir als Linke unterstützen selbstverständlich den Kampf gegen illegalen Waffenhandel und Kinderpornografie. Laut Ihrem Gesetzentwurf macht sich künftig strafbar, wer eine kriminelle Plattform im Internet betreibt, eine Plattform also, deren Zweck es ist, dass Menschen über diese Plattform Straftaten begehen. Die Liste der erfassten Straftaten reicht vom Verkauf gefälschter Handtaschen bis hin zur Beauftragung eines Auftragsmörders. Das Problem ist bloß, dass dieser Gesetzentwurf überflüssig ist. Sie sprechen davon, Strafbarkeitslücken zu schließen, die gar nicht existieren. Nehmen wir zum Beispiel den Handel mit Betäubungsmitteln. Das Betreiben einer Plattform für den Verkauf von Drogen – das Beispiel kam ja gerade – ist bereits heute strafbar nach dem Betäubungsmittelgesetz. ({0}) Generell ist das Schreckgespenst von der vermeintlichen Straflosigkeit des Betreibens von Plattformen für illegalen Handel ein Hirngespinst; denn in fast allen Fällen stellt das wissentliche Zurverfügungstellen einer Plattform, die darauf gerichtet ist, darüber illegale Geschäfte abzuwickeln, schon jetzt eine strafbare Beihilfe dar. Wer also Leuten ermöglicht, etwa Waffen im Internet zu verkaufen, der macht sich schon heute strafbar. Das weiß die Bundesregierung auch ganz genau. Bereits 2019 gab es eine ähnliche Bundesratsinitiative. Sie ist gescheitert, weil es erhebliche Kritik der juristischen Fachwelt gab. In diesem Sinne ist Ihr Gesetzentwurf nur ein billiger PR- Stunt. ({1}) Meine Damen und Herren, man sieht diesem Gesetzentwurf an, wie unangenehm er Ihnen eigentlich sein muss; denn in Ihrem Gesetzentwurf findet sich kein Wort zur Debatte von 2019. Sie tun so, als ob nichts gewesen wäre, als ob wir in Deutschland nie darüber geredet hätten. Es ist nicht mal lange her – zwei Jahre –, und Sie entkräften nicht mal die Argumente, die damals im Bundesrat von den Expertinnen und Experten fielen. Sie legen uns kurz vor dem Ende dieser Legislaturperiode einen unausgegorenen, unsinnigen Gesetzentwurf vor, nur um noch mal schnell einen weiteren Haken hinter die Liste von Gesetzgebungsprojekten aus Ihrem Koalitionsvertrag zu setzen. Sinn und Verstand hat das nicht. ({2}) Der eigentliche Zweck Ihres Vorhabens offenbart sich sowieso erst mit Blick auf Artikel 2 des Gesetzes. Hinter hochtrabenden Ankündigungen wie dem Kampf gegen illegalen Kriegswaffenhandel versteckt sich die Ausweitung des Anwendungsbereiches einer der grundrechtsintensivsten Ermittlungsinstrumente: der Onlinedurchsuchung. Experten zweifeln, ob die versprochenen Effektivitätssteigerungen durch die Onlinedurchsuchungen tatsächlich eintreten werden. Aber Sie interessiert das nicht. Sie packen es hier ins Gesetz. Liebe Bundesregierung, seien Sie doch wenigstens ehrlich in Ihren Absichten. Verkaufen Sie dieses Hohe Haus nicht für dumm, und legen Sie uns bitte keine überflüssigen Gesetzentwürfe vor. Danke schön. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Movassat. – Das Wort geht an die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, an die Kollegin Canan Bayram. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es stellt niemand infrage, dass mit illegalen Gütern und Dienstleistungen im Internet gehandelt wird. Es stellt auch niemand infrage, dass sich diejenigen, die dafür eine Plattform zur Verfügung stellen, strafwürdig verhalten. Die Frage ist: Was wollen wir dagegen tun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die Koalition macht wieder das, was sie inzwischen immer macht, wenn es ein Problem gibt: einen neuen Straftatbestand schaffen. Strafbar soll sich danach machen, wer eine Handelsplattform im Internet betreibt, deren Zweck darauf ausgerichtet ist, die Begehung von rechtswidrigen Taten zu ermöglichen oder zu fördern. Das klingt erst mal gar nicht so dumm. Allerdings ist das schon längst strafbar. Dass Sie das nicht wahrhaben wollen, ist wahrlich nicht klug. ({0}) In der Praxis geht es doch darum, dass Betäubungsmittel, Waffen oder kinderpornografische Inhalte über diese Plattformen vertrieben werden. In diesen Fällen ist doch heute schon die Vermittlungstätigkeit strafbar, meine Damen und Herren. Meine Vorredner haben das ebenfalls betont. Sogar das einfache Mitteilen einer Erwerbsmöglichkeit ist bei Betäubungsmitteln strafbar. Und in allen Fällen, in denen die speziellen Vorschriften nicht greifen, gibt es auch weiterhin noch die Strafbarkeit wegen Beihilfe zu einer rechtswidrigen Tat nach § 27 Strafgesetzbuch. Die Gesetzeslücke, die hier angeblich geschlossen wird, gibt es gar nicht, meine Damen und Herren. Lassen Sie sich das von mir auch noch mal erklären. Die Kollegen haben es Ihnen doch gerade auch schon erklärt. ({1}) Es handelt sich also bei Ihrem Gesetzentwurf um reinen Aktionismus. Es soll so aussehen, als würde etwas gegen die illegalen Handelsplattformen unternommen werden, ohne die tatsächlichen Probleme anzugehen. Das Gesetz muss in diesem Bereich nämlich nicht verändert, sondern endlich konsequent angewendet werden. ({2}) Und dazu brauchen die Strafverfolgungsbehörden die richtige personelle und – aber fast noch viel wichtiger – die technische Ausstattung, meine Damen und Herren. Was doch sehr verwundert, ist, dass der Kollege Thorsten Frei von der CDU in einem Artikel in der „Deutschen Richterzeitung“ ein höheres Mindeststrafmaß für die Betreiber von Kinderpornografie-Plattformen fordert. Genau das haben wir von Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen Sitzungswoche in unserem Änderungsantrag zur sexuellen Gewalt gegen Kinder gefordert. Den haben Sie aber als Unionsfraktion abgelehnt. Wie passt das zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen? Sie können unseren Antrag auch gerne übernehmen, dann verspreche ich Ihnen, dass wir auch zustimmen werden. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Bayram. – Das Wort geht an Dr. Karl-Heinz Brunner von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Bayram, Ihr letzter Wunsch wird wahrscheinlich nicht eintreten. Ich möchte das entsprechend ausführen. ({0}) – Nein, nicht der letzte Wunsch, aber zumindest der letzte Wunsch in ihrer Rede. Als das noch heute gültige Strafgesetzbuch in Kraft trat – – ({1}) – Wir sehen uns immer gerne, aber wir müssen uns nicht unbedingt bei Ihrem Gesetzentwurf wiedersehen. ({2}) Als das Strafgesetzbuch im vorvorigen Jahrhundert in Kraft getreten ist, mussten Menschen, die verbotene Dienstleistungen wollten, eine Waffe, einen gefälschten Ausweis oder Falschgeld kaufen wollten, sich immer noch bemühen, in dunklen Abendstunden in dunkle Gassen zu gehen, um dort den Verkäufer aufzusuchen, und vielleicht die Waffe unter dem Mantel abtransportieren. Heute ist es mit dem Internet viel einfacher. Man geht mit einem Klick hinein und sucht, findet, bahnt an, wickelt das Geschäft ab, und dies in vollständiger Anonymität; nicht nur im Darknet, sondern auch im regulären Net. Dass Menschenhandel, der Handel mit Betäubungsmitteln, mit Waffen, mit Falschgeld, mit gefälschten Ausweisen, mit gestohlenen, echten und gefälschten Kreditkarten und der Handel mit Kinderpornografie im Internet zur Selbstverständlichkeit geworden sind, erschreckt. Und dass wir die Plattformen, auf denen dies umgesetzt wird, als solche bisher noch nicht wirksam in den Griff bekommen haben, kann die geneigte Öffentlichkeit und die Bürgerschaft in diesem Land nicht verstehen. Ich kann den Kollegen Dr. Martens verstehen, wenn er seine Probleme mit dem Gesetz hat. Ich kann Herrn Movassat unterstellen, dass er recht hat: Manches müsste man vielleicht nicht regeln. Aber die Menschen in diesem Land wollen nicht die Zustandsbeschreibung, was nicht geht, sondern sie wollen eine Erklärung dessen, was geht. ({3}) Deshalb bin ich auch dem Kollegen Müller sehr dankbar, der bereits auf die Regelungslücke hingewiesen hat. Denn bisher greift lediglich der Straftatbestand der Beihilfe, das ist der klassische § 27 StGB. Und dieser § 27 StGB für die Plattformbetreiber erfordert – ich gestatte mir, das an diesem Nachmittag zu sagen –, dass der Plattformbetreiber zumindest eine Kenntnis über die wesentlichen Merkmale, wie es so schön heißt, der Haupttat haben muss, um straffällig zu werden. § 127 StGB setzt nunmehr daran an, dass es auf die Kenntnis der wesentlichen Merkmale nicht mehr ankommt, sondern darauf ankommt, dass die Plattform zur Verfügung gestellt wird. Ich glaube, dass die Menschen in dem Land erwarten, dass diese Plattformen nicht tätig werden. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass wir mit deutschem Strafrecht im Wesentlichen nur Straftaten in Deutschland oder von deutschen Staatsangehörigen erfassen können und entsprechend eingreifen können. Aber nichts zu tun und alles beim jetzigen Stand zu lassen, nur weil wir nur diesen Bereich abdecken können, wäre genau der falsche Weg. Wir müssen den Menschen zeigen, dass unser Weg dort, wo wir etwas tun können, umsetzbar ist und funktioniert. Ich sage an dieser Stelle: Ich habe, bis der Gesetzentwurf vorlag, Bauchschmerzen gehabt, mich gefragt, ob er gelingt. Und ich sage: Es ist dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gelungen, etwas zu finden, das zum einen die Regelungslücke als solche größtmöglich zu beseitigen versucht, aber das aufrecht zu erhalten, was das World Wide Web, was das Internet ausmacht, nämlich Plattformen von neutralen Dienstleistern für gesellschaftlich wünschenswerte Zwecke zu ermöglichen. Es wurde von Journalistinnen und Journalisten in Ländern, die autokratische Systeme haben, angesprochen und gebeten, ihre Dienste weiterhin zu ermöglichen. Deshalb freue ich mich auf die Beratungen, hoffe, dass wir am Ende ein gutes Gesetz haben und die Auswüchse des Darknet und die Auswüchse des World Wide Web als solches in den Griff bekommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes Wochenende. Tschüs dann! ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Brunner. – Als letzten Redner in der Debatte hören wir von der CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat so, dass Handelsplattformen, vor allen Dingen im Darknet, auch die tiefsten und abscheulichsten Seiten menschlicher Verhaltensformen zutage treten lassen. Dort werden nicht nur Drogen und psychedelische Stoffe gehandelt. Es werden Waffen feilgeboten, die schlimmsten Fälle von Kinderpornografie sind dort zu finden, und – mehr noch – es soll auch Plattformen geben, auf denen Auftragsmord zum Alltag gehört. Der Rechtsstaat muss gegen diese Plattformen mit aller Kraft und Konsequenz vorgehen. Dort, wo es im Strafrecht noch Regelungslücken gibt, müssen wir nachsteuern. Das tun wir heute. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir ein offenes strafrechtliches Problem lösen, damit wir diesen Plattformen den Riegel vorschieben, meine Damen und Herren. Worum geht es?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Movassat?

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe ja noch gar nichts erklärt, aber wenn er meint – gerne.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Dann bitte.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, dass Sie die Frage zulassen. Ich habe in dieser Debatte jetzt viel über Strafbarkeitslücken gehört. Ich habe aber bis jetzt kein einziges konkretes Beispiel gehört, wo Ihr Gesetz ein Handeln strafbar stellt, das nach jetziger Gesetzeslage, etwa über den Beihilfetatbestand, nicht strafbar ist. Deshalb würde ich mich sehr für ein praktisches Beispiel interessieren, wo Sie sagen: Das ist eine Strafbarkeitslücke, die vorher noch nicht über die jetzige Rechtslage im Strafgesetzbuch erfasst war und die wir jetzt erfassen. