Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/25/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Üblicherweise beschäftigt sich der Europäische Rat im März immer mit der wirtschaftlichen Entwicklung und Lage in Europa. Das wird er auch in diesem Jahr tun. Aber genauso wie beim Europäischen Rat im März vergangenen Jahres, als Europa am Beginn einer weltumspannenden Pandemie stand, deren Wucht uns damals allen völlig neu war, eine Pandemie von ungeahntem Ausmaß, zeigt die Tatsache, dass wir wieder in digitalem Format tagen werden, dass die Pandemie leider bei Weitem noch nicht überwunden ist. Die Fallzahlen steigen europaweit wieder rapide an. Ich ermuntere durchaus alle, einmal zu schauen, was in unseren Nachbarländern so los ist, wenn wir über die Lage bei uns debattieren. Das zeigt, dass wir hier kein spezielles deutsches Phänomen beobachten, ({0}) sondern dass wir doch sehr ähnliche Entwicklungen in ganz Europa haben. Die Zahlen steigen also europaweit wieder rapide an. Mehr als eine halbe Million Menschen haben in der Europäischen Union bislang ihr Leben verloren, und der wirtschaftliche Schaden ist immens. Ich will daran erinnern – das ist nicht ganz so weit zurück in der Geschichte –, dass wir heute vor 14 Jahren, am 25. März 2007, in Berlin, auch unter deutscher Ratspräsidentschaft, im Zeughaus die Erklärung unterschrieben haben, die dann zum Lissabonner Vertrag geführt hat, und damals bekannt haben, dass wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu unserem Glück vereint sind. Bei allen Beschwerlichkeiten glaube ich, dass sich in der Pandemie wieder gezeigt hat, dass es gut ist, dass wir diese Europäische Union haben; denn wenn wir uns die protektionistischen Tendenzen und die Weltlage betrachten, dann, glaube ich, war es richtig, dass wir in der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 die Weichen gestellt haben für wichtige gemeinsame europäische Vorgehensweisen. ({1}) Das gilt erstens ganz besonders auch für die wirtschaftliche Lage. Der europäische Resilienzfonds, der Europäische Aufbaufonds, ist ein nie dagewesener Fonds. Damit stellen die Mitgliedstaaten die Weichen für ein digitales, klimafreundliches und damit auch krisenfestes zukünftiges europäisches Wachstum. Hier im Deutschen Bundestag steht heute die wichtige Entscheidung über die Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses an. Es wird noch einmal deutlich gesagt werden: Dieser Aufbaufonds ist ein einmaliges, zeitlich und dem Zweck nach eng begrenztes Instrument. Aber es ist ein, wie ich finde, unabdingbarer Beitrag dazu, die Pandemie gemeinsam bewältigen zu können. Deshalb bitte ich Sie für dieses zentrale Vorhaben auch um Ihre Unterstützung. ({2}) Wir verhandeln in diesen Tagen mit der Kommission über die letzten Aspekte unseres nationalen Programms, das wir noch im April im Kabinett verabschieden werden. Ein zweiter Baustein. Wir haben natürlich auch in Europa große Fortschritte gemacht bei der Pandemiebekämpfung selbst. Europäische Forscherinnen und Forscher haben in Rekordzeit Impfstoffe gegen Covid-19-Erreger entwickelt. Wir wissen bei allem, was noch zu tun ist, dass schon heute Millionen Bürgerinnen und Bürger, vor allen Dingen auch ältere, vor schweren Krankheitsverläufen geschützt werden können. Dass die Gründer von BioNTech, Frau Türeci und Herr Sahin, vom Bundespräsidenten gerade mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, erfüllt uns natürlich mit Freude; denn Deutschland hat zu dieser Impfstoffentwicklung einen wichtigen Beitrag geleistet. ({3}) Bei allen Beschwernissen: Es war richtig, auf die gemeinsame Beschaffung und Zulassung von Impfstoffen durch die Europäische Union zu setzen. ({4}) Wenn man jetzt sieht, dass selbst bei kleinen Unterschieden in den Verteilungen große Diskussionen ausbrechen, möchte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie es wäre, wenn einige Mitgliedstaaten Impfstoffe hätten und andere nicht. Das würde den Binnenmarkt in seinen Grundfesten erschüttern. ({5}) Deshalb glaube ich, dass wir die Grundlagen gelegt haben, um die größte Bewährungsprobe der Europäischen Union auch gut zu bestehen. Aber: Es ist noch viel zu tun, und es gehört zu den Wahrheiten, dass diese Pandemie uns auch gezeigt hat, dass wir sozusagen schonungslos analysieren müssen, wo unsere Schwächen liegen. Das wird uns auch auf diesem Europäischen Rat beschäftigen; denn es wird um die Digitalisierung gehen – neben der Beschäftigung mit der Türkei und der Bekämpfung der Pandemie. Wir wissen, dass Europa in der Krise weder erstarren noch verharren darf, sondern dass wir die Herausforderungen annehmen müssen. Da ist der digitale Wandel von zentraler Bedeutung; auch für Deutschland haben wir hier unsere Schwächen erkannt. Wir haben in einem gemeinsamen Brief mit den Ministerpräsidentinnen von Dänemark, Finnland und Estland einen eindringlichen Appell an die Kommission verfasst, dem sich inzwischen viele weitere EU-Staaten angeschlossen haben, dass Europa seine digitale Souveränität entschlossen umsetzt. Es geht hier ums Tempo. Es geht nicht nur um das Wie, sondern es geht auch um das Wann. Dabei bedeutet „digitale Souveränität“ nicht, dass wir alles alleine machen werden. Aber es bedeutet, dass Europa als Teil einer globalisierten Welt in einem freien und regelbasierten Markt seine Fähigkeiten und Kapazitäten zusammen mit seinen Partnern ausbauen muss und dass wir Antworten geben müssen auf die Frage: Wo müssen wir besser werden? Wo sind wir heute schon gut? Wo bestehen risikoreiche Abhängigkeiten, und wo wollen wir als letzte Option auch eigene europäische Kapazitäten aufbauen, um resilient zu sein? Gerade im Bereich der Impfstoffe ist das ein Punkt, aber eben auch im Bereich der digitalen Souveränität. Jetzt müssen Vorschläge erarbeitet werden, die das gesamte Instrumentarium des Binnenmarktes ausschöpfen, und zwar aus der Perspektive unseres Verständnisses einer menschlichen Wirtschaftsordnung, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Es muss also um eine verantwortungsvolle und wertegeleitete europäische Digitalwirtschaft gehen, bei der wir sagen, wo wir eigene Akzente setzen wollen. Insofern erwarten wir von der Kommission Vorschläge für die digitalen Identitäten, einen europäischen Rechtsrahmen für die künstliche Intelligenz und auch ein Regelungswerk für Onlineplattformen, wobei wir davon ausgehen, dass wir hier auch globale Initiativen als Europäische Union ergreifen sollten; denn digitale Plattformen allein in Europa zu regulieren, wird nicht gehen. Meine Damen und Herren, wir haben dann als zweiten Punkt die Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei und die Lage im östlichen Mittelmeer. Sie wissen, ein Blick vor Europas Haustür – Nordafrika, Syrien, die Ukraine – zeigt, dass wir von vielzähligen Konfliktherden umgeben sind. Gleichzeitig wissen wir, dass das Gedeihen und der Wohlstand in der EU nur mit guten Beziehungen zu unserer Nachbarschaft auch außerhalb der Europäischen Union möglich sind. Das gilt in ganz besonderer Weise auch für das NATO-Mitglied Türkei in seinen vielschichtigen Beziehungen. Der Außenbeauftragte, Josep Borrell, hat hier einen umfassenden Bericht vorgelegt, der dieser Vielschichtigkeit der Beziehungen auch gerecht wird. Es ist erst mal eine gute Nachricht, dass die Türkei nach den provozierenden Aktivitäten in zyprischen und griechischen Gewässern in den letzten Monaten ein Zeichen der Deeskalation im östlichen Mittelmeerraum gesetzt hat und wieder in den Dialog mit Griechenland eingetreten ist. Auch die Fünf-plus-Eins-Gespräche unter der Ägide der Vereinten Nationen über die Zukunft Zyperns werden fortgesetzt. Im Europäischen Rat hatten wir vereinbart, dass wir im Fall einer Entspannung vonseiten der Türkei weitere Optionen für eine gemeinsame Zusammenarbeit anbieten. Jetzt werden wir auf diesem Rat diskutieren, wie wir auf diesem Weg weitergehen. Ich sage gleich vorweg: Das werden keine einfachen Gespräche; aber ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen. Die Türkei ist nicht nur NATO-Partner und Verbündeter, sondern als unser unmittelbarer Nachbar und als zweitbevölkerungsreichstes Land an der EU-Außengrenze natürlich auch von strategischer Wichtigkeit. Wir Deutschen haben ganz besonders enge Beziehungen zur Türkei, da in Deutschland viele türkischstämmige Menschen seit Generationen leben. Aber wir haben natürlich auf der anderen Seite auch die innenpolitische Situation in der Türkei in den Blick zu nehmen, und wir erwarten, dass die Türkei rechtsstaatliche Standards einhält, und das ist an vielen Stellen nicht der Fall; auch Menschenrechte werden in vielen Fällen nicht respektiert. Dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention des Europarates ausgetreten ist, ist ein sehr, sehr bedauerliches Zeichen. Wir hätten uns gewünscht, dass die Türkei hier Mitglied bleibt. ({6}) Aber: Ich denke, es ist auch richtig: Sprachlosigkeit in den Beziehungen zur Türkei hilft uns nicht weiter. Deshalb wollen wir darüber beraten, wie wir hochrangige Dialoge zwischen der Europäischen Union und der Türkei wieder aufnehmen können. Wir haben gemeinsame Interessen. Die besondere Herausforderung der Migration gehört hier dazu. Diese können wir nur gemeinsam mit der Türkei lösen. Die vor fast genau fünf Jahren vereinbarte EU-Türkei-Erklärung ist genau die Grundlage dafür, die weiterentwickelt werden muss. Ich weiß, dass es viel Kritik an dieser Erklärung gibt. Aber trotz aller Kritik können wir feststellen, dass auf diesem Wege viel Gutes erreicht wurde. Es ist uns gelungen, das menschenverachtende Geschäft der Schleuser wirksam zu bekämpfen. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte nach Griechenland ist zurückgegangen, und das Gleiche gilt auch für die Zahl der Todesopfer in der Ägäis. Dank der Unterstützung durch die Europäische Union können 660 000 syrische Flüchtlingskinder in der Türkei zur Schule gehen. Über 14 Millionen Arztbesuche konnten durchgeführt werden. Über 1,8 Millionen Menschen haben in einer sehr schwierigen Zeit zusätzliche Unterstützung für ihren Lebensunterhalt bekommen. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass die EU-Gelder über die Arbeit der verschiedenen Projekte und Organisationen vor Ort den Bedürftigen zugutekommen. Der Einsatz der Gelder wird in der EU überprüft. Ich meine, das sind im Namen der Mitmenschlichkeit gut angelegte Mittel, und die Fortführung dieser Zusammenarbeit ist in beiderseitigem Interesse. ({7}) Die Türkei hat, Stand heute, 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen; das entspricht der Einwohnerzahl Berlins. Daher ist es mir wichtig, zu betonen, dass der Türkei für das Geleistete hohe Anerkennung gebührt. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir die EU-Türkei-Erklärung neu beleben und auch fortentwickeln. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich nun auf das dritte große und auch uns alle täglich beschäftigende Thema zu sprechen kommen: Europas Bewältigung der Pandemie. Wir werden uns über die nächsten Schritte bei der Entwicklung eines sogenannten digitalen grünen Zertifikats beraten, das bis zum Sommer vorliegen soll und mit dem es möglich sein soll, EU-weit zu dokumentieren, ob eine Person geimpft oder getestet wurde. Parallel dazu hat die Europäische Kommission ihre Arbeiten an der technischen Umsetzbarkeit aufgenommen, genauso die Nationalstaaten, Deutschland ja auch. Das ist keine leichte Aufgabe bei 27 Mitgliedstaaten und wird uns noch einige Wochen in Anspruch nehmen; denn wir werden ja sehr genau schauen müssen, welche Rechte mit diesem Zertifikat verbunden sind. Die technische Umsetzung ist relativ einfach; aber diese Frage ist natürlich von großer Wichtigkeit. Meine Damen und Herren, wir werden darüber sprechen, wie wir auch europaweit unabhängiger werden. Dazu gehört vor allen Dingen auch die Frage der Impfstoffproduktion. Die Kommission hat – das geht weit über die jetzigen Bestellungen hinaus – eine Taskforce eingesetzt, genauso wie wir national, um sicherzustellen, dass wir auch in Zukunft ausreichend Impfstoffe innerhalb der Europäischen Union bestellen können; denn das Problem bei der Impfstoffversorgung liegt im Augenblick weniger in der Frage, wie viel bestellt wurde, sondern in der Frage: Wie viel kann auf europäischem Grund im Augenblick gefertigt werden? Denn wir sehen ganz genau: Britische Fertigungsstätten fertigen für Großbritannien; die Vereinigten Staaten exportieren nicht. Deshalb sind wir auf das angewiesen, was in Europa produziert werden kann. Wir müssen davon ausgehen, dass dieses Virus uns noch lange mit seinen Mutationen beschäftigen kann. Das heißt, die Frage geht weit über dieses Jahr hinaus. Wir haben einen zweiten Punkt in den Blick zu nehmen, und deshalb können wir gar nicht genug Impfstoffe in Europa produzieren, nämlich die Versorgung in der Welt. Wenn uns die nicht gelingt, werden wir immer wieder mit Mutationen konfrontiert werden, die dann auch die Gefahr mit sich bringen, dass anschließend die Impfstoffe nicht mehr wirksam sind. Deshalb müssen wir uns darum kümmern. ({8}) Das bedeutet natürlich auch, dass wir hier bei uns zu Hause hart zu arbeiten haben. Heute vor einem Jahr lag die Zahl der Coronainfizierten in Deutschland nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bei 4 118 neuen Fällen; heute liegt sie bei 22 657. Die Inzidenz war damals 35, und es gab 35 neue Todesfälle. Heute ist die Inzidenz 113,3, und es gibt 228 neue Todesfälle. Über 75 000 Menschen sind inzwischen in Deutschland an Covid-19 gestorben. Schauen wir uns dieses Jahr noch einmal an: Nach einem scharfen Lockdown am Anfang der Pandemie liegt ein im Rückblick relativ leicht anmutender Sommer, darauf folgen steigende Werte im Herbst und dann in Stufen von Shutdowns immer wieder die Schließung vieler Einrichtungen und auch die Absenkung der Inzidenz. Jetzt sind wir, muss man sagen, in der dritten Welle und wieder im exponentiellen Wachstum. Viele Menschen fragen mit Recht: War nun alles umsonst? Geht das immer so weiter? Ich verstehe diese bange Frage vieler Betroffener: Eltern mit Schulkindern oder Kitakindern, Geschäftsinhaber und Restaurantbesitzer, Veranstaltungswirtschaft, Sportvereine und viele, viele mehr. Die Antwort kann ich aus voller Überzeugung geben: Nein, die Situation ist eine ganz andere als im letzten Jahr, auch wenn wir in der Weihnachtszeit einen schweren Rückschlag erfahren haben – dieser Rückschlag war nicht voraussehbar, als wir im November, Dezember die einschränkenden Maßnahmen ergriffen haben –: Das ist das Auftreten der britischen Mutation. Eine Mutation des alten, ursprünglichen Virus hat jetzt die Oberhand gewonnen. Wir leben im Grunde in einer neuen Pandemie. Wenn wir das alte Virus hätten, wäre die Wirkung des ursprünglichen Shutdowns heute so, dass wir überall und deutschlandweit bei einer Inzidenz deutlich unter 50 liegen würden. Das tun wir aber leider nicht, weil diese Mutation aggressiver, infektiöser und um einen ziemlich großen Betrag tödlicher ist. Das heißt, der R-Faktor ist wieder über 1 gestiegen, und wir sind wieder in der Phase des exponentiellen Wachstums. Was können wir jetzt tun, und was haben wir an anderen Instrumenten in der Hand, um mit neuen Möglichkeiten zu reagieren? Erstens. Wir haben gemeinsam mit den Ministerpräsidenten ein Öffnungskonzept am 3. März beschlossen, das ein viel höheres Maß an Regionalisierung enthält. Es sagt ganz deutlich, in welchen Regionen geöffnet werden kann. Wir sehen ja doch, dass einige Bundesländer – ich denke ans Saarland, ich denke an Schleswig-Holstein – diese Möglichkeiten auch richtig nutzen. Wir haben 9 Städte und Landkreise, die bei der Inzidenz unter 35 liegen, weitere 19 Städte und Landkreise unter 50, weitere 165 unter 100, und der Rest liegt darüber. Es wäre falsch, alle sozusagen mit einem Maßstab zu belegen. Das widerspiegelt auch unser Öffnungskonzept. Wir haben die Möglichkeit des Testens, und zwar in viel einfacherer Form, als uns sie mit den PCR-Tests heute vor einem Jahr zur Verfügung stand. Die Antigenschnelltests und vor allen Dingen die Selbsttests ermöglichen neues Herangehen. Wir haben deshalb eine Teststrategie beschlossen, die auf drei Säulen ruht. Einmal ruht sie auf den Bürgertestzentren, die inzwischen ziemlich flächendeckend in der gesamten Bundesrepublik Deutschland aufgebaut sind. Ich will an dieser Stelle einmal sagen: Wir sind ein föderaler Staat. Es ist keinem Oberbürgermeister und keinem Landrat verwehrt, das zu tun, was in Tübingen und Rostock getan wird. ({9}) Alle können das machen, und der Bund wird immer unterstützend tätig sein. Wir als Bund ermöglichen, Sie mit Ihren Beschlüssen ermöglichen, dass sich jeder Bürger mindestens einmal in der Woche testen lassen kann. Ich fordere und bitte alle Bürgerinnen und Bürger, das in dieser augenblicklichen Situation auch zu tun, wenn man sich zu Hause trifft, wenn man sich mit jemandem getroffen hat. Das ist ein wichtiges Mittel. Es ist kostenlos für jeden verfügbar und so, wie ich mir berichten lasse, auch organisatorisch sehr, sehr gut gemacht. Zweitens: Schulen und Kitas. Wir haben in einer Logistikplattform – ich habe darüber gestern mit den Ländern gesprochen – eine Test-Taskforce gebildet. Es sind Bestellungen von den Ländern für Kitas und Schulen aufgegeben worden. Es ist von allen Bundesländern gesagt worden: Es sind jetzt ausreichend Tests bestellt für die Monate März und April. – Nichtsdestotrotz habe ich gestern mit dem Bundesgesundheitsminister noch mal gesprochen und gesagt: Sichert euch Marktanteile für die Selbsttests, wenn irgendeine neue Situation entsteht, wenn jemand sagt: „Ich brauche doch noch mehr“! – Aber ich sage auch ganz offen: Für 40 000 Schulen und Tausende von Kitas kann der Bund nicht von Berlin aus die Testinfrastruktur vorhalten, sondern dafür haben wir eine föderale Ordnung. ({10}) Wenn uns jemand fragt: „Könnt ihr helfen?“, dann tun wir das gerne; die Bundeswehr hat schon an so vielen Stellen geholfen. Wir tun es gerne, aber wir können nicht alles organisatorisch umsetzen. Die dritte Säule ist der Arbeitsplatz. Wir wissen, dass auch hier viele Infektionen stattfinden. Deshalb haben wir eine Selbstverpflichtung mit der Wirtschaft abgemacht; aber die endet Ende März, Anfang April. Dann wollen wir ein klares Monitoring haben. Wir werden eigene Erhebungen machen. Wenn nicht der überwiegende Teil der deutschen Wirtschaft – und das sind nicht irgendwie 65 oder 70 Prozent, sondern es muss in die Richtung von 90 Prozent gehen – seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Tests anbietet, dann werden wir mit regulatorischen Maßnahmen in der Arbeitsschutzverordnung vorgehen. Das wird im Kabinett am 13. April entschieden werden, weil wir in der Woche nach Ostern den Status machen, und dann muss da Klarheit sein. ({11}) Ich sage allerdings auch: Die besten Testangebote nutzen nichts, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Wenn, wie ich aus Schulen, aus Betrieben höre, nur 30, 40 Prozent der Möglichkeiten genutzt werden, dann hilft uns das nicht. Testen ist die Brücke, bis wir die Impfwirkung sehen. Deshalb kann jeder Bürger und jede Bürgerin auch einen Beitrag dazu leisten, indem man von den Testangeboten Gebrauch macht. Je mehr wir testen, umso weniger müssen wir einschränken. Wir haben zusätzlich, um die Regionalisierung noch einmal zu unterstreichen, für jedes Bundesland vereinbart, dass jetzt Modellprojekte durchgeführt werden können. Die Kommunen können das tun, und die Bundesländer haben jetzt auch Vorschläge gemacht, in welcher Form das gemacht wird. Wir werden diese Versuche dann auswerten. Aber meine Einschätzung ist folgende: Solange die Infektionszahlen noch einigermaßen im Griff sind, meinetwegen die Inzidenz auch noch knapp über 100 liegt, kann man mit dem Testen noch sehr viel erreichen. Wenn man einmal sehr viel höher liegt, wenn man einmal in dem ganz steilen exponentiellen Anstieg ist, dann müssen eben doch wieder beschränkende Regeln eingeführt werden, und je stärker der Anstieg ist, umso mehr. Das heißt, wir können auf begrenzende Regeln im Augenblick noch nicht ganz verzichten. Deshalb haben wir neben der Notbremse, die wir in der Öffnungsstrategie ja miteinander vereinbart haben, auch ganz klar mit den Bundesländern gesagt: Es können zusätzliche Maßnahmen eingeführt werden. Hier gibt es gewaltige politische Unterschiede, was man für geeignet hält und was nicht; das gehört zur Vielfalt eines föderalen Systems dazu. Entscheidend ist ja auch nur die Wirkung. Ich kann weitere Kontaktbeschränkungen machen, wie Daniel Günther das in Flensburg gemacht hat, ich kann Ausgangsbeschränkungen machen, wie das Bayern und Baden-Württemberg in bestimmten Regionen gemacht haben, aber in bestimmten Situationen kann ich nicht nichts machen. Dann sehe ich zu, wie schrittweise die Überlastung des Gesundheitssystems wieder in den Blick kommt. Ich habe jetzt über die ganzen Möglichkeiten gesprochen, die wir haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn jetzt die Älteren, diejenigen in der ganz hohen Risikogruppe, nicht mehr so betroffen sind, weil sie geimpft und immunisiert sind, bedeuten hohe Fallzahlen letztendlich einen Anstieg der Auslastung von belegten Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern. Wenn bei der Frage, wie wir jetzt vorgehen, der Oster-Lockdown einzig und allein bei den Intensivmedizinern eine wirklich positive Resonanz gefunden hat, dann sehen Sie, wie groß die Sorge dort ist. Es werden jetzt nicht mehr 90-Jährige sein, die in den Krankenhäusern liegen; es werden 50-, 60- und 70-Jährige sein. Das sind Menschen mit sehr vielen Jahren an Lebenserwartung, und 10 Prozent von ihnen, so sagen uns die Experten, werden Langzeitfolgen von Corona davontragen. Das heißt, es lohnt sich, um jeden zu kämpfen, dass er die Infektion nicht bekommt. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe: mit möglichst viel Freiheit für jeden, mit möglichst viel Normalität für jeden, aber auch mit möglichst viel Rücksicht darauf, dass nicht noch Tausende von Menschen sterben müssen. Das muss das Ziel sein für die nächsten Wochen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist das Impfen der Weg aus der Krise. Und wir bekommen jetzt sukzessive mehr Impfstoffe. Ich sage ganz offen: Die Testzentren machen eine gute Arbeit. Aber wenn irgendwo Impftermine möglich wären und eine Dosis Impfstoff vorhanden ist und dieser Termin nicht vergeben wird, dann ist das nicht in Ordnung. Da müssen wir besser werden. Der Bund muss sagen, wo er besser wird, die Länder müssen sagen, wo sie besser werden, und die Kommunen müssen sagen, wo sie besser werden. Es reicht nicht, sich auf dem Vorhandenen auszuruhen. Wir brauchen die Impfzentren – da wird tolle Arbeit geleistet; das will ich ausdrücklich sagen –; aber da, wo man noch schneller und flexibler werden kann, muss man es auch werden. Wir werden ab der Woche nach Ostern auch die Hausärzte mit einbeziehen – 50 000 Praxen werden beliefert, mit aufsteigender Tendenz –, und im Mai werden wir dann auch über die Betriebsärzte reden. Wir werden alle brauchen, um die Impfstoffe zu verimpfen. Es wäre dramatisch, wenn uns das nicht gelingen würde. Deshalb widmen wir dem sehr viel Aufmerksamkeit. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Monate der Pandemie haben gravierende Schwachstellen im Funktionieren ({13}) unseres Gemeinschaftswesens offengelegt: ob das die Digitalisierung auf der Bundesebene betrifft oder die digitale Vernetzung der Gesundheitsämter; ich nenne das Stichwort SORMAS. Wir müssen als föderales System hier besser und schneller werden. ({14}) Das wissen wir, und daran wird auch gearbeitet. Da können Sie schreien und sonst was machen: Wir müssen etwas tun. Es nützt nichts, den ganzen Tag zu kritisieren. ({15}) Der Bund tut etwas. Wir haben mit viel Anstrengung jetzt erreicht, dass sich die allermeisten Bundesländer – viel zu spät – dem SORMAS-System anschließen. Wir haben eine Corona-Warn-App, über die hier in Deutschland grosso modo kein einziges positives Wort zu hören ist. Ich will nur darauf hinweisen: 17 europäische Länder arbeiten mit dieser Corona-Warn-App. Die deutsche Warn-App ist dort nicht als besonders unflexibel bekannt. In Finnland sind fast alle Bürgerinnen und Bürger dabei. Ich kann nur an die Bürgerinnen und Bürger gewandt appellieren: Nutzen Sie diese Corona-Warn-App! ({16}) Zurzeit herrscht vielleicht eine Stimmung, bei der wir nur das Kritische sehen. Deshalb möchte ich zum Ende meiner Rede auch sagen: Es gibt Millionen von Menschen, die sich jeden Tag gegen diese Pandemie stemmen und ihre Arbeit leisten, und zwar mit großem Einsatz. Das sind die Pflegerinnen, das sind die Ärzte, das sind die Lehrer, das sind die Eltern, das sind die Ehrenamtlichen, und das sind die Menschen in den Test- und Impfzentren. Viele sind beruflich neue Wege gegangen, mit schwerwiegenden Veränderungen in ihrem Leben. Ich weiß, wie schwer es viele haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann nichts erreichen, wenn man immer nur das Negative sieht. ({17}) Nicht umsonst hat Ludwig Erhard schon gesagt: Es ist entscheidend, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. – Und wenn es immer nur halb leer ist, dann werden wir als Land keine kreative Kraft entwickeln, um aus dieser Krise herauszukommen. ({18}) Ich sagen Ihnen: Mit dem Impfen haben wir die Möglichkeiten in der Hand. Es wird noch einige Monate dauern; aber das Licht am Ende des Tunnels ist sichtbar. Wir werden dieses Virus besiegen; ich bin ganz sicher, dass wir das schaffen werden. ({19}) Es geht jetzt darum, die Kraft zu bündeln und positiv nach vorne zu schauen, auch wenn die Situation im Augenblick schwierig ist. Das ist das, was ich mir wünsche von jedem und jeder in diesem Land. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war ein buntes Themenpotpourri, das uns die Bundeskanzlerin in einer eigentlich monothematischen Zeit vorsetzen wollte. Aber dann kam der Tag, an dem alles anders wurde. Ja, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich entschuldigt und die Verantwortung dafür auf sich genommen. Aber das, meine Damen und Herren, ist nur die halbe Wahrheit. 16 Ministerpräsidenten haben in einer Nachtsitzung offenbart, wie weit sie von den Stimmungen und Gefühlen der von ihnen Regierten entfernt sind. ({0}) Denn, meine Damen und Herren, es hätte doch einem von ihnen auffallen müssen, was sie mit diesem Oster-Lockdown anrichten. Dabei spreche ich gar nicht von den Rechtsproblemen. Doch spätestens seit die Menschen nach Mallorca fliegen, aber nicht nach Scharbeutz fahren können, musste klar sein, welches Echo Sie auslösen. Dass Ihnen sogar die sonst so handzahmen Kirchen die Gefolgschaft verweigern, beweist nur noch einmal, wie weit weg Sie von den Menschen sind. ({1}) Und nun wird auf allen Kanälen Besserung versprochen. Aber Besserung muss bedeuten, dass Sie vorher und nicht nachher den Bundestag und die Parlamente informieren und beteiligen. Sie tun das doch auch, wenn Sie vor einem Europäischen Rat hier eine Regierungserklärung abgeben – warum also nicht bei Entscheidungen, die ganz unmittelbar in das Leben der Menschen eingreifen? Was der östliche Mittelmeerraum für Europa bedeutet – so war die Ankündigung –, lässt sich weitaus eher auch noch danach kommunizieren, meine Damen und Herren. Die deutsche Politik folgt seit vielen Jahren verlässlich einem Muster: Es werden Wünsche formuliert, man versucht, sie in die Tat umzusetzen, stellt regelmäßig fest, dass sie sich nicht erfüllen, und wundert sich dann und beschimpft die Kritiker. Frau Bundeskanzlerin, auch die Europapolitik folgt diesem Muster, deswegen eilt sie von Misserfolg zu Misserfolg. Eine europäische Fiskalunion ist nicht in unserem Interesse – wir sind nicht die Einzigen, die das so sehen –; denn es wird eine Schuldenunion sein. ({2}) Die EU ist unfähig, Impfstoff zu beschaffen und das Impfen in den Mitgliedsländern zu organisieren; der frühere britische Premierminister Blair hat das vor Kurzem sehr klug ausgeführt. Warum sollte man der EU auch die weit komplexere Verwaltung der europäischen Finanzen anvertrauen? Die Lektion der Coronakrise heißt: Zentralismus ist schwerfällig, unflexibel und wirkt chaotisch. Dezentralisierung ist das Gebot der Stunde, und dieses Gebot verweist auf den Nationalstaat, weshalb das Impfen in Großbritannien, Israel und selbst in Russland besser funktioniert. ({3}) Es liegt im deutschen Interesse, dass zuerst die Bürger dieses Landes geimpft werden, natürlich auf freiwilliger Basis. Jede Art von Impfzwang, auch den indirekten, lehnen wir ab. Darum hat sich die Bundesregierung zu kümmern, ({4}) und zwar nicht aus Impfnationalismus, wie ein törichter Vorwurf sogleich lautete, sondern aus derselben Selbstverständlichkeit, mit der jeder zuerst an die Gesundheit seiner Familie denkt, aus demselben Grunde, aus dem sich der Bürgermeister von Kassel eben erst um Kassel kümmern muss und nicht um Bielefeld. Joe Biden hat sich beim Impfen sofort an das Motto von Donald Trump gehalten: „America first!“ Und das ist richtig so, meine Damen und Herren. ({5}) Auch bei den Coronamaßnahmen werden wir am Ende wieder dastehen und feststellen, dass alles Wünschen nicht geholfen hat. Freunden wir uns langsam mit dem Gedanken an, dass Lockdowns wenig bis nichts bewirken. Intelligente Hygienekonzepte bewirken etwas. Man kann Großveranstaltungen absagen, aber man kann nicht verhindern, dass Menschen ein soziales Leben führen. Es liegen derzeit drei internationale Studien zur Wirksamkeit eines Lockdowns auf die Senkung der Infektionszahlen vor. Keine kommt zu dem Ergebnis, dass es eine eindeutig messbare Wirkung gibt. ({6}) Der Epidemiologe John Ioannidis, Professor in Stanford, hat die Auswirkungen von Lockdowns verschiedener Härte in 14 europäischen Ländern und in den USA ausgewertet. Sein Fazit: Die Maßnahmen haben sich gering bis überhaupt nicht auf die Infektionskurve ausgewirkt. In Schweden verläuft die Kurve parallel zu unserer. Das heißt, die Dynamik der Pandemie schert sich offenkundig nicht darum, ob das öffentliche Leben heruntergefahren wird oder nicht. Noch keine Studien gibt es über die Kollateralschäden der Coronamaßnahmen. Diese Schäden betreffen nicht allein die Wirtschaft. Isolation, Kontakt- und Bewegungsmangel, Aussichtslosigkeit, das ständige Aufeinanderhocken in den Familien – das alles schädigt die Gesundheit Abertausender Bürger. Die Auswirkungen auf die Psyche, die Bildung und die Intelligenz der Kinder sind massiv. Der Bundestag sollte deshalb eine Enquete-Kommission einsetzen, die diese Schäden untersucht. Gerade im Hinblick auf die kommenden Pandemien sollten wir wissen, mit welchem Einsatz wir spielen. Denn auf Dauer, meine Damen und Herren, verzeihen die Bürger einer Regierung eben nicht, dass sie fast alles falsch gemacht hat. Wir könnten auch aus dem, was geschehen ist, lernen. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne mit zwei Momentaufnahmen aus meiner Heimatstadt beginnen. Dort setzt ein Fotograf Menschen ins Bild, die Positives in dieser Pandemie erlebt haben. Seit zwölf Monaten begleitet er diese Menschen mit der Haltung „Mut machen und Hoffnung geben“. Dort sagt zum Beispiel der Direktor der Kölner Feuerwehr: „Wie Menschen zusammen die Last der Krise stemmen wollen, das ist phänomenal.“ – Ich finde, wir müssen mit Respekt gegenüber vielen Menschen hier in Deutschland sagen: Recht haben die, die sagen: Wir wollen uns auch ganz persönlich gegen diese Pandemie stemmen. – Es ist beeindruckend, wie viele Menschen Außerordentliches geleistet haben. Auch auf sie kommt es in den nächsten Wochen an. Deswegen sage ich, meine Damen und Herren: Zuversicht geben ist neben dem Impfen die beste Medizin, und genau die hat unser Land verdient. ({0}) Zum Zweiten. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut hat die Stadt Köln am Montag eine Untersuchung zum Infektionsgeschehen vorgelegt. Im vergangenen Jahr waren die Stadtteile auf der linksrheinischen Seite, die etwas besser situiert sind, stärker betroffen. Diejenigen, die das untersucht haben, sagen: Das waren die Ischgl-Heimkehrer. – Heute ist die Pandemie in den ärmeren Stadtteilen im rechtsrheinischen Köln. Dort hat die Pandemie die sozialen Verwerfungen noch weiter vertieft. Deswegen sage ich: Die zweite Antwort auf diese Pandemie ist ein starker Sozialstaat. Wir können das in den nächsten Jahren stemmen. Gerade wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden das tun. Das Soziale muss in dieser Pandemie genauso im Mittelpunkt stehen wie die medizinischen Herausforderungen. ({1}) Deswegen danke ich auch dafür, dass das Bundeskabinett gestern die Dauer des erleichterten Zugangs zur Kurzarbeit um weitere drei Monate verlängert hat. Ich würde mich auch freuen, wenn das Betriebsrätestärkungsgesetz noch den Deutschen Bundestag erreicht. ({2}) Auf den ersten Blick hat es vielleicht nichts mit der Pandemie zu tun. Aber beim zweiten Blick wissen wir, dass genau die Unternehmen, in denen Mitbestimmung herrscht, sich dieser Pandemie am besten entgegenstemmen. Dort, wo die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut aufgehoben sind, unterstützen sie auch das Unternehmen. Da kann es auch gemeinsam gelingen, gegen die Pandemie zu arbeiten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder Beschluss zur Eindämmung des Infektionsgeschehens ist nicht ohne Risiko und auch nicht ohne Widerspruch. Ich hoffe, es behauptet hier niemand, dass ein Einziger oder eine Einzige genau weiß, was das Richtige ist. Aber der Unterschied zu manch anderen Ländern der Welt ist doch: In einer Demokratie und insbesondere in einem Rechtsstaat muss man unterschiedliche Güter abwägen. Ja, das ist anstrengend, aber das ist genau das, was wir in diesem Jahr der Bekämpfung der Pandemie getan haben. ({4}) Die einzige Aussicht auf die Beherrschung der Pandemie – das haben Sie gesagt, Frau Bundeskanzlerin – ist das Impfen. Ja, es gab zu viele Nachlässigkeiten in den letzten Monaten. Aber jetzt kommt es darauf an – da zähle ich auf das Wort, das Sie für das gesamte Kabinett gegeben haben –, dass alle Verantwortlichen in diesen Tagen dafür arbeiten, dass es in den nächsten Wochen reibungsloser läuft. Wenn es stimmt, dass das Testen eine Brücke sein kann – und das stimmt –, dann hätte ich mir – aber das kann ich nur persönlich sagen – mehr Mut von den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, aber auch von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, gewünscht, das Testen in den Unternehmen nicht erst ab 14. April per Verordnung zu verlangen; denn wenn es stimmt, dass Infektionen gerade auch in den Unternehmen so stark weitergegeben werden, hätte man dies auch schon jetzt verbindlich machen können. ({5}) Aber ich sage auch mit aller Deutlichkeit und großem Respekt: Sie haben einen Fehler eingeräumt für andere, die die Verantwortung dafür mittragen. Ich finde das umso respektabler, weil einige das zwar ankündigen, aber sich nicht entschuldigen. Ich finde, das macht den Unterschied aus. ({6}) Wir haben viel Häme und Besserwisserei in unserem Land erlebt, auch immer wieder hier in diesem Parlament. Manchmal überrascht mich, wer alles in diesem Saal zum Experten, zum Epidemiologen mutiert ist oder hier bestimmte Studien vorhält. Ich finde, das Entscheidende ist: Rechthaberei darf in diesem Hause nicht um sich greifen. Deswegen kann ich auch den Oppositionsparteien nur sagen: Ich wäre vorsichtig an Ihrer Stelle; denn wenn man vor vier Jahren vor der Verantwortung weggelaufen ist, sollte man viel bescheidener an dieser Stelle auftreten, ({7}) was man mit Rechthaberei eben nicht erreichen kann. ({8}) Gleichzeitig will ich auch daran erinnern, dass mindestens zwei Oppositionsparteien einen Ministerpräsidenten in die Ministerpräsidentenkonferenz entsenden. Ich gehe auch davon aus, dass sich zum Beispiel Ministerpräsident Laschet mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten, der der FDP angehört, abstimmt. ({9}) Von daher würde ich schon sagen: Wenn man immer wieder mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt dieser auch auf einen selbst zurück. Meine Damen und Herren, ein bisschen Zurückhaltung, ein bisschen mehr Respekt vor dem Handeln insbesondere auch derjenigen, die nicht nur im Bund, sondern auch im Land und in den Kommunen Verantwortung tragen, hätte ich mir auch von Ihnen gewünscht. ({10}) Meine Damen und Herren, die Pandemie wird uns noch lange begleiten. Deswegen ist neben dem Impfen auch die finanzielle Verantwortung der Weg, wie sich dieses Land, dieser Staat, die Bundesrepublik Deutschland gegen die Pandemie stemmen kann. Deswegen bin ich dankbar, dass das Bundeskabinett gestern den Entwurf des Bundeshaushalts für das Jahr 2022 auf den Weg gebracht hat, einschließlich der mittelfristigen Finanzplanung. Ich sage auch an den Koalitionspartner: Das ist die Entscheidung des gesamten Kabinetts. Das ist die Entscheidung der Koalition und nicht allein die des Finanzministers. Ich finde, so müssen wir auch in den nächsten Wochen über diese großen finanziellen Lasten, die wir auf uns nehmen wollen, sprechen. Es ist eine Verantwortung des ganzen Landes. Wir müssen uns mit aller finanziellen Kraft der Pandemie entgegenstellen. ({11}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und liebe Frau Bundeskanzlerin: An Dogmen festzuhalten, bringt in dieser Krise nichts. Darum habe ich mich gefreut, als der Kanzleramtsminister – ich hatte gedacht, das sei mit Ihrem Einverständnis geschehen – Offenheit über die Schuldenbremse signalisiert hat. Dass gerade Ministerpräsident Laschet diesen Versuch, Dogmen zu überwinden, direkt wieder aufgehoben hat, hat mich dann doch überrascht. Wir sagen: In 20 Jahren wollen wir die Schulden getilgt haben. In dem Bundesland, das zusammen mit der FDP regiert wird, sollen es 50 Jahre sein. Es ist doch wohl ein großer Unterschied, wie man Verantwortung auf sich nimmt und wie man aus einer Oppositionsrolle auf der einen Seite und mit Regierungsverantwortung auf der anderen Seite handeln kann. Ich finde das nicht seriös. Deswegen danke ich dem Bundeskabinett sehr, dass es gestern so beschlossen hat. ({12}) Ja, Frau Bundeskanzlerin, Europa ist unsere Lebensversicherung im Kampf gegen die Pandemie, aber insbesondere auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Erholung. Deswegen verspreche ich mir von ihren Gesprächen, dass dieser Zusammenhalt beim Impfen gestärkt wird, dass aber insbesondere auch über Fehler nachgedacht wird. Es ist in dieser Situation eine große Chance, glaube ich, dass Sie heute Abend mit dem amerikanischen Präsidenten darüber sprechen werden. Es ist etwas ganz Neues, dass zumindest in Washington Europa nicht mehr zwischen Alt und Neu eingeteilt wird, sondern dass Europa vonseiten der USA, vonseiten der US-Regierung eine Chance bekommt. Zum Abschluss will ich sagen: Ja, Sie haben kritisiert, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist. Auch andere Länder wie zum Beispiel Polen oder Kroatien oder Ungarn wollen die Istanbul-Konvention möglicherweise verlassen. Ich finde, von diesem Rat muss das klare Zeichen ausgehen: Wir stehen zu dieser Istanbul-Konvention. Wir wollen uns dafür einsetzen. Wenn das ein Ergebnis neben der Bekämpfung der Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung in Europa ist, dann wird das eine gute Konferenz. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am gestrigen Tag die Kraft und die Größe gehabt, eine Entscheidung zu revidieren. Dafür ist Ihnen Respekt gezollt worden. Die Rücknahme der Entscheidung zur Osterruhe war richtig wegen der Fragen der technisch-rechtlichen Umsetzung, allerdings auch wegen der mangelnden Akzeptanz dieser Maßnahme in der Bevölkerung. Die Krisenpolitik darf sich nicht von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernen. Wir wissen: Wenn man eine Schraube immer weiter anzieht, dann kommt nach fest ganz locker. Wir sind darauf angewiesen, dass die Menschen die Regeln verstehen, sie für logisch und verhältnismäßig halten und sie deshalb auch aus eigener Entscheidung befolgen. Bei der Frage der Osterruhe hat sich vor allen Dingen aber auch die Frage der epidemiologischen Notwendigkeit gestellt, ob es tatsächlich eine wirksame Entscheidung ist. Da haben Sie selbst Zweifel angemeldet, und deshalb war es richtig, die Entscheidung für die Osterruhe zurückzunehmen. Freiheitseingriffe sollte es nur dort geben, wo sie wirklich notwendig sind. Bei allen gesundheitlichen Risiken müssen wir die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemiepolitik auch stärker berücksichtigen. ({0}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben für die Entscheidung zur Osterruhe die Verantwortung auf sich genommen – das ist honorig, aber das bringt uns in der Sache nicht weiter. Auch andere tragen dafür Mitverantwortung. Auch die Persönlichkeit mit den größten Gaben kann nicht auf Dauer alleine die Last der Verantwortung tragen. Das müssen andere mehr machen; nicht nur die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Ich höre in den letzten Tagen, welche Kritik an Ihnen aus den Reihen der Unionsfraktion – auch öffentlich – geäußert worden ist. Wenn ich in Erinnerung rufe, dass Ihr Koalitionspartner SPD bisweilen so auftritt, als habe er mit der Regierung gar nichts mehr zu tun, dann stellt sich auch hier die Frage der gemeinsam getragenen Verantwortung. Übrigens war so mein gestriger Hinweis auf die Option der Vertrauensfrage zu verstehen. Sie erlaubt ja eine neue Konzeptualisierung von Politik und ist die Möglichkeit, wieder Disziplin herzustellen. Ich habe keinen Zweifel, dass sich Ihre Koalition hinter Ihnen versammeln würde; die Grünen haben Sie sowieso auf Ihrer Seite. ({1}) Die Entscheidung zur Osterruhe und die Debatte darüber werfen indessen auch ein Licht auf das Verfahren des Krisenmanagements, ja, vielleicht muss man sogar sagen, auf die Staatspraxis der vergangenen Jahre: Showdown-Situationen in Koalitionsausschüssen mit nächtlichen Sitzungen und spontanen Entscheidungen. Dieser Entscheidungsmodus, Kollege Mützenich, führt auch dazu, dass zum Beispiel Landesregierungen und die sie tragenden Koalitionen gar nicht einbezogen werden können. Ihre Ministerpräsidentin Malu Dreyer zum Beispiel hat bei der letzten Ministerpräsidentenkonferenz die Unterrichtung des Ministerrates nachts, wo Grüne und FDP informiert werden sollten, abgesagt. Wenn wir ein anderes Verfahren wählen – ich komme gleich darauf zurück –, dann wäre das besser möglich. Das Verfahren, das bislang gewählt wird, führt systematisch zu falschen Abwägungen. Ich rufe aus der jüngsten Vergangenheit beispielsweise die plötzlich erfundene Senkung der Mehrwertsteuer in Erinnerung, die in der Sache nichts gebracht hat und die heute auch niemand vermisst. Es ist fraglich, ob die erfahrene Weltpolitikerin Merkel in den vergangenen Jahren nicht zu viel von der internationalen Gipfeldiplomatie in unsere nationalen Kontexte gebracht hat, als der Sache hier hilft. ({2}) Es ist jetzt deshalb, meine Damen und Herren, Anlass und Gelegenheit für einen doppelten Neustart der Pandemiepolitik; ein Neustart zunächst im Verfahren. Die Evolution der Regierungsformen hat eine Antwort gefunden auf die zunehmende Komplexität der Entscheidungsgegenstände von Politik. Die Antwort heißt: parlamentarische Demokratie. ({3}) Wir sollten wieder mehr parlamentarische Demokratie in unserer Republik praktizieren. Konkret schlage ich vor, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie vor jeder Ministerpräsidentenkonferenz eine Regierungserklärung in diesem Haus abgeben, um die Grundlinien Ihrer Pandemiepolitik zu erläutern und dann in diesem Parlament eine Debatte darüber zu ermöglichen. ({4}) Das führt systematisch dazu, dass Entscheidungen kritisch abgeklopft werden. Ich beziehe das jetzt nicht nur auf die Fraktion der Freien Demokraten, auch der Kollege Fraktionsvorsitzende der Union, Herr Brinkhaus, hat in den Debatten regelmäßig Vorschläge unterbreitet, die zu oft aber folgenlos geblieben sind. Debatte ist ein Instrument der Qualitätssicherung hier im Parlament, und deshalb sollten wir das wieder systematisch nutzen. ({5}) Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Dankenswerterweise reden wir jetzt über Reiseverbote. Es ist gestern in den Raum gestellt worden, dass Sie sie prüfen. Jetzt haben wir einmal die Gelegenheit, bevor eine solche Entscheidung getroffen worden ist, hier zu sprechen. Ich sage Ihnen die Haltung der FDP: Ich rate Ihnen von pauschalen Reiseverboten ab. Setzen Sie auf Tests. Reiseverbote in Deutschland sind nicht nur historisch belegt, sondern entsprechen darüber hinaus auch nicht der Lebenswirklichkeit vieler Familien. Es gibt mildere Mittel, um das Ziel der Pandemiebekämpfung zu erreichen. ({6}) Auf der anderen Seite, Frau Merkel: ein Neustart in der Strategie. Bislang wurde immer auf das Prinzip gesetzt: Wir bleiben zu Hause. Mehr noch kann man sagen: Der Appell, Opfer zu bringen, stand im Zentrum. Es waren die Mittel der zentralen Verwaltungswirtschaft, mit der die Pandemie gemanagt worden ist. Das ist nicht nur fragwürdig mit Blick auf die Ergebnisse, es ist auch eine Gefahr, weil das eine Einladung zur Vetternwirtschaft sein konnte. Übrigens: Ich halte es für falsch, wenn die Grünen pauschal von Unionsfilz sprechen. Es stärkt nicht unsere politische Kultur, wenn man individuelle Verfehlungen zur Charakterfrage einer ganzen Partei macht. ({7}) Das sollte man nicht tun. Aber umso mehr ist es jetzt erforderlich, auch innerhalb der Bundesregierung zu fragen, was eigentlich aus den Einflussnahmen geworden ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Es wäre aber sinnvoll, Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie durch einen Sonderermittler mit richterlicher Unabhängigkeit, der Akten einsehen kann, für die Öffentlichkeit transparent machen, dass im Bundesministerium für Gesundheit bei den Beschaffungsprozessen alles mit rechten Dingen zugegangen ist. ({8}) Wir brauchen – darauf will ich ja hinaus – eine andere Pandemiepolitik auch hinsichtlich der Strategie, weg von „Wir bleiben zu Hause“, von der Zentralverwaltungswirtschaft, hin zu Vertrauen und zu marktwirtschaftlichen Lösungen. Was heißt das? Es heißt, darauf zu vertrauen, dass Handel, Gastronomie, Tourismus, Hotellerie, Kultur und Sport wirksame Hygienekonzepte entwickelt haben, die sie im eigenen Interesse achten und umsetzen wollen. Vertrauen wir also den Betrieben, dass sie in der Lage sind, ihre Kundinnen und Kunden zu schützen. Machen wir das Vorliegen eines Schnelltestes zur Voraussetzung dafür, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Und, Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen: Wenn für die Menschen mit einem Schnelltest verbunden ist, dass sie zum Beispiel wieder an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen können, dann wird ohne staatliche Lenkung, einfach aus der gesellschaftlichen Mitte heraus, mit Erfindergeist mehr Testkapazität geschaffen. ({9}) Vertrauen wir stärker auf die kommunale Ebene. Wenn der Landkreistag – das ist ja jetzt nicht eine Oppositionspartei – ebenfalls einen Neustart fordert, weg von den Inzidenzwerten, hin zu mehr regionaler Differenzierung, dann ist das doch richtig. In Bayern muss jedes Modellvorhaben von der CSU-Staatsregierung genehmigt werden, da ist gar nicht die regionale Eigenverantwortung stark. Alles muss zentral aus München genehmigt werden. Also stärken wir die Kommunen! Und nicht zuletzt: Kommen wir bitte zu mehr Pragmatismus beim Impfprozess, und zwar jetzt, indem wir Hausärztinnen, Fachärzte auch in großem Umfang beteiligen. Ich verstehe das Eigeninteresse der öffentlichen Hand an den Impfzentren. Wir können aber mehr Tempo aufnehmen, wenn wir mit Pragmatismus die Praktikerinnen und Praktiker in diesen Prozess einbeziehen. ({10}) Frau Bundeskanzlerin, Sie sprechen heute mit dem amerikanischen Präsidenten im Format des Europäischen Rates. Ich schlage vor, dass Sie das Angebot unterbreiten, zu einem speziellen EU/USA-Impfgipfel zusammenzukommen. Die Vereinigten Staaten haben Impfdosen, die sie selbst im Inland nicht verwenden. Hier besteht die Möglichkeit der Kooperation. Das ist besser, als über Exportverbote in der Europäischen Union nachzudenken. Vor allen Dingen sollte, kann und muss mit den Vereinigten Staaten darüber gesprochen werden, wie beide, USA und Europäische Union, auf die geostrategische Impfpolitik Russlands und Chinas mit Blick auf die Schwellenländer, auf den afrikanischen Kontinent, eine Antwort geben können. Wir sollten das China und Russland nicht allein überlassen. ({11}) Mein letzter Gedanke zu Next Generation Europe – mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident; ich bringe es auf einen kurzen Punkt –: Es kostet nicht viel Mühe, Gründe zu finden, warum man Next Generation Europe und dem EU-Wiederaufbaufonds jetzt nicht zustimmen wollte – Konjunktiv –, beispielsweise wegen der Unterschätzung des Binnenmarkts; da bräuchten wir Impulse. Wir können ja nicht nur im Format der staatlichen Investitionen und der öffentlichen Ausgaben denken, wenn wir Wachstum wollen. Da wäre im Binnenmarkt mehr möglich gewesen. Dennoch ist es ein guter Schritt, in der Pandemie zusammenzuhalten. Im letzten Jahr haben die sogenannten Sparsamen Vier auch Veränderungen herbeigeführt – Konditionalität der Mittelauszahlung. Die Sparsamen Vier haben erreicht, dass das Europäische Semester, also Reformvorhaben, beim Auszahlen mitgedacht wird. Ich habe im Juli des letzten Jahres aufgrund der politischen Freundschaft zu Herrn Rutte geschrieben, Mark Rutte sei der eigentliche Nachfolger von Wolfgang Schäuble. Mir ist schon klar, dass im Regierungshandeln die Bundesrepublik Deutschland im Sinne einer dienenden Führungsrolle nicht nur an der Seite der Frugal Four gehen kann. Aber so einseitig, wie sich Ihre Regierung den Vertretern mediterraner Finanzpolitik genähert hat, sollte das zukünftig nicht fortgesetzt werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindner.

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deshalb, Herr Präsident, mein letzter Satz. Ich persönlich werde zustimmen, aber aus anderen Gründen als Herr Scholz. Alles, was Herr Scholz am europäischen Wiederaufbaufonds rühmt – gemeinsame Schulden und gemeinsame EU-Steuern –, wollen wir in der Zukunft politisch verändern, ({0}) und das passiert in den nächsten Jahren. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon seltsam, dass Herr Gauland gerade beklagt, dass nicht genügend geimpft wird im Kampf gegen eine Pandemie, die seine Fraktion seit einem Jahr bestreitet. ({0}) Es ist eine Seltsamkeit, wie hier argumentiert wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist, glaube ich, nicht die einzige Seltsamkeit, die wir momentan haben. Es ist richtig: Wir sind jetzt im 13. Monat einer Epidemie nationalen Ausmaßes, wir sind im zweiten Lockdown, wir haben – die Bundeskanzlerin hat es gesagt – mittlerweile den zweiten Virus, und wir sind alle müde, wir sind mürbe. Das ist überhaupt keine Frage. ({1}) Viele Menschen sind wütend, viele Menschen sind zornig. ({2}) Gerade in diesem Augenblick halte ich es für wichtig, auch mal den Blick über Deutschland hinaus nach Europa zu wenden. Das ist ja auch der Sinn dieser Debatte. Nur um das mal klarzumachen – weil es ja Leute gibt, die sagen, wir sind eine Insel, wir sollen national zuerst an uns denken, und dann reicht das –: Wir haben neun Landaußengrenzen mit Ländern wie Dänemark, von dem wir zugegebenermaßen in der Pandemie einiges lernen können, und Ländern wie Tschechien, wo überhaupt nichts klappt. Alle Personen, die von Ost nach West, von Nord nach Süd über den Landweg durch Europa reisen, reisen durch Deutschland. Kein Land ist in den Wertschöpfungsketten so europäisch vernetzt, wie Deutschland es ist. Und was wäre unser Arbeitsmarkt ohne die 24-Stunden-Pflegerinnen aus Polen, ohne die Bauarbeiter, ohne die Logistiker und ohne die Erntehelferinnen und Erntehelfer aus Rumänien, Bulgarien und vom Balkan? Europa, meine Damen und Herren, ist für uns keine Frage, Europa ist keine Option; Europa ist unsere Wirklichkeit, und deswegen können wir die Probleme dieser Pandemie auch nur europäisch lösen. ({3}) Und weil das so ist, ist es auch wichtig, dass wir in dieser Zeit europäische Solidarität üben. Darüber werden wir in einer späteren Debatte abstimmen. Ja, es ist richtig, dass wir in der Krise helfen. Ja, es ist richtig, dass wir in der Krise mit dem Eigenmittelbeschluss, mit dem Neustartpaket etwas Außergewöhnliches auf den Weg bringen. Aber, meine Damen und Herren, das ist die Ausnahme in der Krise, das ist die Solidarität in der Krise. Deswegen lehne ich es total ab, was Olaf Scholz und die AfD – aus unterschiedlichen Gründen – behaupten, dass das nämlich der Einstieg in eine dauerhafte Fiskal- und Schuldenunion ist. Das ist es für uns definitiv nicht, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Es ist auch richtig, dass wir diesen Impfstoff europäisch gemeinsam beschaffen, aus den Gründen, die ich gerade genannt habe. ({5}) Und natürlich ist es so, dass es vielleicht für uns national besser gewesen wäre – aber nicht langfristig –, wenn wir diesen Impfstoff allein beschafft hätten. Aber trotzdem ist es richtig, dass wir das gemeinsam als Europäerinnen und Europäer gemacht haben. Ja, wir müssen uns anrechnen lassen, dass es schlechter geklappt hat als im Vereinigten Königreich, in Israel oder in den Vereinigten Staaten. ({6}) Ja, es wichtig, dass dieser Gipfel sich damit beschäftigt, warum das so war, und dass die Impfstoffversorgung verbessert wird. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wir müssen uns auch fragen: Sind die europäischen Institutionen denn überhaupt bereit dafür gewesen, so eine Impfstoffbeschaffung zu organisieren? Haben wir nicht Dysfunktionalitäten in den europäischen Institutionen? Deswegen muss bei aller Kritik an den handelnden Personen in Brüssel auch das berücksichtigt werden: Wir müssen in Europa bei der Bewältigung dieser Krise auch funktional besser werden. Das muss eine Lehre aus dieser Pandemie sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wenn ich jetzt bei Kritik an handelnden Personen bin, dann möchte ich mal nach Deutschland zurückkehren. Ich möchte einfach mal vor Augen führen, mit welcher Schärfe und mit welcher Häme handelnde Personen in der letzten Zeit hier kritisiert worden sind. Ich schließe mich dieser Häme und Schärfe ausdrücklich nicht an, weil nämlich Entscheidungen getroffen worden sind und die meisten Entscheidungen im Übrigen auch richtig waren. Ich schließe mich dieser Häme und Schärfe nicht an, weil diese Entscheidungen unter Unsicherheit und im Risiko getroffen worden sind. ({8}) Ich schließe mich dieser Häme nicht an, weil wir mittlerweile eine Unkultur in diesem Land haben, dass jegliche Fehler als Skandal, als Versagen oder als Versagen mit Vorsatz bezeichnet werden. Wo sind wir denn, meine Damen und Herren? ({9}) Wenn wir diese Fehlerkultur fortführen, dann wird niemand mehr Fehler zugeben, dann werden Fehler vertuscht, ({10}) und dann können wir auch nicht lernen. Deswegen sollten wir uns überlegen, wie wir mit Fehlern in diesem Land umgehen, sollten nach vorne schauen und sollten daraus lernen. ({11}) Aber eins ist auch richtig, und das ist überhaupt keine Frage: Europa – ich habe es gerade gesagt – ist in Teilen dysfunktional für diese Krise aufgestellt gewesen; das Gleiche gilt auch für unser Land. Und nein, ich möchte nicht den Föderalismus infrage stellen. Aber die Aufgaben- und Verantwortungszuordnung im Föderalismus war für diese Krise schlecht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. ({12}) Die inneren Verwaltungsabläufe, die wir haben, sind nicht schnell und nicht flexibel und nicht agil genug, übrigens nicht nur für die Krise, sondern für viele andere Herausforderungen auch. ({13}) Um das klarzustellen: Das liegt nicht an den Menschen, die in der Verwaltung arbeiten, sondern das liegt am politischen Rahmen, den wir auch hier im Deutschen Bundestag setzen. Und wenn wir, Herr Lindner, über Parlamentsbeteiligung reden, dann müssen wir darüber reden, wie wir hier einen neuen Rahmen schaffen, dass dieses Land besser und flexibler auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft reagieren kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14}) Wir müssen – die Bundeskanzlerin hat es gesagt; übrigens haben wir da mehr auf den Weg gebracht, als es öffentlich scheint – die Digitalisierung vorantreiben. Der Bundesinnenminister hat es auch gesagt und arbeitet daran. Wir brauchen eine neue Philosophie für den nationalen Katastrophenschutz. So, wie das jetzt funktioniert, kann es nicht weitergehen. ({15}) Ich habe auch gesagt: Wir brauchen in diesem Land nicht nur eine Reform, sondern wahrscheinlich sogar eine kleine Revolution. Auf diesem Land, auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren, und diesen Staub müssen wir spätestens jetzt in der Krise beseitigen. ({16}) Aber – das ist auch eine Wahrheit – in der aktuellen Pandemie können wir nicht auf eine Revolution warten, da müssen wir schnell handeln. Gestatten Sie mir diesbezüglich einen Gedanken: Ich bin wie viele Kolleginnen und Kollegen auch in die Politik gegangen, um Leben zu schützen, um Leben zu ermöglichen. Das ist unsere Motivation: Leben vom Anfang bis zum Ende zu schützen und Leben zu ermöglichen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Leben die Voraussetzung für Freiheit ist, dass Leben und Gesundheit die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Grundrechten sind und dass Leben und Gesundheit die Voraussetzung dafür sind, dass ich mein Leben eigenverantwortlich gestalten kann. Das kann ich natürlich nicht absolut setzen – klar, ich muss den Wert des Lebens immer wieder gegen andere Werte ausbalancieren; das ist überhaupt keine Frage –, man kann von mir als Politiker erwarten, dass ich priorisiere. Ich stelle fest, dass sich heute über 20 000 Menschen neu infiziert haben, dass heute weit über 200 Todesfälle gemeldet worden sind; das sind im Übrigen ungefähr so viele Leute, wie jetzt hier im Saal sitzen. 200 Gesichter, 200 Schicksale, 200 Hoffnungen, 200 Enttäuschungen, 200-mal Leid, und das jeden Tag und nicht nur heute, nicht nur gestern, nicht nur vorgestern. Es muss das Primat unseres Handelns sein, dass wir dieses Leben schützen. Ja, und es ist auch unsere Aufgabe, neben denjenigen, die wir immer wieder zu Recht im Blick haben – die Gastwirte, die Einzelhändler, die Menschen, die sich nach sozialen Kontakten sehnen –, auch diejenigen im Blick zu haben, die nicht laut sind. Das sind die Schwachen, die zu Hause bleiben müssen, das sind die überlasteten Intensivpfleger, das sind die Menschen, die mit Langzeitfolgen erkrankt sind, das sind die Menschen, die einen elenden Tod gestorben sind. Im Übrigen: Wenn jetzt jüngere Menschen erkranken, dann werden sie einen noch elenderen Tod sterben. Deswegen ist es unsere Verantwortung, etwas für diese Menschen zu tun. Natürlich hilft Testen, natürlich hilft Impfen, aber seien wir doch mal ehrlich: Das wird in den nächsten Wochen nicht reichen. Deswegen ist eine große Währung, die wir in den nächsten Wochen haben, immer noch die Kontaktbeschränkung. Diese Entscheidung müssen wir treffen. Wir werden – die Bundeskanzlerin hat es gesagt – nicht nur das Licht sehen, sondern wir werden wahrscheinlich im Sommer rauskommen. Aber es ist unsere Entscheidung, wie viele Menschen auf dem Weg dorthin noch erkranken und sterben werden. Vor dem Hintergrund haben wir die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz zu messen. Und bei allem Respekt: Ich glaube, wir haben an der Stelle noch nicht genug getan, um diese Schwachen, um diese potenziell Kranken zu schützen. Wir sollten uns überlegen, was wir noch tun können. Schlussbemerkung. Ich habe am Anfang meiner Rede gesagt: Das Land ist unruhig. Viele Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker, sind zornig und wütend. Es ist ein schleichendes Gift, das in unser Land einsickert, das Gift der Wut. Natürlich: Kritik ist notwendig, das Ringen um die besten Konzepte ist unverzichtbar. Fehler müssen benannt werden. Und im Übrigen: Ja, auch persönliches Fehlverhalten muss konsequent bestraft werden. Jeder, der handelt, muss sich auch verantworten. Aber bitte: Lasst uns auf diesem Weg zusammenbleiben; denn wenn wir nicht zusammenbleiben, wenn wir es gestatten, dass die Wut in diesem Land gewinnt, dann wird dieses Gift viel, viel schlimmer sein als das Virus, das uns momentan beschäftigt. In dem Sinne wünsche ich uns, dass wir in den nächsten Wochen den Weg zusammen gehen, bis wir durchgeimpft sind und unser altes Leben wieder zurückhaben. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Fraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Ja, seit über einem Jahr leben wir in der Pandemie. Schon viel zu lange herrschen Chaos und leere Versprechungen in Kabinett und Kanzleramt. Ausbaden müssen das millionenfach die Menschen in diesem Land, auch jetzt wieder direkt vor den Osterferien. Frau Bundeskanzlerin, ich muss es leider so klar sagen: Wenn Ihre Bundesregierung bei der Impfstoffbeschaffung und bei der Teststrategie nicht so kläglich versagt hätte, dann hätte diese dritte Welle entscheidend abgemildert, wenn nicht sogar vermieden werden können. An diesem Versagen ändert auch Ihr Zurückrudern bei der Osterruhe nichts. ({0}) Nehmen wir die Schnelltests. Im September letzten Jahres sagte Gesundheitsminister Spahn, ich zitiere: Ich möchte, dass wir für bestimmte Situationen, zum Beispiel für den Besuch im Pflegeheim, den Schnelltest deutlich häufiger – damit meine ich millionenfach – einsetzen … Was ist daraus geworden? Heute, Monate später, gibt es immer noch nicht genügend Tests, wo sie gebraucht werden, allen voran an den Schulen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes sagt: Neun von zehn Schulen sind meilenweit von einer ausreichenden Ausstattung mit Tests entfernt. – Sie wären aber nötig, um sicheren Präsenzunterricht zu gewährleisten. Die Lehrergewerkschaft Bildung und Erziehung attestiert Ihnen deshalb Totalversagen – zu Recht. Ihr Coronamanagement ist inzwischen – man kann es nicht anders sagen – ein Trümmerhaufen, und das nicht nur, weil die Maßnahmenpakete immer verwirrender und chaotischer werden, sondern weil effektive und von renommierten Wissenschaftlern nahegelegte Maßnahmen einfach nicht getroffen werden, zum Beispiel die Verpflichtung zum Homeoffice überall dort, wo das möglich ist. Noch immer müssen viele Menschen in Großraumbüros sitzen, weil die Arbeitgeber das Homeoffice einfach nicht erlauben. Sie werden gezwungen, sich einem unnötigen Infektionsrisiko auszusetzen, und das Risiko ist ganz erheblich. Die TU Berlin hat in einer Studie ermittelt, dass eine mit Corona infizierte Person in einem Großraumbüro im Schnitt acht weitere Menschen ansteckt, und das, wenn das Büro nur zur Hälfte besetzt ist. Diesen Pandemietreiber, den muss man doch abstellen. Aber wieder einmal knicken Sie vor der Arbeitgeberlobby ein. Das ist unverantwortlich. ({1}) In einer der größten Krisen, die unser Land erlebt hat, gleicht das Regierungshandeln mehr und mehr einer Realsatire; und das nicht nur, weil Sie allen Ernstes die Versager Andreas Scheuer und Jens Spahn die Taskforce für die Coronatests leiten lassen. Jetzt müssen Sie außerdem zum x-ten Mal bei den Coronahilfen für Unternehmen nachjustieren. Im Beschluss dieser Woche steht dazu, dass Sie für die besonders schwer betroffenen Unternehmen – Zitat – „ein ergänzendes Hilfsinstrument im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben“ entwickeln wollen. Wie muss das klingen in den Ohren all der Unternehmerinnen und Unternehmer, der Soloselbstständigen, der Künstlerinnen und Künstler, die meterlange Formulare für die November- und Dezemberhilfen ausgefüllt haben und bis heute auf deren Auszahlung warten? Wie oft wollen Sie denen, denen das Wasser bis zum Hals steht, den Rettungsring eigentlich noch ankündigen? Werfen Sie ihn endlich! ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es nicht geschafft, dass wir alle endlich Licht am Ende des Tunnels sehen. Sie haben es nicht geschafft, Hoffnung und Perspektive zu geben. Das Ergebnis ist, dass bei immer mehr Menschen das Vertrauen in Politik verloren geht, und das gilt nicht nur für Deutschland, das gilt auch für die Europäische Union. Um es noch mal klar zu sagen: Natürlich war es richtig, auf eine gemeinsame Lösung bei der Impfstoffbeschaffung zu setzen, aber das Ergebnis war nun mal katastrophal. Dabei hatte Jens Spahn im Oktober noch großspurig erklärt – Zitat –: „Wir sichern uns deutlich mehr Impfstoff, als wir brauchen werden.“ Und er sagte sogar, wenn etwas übrig bliebe, könne man es an andere Länder weiterverkaufen oder armen Nationen spenden. Das ist ein guter Plan, aber leider ist es wieder nur bei den Ankündigungen geblieben. Bis heute haben nicht einmal 8 Prozent der Menschen in der EU die Zweifachimpfung bekommen. Das ist doch ein Armutszeugnis. ({3}) Nicht nur, dass wir damit meilenweit entfernt sind von der rettenden Herdenimmunität, das bedeutet auch, dass nach inzwischen drei Monaten seit dem Impfstart es immer noch nicht gelungen ist, die verwundbarsten Menschen in unserer Gesellschaft zu schützen. Meiner Mutter zum Beispiel geht es wie vielen älteren Menschen. Sie ist 78 Jahre alt, hat sogar multiple Vorerkrankungen, aber bis heute keinen Impftermin in Aussicht, und damit ist sie kein Einzelfall, sondern der Regelfall. Und das geht doch so nicht! Es geht dabei ja nicht nur um die betroffenen Menschen selbst, es betrifft viel mehr Menschen. Ich bin mir sicher, dass es vielen so geht wie mir, nämlich dass ihnen ein riesiger Stein vom Herzen fallen würde, wenn sie wüssten, dass die Eltern, die Großeltern, dass andere geliebte Menschen, bei denen ein schwerer Krankheitsverlauf zu erwarten ist, endlich geschützt wären. Das wäre so wichtig! ({4}) Es muss alles darangesetzt werden, dass mehr Impfstoff produziert wird. Die Produktionskapazitäten müssen ausgebaut werden – ohne Wenn und Aber. Und ja, die Patente müssen freigegeben werden, Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Das letzte Mal, als ich das hier gefordert habe, da gab es herbe Kritik vonseiten der Union. Es hieß, man würde damit angeblich den Innovationsstandort Deutschland zerstören. Das war damals der Kollege Nüßlein. Na ja, er ist ja jetzt nicht mehr bei der Union dabei. Vielleicht sind Sie ja jetzt offener für diese Idee. ({6}) Aus Brüssel kommen derweil wieder falsche Signale. So behauptete der Binnenmarktkommissar Thierry Breton gerade erst steif und fest, es gebe „absolut keinen Bedarf“ am russischen Impfstoff. Gleichzeitig diskutiert man wegen der Impfstoffknappheit einen Exportstopp für Impfstoffe aus der EU. Das passt doch nicht zusammen! Natürlich muss der russische Impfstoff wie jeder andere auch eingehend geprüft werden, bevor er eine Zulassung erhält, und das muss zügig geschehen. Thierry Breton ist übrigens auch zuständig für die Resorts Verteidigung und Raumfahrt. Möglicherweise hat der Name „Sputnik V“ da einen Schock ausgelöst. ({7}) Nein, hier darf es keine ideologischen Scheuklappen geben! ({8}) Wie falsch die Richtung ist, in die diese Bundesregierung unser Land steuert, das zeigt eine Zahl: Während der Coronakrise ging die Zahl der Pflegekräfte in Deutschland um 9 000 zurück. Eine ehemalige Krankenpflegerin sagte dazu gestern im ZDF – Zitat –: Das Klatschen, die Plätzchen und ein Pandemiebonus, den nicht mal alle bekommen haben, dieser Umgang mit uns hat mir den letzten Glauben an eine bessere Perspektive genommen. Meine Damen und Herren, so kann es doch nicht weitergehen. Wir brauchen einen grundlegenden Politikwechsel, aber nicht irgendeinen. Wir brauchen einen sozialen Aufbruch, eine Politik, die sich konsequent am Gemeinwohl ausrichtet und nicht am Profit für die mächtigsten Lobbyisten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ja, es ist gut, Fehler zuzugeben. Das hilft der Demokratie weiter. Es ist aber natürlich auch zwingend, aus Fehlern zu lernen. Es gibt Ideen, es gibt Konzepte, es gibt Erfindungen, um diese schwere Lage zu bestehen. Was aber dieser Bundesregierung fehlt, ist Pragmatismus, ist Entschlusskraft und ist Mut, daraus wirklich etwas zu machen – über die Appelle an die Menschen hinaus. ({0}) Es häufen sich Fehlentscheidungen, Irrungen und Wirrungen: Malle ja, Malente nein. Schnelltests in der Theorie ja, in den Schulen und Kitas vor Ort nein, und am Arbeitsplatz auch nicht, jedenfalls nicht verbindlich. Lockerungen ja, noch vor wenigen Wochen, Schutzvorkehrungen nein. Vom Kommunikationsdesaster über AstraZeneca einmal ganz abgesehen. Das Problem ist, dass wir in dieser Zeit eigentlich Mut und Entschlusskraft bräuchten, aber schlecht regiert werden, verzagt regiert werden, dass wir gerade in eine Sackgasse geraten sind, und das mitten in der dritten Welle dieser Pandemie, die so wahnsinnig gefährlich für uns alle in diesem Land ist. ({1}) Diejenigen, die die Konsequenzen tragen, die Bürgerinnen und Bürger, zeigen jeden Tag, dass sie Verantwortung übernehmen können – mit Masken, mit Homeoffice, mit Homeschooling. Ja, all die, die in der Pandemie arbeiten, von der Pflegekraft bis zur Verkäuferin, bis zu den Leuten, die ehrenamtlich arbeiten, Sie haben sie alle erwähnt. Wenn wir aus Fehlern lernen wollen, dann ist klar: Wir müssen die nächsten Schritte öffentlich hier beraten. Sie müssen gut begründet sein. Sie gehören nicht hinter verschlossenen Türen hin- und hergeschoben, sondern hier in den Bundestag und in den Bundesrat. Bund und Länder zusammen, ja selbstverständlich! Was denn sonst, meine Damen und Herren? ({2}) Wir haben als Parlament ja schon bewiesen, dass das geht. Vor einem Jahr haben wir in diesem Bundestag gezeigt, dass das geht – über Parteigrenzen hinweg. Wir waren sehr schnell und haben sogar in dieser Zeit noch Fehler korrigieren können. Und jetzt? Die Zahlen steigen rasant. Die Menschen leiden an der Pandemie gerade genauso wie an der Politik der Bundesregierung. Ich sage Ihnen hierzu: Wir sind als Bündnis 90/Die Grünen bereit, gemeinsame, vorausschauende, pragmatische Pandemiebekämpfung aus der Mitte dieses Hauses zu machen, von mir aus noch in dieser Woche. Wir können es hier tun. Und wir können den Wellenbrecher bringen, die Notbremse für diese dritte Welle ziehen, wenn wir es wollen, wenn wir gemeinsam anpacken, meine Damen und Herren! Diesen Kraftakt können wir. ({3}) Natürlich war es ein Riesenfehler, ohne Schutzvorkehrungen vor 14 Tagen zu öffnen. Deswegen brauchen wir jetzt konsequente Maßnahmen. Daran geht es nicht vorbei. Es braucht einen Kurs von Vorsicht und Vernunft, eine echte Notbremse. Für die Sicherheit der Kinder und Lehrer/-innen müssen Testkapazitäten an Schulen und Kitas tatsächlich da sein. Es hilft nichts, die Verantwortung hin- und herzuschieben. Man kann das ausrechnen: Wir brauchen 100 Millionen Tests, wenn wir alle Kinder in diesem Land zweimal die Woche testen wollen. Das ist nicht so schwer auszurechnen. Es braucht gar keine Abfrage bei den Ländern, sondern man kann das einfach ausrechnen. Und sie stehen auch bereit. Jetzt müssen sie verteilt werden, damit sie an die Schulen und Kitas kommen. Was Eltern und Kinder gerade erleben, ist das Gegenteil, meine Damen und Herren. ({4}) Wir müssen dafür sorgen, dass die Büros wirklich zu sind. Sie sind es immer noch nicht, dabei wirken Großraumbüros pandemietreibend. Wir müssen dafür sorgen, dass die Betriebe runtergefahren werden. Natürlich! Wieso redet niemand darüber, was in einem Teil der Unternehmen gerade passiert, dass es dort nämlich immer noch keine Tests gibt? Deswegen wäre es so wichtig, diese verbindlich zu machen. Natürlich muss klar sein, dass die Urlaubsrückkehrer/-innen verbindlich getestet werden. Und dann bitte hier im Haus endlich einen verbindlichen Stufenplan festlegen, der in beide Richtungen klarmacht: Wann können wir öffnen, unter welchen Bedingungen? Wann muss wieder geschlossen werden? Es kann doch nicht so schwer sein, meine Damen und Herren, das hier miteinander als klaren Rahmen zu beschließen. Dieser müsste dann – da bin ich bei Ihnen – natürlich regional ausgestaltet werden. Die regionale Ausgestaltung müsste dann aber auch verbindlich sein und nicht so, dass Notbremsen, die klar an Zahlen orientiert sind, interpretationsbedürftig sind. ({5}) Das ist für mich entscheidend. Wir müssen endlich vor die Lage kommen. Ich bin es auch leid, dass es tausend Erklärungen gibt, warum etwas nicht funktioniert. Ich möchte, dass wir hier endlich tausend Lösungen diskutieren, wie es doch klappen kann. ({6}) So wie beim Impfen: eigentlich ein Meisterwerk der Wissenschaft. Das hätte durch ein Meisterwerk der Exekutive ergänzt werden müssen. Natürlich war es richtig, die Beschaffung europäisch zu organisieren; keine Frage. Es ist nicht gut gemacht worden, sagen jetzt alle. Muss man korrigieren. Bitte denken Sie daran, dass es dabei bleibt, dass diese Krise auch nur global bekämpft werden kann und dass der Impfstoff auch im Globalen Süden ankommen muss. Ohne das werden wir es nämlich nicht schaffen. ({7}) Und ziehen wir den Fokus bitte weiter. Lernen wir nicht nur aus den aktuellen Fehlern, lernen wir insgesamt aus dieser Krise. Jetzt ist die Zeit, für eine bessere Zukunft zu planen – für Europa und für Deutschland. Wenn wir Krisen und Herausforderungen als etwas betrachten, was wir gemeinsam lösen können, mit Mut statt mit Wut, Herr Brinkhaus, dann schaffen wir ein neues Danach, eines mit offenen Restaurants und offenen Grenzen, mit Innenstädten voller Leben und für alle. Die besten Orte müssen die sein, wo der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft gelebt wird, wo wir Wissenschaft schätzen, wo wir die Natur lieben. Das ist die Hoffnung, die uns eigentlich tragen kann, die Hoffnung auf dieses wirkliche Danach. Meine Damen und Herren, alles ist drin in diesem Land. Es ist jetzt an der Zeit, das Beste daraus zu machen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast, SPD. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie hält uns seit über einem Jahr in ihrem Bann, täglich und in allen Lebensbereichen. Kurz vor Ostern sind wir mitten in der dritten Welle, mit ansteckenderen Virusmutationen. Zunehmend sind auch Kinder betroffen. Wir sehnen uns wirklich alle nach mehr Normalität und spüren gleichzeitig, dass die Pandemie noch nicht zu Ende ist und es noch dauert, bis alle geimpft sind. Ja, das verlangt uns allen verdammt viel ab. Deshalb will ich hier und heute zuerst einmal all jenen Danke sagen, die uns im Kampf gegen das Virus täglich unterstützen; denn nach wie vor tun viele Menschen – im Privaten, in den Schulen und Kitas, in den Verwaltungen, bei der Arbeit und natürlich ganz besonders in Krankenhäusern, Arztpraxen, Impfzentren und Pflegeheimen – sehr viel dafür, dass sich das Virus nicht noch stärker verbreitet. Sie alle haben unseren Respekt und unseren Dank verdient. ({0}) Ich will in meiner Rede jedoch den Fokus auf die Familien und Kinder legen; denn über sie wird mir zu wenig gesprochen. Immer wieder sagen wir den Satz: Es sind Familien, die unser Land durch diese Pandemie tragen. – Das stimmt. Aber gerade Kinder leiden doch ganz besonders; denn Kinder brauchen andere Kinder, um sich gut zu entwickeln. Nach wie vor ist da keine Normalität in Sicht. Freunde treffen, Sport und Freizeit, all das bleibt auf der Strecke, und die Kinder leiden darunter. Weil nicht klar ist, wann diese Normalität zurückkehren wird, brauchen wir neben dem Impfen andere Möglichkeiten, um möglichst viel Normalität zu gewährleisten. Es ist wichtig und richtig, dass wir den politischen Konsens haben, Schulen und Kitas zuerst zu öffnen und, wo möglich, sie auch offen zu halten. Aber dieses Ziel braucht mehr Aufmerksamkeit; denn auch Schulen und Kitas werden zunehmend zu Hotspots, wenn wir dort nichts ändern. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir eine ehrgeizigere Teststrategie brauchen, gerade für unsere Kleinen; unsere Bundesfamilienministerin Franziska Giffey setzt dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung. Es ist nicht nur für mich, sondern für viele Menschen im Land nicht nachvollziehbar, wieso Kinder in Kitas nicht verbindlich getestet werden, im Gegensatz zu den Grundschulen, wo das schon stattfindet oder stattfinden soll. Müssen wir da nicht mehr Ehrgeiz wagen? Müssen wir nicht an dem Ziel arbeiten, gerade unsere Kinder täglich zu testen, damit Kitas offen bleiben können, nicht zu Hotspots werden und Familien entlastet werden? Ich weiß, dass es da große Herausforderungen gibt. Aber müssen wir nicht sagen, wo wir hinwollen? Ich will tägliche Tests für Kinder und Erwachsene in Schulen und Kitas, damit wir unser Versprechen – Schulen und Kitas zuerst – mit Leben füllen. ({1}) Seit vielen Monaten stecken Familien im Dauerspagat aus Homeschooling, Homeoffice und Kinderbetreuung. In einer Riesenkraftanstrengung ist es uns Anfang des Jahres gelungen, den Familien dafür Zeit zu geben. Wir haben die Zahl der Kinderkrankentage verdoppelt und damit die Voraussetzungen verbessert. Doch jetzt, im Lockdown, sind die Kinderkrankentage teilweise schon aufgebraucht. Die Familien benötigen sie aber nicht nur während der Pandemie, sondern darüber hinaus; denn Kinder werden nicht nur bis März krank, sondern bis Dezember. Langer Rede kurzer Sinn: Ich finde, wir brauchen mehr Kinderkrankentage, um die Familien in diesem besonderen Jahr erneut zu entlasten. ({2}) Für mich ist klar: Wir stärken Kinder und Familien, indem wir sie unterstützen und mehr politische Aufmerksamkeit auf verbindliche Tests richten. Das stärkt natürlich die Familien selbst; das ist unser aller Anliegen. Aber es stärkt vor allen Dingen auch das Soziale und den sozialen Zusammenhalt – Rolf Mützenich hat dies vorhin hier im Namen der SPD-Bundestagsfraktion eingefordert –; denn Coronatests sind eine Brückentechnologie, bis alle geimpft sind. Natürlich sollte das, was in Kita und Schule gilt, auch am Arbeitsplatz gelten: mehr und regelmäßige Tests, wenn notwendig auch verbindlich statt freiwillig. Nur dann nützt diese Brückentechnologie uns allen. Viele Menschen sind in dieser Woche vor Ostern müde, doch eines weiß ich: Ostern ist das Fest der Auferstehung. Ostern bedeutet ein neues Leben. Ein neues Leben können auch wir beginnen, wenn wir alle gemeinsam in eine Richtung gehen. Die Pandemie besiegen wir gemeinsam und solidarisch. Helfen Sie alle mit! ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Kernthema des Europäischen Rates soll der Binnenmarkt der EU sein. In Vorbereitung der Tagung wurde ein Papier des Europäischen Rats veröffentlicht. Dort ist von der „Vertiefung des Binnenmarkts für einen kräftigen Wiederaufschwung und ein wettbewerbsfähiges, nachhaltiges Europa“ die Rede und auch davon, dass die Führungsspitzen der EU dazu aufrufen, „ein neues System der globalen wirtschaftspolitischen Steuerung zu errichten“. Diese und viele weitere seltsame Formulierungen ergeben ein Bild von der Scheinwelt der Eurokratie: Wir brauchen mehr Schulden für die Erholung Europas. – Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist auch die Fantasie des Finanzministers – Resilienz durch Steuererhöhung –, obwohl Europa schon über 100 Prozent Staatsschulden pro Staat hat, und wir haben eine steigende Tendenz. Lassen Sie mich also zu wichtigen Dingen in Sachen Binnenmarkt kommen. Eine markante professorale Stimme äußert sich soeben zum Eigenmittelbeschluss wie folgt: Wir stehen vor der größten Weichenstellung in der Geschichte der Europäischen Union seit Einführung des Euro. Es ist gleichzeitig auch die teuerste Veränderung und auch der größte Bruch vertraglicher Verpflichtungen. Schon in früheren Jahren hatte Merkel keinen Hehl daraus gemacht, wohin die europäische Entwicklung aus ihrer Sicht gehen soll. Die EU-Kommission – so Merkel im Jahr 2012 – solle eine europäische Regierung werden, das EU-Parlament gestärkt, und der mächtige Europäische Rat der 27 Regierungen solle die Rolle einer Länderkammer einnehmen, zitiert das RedaktionsNetzwerk Deutschland. Merkels Projekt ist also die Auflösung der deutschen Staatlichkeit, der Staatlichkeit anderer Demokratien in Europa und damit natürlich auch eine Auflösung der parlamentarischen Demokratie als Staatsform in Europa. ({0}) Ein großer Schritt in diese Richtung soll mit der Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses des Rates durch dieses Parlament vollzogen werden. Hinter diesem harmlosen Etikett verbirgt sich eine epochale Entscheidung: Erstmals in ihrer Geschichte wird die EU über Anleihen erhebliche Mittel am Kapitalmarkt aufnehmen und den Mitgliedstaaten als verlorene Zuschüsse zur Verfügung stellen, schreibt der Bundesrechnungshof in diesen Tagen. Der Wiederaufbaufonds, wie dieses Abenteuer pathetisch genannt wird, ist ein schuldenfinanzierter Transfer zwischen den Mitgliedstaaten, so der Bundesrechnungshof. Die Verschuldung der EU für das absurde Projekt wird über die Inflation in Wahrheit 800 Milliarden Euro betragen. Zu deren Abfinanzierung will die EU ein Zugriffsrecht auf zusätzlich 0,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens eines jeden Mitgliedstaates. Das sind, meine Damen und Herren, 4 Billionen Euro zusätzlich gegenüber dem geltenden Rechtszustand. Dieser erhöhte Zugriff der EU soll nur vorübergehend, bis 2058, möglich sein. „Vorübergehend“ bedeutet im Verständnis der EU also einen Zeitraum von knapp 40 Jahren. Vielleicht hatten wir alle bisher ein anderes Verständnis des Begriffs „vorübergehend“. ({1}) Zu Recht kalkuliert die EU das Risiko ein, dass Mitgliedstaaten dem Mittelabruf ganz oder teilweise nicht rechtzeitig nachkommen oder mitteilen, dass sie dem Aufruf nicht nachkommen können; so der Wortlaut des Artikel 9 Absatz 5 des Eigenmittelbeschlusses. Die Mitgliedstaaten teilen mit: Wir wollen nicht zahlen. – In diesem Fall kann die Kommission andere Mitgliedstaaten ersatzweise in die Pflicht nehmen. Das unterschreiben wir übermorgen, wenn wir morgen diesen Pakt beschließen. Dabei geht es, wie ein seriöser Professor ausgerechnet hat, für Deutschland um ein maximales Haftungsrisiko von 800 Milliarden Euro. Damit sind wir bei des Pudels Kern. Wo ist in den Verträgen die begrenzte Einzelermächtigung für die EU zu finden, Geld für Resilienz, Digitalisierung und ökologische Transformation in Europa zu verteilen? Eine solche bräuchte es nach Artikel 5 Absatz 2 des EUV. Woraus ergibt sich die Ermächtigung der EU, mehr als 800 Milliarden Euro als Kredite aufzunehmen, diese als Eigenmittel umzuetikettieren und die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Generationen der nächsten 40 Jahre in Schuldknechtschaft zu nehmen? Woher nehmen die EU-Organe, die Bundesregierung, dieser Bundestag das Recht, für dieses Land Haftungen für Schulden anderer Mitgliedstaaten zu übernehmen, obwohl nach Artikel 125 Absatz 1 Satz 1 des AEUV dies wörtlich und sinngemäß verboten ist? ({2}) Die Kanzlerin hat 2012 für ganz Europa hörbar erklärt: Eine gesamtschuldnerische Haftung wird es nicht geben, „solange ich lebe“. – Ich wiederhole mein Zitat vom Vortag. – Eine ähnliche Botschaft hatte die EU bei der Einführung des Euro an jeden Laternenmast gehängt. „Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen?“, war da zu lesen. „Ein ganz klares Nein!“ In Artikel 9 Absatz 5 des Eigenmittelbeschlusses lesen wir schwarz auf weiß genau das Gegenteil von dieser Parole. ({3}) Ökonomisch ist diese Helikoptergeldverteilung nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv. – Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die hochverschuldeten Länder mit einer wohlhabenden Bevölkerung und niedrigen Steuern werden von weniger verschuldeten mit höherer Steuerlast alimentiert. Die Soliden sollen im gemeinsamen Haus den Kühlschrank füllen, damit die Unsortierten ihn leeren können. So funktioniert jedoch, meine Damen und Herren, keine Wohngemeinschaft und eine Staatengemeinschaft schon gar nicht. Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Gewissen bei der illegalen Schulden- und Haftungsorgie, die Sie morgen feiern wollen. ({4}) Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alexander Dobrindt, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mangelnde Akzeptanz kann auch zu unkontrolliertem Infektionsgeschehen führen. Genau deswegen ist es so entscheidend, dass wir die Balance halten zwischen der Distanz auf der einen Seite und der Akzeptanz auf der anderen Seite. Deswegen war es auch richtig, dass die Regelung zur Osterruhe zurückgenommen wurde. Wir haben Respekt vor dieser Entscheidung. Es ist deutlich geworden, dass die Regelung schwer umsetzbar ist, weil sie die Balance zwischen Vorsicht und Perspektive nicht gehalten hat. Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, entbindet uns in keinster Weise davon, Entscheidungen zu treffen, die das Infektionsgeschehen nach unten drücken. Wir haben immer noch ein dynamisches Infektionsgeschehen. 20 000 Neuinfektionen, das ist alles andere als eine Pandemie unter Kontrolle. Deswegen sind Maßnahmen notwendig, um das Infektionsgeschehen nach unten zu drücken. ({0}) Fast 20 000 Neuinfektionen sind eindeutig zu viel. Wir haben ein dynamisches Inzidenzwachstum; das geht eindeutig zu schnell. Eine Virusvariante, die besonders in jüngeren Bevölkerungsgruppen aktiv ist, ist eindeutig die falsche Entwicklung. Wir können in unserer Nachbarschaft, in Österreich, sehr genau beobachten, wie die Entwicklung mit der Virusvariante voranschreitet: In Niederösterreich, in Salzburg, im Burgenland sind es inzwischen gerade junge Menschen, Schülerinnen und Schüler, die 5- bis 14-Jährigen, die eine Inzidenz von 500 vorweisen. Das Infektionsgeschehen wird aus der Schule heraus durch die jungen Menschen verbreitet. Deswegen gehen diese Bundesländer in Österreich jetzt in einen harten Lockdown: Der Unterricht wird auch nach Ostern digital fortgesetzt. Wir haben jetzt die Chance, mit den Schulen in die Osterferien zu gehen. Aber für die Zeit nach Ostern, wenn die Schule wieder beginnt, brauchen wir entsprechende Konzepte; diese sind noch nicht ausreichend. ({1}) Es geht um fehlende Luftfilter. Es geht um Tests, die noch nicht durchgeführt werden. Wer die Schulen nicht schließen will, der muss die Schüler besser schützen. Das ist für uns der Maßstab. ({2}) Natürlich ist das Aufgabe der Länder; das ist richtig, das wurde hier auch erwähnt. Aber es gibt die Möglichkeit, in den Bund-Länder-Konferenzen über den Fortgang des Unterrichts in den Schulen zu reden, wenn die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend stattfinden. Wir brauchen natürlich, wenn wir in dieser Pandemie eine Perspektive für Öffnungen geben wollen, auch innovative Konzepte. Dazu gehört der digitale Testpass, dazu gehört der digitale Impfpass als Ticket zurück in die Normalität, und dazu gehört auch das digitale Zertifikat der EU. Ich finde es richtig, Frau Bundeskanzlerin, dass jetzt auch im Europäischen Rat über dieses Zertifikat gesprochen wird, dass entsprechende Vereinbarungen getroffen werden. Natürlich kann man sich, wenn man über die EU diskutiert, darüber auslassen, dass die Geschwindigkeit, mit der die EU arbeitet, nicht ausreichend ist. Natürlich kann man sich darüber unterhalten, dass wir in den letzten Monaten festgestellt haben, dass die EU im Zusammenhang mit den Impfstoffen und vielem anderen mehr zu langsam agiert hat. Aber, meine Damen und Herren, ich will auch sehr klar sagen: Eine Pandemie, wie wir sie erleben, hat die Qualität, die europäischen Länder auseinanderzutreiben. Ich bin froh und dankbar, dass es gelungen ist, in dieser Frage Europa zusammenzuhalten und dafür die richtigen Entscheidungen zu treffen. ({3}) Sehr geehrter Herr Glaser, Sie haben jetzt sehr viel über die europäischen Verträge geredet und Interpretationen dazu gegeben, die ich nicht für richtig erachte, weil der oberste Grundsatz in der Europäischen Union die Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander ist. ({4}) Und diese Solidarität leben wir hier. Sie haben einen Widerspruch zwischen Souveränität und Solidarität aufgemacht. Ich sage Ihnen: Nein, es gibt keinen Widerspruch zwischen Souveränität und Solidarität. Das sind zwei Seiten einer Medaille in Europa. Wir leben beide, und damit sind wir erfolgreich. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren, im Nachgang zu der Bund-Länder-Konferenz gibt es zu Recht eine Debatte darüber, ob wir die Entscheidungsprozesse auf den Prüfstand stellen müssen. Ja, ich glaube, die Entscheidungsprozesse müssen sich verändern. Ich bin auch dankbar, dass die Ministerpräsidenten gestern und heute zum Teil genau das formuliert haben. Bund-Länder-Konferenzen – damit wir uns richtig verstehen – waren und sind ein notwendiges Instrument, gerade am Anfang der Pandemie, um einen breiten Konsens zu schaffen, einen Konsens zwischen den Ländern und auch den regierenden Parteien. Aber wenn es jetzt darum geht, eine Pandemie, die deutlich länger dauert, als wir alle das erwartet haben, zu bekämpfen, dann brauchen wir eine Einbindung der Parlamente bei diesen Entscheidungen, dann brauchen wir eine Einbindung des Deutschen Bundestages bei diesen Entscheidungen. Die Bund-Länder-Konferenz ist ein notwendiges Mittel, aber sie darf kein Notparlament werden, meine Damen und Herren. Der Deutsche Bundestag ist das Parlament. ({6}) Deswegen meine dringende Bitte: Wir brauchen bei den Entscheidungen, die in Zukunft anstehen werden, um diese Pandemie zu bekämpfen, einen neuen Stil, auch in der Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag. Dann kann wieder Akzeptanz entstehen, die dazu führt, dass wir diese Pandemie gemeinsam erfolgreich bekämpfen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Andrej Hunko, Die Linke, erhält jetzt das Wort. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Ich finde, diese Debatte zeigt ein wenig das Problem, das wir hier gegenwärtig haben: Wir führen bei einer Debatte zum Europäischen Rat weitestgehend eine nationale Coronadiskussion. Das ist so eigentlich nicht angemessen. Wir brauchen endlich eine angemessene Einbindung dieses Parlaments bei der Diskussion zu Corona und nicht ersatzweise bei der Debatte zum Europäischen Rat. ({0}) Frau Bundeskanzlerin, ich fürchte, Sie werden bei diesem Gipfel den gleichen Fehler machen wie im Oktober 2015, was das Verhältnis zu Erdogan angeht. Jetzt ist eine Positivagenda mit der Türkei vorgesehen. Auch 2015 stand Erdogan mit dem Rücken zur Wand, wie jetzt. Damals sind Sie nach Istanbul gefahren, haben auch eine Positivagenda vorgelegt, und Erdogan konnte sich gerade noch mal über die Wahlen am 1. November retten. Ich finde, angesichts der Zeichen der letzten Tage und Wochen, der Verbotsdrohung gegenüber der zweitgrößten Oppositionspartei, der HDP, der weiteren Nichtumsetzung der Urteile zu Demirtas und Kavala, des nächtlichen Ausstiegs aus der Istanbul-Konvention, der Waffen, der Drohungen auch im türkisch besetzten Teil Zyperns, wo deutsche Leopard-Panzer sind, darf es keine Positivagenda geben, darf es kein Upgrade geben, keine zusätzlichen finanziellen Hilfen. Stattdessen muss endlich das umgesetzt werden, was die meisten europäischen Länder, die meisten EU-Länder mittlerweile auch wollen, nämlich ein Verbot des Waffenexports an Erdogan. Also: keine Positivagenda! ({1}) Zur Istanbul-Konvention. Dazu ist viel Richtiges gesagt worden. Es ist eine großartige Konvention. Und es ist unerträglich, dass per nächtlichem Dekret daraus ausgetreten wird. Aber auch die EU sollte diese Konvention endlich ratifizieren, und Deutschland sollte den Vorbehalt zu Artikel 59 – da geht es um den unsicheren Aufenthaltsstatus von von Gewalt bedrohten Frauen – zurücknehmen. Keine Positivagenda für die Türkei, Frau Merkel, beim anstehenden Gipfel! Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier vor dem Bundestag folgenden Satz gesagt: Wir haben in dieser Krise auch die Aufgabe, zu zeigen, wer wir als Europa sein wollen. Ein Jahr später fehlt es immer noch an Impfstoff, an Tests, und viele unverheiratete Paare können sich wieder oder immer noch nicht sehen. Sie hatten als deutsche Ratspräsidentschaft sechs Monate Zeit, um Impfstoff und Teststrategien zu koordinieren, um ihre Produktionskapazitäten zu stärken. Das haben Sie versäumt. Und die Bundesregierung hat beim Impfstoff für die Produktion auf den Markt gesetzt. Sie hat geglaubt, dass der Markt schon liefert, wenn der Preis hoch genug ist und die Verträge stimmen. Welch gravierender Fehler! ({0}) Dabei zeigen die USA, wie es geht, mit einer Impfstoffwirtschaft: Wir müssen jeden einzelnen Schritt in den Lieferketten koordinieren, finanziell stärken und, wo nötig, eben auch regulieren. Wer das immer noch mit Planwirtschaft verunglimpft, der hat den Schuss nicht gehört. ({1}) Wir müssen deswegen auch beim Thema Impfstoffexporte ganz klar sein: Der Globale Süden braucht dringend Impfstoff. Hier müssen wir solidarisch sein. ({2}) Aber genauso klar muss sein: Wer selbst Impfstoff produziert, bereits eine hohe Impfquote hat und sich trotzdem weigert, Impfstoff zu teilen, der muss mit einem europäischen Exportstopp rechnen. ({3}) Ich erwarte, dass Sie, Frau Merkel, wenn Boris Johnson jetzt der Europäischen Union droht, sich vor die Europäische Kommission stellen und klarstellen: Diese Ungerechtigkeit akzeptiert die Europäische Union nicht. ({4}) Erlauben Sie mir eine Bemerkung zur Türkei. Frau Merkel, Sie haben gesagt, der Umgang mit der HDP, das Parteiverbotsverfahren sei bedauerlich. Das ist nicht bedauerlich; das ist einfach mit aller Härte zu kritisieren. Das ist fatal! ({5}) Und wenn Herr Maas davon spricht, dass der Austritt aus der Istanbul-Konvention ein falsches Signal sei, dann kann ich nur sagen: Er hat nichts verstanden. ({6}) Frauenrechte sind der Gradmesser für Demokratie. Und daran muss man die Türkei messen. Von daher: Ein Zeichen der Modernisierung der Zollunion ist zu diesem Zeitpunkt der absolut falsche Schritt! ({7}) Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen ein Europa, das handelt, nicht hadert. Sie haben vorhin selber gesagt: Nehmen wir es in die Hand. – Sie haben diese Verantwortung jetzt beim Europäischen Gipfel. Übernehmen Sie diese Verantwortung, und machen Sie was draus. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wäre die Pandemie ohne die Europäische Union verlaufen, ohne die große Solidarität, wie wir sie in keinem anderen Teil der Welt gesehen haben? Sicherlich schlechter für unsere Bevölkerung. Es hätte sicherlich mehr schreckliche Bilder wie aus Bergamo gegeben, mehr Todesfälle und mehr wirtschaftlichen Schaden. Unsere Europäische Union kann in der Krise echte, greifbare Erfolge aufweisen. Vielleicht machen wir uns diese Erfolge auch ab und zu einfach mal bewusst: Mit EU-Mitteln in Höhe von 1 Milliarde Euro haben wir die Erforschung von Impfstoffen und Medikamenten europäisch vorangetrieben. Nie gab es schneller einen Impfstoff. Auch das ist ein Ergebnis unseres Zusammenhalts als Europäer. Es ist doch völlig illusorisch, zu glauben, wir hätten uns mit 26 anderen Staaten zusammenraufen können, um so viel Geld in die Impfstoffforschung zu geben. Dank dieser gemeinsamen Investition stehen eben nicht alle Impffabriken in China oder den USA. Wir produzieren in Europa aktuell an elf Standorten Impfstoffe. Insgesamt könnte an über 26 Standorten in Europa produziert werden, und genau da wollen wir hin – da muss Europa besser werden –: mehr Impfstoffproduktion in Europa für Europa. ({0}) Das heißt nicht, dass wir jetzt eine „Europe first“-Strategie wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn einen hochspezialisierten Impfstoff wie den von BioNTech kann man eben nicht alleine herstellen. Der in Mainz entwickelte Impfstoff hat 280 hochspezialisierte Inhaltsstoffe aus 83 Ländern. Das geht nur europäisch, und das geht übrigens auch nur international. Übrigens funktioniert auch die ganze Pandemiebekämpfung nur global. Es hilft überhaupt niemandem, wenn wir nur die westliche Welt immunisieren. Dann marschieren die Mutanten schneller auf, als wir impfen können. Die Europäische Union handelt auch hier klug und solidarisch, wenn Impfstoffe im Rahmen der Covax-Initiative der WHO in ärmere Länder exportiert werden; Frau Göring-Eckardt sieht das an dieser Stelle genauso. Und lassen Sie uns bitte auch hier über die Parteigrenzen hinweg zusammenbleiben. Vielleicht gelingt es uns, auch diese Strategie der Europäischen Union, die für globale Verantwortung steht, irgendwann einmal als weitsichtige Strategie zu würdigen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Europäische Union hat nicht alles richtig gemacht. Niemand hat in der Pandemie alles richtig gemacht. Und es ist gut, wenn Fehler eingestanden und Kurse korrigiert werden. Aber wir dürfen hier, zwölf Monate nach Ausbruch der Pandemie, die Fakten nicht aus den Augen verlieren. Manche wiederholen in Dauerschleife, die Bestellungen seien schlecht gelaufen oder die Strategie sei unklar, oder sprechen, wie Frau Mohamed Ali von der Linken vorhin, von „Realsatire“ oder „katastrophal“. Davon sind wir weit entfernt. Der Impfstoff wurde gemeinsam optioniert. Insgesamt 2,6 Milliarden Impfdosen sind ausreichend bestellt für alle Europäerinnen und Europäer von Hanau bis Porto, von Wilna bis Palermo. Die Strategie wurde auch klar kommuniziert: Bis zum Sommer sollen 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. – Wir sehen ja bei uns, wie es vorangeht: Aktuell impfen wir in Deutschland alle 0,4 Sekunden. Jeder Zehnte hat bereits eine Impfung. Und ja, natürlich muss das schneller gehen. ({2}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, leider gibt es auch Tiefschläge. Es ist völlig inakzeptabel, dass, wie wir erfahren haben, AstraZeneca 29 Millionen Impfdosen in der Nähe von Rom lagert – wohl für den Export nach Großbritannien – und gleichzeitig nur ein Drittel der zugesagten Menge an die Europäische Union liefert. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind die Letzten, die Handelsbeschränkungen für gute, grandiose Lösungen halten; auch wir haben in Volkswirtschaftslehre aufgepasst. Aber hier ist es richtig – da hat die Kommission unsere volle Unterstützung –, wenn sie den Export dieser Impfdosen untersagt, bis diese Sache aufgeklärt ist. Im Zweifel hilft dann nur ein Exportverbot. Auch das muss die Europäische Union lernen: Mehr gemeinsame Stärke zeigen zur Durchsetzung der eigenen Interessen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch noch auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu sprechen kommen, weil ich ihn für zentral halte. Auf sich allein gestellt, wären in Europa längst mehrere Staaten bankrottgegangen. Weite Teile der deutschen Wirtschaft wären dabei in Mitleidenschaft gezogen worden. Stattdessen waren wir in der Lage, gemeinsam zu agieren, nicht nur über das EU-Kurzarbeiterprogramm SURE, das viel dazu beigetragen hat, über 25 Millionen Menschen in Europa neue Hoffnung und Sicherheit zu geben. Es ist ein Erfolgsmodell made in Europe. Der Corona-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro ist ein ganz klares Verdienst der Bundeskanzlerin. Er zeigt schon jetzt, dass die Finanzmärkte damit stabilisiert werden konnten. Herr Glaser, auch das ist vielleicht eine Einsicht für Sie – Sie sind jetzt gar nicht mehr da, sehe ich –: Der Euro ist nach wie vor die zweitwichtigste Währung der Welt. – Das war eine geschlossene Antwort auf die Covid-Krise. Wir von der CDU/CSU werden größten Wert darauf legen, dass dieses Geld wie vorgesehen in die Zukunft investiert wird – von Digitalisierung bis Klimaschutz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das ist klar: Europa muss lernen und braucht Reformen. – Was Ralph Brinkhaus vor ein paar Wochen für Deutschland gefordert hat, nämlich eine Kraftanstrengung, um unser Staatswesen auf die Zukunft auszurichten, das gilt auch für Europa. Das betrifft die Stabilisierung der Euro-Zone genauso wie den digitalen Binnenmarkt und auch eine globale Handelspolitik. Genau deshalb ist es gut, dass die EU-Zukunftskonferenz am 9. Mai startet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Leikert, Sie können selbstverständlich weitersprechen, tun das aber auf Kosten Ihrer Kollegen.