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Movassat. Sie haben genau das gefragt, was ich jetzt ohnehin erklären wollte; aber dann kann ich es noch mal deutlich machen. Bei einer Plattform, die beispielsweise Drogen verkauft, muss sich der Vorsatz des Betreibers für eine Strafbarkeit wegen Beihilfe auf das ganz konkrete Geschäft beziehen, weil die Beihilfe als Teilnahme an einer Straftat einen Gehilfenvorsatz braucht. Der Vorsatz muss sich zudem auch auf die Haupttat beziehen. Das heißt, Sie brauchen den Vorsatz zweimal: in Bezug auf die Haupttat und auf die Gehilfenleistung. Wenn aber beispielsweise auf einer Plattform mehrere Dinge gehandelt werden, vielleicht sogar typischerweise strafbare und nicht strafbare Sachen, dann kann sich der Betreiber einer Plattform immer herausreden und sagen: Wissen Sie, ich habe eine Plattform, auf der handle ich mit Dingen, die nicht strafbar sind, und solchen, die strafbar sind. Damit würde natürlich der ganz konkrete Gehilfenvorsatz in Bezug auf die Haupttat ins Leere gehen. Das ist das strafrechtliche Problem, und dieses strafrechtliche Problem lösen wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf. Sie brauchen nun nämlich nicht mehr den Gehilfenvorsatz, § 27 StGB, sondern das Betreiben der kriminellen Plattform alleine genügt für die Strafbarkeit. Das ist ein wesentlicher dogmatischer Fortschritt. ({0}) Zudem gibt es noch ein Phänomen, das man berücksichtigen muss. Sie können mittlerweile durch Instrumente der künstlichen Intelligenz Plattformen auch autonom, selbstgesteuert aufbauen und organisieren. Und wenn eine Plattform selbst autonom organisiert ist, haben Sie, Herr Kollege Movassat, gar keinen Zugriff mehr auf die ganz konkreten Handelsvorgänge. Trotzdem ist das eine kriminelle Plattform. Wenn Sie aber gar nicht genau wissen, was auf Ihrer Plattform gehandelt wird, dann fehlt Ihnen in der Konsequenz der Gehilfenvorsatz, und Sie können keine Beihilfe konstruieren. Und wenn Sie keine Beihilfe konstruieren können, liegt keine Strafbarkeit vor. Das heißt, gerade im Hinblick auf die Nutzung künstlicher Intelligenz werden wir diese Strafbarkeitslücke mit dem Gesetz schließen. Ich meine, das ist nur fair und angemessen; denn es geht darum, dass wir die kriminellen Handlungen, die diesen Plattformen zugrunde liegen, ganz konsequent unterbinden. Deswegen brauchen wir übrigens auch die korrespondierenden Vorschriften in der Strafprozessordnung; denn wenn es um Internetplattformen geht, müssen die Ermittlungsbehörden auch die Möglichkeit haben, diese Internetplattformen gemäß den entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung aufzuspüren und den Hintermännern gegebenenfalls auch mit strafprozessualen Mitteln auf die Schliche zu kommen. Es nützt nämlich nichts, wenn Sie die entsprechenden strafrechtlichen Vorschriften haben, aber die Verfolgung dieser Taten mangels Befugnissen in der Strafprozessordnung ein stumpfes Schwert bleibt. Wir wollen, dass der Rechtsstaat bei der Verfolgung von Plattformen, die Waffenhandel, Drogenkriminalität und Kinderpornografie zum Inhalt haben, klar und deutlich handeln kann, meine Damen und Herren. Deswegen bitte ich Sie, dass wir diese dogmatischen Feinheiten bei aller Debatte auch beachten. Das bedeutet nicht, Herr Kollege Movassat, dass bislang alles straflos war. Es geht darum, dass wir die entsprechenden Strafbarkeitslücken schließen, weil wir doch das gemeinsame Ziel haben, dass es diese Plattformen in dieser Form nicht mehr geben darf. Vor diesem Hintergrund lade ich Sie zu einer konstruktiven Debatte ein, und ich hoffe, dass wir dieses wichtige Gesetz bald verabschieden können. Herzlichen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erinnern uns noch: Vor allem in den Jubiläumsjahren 2019 und 2020 ist kaum eine Rede zur deutschen Einheit ohne einen Hinweis auf die Lebensleistung der Ostdeutschen ausgekommen. Bemerkenswerterweise ging es in den meisten Reden, wenn über Lebensleistung geredet worden ist, eigentlich nur um die Zeit nach 1990. Es wurde auf die Demütigungen verwiesen, die erfahren worden sind, durch Arbeitslosigkeit, durch 1‑Euro-Jobs. Aber was ist eigentlich mit der Lebensleistung vor 1990, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({0}) Die DDR ist ja nun nicht daran zugrunde gegangen, dass 17 Millionen nichts konnten und nichts wollten, sondern sie ist unter anderem an der Zweitklassigkeit ihrer Wirtschaftsleistung, ihrer Wirtschaftskraft zugrunde gegangen. Aber aus dieser Zweitklassigkeit der Wirtschaft ist eben heute sehr oft auch eine Zweitklassigkeit von Biografien und Zweitklassigkeit von Rentenanwartschaften geworden, meine sehr verehrten Damen und Herren, und das kritisieren wir nach wie vor. ({1}) Nun ist es nicht das erste Mal – das werden wir auch gleich in der Aussprache hören –, dass wir die Anerkennung beantragen, wenn wir über Rentenüberleitungsprobleme, Rentenüberleitungsungerechtigkeiten und über Rentenansprüche aus der Zeit der DDR reden, die bis heute nicht anerkannt worden sind. Aber nach wie vor gibt es leider für eine ganze Reihe von Betroffenen, sehr viele Ostdeutsche, nach wie vor keine Lösung. Wir reden über Reichsbahner, über die Bergleute über Tage, über Krankenschwestern, über sehr viele mehr. Deren Ansprüche sind nicht anerkannt worden. Warum? Weil die Leistung in der DDR erbracht worden ist. ({2}) Und mit dieser Ungerechtigkeit muss Schluss sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Sie wissen sehr genau – weil ja auch Sie diese Gespräche führen, nicht nur ich –: Auch die Betroffenen geben bis heute keine Ruhe. Das tun sie zu Recht, und sie können sich auch darauf verlassen, dass Die Linke keine Ruhe gibt, bis dieses Problem gelöst ist. Auch das kann ich Ihnen versprechen, meine Damen und Herren. ({4}) Nun will ich auf etwas zu sprechen kommen, was sicherlich auch gleich erwähnt wird und in Ihrem Koalitionsvertrag 2018 ja schon angekündigt worden ist: den Härtefallfonds. ({5}) Wenn ich die jüngsten Presseberichte über die Gespräche, die zu diesem Fonds laufen, zur Kenntnis nehme, dann stelle ich fest, dass es nach wie vor um ein Stichwort geht, das das Problem nicht löst, und das ist das Stichwort „Grundsicherungsnähe“. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will ausdrücklich sagen: Wenn Sie bei diesem Konstrukt bleiben – das wissen Sie, und zwar ganz genau –, dann werden Sie für den Großteil der Betroffenen das Problem, über das wir hier sprechen, nicht lösen. Deswegen – das sage ich Ihnen heute schon – ist das nichts, was von unserer Seite akzeptiert werden kann und mit Sicherheit auch von den Betroffenen nicht akzeptiert wird. ({6}) Letztlich läuft auch das wieder darauf hinaus, sehr vielen Ostdeutschen zu sagen, sie sollen mal mit etwas weniger zufrieden sein, als ihnen eigentlich zusteht, sie sollen dankbar sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wir vor einem Wahlkampf stehen, will ich mal darauf hinweisen: Natürlich werden Wahlkämpfe im Westen entschieden, schon zahlenmäßig. Aber wir werden auch bei dieser Bundestagswahl wieder erleben, dass es im Osten mittlerweile um sehr viel mehr geht. Da geht es nämlich um die Frage, ob demokratische Parteien, ob wir insgesamt noch Bindekraft gegenüber den sehr vielen Ostdeutschen entfalten können, die mit Blick auf ihre Erwartungen über 30 Jahre von demokratischer Politik enttäuscht worden sind. Und deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Machen Sie es sich nicht zu einfach. Es sind in den letzten 30 Jahren viele Fehler gemacht worden, jawohl. Aber einer der größten Fehler ist vielleicht, auch gegenüber den Betroffenen nicht einmal einzugestehen, dass es Fehler gewesen sind, sondern ignorant darüber hinwegzugehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Deswegen bleibt unsere Aufforderung: Schließen Sie die Lücken im Rentenrecht. 30 Jahre nach der deutschen Einheit ist es höchste Zeit, das zu tun. Und wenn Sie schon mit Ihrem Projekt des Härtefallfonds kommen, dann bleibt meine Aufforderung: Machen Sie aus diesem Härtefallfonds einen Gerechtigkeitsfonds. Dann hat er vielleicht auch eine Chance auf Akzeptanz und Durchsetzung. Herzlichen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Höhn. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Albert Weiler. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer vor den Bildschirmen! Herr Höhn, ich habe Sie mir angeschaut. Sie haben während Ihrer Rede immer so ein süffisantes Grinsen im Gesicht gehabt. ({0}) Ich kam mir verhöhnt vor, und so, glaube ich, kamen sich die Menschen vor den Bildschirmen auch vor, und das tut mir wirklich leid. ({1}) – Und es wird nicht besser, wenn Sie das jetzt noch weiter belächeln. Die deutsche Wiedervereinigung, meine Damen und Herren, zählt zu den glücklichsten Momenten der deutschen Geschichte und ist historisch einzigartig. Darauf können wir zu Recht alle stolz sein. Die Maßnahmen zur Wiedervereinigung stellten die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Die Eingliederung der ostdeutschen Rentner in die deutsche Rentenversicherung ist eine der großen Leistungen der deutschen Einheit, meine Damen und Herren. ({2}) Der Deutsche Bundestag hat im Juni 2017 die Angleichung der Ostrenten an die Westrenten abschließend geregelt. Das heißt, ab dem 1. Januar 2025 gilt dann überall in Deutschland ein einheitliches Rentenrecht. Und das, meine Damen und Herren, ist ein großer Erfolg. Meiner Fraktion sind die Vollendung der inneren Einheit sowie die mahnende Erinnerung an das SED-Unrecht weiter wichtige Anliegen. Bei allem, was wir schon erreicht haben, hinterfragen wir auch uns selbst kritisch, ob wir die individuellen Biografien der Menschen in der ehemaligen DDR und während der Nachwendezeit ausreichend berücksichtigt haben. Es gibt verschiedene Berufs- und Personengruppen, die bei der Überleitung der DDR-Renten in die bundesdeutsche Rentenversicherung eben nicht ausreichend Beachtung fanden. Dazu zählen unter anderem die Gruppe der in der DDR geschiedenen Frauen, ehemalige Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn, Bergleute, Postmitarbeiter, insgesamt 17 Gruppen. Auch wenn es keinen gesetzlichen Anspruch gibt, sehen wir hier Handlungsbedarf. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag auf einen sogenannten Härtefallfonds geeinigt, und ich bin froh, dass uns das gelungen ist; denn auch hierfür mussten wir Mehrheiten finden. Außerhalb des Rentenrechts schaffen wir einen Fonds für Härtefälle, der die Lebens- und Beschäftigungsjahre, die in der DDR zurückgelegt wurden, anerkennt. Aktuell hat das BMAS ein Eckpunktepapier erarbeitet, das nun mit den Ländern besprochen wird. Dieses sieht Lösungen vor, an denen sich der Bund, aber auch die Länder zu gleichen Teilen beteiligen sollen. ({3}) Die CDU-Landtagsfraktion in Thüringen befürwortet diesen Härtefallfonds ebenfalls. Die Thüringer Staatskanzlei, jetzt unter der Führung der Linken, lehnt bisher einen Fonds für die in der DDR geschiedenen Frauen ab. ({4}) Ich kann da nur an Sie appellieren, hier zuzustimmen und nicht weiter zu blockieren, meine Damen und Herren von den Linken. ({5}) Wenn sich Bund und Länder eben nicht einigen können, dann gehen alle Personengruppen leer aus, und das wäre schade. Die in der DDR geschiedenen Frauen bilden hier die größte Gruppe. Mit der Einführung der Grundrente und der Mütterrente konnten wir hier zwar finanziell etwas Druck herausnehmen. Aber die Frauen haben uns signalisiert, dass sie beim Eckpunktepapier, das jetzt vorliegt, noch Änderungsbedarf sehen, es grundsätzlich aber befürworten. Meine Damen und Herren, das Engagement dieser Frauen ist sehr groß. Daher möchte ich heute auch diesen mutigen Frauen für ihren Einsatz danken. Sie wissen, dass ich an ihrer Seite stehe und mich intensiv für ihre Belange einsetze. Es gibt zwar keinen gesetzlichen Anspruch, ({6}) aber wir als CDU/CSU haben trotzdem versprochen, für die Betroffenen eine Regelung zu finden. Und der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht. Nun sind die Länder am Zug, ebenfalls Verantwortung zu übernehmen. ({7}) – Warten Sie doch einen Moment. – Der Härtefallfonds ist kein Allheilmittel; da sind wir uns einig. Er ist eine Anerkennung und eine Würdigung des Bundes der Lebensleistung. Wie wir gestern schon mehrfach festgestellt haben, gehen den Linken die Themen aus. Ihr Antrag hat weder ein Finanzierungs- noch ein Umsetzungskonzept. Er weckt nur Erwartungen. Das ist nicht seriös, und das können Sie mit uns und vor allen Dingen mit den Menschen nicht machen. ({8}) Ich fordere, dass die Bund-Länder-Gespräche zügig beendet werden, damit die teils sehr hochbetagten Damen zum Beispiel oder auch andere Betroffene diese Anerkennung noch erleben dürfen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Höhn?