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. – Genau das muss unser Ziel sein: dass die nächste Krise auf ein wehrhafteres, agileres Europa treffen wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Baradari für die SPD-Fraktion. ({0})

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach einem Jahr bestimmt die Coronapandemie weiterhin das Leben der Menschen auf der ganzen Welt. Die EU ist davon leider nicht ausgenommen. Laut WHO sind Stand heute über 936 000 Menschen in der Europäischen Union an Corona gestorben. Nach wie vor gehen wir einen sehr langen und sehr steinigen Weg, bis wir unser normales Leben wieder einigermaßen zurückhaben können. Gleichfalls dürfen wir den Kopf nicht in den Sand stecken und müssen positiv – ja, positiv! – in die Zukunft blicken; denn es wird auch ganz sicher eine Zeit nach Corona geben. Wir müssen in der EU endlich ein erkennbares Zeichen des Aufbruchs setzen; denn es ist unsere Aufgabe, aus dieser Pandemie die richtigen Lehren für die Europäische Gemeinschaft zu ziehen und entsprechend konsequent zu handeln. Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen muss sich gegenüber den Impfstoffherstellern noch erkennbarer und nachhaltig durchsetzen, damit die zugesagten Lieferungen auch wirklich ankommen. Ebenso darf es in einer Pandemie an einer so entscheidenden Stelle keine falsche Sparsamkeit geben. Um es ganz deutlich zu sagen: Dies ist völlig fehl am Platz und hat, wie wir sehen, verheerende Folgen. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle auch konstatieren, dass das EU4Health-Programm mit einer Mittelausstattung von 9,4 Milliarden Euro einfach zu kurz gegriffen ist. Das wird uns noch ordentlich auf die Füße fallen. Wo zeitnah zusätzliche Impfstoffdosen nachbestellt werden können, muss dies auch erfolgen, transparent und offen kommuniziert. Gerade bei der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber dem direkt gewählten Europäischen Parlament hat es vonseiten der Kommissionschefin in den vergangenen Monaten an etlichen Stellen erheblich gemangelt. Dies hat zu einem Klima des Misstrauens geführt. Den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament wurden monatelang entscheidende Informationen vorenthalten. Das ist inakzeptabel! ({1}) Genau diese Art der mangelnden Kommunikation zerstört das so dringend benötigte Vertrauen in der Bevölkerung und schwächt die demokratischen Institutionen. Daher darf sich das in dieser Art, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht wiederholen. Wir sehen jeden Tag, welche dramatischen Folgen die Pandemie für uns alle hat. Daher ist es richtig, neue europäische Instrumente der Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich entschieden voranzubringen. Erstens. Die Krisenvorsorge und die Krisenprävention in der EU muss verbessert werden. Dafür sind eine Stärkung und ein Ausbau des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheit, ECDC, sowie der Europäischen Arzneimittel-Agentur, EMA, notwendig. Zweitens. Es muss einen verbesserten Zugang zu Gesundheitsdaten und den Austausch von Informationen im europäischen Gesundheitsdatenraum geben. So können Folgeprobleme gemeinsam koordiniert gelöst werden, damit es keine Lkw-Schlangen an den Grenzen gibt und damit Berufspendler in den Grenzregionen nicht aufgehalten werden. Drittens. Die Arzneimittelversorgung in der EU muss sichergestellt werden. Daher brauchen wir Herstellungsstandorte von Wirkstoffen für kritische Arzneimittel in der Europäischen Union selbst. Viertens. Die EU muss eine führende und gestaltende Position bei der Stärkung der WHO einnehmen sowie eine Vorreiterrolle in der globalen Gesundheit besetzen. ({2}) Ja, die Europäische Union muss widerstandsfähiger und reaktionsfähiger werden, um auf zukünftige grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren zielgerichteter reagieren zu können. Dies gilt nämlich nicht nur für Viren, sondern auch für antimikrobielle Resistenzen oder Bedrohungen chemischen Ursprungs. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist auch eine absolut berechtigte Erwartung der Menschen in der EU; denn es geht um ihre Gesundheit. Da müssen wir nun politisch liefern. Mit der neuen EU-Behörde für Notfallvorsorge und ‑reaktionen im Gesundheitswesen, HERA – quasi benannt nach der griechischen Geburtsgöttin –, soll unter anderem die Entwicklung neuer Arzneimittel auf der Grundlage der strategischen Früherkennung auch für Kinder und Jugendliche vorangebracht werden. Dies begrüße ich sehr. Ebenso hat sie die Aufgabe, die Bereitstellung von Medikamenten und medizinischen Geräten zu sichern sowie die Produktionskapazität von Impfstoffen zu überwachen. EU-weit sind erst 54 Millionen Impfdosen gegen Covid-19 verabreicht worden. Aufgrund des Mangels werden nun selbst Exportverbote diskutiert, weil Exportkontrollmechanismen in dem Maße nicht genügend wirksam sind bzw. eingesetzt werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen und globalen Handelns in der Pandemie. Impfstoffe müssen allen Menschen weltweit zur Verfügung gestellt werden. Sie dürfen nicht als Luxusgut angesehen werden. ({3}) Daher ist die Frage berechtigt, ob die Produktion und der Verkauf von Impfstoffen ausschließlich der Privatwirtschaft überlassen werden sollte; ({4}) denn gerade den Kampf gegen die Pandemie gewinnen wir in einer globalisierten Welt nicht national. Frau Bundeskanzlerin, bitte setzen Sie sich daher im Rat mit voller Kraft – wie ein Tanker – dafür ein, ({5}) dass die richtigen europäischen Lehren aus der Pandemie gezogen werden – und mit vielen Schnellbooten, bitte auch –; denn es ist genau jetzt die Zeit für eine vertiefte EU-Gesundheitsunion, die die Bürgerinnen und Bürger Europas effektiv schützt und neues Vertrauen in die Politik schafft. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Professor Dr. Heribert Hirte hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Wir haben viel darüber gehört, was beim Europäischen Rat besprochen werden soll. Ein Punkt wurde bisher aber kaum angesprochen, die Digitalisierung. Das ist ein gutes Zeichen, weil das in gewisser Weise die Rückkehr zur Normalität bedeutet. Deshalb möchte ich einige der Punkte, die beim Europäischen Rat besprochen werden und besprochen werden sollten, ansprechen: Es soll um die Datenökonomie gehen. Datenökonomie beinhaltet die Frage: Wer hat eigentlich das Eigentum an den Daten, die wir alle jeden Tag – auch hier – produzieren? Wir haben auf europäischer Ebene – gerade war vom Tanker Europa die Rede – die Datenschutz-Grundverordnung produziert, die durchaus auch Kritik ausgelöst hat. Sie ist im Ansatz durchaus richtig, aber wir sehen, dass sie einen Punkt nicht wirklich löst. Der betrifft die Frage: Wie können wir mit den aggregierten Daten umgehen? Da wir viel über das Impfen gesprochen haben, will ich in diesem Zusammenhang sagen: Wir haben gehört, dass es in Israel schneller ging. Warum ging es da schneller? Weil dort aggregierte Gesundheitsdaten zur Verfügung standen. Wir müssen hier die Balance neu ausrichten: Wir müssen an diese Daten herankommen, sie müssen auf der einen Seite genutzt werden können, und auf der anderen Seite müssen die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden. – Das ist ein ganz wichtiger Schritt nach vorne. Wir sehen, dass viele Unternehmen von und mit Daten leben, dass manche auch Daten missbrauchen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Unternehmen diesen Wert nutzen können, dass Daten als Wirtschaftsgüter in die Bilanz gesetzt werden können. Auch dies ist ein Punkt, der auf europäischer Ebene adressiert werden muss; denn wenn das nicht von dort kommt, kann es bei uns nicht realisiert werden. Das ist ein wichtiger Schritt, um die Realität des Lebens der Daten zu reflektieren. Ein zweiter großer Bereich ist die künstliche Intelligenz. Ohne künstliche Intelligenz läuft nichts mehr. Aber wir sehen auch, dass die Menschen sich Sorgen machen, wenn sie von automatisierten Systemen sozusagen überwacht werden, wenn sie mit denen kooperieren müssen. Deshalb haben wir im Unterausschuss Europarecht über die Fragen, die sich hier stellen, schon mehrfach gesprochen. Eine der zentralen Fragen, die sich hier stellt, ist die Haftungsfrage: Zu viel Haftung führt dazu, dass die Intelligenz nicht entwickelt wird; zu wenig Haftung führt dazu, dass das Vertrauen nicht da ist. Hier die Balance zu finden, ist einer der Punkte, die beim anstehenden Europäischen Rat adressiert werden müssen. Das alles hängt mit dem zusammen, was Sie eingangs gesagt haben, mit der digitalen Souveränität, die wir anstreben müssen. Der Tanker, so will ich es sagen, braucht einen Kopf, und der Kopf muss bei uns in Europa sein. Es kostet Geld, dieses Ziel zu erreichen; das ist die andere Seite der Medaille. Nicht jeder Punkt, nicht jeder Schritt muss in Europa verwirklicht werden. Wir müssen schauen, welche Punkte möglicherweise in Kooperation mit anderen Ländern verwirklicht werden können, welche ausgelagert und hinzugekauft werden können. Aber eines ist ganz wichtig: Die Zeit drängt; denn wenn wir hier nicht agieren, dann agieren andere, und die agieren sonst schneller. Damit bin ich sozusagen bei einer Nebenbaustelle, die beim Europäischen Rat auch angesprochen werden wird, nämlich bei der Kapitalmarktunion. Das ist ein Thema, das durch die Pandemie ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Wir führen in Deutschland eine Diskussion über EDIS, das Einlagensicherungssystem. Es ist richtig, dass wir dieses Einlagensicherungssystem nur weiterentwickeln wollen – damit ist möglicherweise eine Risikoteilung in Grenzen möglich –, nachdem wir zuerst die Risiken reduziert haben. Dabei bleiben wir auch. Aber wir sehen auf der anderen Seite auch, dass die Risiken gestiegen sind, dass die Schulden gestiegen sind; durch die Pandemie war dieser Anstieg unvermeidbar. Deshalb brauchen wir auch auf europäischer Ebene Antworten, wie wir mit diesen gestiegenen Schulden umgehen. Der wichtigste Punkt ist: Wir brauchen Instrumente zur Bildung von Eigenkapital. Die Menschen müssen in die neuen Projekte investieren, die nach der Krise entstehen, damit der neue Mut auch aufgegriffen werden kann. Wir müssen kleinen und mittelständischen Unternehmen stärker unter die Arme greifen. Wir haben vor wenigen Wochen hier die europäische Restrukturierungsrichtlinie umgesetzt. Das war eine Schönwetterrichtlinie, die für die Restrukturierung großer Unternehmen vorgesehen war. Wir haben gemerkt: Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen fehlt da einiges. Da müssen wir nachbessern; das haben wir in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung auch gesagt. Da ist viel zu tun. Es gibt viele Möglichkeiten jenseits des Schuldenmachens, das manche als die einzige Lösung ansehen. Ein letzter Punkt. Die Europäische Kommission hat in den letzten Tagen gegenüber China ganz deutlich gesagt: Wie dort mit den Uiguren umgegangen wird, das geht nicht. Sie hat Sanktionen verhängt. Das ist ein ganz wichtiges außenpolitisches Signal. Ich würde mir wünschen, wenn vom Europäischen Rat dasselbe Signal ausginge. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin! Zum Ende dieser Debatte kann man feststellen: Ja, sie war insgesamt weniger geprägt, gerade im ersten Teil, von der notwendigen Vorausschau auf den bevorstehenden EU-Gipfel, sondern natürlich etwas mehr von einer Nachlese der Ministerpräsidentenkonferenz. Ich glaube, wir können heute feststellen, das war auch richtig so; denn der Unmut über die Ergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz von Montag im Parlament, im Land war groß. Viele, auch ich, haben das natürlich auch in ihren Wahlkreisen gespürt. Deshalb war es aber umso richtiger – das möchte ich zum Schluss dieser Debatte auch noch einmal ausdrücklich anerkennen –, dass die Bundeskanzlerin einen Fehler erkannt, ihn eingestanden und abgestellt hat, dass wir heute darüber so offen debattiert haben. Das verdient unseren Respekt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Bevor wir zum Abschluss den Blick noch einmal auf die Ministerpräsidentenkonferenz werfen, möchte auch ich auf den bevorstehenden EU-Gipfel eingehen. Die Regierungserklärung heute dient natürlich nicht dazu – auch wenn mancher Kollege sie so genutzt hat –, eine Generalabrechnung mit der Coronapolitik vorzunehmen, sondern sie dient vor allem dazu, dass wir unserer Verantwortung und unserer parlamentarischen Kontrolle in EU-Angelegenheiten nachkommen können. Dafür ist natürlich entscheidend, dass große wegweisende Entscheidungen für die Europäische Union beim Gipfel anstehen. Eines möchte ich ausdrücklich zum Abschluss der Debatte noch einmal zurückweisen: Wenn jetzt aus Reihen der AfD mit Blick auf das Programm „Next Generation EU“ die Rede von einer Schuldenunion ist, dann zeigt das nur, dass Sie vor parlamentarischer Verantwortung kapitulieren; denn wir haben hier im Parlament dafür gesorgt, dass genau das nicht eintreten wird, und für Zukunftsfähigkeit gesorgt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Es geht beim EU-Gipfel natürlich um die Bewältigung der Pandemielage in Europa und auch um das Zurückgewinnen von verlorengegangenem Vertrauen. Wir haben – das wurde heute vielfach diskutiert – natürlich auch Kritik geübt an der Impfstoffbeschaffung auf der EU-Ebene. Aber umso mehr ist jetzt doch die Zeit der Verantwortung, es geht darum, das zu kompensieren. Dafür gibt es Chancen, zum Beispiel, indem wir den knappen Impfstoff, den wir jetzt haben, mit Exportbeschränkungen belegen, sodass er in der Europäischen Union verbleibt. Oder wir nutzen die Chance, mit Präsident Biden darüber zu reden, wie mit den USA eine Lösung gefunden werden kann. Auch das ist eine konkrete Erwartung an den EU-Gipfel, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es wird natürlich auch darum gehen, dass wir über den digitalen EU-Impfpass diskutieren. Denn klar ist für uns, dass die Öffnung des Gewerbes, dass die Öffnung der Hotellerie, dass Reisen, die wir alle in Zukunft wieder erleben wollen, nicht nur aufgrund regionaler Insellösungen möglich sein sollen, sondern möglichst unionsweites im Rahmen eines Mehr-Ebenen-Systems. Dafür brauchen wir gemeinsame Lösungen und einen fairen Umgang miteinander in der EU, aber auch in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Stichwort „fairer Umgang“ leitet über zu einigen abschließenden Überlegungen, auch mit Blick auf die Debatte der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Bundeskanzlerin hat sich dazu geäußert und hat, was ich schon anerkannt habe, Verantwortung für eine Entscheidung übernommen, die eben nicht nur ihre Entscheidung war, sondern die ein einstimmiger Beschluss war und die parteiübergreifend getroffen wurde. Armin Laschet, Markus Söder und andere mehr haben richtigerweise darauf hingewiesen, aber – das ärgert mich – nicht jeder hatte die Größe dazu, sondern manche sind im Wahlkampfmodus verhaftet geblieben. Herr Mützenich, Sie beziehe ich ausdrücklich nicht mit ein. Malu Dreyer aber meinte noch gestern verkünden zu müssen, die Kanzlerin sei selbst schuld, und auch Manuela Schwesig ist wieder Großmeisterin im Schwarzer-Peter-Spiel. Ich sage Ihnen, eines geht nicht: Immer am Verhandlungstisch zu sitzen und dann darüber zu reden, dass die EU und der Bund schuld seien, aber man selbst trägt keine Verantwortung. Das kann doch nicht richtig sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Pandemie ist kein alleiniges Problem des Bundes, sie ist kein alleiniges Problem von CDU/CSU, und nicht wir, nicht andere Parteien, sondern das Virus ist der Gegner. Auch das muss eine klare Aussage dieser Debatte heute sein. ({4}) Die Menschen erwarten jetzt Perspektiven. Sie erwarten jetzt – darauf hat Ralph Brinkhaus hingewiesen – einen funktionierenden Staat. Sie wollen Kreativität und Mut. Genau das werden wir hier im Parlament gemeinsam mit der Exekutive auf den Weg bringen. Allen Verhandlern beim EU-Gipfel und für die Abstimmungen in der Bund-Länder-Ebene wünsche ich alles Gute. Wir haben das Vertrauen, dass wir dieser Pandemie nicht mit Angst, sondern mit Lösungen begegnen. ({5}) Auch das ist ein Signal der heutigen Debatte. Herzlichen Dank. ({6})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Fast jedes dritte Kind in Deutschland leidet unter psychischen Auffälligkeiten, so die medizinische COPSY-Studie des Universitätsklinikums meiner Heimatstadt Hamburg – jedes dritte Kind! Andere Studien kommen zu ähnlich dramatischen Ergebnissen. Unsere Kinder leiden unter Angststörungen, depressiven Symptomen wie Schlaf- und Essstörungen, unter Kopf- und Bauchschmerzen. Die Gründe dafür sind offenkundig: Seit einem Jahr sind Kitas und Schulen geschlossen oder laufen im Notbetrieb, sind Kontakte zu Freunden stark eingeschränkt, fallen Freizeitaktivitäten fast komplett weg. Es darf uns nicht kaltlassen, wie sehr unsere Kinder unter diesem Lockdown leiden. Ihre Nöte müssen endlich in den Fokus! ({0}) Ganz besonders leiden diejenigen Kinder, denen es auch vorher schon nicht gut ging oder die besondere Herausforderungen zu meistern haben. Da ist der hochintelligente autistische Junge aus der sechsten Klasse, der vor Corona gut im Unterricht zurechtkam, der aber durch das Wegbrechen sämtlicher Strukturen seines Alltags vollkommen aus der Bahn geworfen wurde und bei dem offen ist, ob er je zurückfindet. Da ist auch das kleine Mädchen, das von ihrem Vater schon in der Vergangenheit oft geschlagen wurde, und jetzt in der Krise noch mehr. Sie ist alleine in ihrer Verzweiflung und findet keine Hilfe, weil ihre Schule geschlossen ist und Angebote der Jugendhilfe nicht mehr stattfinden. Diese beiden stehen exemplarisch für Tausende anderer Kinder, und jedes ihrer Schicksale muss uns aufrütteln. ({1}) Für sie ist Corona die Hölle, und zwar nicht das Virus selbst. Sie leiden unter den katastrophalen Folgen des Krisenmanagements dieser Bundesregierung, und das muss endlich ein Ende haben! ({2}) Stattdessen ist der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten am Montag wieder nichts anderes eingefallen, als den Lockdown zu verlängern und bei der Krisenbewältigung weiter vor sich hin zu dilettieren. Ja, ich sage das so hart und so deutlich; denn seit Wochen und Monaten geht bei den Tests, beim Impfen, bei Luftfilteranlagen, bei digitaler Kontaktnachverfolgung einfach nichts voran. Und weil die Regierung hier so kläglich versagt, sollen die Menschen weiterhin auf ihre Grund- und Freiheitsrechte verzichten, und unsere Kinder bezahlen das mit ihrer psychischen und physischen Gesundheit. Das geht so nicht weiter! ({3}) Ohne die Reden gehört zu haben, die hier gleich von den Abgeordneten der regierungstragenden Fraktionen vorgetragen werden, habe ich aus den Debatten der vergangenen Monate doch schon eine Ahnung, was wir hier gleich hören werden, und deshalb reagiere ich jetzt schon mal. Ja, mir ist klar, dass die Regierung nicht für das Virus selbst verantwortlich ist. Aber sie ist sehr wohl für die Bekämpfung der Pandemie verantwortlich, und da ist die Bilanz nach einem Jahr einfach verheerend. Glauben Sie mir, es macht mir überhaupt keinen Spaß, Ihnen heute Ihre Fehler ankreiden zu müssen. ({4}) Ich würde Sie viel, viel lieber für ein kluges Krisenmanagement loben; denn dann würde es unseren Kindern heute sehr viel besser gehen. ({5}) Deshalb sage ich Ihnen: Machen Sie heute bloß nicht den billigen Versuch, sich hier herauszuwinden, die Lage schönzureden oder sogar einen Angriff auf diejenigen zu starten, die die Versäumnisse benennen. Die Analyse dieser desolaten Lage ist glasklar. Wer einwendet, dass der Bund gar nicht zuständig ist, dem sage ich: Der Bund hat, übrigens mit freundlicher Unterstützung der Ministerpräsidenten, diese Situation mit dem Dauer-Lockdown überhaupt erst zu verantworten. Er kann sich also hier nicht einfach aus der Verantwortung stehlen. Also lassen Sie diesen untauglichen Versuch! ({6}) Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich jetzt mit unseren Vorschlägen und den Gründen, die wir benennen – auch die Grünen haben ein paar Vorschläge vorgelegt –, auseinandersetzen und dass Sie sie nicht reflexartig abtun, nur weil sie von der Opposition stammen. ({7}) Wenn Sie mit unseren Vorschlägen nicht einverstanden sind, dann machen Sie doch einfach andere. Ich erwarte aber eine ernsthafte Debatte darüber, was jetzt geschehen muss, damit die Kinder nicht weiter zu den Verlierern dieser Pandemie gehören. ({8}) Für uns ist das zentrale Ziel klar: Wir müssen erneute flächendeckende Kita- und Schulschließungen verhindern. Tun wir das nicht, dann rollt ein Tsunami an Problemen auf uns zu, den auch kein noch so hoher Deich aufhalten kann. Wir fordern in unserem Antrag neun konkrete Maßnahmen. Dazu zählt ein Krisengipfel zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen als Initialzündung für handfeste Maßnahmen, zum Beispiel pandemiesichere Freizeitangebote, Therapieplätze, die ausgebaut werden müssen, und Kindersozialarbeit, die wir stärken müssen. Ich freue mich auf die Debatte. Lassen Sie sie uns ernsthaft führen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dem Redebeitrag der wesentlichen antragstellenden Fraktion hätte ich mir schon ein wenig mehr an Begründung für die vorgebrachten Vorschläge erwartet. Ich kann Ihnen versichern, wir setzen uns mit allen Vorschlägen auseinander, und wir haben auch eine Menge eigener Vorschläge, mit denen wir uns ständig befassen, und die wir auch umsetzen. Die Pandemie prägt unsere Gegenwart, aber Corona darf nicht zum Ende unserer Zukunft werden; darin sind wir uns einig. Deshalb ist es sehr gut, dass heute zur besten Zeit hier auch Kinder und Jugendlich im Fokus der Debatte stehen. Liebe Kollegen der Opposition – der FDP und der anderen –, Sie werfen in Ihren Anträgen wirklich wichtige Fragen auf, nämlich physische und psychische Gesundheit, Chancenaufholprogramm, Bildungskrise etc.; denn es geht um die Entwicklungs- und Bildungschancen unserer Kinder und mittelbar um den Lebens- und Arbeitsalltag von gut 7,5 Millionen Familien – das sind 25 Millionen Menschen, ein Drittel unserer Bevölkerung. Es geht um unsere Zukunft, denn die Kinder sind unsere Zukunft. Meine Damen und Herren, die Zahlen des RKI zeigen aber auch, dass die Pandemie jetzt auch die Jugend erfasst. In der vergangenen Woche haben sich über 18 000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren infiziert, dagegen nur 16 000 Menschen, die älter als 60 Jahre alt sind. Mit anderen Worten: Die Älteren sind jetzt vergleichsweise sicher, die Jugend zunehmend nicht. Bei Kindern unter zehn Jahren liegt der Inzidenzwert von 112 bereits über dem der zweiten Welle. Wir können sie nicht impfen; denn es gibt noch kein zugelassenes Vakzin – auch wenn wir uns hier auf den Kopf stellen. Zugleich – das wissen wir alle – führt das reduzierte Leben zu Hause mit Distanzunterricht und fast ohne echte Sozialkontakte und Freizeitbeschäftigung nachweislich zu psychischen und auch physischen Beeinträchtigungen. Gestern wurde die JuCo-Studie der Unis in Hildesheim und Frankfurt veröffentlicht, die den Ernst der Lage, den wir Familien- und Bildungspolitiker hier schon länger sehen, bestätigt. Kinder und Jugendliche müssen mit Kindern und Jugendlichen zusammenkommen. Der wichtigste Ort dafür ist die Schule. Deshalb hat das Offenhalten von Schulen und auch Kitas Priorität, und auch ich plädiere hier heute dafür, endlich den benötigten Kraftakt anzugehen, nicht nur zu sagen: „Man müsste mal“ oder: „Modellversuch“, sondern nach den Osterferien alle Jahrgänge testbasiert in die Schule zu lassen und dem Virus die Stirn zu bieten. ({0}) Wie geht das? Jeden Morgen – jeden Morgen! – wird jeder Schüler vor Ort unter Aufsicht von Pädagogen mit einem Selbsttest getestet. Bei negativem Testergebnis: normaler Schulunterricht unter Einhaltung von Abstand, Händewaschen, Maskenpflicht, Luftreinigung. Bei positivem Testergebnis: Ab zum PCR-Test und nach Hause in Quarantäne bis zum Ergebnis. Ähnlich bei Kitas: Hier wird mehr Mithilfe der Eltern zu Hause erforderlich sein. So wird einige Wochen verfahren. Und wenn es dann kaum hohe Inzidenzen gibt – es gibt ja eine interessante Studie dazu; in Österreich wurde das ja auch ausgewertet; da gab es gar nicht so hohe Inzidenzen –, dann kann man die Engmaschigkeit der Tests reduzieren. Es darf aber eben nicht umgekehrt sein – erst mal ein, dann vielleicht zwei Tests pro Woche –; nein, Schulen und Kitas müssen sofort gesichert werden wie Hogwarts vor den Todessern. Und da wir keine Schutzzauber haben, tun wir es mit dem, was wir haben, nämlich mit Selbsttests. Das kostet pro Woche etwas über 40 Millionen Tests. Wenn man die Kitas dazunimmt, sind es 60 Millionen Tests. Die Länder haben mit Unterstützung des Bundes, der seine Aufgabe nämlich wahrnimmt an dieser Stelle, 170 Millionen Tests geordert. Da kann man noch etwas drauflegen. Das Angebot wird hier fast stündlich von der Bundesregierung wiederholt. Unterstützung wird angeboten; man muss sie nur wahrnehmen. Das ist tatsächlich eine Aufgabe, die die Länder jetzt erfüllen müssen. Tägliche Tests erhellen das Dunkelfeld „Schule und Kita“ und entlasten Lehrkräfte, Kinder, Eltern und Arbeitgeber. Das ist die erste und die wichtigste Perspektive für Kinder und Jugendliche und natürlich für die Familien. Schule läuft wieder weitgehend normal bis hin auch zu Sport, musischen, künstlerischen und sonstigen Aktivitäten, die eben außerhalb in dieser Lage noch nicht wieder möglich sind. Das ist ein echter Weg und eine tolle Chance. Aber wie geht es weiter, wenn schulisches Leben und der Alltag sich Schritt für Schritt normalisieren? Hier muss die Parole lauten: „Durchstarten helfen“; das ist der zweite Teil meiner Ausführungen. Dabei gilt: Seelische Stärke ist die Grundlage für alles. Wenn wir die Kinder erst wieder in Schule und Kita haben, dann können wir auch Lerndefizite bewältigen. Das sagen uns auch Schulleiter, mit denen wir sprechen. Was ist jetzt die Vorstellung der Union für das Durchstartprogramm? Erstens. Schulen auf, Unterricht auf Normalmaß und den gelernten Nutzen aus dem digitalen Unterricht bitte schön integrieren. Zweitens. Mit Kindern und Jugendlichen sprechen, um ihre Erfahrungen und Prioritäten dem Durchstart zugrunde zu legen. Ein Kinder- und Jugendgipfel im Kanzleramt, den wir hier schon im letzten Jahr vorgeschlagen haben, wäre das Forum der Wahl. Drittens. Mit Familienhilfe, Kinder- und Jugendhilfe passende Begegnungs- und Hilfeformate für die veränderten und noch nicht gleich vollständig normalisierten Lebensbedingungen der Kinder entwickeln. Viertens. Langfristige Beteiligungsformate für Kinder und Jugendliche etablieren, zum Beispiel Jugendparlamente – das fördert diese Bundesregierung schon – und Hackathons; auch das findet schon statt. Denn das Kindeswohl ist ein primär heranzuziehendes Kriterium für Kinder und Jugendliche betreffende Entscheidungen, und dafür braucht es immer ihre Beteiligung. Fünftens. Die erlernten Fähigkeiten unter der Pandemie sind auch Chancen. Sie müssen für künftiges Lernen, für künftiges Arbeiten herangezogen werden. Deshalb müssen wir dies auswerten, und wir müssen Kinder und Jugendliche auch dabei einbeziehen. Sie sind die Anwendungsprofis; sie werden gebraucht. Sechstens. Natürlich auch Lernstandserhebungen durchführen und eine zielgenaue, schulische Nachsorgestrategie entwickeln, von Ferienakademien – die gab es schon letztes Jahr; man kann daraus sicher lernen, wie es noch besser geht – über Patenschaftsmodelle bis zu systematischer Nachhilfe auch unter Heranziehung privater Anbieter. Siebtens. Außerschulische Bildung – das ist uns als Union immer ganz besonders wichtig; hoffentlich nicht nur uns –, zum Beispiel Sport- und Kulturangebote intensivieren. Da besteht nun wirklich Nachholbedarf. Da ist einfach vieles versäumt worden, weil es nicht stattfinden konnte. Man muss ausloten, was man davon nachholen kann. „So viel wie möglich“ muss die Devise sein, zum Beispiel beim internationalen Jugendaustausch, zum Beispiel auch bei regionalen Freizeitveranstaltungen kleinerer Anbieter. Achtens. Freiwilligendienste stärken; das kommt auch in einem der Anträge vor. Ja, die vielen Initiativen und Hilfsangebote haben das Ehrenamt und vor allem die spontane Hilfe stark anwachsen lassen. Das ist ein guter Effekt der Pandemie. Hier sollten sowohl Programme gestärkt als auch längerfristige Einsatzmöglichkeiten für Freiwillige geschaffen werden, natürlich auch, weil sich die Jugendlichen besonders dafür interessieren. Die Anmeldezahlen sind so hoch wie nie. Das wäre eine Anerkennung, aber zugleich Hilfe für uns alle. Neuntens. Psychosoziale Hilfe überdenken. Haben wir die Sorgen und Nöte von Jugendlichen richtig erkannt? Wie kann Einzelnen so geholfen werden, dass auch sie seelisch gestärkt aus der Pandemie herauskommen? Ich will nur mal die Initiative „krisenchat.de“ nennen, mit der wir uns intensiv beschäftigen, weil sie ein bisher nicht vorhandenes, unkonventionelles, sehr niedrigschwelliges Hilfsangebot tatsächlich unterbreitet. Entscheidend ist – letzter Gedanke –: Nicht die Bundesregierung hat hier die Allein- oder Hauptverantwortung – das kann ich Ihnen nicht ersparen, auch wenn sie das jetzt nicht hören wollten –, sondern es hat jeder an seinem Platz Verantwortung: Jugend- und Kultusminister, Landräte, kommunale Verantwortliche und noch viele mehr. Was aber fehlt bisher – und das beklage ich –, ist die Priorität. Schauen wir nach vorne, sehen wir: Wir können es uns nicht leisten, Kinder und Jugendliche als Nebensache zu betrachten. Sie sind uns anvertraut, und sie sind Garanten unserer Zukunft. Das gilt übrigens unverzüglich. Wenn es ihnen gut geht, geht es uns im Wesentlichen gut.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Wiesmann, Sie sprechen auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen weiter.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verantwortungsbewusst handeln heißt: Jeder an seinen Platz. Jeder muss Verantwortung übernehmen. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Anfang meiner Rede möchte ich mich bei den Menschen in Deutschland bedanken, die seit Monaten friedlich auf der Straße sind, um für unsere Grundrechte zu demonstrieren, für Bürgerrechte, die unserer Regierung in dieser Zeit eher als störend vorkommen. All diese Menschen haben sich um unser Grundgesetz verdient gemacht. ({0}) Es sind Menschen, die um ihre Existenz bangen, Väter, Mütter, Großeltern, die sich um die Gesundheit und die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Wir werden in dieser Zeit von Verordnungen regiert, die die Ministerpräsidentenkonferenz beschließt, die anders als die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat keine Erwähnung in unserer Verfassung findet. Eine Konferenz, die nicht im Grundgesetz steht, schränkt die verbrieften Grundrechte der Bürger in Deutschland immer weiter und immer wieder ein. ({1}) Die Freiheit in Deutschland, sie wird in immer dickeren Scheiben eingeschränkt. Ich rufe alle hier im Parlament auf: Lassen Sie die Freiheit in Deutschland nicht immer weiter beschneiden! Geben Sie den Menschen und insbesondere den Kindern ihre Würde und ihre Eigenverantwortung zurück! ({2}) Denn bald wird der Tag kommen, wo Volksvertreter gefragt werden: Warum haben Sie mitgemacht? Warum haben Sie nichts getan? Warum haben Sie geschwiegen? Und wahrscheinlich wird es dann wieder keiner gewesen sein wollen, meine Damen und Herren. ({3}) An erster Stelle haben das Recht, diese Frage zu stellen, unsere Kinder, und für unsere Kleinsten und Schutzbedürftigsten spreche ich hier. Distanzlernen, Homeschooling, Schutzwochen – das sind Synonyme dafür, dass unsere Kinder nicht angemessen beschult werden. Oxford-Studien zeigen, dass Kinder der Sekundarstufe I online wenig lernen. Kinder, die vor dem Lockdown schon benachteiligt waren, leiden besonders unter dieser Situation. Die Lehrer mussten mit den Lerninhalten quasi auf den Stand zu Anfang des Lockdowns zurückgehen. Das dürfen wir in Deutschland nicht zulassen. ({4}) Die hier vorliegenden Anträge der FDP und der Grünen enthalten gute Vorschläge. Dennoch muss man sagen: Sie doktern an den Symptomen herum, anstatt die tatsächliche Ursache zu bekämpfen und dann wirklich konsequent zu sein. Die Konsequenz heißt: Risikogruppen schützen, Schulen unverzüglich öffnen! In diesem Punkt hat die Regierung auf allen Ebenen versagt. ({5}) Die AfD aber will die Ursache bekämpfen. Wir möchten Kindern ihre Kindheit, ihr Lachen, ihre Normalität zurückgeben; denn Normalität ist der beste Schutz für Kinder. Alle Parteien haben im Ausschuss unseren Antrag abgelehnt, in dem wir unter anderem fordern, bei allen Coronamaßnahmen die Auswirkungen auf das Kindeswohl zu prüfen, Kinder bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr vollständig von der Maskenpflicht zu befreien und eine differenzierte Nutzen-Schaden-Analyse in Bezug auf die Mund-Nasen-Schutz-Verordnung mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche aufzustellen – ({6}) alles Forderungen, die auch von Kinderärzten, Verbänden und Eltern schon lange eingebracht werden. Kinder sind keine Treiber der Pandemie. Wer das verneint, hat die vielen internationalen Studien nicht gelesen und benutzt unsere Kinder für Machtspiele und Panikrhetorik. Studien zeigen: Erwachsene stecken häufig Kinder an, aber eben nicht umgekehrt. Kinder sind nicht die primäre Gefahr in dieser sogenannten Pandemie. In Schweden, das keine Maskenpflicht und keinen Lockdown hat, liegt die Inzidenz bei Kindern bei 2. Schweden hatte 15 schwer erkrankte Kinder. Das entspricht einem Auftreten schwerer Erkrankungen bei Schulkindern von 1 : 130 000, meine Damen und Herren. Wenn wir uns dann anhören, dass die vermeintlich um 152 Prozent gefährlicheren Mutationen eintreten, dann bliebe, wenn dies stimmt, immer noch ein Verhältnis von 1 : 51 000, also etwa 38 bis 40 schwer erkrankte Kinder. Meine Damen und Herren, ja, diese Erkrankungen sind schlimm; aber wir müssen die Verhältnismäßigkeit wahren. ({7}) Was unsere Regierung davon abhält, bei dieser Faktenlage die Kinder von der Maskenpflicht zu befreien, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir haben Zahlen für Deutschland, die Eltern, Kinder, ganz Deutschland beruhigen könnten und die die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen aufzeigen. Im Vergleich zu Erwachsenen erkranken Kinder weniger an Covid-19. Laut RKI machten bisher nur 1,8 Prozent der festgestellten Coronainfektionen Kinder unter zehn Jahren aus. Von 15 Millionen in Deutschland lebenden Kindern mussten bislang aufgrund von SARS‑CoV‑2 245 stationär aufgenommen werden. Das sind Zahlen. Wir wissen alle – und das wurde hier von der Rednerin der FDP richtig gesagt –, wie sehr unsere Kinder unter diesen Maßnahmen leiden: überfüllte Psychiatrien, ein exponentielles Wachstum bei Depressionen, körperliche Leiden. Hier im Parlament werden leider nur Krokodilstränen vergossen. Nehmen wir aber wider besseres Wissen hier all diese unverhältnismäßigen Maßnahmen hin? Wir von der AfD tun das nicht. ({8}) Ich frage mich, ob Kindern, Eltern und Großeltern noch von einigen hier in die Augen gesehen werden kann. Dieser Regierung sage ich jedenfalls: Schämen Sie sich! ({9}) Es ist Zeit, dass wir Parlamentarier anfangen, das Wohl von Kindern endlich ganz oben auf die Agenda zu setzen; denn sonst machen wir uns mitschuldig. Die Kanzlerin hat mit der Rücknahme ihrer sogenannten Osterruhe bewiesen, dass es sich eben nicht um einen Killervirus handelt, sondern dass es sich um eine Krankheit handelt, wobei man die Maßnahmen zu deren Bekämpfung offensichtlich aussetzen und zurücknehmen kann, weil man Probleme bei der Lohnfortzahlung sieht, meine Damen und Herren – bei der Lohnfortzahlung! Wenn es um Leben und Tod geht, dann kann eine Kanzlerin bei der Rücknahme von Maßnahmen sich nicht auf die Lohnfortzahlung berufen, meine Damen und Herren. ({10}) Wir wissen nicht erst seit gestern, dass diese Regierung nicht den Menschen in Deutschland dient; sie dient den Lobbyisten und den korrupten Unionspolitikern. Frau Merkel, wenn Sie jetzt da wären, dann würde ich Ihnen Folgendes raten: Beenden Sie die kinderfeindlichste Regierungsperiode der deutschen Nachkriegsgeschichte! Treten Sie endlich zurück! Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ulrike Bahr das Wort. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es ist gut, dass wir hier und heute eine Debatte darüber führen, wie Kinder und Jugendliche durch die Pandemiemaßnahmen belastet werden und welche Unterstützung sie jetzt brauchen. Das ist lange Zeit viel zu kurz gekommen und wurde immer wieder von Familien gefordert. Ja, es stimmt: Die Bewältigung der Pandemie verlangt den Jüngsten viel ab. Auch heute, nach einem Jahr Pandemie, haben wir immer noch keine klaren Konzepte, wie wir mit Corona Schulen offen halten und Jugendarbeit verlässlich ermöglichen können. Das ist kein Ruhmesblatt und schwer vermittelbar. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir inzwischen Studien haben, die sich detailliert mit den Belastungen von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen. Wichtig scheint mir dabei, auch die ermutigenden Erkenntnisse daraus zu transportieren. Denn sowohl die COPSY-Studie als auch weitere Experten wie zum Beispiel der Intensivpädagoge Professor Menno Baumann halten fest: Die Pandemie erzeugt zwar beträchtliche psychische Belastungen; Störungen oder Krankheiten entwickeln sich aber nur dort, wo die Disposition dazu schon vorhanden ist. Kontaktbeschränkungen oder fehlende Sportangebote machen gesunde Kinder traurig, aber nicht seelisch krank. Sehr vieles können wir mit Bordmitteln abfangen, mit regelmäßigen, gerne digitalen oder auch telefonischen Kontaktangeboten der Schulen und Kitas und mit einem strukturierten Alltag zu Hause. Das muss dann aber funktionieren. ({0}) Ich sage das nicht, um Probleme zu bagatellisieren. Kinder und Jugendliche, die schon vorher psychische Probleme hatten, die aus einem sozial schwierigen Umfeld kommen, die zu Hause wenig Struktur und Rückhalt haben, sind sehr gefährdet und brauchen unbedingt Hilfe. Ich möchte nur keine Panik unter Eltern schüren, weil mir zum Teil schon die Sorge gespiegelt wird, die Generation Corona sei verloren. Nein, bislang erweist sie sich in großen Teilen als sehr resilient und vielleicht sogar als besonders kreativ. Statt auf weitere Sondergipfel kommt es mir darauf an, jetzt schnell die Regelsysteme zu stärken. Da sind wir auf einem guten Weg. In den Verhandlungen zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz befinden wir uns auf der Zielgeraden und sind gemeinsam mit unserem Koalitionspartner dabei, einen guten Entwurf noch besser zu machen. Das KJSG mit unseren Ergänzungen greift viele Punkte auf, die Sie in Ihren Anträgen ansprechen: einen hilfeorientierten Kinderschutz mit guter Kommunikation zwischen allen Akteuren, einen Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte und niedrigschwellige Hilfen in Notsituationen, wenn Eltern zum Beispiel wegen einer psychischen oder sonstigen Erkrankung ihre Kinder zeitweise nicht selbst betreuen können, sehr stark erweiterte Beteiligungs- und Beschwerderechte, damit Kinder und Jugendliche selbst eine Stimme haben und gehört werden, eine Stärkung von Selbstvertretungsorganisationen, die auch im Rahmen der Jugendhilfeplanung einbezogen und gehört werden müssen, die Verankerung von Schulsozialarbeit im SGB VIII oder eine gesetzliche Vorgabe für eine zeitgemäße digitale Ausstattung von Jugendämtern. ({1}) Diese Verbesserungen brauchen wir nicht nur zu Zeiten der Pandemie oder zur Aufarbeitung ihrer Folgen, sondern auch darüber hinaus. Das braucht aber auch finanzielle Mittel. Ich plädiere sehr dafür, dass in unserem föderalen System jetzt auch jede Ebene ihre Verantwortung annimmt und wahrnimmt, anstatt immer mit dem Finger aufeinander zu zeigen. ({2}) Dafür hat nämlich niemand Verständnis, und am allerwenigsten die Kinder und Jugendlichen, die jetzt Unterstützung brauchen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Norbert Müller das Wort. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute ein weiteres Mal zur Kernzeit die Lage von Kindern und Jugendlichen in dieser seit einem Jahr währenden Pandemie. Ich hätte angesichts der Dramatik der Situation eigentlich erwartet, dass auf der Regierungsbank der Bundesminister Spahn, die Kanzlerin, der Chef des Bundeskanzleramtes, die Bundesbildungsministerin Karliczek – vielleicht kennt der eine oder andere sie und hat sie mal gesehen – ({0}) – oh, Frau Karliczek sitzt da; das nehme ich zurück –, ({1}) die Bundesjugendministerin Giffey oder Herr Scheuer – der soll ja neuerdings für die Teststrategie an Schulen und Kitas mit zuständig sein – sitzen. Die weitgehend gähnende Leere auf der Regierungsbank zeigt aber ein deutliches Desinteresse der Bundesregierung an der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie, und das zeigt die komplette Dramatik und auch die Probleme in dieser Situation. ({2}) Meine Damen und Herren, ich bin Vater von drei Söhnen: ein zehnjähriges Schulkind, ein sechsjähriges Kitakind, das die Hälfte seines bewussten Erlebens in der Phase der Pandemie verbracht hat, und ein Zwerg, der mitten in der Pandemie geboren wurde. Meine drei Söhne haben erlebt, wie Schulen und Kitas geschlossen wurden, geöffnet und wieder geschlossen wurden, wie sie in Quarantäne mussten, weil Kinder, die sie teilweise nicht mal kannten, positiv auf Covid-19 getestet wurden. Sie haben seit einem Jahr keinen Normalzustand, selbst wenn sie mal in die Schule oder Kita gehen können. Kindergeburtstage sind ausgefallen, Freunde und Familie konnten nicht oder nur sehr eingeschränkt gesehen werden, Vereinssport findet seit einem Jahr nicht statt, Familienurlaube sind auch ausgefallen, monatelanges Homeschooling hat Schule in der Schule ersetzt. Das geht allen 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland so; das geht ja nicht nur unseren Kindern so. Und vielen von ihnen geht es nicht so gut wie meinen eigenen Kindern: Sie haben Existenzängste, sind ökonomisch nicht so gut abgesichert und leben möglicherweise auch nicht in so guten Wohnverhältnissen. Sie sitzen auf 50 oder 60 Quadratmetern in Zweiraumwohnungen. In meinem Wahlkreis in Potsdam ist das die Realität für Familien mit zwei oder drei Kindern: in kleinen Wohnungen zu leben und diese Pandemie noch ganz anders zu erleben. Wenn wir uns dann angucken, welche Priorität diese Situation für Bund und Länder hat, dann muss ich sagen: keine besonders große. Werfen wir doch einen Blick in den Beschluss von Bundeskanzlerin und Regierungschefs, der hier in den letzten Tagen viel diskutiert wurde. Schauen Sie sich nicht nur die Passagen zur sogenannten Osterruhe an; machen Sie sich vielmehr die Mühe, auf diesen sieben Seiten mal nach Äußerungen zu Familien mit Kindern zu suchen. Sie erzielen genau einen Treffer, nämlich wenn es darum geht, dass bei den Kontaktbeschränkungen zu Ostern Kinder unter 14 Jahre bei der Zählung der Hausstände ausgenommen sind; das ist die einzige Erwähnung. Ansonsten geht es noch um Schulen und Kitas und darum, dass perspektivisch, so sie irgendwann vorhanden sein sollten, dort zwei Tests in der Woche stattfinden sollen. Wir reden seit einem Dreivierteljahr über Schnelltests; sie sind seit einem halben Jahr auf dem Markt. Es ist, ehrlich gesagt, überhaupt nicht hinzunehmen, dass es seit einem Dreivierteljahr bei den Treffen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten – ich meine alle – mit der Kanzlerin alle vier Wochen nicht um Kinder und Jugendliche geht. Es geht maximal darum, ob Abschlussklassen noch ihre Noten kriegen und Prüfungen machen können und wann die Schnelltests in den Schulen ankommen. Ich finde das eine völlig inakzeptable Situation. ({3}) Nun ist es ja nicht so, dass es keine Vorschläge der Opposition im letzten Jahr gegeben hat; das ist ja auch unser Job. Wir haben Vorschläge zur Teststrategie gemacht. Wir fordern seit einem Jahr regelmäßige Testungen in Schulen und Kitas. Das wäre schon längst überfällig gewesen. Stattdessen sah der Stufenplan des Robert-Koch-Instituts vom Oktober noch vor, dass Kinder in Schulen und Kitas, selbst wenn es zu Fällen kommt, gar nicht getestet werden sollen; sie gehen in Gruppenquarantäne und sollen gar nicht getestet werden, um Kapazitäten zu sparen. Wir, alle Oppositionsfraktionen, haben Luftfilterprogramme in Schulen beantragt. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben Pandemieräte beantragt, um Kinder in Pandemieplänen überhaupt gesondert zu berücksichtigen. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben Pandemiezuschläge für Erzieherinnen und Erzieher beantragt, die arbeiten gehen müssen, für Beschäftigte in den Sozial- und Erziehungsberufen. Das haben Sie diese Woche erst abgelehnt. Wir haben Rettungs- und Investitionsprogramme für Jugendbildungsstätten und für die Jugendherbergen beantragt. Sie haben ein Miniprogramm aufgelegt; ansonsten haben Sie es abgelehnt. Wir haben Rettungsprogramme für die offene Kinder- und Jugendarbeit, für die Jugendverbandsarbeit, für die Jugendverbände beantragt. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben einen Kindergipfel beantragt. Nach zehn Monaten beantragt das auch die FDP; das begrüße ich sehr. Das haben Sie bei uns abgelehnt, das werden Sie bei der FDP auch ablehnen; das ist ja schon angekündigt worden. Wir haben Pandemiezuschläge auf die Grundsicherung beantragt, weil ärmste Familien am heftigsten betroffen sind. Das haben Sie immer und immer und immer wieder abgelehnt. Wir haben Vorschläge gemacht zur besseren digitalen Ausstattung in Familien, uns als Linke sogar darauf eingelassen, weil das der schnellste Weg gewesen wäre, über dieses ansonsten unselige Bildungs- und Teilhabepaket wenigstens eine digitale Grundsicherung einzuführen. Über die bestehenden Mittel im BuT sollten wenigstens Familien ausreichend ausgestattet werden. Auch das haben Sie abgelehnt. Stattdessen diskutieren Kanzlerin, Bundesregierung und Ministerpräsidenten seit Monaten darüber, wie wir gewährleisten, dass Klausuren geschrieben werden und Abschlussarbeiten stattfinden. Das ist die einzige Priorität im ganzen Feld, die Sie hingekriegt haben. Und ehrlich gesagt, das Grundrecht auf Bildung auf ein Recht auf Noten zu verstümmeln, ist, finde ich, kaum auszuhalten und völlig inakzeptabel. ({4}) Zum Antrag der AfD-Fraktion. Masken sind Ihr Lieblingsthema. Mein sechsjähriger Sohn, der in Potsdam in eine Kita geht – damit gilt für ihn Maskenpflicht –, hat ein geringeres Problem damit, eine Maske zu tragen als Sie. ({5}) Im Gegenteil, manchmal muss man ihm nachmittags sagen: Du kannst die Maske übrigens auch zu Hause wieder absetzen. – Er hat auch Spaß daran, mit uns zusammen Masken auszusuchen. Das schädigt ihn null Komma null. Es stört ihn überhaupt nicht. ({6}) – Wissen Sie, es ist auch egal, ob es freiwillig ist oder nicht freiwillig ist. – Er ist froh, dass er wieder in die Kita gehen kann; ({7}) das konnte er im letzten Jahr monatelang gar nicht, das konnte er zu Beginn dieses Jahres monatelang gar nicht. Mein zehnjähriger Sohn ist froh, dass er in die Schule gehen darf. Ihn stört überhaupt nicht, ob er die Maske auf dem Schulhof oder in der Pause tragen muss oder nicht. Das ist doch nicht das zentrale Thema. ({8}) Das zentrale Thema ist, wie wir hinkriegen, dass Schulen und Kitas öffnen können, und nicht, ob die Kinder dort eine Maske tragen müssen, nur weil Ihnen das nicht in den Kram passt. ({9}) Ich finde, ehrlich gesagt, was Sie hier vorgelegt haben, ist – pardon – intellektueller Schwachsinn. Das Einzige, was Sie zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie beizutragen haben, ist, dass Masken das größte Problem sind. Auf die Idee muss man erst mal kommen. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Margit Stumpp das Wort. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin! In keinem industrialisierten Land hängt der Bildungserfolg so stark vom Elternhaus ab wie in Deutschland. Das wirkt sich in Zeiten geschlossener Kitas und Schulen noch verheerender aus. Wir haben die Folgen in der ersten Welle der Pandemie gesehen. Jetzt, zu Beginn der dritten Welle, wurden daraus nicht nur Bildungsrückstände, sondern Bildungsgräben. In keinem Land wachsen die Bildungsabstände so sehr wie bei uns in Deutschland. Dazu kommen die psychischen Folgen der Pandemie. Wir Grünen haben das früh gesehen und bereits im April des letzten Jahres und seitdem regelmäßig Vorschläge gemacht, wie wir diesen Entwicklungen entgegensteuern können. Es geht vor allem darum, die Schulen als sichere Lernumgebung und die Erreichbarkeit der Schülerinnen und Schüler im Zweifel auch digital zu sichern und Kitas offen zu halten. ({0}) Denn die wichtigsten Faktoren für Bildungserfolg sind Unterricht und die Beziehung zur Lehrkraft. Die entsprechenden Maßnahmen hat Kollege Müller gerade schon umfangreich aufgezählt; Sie kennen sie. Trotz der Dringlichkeit liefen unsere Anträge überwiegend ins Leere. Verändert hat sich seit einem Jahr so gut wie nichts.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Stumpp, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Wiesmann?

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Wenn Sie hier zu der Überzeugung kommen, dass es so wichtig ist, den Präsenzunterricht rasch wieder zu ermöglichen, würde ich Sie gerne fragen, wie es sein kann, dass in der Hessischen Landesregierung, wo darum gerungen wurde, ob vor Ostern eine Rückkehr zum Präsenzunterricht für die seit vielen Wochen ausgeschlossenen Jahrgänge 7 bis 11 ermöglicht werden kann, Ihre Vertreter in der Landesregierung dafür gesorgt haben, dass eine inzidenzbasierte Grenze eingezogen wurde, die am Ende dafür gesorgt hat, dass die angekündigten Schulöffnungen für die Jahrgänge 7 bis 11 nicht erfolgen konnten. Ich würde wirklich gerne erfahren, ob Sie dahinterstehen oder ob das einfach unterschiedliche Auffassungen sind, die Sie untereinander klären könnten. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie kennen die Möglichkeiten innerhalb einer Koalition. Wo ist Ihr Stufenplan? Er hätte uns ein Stück weit weitergeholfen. Man bezieht sich immer noch auf das Robert-Koch-Institut. Da müssen Sie sich nicht wundern, wenn es innerhalb der Landesregierung Rangeleien gibt über den richtigen Weg. Sie haben bis heute in den Konferenzen keinen Stufenplan vereinbart. Was wundern Sie sich? Schauen Sie sich schwarz regierte Bundesländer an. ({0}) Wir sehen, das Gerangel um Zuständigkeiten hält überall an, und Ministerin Karliczek hält sich weiter zurück. Die Presse kommentiert, die Bildungsministerin schaue von der Seitenlinie zu. Den Eindruck teile ich nicht. Ich habe vielmehr den Eindruck: Die Bildungsministerin sitzt bereits in der Kabine und erwartet sehnlichst den Abpfiff, anstatt alles dafür zu tun, das Spiel noch zu drehen. Nur so ist es doch zu erklären, dass sie den Spielverlauf – um im Bild zu bleiben – völlig realitätsfern einschätzt. Sie nimmt eine „Aufbruchsstimmung“ in den Schulen wahr. Man fragt sich: Aufbruch wohin? Ich bin fast täglich in Kontakt mit Schulleitungen, mit Lehrkräften, mit Eltern, auch mit Schülerinnen und Schülern. Aufbruch? Aufbruch spüre ich in Richtung Verzweiflung und in Richtung Resignation, ({1}) weil nichts, aber auch gar nichts von dem, was versprochen wurde, ankommt. Wo bleiben die Endgeräte für Lehrkräfte, für Administratorinnen und Administratoren, ausreichend Masken, Selbsttests? Auch die Impfungen für unsere Pädagoginnen und Pädagogen erfolgen immer noch schleppend. Fazit: Die Not ist groß und wird durch Ignoranz noch größer. Frau Karliczek, heute sind Sie ja wenigstens mal da. Aber dass Sie hier in der Debatte Stellung beziehen – Fehlanzeige! ({2}) Wir legen einen Antrag vor, der nicht nur die Maßnahmen zur Sicherstellung von Präsenz- und im Zweifel auch Distanzunterricht fordert, sondern den Blick über die Zeit der akuten Pandemie hinaus richtet. Wir brauchen ein Bündel von mittelfristigen verlässlichen Begleit- und Fördermaßnahmen, damit unsere Kinder die Last in Form von Bildungsrückständen aus der Pandemie nicht ihr ganzes Leben lang mit sich schleppen. Dafür tragen alle Verantwortung; denn Bildung ist eine gesamtpolitische Aufgabe – auch für den Bund. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Norbert Altenkamp für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, wir alle wollen – darüber brauchen wir uns nicht zu streiten – das Beste für unsere Kinder. Als Vater von zwei Kindern weiß ich nur zu gut, vor welch großen Herausforderungen durch die Einschränkungen der Coronakrise unsere Kinder und ihre Familien stehen. Sie können ihre Freunde nicht mehr in der gewohnten Art treffen, nicht feiern, kaum Sport treiben, Musik machen oder die Welt durch Reisen erkunden. Sie versäumen trotz allen Bemühens im Homeschooling Schulstoff und außerdem wertvolle Erfahrungen, die für ihre Entwicklung wichtig sind. Viele Jugendliche haben auch Angst vor der Zukunft und fühlen sich einsam. Aber es gefällt ihnen auch nicht, dass wir ihnen Stempel wie „verlorene Generation“ oder „Generation Corona“ aufdrücken. Viele Kinder können die Herausforderungen mithilfe ihrer Familien, enger Freunde und engagierter Lehrkräfte gut bewältigen – auch meine. Manche Kinder können das aber leider nicht. Deshalb freue ich mich, dass wir darüber diskutieren, wie man den Kindern und Jugendlichen am besten helfen kann, die coronabedingten Herausforderungen zu überwinden. Ja, wir brauchen ein Nachholprogramm für unsere Kinder; das hat auch Bundesministerin Karliczek mehrfach betont. ({0}) Dabei ist es aus meiner Sicht essenziell, dass wir die psychischen Probleme und die Probleme durch Lernrückstände zusammendenken; denn nur Kinder, die sich wohlfühlen, können auch gut lernen. Kinder müssen trotz der Pandemie Kinder sein können. Sie brauchen Freiräume, um sich zu entfalten. Es nützt nichts, wenn wir versuchen, wie durch einen Lerntrichter das entgangene Wissen so schnell wie möglich reinzustopfen. Genau das kommt mir in Ihren Anträgen zu kurz. ({1}) Kinder müssen nicht nur funktionieren, sondern dürfen auch die bald wiedergewonnenen Freiräume für sich ganz persönlich nutzen. Umso mehr begrüße ich, dass Bundesministerin Karliczek den Ländern angeboten hat, zusätzliche Lernangebote in den Ferien mit dem BMBF-Programm „Kultur macht stark“ zu unterstützen. Beim Lernsommer Schleswig-Holstein 2020 war diese Kooperation bereits erfolgreich. Dabei ging es eben nicht nur um Schulstoff, sondern auch um die persönliche und soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, um Selbstständigkeit und digitale Kompetenzen. Der Bund kann nur anbieten, die Länder müssen zugreifen. ({2}) Wegen des hohen Unterrichtsausfalls arbeitet Bundesministerin Karliczek gemeinsam mit den Ländern auch an einem Aktionsplan zum Aufholen von Lernrückständen. Schwerpunktmäßig will man mit dem Programm Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen und in den Kernfächern fördern. Die Herausforderungen sind also bekannt, und sie werden angegangen. Ihre Forderungen an den Bund sind aber falsch adressiert. Ihre Anträge sind ein Forderungskatalog an die Länder. Der Bund unterstützt die Länder immer gerne dabei, ihre Aufgaben zu erfüllen, um unseren Kindern optimal zu helfen. Das zeigen nicht nur das geplante Nachholprogramm und das Programm „Kultur macht stark“, sondern auch der DigitalPakt Schule, das „Haus der kleinen Forscher“, die geplante Bildungsplattform und vieles mehr. Viel wichtiger als der ewige Ruf nach Aktionen des Bundes ist aus meiner Sicht aber, dass die Länder ihre ureigenen Hausaufgaben im Bereich Bildung machen. So ist es eindeutig Aufgabe der Länder, den Erfolg des geplanten Nachholprogramms zu sichern, indem sie erstens die Leistungsrückstände erheben und zweitens ihre Strukturen vor Ort nutzen, um die Leistungsrückstände individuell zu beheben. Auch Patenschaften von Studierenden oder pensionierten Lehrern für Schülerinnen und Schüler sind dabei denkbar. Der Förderbedarf ist so unterschiedlich, wie es die Schulen und die Schülerinnen und Schüler sind. Auch die Strukturen sind in jedem Bundesland unterschiedlich. Hier wissen besonders die Schulen, die Landräte und Bürgermeister am besten, was erforderlich ist. So hat der Landrat in „meinem“ Main-Taunus-Kreis im letzten Jahr die Sommerpause für eine Bedarfserhebung genutzt. Und ich kann versichern: Jedes Kind in meinem Landkreis hat ein digitales Endgerät, das es im Homeschooling nutzen kann. So muss es auch bei dem Nachholprogramm laufen. Nur dann können wir erfolgreich sein. Dabei sollten die Länder den Verantwortlichen vor Ort auch mehr Spielräume geben, in einem abgesteckten Rahmen eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, gerade auch dann, wenn es um den sicheren Präsenzunterricht während der Pandemie geht. Wir müssen auch im Bildungsbereich flexibler und weniger bürokratisch sein. Es ist gut, wenn Bund und Länder beim Nachholprogramm und bei vielen anderen Gelegenheiten gut zusammenarbeiten. Aber wir sollten dabei nicht die Zuständigkeiten vermischen. Nur dann kann auch das Nachholprogramm funktionieren. Daher freue ich mich auf die weitere Diskussion im Ausschuss. Bis dahin wäre es allerdings hilfreich, wenn die Antragsteller ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern Beine machen würden. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Heidt für die FDP-Fraktion. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um die Bildungslandschaft in Deutschland war es schon vor der Pandemie nicht gut bestellt. Die Situation hat sich durch die Pandemie extrem verschärft. In Deutschland halbierte sich die tägliche Lernzeit auf 3,6 Stunden. Lernschwache Schülerinnen und Schüler fielen noch weiter zurück. Eine Studie der Universität Oxford bestätigt leider: Der durchschnittliche Lernverlust entspricht etwa einem Fünftel des Schuljahres! Und noch schlimmer – das ist schon gesagt worden –: Die Bildungslücke klafft immer weiter auseinander. Für Kinder ohne bildungsaffine Eltern war der Verlust an Wissen um bis zu 55 Prozent höher. Anstatt nun alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Schulen offenzuhalten – wir von den Freien Demokraten haben ja nun wirklich genügend alternative Vorschläge gemacht und Konzepte vorgelegt –, hangelt sich die Bundesregierung von Lockdown zu Lockdown. Wenn man mit Schulen, mit Lehrern spricht, erfährt man: Einen Teil der Kinder haben sie gesehen; die hatten Eltern, die sich gekümmert haben, auch um die Ausstattung. Ein anderer Teil war weg, ward nicht mehr gesehen. Das bedeutet: Wir haben jetzt in ein und derselben Klasse ganz große Wissensunterschiede. Man kann die Klassen jetzt nicht einfach so weiterunterrichten und so tun, als ob nichts geschehen wäre, als ob es Corona nicht gegeben hätte. Und: Wir dürfen auch die inklusiven Kinder nicht vergessen. In Förderschulen und Schwerpunktschulen hat es fast kein Homeschooling gegeben. Hier ist die Situation besonders schlimm. Sinnvolle Coronamaßnahmen, sinnvolle Unterrichtskonzepte fehlen auch noch nach Monaten der Pandemie. Die große Gefahr ist, dass benachteiligte Schülerinnen und Schüler dauerhaft den Anschluss verlieren – eine Folge, die sich ein Land wie Deutschland, dessen Ressource die Bildung ja nun mal ist, nicht leisten kann. Das ifo-Institut hat errechnet: Die negativen Folgen der Schulschließungen kosten zukünftige Generationen circa 3,3 Billionen Euro. Frau Wiesmann: „Nicht nur reden, auch machen!“, sage ich Ihnen. Wenn wir nicht vollends wollen, dass unsere Kinder die großen Verlierer der Pandemie werden, dann brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung und ein langfristiges Chancenaufholprogramm. Es ist an uns allen, zu verhindern, dass die Coronakrise zu einer dauerhaften Krise wird. Lieber Norbert, es gibt für mich kein Kompetenzgerangel, was nicht zu lösen wäre. Lass es uns gemeinsam machen! Natürlich sind die Länder gefragt; keine Frage. Aber ich kann es von der Union nicht mehr hören: Da sind die Länder zuständig. – Es sind wir alle. Es geht um unsere Kinder. ({0}) Ja, es geht nicht nur um Unterrichtsstoff, sondern es geht auch um die Entwicklung von Sprache und Persönlichkeit. Wir brauchen jetzt dringender denn je ein gemeinsames pragmatisches, wissenschaftliches, organisatorisches und vorausschauendes Handeln. Es ist ein Bildungsmarathon nötig. Ich appelliere an Sie: Erheben Sie gemeinsam mit den Ländern Lernrückstände und Kompetenzverluste verlässlich und systematisch. So und nur so können wir in der Bildungspolitik in den nächsten Monaten und Jahren gezielt gegensteuern. Dann können wir gemeinsam mit den Ländern ein konkretes Chancenaufholprogramm entwickeln, das unsere Kinder bestmöglich fördert: Mit einem bundesweiten Lern-Buddy-Programm. Damit bekämen die Schulen ein festes Kontingent an Unterstützungsstunden, das sie sowohl zur Unterstützung der Lehrkräfte im Fern- und Präsenzunterricht, in Kleingruppen oder für eine individuelle Eins-zu-eins-Betreuung besonders unterstützungsbedürftiger Schüler und Schülerinnen verwenden können. Mit einem DigitalPakt 2.0, um jede Schülerin und jeden Schüler mit Lern Analytics individueller und besser zu unterstützen. Wir wollen die Einführung einer digitalen Lernmittelfreiheit; denn digitale Lernmittel sind genauso wichtig wie Schulbücher. Am Schluss kann ich Sie nur bitten: Zeigen Sie, dass Sie nicht nur Lockdown können. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal dazu, dass gesagt wird, dass wir jetzt in der Kernzeit diese Debatte dank der Oppositionsanträge führen. ({0}) Gerade gab es doch eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin. Dazu hat es eine Generaldebatte gegeben. In der Generaldebatte hat unsere Fraktionsvize, Katja Mast, die unter anderem für Familien- und Kinderpolitik zuständig ist, gesprochen und genau dieses Thema angesprochen, weil es eben auch in eine Generaldebatte gehört. ({1}) Also tun Sie bitte nicht so, als ob dieses Thema immer nur dank der Oppositionsanträge angesprochen wird! Und tun Sie bitte auch nicht so, als ob die Regierung in der Kinder-, Jugend-, Familien- und Bildungspolitik nicht mitmischt, wenn es um Coronafragen geht. ({2}) Wir haben ein Investitionsprogramm auf den Weg gebracht, um Kitas zu stärken, unter anderem auch, damit dort die Hygienebedingungen angepasst werden können. Wir haben dafür richtig viel Geld vom Bund auf den Markt gegeben. Tun Sie bitte nicht so, als ob der Bund da nichts macht! ({3}) Wir unterstützen die Familien finanziell, unter anderem mit dem Kinderbonus. ({4}) Also tun Sie nicht so, als ob die Regierung an dieser Stelle nichts macht! Wir haben die Kinderkrankentage ausgeweitet, und wir werden sie auch weiter ausweiten, wenn es nötig ist. Also tun Sie bitte nicht so, als ob die Regierungskoalition hier nichts macht! ({5}) Ich möchte auch noch einmal deutlich machen, dass sich die Lage im Lauf der Zeit ändert. Wir haben es mittlerweile mit mutierten Varianten zu tun. Da geht es nicht, einfach die alten Anträge und alten Konzepte von vor ein paar Monaten wieder herauszuholen, sondern wir müssen uns auch auf diese Situation neu einstellen. ({6}) Die aktuellen Zahlen zeigen leider, dass Kinder und Jugendliche in dieser Pandemie auch von Ansteckung betroffen sind. Deshalb brauchen wir auf jeden Fall intelligente Lösungen für die Schulen. ({7}) Herr Kollege Heidt, ich bin Ihnen ja sehr dankbar, dass wenigstens Sie nicht nur mit dem Finger auf den Bund gezeigt haben, sondern sagen: Wir sind alle gemeinsam verantwortlich. – Das will auch ich hier einmal unterstreichen: alle gemeinsam, Bundesregierung und Landesregierungen. ({8}) Es hilft aber nicht, wenn die Opposition jetzt umgekehrt nur Richtung Bund und nur Richtung Frau Giffey und Frau Karliczek guckt, sondern sie muss auch Verantwortung in den Ländern übernehmen. Das tun wir bitte alle gemeinsam auf allen unseren Ebenen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Einen Punkt will ich noch ansprechen: Aufholjagd für die Kinder und Jugendlichen, die durch die Pandemie jetzt zurückfallen. Ich bin sehr dafür, dass wir auch da gemeinsame, auch finanzielle Anstrengungen unternehmen, um quasi auch dort zu sagen: Wir kommen mit Hilfsprogrammen genau diesen Kindern und Jugendlichen entgegen. – Ich will aber ganz dringend darum bitten, diese nicht nur für die Schülerinnen und Schüler zu unternehmen, sondern auch für die Kitakinder. Ich appelliere auch hier gemeinsam an Bund und Länder, da eine Kraftanstrengung zu unternehmen, dass sowohl in Kitas als auch in Schulen bei Sprache, bei Bildung, bei Unterrichtsgeschichten auch tatsächlich aufgeholt werden kann. Also bitte Aufholjagd nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch für Kitakinder! Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während es hier offensichtlich Nachbarschaftshilfe zwischen den Fraktionen gibt, ist das Pult gesäubert. Herzlichen Dank dafür. Das Wort hat die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Jugend in der Krise – so lässt sich das vergangene Jahr leider für die allermeisten jungen Menschen in Deutschland zusammenfassen. Wir haben jetzt viel gehört, das ist klar. Aber während die Probleme anderer gesellschaftlicher Gruppen schon hinreichend diskutiert wurden, blieben die Sorgen und Nöte gerade von Jugendlichen, also Kindern über zwölf Jahren, weitgehend ungehört. Das haben junge Menschen auch sehr wohl registriert. In der aktuellen JuCo2-Studie haben 65 Prozent der Befragten angegeben, dass sie eher nicht oder gar nicht den Eindruck haben – 65 Prozent! –, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur ein Alarmzeichen, das ist ein Armutszeugnis für die amtierende Bundesregierung, und es ist auch eine krachende Ohrfeige für die Jugendministerin Frau Giffey. ({0}) Am 11. März hat sich die Ministerin in einer digitalen Konferenz mit Jugendlichen ausgetauscht. Da sage ich: Bravo, dass ein Jahr nach der Pandemie endlich einmal mit den Betroffenen gesprochen wurde. – Aber sorry, warme Worte und Jugend-Hearings allein helfen nicht weiter. Es braucht für diese Jugendlichen endlich eine wirksame Initiative der Bundesregierung. ({1}) Wann wollen Sie denn zum Handeln kommen und konkret Zählbares vorlegen? Ich meine, die Zeit rennt. Ein Jahr ist lang im Leben junger Menschen; das wissen Sie. Die Wahlperiode neigt sich dem Ende zu. Ich habe die Befürchtung, dass von Ihnen bis dahin nichts mehr vorgelegt wird, was wirklich hilft, besser als bisher durch die Krise zu kommen. Die Lage ist dramatisch, liebe Kolleginnen und Kollegen; wir haben es heute gehört. Psychologinnen und Psychologen sowie Therapeutinnen und Therapeuten warnen, dass sich im Verlauf dieser Pandemie immer mehr Störungen – Angststörungen, Schlafstörungen, Essstörungen – und auch Depressionen bei Kindern und Jugendlichen zeigen. Und nein, es betrifft nicht nur Jugendliche, die vorher da schon vulnerabel waren. Und wir verzeichnen auch eine Zunahme an akuter Suizidalität und psychiatrischer Notfälle. Das animiert mich als klinische Psychologin wirklich. Besonders betroffen sind natürlich die jungen Menschen, die schon vor der Krise nicht gut aufgestellt waren und wenige Ressourcen zur Verfügung hatten. Die soziale Spaltung, die es sehr wohl schon vor der Pandemie gab, hat sich verschärft. Jetzt rächt sich bitter, dass in vielen Bereichen schon vor der Krise nicht genug getan worden ist – Stichwort „digitale Ausstattung der Schulen oder der Jugendämter“. Wenn ich nach einem Jahr der Pandemie den Appell an die Bundesregierung richte: „Kommen Sie endlich ins Handeln!“, dann klingt das natürlich ein bisschen wie nach einem schlechten Witz. Es ist so viel wertvolle Zeit vergangen, viel zu wenig geschehen. Planlosigkeit, Saft- und Kraftlosigkeit an allen Ecken und Enden. Unterstützung und Stärkung von Jugendlichen sieht definitiv anders aus. ({2}) Deshalb appelliere ich eindringlich, jungen Menschen endlich mehr Beteiligung auf allen politischen Ebenen zu ermöglichen. Man muss ihre Stimmen nicht nur hören, sondern sie müssen auch zählen. Deshalb endlich mehr Beteiligung und endlich die Senkung des Wahlalters. Das haben Sie auch verschleppt in dieser Legislatur. ({3}) Darüber hinaus brauchen wir Instrumente, die vorbeugen: Kindergrundsicherung, eine Reform des BAföG, Ausbildungsgarantie. Kurz: Mehr echte Unterstützung! ({4}) Reine Lippenbekenntnisse, liebe Kolleginnen und Kollegen, reichen nicht. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Michael von Abercron für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Abercron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die vor uns liegenden Anträge von den Grünen und der FDP sind ein buntes Potpourri von Vorschlägen zur Milderung der coronabedingten Folgen für unsere Schülerinnen und Schüler. ({0}) Ich glaube, es lohnt sich, im Detail einmal etwas genauer hinzusehen. ({1}) Ich erspare Ihnen, auf medizinisch-technische Maßnahmen der Pandemiebekämpfung in den Schulen einzugehen genauso wie auf Fragen der Digitalisierung, die wir ja schon häufig hier behandelt haben. Es ist immer wieder sehr erstaunlich, wie die bildungspolitischen Anträge der Opposition ganz grundsätzlich über die Bildungshoheit der Länder hinweggehen. Es ist klar: Natürlich sollen so nach Möglichkeit die Schwächen des Bundesministeriums oder auch die Versäumnisse der Ministerin vorgehalten werden. Meine Damen und Herren, die FDP macht in ihrem Antrag das bürokratische Monster und auch sprachlich verunglückte Lern-Buddy-Programm zum Wiedergänger. ({2}) Bei den Grünen, muss ich sagen, hört sich das sehr viel besser an, wenn gut formuliert über Bildungslotsen und Mentoren gesprochen wird. ({3}) Dieser Ansatz ist ja nicht falsch. Er ist eben dazu gedacht, zusätzliche Lehrkräfte zu akquirieren, die wir dringend brauchen. Aber was dabei sehr wichtig ist: Wie steht es eigentlich um die Kompetenzen, wie steht es um die Kriterien für die Einstellung solcher zusätzlichen Lehrkräfte? Eine Kernfrage ist aber die Frage der Finanzierung. Für die Länder ist immer klar: Der Bund muss zahlen, alles zahlen und sich am Ende aus allem heraushalten. – Dagegen setzen allerdings viele Ihrer Vorschläge in den Anträgen ganz unverblümt auf die Einmischung des Bundes. Ich will dazu mal zwei Beispiele nennen: Bei den Grünen geht es zum Beispiel um das Fach der politischen Bildung. Sie ist zweifelsohne sehr wichtig. Aber ist es wirklich Aufgabe dieses Hauses, ({4}) sich jetzt mit Lehrplänen zur politischen Bildung in den Ländern auseinanderzusetzen? Das zweite Beispiel. Sollen wir etwa, wie an anderer Stelle ausgeführt, den Ländern vorschreiben, möglicherweise Theater- oder Sozialpädagogen einzustellen? ({5}) Meine Damen und Herren, das ist eine Detailfrage, und ich bin der Überzeugung: Das können die Länder vor Ort viel besser. ({6}) Es ist doch gerade die Stärke des Föderalismus, dass solche Dinge dort entschieden werden müssen. ({7}) Noch problematischer ist ein Vorschlag zur Abschaffung des Königsteiner Schlüssels, um ihn gegen einen euphemistisch als „Sozialindizies“ bezeichneten neuen Verteilungsmechanismus zu ersetzen. Meine Damen und Herren, was bedeutet das? Für die ländlichen Regionen, die ohnehin schon an anderer Stelle sehr starke Schwierigkeiten haben, würde das eine Schwächung bedeuten, und sie würden gegen Ballungsräume ausgespielt. ({8}) Die Folgen dieser Pandemie sind aber überall gleich. Deswegen können wir einer solchen Entwicklung nicht zustimmen. Meine Damen und Herren, von der FDP wissen wir ja bereits, dass sie permanent versucht, sich als digitalste aller Fraktionen darzustellen. ({9}) Deshalb werden mehr oder weniger in jedem Antrag immer wieder die gleichen Schlagworte wie „Blockchain-Lösung“, „Machine Learning“ oder „KI-Systeme“ genannt und entsprechende Forderungen aufgestellt. ({10}) Den Computer als Nürnberger Trichter haben wir leider noch nicht, aber ich bin sicher: Herr Sattelberger wird als Erster uns davon berichten, wenn es so weit ist. ({11}) Völlig abwegig ist aber die Forderung, der Bund solle herausfinden, welche Lernrückstände bei einzelnen Schülerinnen und Schülern in den Ländern vorliegen. Das ist nun wirklich Aufgabe der Länder. Völlig richtig ist es aber, entsprechende Grundlagen zu schaffen, also Evaluationen durchzuführen, weil sie die Grundlage für mögliche neue Modelle und auch für die Finanzierung sein müssen. Anderen Punkten, wie zum Beispiel der Unterstützung der KMK bei der Findung einheitlicher Abschlussstandards oder der Stärkung von Förderprogrammen, können wir vollständig zustimmen. Wir setzen deshalb auch auf eine Erweiterung des Programms „Kultur macht stark“, das wir in Schleswig-Holstein, meinem Heimatbundesland, im letzten Lernsommer genutzt haben, gerade um damit Schülerinnen und Schüler zu erreichen, die unter psychosozialen Folgen der Pandemie leiden. Darüber hinaus begrüßen wir ausdrücklich, dass die Ministerin und die Bundesregierung sich intensiv mit den Ländern über mögliche neue Förderprogramme auseinandersetzen. Allerdings müssen wir diese möglichen neuen, weiteren Leistungen des Bundes an Bedingungen knüpfen: erstens eine spezifische Ermittlung der Lernrückstände durch die Länder, zweitens die Erstellung schlüssiger Konzepte für zusätzliche Lernangebote, drittens eine besondere Berücksichtigung der Abschlussjahrgänge, viertens die Festlegung klarer Kriterien bei der Auswahl zusätzlichen Lehrpersonals und fünftens natürlich eine angemessene finanzielle Beteiligung der Länder. Deshalb zum Schluss mein dringender Appell: Helfen Sie alle – gerade die Antragsteller – in den Ländern, wo sie Verantwortung tragen, mit, dass wir zu Lösungen kommen, die gut sind! Und ich erinnere daran, dass gerade die FDP in Nordrhein-Westfalen da in einer Poleposition ist. ({12}) Helfen Sie mit, dass wir das fast verlorene Schuljahr im Sinne der Zukunft unserer Kinder wieder aufholen können! Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr von Abercron hat gerade über die Abschlussjahrgänge gesprochen. Ich will einmal von der anderen Seite kommen: Die Kinder, die im letzten Jahr eingeschult worden sind, hatten keine große Einschulungsfeier. Als sie erste Strukturen im neuen Alltag gefunden hatten, kam der Lockdown. Sie kommen jetzt zurück in die Schule. Wir sind auf der einen Seite besorgt über die Ausbreitung von Mutanten, über fehlende Tests in den Schulen. Auf der anderen Seite gehen wir im Moment davon aus, dass 20 bis 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, die jetzt wieder zurück in die Schule kommen, Lernrückstände aufweisen. Wir reden dann über 2 bis 2,5 Millionen Menschen. Das zeigt: Wir sollten in so einer Debatte hier nicht die Reden halten, die wir immer halten, sondern müssen jetzt deutlich machen, dass wir diese Schülerinnen und Schüler nicht im Stich lassen wollen, dass wir ihnen jetzt effektiv helfen wollen, die Rückstände aufzuholen. ({0}) Wir haben es als SPD immer begrüßt, dass der Bund frühzeitig das Angebot gemacht hat, den Ländern dabei unterstützend zur Seite zu stehen, sodass jetzt Verhandlungen über eine – ich nenne das so – Bundesinitiative Chancengleichheit geführt werden. Frau Karliczek, weil Sie da schon in Gesprächen sind, will ich auch nicht verheimlichen, welche Anforderungen die SPD an eine solche Initiative hat. Da geht es uns im Wesentlichen um drei Punkte: Erstens. Wir wollen, dass Schulen unterstützt werden, dass Lehrerinnen und Lehrer entlastet werden, im Übrigen auch, was Kollege Rix gesagt hat, dass die Kitas mit ihrer Lernleistung, mit ihrer Bildungsleistung in den Fokus gerückt werden. Das heißt, es muss auf der einen Seite kluge Lernangebote geben, beispielsweise auch Sprachförderung. Auf der anderen Seite müssen auch die sozialen Probleme in der Schule adressiert werden, die sozialen Folgen der Pandemie. Deswegen ist es wichtig, Schulsozialarbeiter, Scouts, Mentoren, FSJler und andere einzubeziehen. Das muss mehr sein als ein paar Stunden Nachhilfe. ({1}) Zweitens. Alle mit Lernrückständen sollen das Recht auf Unterstützung haben – völlig klar –; aber wir wissen, dass einige Kinder und Jugendliche in besonderer Weise betroffen sind, die es vorher auch schon am schwersten hatten. Deswegen muss dieses Programm in besonderem Maße Bildungsbenachteiligungen adressieren. Drittens. Was wir brauchen, ist nicht weniger als ein großer Wurf. Wir von der SPD fordern, dass wir im ersten Schritt mindestens 1 Milliarde Euro für mindestens ein Schuljahr in die Hand nehmen. Das muss es uns wert sein, und das muss auch erst der Anfang einer langen Strecke sein. ({2}) Frau Karliczek, wir unterstützen Sie dabei. Zögern Sie nicht, Ihre Vorschläge auch dem Parlament vorzulegen. Seit gestern ist ja klar, dass wir keine Geheimverhandlungen zwischen Bund und Ländern brauchen, sondern Transparenz. Wir können an dieser Stelle vorangehen; das Parlament ist der Ort der Debatte. ({3}) Die Schule 2021/2022 wird wie auch die Kita nach der Pandemie eine andere sein als 2019. Deswegen ist es wichtig, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen aus dem ziehen, was wir in den vergangenen Monaten erlebt haben. Für die SPD sind dabei folgende Dinge besonders wichtig: Erstens. Wir brauchen einen entschiedenen Kampf gegen Bildungsbenachteiligungen. Corona muss der letzte Schuss sein, den wir gehört haben; den müssen wir auch verstanden haben. Der Kampf gegen Bildungsbenachteiligungen muss geführt werden. Es darf nicht die soziale Herkunft so über den Bildungserfolg bestimmen, wie das in Deutschland leider immer noch der Fall ist. ({4}) Zweitens. Digitales bleibt. Digitale Lernmittelfreiheit ist die Antwort, freier, kostenloser Zugang zu digitaler Infrastruktur in den Schulen und zu Hause. Das kann der Bund nicht alleine schaffen. Aber als gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern sollten wir uns das für die nächste Zeit vornehmen. ({5}) Ich will an der Stelle, weil es immer so klingt, als hätte der Bund nichts gemacht, auch einmal sagen: Wir haben den DigitalPakt Schule in der Koalition aufs Gleis gesetzt und dreimal aufgestockt. ({6}) Hätten wir das nicht gemacht, dann wären in vielen Ländern, in denen die FDP, die Grünen und die Linken mitregieren, bis heute keine Tablets und Endgeräte angekommen. Das ist die Wahrheit über den DigitalPakt. ({7}) Deshalb: nicht die gleichen Reden wie immer halten, ({8}) sondern ernsthafte Antworten auf die Situation von Kindern und Jugendlichen geben. Der Weg aus der Krise führt nicht über Lamentieren und Gegeneinander-Aufrechnen, ({9}) sondern der Weg aus der Krise führt nur über Tatkraft, Ernsthaftigkeit und Zuversicht. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Pilsinger das Wort. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat sich in Deutschland im Verlauf der Corona-Pandemie weiter verschlechtert“, so der einleitende Satz der COPSY-Studie, in der durch die Pandemie entstandene gesundheitliche Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen untersucht wurden. Es ist erschreckend, dass beinahe jedes dritte Kind ein Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten leidet. Auch als Hausarzt erlebe ich immer wieder, wie sehr die Menschen unter der Pandemie leiden, sowohl durch die soziale Distanz als auch unter der Furcht vor einer Erkrankung und dem Verlust von Angehörigen durch das Virus. Auch die Menschen, die eine Covid-19-Infektion durchlitten haben, leiden oft unter psychischen Spätfolgen. Das zeigt mir: Nicht die Schutzmaßnahmen, sondern die Pandemie an sich ist der wahre Grund für die psychischen Erkrankungen. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dieses Virus so schnell wie möglich zu besiegen. ({0}) Es muss unser zentrales Anliegen sein, Kindern und Jugendlichen während dieser Krise die bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, haben Sie sehr viele richtige und wichtige Punkte aufgegriffen, die ich ausdrücklich unterstützen möchte. Dass uns die Coronapandemie seit Beginn vor riesige Herausforderungen stellt, steht außer Frage. Die hohe Belastung der Familien durch Homeschooling, Homeoffice, mangelnde Bewegung und soziale Distanz schlägt sich auch auf die Gesundheit nieder. Die Kinder beklagen depressive und psychosomatische Symptome wie Niedergeschlagenheit oder Kopf- und Bauchschmerzen. Die Zahl dieser Symptome hat sich im Vergleich zu der von vor der Pandemie fast verdoppelt. An der einen oder anderen Stelle ist Ihr Antrag jedoch zu kurz gegriffen. Viel stärker müssten wir die Beziehungen von Kindern und Eltern in den Vordergrund rücken. Die Belastungen der Eltern durch ein gleichzeitiges Management von Arbeit und Homeschooling sowie den unterstützenden Unterricht der Kinder ist enorm. Besonders wichtig erscheint mir deshalb, dass wir den Kindern beispielweise durch Sport eine Möglichkeit, raus aus dem Trott des Alltags zu kommen, bieten müssen; denn psychisches Wohlbefinden geht mit körperlichem Wohlbefinden einher. Und umgekehrt: Gesundheit ist stets das Zusammenspiel von Körper und Seele. Neben den erwähnten depressiven und psychosomatischen Beschwerden haben aber auch Sorgen und Ängste zugenommen. Es ist unerlässlich, gerade die Zukunftsängste unserer Jugendlichen zu verringern. Mit der Verlängerung und Weiterentwicklung des Bundesprogramms „Ausbildungsplätze sichern“ ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Das Kabinett hat hier einen finanziellen Anreiz für Unternehmen geschaffen, Auszubildende auch in der Zeit von Kurzarbeit und Kündigungen in den Unternehmen zu halten. Aber wir müssen noch viel mehr machen; da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Gerade im Hinblick auf physische und psychische Gewalt, der einige Kinder und Jugendliche zu Hause ausgesetzt sind, gilt die Unterstützung den telefonischen Beratungsstellen, damit die Kinder besser geschützt und unterstützt werden können; denn durch die Kontaktbeschränkungen sind Schulpsychologen und andere Bezugspersonen während der Pandemie schwerer zu erreichen. Hier müssen wir nachbessern, um den Zugang zu erleichtern. Darüber hinaus wird erläutert, dass es im Sport im Hinblick auf Corona nicht nur um die Gesundheit, sondern auch um soziale Interaktion geht, dass das Lernen, mit Konflikten, Siegen und Niederlagen umzugehen, ein wichtiger Teil in der Entwicklung der Kinder ist, der durch die Pandemie verloren geht. Wir müssen den Mittelweg aus Aufrechterhaltung der Bildung und Schutz der Gesundheit finden. Was auf keinen Fall passieren darf, ist, dass wir das exponentielle Wachstum des Infektionsgeschehens unterschätzen. Die fortschreitenden Impfungen geben Hoffnung auf Besserung und lassen allmählich ein Licht am Ende des Tunnels erahnen. Nun geht es darum, die richtige Balance zu finden. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen muss dabei oberste Priorität haben; denn sie sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Ich freue mich auf weitere Diskussionen in den Ausschüssen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die abschließenden zwei Minuten in dieser Debatte hat Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte appellativ zum Schluss unter anderem noch auf zwei Dinge eingehen. Das Erste ist: Ich war etwas erschrocken, als die Bundeskanzlerin sagte: In einer solchen Situation hat jede Ebene ihre Verantwortung. – Vor allen Dingen hat in einer solchen Pandemie die Verantwortung bei allen zusammen zu liegen, was hier von verschiedensten Seiten ausgedrückt worden ist. Das spiegelt sich auch in der Verfassung wider: In Artikel 104b GG ist ausdrücklich von Naturkatastrophen die Rede, durch die eine besondere Verantwortungsgemeinschaft aller politischen Ebenen hervorgerufen wird. Das Zweite ist: Wir haben jetzt eine strategische Bringepflicht. Denn bei vielen Menschen, bis hin zu Kindern, setzt sich der Gedanke fest: Die können es nicht. In Bezug auf Bildung muss man jetzt alles daransetzen, zu zeigen, dass etwas gekonnt wird. Mit einem Unterstützungsprogramm für Kinder und Jugendliche muss man jetzt schnell beginnen, sonst wird es wieder nichts. ({0}) Denn die Sommerferien gehen in einigen Bundesländern schon Mitte/Ende Juni los. Das sind noch drei Monate und vielleicht noch die Zeit der Ferien obendrauf. Machen wir uns klar, um welche Dimensionen es geht. Es heißt: 20 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen könnten mit Bildungsrückständen belastet sein. – Wir müssen uns klarmachen, was das in der Umsetzung bedeutet. Wenn ich 20 bis 25 Prozent von 8 Millionen oder 10 Millionen Kindern und Jugendlichen rechne – je nachdem, ob man die Berufsschulen dazu nimmt –, dann komme ich auf eine Zahl von 2 bis 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen. In der Zeitung lesen wir, dass in den Schulen in Vierergruppen gelernt werden soll: entweder vier Stunden in der Woche über ein halbes Jahr oder zwei Stunden in der Woche über ein ganzes Jahr. Das bedeutet dann, dass man 500 000 zusätzliche Lerngruppen bilden sollte – jede Woche. Wissen wir, wo wir die Lehrkräfte für diese 500 000 Lerngruppen herbekommen können, wie wir sie mobilisieren können, wenn es in Deutschland überhaupt nur 230 000 Lehramtsstudierende gibt? Wenn man jetzt nicht von höchster Stelle ein Zeichen setzt, dass es einen richtigen, auch von Begeisterung und Verpflichtung getragenen Aufbruch und eine Chance auf Bildung nach Corona gibt, dann können wir die Menschen nicht mobilisieren – weder praktisch noch emotional – für die ganze Bewegung, die es dazu braucht. Und ich sage bewusst „Bewegung“; denn es wird am Ende eine Bürgerbewegung sein müssen: eine Bürgerbewegung von Gutwilligen, von Qualifizierten, so wie wir das in anderen Notsituationen auch hatten. Manche sagen: Wie war das mit den Flüchtlingskindern? Wie viele haben sich bereitgefunden, freiwillig etwas zu leisten?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rossmann, die zwei Minuten beginnen nicht von vorne, wenn sie abgelaufen sind.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das müssen wir noch einmal hinkriegen. Das sollte ein emotionaler Appell sein. Kommen Sie in die Hufe, bitte. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute blickt Europa auf uns, auf den Deutschen Bundestag. Es geht darum, ob wir der Erwartung vieler zu entsprechen vermögen, einen gemeinsamen und solidarischen Weg einzuschlagen, um durch diese schwere Krise zu kommen. Hinter diesem etwas technisch klingendem Begriff „Eigenmittelsystem der EU“ verbirgt sich sehr viel. Es gibt die einen, zu denen ich gehöre, die das als einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion Europäische Union ansehen. ({0}) Es gibt die anderen, für die ist das ein notwendiges Übel und Teil eines schmerzhaften Paketes, das wir in der Europäischen Union während unserer Ratspräsidentschaft geschnürt haben, um die Europäische Union handlungsfähig zu halten, aber eben auch, um ein klares Signal zu setzen, dass wir niemanden alleine lassen. Es liegt im deutschen Interesse, ({1}) dass die Jugendarbeitslosigkeit bekämpft wird. Es liegt im deutschen Interesse, dass die massiven sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die mit der Pandemie verbunden sind, eingehegt werden. Die hohe Arbeitslosigkeit bei Griechinnen und Griechen stellt auch eine Gefährdung für Arbeitsplätze in Deutschland dar. ({2}) Deshalb ist es wichtig, dass wir schnell und rasch entscheiden. Inzwischen haben 14 Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Ratifizierungsverfahren abgeschlossen. Jetzt sind wir dran. Wir alle wissen, dass die Zahlen in der Europäischen Union nicht gut aussehen; von der Jugendarbeitslosigkeit, die dramatisch angestiegen ist, habe ich bereits gesprochen. Wir alle wissen nicht, wo das noch enden wird. ({3}) Aber eines muss klar sein, nämlich dass wir spätestens im Sommer mit den ersten Mitteln dazu beitragen müssen, dass niemand unter die Räder kommt. Ich höre sehr oft, es gehe um ein Wiederaufbauprogramm. Es ist mitnichten ein Wiederaufbauprogramm. ({4}) Mit den 750 Milliarden Euro wollen wir dazu beitragen, dass sich Europa erneuert. Wir wollen in Digitalisierung, wir wollen in den sozialen Zusammenhalt, wir wollen vor allem aber in mehr Klimaschutz investieren, ({5}) damit niemand Angst haben muss vor Arbeitsplatzverlusten. ({6}) Es ist ein Erneuerungsprozess, der schmerzhaft ist, der vielen etwas abverlangen wird, der aber lohnenswert ist. Dazu gehört auch, dass wir neue Wege gehen wie mit dem Eigenmittelsystem, damit die Europäische Union über eigene Steuern verfügen kann. Ich halte das im Übrigen für notwendig. Ich habe Probleme mit einem Europäischen Parlament, ({7}) das nur Ausgabenverantwortung trägt, nicht aber auch Verantwortung für Einnahmen. ({8}) Wir alle müssen uns dafür rechtfertigen, ob wir Steuern und Abgaben erhöhen oder eben auch Steuern und Abgaben absenken. Ich finde, das ist nur legitim. ({9}) Wir wissen aber auch, dass diese Entscheidung einer besonderen Situation Rechnung trägt. Die Pandemie ist eine globale Bewährungsprobe. ({10}) Deshalb ist es richtig, dass wir das, was Olaf Scholz, was die Bundesregierung für Deutschland verantwortet hat, nämlich niemanden alleine im Regen stehen zu lassen, eben auch eine europäische Dimension erhält. Darüber entscheiden Sie heute. Es geht um Solidarität im wohlverstandenen nationalen Interesse, ({11}) es geht um Gemeinsamkeit. Und es geht darum, dass dieses Europa stärker, solidarischer und handlungsfähiger aus dieser schweren Krise hervorgeht. Ich bitte Sie herzlich um Ihre Unterstützung. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Peter Boehringer für die AfD-Fraktion. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf ist im negativen Sinn historisch. Er markiert den letzten Schritt in die illegale EU-Fiskalunion, was alle gegenteiligen Versprechen seit den 1990er-Jahren bricht. ({0}) Es gab und gibt keine Rechtsgrundlage für diese EU-Verschuldung, noch dazu in so extremer Höhe. ({1}) – Wir kommen noch dazu. Herr Lambsdorff, Sie sollten das lesen. – Der EU ist gemäß ihren Verträgen eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben grundsätzlich verboten. Eine weitere Geschäftsgrundlage des Euro war seit Maastricht 1992: Niemals eine Haftungsgemeinschaft! Nun bekommen wir diese sogar fast unbegrenzt: Bei einer Schuldenaufnahme in Höhe von ehrlich gerechnet über 800 Milliarden Euro mit Tilgung bis 2058 ist die Behauptung, das sei doch „begrenzt“, ein schlechter Witz – und ein Dammbruch! Wenn dieser Damm einmal gebrochen ist, dann wird Brüssel immer wieder riesige „begrenzte“ Einzelsummen zulasten deutscher Bonität aufnehmen und sie großzügig umverteilen. Die No-bailout-Regel des Artikels 125 AEUV hat Verfassungsrang. Doch sie wird ignoriert. Die europäische Finanzverfassung wird in eine illegale Schulden- und Transferunion umgebaut. ({2}) „Next Generation EU“ müsste man mit „EU-Schulden für die nächsten Generationen“ übersetzen. Dabei sagte das Verfassungsgericht schon 2012 sinngemäß: Der Bundestag darf keinen Mechanismen zustimmen, die auf eine Haftungsübernahme für die Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen. ({3}) Doch Minister Scholz – und auch Herr Roth eben war dieser Meinung – tut dies mit dem entwaffnend lapidaren und doch verfassungsrechtlich hochbedenklichen Satz ab: Es ist der Weg in die Fiskalunion, und es ist ein guter Weg ... Legal – illegal – völlig egal: Die rechtsvergessenen 68er-Straßenparolen werden heute ganz oben im Ministerium in Marmor gemeißelt. Es ist bei 800 Milliarden Euro absurd, wenn die Regierung ernsthaft behauptet, die Haushaltshoheit künftiger Deutscher Bundestage sei durch solch einen Eigenmittelbeschluss nicht tangiert. Und diese Hoheit ist gemäß Verfassungsgericht ein unveräußerlicher Kernbestand unserer nationalen Souveränität. ({4}) Es geht hier nicht um Corona, es geht um eine Veränderung des Charakters der EU hin zu einem hoch budgetierten Staat. Ein Großteil der Wiederaufbaugelder wird für völlig andere Zwecke als zur Behebung der Coronafolgen eingesetzt, und das ist keinerlei Geheimnis. Bei der Anhörung am Montag wurde von Sachverständigen ganz offen zugegeben, dass man mit dem Geld praktisch alles machen könne: Die Zweckbindung der Ausgaben an die Behebung von Coronafolgen sei in keiner Weise gewährleistet, was aber bei einem Notfallprogramm gemäß Artikel 122 AEUV – Herr Lambsdorff, hören Sie zu – zwingend wäre. ({5}) Herr Roth, das Programm heißt Corona-Aufbauprogramm. Es geht nicht um Digitalisierung, sondern bezieht sich – wie der Name „Corona-Aufbauprogramm“ schon sagt – auf die Folgen von Corona. Nur dafür dürfen diese Gelder verwendet werden. Das ist aber nicht der Fall. ({6}) Von CO2-Mondprojekten bis zur Schuldentilgung Italiens mit Coronageldern gab es wildeste Ideen. Und die Bundesregierung stimmt solchen Ideen auch noch zu! Kein Wunder, denn es ist ganz offen erkennbar, dass auch Deutschland selbst die Coronakredite zu über 80 Prozent nicht für Coronazwecke einsetzen will und wird. Man wahrt nicht einmal mehr den Anschein einer Zweckbindung. ({7}) Die 800 Milliarden Euro sind längst überall in EUropa verplant in den Haushalten. Kontrollmechanismen? Fehlanzeige! In der Anhörung machte sich die Sachverständige der Grünen geradezu lustig über die Forderung nach nationaler Kontrolle und sagte, nationale Kontrolle ginge ja gar nicht. Von den Geldgeschenken fließen übrigens nur 28 Milliarden Euro an Deutschland zurück, obwohl wir das Vierfache davon bezahlen und das Dreißigfache behaften. Es ist alles absurd. Der vorliegende Eigenmittelbeschluss führt uns in einen illegalen Zustand eines EU-Staats mit eigenem Megabudget. Hier wird der Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eindeutig verlassen. ({8}) Nur Staaten dürfen Schulden aufnehmen, weil nur Staaten sie aus künftigem Steueraufkommen auch wieder zurückzahlen können. Die EU ist aber nach höchster Rechtsprechung kein Staat. Sie darf gemäß Lissabon-Urteil ohne Volksabstimmung auch keiner werden – und das wäre eine Volksabstimmung über die Aufgabe der deutschen Staatlichkeit. All das ist keine Lappalie, sondern die Preisgabe der Selbstgestaltungsfähigkeit Deutschlands als demokratischer Verfassungsstaat. Wir werden sofort nach Verabschiedung dieses Gesetzes Verfassungsklage einreichen. Ich fordere den Bundespräsidenten auf, dieses Gesetz nicht zu unterzeichnen. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich eine andere Rede halten. Aber: Herr Staatsminister Roth – in dieser Funktion haben Sie eben zu uns gesprochen –, ({0}) ich darf mal aus dem Antrag von CDU/CSU und SPD zitieren: Rechtsgrundlage für den Eigenmittelbeschluss ist Artikel 311 Absatz 3 des Europäischen Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Das Aufbauinstrument stützt sich auf die Ausnahmeklausel für den Fall außergewöhnlicher und gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der Union gemäß Artikel 122 AEUV. Weiter heißt es in diesem Antrag: Eine dauerhafte Schuldenaufnahme auf europäischer Ebene zur Finanzierung operativer Haushaltsausgaben der EU ist im Rahmen dieses Eigenmittelbeschlusses nicht zulässig. Herr Staatsminister Roth, Sie haben hier eben als Staatsminister für die Bundesregierung gesprochen. ({1}) Sie haben darauf abgestellt, dass Sie eine Fiskalunion wollen. Ich weise dies ausdrücklich zurück, Herr Staatsminister Roth. ({2}) Wenn Sie hier so eine Rede halten, dann bitte aus der SPD-Fraktion und nicht von der Regierungsbank kommend. Nächste Bemerkung. Ich bin sehr froh, Herr Staatsminister Roth, dass CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP diesem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz heute zustimmen wollen. Gerade die FDP hat es sich nicht leicht gemacht, dem zuzustimmen. Mit so einer Rede als Mitglied der Bundesregierung gefährden Sie die Zustimmung der FDP, Herr Staatsminister Roth. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wahlkampf können wir ab der ersten Juliwoche machen. Heute befinden wir über den Eigenmittelbeschluss zum siebenjährigen Finanzrahmen über 1 000 Milliarden Euro. Wir befinden mit einem Eigenmittelbeschluss über den Wiederaufbaufonds. Ich darf mal zitieren, was der Abteilungsleiter Westphal aus dem Bundesfinanzministerium gestern richtigerweise gesagt hat: Dieses Programm soll drei Phasen haben. Die erste Phase ist die Bekämpfung der Gesundheitskrise der Pandemie, die zweite eine gezielte Fiskalpolitik und die dritte Phase die Rückkehr zum Stabilitätspakt. Das unterstützen wir ausdrücklich. Herr Staatsminister Roth, das ist Sinn und Zweck dieses Wiederaufbaufonds – und nicht, was Sie eben beschrieben haben, der Marsch in die Fiskalunion. ({4}) Ich möchte noch eines zu bedenken geben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer in die Fiskalunion will, der muss wissen, dass dies einer einstimmigen Änderung der europäischen Verträge bedarf. Er muss weiter wissen: Wenn die europäischen Verträge geändert werden sollen, bedarf es einer Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag. Die sehe ich heute nicht und auch nicht nach der Wahl, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen sollte man sich, bevor man solche Debatten initiiert, mal Gedanken machen, wie man möglicherweise da hinten ankommt, und wenn man da hinten nicht ankommt, sollte man diese Debatten überhaupt nicht führen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Haushaltausschuss gestern mehrere Stunden debattiert. Wir haben eine Anhörung durchgeführt. Ich weiß, dass es auch vielen Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion schwerfällt, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Der eine oder andere wird nicht zustimmen; das muss und das kann man an dieser Stelle auch akzeptieren. Ich unterstütze den Gesetzentwurf ausdrücklich. ({6}) – Herr Kollege Schneider, mit seiner Rede als Mitglied der Bundesregierung hat Staatsminister Roth den Marsch in die Fiskalunion beschrieben. ({7}) Damit hat er uns keinen Gefallen getan. Ihren Zwischenruf können Sie sich sparen. Schicken Sie ihn das nächste Mal als SPD-Abgeordneten hierher und nicht als Staatsminister aus dem Auswärtigen Amt. ({8}) Ein bisschen Stil müssen wir in dieser Koalition noch haben. Die Rede hätte er auf einem SPD-Parteitag halten können, aber nicht als Mitglied der Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Christian Dürr für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Rehberg, ich bin Ihnen ausdrücklich dankbar für Ihre Klarstellung und will fragen: Herr Scholz – Sie sind doch hier im Raum –, hat Herr Roth gerade für die Bundesregierung gesprochen oder als SPD-Mitglied? Herr Scholz, es wäre jetzt an der Zeit, sich hier für die Bundesregierung zu erklären. Das möchte ich in aller Klarheit sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Glauben Sie denn ernsthaft, dass ein einziger Freier Demokrat seine Hand dafür heben würde, wenn das, was Herr Roth hier vorgetragen hat, heute zur Abstimmung stünde? Das ist ja irre, um es in aller Klarheit zu sagen. Herr Roth, das war eine Schmierenkomödie, die Sie hier aufgeführt haben. ({1}) Ich will aber auch in Richtung der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU sagen: Es war ein langer Weg. Zu Anfang hat auch die Bundesregierung noch eine Position vertreten, die der von Herrn Roth sehr nahe kommt. Das ursprüngliche Papier, der ursprüngliche Vorschlag von Frau Merkel und Herrn Macron hätte sicherlich nicht die Zustimmung der Freien Demokraten erfahren, meine Damen und Herren Die Frugal Four – die Niederlande, die Österreicher, die Schweden, die Dänen – haben gemeinsam mit den Finnen für drei ganz wichtige Änderungen gesorgt. Erstens: eine deutliche Reduzierung der Zuschüsse. Merkel und Scholz wollten ursprünglich 500 Milliarden Euro ohne jede Auflage an andere EU-Staaten überweisen. Zweitens: strikte Konditionalität. Es gibt Reformauflagen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit. Eine Auszahlung erfolgt deshalb nur bei Fortschritt in diesen Punkten. Drittens, meine Damen und Herren: eine Notbremse bei Fehlverhalten. Diese hat es bisher noch nicht gegeben, daher findet es auch die Zustimmung der Freien Demokraten, meine Damen und Herren. ({2}) Ich gehe noch weiter. Glauben Sie, Herr Kollege Rehberg, etwa, dass es für das, was Frau Merkel vorgeschlagen hatte, eine Mehrheit in Ihrer eigenen Fraktion gegeben hätte? Ich ziehe auch das in Zweifel und bin dankbar für die Klarstellung in Ihrer Rede. Diesmal hat nicht Deutschland die Rolle desjenigen übernommen, der auf Stabilitätsorientierung achtet, sondern es waren die Frugals, die das durchgesetzt haben, angeführt vom liberalen Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte. Wir können den Frugals wirklich dankbar sein, dass ihre Punkte heute zur Abstimmung stehen und nicht das, was die Bundeskanzlerin ursprünglich wollte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wie viel mehr hätte erreicht werden können, wenn Deutschland an der Seite dieser Länder gestanden hätte? Das einmalige Verschuldungsinstrument zur Finanzierung hätte vielleicht abgewendet werden können. Natürlich ist das der zentrale Kritikpunkt an diesem Paket. Deswegen will ich sagen: Deutschland stand an der Seite der damaligen italienischen Regierung; auch das gehört zur Wahrheit dazu. Ich will dazu aufrufen, dass wir dieses Paket als Chance begreifen; denn zum ersten Mal in der Geschichte sind die guten Reformvorschläge zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Semesters ein Teil der Auflagen, meine Damen und Herren. Die müssen dann aber auch durchgesetzt werden. Das wird die Aufgabe einer kommenden Bundesregierung sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Und zum Schluss, Frau Präsidentin – ich will das in aller Klarheit in Richtung der AfD sagen –: Welche Interessen Sie hier in Europa vertreten, ist total klar. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate sind Sie mit einer Delegation nach Moskau gereist. Herr Frohnmaier als Bundestagsabgeordneter – das sagt die russische Regierung sogar selber – steht unter absoluter Kontrolle durch die russische Regierung. Meine Damen und Herren, wir wollen lieber mit anderen EU-Staaten über Reformen sprechen, als wie Sie Befehle und Losungen aus Moskau zu erhalten. ({5}) Herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Alexander Ulrich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer zu Hause! Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass diese Koalition am Ende ist, dann zeigt es diese Debatte. ({0}) CDU, CSU und SPD haben in dieser zentralen europapolitischen Frage offensichtlich keine Gemeinsamkeiten mehr. Deshalb, glaube ich, sollten wir alle die Tage zählen, bis es endlich 26. September wird. Diese Koalition ist am Ende. Ich will noch ergänzen: Die CDU/CSU muss endlich mal in die Opposition. ({1}) Wenn hier Herr Rehberg von der CDU und auch die FDP aufgrund einer Rede von Staatsminister Roth so abgehen, dann kann Herr Roth nicht komplett falsch gelegen haben; das will ich mal betonen. ({2}) Wir als Linke sagen eindeutig: Seitdem es uns Linke hier im Bundestag gibt, kämpfen wir immer für ein soziales Europa, nicht nur in dieser Coronakrise. Vielmehr haben wir das auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise angesprochen. Da hätte ich mir öfters mal die SPD an unserer Seite gewünscht; denn dann wären die Griechenlandpakete anders ausgefallen. ({3}) Dann wäre die Griechenlandrettung wirklich eine Griechenlandrettung gewesen und keine Rettung der Finanzwirtschaft. Ich glaube, Solidarität wäre auch damals schon angebracht gewesen. Viele Probleme in Europa haben wir nur deshalb, weil die Troika in Südeuropa so gewütet hat. ({4}) Wenn wir uns darüber unterhalten: Wir bekennen uns zu diesem Aufbaufonds. Wir sagen auch: Der Mehrjährige Finanzrahmen ist noch ein bisschen zu klein. Wir hätten uns gewünscht, dass er höher ausfällt. Aber insgesamt reden wir über 1,8 Billionen Euro; das ist eine große Summe. Herr Roth, da will ich Sie trotzdem noch mal anfassen. Sie haben hier gesagt, das Europäische Parlament solle nicht nur darüber reden, wie man Geld ausgibt, sondern auch darüber, wie man Geld einnimmt. – Wenn wir heute über ein Finanzvolumen von 1,8 Billionen Euro auf europäischer Ebene reden, hätten wir uns als Linke auch gerne darüber unterhalten, wer denn diese Coronahilfen am Schluss bezahlt. ({5}) Dieser Frage geht dieses Parlament aus dem Weg. Auch bei den Coronahilfen in Deutschland geht dieses Parlament der Frage aus dem Weg: Wer bezahlt am Schluss für diese Krise? Wir sagen eindeutig: Wir müssen ein klares Zeichen setzen, dass die Vermögenden, die Reichen und die Konzerne für diese Krise bezahlen und nicht wieder Sozialabbau betrieben oder an der Investitionsschraube gedreht wird. ({6}) Wir brauchen Zukunftsinvestitionen, nicht nur für den Aufbaufonds, sondern auch für den sozial-ökologischen Umbau der Industrie. Da wird diese Summe gar nicht ausreichen. Deshalb brauchen wir eine Vermögensabgabe. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Amazon, Google und andere müssen endlich mal an die Kette gelegt werden, und auch die Steueroasen müssen ausgetrocknet werden. ({7}) Deshalb sagen wir ganz klipp und klar Ja zu diesem Aufbaufonds, Ja zu finanziellen Mitteln, Ja zu einem sozialen Europa. Aber wir sagen Nein, wenn man am Thema Finanzierung vorbeigeht. Wir als Linke kritisieren auch aus anderen Gründen das, worauf die FDP erst mal Wert gelegt hat, dass man hier das Europäische Semester zur Anwendung bringt. ({8}) Wir wollen nicht, dass von den Mitgliedstaaten wieder Austerität verlangt wird, damit sie aus diesem Aufbaufonds Gelder bekommen. Wir wollen nicht wieder, dass in Griechenland oder anderswo Krankenhäuser geschlossen werden müssen, damit sie Geld bekommen. Nein, wir wollen genau das Gegenteil! ({9}) Wir wollen diese Konditionen nicht. Wir brauchen einen Fortschritt, wir brauchen Investitionen und keinen Sozialabbau als Grundlage für Gelder in Europa. In diesem Sinne werden wir uns als Linke heute leider nur enthalten. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Frau Dr. Franziska Brantner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa steckt in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber heute ist ein guter Tag, weil wir den neuen EU-Haushalt mit dem Wiederaufbauinstrument ratifizieren ({0}) und damit beweisen, dass die EU auch in Krisenzeiten handlungsfähig ist. Von Bergamo über Prag bis nach Amsterdam: Wir lassen keine europäischen Freunde im Stich. Das ist das Signal, das wir heute – fast alle – aus dem Bundestag senden. ({1}) Es ist gut, dass der Wiederaufbaufonds sehr klare Kriterien für die Vergabe hat: 37 Prozent fürs Klima, 20 Prozent für die Digitalisierung. Das ist eben nicht nur eine Status-quo-Verwaltung, sondern das ist eine Investition in die Zukunft. Es ist gut, dass wir das auf europäischer Ebene so erreichen konnten. ({2}) Herr Dürr, weil Sie die Frugals so gelobt haben: Was hat denn der Verhandlungsstil der Frugals erreicht? Am Ende wurde bei Forschung gekürzt, es wurde bei Gesundheit gekürzt – der Gesundheitshaushalt wurde halbiert –, es wurde bei Erasmus gekürzt. ({3}) Das war das Ergebnis der Frugal Four. Das war ein antieuropäischer Kurs, den die Frugals dort verhandelt hatten. ({4}) Wenn wir hier alle darüber reden, wie viel wir gerne an den anderen europäischen Aufbau- und Reformplänen der Mitgliedsländer korrigieren wollen, dann wäre doch die Stilfrage, dass diese Bundesregierung den nationalen Aufbauplan Deutschlands mal hier in den Bundestag einbringt und wir hier gemeinsam darüber diskutieren, wo die europäischen Milliarden hingehen. ({5}) 25 Milliarden Euro für Deutschland, und wir diskutieren nicht darüber, was mit diesem Geld passiert. Das ist eine Stilfrage; darüber können wir diskutieren. Da haben Sie leider kein gutes Vorbild abgegeben. Apropos Stilfragen, liebe CDU/CSU – ich kann das nachvollziehen –: Wenn man in der Koalition ist, dann möchte man, dass die ganze Koalition repräsentiert ist. Aber wenn wir darüber reden, dass das ein einmaliges Instrument ist, ({6}) dann müssen wir uns auch alle ehrlich machen und sagen, dass wir in der Euro-Zone wissen, dass die Europäische Zentralbank nicht auf Dauer der alleinige Rettungsakteur sein kann. ({7}) Das ist die Frage, vor deren Beantwortung Sie sich als CDU/CSU immer noch drücken. Wenn wir die EZB mit ihrem Mandat behalten wollen – das Verfassungsgericht hat das noch mal deutlich gemacht –, dann braucht es auf europäischer Ebene in der Euro-Zone eine Fiskalpolitik. ({8}) Da können Sie hier noch zehnmal sagen, dass dies nicht der erste Schritt dafür ist. Es rettet Sie aber nicht vor der Frage, was Ihre Antwort als CDU und CSU auf diese Herausforderung der Stabilität der Euro-Zone ist. Es wäre eine Stilfrage, hier eine Antwort darauf zu geben. ({9}) Wir wissen, dass entscheidende Fragen über die Rückzahlung der Kredite, die jetzt aufgenommen werden, noch ausstehen: Schaffen wir es, Eigenmittel auf den Weg zu bringen? Digitalsteuer, CO2-Steuer, Vermeidung von Steuerbetrug, Bekämpfung von Steuerhinterziehung: Wir werden alles dafür tun, dass das Wahrheit wird, dass dies Realität wird. Ich weiß, gegen wen wir kämpfen. Aber es lohnt sich, weil das die Zukunft Europas ist. Ich danke Ihnen. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an den fraktionslosen Kollegen Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Auszahlung dieses Aufbauplanes ist daran geknüpft, dass Mitgliedstaaten sich an rechtsstaatliche Prinzipien halten müssen. Welches EU-Mitglied ist eigentlich kein Rechtsstaat? Die EU verbiegt die Maastricht- und Lissabon-Kriterien seit Jahren ja selbst nach Belieben. Jetzt werden manche entgegnen: Das zielt ja auf Haushaltsrecht, Betrug und Korruption. – Sehr gut! Wer käme auch schon auf die Idee, dass dieses Hohe Haus je selbst davon betroffen sein könnte? Sie alle hier wissen ganz genau, dass die EU gemäß Artikel 311 AEUV ihren Haushalt vollständig aus Eigenmitteln finanzieren muss. Schulden sind keine Eigenmittel. Jedem privaten Steuerzahler und Unternehmer ist das glasklar. Und hier wird mit windigen Tricks versucht, diese Regeln auszuhebeln. Die EU schreibt sogar noch selbst, dass der Haushalt nicht durch die Ausgabe von Staatsschulden ausgeglichen werden darf. Olaf Scholz ist das egal: Er bejubelt die Fiskalunion als gute Zukunft. Aber von was für einem Aufbauprogramm und von welcher Zukunft reden wir überhaupt? Deutschland hat bereits Kriseninstrumente wie das Kurzarbeitergeld. Europa und die EU haben mit SURE das gleiche Kriseninstrument, eine Art europäisches Kurzarbeitergeld. Und der ESM soll bereits die Banken retten, und er darf nicht umgewidmet werden. Wir werden sehen, wie lange das so bleibt. Diese Zukunft heißt zwangsläufig Gemeinschaftsschulden, und Deutschland verpflichtet sich sogar, zu zahlen, wenn ein anderes Land nicht kann. Wenn man das macht, dann müssen die Bürger aufgeklärt werden, worauf das hinausläuft, und gefragt werden, ob sie das so wollen. Denn als stärkste Volkswirtschaft werden wir immer zahlen. Und wir werden den Weg in diese Schuldenunion gehen, und das Ganze wird die Grundlage für europäische Steuern, was ja hier auch ganz offen gefordert wird. Im Schatten einer Posse rund um eine erweiterte Osterruhe peitscht man diesen eklatanten Rechtsbruch und die größte Verschuldung der EU aller Zeiten in sagenhaften 30 Minuten durch und bürdet dem Steuerzahler völlig unkalkulierbare Schulden bis ins Jahr 2058 auf. ({0}) Ich fand die Debatte hier sehr erfrischend; da war mal richtig Leben in der Hütte. Und auch wenn Sie erklären, dass Sie sich die Entscheidung schwer machen, und Sie dann am Ende trotzdem zustimmen, ist Ihnen doch allen klar, dass es am Ende genauso kommt, wie Staatsminister Roth das zitiert hat. Besten Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort hat Florian Jahn – Entschuldigung: Florian Hahn – von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht der Turnvater Jahn, sondern Hahn spricht jetzt für die Union. ({0}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden heute den Eigenmittelbeschluss der EU ratifizieren. Vor einem Jahr hätten wir davon nicht zu träumen gewagt, und da stand eine Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU noch in den Sternen. Unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft ist dann eine historische Einigung gelungen, und man konnte sich auf einen EU-Haushalt und auf einen Wiederaufbaufonds verständigen. Dafür noch mal herzlichen Dank an die Bundesregierung und an die Bundeskanzlerin. Die finanziellen Mittel stehen jetzt zur Verfügung. Wenn alle Mitgliedstaaten den Eigenmittelbeschluss ratifiziert haben, werden die ersten Gelder fließen, und das ist auch bitter notwendig; denn Corona hält die Menschen und die Wirtschaft im Würgegriff. Parallel dazu wächst die Staatsverschuldung. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ausgesetzt. „Impfen statt Sparen“ scheint im Moment zu stark die Devise zu sein, und das darf eben kein Dauerzustand sein. Wenn die Bevölkerung in Europa geimpft ist und wir die Pandemie im Griff haben, müssen wir zurück zu normalen Verhältnissen, müssen wir zurück zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er muss dann wieder aktiviert werden; das wird vermutlich ab 2023 der Fall sein. Und hier dürfen wir auch nicht lockerlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn wie es der Begriff sagt: Stabilität und Wachstum gibt es eben nur mit der entsprechenden Haushaltsdisziplin und nicht mit einer Schuldenunion. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wiederaufbauinstrument ist das Herzstück zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie. Gigantische 750 Milliarden Euro stehen zur Verfügung. Das Geld wird allerdings mit Wermutstropfen erkauft: Erstmals wird sich die EU verschulden müssen, um den Fonds zu finanzieren. Damit haben wir, bei Lichte betrachtet, erstmalig einen schuldenfinanzierten EU-Haushalt in substanzieller Größenordnung. Das haben wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion bisher nicht vorstellen können. Aber das ist der außerordentlichen Situation der Pandemie geschuldet, und das soll und das muss entsprechend aber auch ein einmaliger Vorgang bleiben. Eine auf Dauer angelegte Verschuldung machen wir nicht mit. Für uns kommt eine Schuldenunion nicht infrage. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, die Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses ist im Deutschen Bundestag normalerweise ein durchlaufender Posten. Heute haben wir es jedoch mit einer Ausnahmesituation zu tun, wie ich bereits ausgeführt habe, und daher scheint es mir schon notwendig, sich nicht nur mit den finanzpolitischen Folgen der Maßnahmen zu befassen, sondern auch zu schauen, auf welchem Fundament das Konstrukt steht. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union hat daher im vergangenen Jahr eine öffentliche Anhörung mit zahlreichen Sachverständigen durchgeführt. Gegenstand der Anhörung war die Frage, wie die rechtliche Gestaltung des Aufbauinstruments zu beurteilen ist und ob die EU im Rahmen ihres gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes geblieben ist. Die im Eigenmittelbeschluss festgelegten Mittel sind von den Mitgliedstaaten der EU aufzubringen. Daher benennen die EU-Verträge und das deutsche Integrationsverantwortungsgesetz den Eigenmittelbeschluss ausdrücklich als einen zustimmungsbedürftigen Unionsrechtsakt. Zweifellos berührt der vorliegende Eigenmittelbeschluss eine zentrale Frage der EU-Finanzierung. Aber allein deswegen bekommt er keine Primärrechtsqualität, sondern ist Teil des EU-Sekundärrechts. ({3}) Es liegt hier also kein Fall einer Vertragsänderung vor, wie manche glauben machen wollen. ({4}) Auch wird das Grundgesetz seinem Inhalt nach weder geändert noch ergänzt, und deshalb findet auch kein Eingriff in die Haushaltshoheit des Deutschen Bundestages statt, wie es die AfD in ihrem Antrag feststellen möchte. ({5}) Darüber hinaus konstatiert die AfD in ihrem Antrag, über den ebenfalls gleich abgestimmt wird, einen Verstoß gegen die Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages. Das sehen wir komplett anders. Die absoluten Integrationsschranken, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind, werden nicht tangiert, ({6}) auch mit Blick auf die Kreditaufnahme; denn die Mitgliedstaaten haften nicht gemeinsam für die Kredite, sondern jeder Mitgliedstaat nur für seinen Anteil an den Schulden. Vor diesem Hintergrund hat der Europaausschuss eine Stellungnahme nach Artikel 23 Grundgesetz zu dem Eigenmittelbeschluss verabschiedet, die heute ebenfalls zur Abstimmung steht, und die Quintessenz unserer Stellungnahme ist: Insgesamt steht das Maßnahmenpaket auf unions- und verfassungsrechtlich solidem Fundament. – Dies war auch das einhellige Ergebnis der erwähnten öffentlichen Anhörung. Herzlichen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht als letztem Redner in der Debatte an Markus Töns von der SPD-Fraktion. ({0})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe mein Redemanuskript jetzt auch mal beiseitegelegt, Herr Rehberg. Das ist nämlich hier und heute schon ein unglaublicher Vorgang. ({0}) Das will ich hier deutlich sagen. ({1}) Ich beginne meine Rede erst einmal damit, dass ich Frau Brantner ausdrücklich dafür danke, dass sie eine sehr sachliche Einordnung des hier praktizierten Verfahrens vorgenommen hat und dass sie deutlich darauf hingewiesen hat, worin nämlich die Probleme liegen. ({2}) Dann will ich das auch noch mal sehr deutlich sagen: Ich bin Michael Roth, einem Staatsminister in dieser Bundesregierung, ausdrücklich dankbar dafür, dass er diese klaren Worte gewählt hat, ({3}) weil es nämlich darum geht, dass wir in der Europäischen Union einen Weg in die Zukunft wählen. Und da fehlt mir bei FDP und CDU/CSU jetzt mittlerweile auch jegliches Verständnis im Hinblick darauf, wo sie stehen. ({4}) Lieber Herr Rehberg, das ist keine Gewissensfrage Ihrer Fraktion, ob Sie dem heute zustimmen oder nicht, sondern es ist eine grundsätzliche Frage der Solidarität und der Zukunft der Europäischen Union. ({5}) Und dann will ich das noch einmal betonen: Wenn Sie nicht zugehört haben – –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Erlauben Sie eine Zwischenfrage von einem AfD-Kollegen? ({0})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Zwischenfragen von der AfD braucht wirklich niemand. ({0}) Dann will ich Ihnen noch etwas sagen für den Fall, dass Sie im Februar nicht zugehört haben: Da hat der Bundesfinanzminister und Vizekanzler sehr deutlich erklärt, dass es der zukünftige Weg in eine Fiskalunion ist, und das ist Haltung der Bundesregierung. ({1}) Und dann stelle ich Ihnen offen die Frage: Stehen Sie denn dann noch hinter Ihrer Kanzlerin? Sie steht zu dem Kurs. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fricke von der FDP-Fraktion?