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Weiler, auch wenn einige jetzt zum Zug wollen; es geht ja um wichtige Dinge. – Sie haben das Bundesland Thüringen erwähnt und jetzt ja noch mal große Worte zu dem Fonds gefunden, den Sie planen. Ich will mal darauf hinweisen: Zumindest nach meinem Kenntnisstand ist es ja nun bei Weitem nicht so, dass allein das Bundesland Thüringen bisher nicht bereit ist, auf Ihre Vorschläge einzugehen. Das sollten Sie der Fairness halber zugeben. Es geht ja um zwei Dinge – und da hätte ich jetzt gerne einmal eine klare Auskunft von Ihnen –: Erstens. Wer bezahlt? In welchem Verhältnis? Wer trägt welche Anteile bei den Gruppen, über die wir bei diesem Fonds reden? Und die zweite, entscheidende Frage ist: Über welche Summe reden wir eigentlich? Bisher reden wir über ein X. Dann sagen Sie doch einmal den Betroffenen – Sie haben sie alle wieder aufgezählt –, die jenseits der Grundsicherungslinie sind und von Ihrem Vorschlag sowieso überhaupt nicht profitieren würden, eine Zahl. Wir reden hier darüber, die Ansprüche real anzuerkennen, Sie reden über eine Entschädigung. Aber dann will ich von Ihnen auch einmal eine Zahl hören. Wie hoch soll die Entschädigung denn sein? Was ist denn angemessen aus Ihrer Sicht? ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Angemessenheit ist immer sichtbedingt. Der eine sagt, 50 000 sind angemessen, der andere sagt, 2 000 sind angemessen. Darüber wird noch mit den Betroffenen diskutiert. ({0}) – Ich meine, dass 50 000 nicht machbar sind und 2 000 zu wenig sind. Dementsprechend wird sich irgendwo ein Mittelweg finden, und dieser muss mit den Ländern besprochen werden. Ich wünsche mir, dass da gerade mein Bundesland, das ja jetzt unter linker Regierung steht – und dieser Antrag kommt ja nun auch von den Linken –, vorangeht und sagt: Wir sind bereit, eine Summe X pro Person zu zahlen. – Da höre ich gar nichts. ({1}) Also, diese Frage richten Sie bitte an Ihren Ministerpräsidenten. Es würde mich sehr interessieren, da auch eine Antwort zu bekommen. ({2}) Wie gesagt, 2 000 sind mir zu wenig und 50 000 werden nicht machbar sein. ({3}) Ich gebe Ihnen als Linke den Rat, sich endlich einmal konstruktiv einzubringen, damit dieses Thema bald ein Ende findet und die betroffenen Menschen das auch noch erleben können. Motivieren Sie Bodo Ramelow, überzeugen Sie ihn, sich an der Finanzierung zu beteiligen, ({4}) damit wir endlich eine Bund-Länder-Lösung herbeiführen können.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann können wir auch hier den Menschen helfen. ({0}) Ich bedanke mich bei Ihnen allen, die zugehört haben, und auch bei denen, die geschrien haben, und wünsche Ihnen gemeinsam ein schönes Wochenende! Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Weiler. – Das Wort geht an Jürgen Pohl von der AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn ich Ihr Niveau erreiche, dann sind wir tiefer. Sehr geehrte Präsidentin! Verehrte Kollegen! Werte Arbeitnehmer! Werte Rentner im Land! Liebe Brückenfrauen! Werte Reichsbahner! Wir sind heute zusammengekommen, um uns mit dem Thema Rentenüberleitung im Zuge der Wiedervereinigung und der bis heute daraus resultierenden Probleme zu beschäftigen. Das ist ein hochrelevantes Thema und längst überfällig; denn es geht um nichts weniger als die Wertschätzung der Lebensleistung von Ostdeutschen und deren Rentenbiografien. Es ist schlichtweg ein Skandal, dass eine Debatte zum Thema Ostrenten immer noch eine Debatte sein muss zum Thema Missachtung, Benachteiligung und Altersarmut. Die Probleme sind genauso lange bekannt, wie sie ignoriert werden. So wurden im Zuge der Wiedervereinigung Rentenansprüche, die dem westdeutschen System fremd waren oder als für Ostdeutsche zu opulent galten, einfach gekürzt oder gestrichen. Sonder- und Zusatzversorgungssysteme wurden schändlich geschliffen. Und dies, obwohl jahrelang Beiträge bezahlt wurden. ({0}) Ich hatte in der letzten Diskussion zu diesem Thema bereits darauf hingewiesen – und ich wurde dafür massiv verlacht, auch von den Linken –: Warum bezieht ein Eisenbahner im Westen seine Zusatzversorgung und ein Eisenbahner im Osten nicht? Warum wurde sie dem Ostbahner gestrichen? Sind die Bergleute in der Braunkohleveredelung, die Postbeschäftigten, die Intelligenzler, die Ärzte aus dem Osten weniger wert? Warum sind die geschiedenen Frauen aus der DDR immer noch das fünfte Rad am Wagen? Der im Koalitionsvertrag verankerte Härtefallfonds für die DDR-Zusatzrenten liegt nun endlich im Entwurf vor. Aber er kommt zu spät, er berücksichtigt nicht alle Personengruppen und setzt unverhältnismäßig hohe Hürden für den Bezug. Auf diese Art wird keine Gerechtigkeit geschaffen. Das Ganze ist eine rentenpolitische Bankrotterklärung der Bundesregierung. Damit sollten die Ostdeutschen sich nicht zufriedengeben, sie sollten am Wahltag genau darauf achten, welche Partei sie seit dreißig Jahren hinhalten und welche Partei sie mit einem mickrigen Fonds abspeisen will. ({1}) – Ja, Herr Birkwald, jetzt komme ich zu Ihnen als Vertreter der radikalen Linken. ({2}) Tun Sie doch bitte nicht so, als wären Sie der einzige Anwalt für die Rentenüberleitungsgeschädigten; das sind Sie nämlich mitnichten. Wir, die AfD, als Partei der Arbeitnehmer und Rentner, sind seit der ersten Stunde unseres politischen Wirkens die Kümmerer im Bereich des Rentenunrechtes, ({3}) und deshalb bekämpfen Sie uns so vehement. Ich erinnere, Herr Kollege Birkwald, nur an den Antrag „Ostdeutsche Arbeitnehmer würdigen – Fondslösung mit Einmalzahlungen“, Drucksache 19/14073, den meine Fraktion bereits im Oktober 2019, also mit dem Beginn ihres politischen Wirkens hier, eingebracht hat. Und was hat die PDS/Linke usw. usf. gemacht? Sie haben die Ostdeutschen ausgelacht, als wir einen fundierten Antrag gestellt haben. ({4}) Meine Freunde von den Linken, täuschen Sie sich nicht! Die Menschen in Ostdeutschland lassen sich von Ihren billigen Wahlkampfmanövern nicht hinter die Fichte führen. ({5}) Einzig das Rentenkonzept der AfD, verankert in unserem Programm, ({6}) verspricht Wertschätzung für die Lebensleistung, insbesondere für in der DDR erworbene Rentenanwartschaften, und eine wirkliche Alternative zu den westdeutschen Überführungslücken und der daraus resultierenden Altersarmut. Ich bedanke mich bei Ihnen. Ich wünsche kein gutes Wochenende. Nehmen Sie doch einfach mal das Thema mit und überlegen Sie, wie Sie den Ostdeutschen entgegenkommen können. Danke schön. ({7}) – Habe ich gelesen. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Pohl. – Das Wort hat Daniela Kolbe von der SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dieses Thema ist ein guter Abschluss für eine solch gute Sitzungswoche. ({0}) Insofern Danke für das Aufsetzen des Themas! Ich erinnere mich noch an diese Anträge, bei denen über jede Rentengruppe einzeln abgestimmt worden ist und für jede Rentengruppe einzeln rentenrechtlich die 100‑Prozent-Forderung gestellt worden ist. Ich finde das, was Die Linke jetzt vorgelegt hat, ist deutlich besser. Es wird eine Lösung angestrebt. Auch wenn wir die vorgeschlagene Lösung in dem Umfang nicht mittragen wollen, finde ich, ist das erst einmal ein Schritt nach vorne. Ich will an dieser Stelle noch einmal würdigen, was die Betroffenengruppen seit einigen Jahren machen. Sie haben sich zusammengesetzt, zusammengeschlossen, angefangen, miteinander darüber zu sprechen, mit was für einer Lösung sie nach so langem Kampf vielleicht zufrieden sein könnten. Sie haben damit den Weg frei gemacht, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Diese Gespräche haben in den letzten Jahren stattgefunden. Ich habe sie als sehr gut empfunden, auch weil die Ministeriumsseite, auch weil die politische Ebene viel gesprächsbereiter war. Man ist aufeinander zugegangen. Das hat auch schon ein bisschen etwas geheilt. An manchen Stellen hat es aber auch die Unterschiede sehr deutlich gemacht. Diese Unterschiede möchte ich nicht wegreden: die Unterschiede zwischen dem, was die Betroffenengruppen sich vorstellen, und dem, was die politischen Akteure für machbar halten, was politisch vereinbart ist. Es gibt – deswegen bin ich besonders dankbar für den Antrag – jetzt heute die Gelegenheit, hier einmal über das zu sprechen, was gerade im Schwange ist, und dafür zu sorgen, dass die Informationen an der Stelle fließen. Ich möchte dem BMAS danken, dass es sich in einem zwei Jahre dauernden Prozess mit den Bundesländern abgestimmt – mit den ostdeutschen Bundesländern, insbesondere mit Thüringen und Berlin, die im Staatssekretärsausschuss mit vertreten waren – und dort ein Papier erarbeitet hat, auch wenn, damit Thüringen und Berlin zum Schluss mit an Bord sein konnten, manches im Vagen geblieben ist. Ich höre ja immer Kritik, dass da an mehreren Stellen der Buchstabe X drinsteht. Das hat den Grund, dass sich manche Bundesländer durchaus mehr wünschen. Insofern spiegele ich das, gebe ich das auch ein bisschen als Aufgabe zurück. Dann hat das BMAS in einem Eckpunktepapier erarbeitet – mit den anderen Ministerien abgestimmt –, wie man so einen Härtefallfonds im Koalitionsvertrag verankern könnte. Dieses hat es jetzt an die Länder gegeben, mit der Bitte um Prüfung und um Rückmeldung – auch noch einmal um Prüfung, um wie viele Personen es sich hier handelt. Dieses Eckpunktepapier orientiert sich am Koalitionsvertrag, geht aber durchaus auch darüber hinaus. Es geht nicht nur um Menschen, die in der Grundsicherung sind, also Grundsicherung beziehen, sondern auch um Menschen, die generell sehr niedrigere Renten bzw. Alterseinkünfte haben, bei denen also beides zusammenkommt: Sie haben in der Rentenüberleitung einer Gruppe angehört, der Nachteile entstanden sind, die als extrem harte Ungerechtigkeiten wahrgenommen worden sind, und die gleichzeitig jetzt mit sehr niedrigen Renten dasteht. Was heißt das? Das heißt, dass wir, was diesen Passus im Koalitionsvertrag angeht, eigentlich auf der Zielgeraden sind. ({1}) Viele hätten gar nicht gedacht, dass wir da überhaupt hinkommen. – Ich bekomme jetzt tatsächlich von vielen Betroffenen Rückmeldungen: Oh, das ist uns zu wenig. – Ich bekomme aber von vielen auch die Rückmeldung: Hoppla, das hätten wir jetzt nicht gedacht, und wir finden es gut, dass sich hier jetzt endlich mal etwas bewegt. ({2}) Ich bin zuversichtlich, dass wir hier nach langen Jahren der unnachgiebigen Bemühungen – vor allen Dingen der Betroffenen – hoffentlich in wenigen Monaten eine Lösung haben und den Härtefallfonds auf den Weg bringen. Das Bundesministerium sieht dafür im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung die Einrichtung einer Stiftung vor, und auch die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler sowie die jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer sollen, wie im Koalitionsvertrag angelegt, von dieser Regelung profitieren. Die Stiftung soll dann Anträge einsammeln, sie bearbeiten und die Einmalzahlung – „xxx“ steht noch in dem Papier – auszahlen. ({3}) Nach Vorstellung des Bundes soll der Fonds zu gleichen Teilen – und jetzt kommen wir zu einem Knackpunkt – mit Bundes- und Landesmitteln ausgestattet werden. Das heißt, der Ball liegt bei den Ländern. Die Hälfte gibt der Bund, die andere Hälfte geben die Länder – wie viel auch immer. Damit kann man dann den Fonds ausstatten. Deswegen kann ich jetzt hier vor allen Dingen auch an die Länder appellieren, eine möglichst umfassende Lösung – und ich bin für eine umfassende Lösung – möglich zu machen. Man hat ja noch Stellschrauben – insbesondere über die Definition der Gruppen, die profitieren sollen, über die Einkommenshöhe, bis zu der die Menschen profitieren sollen, und natürlich über die Höhe der Einmalzahlung. Darüber kann man steuern, wie viele profitieren, wie stark sie profitieren und damit natürlich auch, wie die Lösung empfunden wird. Hat sie eine heilende Wirkung, oder wird sie als null und nichtig empfunden? Und das entscheidet sich natürlich am Geld. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich habe Thüringen und Berlin angesprochen. Sie sind in zwei ostdeutschen Landesregierungen vertreten. Anstatt uns hier zu sagen, wir müssten alles hier klären, würde ich Sie bitten, auch mit Ihren Landesvertretern zu sprechen, damit wir aus diesem Fonds etwas Gutes machen, der möglichst vielen Betroffenen hilft. Ich möchte Ihnen den Ball insofern zuspielen und da auch weiterhin gute Verhandlungen und Gespräche anbieten, als es hier jetzt wirklich darum geht, dass wir alle beweisen: Wie stehen wir dazu? Wollen wir, dass Betroffene hier profitieren? Oder sagen wir: „Im Zweifel lassen wir das jetzt mal, das ist uns nicht genug; uns ist egal, was mit den in der DDR geschiedenen Frauen, vielleicht mit den Balletttänzerinnen und Balletttänzern und anderen – Krankenhausmitarbeitenden, zum Beispiel – wird“? – Da müssen Sie in den nächsten Monaten wirklich Farbe bekennen. ({5}) Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir in dieser Legislatur noch etwas zustande bringen. Ich zumindest vermag nicht abzuschätzen, inwiefern andere Konstellationen sich das Thema noch mal greifen und sagen: „Wir machen es jetzt so toll, wie Sie sich das vorstellen“, sodass das dann auch realisierbar ist. Das sage ich auch im Bewusstsein der Schwächen eines Härtefallfonds. Im SPD-Wahlprogramm stand ein Gerechtigkeitsfonds aus guten Gründen drin, weil der bei den Betroffenen natürlich deutlich besser angekommen wäre. Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch mal an die betroffenen Gruppen wenden. Das ist ein Thema, das mich seit vielen Jahren beschäftigt – vielleicht am intensivsten –, weil ich mit ganz vielen Betroffenen intensiven Kontakt habe. Ich habe ganz viele Lebensgeschichten kennengelernt, und mein Respekt vor diesen Menschen ist massiv gewachsen. Was ich noch mal zurückspielen will, ist: Ich weiß, dass viele sehr unzufrieden sind. Aber was ich hier im Haus erlebe, ist, dass das Gefühl und der Respekt gegenüber diesen Menschen gewachsen ist, und das liegt daran, dass sich so viele Menschen für das Thema eingesetzt haben, dass sie sich für ihr eigenes Thema eingesetzt haben, dass sie gesprächsbereit geworden sind.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit diesem Fonds werden wir hoffentlich dazu beitragen, dass dieser Respekt auch noch mal deutlicher wird und dass vor allen Dingen viele Menschen aus diesen Gruppen mit sehr wenig Einkommen wirklich noch mal etwas Manifestes auf dem Konto haben. Das haben sie auf jeden Fall verdient. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Kolbe. – Das Wort geht an die FDP-Fraktion, zum Redner Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, bevor ich etwas zur Schwierigkeit der Rentenüberleitung und zu tatsächlichen sozialen Härten sage, möchte ich doch auf die sehr unangemessene Art und Weise eingehen, in der Sie diesen Antrag formuliert haben. Sie assoziieren die deutsche Einheit mit – Zitat – „viel Verzweiflung und Wut“. Das darf doch nicht Ihr Ernst sein! Die deutsche Einheit haben sich die Bürgerinnen und Bürger in der DDR unter großem persönlichen Risiko erkämpft; sie haben sie angestrebt und erreicht. Und die Bürgerinnen und Bürger auf der Seite der Bundesrepublik haben sich darüber gefreut. Das ist geschichtlich insgesamt etwas, wofür wir dankbar sein müssen. Das mit solchen Worten abzukanzeln, ist der Geschichte nicht würdig. ({0}) Auch dass Sie den Müttern und Vätern der Einheit, den Vorgängerinnen und Vorgängern im Bundestag beispielsweise – Zitat – „Ignoranz und moralisch begründete Willkür“, was immer das auch sein mag, vorwerfen, halte ich, ganz ehrlich, für unerträglich und der Sache völlig unangemessen. ({1}) Der Bundestag hatte seinerzeit eine geschichtlich historische Aufgabe, nämlich, ein bankrottes sozialistisches System in einen modernen, leistungsfähigen Sozialstaat hinüberzuretten. Das war eine große Aufbauleistung – gerade hinsichtlich des Rentenversicherungssystems. Es ist für die Allerallermeisten auch wirklich gut gelungen und hat zu sehr viel Gerechtigkeit geführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich diese Aussetzer gespart hätten, dann könnten wir hier vonseiten der Opposition zumindest mal einmütig feststellen, dass es durch das System der Überleitung natürlich soziale Härten gegeben hat. Das stellt auch überhaupt niemand hier im Hause infrage. ({2}) Auch die Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag ja schon angekündigt, dass sie das Thema wirklich angehen will. Das ist ja auch richtig. ({3}) Jetzt dauert es leider viel zu lange, aber mit etwas Glück und gutem – vielleicht sogar bestem – Willen der Regierungskoalition ist es vielleicht wirklich zu schaffen, dass so ein Härtefallfonds jetzt auf den Weg kommt. Dann wäre vielen tatsächlich geholfen. Ich kann nur sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und SPD, fassen Sie sich ein Herz! Gewinnen Sie die Länder zur Zustimmung! Wenn das nicht gelingt, dann machen Sie es selber! Denn es braucht jetzt endlich eine Lösung. Alles andere wäre vollkommen unglaubwürdig. Darum bitte ich Sie an diesem Freitagnachmittag, am Ende dieser Legislaturperiode. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Kober. – Das Wort geht an Kollegen Markus Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Höhn, was mich wirklich besonders stört, ist die Art und Weise, wie Sie in diesen Debatten – die führen wir jetzt ja nicht zum ersten Mal – auf der einen Seite Ostdeutsche als Opfer, als Hinters-Licht-Geführte, darstellen und auf der anderen Seite mit Worten wie „Unkenntnis“ und „Ignoranz“ einen Pauschalvorwurf – zumindest mittelbar – an Westdeutschland richten. Das finde ich wirklich unangemessen, und das ärgert mich auch tatsächlich. ({0}) Das wird der ganzen Sache auch nicht gerecht; denn Sie sprechen in Ihrem Antrag doch selbst davon, dass es sich um Rentenleistungen handelt, die dem westdeutschen Recht, dem damaligen bundesrepublikanischen Recht, unbekannt waren. Wenn man Unkenntnis und Ignoranz in der Geschichte sucht, dann vielleicht am ehesten – ich sage das ohne Häme; aber es war durchaus so – bei der Regierung De Maizière, der letzten demokratisch gewählten Regierung der DDR, die nämlich das Verfahren des Beitritts zum Bundesgebiet West gewählt hat und nicht die Aushandlung eines neuen Einigungsvertrags. ({1}) Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland war der Weg, dass nämlich das DDR-Recht in seiner Gänze – dazu zählt auch das Rentenrecht – untergeht, bereits vorgezeichnet. Da ist die Wurzel des Übels. – Das ist jetzt nur einmal eine Analyse. ({2}) Wir sagen gleichwohl als Bündnis 90/Die Grünen schon seit vielen Jahren: Wir müssen uns das trotzdem noch mal genau angucken. Denn es gibt eine ganze Reihe von diesen sogenannten Zusatzrenten, die de facto auch eine Entschädigung