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Herr Kollege Töns. – Mal unabhängig von der Tatsache, dass die Frage, was eine Gewissensfrage ist, doch wohl noch jeder Abgeordnete von uns mit seinem eigenen Gewissen ausmachen muss und nicht mit irgendeinem von irgendwem vorgegebenen Gewissen, ({0}) würde ich noch mal fragen: Habe ich das gerade richtig verstanden: Der Weg in die Fiskalunion ist Position der Bundesregierung? ({1}) Ist es das, was Sie gesagt haben? Ich frage das auch für meine Fraktion, die von der Staatssekretärin Hagedorn im Haushaltsausschuss ausdrücklich anderes vernommen bzw. mitbekommen hat, nämlich dass das eine einmalige Sache wäre wegen der Notsituation. Das hätte ich nur gerne klargestellt, weil das für die Abstimmung nachher ja nicht unwichtig ist. ({2})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Fricke, wenn Sie mir zugehört haben – und ich hoffe, das haben Sie –, dann werden Sie festgestellt haben, dass ich eben den Bundesfinanzminister zitiert habe, der von dem Weg in eine Fiskalunion gesprochen hat. Sie haben dem Staatsminister vorhin ja auch zugehört; Ihr Kollege Dürr hat eben ziemlich dagegen argumentiert. ({0}) Auch das war eine Haltung. Was wir heute beschließen, ist noch nicht die Fiskalunion; das ist sie nicht. ({1}) Denn dazu brauchen wir – darauf ist heute richtigerweise hingewiesen worden – eine Zweidrittelmehrheit. Es ist richtig, dass wir die heute hier im Haus nicht hätten. Aber wenn man über die Zukunft der Europäischen Union ({2}) und über unsere Handlungsfähigkeit nachdenkt, dann muss man Ihnen auch die Frage stellen – Sie wollen doch eine europäische Partei sein –, ob man zukünftig nicht eine Fiskalunion braucht. Das ist aus meiner Sicht richtig. ({3}) Davor hat übrigens die Sozialdemokratie überhaupt keine Angst; das will ich Ihnen ganz deutlich sagen. ({4}) Ich will noch mal auf etwas eingehen, was Herr Lindner gesagt hat und was heute auch mal wieder bei der FDP Thema war: Hier ist immer von Herrn Rutte und den Frugal Four die Rede. Ich will Ihnen das mal deutlich sagen: Das sind für mich nicht die Frugal Four, das sind die geizigen Vier. ({5}) Die haben das ganze Verfahren nur verkompliziert. Es ist dem Vizekanzler und der Kanzlerin zu verdanken, dass das nicht im Chaos geendet hat. ({6}) Ich will Ihnen auch sagen, warum. Kennen Sie eigentlich den größten niederländischen Automobilkonzern? Wissen Sie, wer das ist? Das ist Fiat. Die zahlen keine Steuern in Italien, die zahlen die in den Niederlanden. Wenn wir über Gerechtigkeit in Europa reden, dann müssen wir auch über Steuergerechtigkeit in den einzelnen Ländern reden. ({7}) Liebe Linke, das ist ja alles ganz lustig hier; aber Sie haben keinem europäischen Vertrag zugestimmt. Keinem! Sich dann hier hinzustellen und sich so zu verhalten, finde ich schon sehr merkwürdig; das muss ich ganz ehrlich sagen. Eine Enthaltung ist nun wirklich keine Haltung. ({8}) An der Stelle noch einmal herzlichen Dank, Michael Roth, für deine Rede. Du hast vollkommen recht damit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Das ist heute keine Gewissenfrage; dazu stehe ich. Das haben wir zu entscheiden. Am Ende des Tages werden wir uns über die Zukunft der Europäischen Union unterrichten lassen müssen. Hinzu kommt, dass Sie von der CDU/CSU nicht die Arbeit derjenigen machen sollten, die hier rechtsaußen sitzen und die eigentlich ein Ausstiegsprogramm aus der rechten Szene brauchen. Danke. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich erteile dem Kollegen Bystron von der AfD-Fraktion das Wort zu einer Kurzintervention.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kompliment an den Kollegen Rehberg und an alle Kollegen von der Union, die sich dem hier widersetzen wollen. ({0}) Das ist der Weg in die Fiskalunion; Sie haben das gesehen. Sie haben die Arroganz der Macht von der SPD gesehen, was die hier heute vorgeführt haben – und zwar beide Redner von der SPD. Und Sie, liebe Freunde von der FDP, sollten sich auch sehr gut überlegen, wie Sie abstimmen; denn Sie können sich hier nicht hinter irgendwelchen rhetorischen Schleifchen oder so was verstecken. Heute ist der Tag, an dem entschieden wird, ob Deutschland seine Souveränität verliert, ob wir in die linke Ecke gehen, in die „EUdSSR“. ({1}) Danke schön. ({2})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede sexualisierte und sexuelle Handlung an Kindern ist Gewalt gegen diese Kinder. Das stellt das heute zu verabschiedende Gesetz bereits in seinem Namen klar. Wir treten dieser Gewalt an Kindern wirksam und deutlich entgegen – mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat hat. Die Sachverständigenanhörung im Ausschuss hat uns sehr wertvolle Hinweise der Praktiker/-innen aus Justiz, Ermittlungsbehörden und Beratungslandschaft mitgegeben. Entsprechend intensiv und umfangreich waren die Berichterstattergespräche. Sie waren geprägt von dem klaren Willen, solche Gewalttaten dem Unrechtsgehalt entsprechend wirksam und noch klarer zu sanktionieren, vor allem aber sie zu verhindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeitende in meiner Fraktion, beim Koalitionspartner und im Justizministerium, haben Sie vielen Dank für unsere fokussierten, die Kinder stets in den Mittelpunkt stellenden Beratungen. Ich möchte einige Aspekte aus dem Gesetzentwurf und unserer Debatten dazu kurz benennen: Das Strafmaß wird nun erheblich steigen für solche sexualisierten Gewalttaten an Kindern und auch für Abbildungen davon. Das schreckt hoffentlich auch ab. Noch mehr aber schreckt es wohl ab, wenn die Täter sehr wahrscheinlich entdeckt und überführt werden. Daher stellen wir auch klarer, was Ermittelnde dürfen. Das stärkt die Aufklärung. Jetzt ist es aber auch nötig, die Ermittelnden vor Ort so auszustatten, dass sie ihre wichtige und oft sehr belastende Arbeit auch bewältigen können. Am allerbesten ist es aber, wenn diese schrecklichen Taten gar nicht erst begangen werden können. Deswegen ist es uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten so wichtig, die Prävention an allen Stellen zu stärken, so auch im Rahmen dieses Gesetzes. Dabei hat uns sehr beschäftigt, wie lange schwere Straftaten im Bundeszentralregister und damit dann im erweiterten Führungszeugnis stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war selbst mal Vorsitzende bei einem Jugendverband. Ich bin jetzt noch ehrenamtlich Vorsitzende eines Vereins mit angestellten Fachkräften, mit Ehrenamtlichen. Diese setzen mit Kindern und Jugendlichen tolle und wichtige Angebote um. Was niemand möchte, der oder die verantwortlich für die Arbeit eines Vereines oder eines Verbandes ist: dass sich jemand mit einschlägigen Straftaten über diese Vereine und Verbände Zugang zu Kindern und Jugendlichen verschafft. Die Frist zur Löschung schwerer Straftaten wird auf 20 Jahre nach Verbüßen der Strafe ausgeweitet. Und bei einer Bündelung solcher Straftaten bleiben die Angaben auf Dauer im erweiterten Führungszeugnis; denn wer schwere Verbrechen an Kindern begangen hat, der kann als Fachkraft oder Ehrenamtlicher in unseren Institutionen keinen Umgang mit Kindern mehr bekommen, ({0}) nicht als Sozialarbeiter, nicht als ehrenamtlicher Vorleser im Kindergarten, nicht als Ferienlagerbetreuer, nicht als Fahrer für das Sportteam zum Turnier am Wochenende. Die lange Nachvollziehbarkeit dieser Straftaten gibt dem Haupt- und dem Ehrenamt mit Kindern mehr Sicherheit. Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, stärken wir die Position der Kinder vor Gericht. Als Kinderkommission des Bundestages haben wir in dieser Legislatur konkrete Vorschläge für eine kindgerechtere Justiz gemacht. Einige davon stehen jetzt in dem Gesetz: Familienrichterinnen und ‑richter müssen, na klar, gute Juristinnen und Juristen sein. Sie müssen aber künftig auch Expertise in Psychologie, insbesondere Entwicklungspsychologie und kindgerechter Kommunikation nachweisen oder alsbald erwerben. Die Kinder sind aktiv einzubeziehen, durch kindgerechte Anhörungen, damit die Kinder nicht durch den Prozess selbst noch mehr traumatisiert werden. Gerichte müssen jetzt, anders als vorher, begründen, warum es im Einzelfall vielleicht einmal nicht im Sinne des Kindes, zum Wohle des Kindes war, das Kind aktiv einzubeziehen. Und es ist klarer festgelegt, dass ein Verfahrensbeistand das Kind im Prozess zu begleiten hat. Dieser Verfahrensbeistand muss selbst qualifiziert sein und darf – das haben wir jetzt auch noch mal klargestellt – selbst natürlich keine Straftaten gegen Kinder begangen haben, keine sexualisierten Straftaten in seinem Führungszeugnis haben, welches auch er – oder sie – jetzt vorlegen muss. Wir als SPD-Fraktion haben uns außerdem für ein Zeugnisverweigerungsrecht der Fachberatungsstellen eingesetzt. Uns hat überzeugt, dass es das Vertrauensverhältnis beschädigen kann, wenn ein betroffenes Kind oder seine Bezugspersonen davon ausgehen müssen, dass das, was sie in den Beratungsstellen zur Aufarbeitung und Verarbeitung des Geschehens mitteilen, dann auch gegen seinen Willen oder gegen ihren Willen vor Gericht von Dritten vorgetragen werden muss. Um eine diesbezügliche Entscheidung aber besser zu fundieren, werden wir zunächst konkrete Fallzahlen erheben. Mir und uns ist es weiterhin wichtig, den Beratungsstellen und deren Klientinnen und Klienten noch mehr Sicherheit für ihre Arbeit zu geben. ({1}) Ich danke diesen Beraterinnen und Beratern für ihre so wichtige Arbeit. Ich freue mich also, sagen zu können, dass wir heute mit diesem Gesetz das Leben der Kinder in unserem Land wieder ein Stück sicherer und besser machen. Dann bringen wir hoffentlich noch die Kinderrechte gemeinsam ins Grundgesetz und verabschieden die SGB-VIII-Reform. Alles zusammen ist dann ein gutes Paket, damit es allen Kindern bei uns so gut als irgend möglich geht. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Johannes Huber von der AfD-Fraktion. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Grundintention des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder können wir sogar zustimmen. Leider aber hat es erst die erschütternden Missbrauchsfälle in Bergisch Gladbach, in Lügde und in Staufen gebraucht, um die Bundesregierung daran zu erinnern, dass es Handlungsbedarf gibt. Die AfD hat nicht nur bereits vor der Einbringung ihres ersten Gesetzentwurfs einen eigenen Antrag ins Plenum eingebracht, sondern wir haben uns auch unter meinem Vorsitz in der Kinderkommission intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Ich begrüße es ausdrücklich, dass hierbei oftmals Mitarbeiter der zuständigen Ministerien anwesend waren sowie Mitarbeiter des Unabhängigen Beauftragten gegen sexuellen Kindesmissbrauch, der im Übrigen hervorragende Arbeit leistet; das muss betont werden. ({0}) Nachdem sich nun selbst die Justizministerin Lambrecht nicht weiter gegen ein höheres Strafmaß sperrt, begrüßen wir ebenfalls die Strafverschärfung, die Aufwertung zu Verbrechenstatbeständen sowie die Beschleunigung der Verfahren, verkürzt diese doch die Leidensdauer für die Opfer. Kritisch sehen wir jedoch die Einführung des Begriffes der sexualisierten Gewalt, da dieser der bisherigen Gewaltdefinition im strafrechtlichen Sinne nicht entspricht. ({1}) Gewalt selbst ist die Ausübung körperlichen Zwangs. Sexueller Missbrauch benötigt jedoch oftmals keine Gewalt, sondern wird ebenso durch psychische Manipulation des Kindes ermöglicht. ({2}) Die Begriffsproblematik – hören Sie genau zu! – sticht besonders in § 176a StGB hervor, der – Zitat – „sexualisierte Gewalt gegen Kinder ohne Körperkontakt mit dem Kind“ behandelt. Hier wird auch für den Laien diese Absurdität erkennbar, vielleicht aber nicht für die Grünen. ({3}) Die Experten haben in der Anhörung diese Unschärfe jedenfalls deutlich kritisiert und vorgeschlagen, stattdessen beim Begriff des Missbrauchs zu bleiben. ({4}) Trotz dieser einhelligen Kritik wurde dies nicht angepasst, was darauf hindeutet, dass dem Justizministerium an dieser Stelle die Verpackung wichtiger war als der Inhalt. ({5}) Daher erwarten wir von der Bundesregierung künftig noch deutlich mehr. Wir erwarten mehr Investitionen im Bereich der Prävention, wenn man weiß, dass die Folgekosten durch sexuellen Missbrauch auf etwa 30 Milliarden Euro jährlich geschätzt werden. Wir erwarten die Ausweitung und Erleichterung der Verhängung der Sicherungsverwahrung, eine beständige Finanzierung der so wichtigen Gewaltschutzambulanzen und die Sicherstellung möglicher Beratung durch Rechtsmediziner für Kinderärzte, wenn es um die Zuordnung und Dokumentation von Verletzungen geht. Wir erwarten ebenfalls den Einsatz multiprofessioneller Teams bei der Betreuung der Opfer, einhergehend mit besseren Austauschmöglichkeiten, nicht nur zwischen Ärzten und dem Jugendamt, sondern auch zwischen der Polizei und den Jugendämtern, und zwar möglichst ohne richterlichen Vorbehalt. Aber vor allem erwarten wir, dass Sie nicht länger wegsehen. ({6}) Es kann nicht sein, dass, während ich hier zu Ihnen spreche, die deutsche Website der Foundation for Original Play weiterhin aufrufbar ist; Sie werden es wahrscheinlich gleich versuchen. Eine Organisation, die es Erwachsenen ermöglicht, fremde Kinder, meist im frühkindlichen Alter, unter der Tarnung eines vermeintlich pädagogischen Konzeptes nach Belieben zu befummeln, muss endlich verboten werden! ({7}) Frau Ministerin Giffey und Frau Ministerin Lambrecht, setzen Sie der grün-ideologischen Frühsexualisierung unserer Kinder genauso ein Ende, wie Sie es bei Kindersexpuppen jetzt angefangen haben. Wenn es um den Schutz unserer Kinder geht, dann dürfen parteipolitische Grenzen genauso wenig eine Rolle spielen wie bei Glaubensfragen. Apropos Glaubensfragen: Dass die Aufklärung des Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen weiter derart schleppend verläuft, ist ein absolutes Unding. In jedem anderen Fall hätte es Hausdurchsuchungen nur so geregnet, und das vollkommen zu Recht. Daher rufe ich Sie auf, liebe Kollegen von der CDU/CSU: Zeigen bitte auch Sie, dass Ihnen die Missbrauchsopfer heiliger sind als die Kirchen, und handeln Sie! Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Thorsten Frei von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über ein Gesetz zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs – ein Gesetz, das vor neun Monaten mit einem Maßnahmenkatalog hier in diesem Rund seinen Ausgang genommen hat, vom Bundeskabinett am 21. Oktober letzten Jahres beschlossen worden ist und dann so intensiv parlamentarisch begleitet und bearbeitet worden ist wie wahrscheinlich kaum ein anderes Gesetz. Ich sehe jetzt die Frau Ministerin nicht, sonst hätte ich es ihr auch selber gesagt: Sie hat damit schon ein ausgezeichnetes Gesetz vorgelegt, das wir durch die parlamentarischen Beratungen noch einmal haben verbessern können. Deswegen können wir wirklich stolz darauf sein, liebe Frau Rüthrich, dass wir mit diesem Gesetz eine klare, konsequente, dezidierte Antwort auf die zahllosen Missbrauchsskandale der vergangenen Jahre in Deutschland geben. ({0}) Wenn man fragt: „Was ist der zentrale Anker dieses Gesetzes?“, dann muss man sagen, dass wir bei den Straftatbeständen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der Kinderpornografie den Mindeststrafrahmen so anheben, dass es mindestens zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr kommt. Das hat Konsequenzen über den Mindeststrafrahmen hinaus, weil das letztlich bedeutet, dass eine Verhandlung nicht mehr im Strafbefehlsverfahren vonstattengehen kann, nicht mehr vor dem Einzelrichter erfolgen kann und nicht mehr wegen Geringfügigkeit eingestellt werden kann. Das bedeutet beispielsweise auch, dass Verjährungsfristen länger sind. Das bedeutet, dass man die Untersuchungshaft leichter anordnen kann, und das bedeutet auch, dass man die Handlungsinstrumente für Polizei und Staatsanwaltschaft verbessert, etwa wenn es um die Onlinedurchsuchung oder um die Überwachung von Telefonie und Internet geht. All das sind entscheidende Maßnahmen, um solchen Tätern besser auf die Schliche zu kommen und sie dann auch zur Strecke zu bringen. Darum geht es am Ende. Das Entscheidende ist: Das ist zwar der Anker, aber das ist nicht das Einzige, sondern wir tun auch etwas zur noch besseren Qualifikation von Familienrichtern, von Jugendrichtern, Jugendstaatsanwälten und Prozessbeteiligten in diesem Bereich, weil wir wissen, wie schwierig es ist, in diesem Umfeld tätig zu sein, und dass wir da noch mehr Interdisziplinarität brauchen, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Deswegen, glaube ich, ist es auch richtig, noch mal klarzustellen, wie wichtig es ist, dass betroffene Kinder und Jugendliche in solchen Verfahren auch tatsächlich angehört werden, so wie es im Gesetz drinsteht. Wir haben im Fall von Staufen gesehen, was es bedeutet, wenn Kinder eben nicht angehört werden – dort war es ein Siebenjähriger –, wenn ohne Begründung einfach darauf verzichtet wird und damit das Martyrium verlängert wird. Das ist nicht akzeptabel, und deswegen müssen wir uns mit noch mehr Sorgfalt genau solche Dinge anschauen. Zudem geht es um Prävention. Und bei der Prävention geht es vor allen Dingen darum, dass bei demjenigen, der einschlägig verurteilt ist, entsprechende Registereinträge nicht bereits nach kurzer Zeit, nach 3 Jahren, wieder gelöscht werden, sondern erst nach 10 Jahren oder auch nach 20 Jahren. In bestimmten Fällen, beim schweren sexuellen Missbrauch und beim Missbrauch mit Todesfolge, darf das nie mehr gelöscht werden, weil wir sicherstellen müssen, dass solche Täter nie mehr in die Nähe von Kindern kommen. Da ist der Schutz von Kindern um so viel höher zu bewerten als die Interessen von Straftätern, und das müssen wir als Gesetzgeber dann auch deutlich machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Lassen Sie mich zuletzt sagen: Das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne. Das ist in diesem Deliktsbereich der größte Schritt nach vorne seit vielen, vielen Jahren. Wir sind aber trotzdem noch nicht fertig, wenn es um illegale Handelsplattformen geht, wenn es um Kinderpornografieforen geht und wenn es darum geht, dass wir diese Täter noch besser aufspüren können. Wir müssen vor allem eine europarechts- und verfassungskonforme Lösung für die Vorratsdatenspeicherung finden – das ist das wichtigste Instrument zur Bekämpfung sexuellen Kindesmissbrauchs. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Jürgen Martens von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat, geänderte Bedingungen erfordern auch ein Reagieren des Gesetzgebers hierauf. Mit den Möglichkeiten des Internets eröffnen sich – in Anführungszeichen – neue Möglichkeiten, aber auch neue Gefahren, etwa völlig neue Dimensionen bei der Herstellung und Verbreitung von Abbildungen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Hier muss der Gesetzgeber handeln. Wir haben eben schon gehört, der Ankerpunkt des vorliegenden Gesetzes zum Schutz von Minderjährigen sei eine generelle Erhöhung des Strafrahmens. Ich halte das für verkürzt. ({0}) Die Ausweitung von Straftatbeständen hat natürlich auch zur Folge, dass es mehr und dann umfangreichere Ermittlungsverfahren gibt; das ist selbstverständlich. Dafür brauchen wir – bräuchten wir! – mehr Personal und eine bessere Ausstattung bei den Ländern. Das wurde in der Gesetzesbegründung zwar angeführt, aber darüber hinaus nichts in Aussicht gestellt. Meine Damen und Herren, unabhängig von dieser Bewertung hat der vorliegende Gesetzentwurf mit seinem erhöhten Strafrahmen gleichwohl einen Mangel. Der wird bisweilen als Vorteil herausgestellt: Man könne nicht mehr zu Einstellungen gelangen, ein Strafbefehl sei nicht mehr möglich, die Verfahren müssten vor dem Kollegialgericht stattfinden und, und, und. Was die verbesserten Ermittlungsmöglichkeiten anbelangt, stimme ich Ihnen zu. Was den erhöhten Aufwand für Gerichtsverfahren anbelangt, bin ich skeptisch, meine Damen und Herren; denn wir haben auch hier nicht die Ressourcen, um beliebig Aufwuchs an Verfahren und Verfahrensdauer zu verkraften. ({1}) Die Ahndung von einfachsten Fällen wäre mit einem sehr, sehr großen Mehraufwand verbunden. Es fehlt – das haben wir in einem Änderungsantrag klargestellt, und das haben übrigens alle Experten und Sachverständigen, auch der eigenen Fraktionen, in der Anhörung deutlich gemacht – eine Regelung zum sogenannten minderschweren Fall. Deswegen haben wir auch einen Änderungsantrag eingebracht. Denn wir wollen, dass unnötige, langwierige und aufwendige Ermittlungsverfahren vermieden werden und wir uns tatsächlich auf die Verfolgung von Straftaten in diesem Bereich konzentrieren können und nicht Ressourcen unnütz verschwenden. Gut am Gesetzentwurf sind in der Tat die Besserstellung von Minderjährigen, etwa durch die Bereitstellung von Verfahrensbevollmächtigen, die besseren Rechte zur Anhörung von ihnen oder die Fortbildung von Richtern. Gleichwohl wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung zum gesamten Gesetzentwurf hier lediglich enthalten. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die Kollegin Gökay Akbulut von der Fraktion Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei einem Ziel sind wir uns alle einig: Im Kampf gegen sexualisierten Missbrauch von Kindern darf es absolut keine Toleranz geben. Bei der Bekämpfung dieser Taten gibt es Handlungsbedarf. Wir unterstützen die Zielsetzung der Bundesregierung und einige der Maßnahmen wie die Fortbildung der Richterinnen und Richter; aber die Umsetzung in diesem Gesetzentwurf weist immer noch verschiedene Mängel auf. In der Anhörung des Rechtsausschusses haben nahezu alle Experten den Gesetzentwurf der Bundesregierung grundlegend kritisiert. Wir haben erwartet, dass die Bundesregierung zumindest die grundlegenden Mängel hier korrigiert, genauso wie sie die verfehlte Begriffsbildung der sexualisierten Gewalt geändert hat, nachdem sieben von acht Sachverständigen dies kritisiert haben. Leider ignoriert die Bundesregierung nach wie vor wichtige Anregungen der Experten, der Staatsanwälte, der Richter und der Strafrechtler. Die Enttäuschung bei den Juristinnen und Juristen aus der Praxis ist deshalb groß. ({0}) Die Bundesregierung konzentriert sich auf die Strafverschärfung als Mittel zur Abschreckung. Es wurde jedoch in vielen Studien nachgewiesen, dass es hier keinen Zusammenhang gibt. Deutlich wirksamer wären präventive Maßnahmen wie umfangreicher Personalausbau in der Jugendarbeit, bei den Telefonhotlines, bei den Beratungsstellen, bei den Therapieplätzen und in den Frauenhäusern. Die Bundesregierung begründet ihre Strafverschärfung mit den schrecklichen Fällen aus Staufen, Münster, Bergisch Gladbach und Lügde. Dies macht jedoch wenig Sinn, da die sich schon unter der aktuellen Rechtslage als Verbrechen darstellen. Wie schon von Sachverständigen kritisiert, werden die Verschärfungen in der Praxis bei der Umsetzung zu Problemen führen. Denn die pauschale Hochstufung zum Verbrechen und das Fehlen einer Regelung zu minderschweren Fällen führen dazu, dass die erforderlichen Differenzierungsmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind. Beispielsweise ist verfahrensrechtlich mit der Verbrechenseinstufung bei sehr leichten Fällen eine Einstellung ausgeschlossen. Es muss dann immer bei allen Fällen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, die für die Opfer eine Belastung darstellt. Dazu ein einfaches Beispiel: Ein 21-Jähriger küsst einvernehmlich eine 14-Jährige. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, in der keine Strafe ausgesprochen wird. ({1}) Mit solchen Verfahrensregelungen werden die Gerichte zusätzlich belastet und können nicht schwere Sexualstraftaten verfolgen, weil ihre Kapazitäten hier gebunden werden. Die Bundesregierung ignoriert leider diese Bedenken der Juristen. Ich möchte einen der Sachverständigen aus der Anhörung, den Strafrechtler Professor Dr. Eisele zitieren. Er kritisiert zu Recht, dass im Bereich der Kinderpornografie leider darauf verzichtet wurde, die Strafrahmen nach der Schwere der abgebildeten Missbrauchshandlungen abzustufen, sodass etwa zwischen einem einzigen Posing-Foto und Videoaufnahmen mit schweren Vergewaltigungshandlungen an kleinen Kindern nicht hinreichend differenziert wird. Also: Wir stimmen mit Ihnen überein, dass sexueller Missbrauch von Kindern besser bekämpft werden muss, aber nicht in dieser Form und vor allem nur bei Einbeziehung der Fachwelt. Deshalb können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und den Änderungen nicht zustimmen. ({2})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grauenvollen Fälle von Staufen, Lügde und Münster haben uns alle entsetzt und mal wieder gezeigt, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Diese Verbrechen müssen unbedingt noch schneller entdeckt und verfolgt werden. ({0}) Es war daher genau richtig, in NRW die Ermittlungskapazitäten zu vervierfachen und damit dem Netzwerk von Münster überhaupt erst auf die Spur zu kommen. Gut ist auch, dass man den Opfern heute endlich Glauben schenkt, anders als in den 90er-Jahren. Um ihnen zu glauben, muss man sie allerdings auch erst einmal anhören. Mit dem vorliegenden Gesetz werden jetzt endlich die Konsequenzen aus den verheerenden Fehlern in den Kindschaftsverfahren von Staufen und Münster gezogen. Dort hätte Missbrauch konkret verhindert werden können, wenn die Kinder rechtzeitig angehört worden wären. ({1}) Und Verhindern ist letztlich doch noch viel besser als Verfolgen. Ich begrüße deshalb ganz besonders die verschärften Anhörungspflichten und die Mindestqualifikation für Verfahrenspfleger und Familienrichterinnen und Familienrichter. Zum Strafrechtsteil dieses Gesetzes war die Kritik in der Anhörung am 7. Dezember 2020 allerdings verheerend, und zwar gerade auch vonseiten der Staatsanwaltschaft. Der Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs ist zu Recht weit gefasst, um alle Konstellationen zu erfassen, in denen das Vertrauen des Kindes zu sexuellen Zwecken missbraucht wird, auch wenn es sich um Berührungen über der Kleidung handelt. Auch das muss unabhängig vom Vorliegen körperlicher Gewalt strafbar sein und auch so klar im Gesetz stehen. ({2}) Aber wenn Sie dann schon den Mindeststrafrahmen für alle diese Taten auf ein Jahr heraufsetzen, hätten Sie wenigstens einen minder schweren Fall einführen müssen, um schuldangemessene Strafen zu ermöglichen. ({3}) Für annähernd gleichaltrige Teenager, die sich beispielsweise küssen, haben Sie lediglich die Möglichkeit eines Absehens von Strafe vorgesehen. Es sollte doch aber klar sein, dass küssende Teenager keine Verbrechen begehen. ({4}) Diese Konstellation muss ganz klar aus dem Tatbestand herausgenommen werden. Noch dramatischer wird es beim § 184b StGB in der vorgeschlagenen Fassung. Dort ist jetzt auch der Besitz eines einzigen Bildes zu einem Verbrechen hochgestuft, ohne jede Ausnahme, auch für die Teenager selber. Und erfasst sind nicht nur Fotos von schwerem Kindesmissbrauch wie in Münster, sondern auch sexualisierte Nacktfotos, wie sie sich heutzutage Schülerinnen und Schüler leider massenhaft gegenseitig schicken. Dieses Verhalten ist in der Tat hoch problematisch und teilweise bereits jetzt auch strafbar, wenn Bilder ohne Einverständnis weitergeleitet werden. Wir müssen über dieses Phänomen dringend ernsthaft reden; aber wir lösen das Problem doch nicht, indem wir Tausende Schülerinnen und Schüler in einen Verbrechenstatbestand reinziehen ({5}) und ihnen durch entsprechende Registereintragungen frühzeitig ihre berufliche Zukunft verbauen. ({6}) Außerdem hat uns die Staatsanwaltschaft auch davor gewarnt, was das an Ressourcen verbrauchen wird, die dann nicht für die eigentlichen Verbrecher zur Verfügung stehen. Sie hätten besser auf die Praktiker in Ihren Reihen wie den Kollegen Müller hören sollen, der es als erfahrener Jugendrichter ablehnt, dieses Gesetz mitzutragen, und unsere Kritik teilt. Mit unserem Änderungsantrag wollen wir für die Teenager einen minder schweren Fall einführen und den einvernehmlichen Besitz eines selbstgefertigten Fotos unter Teenagern ganz aus dem Tatbestand herausnehmen. Stimmen Sie unseren Änderungen zu, dann stimmen wir Ihrem Gesetzentwurf zu! Ansonsten werden wir uns trotz der Verbesserungen im Familienrecht leider nur enthalten können. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Dr. Jan-Marco Luczak von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in einer Sache – das muss ich voranstellen – sind wir uns wirklich einig: Sexueller Missbrauch von Kindern ist wirklich eines der widerlichsten Verbrechen, das man sich vorstellen kann. Die Seele von Kindern wird auf das Schwerste verletzt. Ganz viele Opfer sind ihr Leben lang traumatisiert. Deswegen glaube ich, es ist gut und richtig, dass wir als Gesetzgeber an dieser Stelle ein klares Signal aussenden. Leider sind diese sexuellen Übergriffe alltäglich. Jeden Tag werden 43 Kinder sexuell missbraucht. Das dürfen wir als Gesellschaft und auch als Gesetzgeber nicht hinnehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir sagen: Dieses schwerste Unrecht, das an den Schwächsten unserer Gesellschaft begangen wird, muss zukünftig als Verbrechen bestraft werden, meine Damen und Herren. ({0}) Das ist mehr als ein Symbol. Natürlich wollen wir auch ein Signal aussenden, weil es so schweres Unrecht ist. Wir wollen das als Gesellschaft ächten. Aber es geht eben auch darum, dass die Täter zukünftig keine Bewährungsstrafen mehr bekommen, dass die Täter zukünftig leichter in Untersuchungshaft genommen werden, dass die Täter leichter in Sicherungsverwahrung kommen. All das geht mit der Heraufstufung zu einem Verbrechenstatbestand einher. Genau deswegen stehen wir als Union dahinter. Es ist richtig, dass wir dieses deutliche Signal an der Stelle aussenden. ({1}) Aber richtig ist auch: Natürlich sind harte Strafen nicht alles. Natürlich müssen wir auch präventiv vorgehen; wir haben schon über die Fortbildung von Richtern gesprochen. Ein Punkt, der uns als Union ganz besonders wichtig war: Wir wollen verhindern, dass einschlägig vorbestrafte Täter wieder mit Kindern in Kontakt kommen, dass sie in der ehrenamtlichen Jugendarbeit als Fußballtrainer, als Fahrer oder an anderer Stelle wieder in Kontakt mit Kindern kommen und dann die Gefahr heraufbeschworen wird, dass sie wieder sexuell übergriffig werden. Das wollten wir verhindern, und deswegen haben wir uns mit aller Kraft dafür eingesetzt, dass die Täter, die schwersten sexuellen Missbrauch begangen haben, dass Täter, die wiederholt Kinder missbraucht haben, einen lebenslangen Eintrag in ihr erweitertes Führungszeugnis bekommen, dass für die Vereine klar ersichtlich ist: Das sind einschlägig vorbestrafte Sexualtäter; die kommen nicht mit unseren Kindern in Kontakt. – Das haben wir erreicht. Das ist ein riesiger Erfolg, den wir hier zu verzeichnen haben, meine Damen und Herren. ({2}) In den Bereich der Prävention muss man auch das Verbot von Kindersexpuppen einordnen. Auch das ist etwas ganz Wichtiges. Man kann es gar keinem erklären, dass heute bei Amazon Sexpuppen erwerblich sind, die Kindern nachgebildet sind, die man nach seinen individuellen Vorlieben designen kann. Die Größe, die Haarfarbe, die Hautfarbe, die Körperöffnungen: All das kann man dort aussuchen. Sie sind frei verkäuflich. Mit diesen Kindersexpuppen werden Hemmschwellen gesenkt, weil sexueller Missbrauch von Kindern eingeübt wird. Und am Ende dieses Einübens steht ein realer Missbrauch. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir den Handel mit Kindersexpuppen jetzt klar verboten haben. Ihn wird es zukünftig nicht mehr geben; das ist verboten. Es gibt keinen Handel mehr mit Kindersexpuppen. Das ist ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. ({3}) Der letzte Punkt, den ich bei all den guten Dingen, die wir mit diesem Gesetz erreicht haben, ansprechen möchte: Wir müssen an einer Stelle noch einen Schritt weitergehen. Auch Missbrauchsanleitungen, Pädophilenhandbücher, die wir heute im Netz frei verfügbar finden, in denen pädophile Täter erklären, wie man sich am besten an Kinder ranmacht, wie man Missbrauch so verdecken kann, dass er ärztlich nicht nachweisbar ist, müssen verboten werden. Wir setzen uns als Union dafür ein, dass das Verbot jetzt in dieser Legislaturperiode noch kommt, meine Damen und Herren. ({4}) Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu! Er ist ein guter Gesetzentwurf für den Schutz unserer Kinder. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Trotz der Ernsthaftigkeit der Debatte möchte ich darauf hinweisen, dass unsere Plenarsitzung heute bis weit über Mitternacht hinaus geht. Ich rege daher an, über die Einhaltung der Redezeiten ernsthaft nachzudenken. ({0}) Das Wort geht an Dr. Karl-Heinz Brunner von der SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal in einem anderen Zusammenhang von der Würde des Menschen im Grundgesetz gesprochen. Wenn wir uns heute mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder beschäftigen, geht es um die Würde der kleinsten, der schutzbedürftigsten Menschen in unserem Lande, eine Würde, die ihnen bei der bestehenden Rechtslage vielfach genommen wurde, eine Würde, die wir ihnen nicht in dem Maße geben konnten, wie wir es sollten. Deshalb sage ich eingangs einen herzlichen Dank an unsere Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, die sich dieses Themas angenommen hat, um gemeinsam mit dem Parlament ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das mehr Schutz für Kinder, härtere Bestrafung von Tätern, einen umfangreicheren Strafenkatalog und den Kindern einen besseren Schutz im Vorfeld sowie mehr Rechte im Gerichtsverfahren ermöglicht. Dafür herzlichen Dank. Ich danke auch dafür, dass in der parlamentarischen Debatte die Verniedlichung des Missbrauchs von Kindern dem Begriff der sexualisierten Gewalt gewichen ist; denn Kindern sexuell etwas anzutun, ist keine Verniedlichung wert, sondern ist Gewalt, die den Kindern die körperliche Unversehrtheit nimmt, die ihnen aber umso mehr bis ans Lebensende die Unversehrtheit der Seele nimmt. ({0}) Diese Unversehrtheit der Seele, die genommen wird, ist für mich auch einer Gründe, die mir sagen: Es ist gut und richtig, dass wir in diesem Gesetz die Verlängerung der Verjährungsfristen, die Verlängerung der Eintragungsfristen im Bundeszentralregister und im erweiterten Führungszeugnis als solche festgelegt haben; denn das Kind, das verletzt wurde, wird sein Trauma bis ans Lebensende tragen. Warum soll der Täter oder die Täterin einen Schutz bekommen, der dem Kind geraubt wurde? ({1}) Das Gesetz wird mit einer Verschärfung des Strafrechts vor allen Dingen beim Wortlaut „sexualisierte Gewalt“ anstelle „sexuellen Missbrauchs“ zu einem zentralen Baustein. Es wird zu einer Neubetrachtung im juristischen Bereich führen. Es wird mit der Anhebung der Strafrahmen der Straftatbestände, mit der Aufspaltung in drei Tatbestandseinheiten und der Schließung von Gesetzeslücken wesentlich dazu beitragen, künftiges Unrecht zu vermeiden. Künftig soll schon die Erregung an kinderpornografischem Material strafbar sein; das ist richtig. Der Erwerb und das Inverkehrbringen von Kindersexpuppen – das hat der Kollege Luczak bereits angesprochen – sollen ebenfalls unter Strafe gestellt werden. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die Frau Präsidentin mir freundlicherweise ein Lämpchen aufleuchten lässt, um Zustimmung zu diesem guten Gesetz, bitte aber alle, die in der Politik und Gesellschaft tätig sind, darum, nunmehr auch in den Ländern und Kommunen den Personalstand zu ermöglichen, der notwendig ist, um im Vorfeld Kindesmissbrauch in jeder Form zu verhindern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das letzte Wort in der Debatte hat Alexander Hoffmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz, das wir heute hier beschließen, sendet ein eindeutiges Signal ins Land hinaus. Das Signal lautet: Wir sind bereit, wirklich alle Register zu ziehen, um unsere Kinder vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Dazu bauen wir zunächst einmal eine alte Unionsforderung ins Strafgesetzbuch ein: Sowohl der sexuelle Missbrauch von Kindern als auch der Besitz kinderpornografischen Materials sind ab jetzt Verbrechen. Natürlich ging es uns einerseits um das Signal, andererseits – das ist vorhin schon angeklungen – haben die Strafverfolgungsbehörden bei der Ermittlung wegen eines Verbrechens damit sehr viel effizientere Ermittlungsmöglichkeiten als Instrumente parat. Zudem erweitern wir auch die Möglichkeiten der Telekommunikationsüberwachung und der Onlinedurchsuchung; auch das sind effiziente Ermittlungsinstrumente. Damit reagieren wir darauf, dass vor allem die digitale Welt dazu beiträgt, dass Straftaten wie sexueller Missbrauch und der Besitz kinderpornografischen Materials eine unglaubliche Dynamisierung erleben; schauen Sie sich nur das Anwachsen der Zahlen in den letzten zehn Jahren an. Ich möchte jetzt noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der uns als CSU immer ein Herzensanliegen gewesen ist und den wir deshalb tatsächlich als Herzstück dieser Reform bezeichnen wollen. Warum? – Weil alle Instrumente, die ich bislang genannt habe, eigentlich nur rückwirkend wirken. Das ist alles, was ein Rechtsstaat tun kann und tun muss, wenn es schon zu einem Übergriff gekommen ist. Viel besser ist es allerdings, wenn der Rechtsstaat schon im Vorfeld agiert und am besten dafür sorgt, dass es gar nicht erst zu einem Übergriff kommt. Deshalb haben wir als CSU den Zusammenhang zwischen dem Bundeszentralregister und dem erweiterten Führungszeugnis immer als Instrument gesehen, die Kinder vor den Tätern und auch die Täter vor sich selbst zu schützen. Deshalb haben wir als CSU den lebenslangen Eintrag ins Bundeszentralregister gefordert. Frau Ministerin, ich möchte Danke sagen, dass Sie sich von unseren Argumenten haben überzeugen lassen. ({0}) Wir haben jetzt grundlegende Veränderungen ins Bundeszentralregister geschrieben: Die einschlägigen Fristen, die generell gelten, sind verändert worden, und zwar auf zehn und zwanzig Jahre, und für schwere Fälle des sexuellen Missbrauchs und für bestimmte Konstellationen der Wiederholung gilt jetzt der lebenslange Eintrag ins Bundeszentralregister. Damit ist sichergestellt, dass ein solcher Täter ein Leben lang weder als Übungsleiter, als Trainer oder als Betreuer mit Kindern zu tun hat. Das ist ein großer Erfolg. Deswegen sage ich Ihnen von der Opposition: Wir empfinden es an der Stelle ein bisschen einsilbig, wenn Sie sich heute bei diesem Gesetz nur kraftvoll enthalten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Vor 80 Jahren überfiel die Wehrmacht Griechenland und das Königreich Jugoslawien. Mit Orten wie Belgrad, Distomo, Kalavryta, Kragujevac, Kraljevo oder Lingiades verbinden wir schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir wollen heute über Griechenland reden. Bis heute sind in vielen griechischen Familien die Erinnerungen an das, was den Familien passiert ist, sehr präsent; sie werden am Esstisch, bei Familienfeiern besprochen. Jeder junge Grieche weiß, was in dieser Zeit passiert ist. Vielleicht ist es gegenüber Griechenland manchmal noch schwieriger als in anderen Fällen, wo die Verbrechen auch unvergleichlich groß waren, von echter Versöhnung zu sprechen, weil vieles im deutsch-griechischen Verhältnis bis heute unausgesprochen ist, weil spezifische Voraussetzungen in Griechenland es schwierig machen, aber auch, weil wir damit so umgegangen sind, dass Sachen unausgesprochen geblieben sind. Unser Umgang mit dem, was seit Jahrzehnten von Griechenland vorgetragen wurde, mit Forderungen, die brüsk, geradezu demütigend mit dem einfachen Hinweis, es sei erledigt, zurückgewiesen wurden, ist – egal ob man die Forderungen richtig findet oder nicht – eine schwere Belastung für unsere deutsch-griechische Freundschaft. ({0}) Wir wollen diese Geschichte des Übergehens, des Zurückweisens aufbrechen. Griechenland war nach dem Krieg immer auf das Wohlwollen des Landes der Täter angewiesen. Wir wollen nun in eine Phase der Augenhöhe eintreten und miteinander auch über noch offene Fragen sprechen. Wir wollen, dass Ungesagtes endlich ausgesprochen wird. Daran wollen wir zusammen arbeiten, weil wir denken: Europa braucht eine gelingende deutsch-griechische Freundschaft. Nur mit Freundschaft und Respekt zwischen Deutschland und Griechenland, auf Augenhöhe und mit Verantwortung, wird das Projekt Europa gelingen. ({1}) Deswegen wollen wir, dass der Bundestag heute Schluss macht mit der demütigenden und falschen Aussage, für Griechenland habe sich die Frage der Reparationen erledigt. ({2}) Das ist nachweisbar nicht der Fall; es war nie der Fall. Wir wollen, dass die Bundesregierung einen Versuch macht, mit dem schweren Thema der sogenannten Zwangsanleihe anders umzugehen, und einen gemeinsamen Weg finden, wie wir an diesem Thema arbeiten können. Denn wir alle wissen: Wir trauen uns an diese Themen nicht heran, weil wir uns nicht zutrauen, sie zu lösen, oder weil wir uns auch an die anderen Fragen letztlich nicht herantrauen. Wir wollen, dass wir endlich auch über die Opfergemeinden reden, dass wir darüber reden, wo Menschen zum Teil keine oder keine ausreichende Restitution oder Kompensation erhalten haben. Wir wollen, dass die lobenswerten Initiativen, die die Bundesregierung begonnen hat – Stichwort „Deutsch-Griechischer Zukunftsfonds“ und Ähnliches –, weiterentwickelt werden. Das wollen wir jetzt angehen; dafür ist jetzt der richtige Zeitpunkt. ({3}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Mit unserer Initiative wollen wir, dass Deutschland sich seiner Geschichte und seiner Verantwortung stellt – nicht nur für das, was die Nazis in Griechenland getan haben, nicht nur weil wir als Rechtsnachfolger Verantwortung tragen, sondern auch für eine bessere Zukunft. Für das deutsch-griechische Verhältnis ist klar: Wenn wir eine gemeinsame Zukunft bauen wollen, müssen wir uns der Verantwortung aus der Geschichte noch besser als bisher stellen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort hat Markus Koob von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Botschafterin! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Naziregime hat in den Jahren 1933 bis 1945 unfassbare und nicht wiedergutzumachende Schuld auf sich geladen. Deutschland hat Europa und die Welt in einen Krieg gezwungen, der Millionen von Männern, Frauen und Kindern das Kostbarste nahm: ihren Besitz, ihre Familie, ihr Leben. Auch in Griechenland wüteten die Nationalsozialisten. Zunächst bombardierten sie Griechenland, dann besetzten sie Griechenland, dann massakrierten und terrorisierten sie die Bevölkerung Griechenlands. Von 1941 bis 1944 zerstörte die deutsche Wehrmacht 1 700 griechische Dörfer. Beispielhaft für so viele andere Distomo. Am 10. Juni 1944 brachten SS-Männer 218 unbeteiligte Personen um und brannten das 1 800 Einwohner große Dorf Distomo nieder. In Chortiatis, Kesariani, auf Kreta und in vielen anderen Orten geschahen in diesen Jahren ähnlich unentschuldbare Gräueltaten an Griechinnen und Griechen. Holocaust, Partisanenkrieg, Besatzung, Hungerkatastrophe, Bürgerkrieg: Zusammen forderten sie Hunderttausende Menschenleben. Das Deutschland von 1941 ist aber nicht das Deutschland nach 1945 oder gar das nach 1990. Heute ist es ein friedliebendes Land im Herzen eines vereinten Europas. Als Mitglied des Deutschen Bundestages und Legislativvertreter in diesem heutigen Deutschland bitte ich alle Opfer des NS-Regimes in Griechenland um meine tiefempfundene Entschuldigung. Ihnen wurde unermessliches Leid von so vielen unserer Vorfahren zugefügt. Dies macht mich auch 75 Jahre nach Kriegsende tief betroffen und traurig. Die Anerkennung von Schuld ist unbestreitbar. Über die Anerkennung von Reparationsforderungen diskutieren wir heute. Es gibt Gründe – gute Gründe –, weshalb wir in Deutschland der Auffassung sind, dass, anders als die ewig währende deutsche Schuld an diesen Kriegsverbrechen, die Reparationen abgegolten sind. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953, dem Griechenland zustimmte, besagt zwar in Artikel 5 Absatz 2 Folgendes – ich zitiere –: Eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkriege herrührenden Forderungen von Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befanden oder deren Gebiet von Deutschland besetzt war, und von Staatsangehörigen dieser Staaten gegen das Reich und im Auftrag des Reichs handelnde Stellen oder Personen einschließlich der Kosten der deutschen Besatzung, der während der Besetzung auf Verrechnungskonten erworbenen Guthaben sowie der Forderungen gegen die Reichskreditkassen, wird bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt. ({0}) Jedoch entschied der Internationale Gerichtshof in der Vergangenheit, dass berechtigte Ansprüche schon nach 20 Jahren verwirkt sein können. Selbst das Abkommen zwischen Deutschland und Griechenland, in dem Griechenland weitere Reparationsforderungen ausdrücklich offengelassen hat, ist nun gut 60 Jahre alt. Schließlich regelt der Zwei-plus-Vier-Vertrag, den auch Griechenland ohne Einwände zur Kenntnis nahm, dieses Thema in unseren Augen abschließend. Aber – und jetzt kommt das Aber – ich verstehe, dass es vonseiten Griechenlands den Wunsch nach Wiedergutmachung gibt. Wie in sehr vielen Rechtsfragen kann man auch in dieser Frage zu einer anderen Beurteilung kommen. Auch wenn ich den Antrag der Grünen als solchen inhaltlich nicht vollumfänglich unterstützen kann, trifft er die richtige Tonlage und mit dem Wunsch nach der Begegnung auf Augenhöhe auch das richtige Bild. Deshalb sollten wir bei aller Unterschiedlichkeit in den inhaltlichen Positionen in diesem Hause in einer Frage gemeinsam Haltung zeigen: Jenseits einer legitimen Diskussion über rechtliche Fragen müssen wir einer gezielten politischen Instrumentalisierung und Aufstachelung durch Nationalisten in dieser Frage gemeinsam entgegentreten. Einer Aufarbeitung seiner Verantwortung – das ist mir besonders wichtig – verweigert sich Deutschland nicht. Der von Deutschland initiierte Deutsch-Griechische Zukunftsfonds fördert zahlreiche und verschiedenste Projekte, die die gemeinsame deutsche und griechische Geschichte aufarbeiten, ein gemeinsames Bewusstsein schaffen und Versöhnung anstreben. Die 2010 gegründete Deutsch-Griechische Versammlung als Netzwerk griechischer und deutscher Kommunen, Regionen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft ist ein Beispiel für das Zusammenführen von Griechen und Deutschen, die gemeinsam an einer positiven und friedvollen Zukunft arbeiten. Das Deutsch-Griechische Jugendwerk ist zudem eines von nur drei Jugendwerken in Deutschland. Das zeigt den besonderen Stellenwert, den Griechenland und die griechische Jugend für unser Deutschland einnimmt. 2016 riefen zudem die Außenminister Griechenlands und Deutschlands den Deutsch-Griechischen Aktionsplan für die bilaterale Zusammenarbeit ins Leben, der das Ziel hat, die gemeinsame Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur und Bildung zu intensivieren. Das zeigt: Auch politisch stehen wir eng an der Seite unseres EU-Freundes und NATO-Verbündeten Griechenland. Schließlich – das mag man für banal halten; es ist aber in meinen Augen ein hervorragender Ausdruck eines intakten und engen bilateralen Verhältnisses – fühlen sich jedes Jahr Millionen deutsche Bürgerinnen und Bürger in Griechenland bei Freunden zu Hause. Über 10 000 von ihnen leben sogar dauerhaft in Griechenland. Umgekehrt fanden knapp 500 000 griechischstämmige Personen in Deutschland eine weitere Heimat. Wir als Deutscher Bundestag sollten deshalb alles unternehmen, um den kulturellen und gesellschaftlichen Austausch weiter zu fördern, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken und, ja, auch gemeinsam über die Vergangenheit zu reden und hier die tatsächliche Aussöhnung weiterhin voranzutreiben. Da sind wir an Ihrer Seite. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Dr. Marc Jongen von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „80 Jahre Überfall der Wehrmacht auf Griechenland … die erinnerungspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Griechenland intensivieren“, so legen die Grünen mit ihrem Antrag gewissermaßen den Ball auf, und Die Linke schießt ihn ins Tor mit ihrem Antrag „Reparationsforderung Griechenlands anerkennen“. Das haben Sie von den Grünen sich nur anzudeuten getraut, nämlich dass es auf hohe Milliardenzahlungen Deutschlands an Griechenland hinausläuft – auf bis zu 290 Milliarden, um genau zu sein. Aber Die Linke entstellt Ihr Ansinnen zur Kenntlichkeit und zeigt, worum es im Kern Ihrer beiden Anträge geht: um die Instrumentalisierung eines erinnerungspolitischen Themas für eine Politik direkt gegen die deutschen und letztlich auch die griechischen Interessen; ich komme darauf zurück. Unsere Antwort darauf kann nur sein: niemals Rot-Rot-Grün, meine Damen und Herren. ({0}) Damit wir uns hier recht verstehen: In diesem Saal herrscht völlige Einigkeit darüber, dass es im Zuge des sogenannten Balkanfeldzuges der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1941 und der darauffolgenden Besatzung Griechenlands – nicht zuletzt auch durch die SS – schlimmste Kriegsverbrechen gegeben hat und dass sich das heutige Deutschland in seinem internationalen Agieren verantwortungsbewusst speziell gegenüber Griechenland verhalten muss. Es besteht aber ein grundsätzlicher Dissens darüber, was das konkret bedeutet, wann wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben und wann nicht. Die Grünen zählen in ihrem Antrag zunächst die deutschen Verbrechen im Detail auf, dann sprechen sie von der historischen Schuld Deutschlands, wie es ihre Art ist, und im Forderungsteil reden sie von zivilgesellschaftlichen „Solidaritäts- und Erinnerungsprojekten“ ({1}) – hören sie doch einmal zu –, „die die Bedürfnisse und Interessen der griechischen Seite noch stärker berücksichtigen und auch die jüngere Generation einbeziehen“. Sie sprechen von Entschädigungszahlungen für noch lebende Opfer und ihre Kinder usw. ({2}) Das heißt, Sie wollen die Täter-Opfer-Konstellation auf die nächste Generation und darüber hinaus in alle Ewigkeit fortschreiben. Die Deutschen sollen immer die Täter sein ({3}) und sich schuldig fühlen, und die anderen Völker – in diesem Fall die Griechen – sollen sich als Opfer fühlen; junge Leute, die überhaupt kein Opferbewusstsein haben und das auch gar nicht haben wollen. Wir sind der Meinung: So gelangt man nicht auf Augenhöhe miteinander, ({4}) so kommt es zu keiner Heilung der historischen Wunden, sondern man hält sie künstlich am Schwären, und zwar mit einer ganz bestimmten politischen Absicht, meine Damen und Herren. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, ich erlaube keine Zwischenfrage. ({0}) Dass diese Forderungen aus Griechenland immer wieder laut werden, das hat doch nur sehr bedingt mit den Ereignissen vor 80 Jahren zu tun. Auf dem Höhepunkt der Griechenland-Rettung, der sogenannten Euro-Krise, wurde ein Bild von Frau Merkel mit Hakenkreuzarmbinde durch die Straßen Athens getragen. Es ging bei dieser „Rettung“ nicht um das Wohl Griechenlands, sondern einzig und allein um die Bewahrung der Währungsunion – koste es, was es wolle. ({1}) Auf Griechenland wurde enormer Druck aufgebaut. Die EU-Länder, vor allem Deutschland, wurden als imperiale Zwingmacht wahrgenommen, die offenbar Naziassoziationen wachrief. Griechenland wurde in eine destruktive Sparpolitik hineingezwungen, die die Wirtschaft weiter abwürgte, die Bevölkerung zu Teilen verarmen ließ und eine halbe Million, vor allem junge Griechen, zur Auswanderung zwang. Diese Politik ist gescheitert. Mit dem Ausscheiden aus der Euro-Zone hätte Griechenland nicht nur seine wirtschaftspolitische Autonomie, sondern auch seine nationale Würde zurückgewinnen können. Das hat die Bundesregierung verhindert, vollumfänglich unterstützt von den Grünen damals. Ihre Politik der „Solidarität“ mit Griechenland, die in sich vergiftet ist, hat dort das Bild des hässlichen Deutschen wieder entstehen, aufkommen lassen. Sie selbst sind diese hässlichen Deutschen in den Augen vieler Griechen, solange Sie Griechenland weiter in Euro-Geiselhaft halten. ({2}) Beenden Sie diesen politischen Irrweg, dann haben Sie auch diese Anträge des schlechten Gewissens, und zwar des schlechten Gewissens wegen dieser gescheiterten Euro-Rettung und der Austeritätspolitik in Griechenland, nicht mehr nötig. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht zu einer Kurzintervention an den Abgeordneten Sarrazin von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Bitte schön.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben uns unterstellt, wir wollten auch die künftigen Generationen in Griechenland in einer Opferrolle belassen. Ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen: Ich habe einen gewaltigen Respekt vor der griechischen Nation. Heute, am griechischen Nationalfeiertag, lasse ich mir nicht unterstellen, Griechenland als Opfer zu betrachten. Griechenland ist deswegen von den Nazis so behandelt worden, wie es behandelt worden ist, weil Ihre ideologischen Vorgänger auf Widerstand gestoßen sind in diesem Land. Griechenland wurde bestraft dafür, dass es sich den Nazis entgegengestellt hat. Deswegen war Griechenland nie nur Opfer, sondern heldenhaftes Land von Widerstand gegen Nazis. ({0}) Das sage ich Ihnen am griechischen Nationalfeiertag hier ins Gesicht. ({1}) Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Dr. Jongen, Sie haben das Wort.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Kollege Sarrazin, Ihre Auslassungen hier sind von einer Polemik und von einer – – ({0}) Sie sind durch nichts begründet. Sie sind einfach nur unterirdisch. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. ({1}) Es ist kein Vorwurf, den wir Ihnen machen, dass Sie Griechenland als Opfer definieren. Das haben Sie doch selbst in Ihrem Antrag festgeschrieben, und das habe ich hier zitiert. Ich habe versucht, Ihnen zu erklären, wie wir Lehren aus der Geschichte ziehen, ({2}) nämlich indem wir das heutige Griechenland mit Respekt behandeln und nicht hier als imperiale Zwingmacht erneut auftreten. Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wieso ein Bild von Frau Merkel mit Hakenkreuzarmbinde durch die Straßen von Athen getragen wurde? Sie standen hinter diesem Entschluss, und Sie werfen uns vor, dass wir in einer ideologischen Tradition stehen würden. Sie stehen in Wahrheit in einer Tradition, die Sie nicht wahrhaben wollen. Deutschland wird erneut als imperiale Macht in Griechenland wahrgenommen. ({3}) Das wollen wir nicht. Wir wollen die Interessen Deutschlands, aber auch unserer Freunde – dazu zählt Griechenland – wahren. ({4}) Dafür ist diese Euro-Rettungspolitik der falsche Weg. Das ist das, was in Wahrheit hinter diesem Antrag steht. Alles andere ist vorgeschoben und heuchlerisch. Danke schön. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Staatsminister Michael Roth. ({0})

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 2. September 1944 wurde das griechische Dorf Chortiatis von Soldaten der Wehrmacht und ihren Helfershelfern dem Erdboden gleichgemacht. 149 Kinder, Männer und Frauen wurden Opfer eines furchtbaren Massakers. Viele Menschen wurden in einem Backhaus eingesperrt und verbrannten bei lebendigem Leibe. Hier in Deutschland wissen nur sehr wenige von dem Schicksal der sogenannten Märtyrerorte, die während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 zerstört wurden. Nur wenige Bürgerinnen und Bürger überlebten das Gemetzel von Wehrmacht, Waffen-SS und ihren Schergen in Kefalonia, Klissoura, Kommeno, Distomo, Chaidari, Kalavryta, Chortiatis, Lingiades und vielen weiteren Orten. In keinem anderen europäischen Land war ich in den vergangen Jahren häufiger zu Gast als in Griechenland. Die deutsch-griechischen Beziehungen liegen mir, wie vielen anderen hier im Hause, sehr am Herzen, auch und besonders, weil ich um die tiefen Wunden weiß, die die deutsche Besatzungszeit bis zum heutigen Tag bei vielen Griechinnen und Griechen hinterlassen hat. Meine Begegnungen und Gespräche mit Menschen in Chortiatis und Lingiades werde ich nie vergessen. Ich stieß auf Trauer über die Ermordung von Schwestern, Vätern und Nichten, Zorn über Jahrzehnte währendes deutsches Desinteresse, Hoffnung, aus Fehlern der dunklen Vergangenheit zu lernen, und Genugtuung darüber, dass Überlebende und Nachkommen der Opfer ihren Schmerz mit einem Nachkommen des Tätervolks teilen können. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Griechenland jährt sich am 6. April zum 80. Mal. Drei Wochen später, am 27. April, wurde die Hakenkreuzflagge auf der Akropolis gehisst – ein Bild des Schreckens, das sich tief im kollektiven Gedächtnis eines ganzen Landes eingebrannt hat. Die deutsche Besatzung Griechenlands forderte fast 800 000 Menschenleben, nicht nur Soldaten, sondern auch viele Zivilistinnen und Zivilisten. 60 000 griechische Jüdinnen und Juden und damit über 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung Griechenlands wurden ermordet. Andere wurden in Konzentrationslager verschleppt und der Zwangsarbeit unterworfen. Und es reicht eben nicht, die banale Feststellung zu treffen, dass wir als jüngere Generation keine persönliche Schuld an den deutschen Gräueltaten auf griechischem Boden tragen. Nein, auch wir als Nachgeborene machen uns schuldig, wenn wir uns der notwendigen Aufarbeitung verweigern und die Opfer aus unserer Erinnerung verbannen. ({0}) Genau von dieser „zweiten Schuld“ hat Bundespräsident Joachim Gauck im März 2014 in Lingiades gesprochen und im Namen von uns allen um Verzeihung gebeten. Nichts ist erledigt, lieber Manuel. Wir können diese Verbrechen nicht mehr ungeschehen machen; aber wir können dabei mithelfen, dass sich das Unrecht, das geschehen ist, niemals wiederholt. Wir wollen die Erinnerung an Zerstörungswahn, hemmungslose Gewalt, blanken Hass und Mord wachhalten – nicht als Selbstzweck, sondern um daraus die Lehren für eine bessere Zukunft zu ziehen. Zukunft braucht Erinnerung; ({1}) beides gehört für mich untrennbar zusammen. ({2}) Gerade wir Deutschen tragen dafür eine ganz besondere Verantwortung. Gemeinsames Erinnern und Gedenken ist die Voraussetzung für Versöhnung. Und die Wege der Versöhnung sind lang und beschwerlich, sie kosten Überwindung, sie kosten Kraft. Versöhnung ist eine Geste, die man nicht erbitten kann; man kann sie nur geschenkt bekommen. Ich bin sehr dankbar für dieses große Geschenk unserer griechischen Freundinnen und Freunde. Dafür möchte ich mich auch bei Ihnen, Frau Botschafterin, stellvertretend für Ihre Landsleute, herzlich bedanken. ({3}) Aber wir belassen es eben nicht nur bei Appellen: Wir haben 2014 einen deutsch-griechischen Zukunftsfonds ins Leben gerufen, mit dem wir zahlreiche Versöhnungs- und Bildungsprojekte fördern. Wir unterstützen den Bau einer Holocaustgedenk- und Begegnungsstätte in Thessaloniki. Von den 53 000 Jüdinnen und Juden überlebten gerade einmal 1 950 Menschen die Shoah in Griechenland. Versöhnung ist aber nicht in erster Linie das Werk von Regierungen, sondern vor allem der vielen engagierten Brückenbauerinnen und Brückenbauer in der Zivilgesellschaft, die dabei mithelfen, dass aus Gegnern und Gegnerinnen Freundinnen und Freunde werden. Wir wollen ganz besonders die jüngere Generation erreichen. Deshalb ist es großartig, dass das Deutsch-Griechische Jugendwerk in diesen Tagen endlich seine Arbeit aufnimmt. Das freut mich ganz besonders; denn wir müssen junge Menschen dafür gewinnen, die Lehren aus dem furchtbaren Zweiten Weltkrieg präsent zu halten und damit zu einem friedlichen Miteinander in Europa beizutragen. Es bedeutet mir viel, dass wir nach den dunklen Kapiteln unserer Geschichte heute zusammen Teil eines Europas sind, in dem wir gemeinsame Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Menschenrechte teilen. Heute kämpfen Griechinnen und Griechen und Deutsche Seite an Seite für ein Europa des Friedens und der Vielfalt, ein Europa ohne Fremdenhass, ohne Antisemitismus, ohne Nationalismus, ein Europa, in dem wir alle ohne Angst verschieden sein können. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Grigorios Aggelidis von der FDP-Fraktion. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin Marinaki! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich die Rede anders beginnen, aber gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Es tut schon sehr weh, ausgerechnet am heutigen Tag zum heutigen Thema von Rechtsradikalen Belehrungen über Geschichte zu hören. Und ich bedauere es sehr, dass man denen dann auch noch die Möglichkeit gibt, sozusagen weiterzusprechen. Es tut mir schon sehr weh. Heute ist ein ganz besonderer Tag; heute feiert Griechenland den Beginn der griechischen Revolution vor 200 Jahren – gegen die osmanische Fremdherrschaft, für die Freiheit. Und deswegen beginne ich mit einem: Alles Gute! Χρόνια Πολλά Ελλάδα! Ζήτω το ελληνικό έθνος. ({0}) Danke an alle hier in Deutschland, in vielen Kommunen und Städten, die den heutigen Tag mit den Griechen ehren und feiern! Das zeigt und beweist auch, wie gut die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland, vor allem zwischen den Menschen beider Länder, sind und traditionell auch immer waren. Einen unglaublich tiefen Schatten wirft dabei ohne Frage während des dunkelsten Kapitels unserer deutschen Geschichte die Zeit der brutalen Besatzung Griechenlands durch Nazi-Deutschland, in der viele Menschen unerträgliches Leid erdulden mussten, viele ermordet wurden – Frauen und Männer, Greise und Kinder. Selbst eine stundenlange Aufzählung all der Gräueltaten würde es nicht angemessen wiedergeben. Wir sind es den Opfern, aber ganz besonders den zukünftigen Generationen schuldig, dies aufzuarbeiten, daran zu erinnern, derer zu gedenken, die gelitten haben, und vor allem aber eine gemeinsame, eine enge, freundschaftliche und partnerschaftliche Zukunft auf Augenhöhe zu gestalten. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, als ich den Titel und die Ankündigung des Antrags von den Grünen gelesen habe. Ich erinnerte mich an ein Bild von den Feierlichkeiten in Maleme auf Kreta vor einigen Jahren, wo ein griechischer Veteran, ein ehemaliger Partisan, einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, der blind war, über die Stufen und den Weg führte. Was für eine Geste, was für ein Symbol des gemeinsamen Erinnerns, der Versöhnung, des Vergebens, aber auch der gemeinsamen Zukunft! Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass wir in diesem Jahr das Deutsch-Griechische Jugendwerk gegründet haben, das die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, aber vor allem auch zwischen der Jugend – ich selber habe zwei mittlerweile erwachsene Söhne – intensivieren soll. Und vor diesem erwartungsvollen Hintergrund habe ich den Antrag gelesen und wurde leider enttäuscht, trotz vieler Punkte, die wir unterstützen, wie die Pflicht zur gemeinsamen Aufarbeitung, die ich – das muss ich zu meinem Bedauern feststellen – weder in meiner griechischen Schulzeit noch in meiner deutschen Schulzeit als ausreichend wahrgenommen habe. Denn für mich als Parlamentarier stellt sich die Frage: Wie gehen wir vor, damit wir es beiden Ländern und Regierungen erleichtern, bei solchen sensiblen und strittigen und schmerzhaften Themen wie Wiedergutmachung Lösungen zu finden, die für beide Seiten akzeptabel sind?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bystron von der AfD-Fraktion?

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, danke. – Vor allem stellt sich mir die Frage: Wird das, was wir machen, wird das, was wir im Deutschen Bundestag beantragen und beschließen, der Freundschaft, dem guten Willen und dem Wohl aller Betroffenen und Beteiligten in Zukunft dienen? Vor diesem Hintergrund muss ich feststellen, dass einige der Punkte eher Streit und Zwietracht säen werden – in Deutschland, in Griechenland, zwischen beiden Ländern und vielleicht sogar in Europa. Genau deswegen würde ich mir wünschen, dass wir uns auf die zukunftsträchtigen Themen konzentrieren, auf den Ausbau des Zukunftsfonds, auf Investitionen in Griechenland, auf eine Partnerschaft, auf die Griechenland so viel Wert legt, gerade in seinem Kampf um Souveränität und um Freiheit, der ja heute aus griechischer Sicht genauso ein Thema ist, wie er es in früheren Jahren war. Und genau deswegen ist es wichtig, Projekte zu fördern, die den Austausch der Gesellschaften, aber auch und besonders den Austausch der Jugend fördern. Deswegen würde ich mir wünschen, dass neben dem Jugendwerk uns zahlreiche andere Dinge für die Zukunft gelingen. Wir sind alle Europäer. Wir wollen alle zukünftig in einem vielfältigen Europa gemeinsam leben, in einem Europa, wo genauso viele junge Deutsche nach Griechenland ziehen und dort leben wie umgekehrt. Deswegen wünsche ich mir gemeinsame Lösungen, die genau das im Fokus haben. Wir sollten in Zukunft versöhnen statt spalten. Dafür stehen wir Freien Demokraten. Herzlichen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich möchte noch mal daran erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die vereinbarten Redezeiten keinen Empfehlungscharakter haben. Ich werde jetzt ein bisschen strenger damit umgehen, im Sinne der Kolleginnen und Kollegen, die hier nach Mitternacht noch sitzen müssen. ({0}) Jeder Tagesordnungspunkt ist wichtig, Insofern kommt jetzt Dr. Gregor Gysi, der erste disziplinierte Redner heute. ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Griechenland feiert in diesem Jahr den 200. Jahrestag der Revolution, der den Beginn der Befreiung des griechischen Volkes vom osmanischen Joch markiert. Und Griechenland gedenkt anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls von Hitler-Deutschland der Hunderttausenden Opfer, die es durch Besatzung und furchtbare Gräueltaten zu beklagen hat. Deutschland hat auch in Griechenland tiefe Schuld auf sich geladen, und wir müssen mehr tun, um unserer daraus entstandenen Verantwortung endlich gerecht zu werden. ({0}) Bundespräsident Steinmeier hat sich bei seiner Reise nach Griechenland im Oktober 2018 zu dieser Verantwortung bekannt und der griechischen Seite die Gewissheit vermittelt, dass Deutschland sich dieser Verantwortung bewusst ist. Doch in der praktischen Politik folgt diesem Bekenntnis unseres Staatsoberhauptes viel zu wenig konkretes Handeln. ({1}) Ja, es geht dabei um Geld, aber ebenso um politische Unterstützung und um ethische Gesten. Politische Unterstützung braucht Griechenland zum Beispiel im Konflikt mit der Türkei, der – wie ich eingangs sagte – eine lange Geschichte hat. Aktuell wird er vor allem durch Gasförder- und Gebietsansprüche der Türkei im Mittelmeer quasi direkt vor griechischen Inseln befeuert. Dennoch hält die Bundesregierung in dieser Situation an der Lieferung von Bauteilen für sechs Jagd-U-Boote an die Türkei fest. Um es klar zu sagen: Mit diesen Rüstungsexporten in die Türkei befördert Deutschland die militärische Bedrohung Griechenlands, und das ist nun wirklich das Letzte, was wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte verantworten können. ({2}) Griechenland empfindet dies nicht zu Unrecht als einen Affront. Also: Stoppen Sie endlich die Rüstungsexporte in die Türkei! ({3}) Übrigens gibt Griechenland wegen der türkischen Bedrohung prozentual mehr als doppelt so viel Geld aus dem Staatshaushalt für das Militär aus wie wir; Geld, das auch in Griechenland für soziale und ökologische Zwecke viel besser aufgehoben wäre. Dies wäre umso wichtiger, da im Zuge der Finanzkrise – unter maßgeblicher Mitwirkung der Bundesregierung – die soziale Not in Griechenland zugenommen hat. Deutschland hat an den Krediten zur Rettung der privaten – auch deutschen – Banken, die Griechenland bedienen musste und muss, Milliarden verdient, während gleichzeitig in Griechenland Renten und Löhne massiv gekürzt, soziale Leistungen zusammengestrichen und Verbrauchssteuern erhöht werden mussten. Es ist für mich die Frage, weshalb wir die Milliarden Zinsgewinne aus den Darlehen für Griechenland nicht dafür nutzen, um endlich die Opfer der von Deutschen an Griechen begangenen Verbrechen auszugleichen; soweit das überhaupt möglich ist. ({4}) Menschlichkeitsverbrechen – das müssen wir bekennen –: Da stehen wir noch in der Verantwortung, übrigens auch, was den kulturellen Austausch der Jugend betrifft. Das Jugendhilfswerk muss bei der Erinnerungsarbeit anders unterstützt werden. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Es ist wenig verwunderlich, dass in diesem Zusammenhang in Griechenland wieder die Frage der Reparationen aufkommt; dazu wird meine Kollegin Hänsel etwas sagen. Und etwas anderes wundert mich: Warum gilt eigentlich der Grundsatz „Pacta sunt servanda“, also dass Verträge einzuhalten sind, nicht für die Rückzahlung des Zwangskredits, den Nazideutschland Griechenland während der Besatzung abverlangte? ({5}) Da das Hitler-Regime mit der Rückzahlung schon begonnen hatte, es also selbst als Kredit anerkannt hatte, und die Bundesrepublik in der Rechtsnachfolge steht, sollte man nun endlich Verhandlungen mit Griechenland über die Konditionen der Kreditrückzahlung aufnehmen. ({6}) Deutschland muss sich seiner historischen Verantwortung immer wieder aufs Neue und immer wieder konkret stellen. Gegenüber Griechenland sind dabei bis heute zu viele Fragen unbeantwortet geblieben. Es ist an uns, die Wunden zu heilen. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es richtig und gut, dass wir heute diese Debatte führen. Auch wenn wir inhaltlich nicht völlig mit den Anträgen übereinstimmen und sie deswegen auch ablehnen, so gibt es doch viel, was wir teilen. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Was jetzt für die Zukunft wichtig ist, ist, das Erinnern an ein furchtbares Kapitel deutsch-griechischer Geschichte wachzuhalten. Dazu gehört auch eine der blutigsten Schlachten auf dem griechischen Schauplatz: Kreta. Am 20. Mai 1941 begann das Unternehmen Merkur, die deutsche Landung auf Kreta. 10 000 Fallschirmjäger sprangen über Kreta ab, darunter auch der ehemalige Boxweltmeister Max Schmeling, der sich bei seinem Sprung so schwer verletzte, dass er für den Rest des Krieges untauglich geschrieben wurde. Dazu kamen rund 12 000 Gebirgsjäger, die unter hohen Verlusten per Flugzeug und Schiff auf die Insel gebracht wurden. Unternehmen Merkur war ein Himmelfahrtskommando, das einen hohen Preis hatte. Allein auf deutscher Seite fielen 3 700 Soldaten, 2 500 wurden verwundet. Auf der Seite der Verteidiger starben bis zu 6 000 Griechen und Briten. Auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Maleme, der vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1974 errichtet wurde, liegen der junge Obergefreite Willi Hahn und der junge Oberleutnant Kurt Freiherr von Stetten, der Großvater von unserem Kollegen Christian von Stetten, nebeneinander. Beide sind im Frühjahr 1941 gefallen. Nach 13 Tagen endete das Unternehmen Merkur. Die Schlacht um Kreta war vorbei; aber die NS-Terrorherrschaft begann erst. Die Brutalität der Besatzung war und ist unbeschreiblich. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht, Frauen und Kinder ermordet. Insgesamt starben während der Besatzung bis 1945  8 575 Kreter. Einer davon wäre um ein Haar Professor Alexandros Papaderos geworden. Im September 1943 wurden sein Geburtsdorf Livadas und zwei benachbarte Dörfer von den Deutschen völlig zerstört, weil sie Zentren des Widerstands waren. Die Männer, Frauen und Kinder, die nicht an Ort und Stelle erschossen wurden, kamen ins Gefängnis von Agia nahe Chania, darunter auch der zehnjährige Papaderos, der als Partisan galt – mit zehn Jahren! Das Gefängnis von Agia, das als KZ genutzt wurde, war ein Ort des Schreckens, der während der Besatzungszeit für die ganze Insel als die Hölle schlechthin galt und so zum Symbol des menschenverachtenden NS-Terrors auf Kreta wurde. Doch Papaderos hatte unfassbares Glück: Vom Kommandanten des KZs persönlich wurde er völlig überraschend und unerklärlich mit drei weiteren Kindern an ein örtliches Waisenhaus überstellt. Damit entging er einem eigentlich geplanten Transport nach Auschwitz und dem sicheren Tod. Seine schmerzhaften und traumatischen Erfahrungen während der deutschen Besatzung Kretas haben ihn motiviert, sein restliches Leben dem Frieden, der Vergebung, der Versöhnung zu widmen. Nach dem Krieg studierte er unter anderem in Deutschland und wurde Mitbegründer der Orthodoxen Akademie auf Kreta. Dank meines Freundes Manolis Kugiumutzis, dem Präsidenten des Weltverbandes der Exil-Kreter, hatte ich das Privileg, Professor Papaderos persönlich kennenzulernen. Zusammen mit Dr. Ludwig Spaenle, dem Beauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe der Bayerischen Staatsregierung, haben wir mit dem Professor das ehemalige Schlachtfeld und die Stätten der deutschen Verbrechen, unter anderem das Gefängnis in Agia, besucht. Der heute 88-jährige Papaderos verfolgt aktuell einen neuen Ansatz der Erinnerungsarbeit und des Dialogs der Versöhnung durch gemeinsames Erinnern. Dazu möchte er entsprechende Stätten unter Denkmalschutz stellen lassen, ein Museum errichten und eine Begegnungsstätte gerade für die junge Generation schaffen, um für Frieden, Versöhnung und Solidarität zu werben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz besonders auch sehr geehrter Herr Staatsminister: Frieden, Versöhnung, Freundschaft mit Griechenland – dafür sollten wir uns noch intensiver als bisher engagieren. Ich möchte heute, 80 Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf Griechenland, dafür werben, dass wir das Ansinnen von Professor Papaderos unterstützen und gemeinsam ein Konzept einer deutsch-griechischen Erinnerungsarbeit auf Kreta erarbeiten und umsetzen. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Petr Bystron von der AfD-Fraktion. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Exzellenz! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linken und die Grünen wollen 300 Milliarden Euro vom Geld der deutschen Steuerzahler an Griechenland zahlen – heute, im Jahr 2021, als Reparationen für einen Krieg, der vor 75 Jahren zu Ende ging. In Wirklichkeit geht es nicht um den Zweiten Weltkrieg. Es geht um das Hier und Heute. Denn wie mein Kollege Dr. Jongen schon ausgeführt hat: Die Deutschen und die Griechen haben sich nach dem Krieg ausgesöhnt. Wir haben längst einen Ausgleich gefunden. Nichts unterstreicht das besser als der Besuch von Konrad Adenauer zehn Jahre nach dem Krieg, 1954, in Griechenland. Er hat sich in dem Land frei bewegt, beschützt von nur einer Handvoll Polizisten. Es gab keine Gegendemonstrationen, es gab keine Reparationsforderungen, es gab keinen Hass gegen ihn – ganz im Gegensatz zum Besuch von Angela Merkel 2012. 7 000 Polizisten mussten die deutsche Kanzlerin beschützen vor Demonstrationen, bei denen Plakate mit Hakenkreuzen und Aufschriften wie „Nein zum Vierten Reich!“, „Sie sind nicht willkommen!“, „Imperialisten raus!“ und „EU und IWF raus!“ getragen wurden. Woher kam denn die Wut der Griechen auf Angela Merkel 2012? Das Land lag am Boden und hoffte auf Hilfe, auf die von Ihnen so oft beschworene europäische Solidarität. Die Arbeitslosigkeit lag bei fast 30 Prozent, bei den Jugendlichen bei fast 60 Prozent. ({0}) Und was haben sie bekommen? Hilfspakete! Von dem Geld aus den Hilfspaketen sind nur 5 Prozent beim griechischen Volk angekommen. ({1}) 95 Prozent der Gelder gingen für Umschuldung drauf, für Banken, Gläubiger, Investoren, kurzum: für Spekulanten, die sich in Griechenland verspekuliert haben. ({2}) Natürlich haben die Griechen in dieser Situation das Gefühl, dass es hier gar nicht um Rettung, gar nicht um Hilfe und gar nicht um die Lösung der Krise ging, sondern um eine Bestrafung. In dieser Zeit ist die Idee der Reparationen geboren worden. Als Erster hat sie Dimitris Avramopoulos 2013 ins Spiel gebracht. Aufgesprungen ist 2015 der Linkspopulist Tsipras, der im Wahlkampf versprochen hat, dass er das gegenüber Deutschland durchsetzt. Und wie hoch sind die Reparationen? Knapp 300 Milliarden Euro, in etwa so viel, wie Griechenland uns schuldet. So ein Zufall aber auch, nicht? ({3}) Sie sehen also: Es geht nicht um die Vergangenheit. Es geht um das Hier und Heute. Geben wir den Griechen ihre Würde zurück! Lassen Sie sie aus dem Korsett des Euro raus! ({4}) Lassen Sie sie selbst ihre Währung abwerten und umschulden! Dann müssen Sie nicht das Geld anderer Leute, das Geld deutscher Steuerzahler, aus dem Fenster werfen! Danke schön. ({5}) Und lieber Herr Kollege Aggelidis – –

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Die Redezeit ist vorbei. Außerdem ist es nicht üblich, noch Nachsätze zu liefern. Entschuldigung, aber das geht leider nicht. ({0}) – Beschwerden außerhalb der Plenardebatte dann bitte an den Ältestenrat. ({1}) Das Wort geht an Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion. ({2})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben sie hier gerade am Pult erlebt, die Herrenmenschen, die in ihrer gnadenlosen rechtsradikalen Ignoranz darüber entscheiden, ob sich das griechische Volk schon mit dem deutschen versöhnt hat, ({0}) die über Beschlüsse des demokratisch gewählten Parlamentes und der demokratisch gewählten Regierung von Griechenland einfach hinweggehen, die in einem Zynismus, der wirklich menschenverachtend ist, einen Konnex herstellen wollen zwischen der Höhe der Reparationszahlungen und den in der Euro-Krise aufgelaufenen Geldern. Ich muss wirklich sagen: Wenn man sehen wollte, wie Nazis arbeiten, wir konnten es hier sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({1}) – Dass Sie sich nicht benehmen können und dazwischenreden, sagt auch noch etwas über Sie aus. ({2}) Sie können mit der Demokratie nicht umgehen. Das ist Ihr Problem. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi zu?

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte Sie fragen, was Sie zu dem Satz Ihres Vorredners von der AfD sagen, dass wir den Griechen ihre Würde zurückgeben müssten. Empfinden Sie das so wie ich als eine einzigartige Unverschämtheit? Die Griechen wollen nicht die Würde der AfD, sie haben ihre eigene Würde! ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann dem geschätzten Kollegen Gysi da nur uneingeschränkt zustimmen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr froh, dass wir durch diesen sehr differenzierten Antrag von Bündnis 90/Die Grünen die Gelegenheit haben, das wichtige Thema der deutschen NS-Verbrechen in Griechenland im Parlament zu besprechen. Das ist auch deshalb wichtig, weil wir immer wieder feststellen müssen, dass im Bewusstsein vieler Deutscher das Leiden der Griechen im Zusammenhang mit den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gar nicht vorkommt. Wir erinnern uns – es ist schon mehrmals gesagt worden –: Es ist gerade einmal sieben Jahre her, dass Bundespräsident Joachim Gauck ein deutliches Zeichen in Lingiades gesetzt hat. Und selbstverständlich – um das hier noch einmal zu betonen – stellt sich auch 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Griechenland die Frage nach Wiedergutmachung noch immer. Sie ist nicht abgeschlossen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Selbst wenn diese Frage nach bestimmten rechtlichen Kategorien möglicherweise unterschiedlich beurteilt werden kann, muss klar sein: Es geht hier um unsere staatspolitische Verantwortung für deutsche Verbrechen. Und für diese Verantwortung wird es nie einen Schlussstrich geben. ({2}) Diese staatspolitische Verantwortung verlangt von uns allen, die Beschlüsse und Forderungen des griechischen Parlaments und der Regierung in Athen ernst zu nehmen. Sie sind der legitime Ausdruck einer immer noch schmerzenden, niemals ganz verheilenden Wunde des griechischen Volkes. ({3}) – Frau Präsidentin, können Sie diesem Rüpel bitte sagen, dass er mich reden lassen soll? ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Bitte fahren Sie in Ihrem Redebeitrag fort. – Ich bitte alle, sich in ihren Äußerungen zu mäßigen. Ich lasse auch das Protokoll der Rede von Herrn Bystron und das, was Sie meinen, was gegen Sie gesagt worden sei, prüfen und werde darauf zurückkommen. – Bitte schön, Herr Nietan. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind der legitime Ausdruck einer immer noch schmerzenden, niemals ganz verheilenden Wunde des griechischen Volkes. Deshalb kann und darf ein Schweigen auf deutscher Seite hier niemals eine Option sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wie dankbar können wir sein, dass so viele Menschen in Griechenland uns Deutschen die ausgestreckte Hand zur Versöhnung gereicht haben – trotz der ungeheuerlichen Verbrechen. Wenn es uns ernst ist mit der deutsch-griechischen Freundschaft, dann müssen wir mit unseren griechischen Freunden auch offen über alles reden, was die Vergangenheit betrifft. Und das schließt die Frage der Entschädigung für erlittenes unfassbares Unrecht ausdrücklich ein. ({1}) Sprechen wir also darüber, was wir gemeinsam tun können, um dem schweren Erbe der Geschichte auf die eine oder andere Weise gerecht zu werden. Wenn wir darüber offen sprechen, verhindern wir übrigens auch, dass das Thema Reparationen politisch von denjenigen instrumentalisiert werden kann, denen es eigentlich nicht um Versöhnung geht. Schauen wir also nach vorne, und sehen wir zu, dass wir mit den griechischen Freunden in gute Gespräche kommen. Bitte erlauben Sie mir, abschließend unseren ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu zitieren. Er schloss seine beeindruckende Ansprache am Mahnmal für die deutschen Verbrechen in Lingiades mit den folgenden Worten: Vergesst niemals, dass Ihr wählen könnt zwischen Böse und Gut. Schützt und schätzt den Frieden. Lasst allen Menschen ihre Würde und ihre Rechte. Und schließlich: Achtet und sucht die Wahrheit. Sie ist eine Schwester der Versöhnung. Achten wir also die Wahrheit, die uns dazu verpflichtet, gegenüber den berechtigten Anliegen unserer griechischen Freunde nicht mehr länger zu schweigen! Lassen Sie uns stattessen mit den Menschen und der Regierung in Griechenland das aufrichtige Gespräch suchen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Thomas Hacker von der FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein griechischer König ist auch nach Bamberg gezogen. Ich komme aus Bayreuth; das liegt so weit nicht auseinander. Sehr geehrte Frau Botschafterin, es tut mir leid – und ich möchte mich in aller Form dafür entschuldigen –, dass die Debatte bei uns, in diesem Hohen Hause, an Ihrem Nationalfeiertag und aus einem Anlass, der an Verantwortung, an Schuld, an ein gemeinsames Aufarbeiten, aber vor allem daran erinnern sollte, wie wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten wollen, zu einem parteipolitischen Klein-Klein wurde, das im Verlauf der Debatte in einer aus meiner Sicht unwürdigen Form stattgefunden hat. ({0}) Das tut mir von Herzen weh. ({1}) – Sie tragen einen großen Teil dazu bei auf dieser Seite. Das Jahr 1941 ist die große Zäsur in der deutsch-griechischen Beziehung, nicht nur aufgrund der historischen Ereignisse selbst, sondern viel mehr durch den über viele Jahrzehnte schweigsamen Umgang mit diesem Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Durch den sogenannten Stahlpakt sah sich das Dritte Reich dazu veranlasst, für die und mit den italienischen Faschisten in einen Krieg zu ziehen, um durch eine Brüskierung Italiens nicht den späteren Überfall auf die Sowjetunion zu gefährden. Mit der Kapitulation der griechischen Divisionen an der Grenze zu Albanien sollte für Griechenland eine vierjährige leidvolle Besatzung beginnen. In ihrer Brutalität und Gnadenlosigkeit war diese Besatzung keine Ausnahme des deutschen Okkupationsterrors auf dem europäischen Kontinent. Fast 50 000 Menschen starben im folgenden Partisanenkrieg. Mehr als 60 000 griechische Juden wurden in Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. Fast 800 Dörfer und Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, viele Bewohner – Kinder, Frauen, Männer – wurden getötet. Distomo, Giannitsa oder Chaidari, das größte deutsche Konzentrationslager in Griechenland, sind auch heute noch weiße Flecken in unserem Erinnern. Für viele Griechen selbst ist die Zeit der deutschen Besatzung eine „unsichtbare Epoche“, wie der „Spiegel“ jüngst schrieb. Noch treffender formulierte es die Präsidentin der Vereinigung der Deutsch-Griechischen Gesellschaften, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk: Über Oradour kann man in fast allen deutschen Geschichtsbüchern lesen. Distomo wird man vergeblich suchen. In der Erinnerungspolitik geht jedes Land und jede Region ihren eigenen Weg. Dass es auch 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Griechenland ein deutsch-griechisches Gedächtnis nicht gibt und die gemeinsame Aufarbeitung nur langsam voranschreitet, ist so schmerzlich wie auch offenkundig. Die Geschichtswissenschaft selbst sieht dafür viele Gründe, auf beiden Seiten. Die Einordnung und Bewertung dieser Gründe ist Aufgabe der Historikerinnen und Historiker. Es ist aber unsere Verpflichtung, sich unserer Geschichte zu stellen und über Erinnern und Vergessen neu nachzudenken. An diese Verpflichtung erinnern uns auch die vielen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit griechischen Wurzeln. Wir Freien Demokraten unterstützen eine verstärkte Erinnerungskultur beider Länder, beider Parlamente sowie gemeinsame Erinnerungsprojekte von Städten und Regionen. Wir Freien Demokraten wissen, dass die Lehren aus der Vergangenheit immer wieder neu gezogen werden müssen. Jede Generation muss sich aufs Neue mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Das gilt auch heute, 80 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Griechenland. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns als Freunde – Griechenland und Deutschland gemeinsam – unsere leidvolle Geschichte aufarbeiten, Verbrechen und Verantwortlichkeiten sichtbar machen und benennen und in diesem Wissen gemeinsam an unserer Zukunft bauen, gemeinsam in einem vereinten Europa. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Am heutigen Tag feiert Griechenland den 200. Jahrestag des Beginns der Griechischen Revolution, inspiriert auch von den Ideen der Französischen Revolution. Zu diesem Jahrestag beglückwünschen wir die Griechinnen und Griechen natürlich. ({0}) Bald aber, am 6. April, jährt sich ein Tag zum 80. Mal, der für die griechische Bevölkerung nichts als Vernichtung, Elend und Ausplünderung bedeutete: der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Griechenland 1941. Mehr als eine halbe Million Menschen verloren ihr Leben. 160 000 Griechinnen und Griechen wurden in den Konzentrationslagern ermordet, darunter viele Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma. Die Waffen-SS und die Wehrmacht brannten 1 770 Dörfer nieder und begingen zahlreiche Massaker an Zivilisten. Distomo, Kalavryta, Viannos, Kesariani, Lingiades stehen beispielhaft für unvorstellbare Verbrechen, die sich fest in das Gedächtnis der griechischen Bevölkerung eingebrannt haben, aber leider viel zu wenig in das kollektive Gedächtnis Deutschlands. Für mich ist es unverständlich, dass die Bundesregierung für diesen Jahrestag kein offizielles Gedenken plant. ({1}) Was für ein Ereignis und was für ein Beitrag zu einer aktiven, lebenden Erinnerungskultur wäre es, wenn die Mauthausen-Kantate des griechischen Komponisten und Freiheitskämpfers Mikis Theodorakis hier, im Bundestag, aufgeführt werden könnte. ({2}) Moralisch, aber auch rechtlich völlig inakzeptabel ist der Umgang der Bundesregierung mit der Frage der Entschädigungszahlungen für die Angehörigen der Opfer, der Reparationszahlungen und der Rückzahlung einer milliardenschweren Zwangsanleihe der Nazis. Auf der Londoner Schuldenkonferenz 1950 wurden abschließende Regelungen auf einen noch zu schließenden Friedensvertrag vertagt. Dafür verantwortlich war unter anderen übrigens der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Josef Abs, die Rechenmaschine des Faschismus. Deutschland darf nicht damit durchkommen, dass der 1990 geschlossene Vertrag dann Zwei-plus-Vier-Vertrag und nicht Friedensvertrag genannt wurde. Die Frage der Reparationen, Entschädigungen und Rückzahlung der Zwangsanleihe ist rechtlich nicht abschließend geregelt. ({3}) So sieht das übrigens auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das die Position der Bundesregierung eben nicht für zwingend hält, weil Griechenland nie einer Verzichtserklärung zugestimmt hat. ({4}) Auch Gerichtsurteile, etwa des Obersten Gerichtshofs in Griechenland bereits aus dem Jahr 2000, stellen fest, dass Deutschland zu Entschädigungszahlungen an die Angehörigen der Opfer von Distomo verpflichtet ist. Dies aber wurde von den seither amtierenden Bundesregierungen systematisch ignoriert. Ich finde das beschämend. ({5}) Entschädigungszahlungen sind auch keine Frage von Nationalismus oder Spaltung, sondern eine Frage der Gerechtigkeit. ({6}) Die Täter für diese Kriegsverbrechen wurden nie zur Verantwortung gezogen. Deshalb ist es das Mindeste, dass wir jetzt über Entschädigungen ins Gespräch kommen. ({7}) Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Bundesregierung die offenen Rechnungen mit Griechenland, aber auch mit Ländern wie Italien und Polen begleicht und darüber endlich in Verhandlungen eintritt, aus Respekt vor den Opfern des deutschen Faschismus. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an die Kollegin Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Präsidentin! Sehr verehrte Botschafterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schäme mich, dass das demokratische Deutschland, selbst als es Schritt für Schritt die Vergangenheit aufarbeitete, so wenig über deutsche Schuld gegenüber den Griechen wusste und lernte. Das waren die Worte unseres ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, als er 2014 am Mahnmal von Lingiades sprach. In dem kleinen griechischen Dorf haben deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs brutal gemordet. Das jüngste Opfer war zwei Monate, das älteste 100 Jahre alt. Der 6. April ist ein Tag der Trauer, tief verankert in den Herzen der Griechen, Trauer um Hundertausende Tote, um Hunderttausende Opfer einer erbarmungslosen deutschen Besatzung, entfesselter Gewalt, grausamster Verbrechen. Nur wenige konnten den Deportationszügen entkommen. Nur wenige haben die Massaker überlebt. Ich habe sie empfunden, diese tiefe Trauer in Thessaloniki, wo die ganze jüdische Gemeinde ausgelöscht wurde, habe sie empfunden in Kesariani, wo Wehrmachtssoldaten 600 Widerstandskämpfer erschossen haben, habe sie empfunden in Timbaki, einer Gemeinde auf Kreta, die von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht wurde. Diese Geschichte ist auch meine Geschichte, ist Teil meiner Biografie als Nachfahrin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen um die deutsche Schuld und um unsere historische Verantwortung. Und wir verneigen uns heute aufrichtig vor den Opfern und ihren Angehörigen. Wir wissen aber auch um die Demütigungen, die die griechische Seite in all den Nachkriegsjahrzehnten empfunden hat und zum Teil bis heute empfindet; denn die griechischen Forderungen nach Reparationen und Entschädigungen wurden in Deutschland vor allem eines: zurückgewiesen. Man kann auch sagen: Erst wurden sie vertagt, dann umgangen und schließlich einseitig als erledigt betrachtet. Das war falsch. ({0}) Deshalb stehe ich auch heute hier und schäme mich, schäme mich wegen der blinden Flecken unserer Erinnerung. Ich schäme mich, weil man so mit europäischen Partnern nicht umgeht. Deutschland trägt nicht nur Schuld, sondern wir sind es auch aus einer historischen, politischen, moralischen Verantwortung heraus schuldig, darauf endlich neue Antworten zu finden. Unser Antrag ist ein Schritt, ein noch vertrauensvolleres, ein belastbareres Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland entstehen zu lassen, auf Augenhöhe, gleichberechtigt, in gegenseitigem Respekt, in Demut vor der schmerzhaften Erinnerung. Niemand kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Solange aber Gemeinsames möglich ist, obsiegt nicht Zwietracht, sondern Menschlichkeit. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Botschafterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 6. April 1941, vor fast genau 80 Jahren, begann der Überfall der Wehrmacht auf Griechenland. Es folgte eine grausame Besatzung mit Tausenden Opfern und schwersten Verbrechen. So drangen zum Beispiel am 13. Dezember 1943 Soldaten der Wehrmacht in das griechische Bergdorf Kalavrita ein. Was dann passierte, war eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Südeuropa. Die Wehrmacht erschoss in wenigen Stunden fast alle Männer und Jungen des Dorfes, zwischen 600 und 800 Menschen. Der Ort wird seither „Stadt der Witwen“ genannt. Kalavrita, dieses Dorf, steht stellvertretend für so viele andere Orte, an denen die Wehrmacht schwere Verbrechen begangen hat. Dazu zählt auch die Ermordung von 60 000 griechischen Juden, circa 80 Prozent der damaligen jüdischen Bevölkerung Griechenlands. Meine Damen und Herren, wir müssen erinnern, wir müssen gedenken, und wir müssen weiter aufarbeiten. Das schulden wir den vielen Tausenden Opfern und ihren Nachfahren. Das ist wichtig für unsere enge Freundschaft mit Griechenland. Ja, diese Gräueltaten müssen in Deutschland bekannter werden. Und ja, es hat zu lange gedauert, bis die deutsche Politik das verstanden hat und ein deutsches Staatsoberhaupt einen dieser Märtyrerorte besuchte. Erst seit dem Jahr 2000 haben sich die Bundespräsidenten Rau, Gauck und Steinmeier bei Besuchen für die deutschen Verbrechen in Griechenland entschuldigt. Das alles sind wichtige politische Signale und Symbole. Aber es ist genauso wichtig, dass wir einerseits die konkrete Erinnerungsarbeit weiter intensivieren. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Verbrechen nicht vergessen werden. Andererseits muss auch vor dem Hintergrund einer deutschlandkritischen Haltung in Griechenland der Austausch unserer Zivilgesellschaft weiter ausgebaut werden. Da ist in beiden Bereichen einiges geschehen: Seit 2014 gibt es den Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds. 2017 wurde in Thessaloniki mit großer Unterstützung aus Deutschland das Holocaust-Museum errichtet. Seit 2019 gibt es den Förderwettbewerb „Erinnern für die Gegenwart“; die Deutsche Schule in Athen wurde in diesem Jahr für diese Aufarbeitung der Schulgeschichte prämiert. Und jetzt, im April 2021, nimmt das Deutsch-Griechische Jugendwerk seine Arbeit auf. – Diese Initiativen sind für Begegnungen und eine erfolgreiche Erinnerungspolitik wichtig. Sie schlagen die Brücke von einer grausamen Vergangenheit in eine positive Zukunft. Was wir aber nicht brauchen, meine Damen und Herren, ist das Aufwärmen alter Debatten, ({0}) die unsere Freundschaft mit Griechenland mehr belasten, als sie zu festigen. Ja, offener Dialog, Reden, Austausch, Erinnerung, Aufarbeitung, das alles ist wichtig. Aber es gibt keinen Anlass, dieses konfliktreiche Thema der Reparationen jetzt auf den Tisch zu legen. ({1}) Damit arbeitet man nur den Nationalisten in beiden Ländern zu. Sie wissen, dass die Reparationsforderungen juristisch abgeschlossen sind. ({2}) Selbst die griechische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie mit diesem Thema die deutsch-griechische Freundschaft nicht belasten will. ({3}) Meine Damen und Herren, wir werden unserer Verantwortung gerecht ({4}) mit der verstärkten Erinnerungsarbeit, mit dem Zukunftsfonds und mit all den Dingen, die wir auf den Weg gebracht haben und die wir noch auf den Weg bringen sollten. Aber ich frage mich: Werden Sie mit solchen Forderungen eigentlich Ihrer Verantwortung für unser Land gerecht? Ich meine, das ist der falsche Weg. Vor dem Hintergrund der Geschichte ist die deutsch-griechische Freundschaft ein großes Geschenk. Das sollte auch von der deutschen Opposition nicht mit solchen Fragen belastet werden. ({5}) Zum Abschluss möchte ich unseren griechischen Freunden zum heutigen Unabhängigkeitstag gratulieren, einem Tag der Freude. Herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Marianne Schieder von der SPD-Fraktion. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „80 Jahre Überfall der deutschen Wehrmacht auf Griechenland“ ist ganz bestimmt ein Anlass, um als Deutscher Bundestag innezuhalten und sich voll Scham und in tiefer Demut vor den Opfern und ihren Angehörigen und der gesamten griechischen Bevölkerung zu verneigen. ({0}) Es ist unvorstellbar, wie Wehrmacht, SS und Gestapo ab 1941 in Griechenland gewütet haben und mit welch gnadenloser Besatzungsherrschaft die Menschen unterdrückt, gequält, ausgebeutet, deportiert und ermordet wurden. Wir dürfen nie vergessen, welche Gräueltaten dort – und nicht nur dort – im Namen des deutschen Volkes verübt worden sind. Und wir dürfen nie damit aufhören, uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen und für sie Verantwortung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang möchte auch ich sagen: Die Art und Weise, wie die Kollegen der AfD heute versucht haben, dieses ernste Thema für ihre nationalistischen und populistischen Ideen zu nutzen und zu instrumentalisieren, ist nur noch abstoßend und beschämend. ({1}) Ich meine aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir schon etwas tun und uns unserer Verantwortung stellen, auch in Griechenland. Staatsminister Michael Roth hat beschrieben, wie die erinnerungspolitische Zusammenarbeit mit Griechenland gestaltet wird und welche wichtigen und nachhaltigen Projekte dafür stehen: Deutsch-Griechischer Zukunftsfonds, Deutsch-Griechisches Jugendwerk, Holocaust-Museum in Thessaloniki sind ein Teil davon. Natürlich muss diese Arbeit fortgesetzt werden. Auch ich möchte heute von dieser Stelle aus allen Männern und Frauen und vor allen Dingen auch allen jungen Leuten von ganzem Herzen danken, die daran mitarbeiten; denn sie sind es, die Menschen zusammenbringen. Sie sind es, die es möglich machen, Vorurteile abzubauen und Vertrauen aufzubauen. Es ist ihre wichtige und wertvolle Arbeit, die es uns möglich macht, ein friedliches Miteinander in Europa zu gestalten und dauerhaft zu sichern. Gleichwohl, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, ist auch richtig, was in Ihrem Antrag steht: Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen sind die deutschen Verbrechen in Griechenland ebenso wenig verankert wie das Wissen um die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft und den Vernichtungskrieg im Osten und Südosten Europas insgesamt. Auch das wissen wir, und auch hier haben wir gehandelt. Im Oktober des vergangenen Jahres sind wir – übrigens gemeinsam mit allen demokratischen Fraktionen in diesem Haus – dieses Thema angegangen und haben einen echten Meilenstein für die Erinnerungskultur in unserem Land beschlossen: mit der Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur deutschen Besatzungsherrschaft des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa und damit natürlich auch explizit – es steht sogar wörtlich drin – in Griechenland. Damit vermitteln wir historische Zusammenhänge, klären auf über das geschehene Leid und bieten uns, aber auch den Nationen, den Opfern und ihren Angehörigen Raum für Gedenken und Erinnern. Das ist genau das, meine ich, was Sie erinnerungspolitisch in Ihrem Antrag fordern. Es ist der richtige Weg. Der Alltag der Menschen unter deutscher Besatzung, ihre Sichtweise und ihre Selbstbehauptung, aber auch generationenübergreifende Traumata der Nachkriegsgesellschaften und insbesondere die Millionen Opfer zwischen Pyrenäen und Kaukasus, Nordkap und Kreta sollen in dieser Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte breiten Raum einnehmen. Ja, und was die Forderungen nach Reparationszahlungen und Entschädigungsleistungen betrifft, sind wir, was die Beurteilung der Rechtslage betrifft, unterschiedlicher Meinung. Das sollte uns aber nicht daran hindern, miteinander im Gespräch zu bleiben und einander zuzuhören. In diesem Sinne hoffe ich, dass die heutige Debatte die deutsch-griechische Freundschaft vertiefen möge und dass der eingeschlagene Weg auch so fortgesetzt wird. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Die letzte Rednerin in der Debatte wird Elisabeth Motschmann von der CDU/CSU-Fraktion sein. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „80 Jahre Überfall der Wehrmacht auf Griechenland – Europas Zusammenhalt stärken und die erinnerungspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Griechenland intensivieren“, für dieses Thema möchte ich mich zunächst einmal bedanken. Ich glaube, es ist gut, dass wir uns einem Land zuwenden, dem wir uns bisher viel weniger zugewandt haben. Genau aus diesem Grunde – die Kollegin Schieder hat darauf hingewiesen – haben wir kulturpolitisch im Kulturausschuss ein Dokumentationszentrum beschlossen, in dem wir uns genau denjenigen Ländern und den Opfergruppen, die bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden haben, zuwenden. In diesem Dokumentationszentrum soll die Geschichte erzählt und auch jungen Menschen nahegebracht werden. Dies ist mein Thema im Zusammenhang mit Griechenland. Ich bedaure sehr, dass unsere Zuschauerränge heute leer und nicht mit Schulklassen gefüllt sind; denn unsere Schülerinnen und Schüler werden zwar viele griechische Inseln sehr genau kennen – da haben sie schon am Strand gelegen; vielleicht sind sie auch schon auf der Akropolis gewesen –; aber wenn man sie fragen würde: „Was ist vor 80 Jahren passiert?“, dann, glaube ich, wäre da eine große Leere, es sei denn, sie haben einen wunderbaren Geschichtslehrer. ({0}) Genau diesem Nichtwissen müssen wir alle miteinander entgegenwirken. ({1}) Wir sind uns alle einig – bis auf die AfD –, dass der Zweite Weltkrieg unermessliches Leid, Millionen Tote, den Holocaust und einen zerstörten Kontinent mit sich gebracht hat. ({2}) Das war schlimm für Griechenland, für Europa, für alle Länder Europas und für viele Länder auf der Welt. Also, wir haben da schon eine kollektive Schuld auf uns geladen, die jetzt nicht verortet werden kann, sondern die sehr global entstanden ist. Deshalb müssen wir in unserer Erinnerungskultur darauf eingehen. Sie ist übrigens ein riesiger Bestandteil der Arbeit des Kulturausschusses; viele wissen das gar nicht: Die Erinnerungskultur ist unser Ding, und es ist gut, dass dies auch im Auswärtigen Ausschuss stattfindet. In dieser Erinnerungsarbeit müssen wir genau in diese Lücke hineingehen und jungen Menschen vermitteln, was passiert ist. Ich will mich einmal auf die kleinen Brücken konzentrieren. Ich könnte jetzt vieles sagen, was wir in den vergangenen Jahren für Griechenland getan haben, auch finanziell übrigens. Aber ich möchte mich auf die kleinen Dinge konzentrieren, auf den deutsch-griechischen Jugendaustausch, auf das deutsch-griechische Jugendwerk, das jetzt entsteht. Genau da wird ja auch Geschichte vermittelt, wird sich ausgetauscht, wird für Verständnis des anderen geworben und ein vertieftes Nachdenken möglich sein. Ich wünschte mir auch, dass mehr Deutsche die griechische Sprache lernen. Das hat leider auch sehr nachgelassen. ({3}) Aber Sprache verbindet. Kultur baut Brücken. Kultur ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Musik ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Wir können gerade in diesem Bereich – da geschieht auch so viel – Zeichen setzen. Deshalb würde ich sagen: Das ist ein positives Kapitel der Zusammenarbeit, der Kontaktbildung, der Völkerverständigung zwischen Griechenland und Deutschland. Das alles sind Zeichen, die in die Zukunft gerichtet sind. Ich möchte, dass in Zukunft Generationen in Frieden miteinander leben, dass sie sich besser verstehen, dass nie wieder so etwas passiert, wie es vor 80 Jahren passiert ist, dass es eine ganz natürliche Hemmschwelle gibt, überhaupt auf den Gedanken zu kommen, ein anderes Land zu überfallen. Das kann nicht sein. Wir erleben auch schon – oh, ich muss zum Ende kommen –, dass diese junge Generation inzwischen viel europäischer lebt und denkt als wir, und das ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Ich will am Ende sagen: Mein oder unser Weg sind nicht die Reparationszahlungen, sondern ich möchte oder wir möchten, dass wir durch dieses lebendige Brückenbauen, durch das Vermitteln von Geschichte – hier wie dort, aber vor allem hier – unsere Verantwortung für unendliches Leid wahrnehmen, was wir auch über Griechenland gebracht haben. Aber das ist nicht mit Geld gutzumachen, Herr Gysi. Das können wir nur durch die vielen kleinen und großen Aktionen, die ich eben versucht habe zu skizzieren. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Neues aus der Coronakrise“ oder, wie es bei Ihnen in der Unionsfraktion heißt: „Wer wird Millionär?“ Heute geht es um Fehler. Ich zitiere die Bundeskanzlerin: „Ein Fehler muss als Fehler benannt werden, vor allem muss er korrigiert werden …“ Mit diesen Worten bat Angela Merkel gestern um Entschuldigung und nahm die unverhältnismäßige sogenannte Osterruhe zurück. So bleiben uns immerhin geschlossene Supermärkte und vor allem Hamsterkauf-Superspreader-Events erspart. Doch diese Entschuldigung war wohl mehr dem öffentlichen Druck geschuldet denn der Einsicht, dass der Ministerpräsidentenstammtisch erneut in zwölf Stunden Beratung wieder nur himmelschreienden Unfug produziert hatte. Und eine Entschuldigung macht vor allem die Gesamtlage in Deutschland nicht besser. ({0}) Es braucht endlich klare Entscheidungen, die wissenschaftlich basiert, logisch nachvollziehbar und vor allem verhältnismäßig sind. Frau Merkel, man kann sich nicht für einen zerbrochenen Teller entschuldigen, wenn man vorher die ganze Küche zertrümmert hat. ({1}) Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten haben mittlerweile wiederholt unter Beweis gestellt – und sie werden es am 12. April wahrscheinlich leider wieder tun –, dass sie keine Entscheidung auf wissenschaftlicher Basis treffen können. In einer der schwersten Krisen dieses Landes wird bis nachts gezockt oder Unsinn getwittert. Es gibt nachts keinen Austausch mehr mit Experten oder mit der Fachebene, und die Folgen sehen wir dann alle am nächsten Morgen in der „Bild-Zeitung“: sinn- und hilflose Maßnahmen, die kein Mensch mehr versteht, die größtenteils rechtswidrig sind und die alles können, außer die Gesundheit unserer Bürger zu schützen. ({2}) Sprechen wir beispielsweise mal über das Thema Außengastronomie. Großspurig tönen die Bundes- und auch die Landesregierung davon, dass ja die Außengastronomie bald wieder aufgemacht wird. Einige Länder hatten tatsächlich einige wenige Tage oder Stunden die Außengastronomie geöffnet. Aber unsere ach so kluge Kanzlerin hat sich – gewiss sehr kluge – Begleitumstände und Maßnahmen ausgedacht, damit die Außengastronomie öffnen darf: Sie müssen einen tagesaktuellen negativen Schnelltest entweder vorlegen, oder Sie müssen sich direkt vor Ort testen lassen. Am besten schaut der Wirt Ihnen dabei zu, wie Sie sich das Stäbchen in die Nase rammen, damit Sie ja nicht betrügen, meine Damen und Herren. Dann dürfen Sie vorher einen Termin ausmachen, und wenn es gut läuft und Sie negativ getestet sind, dürfen Sie sich unter Wahrung der Abstandsregeln und natürlich auf dem Weg zum Platz mit Maske beim Abendessen draußen bei 10 Grad die Füße abfrieren. Aber ich habe ein paar Fragen dazu, und vielleicht können Sie mir die beantworten, weil ich das der Bundesregierung mittlerweile nicht mehr zutraue: Wenn es doch sowieso schon im Außenbereich – im Freien! – ein Ansteckungsrisiko gibt, das nahezu bei null liegt, wieso muss ich mich dann vorher testen lassen? ({3}) Und wenn ich mich testen lasse und alle anderen Gäste, die auch da sind, negativ getestet sind, wieso muss ich dann Abstand halten und eine Maske tragen, bis ich mich hinsetzen darf? Und wenn alle Anwesenden negativ getestet sind, wieso darf ich mich nur draußen auf die Terrasse setzen und nicht in die Gaststätte hinein? Wieso ist das strengstens untersagt? Wer soll sich denn da bei wem anstecken? Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie merken zumindest noch, dass diese Beschlüsse wirkungslos sind und schlicht und ergreifend keinen Sinn machen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat ja auf der Ministerpräsidentenkonferenz und danach auf dem Pressetermin gesagt, das „Team Vorsicht“ habe sich durchgesetzt. Meine Damen und Herren – das geht insbesondere an die bayerischen Unionskollegen –, Söder ist nicht im Team „Vorsicht“, sondern Häuptling des Teams „Völlig bekloppt“. ({4}) Statt eines Coronazickzackkurses braucht es endlich mal klare Öffnungsstrategien. Wir als AfD-Fraktion fordern die sofortige Beendigung dieses unsinnigen Lockdowns. ({5}) Wir fordern einen schnellen und unbürokratischen Ausgleich für die von der Bundesregierung verursachten Schäden für Unternehmen und Angestellte, und wir fordern einen ausgeweiteten Schutz der Risikogruppen durch zielgerichtete und sinnvolle Maßnahmen. Diese Bundesregierung muss endlich Krisen lösen, anstatt jeden Tag neue Krisen zu produzieren. Anscheinend fehlt es Ihnen allen aber an Mut und an Entscheidungswillen; denn Sie bekämpfen die Probleme von heute mit den Lösungen von vorgestern, und die immer gleichen Maßnahmen, die Sie anwenden, die werden auch morgen zu keinem anderen Ergebnis führen. Das Hin und Her der letzten Tage verdeutlicht doch vor allem eins: Angela Merkel und die Vertreter auf der Regierungsbank haben weder den Willen noch die Kraft, weitreichende Entscheidungen zu treffen und für die Freiheit und für die Selbstbestimmung unserer Bürger einzutreten. Von dieser Regierung und von dieser Kanzlerin ist leider nichts mehr zu erwarten. Aber die Einzigen, die immer noch hinter dieser Politik des Stillstands stehen, sind Sie, meine Damen und Herren von den Altparteien, die aus Angst vor innerparteilichen Konsequenzen dieser Kanzlerin nach dem Mund reden. Die Bürger sehnen sich Alternativen. Sie wollen Freiheit, Selbstbestimmung und vor allem Perspektiven für die Zukunft. Frau Kanzlerin, Sie haben es selbst gesagt: Ein Fehler muss als Fehler erkannt werden, und er muss korrigiert werden. – Ihre komplette Coronapolitik ist ein riesiger Fehler und muss dringend korrigiert werden. Deshalb fordere ich Sie im Namen der AfD-Bundestagsfraktion auf: Stellen Sie die Vertrauensfrage, und stellen Sie sich der Abstimmung hier im Parlament! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Münzenmaier. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Krauß. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir können uns jetzt damit beschäftigen, rückwirkend eine Fehlersuche zu betreiben, oder wir können nach vorn schauen und Lösungen suchen. Ich bin dafür, dass wir Lösungen suchen; dafür ist das Parlament da. Da kann ich nur ganz deutlich in Richtung der AfD sagen: Sie haben keine einzige Antwort geliefert. Sie haben keinen einzigen konkreten Vorschlag für die Lösung dieser Situation gemacht. Das war der Beitrag, den Sie heute hier abgeliefert haben. ({0}) Schauen wir uns die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr an. Wir stochern nicht mehr im dichtesten Nebel. Wir haben viele Erkenntnisse dazugewonnen. Der Nebel hat sich weitgehend gelichtet; ein bisschen Nebel ist noch. ({1}) Wir haben sehr gute Prognosemodelle, die zeigen, was passiert, wenn wir etwas tun, und was passiert, wenn wir nichts tun. Wir haben Gesundheitsämter, die jetzt in der Lage sind, Kontaktketten deutlich besser und professioneller nachzuvollziehen. Wir haben Tests. In den letzten zwei Wochen sind 10 000 neue Teststellen wie Pilze aus dem Boden geschossen, und es werden täglich mehr. Wir haben mittlerweile 20 zugelassene Selbsttests, die helfen, unentdeckte Infektionsketten zu erkennen. Das wird dazu führen, dass auch die Fallzahlen sinken. ({2}) Mittlerweile ist bereits jeder zehnte Erwachsene geimpft. Allein im nächsten Monat wird es 12 Millionen weitere Erstimpfungen geben. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Menschen in den vergangenen Wochen und Monaten wahnsinnig viel zugemutet: ({3}) den Selbstständigen, die über Monate zur Arbeitslosigkeit verdammt sind – manche zumindest –, den Familien, gerade Alleinerziehenden, die neben der Arbeit quasi den Job des Lehrers oder der Kindergärtnerin übernommen haben. Es ist verständlich, dass die Menschen erschöpft sind und dass auch die Nerven blankliegen. ({4}) Die Pandemie ist ein Langstreckenlauf. Wir sind ein Jahr unterwegs. ({5}) Meine Bitte an die Bürgerinnen und Bürger: Lasst uns jetzt nicht aufgeben! Das Ziel kann man schon sehen. Wir sind 39 Kilometer gelaufen. Die letzten 3 Kilometer schaffen wir auch noch gemeinsam. ({6}) Es wäre vollkommen verantwortungslos, jetzt aufzugeben und das Virus wüten zu lassen. Wir sollten einfach mal zurückdenken, was im Dezember gewesen ist. In der Region, aus der ich komme, aber auch in vielen anderen Regionen war es doch im Dezember so, dass die Betten auf den Intensivstationen voll waren. Wir mussten Patienten verlegen. In Sachsen hat es noch nicht mal gereicht, die Patienten in Krankenhäuser in den umliegenden Bundesländern zu verlegen. Wir mussten sie wegfliegen, bis an die Ostsee. Das war die Situation im Dezember. Wir sind das Land mit den meisten Intensivplätzen auf der ganzen Welt, aber auch wir kommen an Grenzen. Deswegen ist es wichtig, dass wir vorbauen. ({7}) Wir haben gesehen, dass die Maßnahmen etwas gebracht haben. Nach dem Lockdown im Dezember ist die Zahl der Fälle auf ein Drittel gesunken. Die Maßnahmen haben also gewirkt. ({8}) Wir ernten mittlerweile auch die ersten Früchte. Ich denke dabei an unsere Altenheime, ({9}) wo die Heimbewohner mittlerweile durchgeimpft sind, wo Besuche wieder möglich sind, wo die Sterberate deutlich gesunken ist. Das sind doch Erfolge, über die wir uns freuen können. Wir haben zum Beispiel in der vergangenen Woche Modellprojekte erlebt – ob beim Fußball, ob in der Oper –, und es werden weitere Modellprojekte dazukommen, so zum Beispiel in meiner Heimat im Erzgebirge. Ich bin ja der Vertreter von Deutschlands höchstgelegener Stadt, Oberwiesenthal. Da haben die Hoteliers das Heft des Handelns selbst in die Hand genommen. Sie wollen Urlaub über Ostern ermöglichen und ein Modellprojekt auf den Weg bringen – „Covid.Ex“ heißt es –, wo also die Anreisenden im Vorfeld getestet werden und wo man dann auch während des Urlaubs testet, damit ein normales Leben wieder möglich wird. Wir sammeln hier jetzt Erfahrungen. Wir lernen daraus, wie der Weg aus der Pandemie aussehen kann. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürger, lassen Sie uns die Zähne zusammenbeißen. Wir laufen einen Marathon gegen eine Pandemie. Wir haben zwölf Monate erfolgreich gekämpft. Wir sind dem Tod davongelaufen. ({11}) Wir haben die niedrigsten Sterberaten in den Ländern der zivilisierten Welt. Das ist ein großer Erfolg, den wir uns hart erarbeitet haben: dass wir weniger Sterbefälle haben im Vergleich zu anderen Ländern. Jetzt darf uns die Puste nicht ausgehen. Wir brauchen Durchhaltewillen. Wir brauchen mehr Testungen. Wir brauchen mehr Impfungen. Wir brauchen mehr kreative Ideen, um das normale Leben zu ermöglichen, ohne das Ansteckungsrisiko zu erhöhen. Lassen Sie uns durchhalten! Wir bekommen das gemeinsam hin! ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Krauß. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Wieland Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Coronapandemie haben wir zwei, die unsere Gesundheit gefährden: Das eine ist das Coronavirus, klar. Das andere ist die AfD. ({0}) Sie machen konsequent eine Politik, die dem Coronavirus nutzt: Erstens: die Masken. Sie polemisieren ständig gegen die Masken, Sie tragen fast keine, und Sie gehen sogar gegen den Bundestagspräsidenten vor, der im Deutschen Bundestag eine angemessene Coronamaskenverordnung durchsetzen will. Meine Damen und Herren, das Coronavirus dankt Ihnen. Zweitens. Sie engagieren sich sehr intensiv gegen das Impfen. Sie polemisieren von wegen: „Gentechnisch hergestellt, Leute haben Angst“ usw. usf. Dabei sind die Impfungen unsere schärfste Waffe gegen das Coronavirus. Sie schwächen diese Waffe. Das Coronavirus dankt Ihnen. ({1}) Der dritte Punkt. Ihr Abgeordneter Herr Protschka hat ernsthaft gesagt, dass der Lockdown eigentlich nur erfunden wurde, um von einer Wirtschaftskrise abzulenken. Das Coronavirus dankt Ihnen auch dafür, meine Damen und Herren. Wir stellen fest: Die Politik der AfD nützt nicht dem Menschen, aber dem Coronavirus. Ich sage Ihnen was: Wir werden dagegen vorgehen. – Das kann ich Ihnen versprechen. ({2}) Wir werden gegen Verschwörungstheorien vorgehen. Wir werden gegen Verharmlosung vorgehen. Alle, die das Coronavirus und die Pandemie verharmlosen, sind A – f – D: eine „Ansteckungsgefahr für Deutschland“. Das sind Sie nämlich, meine Damen und Herren. ({3}) Nun ist es natürlich schon so, dass die Maßnahmen der Bundesregierung in Coronazeiten nicht alle gut sind; das wissen wir alle. Es wurde bereits – das ist der erste Punkt – die Osterruhe erwähnt. Ja, die Bundeskanzlerin hat sie zurückgenommen und hat sich entschuldigt; das ist ihr hoch anzurechnen. Was mir Sorgen macht, ist die Begründung der Bundeskanzlerin. Sie hat gesagt, das wäre irgendwie nicht umzusetzen. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass der Ansatz schon verkehrt ist. In einer Pandemie darf man Öffnungszeiten nicht verkürzen, sondern man muss sie verlängern, damit das Publikum sich auf mehr Zeiten verteilt. Es ist grundsätzlich falsch, die Geschäfte zuzumachen. Es ist besser, sie aufzumachen und das Publikum auf die Weise zu verteilen. Das hat die Bundeskanzlerin offenbar nicht begriffen. Ich fordere Sie auf, Ihre Politik grundsätzlich zu überdenken. ({4}) Zweiter Punkt: die Sache mit der Inzidenz. Nach wie vor werden weitgehende Grundrechtseingriffe mit dem Inzidenzwert 50, 100 oder 35 begründet. Meine Damen und Herren, dieser Inzidenzwert ist ein sehr, sehr grober Maßstab, jedenfalls kein ausreichender. Stellen Sie sich mal vor, er ist bei 30. Da würden wir alle sagen: „Ja, super!