für zum Beispiel besonders harte und gesundheitsschädliche Arbeit war, wie für die Braunkohlenveredler in Espenhain. Das waren Zusatzrenten, die Entschädigungscharakter für besonders starken Verschleiß, zum Beispiel bei Balletttänzerinnen und Balletttänzern, hatten. Dann haben wir als Grüne eine ganze Reihe von diesen Gruppen identifiziert, haben sie sozusagen auch von politischen Zusatzrenten, die ja auch gezahlt wurden, getrennt und gesagt: Für diese Gruppen brauchen wir eine besondere Lösung. Wir fordern ebenfalls schon seit vielen Jahren einen Härtefallfonds, und es ist jetzt reichlich spät, dass der auf den Weg gebracht wird. Ich hoffe, dass das langsam mal losgeht. ({3}) Ich will aber nicht verhehlen, dass die Summen, die jetzt beim Härtefallfonds in Rede stehen, kläglich niedrig sind und nicht dazu führen werden, dass ein subjektiv empfundenes Unrecht oder auch eine objektive Härtelage als gelöst empfunden werden, sondern wahrscheinlich viele eher noch mal zusätzlich verärgern könnten. Ich werde daher auch auf unsere Sozialministerien einwirken und mit unseren grünen Sozialministern und ‑ministerinnen reden. Ich hoffe, dass wir da noch mal aufstocken und diesen Unfrieden, der seit vielen Jahren besteht, endlich einem wenigstens halbwegs guten Ende zuführen. Danke schön. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Kurth. – Zum Schluss der Debatte geht das Wort an die CDU/CSU-Fraktion, und es spricht Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man eine solche Debatte führt, muss, finde ich, am Anfang stehen, dass wir mit der Rentenüberleitung Ost-West die Renten der Rentnerinnen und Rentner der DDR, die in der Tat ein völlig anderes System kannten als wir im Westen, in das gesamtdeutsche Rentensystem so überführt haben, dass es eine deutliche Verbesserung ihrer Renten erbracht hat. Hätte man eins zu eins umgestellt – das hätte man ja auch vorschlagen können –, dann hätten sie zum Teil nicht mal 50 Prozent einer Westrente gehabt. Das heißt, sie würden heute alle in Altersarmut leben. Dass wir es so eben nicht gemacht haben, hat die Rentnerinnen und Rentner – das muss man einfach mal objektiv feststellen – zu den eigentlichen Gewinnern der deutschen Einheit gemacht. ({0}) Wenn man fragt, wer das finanziert hat, dann lautet die Antwort: Es ist eine Solidarleistung der deutschen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ohnegleichen. – Sie haben es finanziell gestemmt. Dafür gehört den deutschen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern noch heute ein herzliches Dankeschön gesagt. ({1}) Ein weiterer Punkt ist – sensibles Thema – der Rentenwert. Man ging mit dem Mechanismus, den man gefunden hatte, davon aus, dass der Rentenwert Ost sich relativ schnell angleicht. Das traf auf die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung auch zu. ({2}) Dann hat man festgestellt: Es kommt ins Stocken. – Deswegen haben wir als Große Koalition ein Gesetz gemacht, in dem wir die Schritte zur Angleichung festgelegt haben. 2024 werden wir dann ein gemeinsames Rentenrecht Ost-West mit gleichem Rentenwert erreicht haben. Auch das ist ein großartiger Erfolg. ({3}) Nun ist es in der Tat so, dass es verschiedene Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern in den östlichen Bundesländern gibt, die natürlich sagen: In meinem alten System hatte ich doch eine Zusatzleistung. Wo ist die geblieben, wenn es eine Einheitsleistung gibt? – Frau Kollegin Kolbe und der Kollege Weiler haben ja schon ausführlich geschildert, wie viele Gespräche in den vergangenen Jahren mit den betroffenen Gruppen geführt worden sind. Ich will einfach mal zum Abschluss dieser Gespräche etwas sagen: Ich kann mich sehr gut an ein Gespräch erinnern, das ich zusammen mit Kollegin Daniela Kolbe mit den betroffenen Gruppen geführt habe. Wir sind die gesamte Problematik des Rentenrechts rauf und runter durchgegangen, und am Ende haben die Vertreter der betroffenen Gruppen selber gesagt: Wir sehen, dass man das, was uns beschwert, im Rentenrecht nicht lösen kann, sondern dass man das in einer Sonderlösung außerhalb des Rentenrechts machen muss. – So ist die Idee des Härtefallfonds entstanden. Ob er nun „Gerechtigkeitsfonds“ oder „Härtefallfonds“ heißt, ist lediglich eine Namensfrage. Ich bin der Bundesregierung und vor allem auch dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales dankbar, dass sie mittlerweile ein Konzept für einen Härtefallfonds ausgearbeitet haben, der auf dem Tisch liegt, und dass sie die Bundesländer zu Gesprächen über die Ausgestaltung und die Höhe, aber vor allem über die entscheidende Frage der 50-prozentigen Mitwirkung durch die Bundesländer eingeladen haben. Das heißt, wir sind beim Vollzug. Jetzt habe ich überlegt: Warum haben die Linken heute diese Debatte beantragt? Ich habe ehrlich gedacht, Die Linke beantragt die Debatte, um heute hier im Hohen Hause mitzuteilen, dass die Landesregierungen, an denen sie beteiligt sind – in Thüringen mit einem Ministerpräsidenten und hier in Berlin –, beschlossen haben, dass sie als Länder Berlin und Thüringen definitiv zusagen, sich an diesem Fonds zu beteiligen. Das habe ich gedacht. ({4}) – Ja, das liegt ja auf dem Tisch. ({5}) – Entschuldigung, dazu haben doch die Besprechungen mit den Ländern stattgefunden. Es liegt doch schriftlich auf dem Tisch. ({6}) Ich muss schon sagen: Es ist eine massive Enttäuschung, dass Die Linke eine solche Debatte beantragt, aber da, wo sie handeln kann, nichts, aber auch gar nichts liefert. ({7}) Was Sie heute beantragt haben, ist doch ein Schlag ins Gesicht der Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands. Sie stellen sich hierhin und sagen: Wir vertreten eure Interessen. – Aber Sie liefern null und nichts, da wo Sie liefern könnten. ({8}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Angebot des Fonds liegt auf dem Tisch. Jetzt geht es darum, zu springen, Ja oder Nein zu sagen. Ich bin gespannt auf die Antworten, die wir bekommen. Ich freue mich, wenn wir zum Schluss der Legislaturperiode dieses Projekt noch gestemmt bekommen. Vielen Dank. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollege Weiß. – Ich schließe die Aussprache.