“ Wenn diese 30 aber nur durch Ältere mit Vorerkrankungen zustande kommen, ist es eine Katastrophe. Umgekehrt: Wenn der Inzidenzwert bei 100 ist und fast nur Junge ohne Vorerkrankungen erkrankt sind, dann kriegt unser Gesundheitswesen das locker in den Griff. Kurz gesagt: Die FDP hat Vorschläge gemacht, wie man einen Inzidenzwert viel besser gewichten kann. Daran sollten Sie sich halten, meine Damen und Herren. ({5}) Der dritte Punkt. Unser Hamburger Bürgermeister hat den Vogel abgeschossen: Er hat tatsächlich eine Maskenpflicht für Jogger durchgesetzt. Meine Damen und Herren, was für ein Unsinn! ({6}) Die FDP hat konkrete Vorschläge gemacht, wie man es besser machen kann: Wir wollen viel mehr Impfstoffe bekommen. Dazu muss man Nachverhandlungen mit den Impfstoffherstellern zur Not mit höheren Preisen machen. Das ist viel billiger als ein Lockdown. Wir haben gesagt: Wir wollen die Gesundheitsämter besser ausstatten. ({7}) Sie müssen alle mit DEMIS und SORMAS arbeiten. Das ist nach wie vor nicht der Fall. Schließlich haben wir gesagt: Wir wollen endlich mal eine vernünftige Impfstrategie unter Einbeziehung der niedergelassenen Ärzte; die dürfen nicht gegenüber Impfzentren benachteiligt werden, sondern müssen sofort mit der Arbeit anfangen können und mehr Impfdosen bekommen. Das wäre der Erfolgsweg, den die Bundesregierung leider nicht beschreitet, meine Damen und Herren. Letzter Punkt. Sie wissen vielleicht: Es gibt sehr viele Branchen, die unter dem Lockdown leiden. Eine davon ist die Veranstaltungsbranche. Die haben ein Aktionsbündnis gegründet, das sich „#AlarmstufeRot“ nennt. Es hat am letzten Samstag in Hamburg – ich war dabei – eine Veranstaltung gemacht, die gezeigt hat, wie es geht: strenges Hygienekonzept, Schnelltests für alle und funktionierende Kontaktnachverfolgung. Meine Damen und Herren, es geht. Man muss nicht alles zumachen. Mit einer vernünftigen Technik, vernünftigem Hygienekonzept geht es. Das hat die Bundesregierung noch nicht begriffen. Das muss dringend geändert werden, meine Damen und Herren. ({8}) Wir brauchen einen Neustart in der Coronapolitik. Das bedeutet: Abkehr von dem ewigen Lockdown und Schließen. Wir brauchen eine smarte Öffnungsstrategie. Wir brauchen vor allem eine Rückverlagerung aller Entscheidungen in die Parlamente. Die FDP beteiligt sich gerne daran. Mein Vorschlag: Die AfD fragen wir lieber nicht. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Schinnenburg. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Dittmar. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir alle wünschen uns unser altes Leben zurück. Wir wollen Urlaubspläne machen, an Ostern Zeit mit unserer Familie und Freunden verbringen und all die Coronaschutzmaßnahmen hinter uns lassen. Aber wir können nicht wie die AfD die Augen vor der Realität verschließen. ({0}) Statt alternativen Fakten Glauben zu schenken, halte ich mich lieber an die Wissenschaft und an Zahlen, Daten und Fakten. ({1}) Diese sprechen eine deutliche, eine unmissverständliche Sprache: Wir sind mitten in der dritten Welle. Wir haben ein exponentielles Wachstum: heute über 22 000 Neuinfektionen, 5 000 mehr als vor einer Woche. (Enrico Komning [AfD]: PCR-positiv Getestete sind das, nicht Infizierte! Die britische Mutante bestimmt das Infektionsgeschehen. Diese Mutante ist wesentlich infektiöser, die Krankheitsverläufe sind schwerer und tödlicher, und sie betreffen immer häufiger Kinder und junge Menschen. Die Belegung unserer Intensivstationen zieht wieder an. Die Patienten sind im Durchschnitt jünger. Erfreulicherweise ist momentan die Sterberate geringer, aber die Verweildauer ist länger. Wenn wir die dritte Welle nicht zügig brechen, ist das Volllaufen der Intensivstationen eine Katastrophe mit Ansage. Die dritte Welle wird ein Tsunami für die Intensivmedizin. ({2}) Wenn man der politischen Bewertung nicht glauben will, dann doch bitte der Wissenschaft und der Medizin. ({3}) Die Modellierungen der Wissenschaft haben sich bislang immer als richtig erwiesen. Die Intensivmediziner, die seit Monaten unter Extrembelastung für uns im Einsatz sind, warnen uns täglich. Da ist ein Vorschlag wie der der AfD gestern im Gesundheitsausschuss, die Intensivkapazitäten doch einfach weiter auszubauen, ein echter Irrweg. Unser Ziel muss es doch sein, die Menschen vor schweren Verläufen einer Infektion zu schützen und sie davor zu bewahren, dass sie auf den Intensivstationen landen und dass sie beatmet werden. Bei den über 80-Jährigen ist uns das bereits ganz gut gelungen. Durch die Impfungen ist diese Bevölkerungsgruppe mittlerweile gut geschützt vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen. ({4}) Das zeigen uns die Inzidenzen und die Hospitalisierungsraten in dieser Altersgruppe ganz deutlich. Impfen ist der Weg aus der Pandemie und aus dem Lockdown. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir beim Impfen sehr viel schneller werden. Nach wie vor sind nur 75 Prozent der Impfdosen verimpft. Das ist nicht erklärbar und nicht akzeptabel. Ich muss sagen: Es ärgert mich maßlos, dass anscheinend immer noch Impfstoffdosen für Zweitimpfungen zurückgehalten werden, obwohl es dafür seit geraumer Zeit keine Notwendigkeit mehr gibt. ({5}) Ich bleibe auch bei der Position: Je früher wir die Hausärzte mit einbeziehen – da müssen wir nicht bis zum 14. April warten –, umso schneller kommen wir beim Impfen voran. Klar ist aber auch, dass es noch dauern wird, bis wir innerhalb unserer Bevölkerung eine Herdenimmunität aufgebaut haben. Deshalb ist es so wichtig, dass die Teststrategie endlich ins Rollen kommt. Gerade an Schulen, Kitas, am Arbeitsplatz, dort, wo Menschen aus vielen unterschiedlichen Bereichen unweigerlich zusammentreffen, muss flächendeckend und regelmäßig getestet werden. Nur so können wir Infektionsketten früh erkennen und eindämmen. Ich sage hier ganz offen: Für mich ist es eine herbe Enttäuschung und auch nicht akzeptabel, dass sich die Ministerpräsidentenkonferenz und die Kanzlerin nicht auf verpflichtende Tests am Arbeitsplatz haben einigen können. Das ist ein Armutszeugnis. ({6}) Meine Damen und Herren, wir leben nun seit einem Jahr mit dem Coronavirus. Es ist mir sehr wohl bewusst, dass wir den Bürgerinnen, den Bürgern, aber auch der Wirtschaft, den Arbeitnehmern, den Gastronomen, den Künstlerinnen, den Kulturschaffenden und so vielen mehr in all den Monaten sehr viel abverlangt haben. ({7}) Die Anfang März vereinbarte Öffnungsstrategie gibt Perspektive. Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Die Öffnungsstrategie ist keine Einbahnstraße. Wenn die Infektionsdynamik nicht zu brechen ist, ({8}) dann muss die Notbremse gezogen werden, dann müssen Öffnungen zurückgenommen und die Maßnahmen verschärft werden. Das wurde so vereinbart, und ich erwarte auch, dass sich alle daran halten. ({9}) Meine Damen und Herren, die Beschränkungen sind schwer zu ertragen; aber sie wurden und werden von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen und auch beachtet. Dafür sage ich herzlichen Dank, und ich bitte Sie aber auch inständig: Halten Sie weiter durch, meiden Sie überflüssige Kontakte, und schränken Sie Ihre Mobilität wo immer möglich ein! Das Virus liebt den Kontakt und kann sich auch nur so verbreiten. Beachten Sie daher weiterhin die AHA-Regeln, nehmen Sie die Testangebote wahr, und lassen Sie sich impfen, wenn Sie an der Reihe sind. Bleiben Sie zuversichtlich, passen Sie auf sich und Ihre Mitmenschen auf! So werden wir gemeinsam die Pandemie überwinden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Erstes zur AfD: Seit Monaten treten Sie hier auf und tun so, als würde das Coronavirus gar nicht existieren. ({0}) Schauen Sie sich doch an! Wenn sich Ihr Vorsitzender umdreht, sieht er, dass Sie alle keine Masken tragen. ({1}) Ja, weil man sie nicht braucht. Warum braucht man sie nicht? Weil es das Coronavirus nicht gibt. Wenn Sie auf Veranstaltungen von Coronaleugnern auftreten ({2}) – Sie können grölen, das ist mir vollkommen wurscht –, die Leute noch aufhetzen, dass Corona eine Fiktion der Altparteien sei, wie Sie sagen, sage ich Ihnen dazu: Sie sind für die Ausbreitung des Coronavirus in dieser Republik verantwortlich. ({3}) Sie sind mit schuld daran. Ich will Ihnen mal was sagen: Forscher der Humboldt-Universität Berlin und des Leibniz-Instituts haben festgestellt, dass alleine nach den beiden Querdenker-Demonstrationen – ein beliebter Aufenthaltsort von Ihnen – im November in Leipzig und Berlin hinterher 16 000 bis 20 000 Neuinfektionen in den Landkreisen, aus denen die Demonstranten kamen, aufgetreten sind. Dazu haben Sie einen Teil beigetragen. Finden Sie das gut? ({4}) Ich kann Sie in diesen Fragen überhaupt nicht mehr ernst nehmen. ({5}) Nur einen von Ihnen nehme ich ernst: Das ist Herr Curio. Er hat gestern die Ausländer für die derzeitige Coronasituation verantwortlich gemacht. Er hat in der Rede gestern gesagt: Ist es nicht opportun, gewisse Verursacher, die den Staat nicht repräsentieren, in den Blick zu nehmen? Ich habe gedacht: von staatlichen Instanzen in den Blick zu nehmen. – Wissen Sie was? Da hat er recht. Und wenn er sich um euch kümmert, hat er noch mehr recht. So ist die Realität. ({6}) Meine Damen und Herren, aber ein paar Punkte muss man natürlich schon erwähnen. Also, dass die Bundesregierung das Vertrauen bei den Bürgern schon – ich gehe davon aus – größtenteils verspielt hat, ist, glaube ich, uns allen klar. Und dafür ist sie selbst verantwortlich. Warum? Weil bestimmte Maßnahmen einfach nur noch unlogisch sind. Ich will nur ganz wenige aufzählen. Auf der einen Seite gibt es Auflagen, dass Restaurants ein strenges Hygienekonzept und teuer angeschaffte Luftfilter haben müssen; aber auf der anderen Seite gibt es keine einzige Verpflichtung für die Arbeitgeber, deren Beschäftigte weiterarbeiten – das tun ja die meisten; das ist ja nicht schlecht, dass sie dies tun können, damit die Produktion noch aufrechterhalten wird –, die besagt: Die Arbeitgeber müssen entsprechende Testungen vornehmen, bevor sie die Arbeitnehmer einsetzen. ({7}) Auf der einen Seite haben wir Lockdown; da dürfen die Leute nicht mal mehr ihrem Geschäft nachgehen; auf der anderen Seite gibt es welche, die das dürfen und die keine einzige, wirkliche Maßnahme zu beachten haben. Alles Appelle! Und das geht nicht, das ist unlogisch, das muss dringend geändert werden, meine Damen und Herren! ({8}) Was passiert, wenn jemand Symptome hat? Da ist die gängige Aussage: Bitte bleibt daheim, steckt keinen anderen an, ihr habt Symptome. – Warum wird da nicht zwingend getestet? Wenn jemand Symptome hat, muss er sich zum Beispiel testen lassen. Auch das haben wir nicht. ({9}) Das ist alles unlogisch, und ich sage Ihnen: Dieses Chaos bei den Tests haben Sie selber veranstaltet. Vor Kurzem kündigte Herr Spahn an, innerhalb von zwei Wochen kostenlose Tests für alle Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung zu stellen. Dann pfiff ihn die Kanzlerin zurück, der Termin sei nicht haltbar, es sei zu früh. Spahn hatte sich offensichtlich weder um die Beschaffung dieser Tests noch um die Kosten ausreichend Gedanken gemacht. Darum wurde er zurückgepfiffen. Meine Damen und Herren, daraufhin wurde die Taskforce Testlogistik eingerichtet, um endlich genügend Tests zu organisieren, zu einem Zeitpunkt im Übrigen, zu dem in Österreich schon längst Massentests für alle Bürger üblich waren. Dann hat man also eine Taskforce gegründet und ausgerechnet die Managertalente Jens Spahn und Andy Scheuer zu Chefs dieser Truppe ernannt. Mein Gott! Ich kann nur sagen: Wenn der Andy Scheuer so lange leben würde, bis er das Geld verdient hat, das er den deutschen Steuerzahler mit seiner Verkehrspolitik gekostet hat, dann müsste er weit über tausend Jahre werden. – Das schafft selbst er nicht, und erst recht nicht, wenn der Spahn die Gesundheitspolitik verantwortet ({10}) Inzwischen gibt es zwar Tests, manchmal bei Aldi, selten in Apotheken und mit wochenlangen Lieferfristen und zu erhöhten Preisen auch im Internet. Das ist das Ergebnis dieser Taskforce. ({11}) Mein Gott, kann man da nur sagen. Die Testpflicht in den Betrieben – Fehlanzeige! Tests für Schulen wurden inzwischen von den Schulen selbst bestellt, weil vom Staat nichts kommt. Testpflicht bei Reisen kommt zu spät, vermutlich, weil inzwischen auch die Bundesregierung gemerkt hat: Die Menschen fahren nicht nur nach Mallorca, sie kommen auch wieder. Da hätte man sich vielleicht vorher drum kümmern sollen und nicht erst, wenn sie weg sind. ({12}) Meine Damen und Herren, auch beim Impfen absolutes Chaos! Ausreichende Bestellung und Lieferung – Fehlanzeige! Erst standen die Impfzentren leer, weil die Impfstoffe fehlten. Jetzt ist der Impfstoff da, aber es wird wieder nicht geimpft, weil die Logistik versagt. Dass man sich unter solchen Voraussetzungen nicht wundern muss, wenn die Bürger sagen: „Die haben einen Knall!“, ist doch offenkundig. Das muss schnellstens und rasch beendet werden. ({13}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Genauso schnell und rasch.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe das Lichtzeichen nicht gesehen. – Ich sage nur noch zum Schluss, was man ändern muss: schnelle Beschaffung von Impfstoffen, Impfstoffe freigeben für alle, damit man möglichst viel impfen kann. ({0}) Das ist die Grundlage dafür, dass wir aus diesem Lockdown kommen, statt weiterer Maßnahmen, die kein Mensch versteht. Ich danke der Präsidentin für die Geduld und Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Klaus Ernst. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 22 657 Neuinfektionen hat uns das Robert-Koch-Institut heute Morgen gemeldet. Dabei reden wir über 22 657 Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Das muss uns, glaube ich, dazu bringen, uns hier ernsthaft damit auseinanderzusetzen. ({0}) Wir sind in der dritten Welle der Coronapandemie und stehen vor der Entscheidung, wie hart und lang der Lockdown sein muss, um diese Welle stoppen, und zwar jetzt. Stattdessen befinden wir uns – nicht erst seit gestern – in einer politischen Krise, an der viele beteiligt sind, aber eine die Hauptverantwortung trägt: diese Bundesregierung. ({1}) In einer Pandemie braucht es Führungsstärke und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Wir haben stattdessen eine Kanzler-MPK-Runde, an deren Beschlüsse sich nicht einmal die Beteiligten halten. Wir haben keine Einbindung des Bundesrats und des direkt vom Volk gewählten Bundestages. Und die Folge ist: Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diese Regierung und in die Maßnahmen ist gesunken. Laut der COSMO-Studie der Universität Erfurt vertrauen nur noch 30 Prozent der Befragten dieser Regierung. Meine Damen und Herren, das ist das Ergebnis der Krisenkommunikation dieser Regierung seit Beginn dieser Pandemie – eine einzige Katastrophe! ({2}) Wir Bürgerinnen und Bürger sind keine Untertanen. Wir alle wollen uns an der Bekämpfung der Pandemie beteiligen; aber dafür müssen die Regeln gut entwickelt, gut zu verstehen und gut umsetzbar sein. Deswegen fordern wir Grünen seit einem Jahr einen interdisziplinären wissenschaftlichen Pandemierat, und wir fordern einen Stufenplan mit bundesweit einheitlichen Regeln der Öffnung und Schließung und regionaler Anpassung dieser Maßnahmen an das jeweilige Infektionsgeschehen. ({3}) Durch diese Bundesregierung öffnet sich der Raum, wie wir ja gestern und heute mehrfach gehört haben, für Populisten und für Feinde der Demokratie, die die Pandemie verniedlichen, nationalistisch und rassistisch instrumentalisieren und Lügen genüsslich verbreiten. ({4}) Der rechte Rand dieses Hauses, meine Damen und Herren, ist keine Alternative, sondern ein Teil des Problems. ({5}) Dagegen müssen alle Demokratinnen und Demokraten zusammenhalten. Und deshalb ist es so wichtig, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen wieder und schnell herzustellen. ({6}) Meine Damen und Herren, es geht darum, alle Kräfte zu bündeln – die Kräfte der Bürgerinnen und Bürger, die Kräfte der gewählten Parlamente in den Ländern – und die Parlamentsbeteiligung hier in diesem Hause zu stärken. Den Pandemierat und den Stufenplan habe ich schon erwähnt. Wir brauchen eine konsequente Kontaktnachverfolgung, wenn sie wieder möglich ist; auch dazu müssen wir wieder kommen. Wir müssen verhindern, dass die Intensivstationen voll- und überlaufen. ({7}) – Bitte verbreiten Sie keine Viren und keine Lügen! ({8}) Stattdessen müssen wir testen, testen, testen – vor allem in Kindergärten und Schulen. ({9}) – Bitte halten Sie den Mund! ({10}) Sie haben keine Maske auf und verbreiten Viren auch durch lautes Rufen. ({11}) – Ja, ja, ja. ({12}) – Weil ich hier jetzt das Rederecht habe und nicht Sie. ({13}) – Aber nicht ohne Maske.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt ist die Rednerin dran. – Frau Schulz-Asche, bitte. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– Ach, Sie sind manchmal so – – ({0}) Ich weiß gar nicht, wie ich es bezeichnen soll. Sie sind auf jeden Fall keine Demokraten, ({1}) und das ist das Schlimmste, was uns hier in diesem Hause passieren kann, ({2}) dass Sie freien Raum haben, Ihre Lügen und Ihre Hetze hier zu verbreiten. Wir brauchen keine Rassisten. Meine Damen und Herren, wir müssen testen, testen, testen, vor allem in Schulen und in Kindertagesstätten; denn die Kinder leiden am meisten im Moment. Wir müssen impfen, impfen, impfen, sieben Tage in der Woche, rund um die Uhr. Wir brauchen selbstbewusste demokratische Institutionen. Wir brauchen aber vor allem selbstbewusste, gut informierte, ernstgenommene Bürgerinnen und Bürger, die die AHA-Regeln einhalten. ({3}) Dann schaffen wir das. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. ({0}) So, jetzt kommen wir mal wieder runter. – Jetzt ist der nächste Redner dran: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller. ({1})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aktuelle Stunde – beantragt von der AfD; diese sucht nach alternativen Lösungen. Ehrlich gesagt, sollte sie erst mal nach ihrem eigenen Weg suchen. ({0}) Vor ziemlich genau einem Jahr konnten wir von der Fraktionsvorsitzenden lesen, dass die Bundesregierung die Bedrohung durch die Coronapandemie angeblich herunterspielt. ({1}) Das war schon großer Unsinn. ({2}) Kurz danach hat Ihr Parteivorsitzender Meuthen – ich glaube, er ist es gerade noch – gesagt: Lockdown sofort! Muss ganz schnell gehen! – Wenige Tage später hörten wir wieder von Ihrer Fraktionsvorsitzenden: Lockdown sofort beenden! ({3}) Sortieren Sie sich mal! Sortieren Sie auch mal Ihre Beiträge! Sie diskreditieren hier die Impfung. Dabei finde ich es bemerkenswert – wir hatten es beim letzten Mal schon angesprochen –: Ihr Fraktionsvorsitzender im Landtag von Nordrhein-Westfalen ({4}) hat nichts Eiligeres zu tun, als sich beim Impftermin vorzudrängeln. Er hat nicht nur sich, sondern auch noch seine Ehefrau und seinen 16-jährigen Sohn, den er mit hereingeschummelt hat, impfen lassen. ({5}) Das, meine Damen und Herren, ist der alternative Ansatz der sogenannten Alternative. Das ist eine denkbar schlechte Alternative. ({6}) Wir sind konfrontiert mit einer krisenhaften Situation nie dagewesenen Ausmaßes, ({7}) und die Bundesregierung hat die Herausforderung angenommen. Wir haben gemeinsam mit der Bundesregierung und in recht großer Übereinstimmung in diesem Hause beispiellose Hilfsmittel auf den Weg gebracht bzw. zur Verfügung gestellt. Wir sind dazu in der Lage gewesen, weil wir durch eine kluge und vorausschauende Haushaltspolitik finanziell bestens gerüstet waren. Wir sind nach wie vor – Stand heute – substanziell unter dem Verschuldungsgrad, den die Bundesrepublik nach der Finanzkrise hatte. Das zeigt, wie gesund unsere Wirtschaft ist. Wir wollen, dass das so bleibt, und stellen eben diese Mittel zur Verfügung. Wer das nicht glaubt, hat hoffentlich die Möglichkeit, die Erörterungen nachzuvollziehen, die gestern im Wirtschaftsausschuss stattfanden. Der Ökonom Lars Feld hat es dort eindrucksvoll dargestellt. Meine Damen und Herren, das ist die Basis für unser Handeln. Ich will aber auch darüber sprechen, dass es Fehler und Unzulänglichkeiten gegeben hat; denn das ist das, was die Bevölkerung interessiert. Da geht es darum, dass man sich zu diesen Fehlern bekennt, sie einräumt und idealerweise schnellstmöglich korrigiert. Das ist gestern beispielsweise durch die Bundeskanzlerin geschehen. Ich fand es auch ganz interessant, dass 16 Ministerpräsidenten in relativ kurzer Zeitfolge, aber erst danach dasselbe gemacht haben. Richtig so! Fehler müssen schnellstmöglich korrigiert werden. Ich will aber auch weitere Unzulänglichkeiten ansprechen. Im Übrigen sind diese Unzulänglichkeiten nicht nur von der Bundesregierung zu verantworten, sondern sie ziehen sich durch die gesamte Landschaft. Ich will hier einige, die ich selber erlebt habe, nennen: ({8}) Ich halte es, ehrlich gesagt, für ein bisschen abenteuerlich, dass, wenn wie in meiner Heimatregion Testzentren auch durch Privatinitiative aufgebaut werden sollen – wir wollen testen, testen, testen, damit wir zu Öffnungsschritten zurückkommen können – ({9}) – das können Sie an meinem Namen „Carsten Müller (Braunschweig)“ nachlesen; empfehle ich Ihnen sowieso sehr; die Region ist übrigens SPD-geführt –, die Stadtverwaltung denjenigen, die diese Testzentren etablieren wollen, entgegenhält, dass bei der Einrichtung stadtgestalterische Bedenken bestehen. Kann doch wohl nicht wahr sein! Das geht doch nicht in einer solch krisenhaften Situation. Genauso ist es, ehrlich gesagt, bei der Impfterminorganisation. Im Land Niedersachsen ist es zum Verzweifeln, wenn man einen Termin verlegen muss. Da landet man über viereinhalb Tage lang bei einer nicht erreichbaren Telefonnummer. Es ist der Landesregierung, es ist dem Gesundheitsministerium in Hannover nicht möglich, eine E-Mail-Erreichbarkeit zu gewährleisten. Dann darf man sich eben nicht wundern, wenn an manchen Tagen an die 200 Impftermine nicht wahrgenommen werden. Das können wir uns in dieser Situation nicht leisten. ({10}) Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend einen Impfturbo. Hier muss mehr geleistet werden. Ich will zum Schluss noch eine Sache ansprechen, die mir gestern den Atem verschlagen hat. Wir mussten hören, dass das Unternehmen AstraZeneca 29 Millionen Impfdosen in Italien gebunkert hat – in der EU produziert. Es gibt kein Exportverbot, möglicherweise muss man darüber nachdenken. Und die sind dann gestern aufgetan worden. AstraZeneca, das ist genau dasselbe Unternehmen, das die EU und uns wissen lässt, dass es seinen eingegangenen Lieferverpflichtungen für Impfdosen nicht nachkommen kann und will, weil es Verzögerungen in der Produktion gibt – angeblich. Glatt gelogen! Ich wünsche mir und ich erwarte, dass die EU-Kommission und die Bundesregierung mit aller Konsequenz solchem Schindluder Einhalt gebieten, meine Damen und Herren. Das sind wir unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Nur wenn wir die Unzulänglichkeiten beherzt abstellen, bekommen wir ihr Vertrauen zurück. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carsten Müller. ({0}) – Niedersachsen. ({1}) Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörn König. ({2})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Fernsehbildschirmen! Erst mal vorab, Herr Müller: An der Landesregierung in Hannover ist, glaube ich, auch die CDU beteiligt. Vielen Dank für dieses Coronamanagement! Seit über einem Jahr gibt es immer wieder Corona-Lockdowns, obwohl diese Regierung noch am 14. März 2020 getwittert hat, es stimme nicht, dass bald massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens beschlossen würden. Das waren dann wohl regierungsamtliche Fake News. Einen Tag später gab es dann die Ankündigung des Lockdowns für den 22. März 2020. Lockdown aber ist das übliche Framing, also im Grunde Lügen dieser Regierung. Lockdown heißt in der hiesigen Amtssprache Ausgangssperre oder Notstandsmaßnahme. Dieses Framing kennen wir aber: Neue Schulden sind ein Rettungsschirm, oder neuerdings sind neue Schulden ein Wiederaufbaufonds ohne vorhergehende Zerstörung – heute Morgen beschlossen. Framing ist einfach lügen. In einer Notlage hat die Regierung auch für Beruhigung zu sorgen. Stattdessen gibt es seit März 2020 die tägliche Panikmache der Staats- bzw. öffentlich-rechtlichen Medien zur Covidkrankheit: ({0}) Inzidenzwerte, PCR-Tests, die eh nichts taugen, R-Werte, Belegung der Intensivbetten und die täglichen Toten. Covid hat aber auch eine Überlebensquote von 99,7 Prozent. Das ist nie und nimmer eine epidemische Notlage. Aufheben, sofort! ({1}) Ich vermelde Ihnen jetzt etwas ganz Alltägliches und doch Trauriges. Im Schnitt sterben in Deutschland jeden Tag 2 600 Menschen. Das sind knapp 1 Million pro Jahr. Nie hat sich von dieser Regierung irgendjemand mal für die 30 000 Toten durch Krankenhauskeime wirklich interessiert. Wir hatten im letzten Jahr zwei statistisch signifikante Übersterblichkeiten: die erste im August durch die Hitzewelle – ohne jede Reaktion der Regierung – und die zweite im Januar durch Corona. ({2}) Seit 21. Februar 2021 haben wir aber Untersterblichkeit. Am 7. März waren es 14 Prozent Untersterblichkeit gegenüber dem Durchschnitt 2015 bis 2019. Was macht diese Regierung bei Untersterblichkeit? Sie macht wieder Lockdown, aber diesmal mit „Ruhetag“. Was für ein Framing: Ruhetag war früher, wenn die Gaststätte zuhatte, aber eben keine Ausgangssperre. ({3}) Was war das überhaupt? Chaos oder wieder eine Finte, um hinterher die Einsichtige zu spielen? Wollte man von dem ganzen Diebstahl der Grundrechte ablenken? Nächstes Framing: Grundrechte sind jetzt Privilegien. ({4}) Der erste Lockdown im März 2020 war wegen der Belegung der Intensivbetten. Dafür hat man danach im zweiten Halbjahr 2020 genau 20 Krankenhäuser geschlossen, weil in der Krise die Intensivbetten angeblich ja so knapp waren. Der Lockdown-Duracell-Hase Karl Lauterbach hat übrigens vor der Krise die Schließung von etwa der Hälfte aller Krankenhäuser befürwortet. Scheinheilig wie die Päpste im 15. Jahrhundert! ({5}) Der zweite Lockdown mit – Achtung: nächstes Framing! – „Wellenbrecher“-Funktion wurde gemacht, um Weihnachten zu retten. Pustekuchen! Weihnachten war immer noch Lockdown. Es ist jetzt Ende März, wir haben immer noch Lockdown, und der wird bis nach Ostern gehen. Mit diesem Oster-Lockdown haben wir wahrscheinlich Weihnachten 2021 gerettet. Die Inzidenzen stiegen bis in den Januar hinein gerade für die über 80‑Jährigen. Diese Posse um Mallorca. Was kommt als nächstes? Unterbindung von Auslandsreisen? Eine Bundesfluchtsteuer? Einfallslos, planlos, sinnlos das Ganze. ({6}) Die Regierung erfüllt damit laut Albert Einstein die Definition von Wahnsinn: Das Gleiche immer und immer wieder tun und ein anderes Ergebnis erwarten. – Ich gebe Albert Einstein Recht: Diese Regierung ist wahnsinnig! ({7}) Was könnte man anderes tun? Man könnte sagen: Wir sind Schweden. – Schweden hatte in der ersten Welle ein paar mehr Tote als wir, natürlich immer proportional gesehen. Aber seitdem ist die Coronasterblichkeit in Schweden deutlich geringer: ohne Ausgangssperre, ohne Lockdown, mit Sinn, Verstand und Vernunft. ({8}) Selbst in Deutschland gibt es Alternativen. Tübingen und Rostock zeigen, wie es geht, unter anderem mit folgenden Maßnahmen: besondere Einkaufszeiten für ältere Bürger; engmaschige, wiederholte Tests für alle, besonders rund ums Pflegeheim; besonderer Schutz von Risikogruppen; Taxi zum Preis der Busfahrt. Endlich wieder alles öffnen mit Hygienekonzept. Wir wollen endlich wieder leben, statt einfach nur arbeiten und schlafen. ({9}) Statt Panik müssen Lösungen propagiert werden. Dazu gehört für das Immunsystem auch der Sport und im Winterhalbjahr Vitamin D. Es gibt weitere medizinische Prophylaxe, die in der Panikmache völlig untergeht. Wir werden mit dem Virus leben müssen, wie mit dem Grippevirus seit ewigen Zeiten. Herdenimmunität muss das Ziel sein. Lügen, Pleiten, Pech und Pannen und ein wirtschaftlich totes Land – das ist Ihre Bilanz. Gerhard Schröder hatte recht: Sie, Frau Merkel, können es einfach nicht. Treten Sie zurück! Und zum Schluss eine Bitte an die Wähler: Wahnsinn ist es, immer das Gleiche zu wählen und eine bessere Politik zu erwarten. ({10}) Wählen Sie alternativ, solange Sie noch können und dürfen. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Poschmann. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es bleibt mir nur übrig, zu sagen: „Schlimmer geht nimmer“, nachdem ich das gehört habe, was von der FDP gerade – ({0}) – Entschuldigung! –, ({1}) von der AfD gerade vorgetragen wurde. Ich finde, in der Krise ist kein Platz für Polemik und ist auch kein Platz für Panikmache aus der rechten Ecke. ({2}) Denn damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden diejenigen verhöhnt, die leiden, die ihre Verwandten verloren haben und die jetzt noch immer unter den Folgen leiden. Sie müssen denen Respekt zollen. Das fehlt mir von der AfD hier in diesem Haus vollkommen. ({3}) Ich möchte Sie jetzt aber einmal wieder etwas mehr in die Realität zurückholen. Diese ganzen Gespinste, die Sie gerade aufgebaut haben, entbehren jeder Realität. ({4}) Vergleichen wir einmal Deutschland mit Europa: Wie stehen wir denn da? Bei den Inzidenzen im unteren Bereich, auch wenn wir die 100 überschritten haben. ({5}) Schauen Sie einmal in die Liste.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich Sie einmal kurz unterbrechen. – Ich bitte Sie von der AfD jetzt einfach mal: Es ist Ihre Aktuelle Stunde, Sie haben die Aktuelle Stunde beantragt. Ihren Rednern ist zugehört worden. Ich erwarte jetzt von Ihnen, dass Sie den Rednerinnen und Rednern zuhören. Ihr permanenter Lautstärkepegel macht es unmöglich. Ich weiß, dass die FDP massive Probleme hat – die Kollegin hat es ja gesagt –: Man hört einfach nichts, weil Sie die ganze Zeit einen Lautstärkepegel haben, der wirklich alle Dimensionen sprengt. ({0}) Natürlich kann man dazwischenreden, natürlich, logisch; das tun andere auch. Aber diese permanente Untermalung macht es völlig unmöglich, eine ernsthafte Diskussion hier im Bundestag zu führen. Das wollten Sie doch. Sie haben doch die Aktuelle Stunde beantragt. Sie wollen doch, dass über einen Neuanfang geredet wird. Dann bitte schön, hören Sie auch den Kollegen aus den anderen Fraktionen zu. ({1})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Präsidentin, aber daran merkt man, wie ernst es der AfD ist. Ich war bei dem Thema: Wie sieht die Lage aus? Gucken wir einmal auf die Liste, wie es in anderen Ländern aussieht. Beim Verlierer der Pandemie – das ist leider Estland – gibt es einen Inzidenzwert von über 700. Danach folgen andere Länder, größere Länder auch: Polen, Schweden, Frankreich – jetzt leider wieder über 300 –, die Niederlande, Österreich. Überall dort liegt der Wert höher als in Deutschland. Da muss man doch sagen: Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten hat uns das Virus weniger stark getroffen. Also, so viel können wir in Deutschland doch nicht falsch machen. ({0}) Dabei haben wir der Bevölkerung ja nicht so viel zugemutet wie andere Länder. Bei uns ist es nämlich nicht so, dass wir eine Ausgangssperre oder eine totale Kontaktsperre erlassen haben. All das sind Falschmeldungen von der AfD. Diese Einschränkungen gab es in Deutschland bisher nicht. Trotzdem – das muss man sagen – haben wir diese relativ guten Werte, weil die Bevölkerung sich an die Maßnahmen gehalten hat. Dafür ein großes Dankeschön auch von mir. ({1}) Dazu beigetragen, dass wir so gut durch die Pandemie kommen, hat aber auch unser Gesundheitssystem; denn die Intensivbettenkapazitäten sind bei uns höher als in anderen europäischen Ländern. Auch dass der Impfstoff in so einer kurzen Zeit entwickelt wurde, müssen wir einmal positiv zur Kenntnis nehmen. Im April bekommen wir größere Lieferungen an Impfstoff. Ich glaube, dann geht es auch weiter und wir können mehr Bürger schützen, als es bisher der Fall war. ({2}) Jetzt zu meinem Gebiet: Wirtschaft. Wir sind auch da vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Viele Unternehmen konnten ihrem Geschäft weiter nachgehen. Einen kleineren Teil mussten wir rausnehmen, weil sie viel mehr Begegnungen haben. Es gab da auch Gründe, warum wir sie aus dem Geschäft genommen haben. Trotzdem haben wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weiter durch diese Pandemie geholfen, zum Beispiel durch das Kurzarbeitergeld. Dadurch konnten wir den Arbeitsmarkt auch relativ stabil halten, sodass wir auch wieder hochfahren können, sobald wir die Krise etwas überwunden haben, sobald die Kurve abflacht. Ich will hier auch gar nicht sagen, dass alles toll gelaufen ist. Das wissen wir, glaube ich, alle selber. Es ist ein Lernprozess. Wir müssen da in Zukunft, weil das Virus uns noch begleitet, auch besser werden. Ich kann mir vorstellen, dass wir bei den Hilfen hätten schneller sein können, dass wir die Teststrategie hätten schneller auf den Weg bringen können und dass wir die Menschen auch kommunikativ hätten besser mitnehmen können. Ich möchte aber hier auch noch einmal sagen, was wir in der Zukunft leisten möchten. Ich glaube, nach einem Jahr können wir nicht sagen: Wir gehen jetzt so wie bisher weiter und gehen in kleinen Schritten voran. Vielmehr müssen wir eine Strategie haben, wie wir zukünftig aus dieser Krise rauskommen, wie wir zukünftig die Wirtschaft wieder in Betrieb nehmen können. Dafür brauchen wir nicht nur Tabellen, sondern genaue Parameter, die die Voraussetzungen für die Öffnung angeben. Dabei müssen wir die Branchen einbeziehen. Es liegen viele Konzepte auf dem Tisch: von der Hotellerie, von den Gaststätten, von den Veranstaltern, aber auch von der Reisebranche. Und da kann ich mir vorstellen: Mit einem EU-Impfpass können wir die Reisefreiheit gewährleisten. Dazu kommen jetzt weitere Modellprojekte in Kommunen und im gesamten Saarland, wie wir heute vernommen haben. Wir haben uns also nicht ausgeruht. Eine Menge ist in Planung, und wir müssen es jetzt richtig verknüpfen. Ich glaube, das bekommen wir mit etwas mehr Zuversicht hin. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Poschmann. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befinden uns immer noch inmitten einer Naturkatastrophe; die Coronapandemie ist eine solche. Mit dem Anstieg der Zahl der Neuinfektionen um 29 Prozent von letzter Woche auf diese Woche befinden wir uns in einem exponentiellen Wachstum, inmitten einer dritten Welle. 229 Tote waren gestern in Deutschland zu beklagen. Ich verstehe, dass viele Menschen ermüdet und erschöpft sind. Aber klar ist auch: Wir müssen der besorgniserregenden Entwicklung ins Auge sehen, dass es hier eine neue Art von Pandemie gibt, durch die Mutation B.1.1.7. 80 Prozent aller Infektionen entstammen dieser Mutation. Sie ist ansteckender und gefährlicher, vielleicht nicht immer unbedingt tödlicher; aber wir müssen übrigens auch dafür Sorge tragen, dass die Zahl der schweren Erkrankungen wie Long Covid zurückgeht. Deswegen sehen wir uns einer sehr herausfordernden Situation gegenüber. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Welle gebrochen wird. Das ist unser politisches Ansinnen. ({0}) Ein Instrument zur Messung des Wellenbrechens ist der R‑Wert. Er bildet ab, wie stark die Zahl der Infektionen zunimmt. Wie kann die Welle gebrochen werden? Durch Impfen und Testen und Kontaktbeschränkungen. Unser Ziel ist, dass die Senkung des R‑Werts durch Impfen, Testen und Kontaktbeschränkungen größer ist als die Steigerung des R‑Werts durch Mutationen. Das ist der Wettlauf, dem wir uns entgegensehen. Und das schaffen wir nur durch eine ganz gezielte Kraftanstrengung. Wir müssen mehr impfen. Es nützt jetzt nichts mehr, wenn wir über die Impfstoffbeschaffung der EU lamentieren. Wir müssen den Impfstoff, den es jetzt gibt, schneller verimpfen, auch die 3 Millionen Dosen, die auf Halde liegen, weil im April weitere 15 Millionen Dosen kommen. Deswegen müssen wir jetzt rund um die Uhr, 24/7, impfen, auch über Ostern. Das ist unsere Aufgabe, die wir jetzt haben. ({1}) Ich will aber auch anfügen, dass es ein Erfolg unserer Politik ist, dass 95 Prozent der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen mittlerweile eine Erstimpfung bekommen haben. Das zeigt, dass hier das Versprechen eingelöst worden ist, die besonders vulnerablen Gruppen zu impfen und zu schützen. Die Zahl an schweren Erkrankungen durch Covid in den Alten- und Pflegeheimen geht zurück. Das ist ein Erfolg der Politik. ({2}) Jetzt geht es darum, dass die 60 Millionen weiteren Dosen bis Ende Juni auf pragmatische Art zügig verimpft werden, und zwar auch durch Hausärzte und Betriebsärzte. Die Haus- und Betriebsärzte kennen ihre Patienten. Sie wissen, wie man impft. Das kann ein Gamechanger werden. Wir wissen aber auch, dass wir in einer Welt leben, die durchlässiger geworden ist, trotz Einreisebeschränkungen. Deswegen wird die Pandemie nur vorbei sein, wenn sie überall auf der Welt vorbei ist. Und in über 100 Staaten dieser Welt ist noch keine einzige Dosis verimpft worden. Deswegen brauchen wir auch nach wie vor große Anstrengungen, um weltweit die Impfstoffproduktion anzukurbeln, weil wir wissen: Nur wenn die Welt geimpft wird, haben wir eine Chance gegen Corona insgesamt. ({3}) Wichtig ist aber auch das Testen. Wir müssen mehr testen, und es muss mehr Möglichkeiten geben, durch Schnelltests Normalität zuzulassen. ({4}) Das wollen Selbstständige, das wollen Kunst- und Kultureinrichtungen; das lässt es auch zu, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, dass mehr Kommunen die Möglichkeit haben müssen, Modellkommunen zu werden. Zudem brauchen wir am Arbeitsplatz weiterhin eine starke Fokussierung auf Homeoffice und gleichzeitig mehr Testungen. Aber die Wahrheit ist auch: Das alleine wird im Augenblick aufgrund der Bedrohungen durch Mutationen nicht ausreichen. Wir brauchen für eine gewisse Zeit auch Kontaktbeschränkungen. Der Dreiklang aus Kontaktbeschränkungen, Impfen und Testen ist das, was wir den Menschen abverlangen müssen. Aber wir tun das, weil wir wissen, dass dadurch der Schutz der vulnerablen Gruppen zunimmt und das die einzige Möglichkeit ist, Corona zu bekämpfen. Hier wurde jetzt auch gesagt, die Maßnahmen in Deutschland seien unverhältnismäßig. Ich glaube, Bund und Länder machen sich sehr stark Gedanken über die Verhältnismäßigkeit. In vielen europäischen Staaten sind die Maßnahmen übrigens wesentlich strenger als hier. Bei aller Kritik, die berechtigt ist, auch an der MPK, darf man eines nicht vergessen – und das ist mein letzter Gedanke –: Man darf nicht vergessen, dass wir in Deutschland durch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, aber auch durch einen klaren Kurs und durch eine Konzentration auf den Schutz unseres Gesundheitssystems dafür Sorge getragen haben, dass wir bislang gut durch die Pandemie gekommen sind. Wir wollen es mit den Maßnahmen verbessern, die ich dargestellt habe. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Volker Ullrich. – Die nächste Rednerin: die Abgeordnete Heike Baehrens, SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von einer Fraktion, in der einzelne Abgeordnete bis vor Kurzem noch mit einer löchrigen Maske herumgelaufen sind und bis heute nicht die Regel dieses Hauses beherzigen, hier im Plenum eine Maske zu tragen, erwarten wir keine Lösung. ({0}) Das haben Sie heute mit Ihren menschenverachtenden Reden, die Sie gehalten haben, noch mal unterstrichen. ({1}) Sie wollen Alternativen zu einem Lockdown, haben aber noch nicht einmal die einfachsten Maßnahmen zum Infektionsschutz begriffen. Hygienemaßnahmen sind Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Pandemiebekämpfung. Reichen sie nicht aus, müssen wir unsere Kontakte reduzieren, um Infektionen zu stoppen. Das hat sich im vergangenen Jahr ein ums andere Mal gezeigt. Wenn momentan Länder wie Portugal wieder zu einer gewissen Öffnung zurückkehren können, dann deshalb, weil sie sich das durch einen harten Lockdown erarbeitet haben, einen wesentlich härteren, als wir ihn je gehabt haben. Auch Tübingen kann seinen Sonderweg nur fahren, weil vorher die Inzidenzen extrem reduziert werden konnten. Mitten in der ansteigenden dritten Welle Forderungen nach Abkehr vom Infektionsschutz zu stellen, ist aber völlig verfehlt. Nein, wir müssen das Virus, wir müssen Infektionen weiter konsequent stoppen, und das eben nicht nur bei uns. Wir müssen die globale Dimension dieser Krise erfassen. Das, worüber wir heute ausgiebig streiten, seien es Mallorca-Urlaube oder Ruhetage an Ostern, könnte uns bald als Bagatelle erscheinen, nämlich dann, wenn wir wieder hier stehen und uns mit neuen Mutationen konfrontiert sehen. Und diese Gefahr besteht, solange das Virus in anderen Teilen der Welt über einen langen Zeitraum hinweg ungehindert wüten kann. Schon jetzt hören wir besorgniserregende Berichte über Varianten, gegen die der Impfstoff nicht mehr ankommt. Und das Virus wird in anderen Weltregionen weiter wüten und weitere Mutationen hervorbringen, wenn wir nicht hier konsequent handeln und gleichzeitig für eine gerechte globale Impfstoffverteilung sorgen. ({2}) Es ist für viele von uns kaum auszuhalten, bis zum Sommer auf eine Impfung warten zu müssen. Ja, auch ich will, dass es schneller geht, und dafür wird in dieser Regierung auch viel gearbeitet. Aber es reicht nicht, wenn wir das Impfen nur bei uns in Deutschland beschleunigen. Es ist zwingend notwendig, in absehbarer Zeit eine Grundimmunität in allen Ländern herzustellen. Diese Perspektive ist aber im Moment noch 80 Prozent der Weltbevölkerung versagt. Es kann nicht sein, dass Millionen Impfdosen von AstraZeneca in den USA lagern und nicht für den Export freigegeben werden, obwohl dieser Impfstoff dort gar nicht zugelassen ist. ({3}) Es kann auch nicht sein, dass 29 Millionen Impfdosen in Italien auf Halde liegen und aus dubiosen Gründen nicht zum Retten von Menschenleben eingesetzt werden. Impfstoffe müssen tatsächlich zum öffentlichen, globalen Gut werden und der Willkür von Herstellerinteressen und den Partikularinteressen einzelner Staaten entzogen werden. Die Covax-Initiative ist deshalb ein wichtiger und richtiger Ansatz. Es ist gut, dass Deutschland bereits 1,5 Milliarden Euro dazu beigetragen hat, aber das reicht natürlich nicht, solange der Impfstoff noch knapp ist. Darum müssen wir zusätzlich mit allen Mitteln dafür sorgen, dass die internationalen Produktionskapazitäten ausgeweitet werden. Das – das will ich auch den Antragstellern von heute sagen – ist die einzig wirksame Alternative zum Lockdown. Nur so können wir uns vor Infektionen schützen und auch die Menschen in den ärmeren Ländern dieser Welt, die auf keine stabilen Gesundheitssysteme zurückgreifen können. Nur so kann das ungehinderte Mutieren des Virus gebremst werden. Nur so schützen wir uns davor, uns in wenigen Monaten fragen zu müssen, wie wir in so engen Grenzen denken konnten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Heike Baehrens. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner möchte ich einen Gedanken noch mal aufgreifen: Die Aktuelle Stunde – „Alternative Lösungen statt Lockdown“ überschrieben – wurde vielfach mit dem durchzogen, was wir bei den Bürgerinnen und Bürgern in vielen Gesprächen dieser Tage erleben. Wir diskutieren über Regeln und über Verordnungen. Wir fragen uns: Warum ist der offen und der geschlossen? Warum ist dies so und jenes anders? – Dafür habe ich Verständnis. Ich habe auch Verständnis dafür, dass diese Diskussionen leidenschaftlich, manchmal auch mit Frust, Wut und mit „Es soll doch mal zu Ende sein!“ und „Es reicht doch nun auch!“ an uns herangetragen werden. Wofür ich jedoch kein Verständnis habe, ist, dass Ursache und Wirkung manchmal verkehrt werden. Hierzu ein Beispiel aus einer Chatgruppe, den sogenannten virtuellen Stammtischen, an denen man mit seinem Handy teilnehmen kann. Kurz vor Silvester des letzten Jahres wurde ich durch sanftes Vibrieren meines Handys auf eine Diskussion aufmerksam. Einer meiner Kollegen fragte nach: „Sag mal, was ist die rechtssichere Definition des Begriffes ‚Ansammlung‘?“, womit er nichts anderes wissen wollte als: Was ist für ihn an Silvester möglich und zulässig? Daraufhin antwortete ein Jurist aus ebendieser Chatgruppe: Eine Ansammlung im Sinne von Artikel 25 usw. usf. – Er antwortete in juristischer Hinsicht mit großem Sachverstand, keine Frage. Ich habe mich normalerweise in solche Diskussionen nicht eingeschaltet. In diesem Fall tat ich es jedoch und wies darauf hin: Das Virus hat im Übrigen nicht Jura studiert, und es interessiert es ehrlicherweise einen feuchten Kehricht, was in Verordnungen und Ähnlichem drinsteht. Es hat nur eine Aufgabe, ein Ziel: leben und fortpflanzen. Dass es dabei Menschen schädigt, kaputtmacht oder in signifikanter Anzahl tötet, interessiert es schier nicht. Insofern entbinden Verordnungen und Derartiges nicht von selbstständigem Denken. ({0}) Denn wenn man das tut, kommt man sehr schnell zu der Erkenntnis: Das Virus braucht nur eins: zwei Menschen – in einem ist er drin, in den anderen will er rein –, er braucht einen geringen Abstand, er braucht ein bisschen Luftfeuchtigkeit, und eine niedrige Temperatur hilft auch; denn dann sind die Schleimhäute nicht so vital und fit. Auf diese Art und Weise kommt er von einem zum anderen. Insofern ist die wesentliche Methode, um dies zu verhindern: Kontakte reduzieren! Kontakte reduzieren, Kontakte reduzieren, Kontakte reduzieren! ({1}) Der Lockdown ist die Nebenwirkung der Hauptwirkung, die wir anstreben. Sie ist eine sehr unangenehme, für unsere Wirtschaft und für die Menschen teilweise sehr gefährdende, bis an den Rand des Erträglichen und teilweise darüber hinausgehende, fordernde Nebenwirkung. Aber wichtig ist an dieser Stelle: Die eigentliche Absicht ist, Kontakte zu reduzieren. Nur so können wir vermeiden, dass das Virus von dem einen in den anderen kommt. Punkt! ({2}) Bei der Reduzierung von Kontakten wird es manchmal auch schwierig. Meine Tochter befragte mich Ende letzten Jahres über den Sinn und Zweck einer Regel. Sie fragte: Warum darf ich vormittags meine Freundin in der Schule treffen, sie aber nachmittags nicht zum Spielen treffen? Das verstehe ich nicht. – Das konnte ich verstehen. Ich habe ihr gesagt: Ja, das ist richtig. Wenn die Übertragungswahrscheinlichkeit bei 100 Prozent läge, es also bei einem Kontakt hundertprozentig sicher wäre, dass das Virus von einem auf den anderen übertragen wird, dann hättest du völlig recht; aber glücklicherweise ist das nicht so. Daher steigert jeder Kontakt, auch mit derselben Person, die Gefahr, sich zu infizieren. Deswegen ist jeder nicht reduzierte Kontakt, auch mit derselben Person, etwas, das man verhindern muss. – Das hat sie verstanden. Dreimal dürfen Sie raten, ob sie deswegen begeistert war; das war sie nämlich nicht. Genauso kann man verstehen, dass die Menschen und die Wirtschaft von den Maßnahmen und deren Wirkung und Nebenwirkung nicht begeistert sind. Deswegen müssen wir an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es nur – von Volker Ullrich schon erwähnt – genau diese drei Punkte der Therapie gibt. Erstens: Kontakte reduzieren. Zweitens: Testen, um sicherzustellen, dass ein Mensch im aktuellen Moment nicht Überträger sein kann. Drittens: Impfen, sodass er schlussendlich auf Dauer kein Überträger sein kann. Wenn man mich als Wissenschaftler vor einem Dreivierteljahr gefragt hätte, ob wir in einem Dreivierteljahr über so viele Impfstoffe wie heute verfügen, hätte ich ehrlicherweise gesagt: Nein, niemals. – Das haben wir in der Wissenschaft in dieser Form, mit der Geschwindigkeit, noch nie erlebt. Das ist eine unglaubliche Leistung, die auch mit dem Geld des Deutschen Bundestages, zum Beispiel durch Förderung von BioNTech – es werden schon seit 20 Jahren entsprechende Unternehmen gefördert –, möglich geworden ist und zum Erfolg geführt hat. ({3}) Last, but not least möchte ich zusammenfassen: Die Suche nach Alternativen, wenn man eine unangenehme Diagnose und Therapie beim Arzt bekommt, ist normal. Ich komme aus der Medizin. Die Frage nach dem „Warum ich?“ und „Muss das denn wirklich alles sein, was Sie mir gerade erzählt haben?“ ist legitim; es ist legitim, zu fragen: Gibt es andere Möglichkeiten? – Aber in diesem Fall gibt es sie nicht, außer massenhaft Kontakte zu reduzieren, zu testen, testen, testen und am Ende in signifikanter Weise zu impfen. Das werden wir bis zum Ende des Sommers hinbekommen haben, und insofern ist der Weg an dieser Stelle konsequent weiter zu beschreiten. Herzlichen Dank. ({4})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Krise, diese Pandemie, schärft unser Bewusstsein dafür, wie wichtig, wie wertvoll Innovationen in unserem Gesundheitswesen sind. Investitionen in Innovationen sind eine Versicherung, eine Vorsorge für uns alle. Dabei geht es auch darum – das spüren wir in dieser Pandemie, manchmal auch schmerzhaft –, die Potenziale der Digitalisierung besser zu nutzen. Wir haben bereits vor der Pandemie in dieser Legislatur gemeinsam begonnen, bei der Digitalisierung einen sehr klaren Schwerpunkt auf die Gesundheitspolitik zu setzen: mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz, mit dem Start der elektronischen Patientenakte am 1. Januar dieses Jahres – nach 16 Jahren wurde endlich damit begonnen – oder mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz. Wir wollen jetzt mit diesem Gesetz, das wir erstmalig beraten, weitere Schritte gehen. Ich will kurz drei Bereiche nennen. Zum Ersten soll die Telemedizin weiter ausgebaut werden. Die Telemedizin, das Vernetztsein von zum Beispiel Maximalversorgern wie Unikliniken oder Schwerpunktversorgern mit den Kliniken in der Fläche, in der Region, sodass man sich direkt aufschalten kann, hat gerade in der Intensivmedizin bei Covid-19-Erkrankungen in dieser Pandemie geholfen. Deswegen bin ich sehr froh, dass es gelungen ist, für die nächsten Monate entsprechende Regelungen aufzusetzen, und das Gesetz soll das insgesamt weiter stärken. Es geht dabei zum Beispiel um Videosprechstunden. Ein Vergleich zeigt: Während es in 2019 nur wenige Tausend Videosprechstunden zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten in Deutschland gegeben hat, waren es allein im zweiten Quartal 2020 über eine Million. Das zeigt, dass in der Pandemie, wo es darum geht – wir haben es gerade vom Kollegen Albani und anderen gehört –, Kontakte zu reduzieren, viele Videosprechstunden genutzt haben. Viele der Patient-Arzt-Kontakte sind vor allem Kontakte, um Dinge abzuklären, um ein Stück Sicherheit zu bekommen – Dinge, bei denen es eben auch möglich ist, das per Videosprechstunde zu machen. Das ersetzt nicht in allen Fällen die Behandlung, aber es gibt eben Sicherheit für die Patientinnen und Patienten, und deswegen wollen wir den Anteil möglicher Videosprechstunden von 20 Prozent auf 30 Prozent anheben und sie auch für andere Versorgungsbereiche, wie den Bereich der Hebammen und auch den Heilmittelbereich, möglich machen. ({0}) Es geht hier auch um die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Dass das Sinn macht, haben wir in der Pandemie auch erlebt. Beides sind übrigens Beispiele für Digitalisierung, die im Alltag erlebbar wird. Es geht nicht um theoretische Debatten übers Digitalisieren und anderes mehr; es geht darum, das im Alltag erlebbar zu machen. Akzeptanz wird dann geschaffen, wenn es das Leben für alle Beteiligten leichter und besser macht. Zweiter großer, wichtiger Punkt sind die digitalen Pflegeanwendungen. Wir haben mit den digitalen Gesundheitsanwendungen – Stichwort „Apps auf Rezept“ – begonnen. Dabei geht es vor allem darum, die Kosten für Apps von den Krankenkassen erstattet zu bekommen, die einen Unterschied machen. Es geht nicht um Gimmick und auch nicht um den Schrittzähler alleine. Es geht zum Beispiel um digitale Anwendungen, Apps, in der Psychotherapie, die tatsächlich – auch nachgewiesenermaßen – einen Behandlungserfolg zeigen. Solche Apps wollen wir auch in der Pflege – etwa zur Unterstützung beim Training zur Sturzprävention und mit Gedächtnisspielen bei Demenz. Diese machen nachgewiesenermaßen tatsächlich einen Unterschied, sodass sie auch Bestandteil des Leistungskataloges werden und die Patienten eben einen Anspruch auf diese Unterstützung haben. Der dritte wichtige Bereich – neben anderen – in diesem Gesetzentwurf ist die elektronische Verordnung von Arzneimitteln, das E-Rezept. Es gibt kaum noch einen Bereich in Deutschland, in dem jeden Tag so viel Papier hin- und her- und weitergeschoben wird, wie im Bereich der Rezepte – zigmillionenfach jeden Tag, und das im Jahr 2021. ({1}) Deswegen setzen wir das E-Rezept gerade um, Herr Kollege – beginnend am 1. Juli 2021. Das steht schon im Gesetz, und wir entwickeln es weiter, nämlich auch in Richtung Rezepte für Betäubungsmittel, Heilmittel und Hilfsmittel, die digitalisiert werden. Diese Koalition hat das gemacht, was verschiedene Gesundheitsminister und durchaus auch Gesundheitspolitiker in den Vorjahren nicht umgesetzt haben. Wir haben aus einer theoretischen Debatte eine konkrete gemacht. Das E-Rezept kommt am 1. Juli. ({2}) Ja, diese Pandemie lehrt uns vieles – auch, wo wir stark sind im Gesundheitswesen. Und wir sind stark – mit einer Struktur, die robust und widerstandsfähig ist. Es gibt kaum ein Gesundheitssystem in einem Land vergleichbarer Größe und geografischer Lage, das in den letzten zwölf Monaten nicht überlastet war. Das deutsche war es nicht. Es war stark belastet, aber wir konnten zu jeder Zeit alle Patientinnen und Patienten behandeln und sogar noch Patienten aus den Nachbarländern aufnehmen. Das ist eine Stärke, die wir gesehen haben. Wir haben aber auch gesehen, wo wir besser werden müssen: bei der Fachkräfteversorgung, bei der Vorsorge, aber vor allem auch bei der Digitalisierung: das DIVI-Intensivregister, SORMAS, die Vernetzung der Gesundheitsämter. Auch diese Vernetzung ist übrigens historisch. Nach 70 Jahren Bundesrepublik setzen wir das Vernetzen der Gesundheitsämter gerade in diesen Wochen endlich final um, aber wir sorgen eben auch dauerhaft für die 20er-Jahre für mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen. Dem dient dieser Gesetzentwurf, und deswegen bitte ich um gute Beratungen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Der Nächste ist der Kollege Uwe Witt von der AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Digitalisierung im Gesundheitswesen ist ein dringliches Thema, dem wir Alternativen hier im Deutschen Bundestag prinzipiell positiv gegenüberstehen. Bereits im November 2019 habe ich hier im Plenum das Digitale-Versorgung-Gesetz, also den Vorgänger des DVPMG, kritisch beäugt und dem Hause Spahn handwerklichen Dilettantismus bescheinigt. Nun legt das Gesundheitsministerium hier einen Gesetzentwurf zur ersten Lesung vor, bei dem die Fehler, die ich damals schon kritisiert hatte, perpetuiert werden. Die Zeiten von Patientenpapierakten – und dann auch noch bei jedem Facharzt eine andere – sollten endgültig der Vergangenheit angehören; denn es muss immer die komplette Anamnese des Patienten vorliegen, um bestmöglich die Diagnose zu stellen. Ich sehe im hier vorliegenden Gesetzentwurf aber einige Punkte, bei denen ich denke: Ist das wirklich im Sinne der Patienten, also im Sinne unserer Bürger, oder schafft das Gesundheitsministerium wieder einmal einen Bürokratiemoloch, der nur dazu dient, sich selbst zu füttern? Die im Zuge der Telematikinfrastruktur eingeführte elektronische Gesundheitskarte soll zukünftig ausschließlich als Versicherungsnachweis dienen. Ursprüngliche Pläne, patientenbezogene Krankenakten darauf zu speichern, sind offensichtlich vom Tisch. Stattdessen wird eine zentrale Stelle zur Speicherung dieser elektronischen Patientenakte eingerichtet. Praxisgebundene medizinische Einrichtungen – egal ob Arzt, Krankenhaus oder Physiotherapeut – haben die Möglichkeit, sich Patientendaten über das Telematiknetz einzuholen. Wie sieht es aber draußen im Einsatz vor Ort aus? Stellen Sie sich vor: Sie sind bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Der Rettungsdienst kommt, aber niemand kann bei der Diagnose auf Ihre Daten samt Ihrer gegebenenfalls gravierenden Vorerkrankungen zugreifen, weil diese irgendwo statt auf Ihrer Karte gespeichert sind. Gesundheitsdaten online abzurufen, ist bei der derzeitigen Netzabdeckung in Deutschland ein Russisch-Roulette-Spiel. In Deutschland, dem Dritte-Welt-Land im Bereich der Digitalisierung, gibt es immer noch weiße Flecken auf der Karte der Mobilfunknetze, und die Rettungssanitäter sind technisch, wenn überhaupt, diesbezüglich nur mangelhaft ausgestattet. ({0}) Digitalisierung benötigt vor allem technische Infrastruktur. Auch wenn das Gesundheitsministerium jetzt rechtliche Voraussetzungen schaffen will, fehlt es in der Fläche nach wie vor an Breitbandanschlüssen, und den alten sowie mobilitätseingeschränkten Menschen, die man so auf dem Lande erreichen will, fehlt es in der Regel an einem Internetanschluss und einem PC, um die Videosprechstunden überhaupt nutzen zu können. ({1}) Das nächste Thema, das schon im DVG mangelhaft umgesetzt worden ist, ist das immer wiederkehrende leidige Thema Datenschutz. Gerade bei einer zentralen Datenspeicherung im Stile der Datenkrake Google muss gewährleistet werden, dass die Sicherheit so sensibler personenbezogener Gesundheitsdaten als höchstes Gut eingestuft wird. Herr Minister Spahn, die Verstrickung Ihrer Person und Ihrer Parteifreunde im Zusammenhang mit der Beschaffung von Masken und die sich bereits abzeichnenden Verstrickungen im Zusammenhang mit der Ausschreibung und Beschaffung von Schnelltests wirft kein gutes Licht auf Ihre Fraktion. Daher habe ich persönlich Angst, dass das Vertrauen der Bürger in unser politisches System bei einer neuerlichen Unregelmäßigkeit aus Ihren Kreisen – diesmal vielleicht sogar im Zusammenhang mit personenrelevanten Daten – endgültig verlorengeht. ({2}) Daher fordern wir Alternativen Sie auf, Ihrer Verantwortung endlich gerecht zu werden, Herr Minister Spahn. Danke schön. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte nicht gedacht, dass ich es tatsächlich noch mal erlebe, dass jemand einfordert, dass die elektronische Gesundheitskarte der Träger der kompletten persönlichen elektronischen Patientenakte sein soll. ({0}) „Rückwärtsgewandt“ habe ich bei rechts ja schon immer vermutet, aber derart rückwärtsgewandt hätte ich nun doch nicht erwartet. Ich glaube, beim nächsten Mal wird wahrscheinlich die Forderung erhoben, dass jeder seine persönliche Patientenakte ausgedruckt und für die Rettungssanitäter im Wagen verfügbar mitführt. Das ist dann sozusagen die Steigerung dieses völlig unsinnigen Vorschlags. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz sicher kann man festhalten, dass der Schwerpunkt bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens in dieser Legislaturperiode bei der Digitalisierung lag und liegt. Es ist das dritte Gesetz. Der direkte Vorgänger war übrigens gar nicht das DVG, wenn mich nicht alles täuscht, oder das PDSG; aber das ist auch nicht ganz so schlimm. Es ist das dritte Gesetz, das wir jetzt hier vorgelegt bekommen und das heute zur Beratung eingebracht wird, und es ist völlig richtig und gut, dass genau das passiert. Wir werden mit diesem Gesetz die Digitalisierung nach vorne bringen. Nahezu jedes Gesetz, das aus dem Gesundheitsministerium kam – übrigens auch nahezu jede Verordnung, die mit Corona zusammenhing –, hatte auch irgendetwas mit Digitalisierung zu tun. Das zeigt, wie wichtig die Weiterentwicklung der Digitalisierung ist. Wir brauchen das für die Menschen, für die Sicherheit und auch, um durch gut diese Krise zu kommen. Und wenn wir einiges von dem, was wir auch jetzt wieder machen, schon hätten – auch wenn das mit dem „Hätte, hätte“ immer so eine Sache ist –, dann würde es uns noch besser gelingen, durch die Krise zu kommen. ({2}) Um das noch einmal deutlich festzuhalten: Gesundheit und Pflege werden weiterhin zwingend und unverzichtbar mit dem menschlichen Kontakt zusammenhängen. Natürlich wird die Digitalisierung nicht das Gespräch Arzt/Ärztin und Patient/Patientin ersetzen können. Es wird auch in der Pflege eine Pflege-App nie menschliche Zuwendung ersetzen können, überhaupt keine Frage. Aber Digitalisierung kann unterstützen, kann helfen, kann Kommunikation erleichtern, kann Behandlungsprozesse voranbringen, kann Sicherheit schaffen, wenn wir an Arzneimittelversorgung und ähnliche Dinge denken. Und genau da setzen wir an und setzen richtig an. Mit der Telemedizin können wir auch Entfernungen überbrücken und den Menschen vernünftige Möglichkeiten geben, in anderer Form mit ihren Ärztinnen/Ärzten in Verbindung zu kommen. ({3}) Ganz wichtig ist, dass das in Zukunft auch für andere Berufsgruppen gelingen wird. Ich finde sehr wichtig und gut, dass die Videosprechstunde jetzt auch für Hebammen und auch für Heil- und Hilfsmittelerbringer geöffnet wird; das ist ein wichtiger Schritt, den wir gehen und den wir auch in Zukunft weiter gehen müssen. Um das an dieser Stelle auch noch einmal deutlich zu sagen: Wir haben in diesem Jahr bereits den Anspruch auf die elektronische Patientenakte. Natürlich ist es sinnvoll, wenn wir diesem Anspruch noch viel mehr Möglichkeiten folgen lassen, wie man diesem Anspruch sozusagen nicht nur nachkommen kann, sondern auch Nutzen daraus ziehen kann. Da ist es richtig, dass wir etwa sicherstellen, dass in Zukunft aus den DiGAs, also aus den Anwendungen, die man hat, auch etwas eingespeist werden kann in die elektronische Patientenakte. Wir können an der Stelle sicherlich noch viel Nützliches finden und vorangehen. Um es ganz praktisch zu machen – denn die Frage „Was habe ich eigentlich selbst von dem, was da im Gesetz steht?“ ist ja mehr als berechtigt –: Wir sorgen dafür, dass nicht nur das Rezept für Medikamente, sondern auch weitere Rezepte in Zukunft digital über die Bühne gehen. Das ist gerade bei der Pflege – ich habe selbst sehr viel mit Pflege zu tun gehabt in meinem vorherigen beruflichen Leben – sehr wichtig: Es erspart Wege, es beschleunigt, es hilft Angehörigen, es hilft den Pflegediensten, und – das ist ganz wichtig – es hilft natürlich dem zu Pflegenden selbst. ({4}) Wir schaffen nach den DiGAs auch einen vernünftigen Einsatz von Digitalisierung in der Pflege, zur Unterstützung in der Pflege. Zu den Pflege-Apps wird meine Kollegin mehr sagen; insofern ist es hilfreich, dass der Präsident mich schon darauf hinweist, dass ich mit meiner Redezeit am Ende bin. Ich freue mich über dieses Gesetz, freue mich über die weiteren Beratungen und bin mir sicher, wir werden zu einer weiteren guten Stärkung der Digitalisierung kommen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Dirk Heidenblut. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wie gut, dass nach langer Zeit des digitalen Stillstands jetzt ein Digitalisierungsgesetz eingebracht wird. ({0}) Denn die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein wichtiger, ein elementarer und längst überfälliger Schritt. Für ein Digitalministerium waren und sind Sie ja leider nicht zu haben. Dabei wäre das gerade in Pandemiezeiten wichtiger denn je, meine Damen und Herren. ({1}) Wir finden es gut, dass jetzt die Vermittlung von Vor-Ort-Arztterminen um die telemedizinischen Leistungen erweitert wird. Auch die Weiterentwicklung der elektronischen Verordnungen und des E-Rezeptes finden wir gut. Ebenso sind digitale Gesundheitsanwendungen für die Gesundheitsversorgung ein wichtiger Baustein. Die Digitalisierung soll ja auch zu einer Entlastung in den Praxen führen, meine Damen und Herren. Daher ist es wichtig, die Ärztinnen und Ärzte von der gesetzlichen Datenschutzfolgeabschätzung und damit von Bürokratie zu entlasten. Gut, dass Sie da auf die Betroffenen gehört haben, meine Damen und Herren. ({2}) Ebenso ist es wichtig, dass neue digitale Anwendungen in der Pflege ermöglicht werden. Wir müssen alles tun, um den Pflegekräften den Alltag durch die Digitalisierung zu erleichtern. Allerdings kann dieses Gesetz nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens immer noch weit hinterherhinken. Die Coronapandemie hat uns doch schmerzlich vor Augen geführt, dass wir bei der Übermittlung von Daten einfach schneller werden müssen. Dass die Daten des Robert-Koch-Instituts nach über einem Jahr immer noch montags unvollständig sind, das ist einfach nur peinlich, meine Damen und Herren! ({3}) Industrie und Selbstverwaltung sind da schon viel weiter. BioNTech/Pfizer arbeitet mit einer eigenen Software zur Erfassung der Impfstoffverfügbarkeit und deren Verteilung. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat ein Onlinetool entwickelt, mit dem Ärzte ihre Impfdaten an das RKI melden können. – Und Sie haben vor drei Wochen unseren Antrag, der genau solche Tools zum Inhalt hatte, belächelt. Das können wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren. ({4}) Aber nach Ihrer Meinung läuft es ja beim Impfen optimal. Dumm nur, dass Sie mit dieser Meinung alleine dastehen. 9 Prozent Erstimpfungen und 4 Prozent Zweitimpfungen sind nach unserer Meinung ein Armutszeugnis. Schauen wir uns einmal Israel an; die haben eine Quote von 70 Prozent. Ja, meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten sind für innovative, digitale Lösungen. Aber Digitalisierung darf nie zulasten des Datenschutzes gehen. Gesundheitsdaten gehören den Bürgerinnen und Bürgern; sie entscheiden, wem sie diese Daten zur Verfügung stellen. ({5}) Und noch etwas entscheiden die Menschen selbst: Ob Telemedizin oder persönlicher Kontakt, diese Entscheidung können Arzt und Patient nur gemeinsam treffen. ({6}) Bitte gestatten Sie mir noch einen letzten Satz zum Nationalen Gesundheitsportal.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sehr kurz, bitte.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, eine Verdrängung von seriösen privaten Gesundheitsportalen, eine Reduzierung der Medien- und Meinungsvielfalt und eine Verletzung der Pressefreiheit, das ist mit uns nicht zu machen. Wir werden Sie da sehr genau im Auge behalten. Ganz herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Abgeordnete Harald Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist jetzt das dritte Digitalisierungsgesetz des selbsternannten Digitalisierungsministers in dieser Wahlperiode. Es sind sicher gute Ansätze drin, zum Beispiel die Ausweitung der Telemedizin – es ist bereits darauf hingewiesen worden – oder die digital unterstützte Pflegeberatung. Für meine Fraktion, Die Linke, gilt dabei der Grundsatz: Wir begrüßen solche Anwendungen, wenn sie Hilfestellungen leisten und die Versorgung unterstützen. ({0}) Wir lehnen jedoch jede Nutzung strikt ab, die zu einem weiteren Rückbau der Versorgung in der Fläche führen würde. ({1}) Unterstützung durch digitale Anwendungen, ja – Ersetzung von Versorgungsstrukturen durch digitale Anwendungen, nein. ({2}) Im Rahmen meiner drei Minuten möchte ich zwei Problemfelder herausgreifen. Die digitalen Gesundheitsanwendungen sollen ja ausgeweitet werden und durch digitale Pflegeanwendungen ergänzt werden. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass es für beide unterschiedliche Formen der Vergütung geben soll. Bei den digitalen Pflegeanwendungen sollen innerhalb von drei Monaten nach Aufnahme in das Verzeichnis die Preise mit den Kassen verhandelt werden. Bei den digitalen Gesundheitsanwendungen hingegen gelten im gesamten ersten Jahr die Preise, die der Hersteller festgelegt hat – ein Eldorado für Hersteller von Gesundheits-Apps. Gezahlt werden soll das in beiden Fällen von der Versichertengemeinschaft, also den Beiträgen gesetzlich Versicherter. Diese unterschiedliche Vergütungsregelung leuchtet uns nicht ein. Aus unserer Sicht sollte die Vergütung der digitalen Gesundheitsanwendungen analog der Vergütung der digitalen Pflegeanwendungen erfolgen; dann wird ein Schuh daraus. ({3}) Ein weiteres Problem stellt die Entwicklung und Finanzierung der gematik GmbH – vormals Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH – dar. Ich kann aus Zeitgründen die gesamte Geschichte nicht nachzeichnen. Daher nur stichwortartig: Ursprünglich war die gematik eine Gesellschaft der gemeinsamen Selbstverwaltung; Gesellschafter waren die Kassen – die das Ganze im Übrigen auch finanzieren – und die Organisationen der Leistungserbringer: Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker und Zahnärzte. Es wird gerne erzählt, dass diese Struktur zu Blockaden bei der Digitalisierung geführt habe, und deshalb gehe da nichts voran. Ob das so zutrifft, darüber kann man wohlfeil streiten. Dabei ist auch relativ viel Mythenbildung. Minister Spahn, der sich immer dann als Fan der Selbstverwaltung outet, wenn die tut, was er will, hat dann mittels Gesetz die gematik quasi verstaatlicht. Denn nun liegen 51 Prozent der Gesellschafteranteile beim Bundesministerium für Gesundheit, ({4}) und ein neuer Geschäftsführer mit einem üppigen Gehalt wurde eingestellt. Im Ergebnis ist die gemeinsame Selbstverwaltung dort quasi entmachtet worden und eher zum Bittsteller degradiert worden. Zahlen sollen die Kassen aber weiterhin, und zwar mit diesem Gesetz noch einmal 50 Prozent mehr als vorher, nämlich von 1 Euro pro Mitglied der gesetzlichen Kassen auf 1,50 Euro pro Mitglied der gesetzlichen Kassen. Damit könnten dann, wenn das denn so kommt, das Bundesministerium für Gesundheit und der neue Geschäftsführer über ein Jahresbudget von 85 Millionen Euro frei verfügen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen weist in seiner Stellungnahme zu Recht darauf hin, dass das Aufgabenfeld dieser neuen gematik immer weiter ausgeweitet wird, weit über die ursprünglichen Regulierungs- und Steuerungsfunktionen hinaus, und so weit aufgewertet wird, dass die gematik inzwischen originär unternehmerisch tätig ist und in den Kernbereich der gemeinsamen Selbstverwaltung eingreift. Die Selbstverwaltung ist aber ein tragendes Grundprinzip unseres Gesundheitssystems. Von den hier skizzierten Entwicklungen geht eine große Gefahr für die Selbstverwaltung aus. Sie läuft auf eine grundlegende Änderung des bisherigen Ordnungsrahmens innerhalb unseres Gesundheitswesens hinaus. Daher ist es absolut angezeigt, dass wir dieses Gesetzgebungsverfahren auch dazu nutzen, darüber zu diskutieren, wie wir dem begegnen können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich möchte einen Hinweis an die Geschäftsführer geben: Es wäre gut, wenn einer der Abgeordneten seine Rede, die er am Abend halten wollte, zu Protokoll geben würde. Denn der Sitzungsschluss liegt momentan bei kurz vor 4 Uhr morgen früh. Also halten Sie ihn nicht davon ab, falls er etwas zu Protokoll geben will. Die nächste Rednerin: die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Mit diesem dritten Gesetz zur Digitalisierung im Gesundheitswesen werden durchaus richtige Schritte unternommen. Es wurde eben schon gesagt: der Ausbau der Telemedizin – ein ganz, ganz wichtiger Faktor –, die Entwicklung von digitalen Pflegeanwendungen – ein wichtiger Schritt, der nach vorne führen und die Pflege unterstützen kann. Aber wir müssen sagen: Dieses Gesetz hat genau den gleichen Webfehler wie seine Vorgänger. Immer wieder fehlt die Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Es muss vorher festgelegt werden: Welche Ziele wollen wir erreichen? Auf welchen Wegen tun wir das? Was sind die Grundprinzipien? Genau das fehlt, genauso wie die Beteiligung aller Akteure und vor allen Dingen die der Patientinnen und Patienten. ({0}) Das führt dazu, dass wir wieder ein großes Gesetz mit zahlreichen Fristen bekommen. Ich habe gezählt: Es gibt mindestens 40 Regelungen, bei denen wieder irgendwelche Funktionen mit Fristen versehen werden, damit sie zum Tragen kommen, weitere 17 Aufträge an die gematik. Aber am Ende wird damit das Gleiche passieren, was mit den vorherigen Gesetzen passiert ist. Ja, die ePA steht im Gesetz, ist auch laut Gesetz seit Anfang des Jahres zugänglich. Aber im realen Leben ist sie nur für wenige Menschen zugänglich, weil es schon an der Hürde scheitert, sich gegenüber der Krankenkasse überhaupt als derjenige auszuweisen, der – ich habe dieses Verfahren gemacht; ich weiß, wovon ich spreche – Anspruch auf Einsicht in die ePA hat. Wir sehen: Diese Möglichkeit nutzen gerade mal 115 000 Menschen. Das zeigt: Um Digitalisierung im Alltag wirklich erlebbar zu machen, braucht es vorweg einen Plan, ({1}) braucht es ganz klare Schritte, die definiert worden sind und die man erreichen will. Vor allen Dingen braucht es die Orientierung am tatsächlichen Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Das muss es sein. ({2}) Genau darauf werden chronisch Kranke bis mindestens 2026 warten müssen, bis nämlich ihr Heilmittelerbringer an diese Telematikinfrastruktur angeschlossen ist – ganz zu schweigen von der häuslichen Krankenpflege, von der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege, von den Hospizdiensten, die in diesem umfangreichen Gesetz alle vergessen worden sind. Das zeigt, wie wichtig es eigentlich wäre, das Vorgehen zu verändern: weg von Fristsetzungen, die hintereinander aufgeführt werden, ohne dass sie in der tatsächlichen Versorgung ankommen, hin zu einer ganz konkreten Beteiligung aller Akteure, einer klaren Strategie und klar formulierten Schritten, wann was tatsächlich für die Versorgung zur Verfügung steht. Da muss es langgehen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Tino Sorge. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DVG, PDSG, DVPMG: Akronyme, die immer kryptischer, immer länger werden. Aber sie haben eins gemeinsam: Sie setzen den Weg, den wir als Regierungsfraktion im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen begonnen haben, konsequent fort; und das ist gut so. Weil wir hier darüber sprechen, was das für einen individuellen Mehrwert für den Einzelnen im Gesundheitswesen hat, ist es, glaube ich, auch ganz, ganz wichtig, noch mal, wie es der Bundesgesundheitsminister ja getan hat, darauf hinzuweisen, was das für jeden Einzelnen von uns an Mehrwert bedeutet. Wir haben bisher über Digitalisierung immer relativ abstrakt gesprochen. Wir haben gesagt: Wir müssen mit Digitalisierung im Gesundheitswesen schneller werden. – Das stimmt. Wir müssen besser werden; das stimmt auch. Aber unser typisch deutsches Problem war und ist doch immer, dass wir lange planen, lange strukturieren, lange unsere Gedanken sortieren, bevor wir endlich mal anfangen, sodass bisher weniger passiert ist, als hätte passieren müssen. Wir haben das an der elektronischen Gesundheitskarte gesehen. Der Kollege von der AfD hängt ja immer noch dem Glauben an, dass die Daten auf dieser Karte gespeichert werden. Also: „Herzlich willkommen im Leben!“, kann man da nur sagen. Cloud-Lösungen und solche Dinge sind wahrscheinlich an Ihnen vorbeigegangen. Es geht vielmehr darum, dass wir diesen Weg jetzt Schritt für Schritt weiter verfolgen und sagen: Mit dem DVPMG schließen wir auch die Pflege an dieses System an. Dabei geht es darum, dass wir die digitalen Pflegeanwendungen für jeden Einzelnen auch erlebbar machen, erlebbar im Sinne eines individuellen Mehrwerts. Wenn die Coronakrise etwas Gutes hat – meine Oma sagt immer: es gibt nichts Schlechtes, was nicht auch was Gutes hat –, ({0}) dann das, dass wir im Bereich der Digitalisierung gerade durch die Coronapandemie gesehen haben, was wir da an Möglichkeiten haben. Bei den digitalen Pflegeanwendungen geht es nicht um abstrakte Dinge. Dabei geht es um ganz konkrete Anwendungen. Da geht es um Apps, mit denen man beispielsweise Sturzprävention für Senioren betreiben kann. Da geht es darum, dass man demenziell Erkrankte über Gedächtnistraining per App im Idealfall fitter machen kann. Da geht es darum, dass Menschen nach einem Schlaganfall auch durch Sprachtraining per App ihre Sprache wieder erlernen können. Und da geht es darum, dass Assistenzsysteme, gerade im Bereich der häuslichen Pflege, möglich sind und auf den Weg gebracht werden. Deshalb glaube ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das kein Entweder-oder, sondern es ist ein Sowohl-als-auch. Es geht darum, dass man dadurch zusätzliche Angebote schafft; Angebote insbesondere auch im ländlichen Raum, wo es darum geht, über Videosprechstunden, über telemedizinische, über telekonsiliarärztliche Angebote das Leben zu vereinfachen. Es geht eben darum, gerade in Pandemiezeiten Kontakte dadurch zu verringern, dass man sich nicht in ein vollbesetztes Wartezimmer setzen muss und sich dort vielleicht noch infiziert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt gilt natürlich auch bei diesem Gesetz, nämlich das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz geht so aus dem Bundestag raus, wie es reingekommen ist. – Natürlich werden wir das Gesetz mit dem entsprechen Feinschliff versehen. Da geht es darum, dass wir auch noch mal darüber sprechen müssen, ob die Deckelung im Bereich der Videosprechstunde auf 30 Prozent sinnvoll ist oder ob wir da vielleicht auch noch mal ein bisschen variabler agieren. Da geht es aber auch darum, dass wir gerade beim Thema Datennutzung/Datenfreigabe viel, viel mehr ermöglichen, als das bisher der Fall war. Wir haben in der Pandemie gesehen: Daten retten Leben. Dabei geht es dann darum, dass jeder einzelne Patient darüber entscheiden können muss, ob er beispielsweise im Rahmen der ePA Forschungsdaten anonymisiert und pseudonymisiert zur Verfügung stellt, damit es im Bereich der Medizintechnik, damit es im Bereich der Arzneimittelforschung, damit es in der Frage von Impfstoffherstellung und von besseren Therapieoptionen auch für private Unternehmen die Möglichkeit gibt – immer mit dem Einverständnis des Patienten –, eine neue Therapie zu entwickeln. Ich glaube, da sollten wir uns auch noch mal darüber unterhalten, dass wir nicht diejenigen außen vor lassen, die die Innovation mit generieren, sondern da „Daten retten Leben“ tatsächlich nutzbar machen. In diesem Sinne, glaube ich, können wir auch in vielen anderen Bereichen über digitale Möglichkeiten, beispielsweise über die Kontaktnachverfolgung, unser Leben wieder stärker normalisieren. Ich finde es gut, dass Smudo beispielsweise darauf hinweist, dass man mit Kontaktverfolgungs-Apps – ob das jetzt Luca, PassGo oder andere sind – unser Leben normalisieren kann.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, da sollten wir als Politiker vorangehen und uns nicht von Musikern überzeugen lassen, dass Digitalisierung wichtig ist. – Damit ende ich. Ich freue mich auf die Beratungen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die letzte Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Pandemiezeit hat noch einmal deutlich vor Augen geführt, welche Chancen und Potenziale darin liegen, technische und digitale Innovationen im Gesundheitswesen nutzbar zu machen. Dieses Gesetz liefert einen weiteren Baustein auch für die digitale Pflegearchitektur. Digitalisierung kann das Pflegepersonal von bürokratischem Aufwand entlasten – das wissen wir schon –, damit Pflegekräfte eben mehr Zeit für ihre eigentlichen Kernaufgaben gewinnen. Dass Pflegeberatung nun auch digital ermöglicht wird, ist längst überfällig, und ich denke, ein echter Gewinn auch über Pandemiezeiten hinaus, zum Beispiel für Pflegebedürftige, die im ländlichen Raum leben, oder vor allem auch für Angehörige, die nicht in derselben Stadt oder Gemeinde leben und digital an einem Beratungsgespräch oder eben auch bei der MDK-Begutachtung mitwirken können. Wir schaffen nun die Grundvoraussetzungen dafür, solche Potenziale für die Pflege zu heben. Damit digitale Pflegeanwendungen entwickelt, geprüft und genutzt werden können, schaffen wir einen entsprechenden Leistungsanspruch in der Pflegeversicherung. Und auch das ist eine wichtige Grundlage, damit nicht nur diejenigen, die es sich privat leisten können, sondern alle Pflegebedürftigen die Chance bekommen, digitale Anwendungen auch wirklich nutzen zu können. ({0}) Das Spektrum möglicher digitaler Anwendungen ist unglaublich breit; das haben wir eben schon gemerkt. Wenn zum Beispiel ein Pflegebedürftiger, der noch zu Hause lebt, mithilfe einer App Übungen zur Sturzprävention macht, dann ist das ein Gewinn für seine persönliche Lebensqualität und unterstützt das Ziel moderner Pflege, nämlich Fähigkeiten zu erhalten oder eben wiederzugewinnen, um ein möglichst selbstständiges Leben führen zu können. Um solche Potenziale wirklich nutzen zu können, müssen wir aber diejenigen mitnehmen, um die es geht: die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen, aber vor allem die professionell Pflegenden. Der Deutsche Pflegerat fordert zu Recht, Pflege als Gestalterin des digitalen Wandels mit einzubeziehen; denn so können auf der einen Seite Vorbehalte gegenüber der Digitalisierung abgebaut, aber vor allem wertvolle Praxiserfahrungen von Anfang an einbezogen werden. Nur dann, wenn die Pflegefachkräfte direkt beteiligt werden, werden am Ende praxistaugliche Lösungen herauskommen. Dafür werden wir uns im weiteren parlamentarischen Verfahren einsetzen. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen zu diesem Gesetz und auf eine weitere Stärkung der Pflege. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. – Der Kollege Erich Irlstorfer gibt seine Rede zu Protokoll ({0}) – das ist auf jeden Fall einen Beifall wert –, sodass ich jetzt die Aussprache zu TOP 12 schließen kann.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschlands Staatsanwälte ermitteln gegen mittlerweile neun Abgeordnete der CDU/CSU, und täglich können es mehr werden. Der Vorwurf: Korruption, Bestechung, Bestechlichkeit. Fünf Abgeordnete mussten bereits ihr Mandat abgeben oder die Fraktion verlassen. Wie konnte die Partei Konrad Adenauers so tief sinken? ({0}) Uns überrascht das nicht. Den moralischen Absturz dieser Partei beobachten wir seit Jahren. Und er ist geradezu atemberaubend, meine Damen und Herren; denn zu viele Unionsleute machen Geschäfte, sogar mit dem Leid, sogar in dieser historischen Krise. Zehntausende sterben, Millionen haben Angst, ganze Wirtschaftsbranchen sind ruiniert, die Menschen vereinsamt, eingesperrt in ihre Wohnungen – für die große Mehrheit eine Katastrophe, für Unionspolitiker ein Riesengeschäft, noch dazu eingefädelt von der eigenen Regierung. Denn die zwingt ja jeden Deutschen, Maske zu tragen, und dann zweigen Unionspolitiker für jede Maske Geld ab in ihre eigenen privaten Taschen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die Menschen haben Ihnen vertraut, gerade in dieser Krise. Sie sind Ihnen gefolgt. Dieses Vertrauen haben Ihre Leute ausgenutzt. Das ist so perfide, meine Damen und Herren! ({1}) Die Staatsanwälte ermitteln wegen Bestechung in Millionenhöhe. Bei Nikolas Löbel geht es um eine Viertelmillion, bei Georg Nüßlein, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Union im Bundestag, um mehr als eine Dreiviertelmillion Euro, netto. So viel verdienen normale Arbeiter im ganzen Leben nicht. Aber am schlimmsten treibt es die Union dort, wo sie am stärksten ist: in Bayern bei Markus Söder. Da ließ sich wohl mit Alfred Sauter sogar der Ex-Justizminister bestechen, mit 1,2 Millionen Euro, so der Staatsanwalt. ({2}) Wenn sich sogar Justizminister bestechen lassen, die doch eigentlich die obersten Schützer des Rechts sind, wer ist dann eigentlich nicht käuflich in der Union, meine Damen und Herren? ({3}) Denn es ist ja noch schlimmer. Weitere Unionspolitiker ließen sich von ausländischen Mächten schmieren, so die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, ({4}) von hochkorrupten Gewaltregimen und Oligarchen aus Aserbaidschan und vom Balkan. ({5}) Die Lage ist jetzt so schlimm, dass der Vorstand der Unionsfraktion jedem seiner Abgeordneten misstraut. Er verlangt von jedem eine Ehrenerklärung. Warum wohl? Weil er seine Leute kennt und weiß: Denen ist alles zuzutrauen, meine Damen und Herren! ({6}) Diese Ehrenerklärung haben übrigens alle unterschrieben, auch diejenigen, die wenige Tage später zurücktreten mussten. Das zeigt, was eine Ehrenerklärung wert ist bei Leuten, die schon lange keine Ehre mehr haben, meine Damen und Herren. ({7}) Einem solchen Ausmaß an Korruption kommt man nicht mit verlogenen Erklärungen bei; da helfen nur Strafe, Gefängnis und das scharfe Schwert des Rechts. Aber da liegt das nächste Problem: Das bisherige Gesetz greift nicht. Es ist zu schwammig. Es ist so formuliert, dass Abgeordnete kaum verurteilt werden können. Die Richter müssen im Moment nicht nur nachweisen, dass die Abgeordneten von bestimmten Leuten Geld, Schmiergeld, genommen haben ({8}) und dass sie diesen Leuten dann Vorteile verschafft und staatliche Aufträge zugeschanzt haben; das reicht nicht. Ein Gericht muss auch noch nachweisen, dass es vom Geldgeber einen konkreten, am besten noch schriftlichen Auftrag gab, etwa eine Mail oder einen Brief, der die konkreten Korruptionsziele auflistet, also am besten noch eine Art Schmiergeldvertrag mit Verwendungszweck und Quittung. Das ist so weltfremd, meine Damen und Herren. Diese Schlupflöcher müssen weg. Wir müssen das Gesetz schärfen. Und wenn es geschärft ist, dann brauchen wir auch gleich noch härtere Strafen. Korrupte Politiker ab ins Gefängnis, bis zu zehn Jahre – so unser Antrag, meine Damen und Herren. ({9}) Das sehen nicht nur wir so. Schon als dieses Gesetz 2014 beschlossen wurde, schüttelten die Sachverständigen den Kopf; das können Sie in den Bundestagsprotokollen nachlesen. Trotzdem peitschte die Union dieses Gesetz samt Hintertürchen durch den Bundestag. Denn das ist es, was bleibt von der Christdemokratie nach Merkel: kein politisches Ziel, keine konservative Überzeugung, kein Idealismus, dafür herzlose Geschäftemacherei. – Wie hatte die CDU vor vier Jahren auf ihren Wahlplakaten getextet? „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Jetzt wissen wir alle, wer mit diesem „wir“ gemeint war, meine Damen und Herren. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, wenn Sie sich bitte ankleiden, die Maske. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer Mandatsträger ist, der sollte das als Ehre verstehen, der ist seinem Gewissen unterworfen, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und darf sich in keiner Weise von äußeren Einflüssen bei seiner Mandatsausübung leiten lassen, schon gar nicht für das Angebot von Vorteilen oder Ähnliches. Wer diesen ehernen Grundsatz nicht verstanden hat, der handelt schäbig, der handelt feige und der gehört, weil er letztlich sich, seine Mitstreiter und das ganze Parlament beschädigt, bestraft, und zwar hart. Daran besteht gar kein Zweifel. ({0}) Jetzt muss man an dieser Stelle mit der Unschuldsvermutung besonders vorsichtig sein. Aber, ja, in der Tat gab es ehemalige Kollegen unserer Fraktion, die sich an diesen unmissverständlichen Grundsatz nicht gehalten haben. ({1}) Das schmerzt niemanden so sehr wie uns. Aber ich bin unserer Fraktionsführung außerordentlich dankbar dafür, wie sie reagiert hat. Denn sie hat sofort ein klares Signal gesetzt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, damit umzugehen: volle Offenheit, volle Transparenz und volle Aufklärung. – Sie haben nicht nur von uns diese Erklärungen verlangt, sondern sie haben direkt eine Transparenzoffensive, einen Zehn-Punkte-Plan beschlossen, um genau dagegen vorzugehen, damit man die schwarzen Schafe in Zukunft noch besser erwischt. Ich will hier nicht über alles im Einzelnen reden. Lassen Sie mich nur ein paar Beispiele herausgreifen. Wir wollen ein gesetzliches Verbot der bezahlten Interessenvertretung. Wir wollen ein Verbot des Missbrauchs des Mandatstitels. „MdB“ ist eine Ehre und kein Werbebanner; wer das nicht versteht, der muss auch verstehen, dass wir das nicht akzeptieren. Wir wollen ein vollständiges Verbot der Geldspenden an Abgeordnete, und wir wollen über die Transparenzregeln und gesetzlichen Regeln, die wir vereinbaren wollen, hinaus einen verbindlichen Verhaltenskodex für alle Abgeordneten unserer Fraktion fassen, damit jeder, der Mitglied der CDU/CSU-Fraktion werden will oder es bleiben möchte, weiß, was wir von ihm erwarten und dass wir es nicht akzeptieren, wenn er sich nicht daran hält. Meine Damen und Herren, ich bin nicht stolz auf das, was passiert ist, aber ich bin stolz darauf, wie unsere Fraktionsführung reagiert hat, und dafür sage ich ein herzliches Dankeschön. ({2}) Ja, wir haben auch beschlossen, dass wir den Tatbestand der Abgeordnetenbestechung überarbeiten müssen. Beispielsweise wollen auch wir zwingend eine Hochstufung zum Verbrechenstatbestand. Aber lassen Sie uns gemeinsam den gesamten Paragrafen anschauen und gemeinsam diskutieren, was richtig ist. ({3}) Ich halte die Hochstufung zum Verbrechenstatbestand für absolut zwangsläufig, meine Damen und Herren. Und damit kein Missverständnis entsteht: Bundestagsabgeordnete, Landtagsabgeordnete, die sich nicht an diese ehernen Regeln halten, haben keinerlei Rabatt verdient! Aber wenn Sie sich den ganzen Paragrafen anschauen, stellen Sie fest, dass beispielsweise über Absatz 3 auch alle kommunalen Vertreter von der Gesamtregelung erfasst sind, also diejenigen, die das Rückgrat unserer demokratischen Gesellschaft bilden, die reihenweise abendelang in miefigen Sitzungssälen für drei Mark fünfzig Sitzungsgeld über Bebauungspläne beraten, um sich am nächsten Morgen in der Bäckerei erklären zu lassen, wie man das alles hätte besser machen können, und die inzwischen in einem Maße – wir hatten gerade Kommunalwahlen in Hessen – Hass und Hetze ausgesetzt sind, nur weil sie sich ehrenamtlich um ein Mandat bemühen, dass es kaum noch zu akzeptieren ist. Natürlich, wenn die sich an etwas nicht halten, müssen auch die bestraft werden; das ist gar keine Frage. Aber ob wir an die das richtige Signal senden, wenn wir auch sie unter den Verbrechenstatbestand fassen, darüber lassen Sie uns bitte gemeinsam noch mal diskutieren. ({4}) – Bitte, Herr Kollege, ich rede von Ortsbeiräten, von Stadträten. Die müssen bestraft werden, wenn sie sich an etwas nicht halten. Die müssen bestraft werden, auch bei Bestechung. Nur passieren auch Fälle vor Ort, bei denen wir genauer hinschauen müssen, wie wir das regeln. Es wäre besser, jetzt nicht populistisch zu reagieren und alle, die ehrenamtlich vor Ort tätig sind, über einen Kamm zu scheren, ({5}) nur weil sich einige nicht daran gehalten haben. Darauf lege ich doch großen Wert, meine Damen und Herren. ({6}) Wir müssen auch den objektiven Tatbestand überarbeiten. Wir müssen uns auch das Merkmal „im Auftrag oder auf Weisung“ anschauen. Wenn Sie sich anschauen, wie das in der Rechtswissenschaft ausgelegt wird, sehen Sie, dass es da eine Vielfalt, ein Potpourri gibt; keiner weiß, wie das genau auszulegen ist. Eins weiß man: So wie Herr Baumann es eben ausgelegt hat – dass man eine Quittung braucht –, habe ich das noch nirgendwo gelesen; das wird wohl auch tatsächlich niemand gelesen haben. ({7}) – Es steht eben nicht im Gesetz, Herr Baumann. Das ist wieder Ihre typische Art und Weise, hier vorzugehen. ({8}) Wir brauchen da dringend eine Klarstellung, meine Damen und Herren. Deswegen: Lassen Sie uns das gemeinsam anschauen. Lassen Sie uns anschauen, ob wir am Ende das Merkmal überarbeiten, ob wir es klarstellen oder ob wir es streichen. Und lassen Sie uns vernünftig gemeinsam die richtige Regelung finden, damit wir gemeinsam als Parlament in Zukunft kein Vertrauen mehr verlieren. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Dr. Jürgen Martens. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es gibt Anlass, darüber zu sprechen, was Abgeordnete dürfen, was sie annehmen dürfen, was sie in ihrem Amt annehmen dürfen und was sie daraus machen oder nicht machen. Allerdings sollten wir es uns hier nicht so billig machen, wie es die Antragstellerin macht, indem sie sagt: Das ist alles bloß ein korrupter Haufen; die sind alle mehr oder weniger bestechlich. – So einfach ist das Ganze nicht, Herr Baumann. ({0}) – Sie haben sie aufgezählt, und Sie haben die Union anschließend gleich pauschal mit reingezogen. ({1}) Wir sind an dieser Stelle aufgerufen, etwas differenzierter vorzugehen. ({2}) Ob das Korruption, ob das Bestechlichkeit war, das werden Gerichtsverfahren festzustellen haben. Was unzweifelhaft vorliegt, ist der Missbrauch, der Missbrauch einer Abgeordnetenstellung. Das ist nicht zu tolerieren, meine Damen und Herren. Denn dieses Verhalten schädigt uns alle. Es schädigt das Vertrauen der Bevölkerung in die Redlichkeit der Abgeordneten, es schädigt das Vertrauen in die Regierung und die sie stützende Mehrheit, es delegitimiert zum Teil auch die Handlungen hier in diesem Parlament und erst recht von den betroffenen Abgeordneten. Das ist so nicht hinzunehmen, meine Damen und Herren. ({3}) Aber: Ein schlichter Gesetzentwurf, mit dem ein Verhalten nach § 108e Strafgesetzbuch zum Verbrechen hochgestuft wird und ansonsten der Zusammenhang zwischen Auftrag/Weisung und Vorteilsnahme aufgelöst wird, reicht nicht aus. ({4}) Das ist übrigens gesetzgebungstechnisch falsch: Wenn Sie den Zusammenhang zwischen Zahlung und Auftrag und Weisung entfernen, dann handelt es sich nicht mehr um Bestechlichkeit, sondern um Vorteilsnahme, die den einzelnen Abgeordneten vorzuwerfen wäre. Auch das wird dem Sachverhalt hier nicht gerecht, meine Damen und Herren. Wir brauchen mehr. Wir brauchen Regelungen – angefangen vom Abgeordnetengesetz über die Verhaltensregeln für Abgeordnete bis hin zu strafrechtlichen Regelungen, aber auch zu Fragen der Transparenz, wie dem Lobbyregister, die wir insgesamt diskutieren müssen. So mal eben schnell übers Knie gebrochen, wie Sie das gerne hätten, wird das mit Sicherheit nicht gehen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den wichtigsten Gütern in einer repräsentativen Demokratie gehört es, dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in ihre Volksvertretungen haben. Das gilt insbesondere für den Bundestag. Dieses Vertrauen hat in den letzten Wochen durch das Fehlverhalten einiger weniger Unionsabgeordneter deutlich gelitten. Deswegen ist für uns eins klar: Es braucht eine Reaktion des Bundestages. Wir brauchen ein Lobbyregister, wir brauchen mehr Transparenz, und wir müssen endlich den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung zu einem Verbrechen hochstufen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die SPD hat schon lange vorgeschlagen – auch aus anderen Parteien und auch aus der Rechtswissenschaft kam der Vorschlag –, diese Hochstufung vorzunehmen. Das ist also alles andere als ein AfD-Vorschlag. Den haben Sie hier abgeschrieben. ({1}) Eines will ich Ihnen auch ganz deutlich sagen: Klären Sie erst mal Ihre zahlreichen Spendenskandale, bevor Sie sich hierhinstellen und die Saubermänner und Sauberfrauen spielen, liebe Kolleginnen und Kollegen. So geht es sicher nicht! ({2}) Wie von der Rechtswissenschaft und auch in vielen Studien empfohlen, wollen wir das Strafmaß für Abgeordnetenbestechung auf eine Mindeststrafe von einem Jahr heraufstufen. Dieses klare Zeichen wollen wir geben. ({3}) Ich freue mich, dass aus der Union hier Zustimmung kommt. Wir sollten den Ehrgeiz haben, das noch in dieser Wahlperiode zu schaffen. Aber allein das Strafmaß zu erhöhen, sodass ein Verbrechenstatbestand vorliegt, wird nicht ausreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn heute ist es für eine Strafbarkeit erforderlich, dass der Nachweis gelingt, dass ein Täter in Wahrnehmung seines Mandates eine Handlung im Auftrag oder auf Weisung vorgenommen hat oder unterlassen hat. ({4}) Diesen Nachweis zu führen, diesen Auftrag oder diese Weisung nachzuweisen, ist oft schwierig. ({5}) Das lässt den Tatbestand ins Leere laufen. ({6}) Deswegen sind wir der Meinung, und zwar schon lange bevor die AfD diese Ideen abgeschrieben hat, dass wir hier in eine Prüfung eintreten müssen. ({7}) Wir sollten die Hürden für den Nachweis dieses Straftatbestands reduzieren und es ausreichen lassen, dass ein Abgeordneter für sich oder einen Dritten eine Gegenleistung für eine Handlung bei der Wahrnehmung eines Mandats annimmt. Das wäre immer noch präzise genug, und wir hätten endlich diesen Straftatbestand wirklich griffig formuliert, sodass er auch Anwendung findet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Und: Wir sollten hier härter vorgehen und die Absenkung der Strafbarkeitsvoraussetzungen vornehmen. Dazu sind wir, wie gesagt, in Gesprächen. Herr Jung, wir nehmen Sie beim Wort, dass wir diese Änderungen hier noch hinbekommen. Dazu gehört aber auch, dass wir für mehr Transparenz sorgen. Allein die Strafbarkeit zu verschärfen, wird nicht ausreichen. Wir wollen genau wissen: Welche Summen hat ein Abgeordneter als Nebeneinkünfte gehabt? Im Moment haben wir diese Stufen, etwa bei Anwälten ab 1 000 Euro. Das sollte man präziser angeben. Man sollte auch die Zeit angeben: Wie viel Zeit hat man für diese Nebentätigkeit aufgewendet? Wir finden, auch Aktienoptionen sollten anzeige- und veröffentlichungspflichtig werden und auch Unternehmensbeteiligungen. Und wir sollten die Parteispenden deutlich einschränken. Kollege Bartke, dem ich an dieser Stelle für seinen großen Einsatz in diesem Bereich danken darf, wird dazu nachher noch einiges ausführen. Da kann man dann auch mal den Unterschied zwischen den einzelnen Parteien sehen, nämlich wer denn inwieweit Regelungen bei den Parteispenden treffen will. Wir sagen: 2 000 Euro; danach sollte es veröffentlichungspflichtig werden, damit die Bürger genau wissen, wie die Parteifinanzen zustande kommen. ({9}) Abschließend: Ich finde, wir brauchen zahlreiche Maßnahmen, und wir sollten sie noch in dieser Wahlperiode beschließen. Alles andere wäre ein Grund, dass die Bürger weiter das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Abgeordneten verlieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten wirklich den Ehrgeiz haben, die repräsentative Demokratie in Deutschland so zu gestalten, dass die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in uns als Volksvertretung haben. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Johannes Fechner. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir hier über einen Entwurf der AfD zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung reden, hat mit der Aktualität des Themas zu tun und dem Zustand der Fraktion von CDU und CSU. Die Skandale nehmen hier kein Ende: Maskendeals, eine dubiose Aserbaidschan-Connection, Aktienoptionen. Sie, meine Damen und Herren, haben es so weit kommen lassen, dass dieser Betriebsunfall namens AfD-Fraktion ernsthaft glaubt, Ihnen etwas über Integrität und uns etwas über die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie erzählen zu können. Es ist richtig, dass der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung so gefasst ist – der Kollege Fechner hat es richtig gesagt –, dass er praktisch nicht zur Anwendung kommen kann. Mit dem Vorschlag der Union, diesen unanwendbaren Tatbestand zum Verbrechen hochzustufen, wird das übrigens ebenfalls nicht behoben. Ich komme nicht umhin, anzumerken: Das, was Sie hier betreiben, ist ganz offenbar ein Ablenkungsmanöver. ({0}) Der Tatbestand muss geändert werden. ({1}) Aber damit alleine ist es nicht getan. Es braucht Änderungen bei den Verhaltensregeln für Abgeordnete, ein echtes Lobbyregister, und über die Parteienfinanzierung sollten wir aus aktuellem Anlass auch noch mal reden. ({2}) Daran hat diese Truppe natürlich kein Interesse, weil bei Ihnen von einem verantwortungsvollen Umgang mit Geld ja keine Rede sein kann. ({3}) Es fing an mit Tausenden Euro für Mettigel und Schnittchen, ging weiter mit verschleierten Spenden eines dubiosen Milliardärs aus der Schweiz, dann aus den Niederlanden und aus Russland. In der ganzen Welt hält die AfD die Hand auf. ({4}) Dazu kommen falsche Rechenschaftsberichte, dubiose Firmengeflechte, Steuerhinterziehung, und über eine Abgeordnetenmitarbeiterin ist diese Truppe eventuell sogar in illegalen Waffenhandel verstrickt. ({5}) Diese Leute wollen das parlamentarische System auch nicht verteidigen, wie sie im vorliegenden Entwurf vorgeben; sie wollen das System zu ihren Gunsten destabilisieren, und nebenbei wollen sie sich noch die Taschen vollmachen, solange es eben geht. ({6}) Meine Damen und Herren, die Destabilisierung des parlamentarischen Systems ist längst da, und sie geht von alleine auch nicht weg. Das sagen Ihnen meine Fraktion und ich seit geraumer Zeit. Es braucht dringend eine interfraktionelle Verständigung auf Maßnahmen, die geeignet sind, das verspielte Vertrauen zurückzugewinnen. ({7}) Vom Lobbyregister über die Wahlrechtsreform bis hin zu den Verhaltensregeln für Abgeordnete haben wir Ihnen von der Regierungskoalition immer wieder faire und ausgewogene Vorschläge gemacht, und immer wieder scheiterten diese an der Union. Selbst kleinste Verbesserungen stoßen bei diesen Betonköpfen auf Widerstand. Nun stehen CDU und CSU vor ihrem selbstverschuldeten Scherbenhaufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen Sie Ihre Koalitionspartner dieses Mal den Müll alleine aufkehren. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Canan Bayram. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie verkommen muss man eigentlich sein, um auf die Nachricht, dass es eine Pandemie gibt, die dieses ganze Land und die Welt erschüttert, den Gedanken zu fassen, irgendwo eine Firma zu gründen, mit der man Geld verdienen kann, illegal, in Liechtenstein? Das ist ein Vertreter, der hier in diesem Parlament saß und tatsächlich vorgegeben hat, für die Bevölkerung was zu leisten. Dass der hier nichts mehr zu sagen hat, ist erst mal ein gutes Zeichen. Das wurde durch die Staatsanwaltschaft erreicht, meine Damen und Herren. ({0}) Insoweit müssen wir hier nicht so tun, als wenn wir nicht schon Maßnahmen hätten. Aber klar ist auch: Seit Jahren versucht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sowohl in strafrechtlicher Hinsicht als auch in anderen Bereichen Transparenz, Offenheit zu erreichen und die Abgeordnetenbeeinflussung zu regulieren. Und Sie wehren sich dagegen. Mit welcher Chuzpe Sie sich dann hierhinstellen und sagen, jetzt seien Sie bereit, etwas zu ändern, das erstaunt uns schon, meine Damen und Herren. ({1}) Wenn Sie sich hierhinstellen und sagen: „Noch in dieser Legislatur werden wir es machen“, dann stellt sich, ehrlich gesagt, die Frage: Ja, wo liegt denn dann bitte der Entwurf? Wo ist die Runde, in der das beraten wird? Was haben Sie denn hier tatsächlich auf den Tisch gelegt? Schämen Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das können Sie wirklich besser. ({2}) Aber wenn gerade die AfD meint, dass es eines schlechten Entwurfs ihrer Fraktion bedarf, um von ihrer eigenen Unzulänglichkeit, sei es in Partei- oder anderen Skandalen, in die Sie verwickelt sind, abzulenken, dann muss ich hier auch ganz klar feststellen: Ihnen lassen wir das nicht durchgehen! Sie brauchen wir nicht, um hier wieder Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Politik und dieses Parlaments herzustellen, meine Damen und Herren. ({3}) Das will ich auch noch mal deutlich sagen: Dieses Vertrauen ist nicht nur durch die Pandemie erschüttert, sondern es ist auch erschüttert durch das Verhalten und das Sich-die-Taschen-Füllen einiger Abgeordneter, während die Menschen zu Hause in der Not denken: Die sitzen dort im Parlament und regeln meinen Alltag, damit es weitergeht und damit es mir besser geht. – In dieser Krise wiegt das doppelt schwer, und da ist es umso wichtiger, dass echte Konsequenzen folgen, meine Damen und Herren; sonst verlieren wir hier alle als Politik und als Politiker/-innen. ({4}) Das ist der entscheidende Punkt, den wir uns klarmachen müssen. Es geht doch um mehr als um die Schicksale der Kollegen aus der Fraktion von CDU und CSU oder in den Landesparlamenten: Es geht um die Menschen in diesem Land, für die wir Verantwortung übernommen haben. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Versprechen einlösen, indem wir sowohl strafrechtlich tun, was getan werden muss – nämlich dieses schlechte Gesetz verbessern, aber auch die Transparenzregelungen –, als auch deutlich machen, welcher Lobbyist hier ein und aus geht. Das müssen wir ändern, meine Damen und Herren, dann klappt es auch wieder mit den Wählerinnen und Wählern! ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich möchte noch mal daran erinnern: Wir sind aktuell mit dem Plenumsende bei morgen früh, kurz vor 4 Uhr. Falls also jemand seine Rede in den nächsten Stunden zu Protokoll geben möchte, ist er herzlich eingeladen, und ich bitte die Geschäftsführer, ihn nicht davon abzuhalten, und Sie natürlich auch. ({0}) Der nächste Redner: Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über Abgeordnetenbestechung und Abgeordnetenbestechlichkeit, ja, über Korruption. Ich will Ihnen ernsthaft sagen, dass ich zutiefst beschämt bin – zutiefst beschämt, dass Anlässe für eine solche Debatte sich in meiner eigenen Fraktion finden, nämlich bei ehemaligen Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dazu möchte ich mir eine Vorbemerkung erlauben. Ich glaube, dass es wichtig ist, wie wir eine solche Debatte führen; denn das, was mich an diesen Fällen so wütend macht, ist – das wird Ihnen genauso gehen –, dass diese Fälle die Demokratie beschädigen. Am Ende wird es so laufen, dass sie vor allem der parlamentarischen Demokratie einen solchen Schaden zufügen, dass diese in eine echte Krise geraten kann. Deshalb ist es auch wichtig, wie wir über solche Fragestellungen diskutieren.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Straetmanns?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, wir sind spät dran. Herr Kollege, ich komme eh gleich noch zu Ihnen. ({0}) Es ist wichtig, wie wir darüber diskutieren. Am Ende des Tages sage ich Ihnen ganz ehrlich: Wenn wir es so machen, wie es heute die AfD oder Die Linke gemacht hat, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn irgendwann im Land die Menschen eben nicht mehr unterscheiden und sagen: „Das war doch Partei XY“, sondern es dann heißen wird: Typisch Politiker. ({1}) Am Ende gilt dann auch eine Wahrheit, nämlich dass hier im Haus nur zwei Gruppierungen davon profitieren, wenn die Menschen der parlamentarischen Demokratie den Rücken kehren. Das sind nämlich die zwei extremen Randgruppierungen. ({2}) Ich will es noch mal sagen: Ich bin zutiefst beschämt, ({3}) auch als Mitglied der CSU und als CSU-Politiker, weil eben diese Debatte geführt wird über Fälle in meiner eigenen Gruppierung. Aber ich bin auch froh – der Kollege Jung hat es vorhin schön skizziert –, dass binnen 24 Stunden das Signal von beiden Parteispitzen kam, dass für solche Leute in unseren Reihen kein Platz ist. ({4}) Und auch das bitte ich in einer solchen Debatte nicht zu vernachlässigen. Kollegin Bayram, irgendwie sind Sie vielleicht nicht auf der Höhe der Zeit, aber sowohl CDU als auch CSU haben schon umfassende Pakete vorgelegt, was wir machen werden, um diesen Vertrauensverlust in der Bevölkerung auszugleichen, ({5}) um Transparenz herzustellen und um Vertrauen zurückzugewinnen. Wir werden gerade als CSU ein Paket schnüren, das richtungsweisend sein wird ({6}) – hören Sie zu! – und das neue Maßstäbe setzt, und zwar für alle politischen Gruppierungen. Ich will es ganz kurz skizzieren: Wir wollen einen Ausschluss von Nebentätigkeiten für Leute, die Führungsaufgaben haben, einfach deshalb, weil die über einen besonderen Einfluss hier im Haus und in politischen Kreisen verfügen, und deswegen verbietet sich dort jedwede Art von Nebentätigkeit. ({7}) Wir wollen ein absolutes Tätigkeitsverbot für bezahlte Interessenvertretungen. Die politische Stellung darf nicht zu Geld gemacht werden. Wir wollen, dass alle Nebeneinkünfte gegenüber der Parlamentsverwaltung offengelegt werden, um eben Interessenkollisionen frühzeitig zu erkennen und auszuräumen. Wir wollen, dass jede Art von Gegenleistung für Nebentätigkeiten angezeigt werden muss, zum Beispiel auch Aktienoptionen oder Provisionsversprechen. Dazu wollen wir noch eine detaillierte Anzeigepflicht für direkte und mittelbare Beteiligungen. Wir werden in unserer Satzung Regelungen vornehmen, wonach wir die Möglichkeit haben, mit unterschiedlichen Sanktionsmaßnahmen auf Verstöße zu reagieren, bis hin zum Parteiausschluss. Dann kommen wir noch zum Instrument des Strafrechts. Wir wollen uns mit dem Tatbestand der Abgeordnetenbestechung, der Abgeordnetenbestechlichkeit auseinandersetzen. Hier gelten zwei Wahrheiten. Selbstverständlich muss das ein Verbrechen sein. Wenn wir heute sehen, was das an Vertrauensverlust in der Bevölkerung erzeugt, und wenn wir heute sehen, meine Damen, meine Herren, was das für einen Schaden für die parlamentarische Demokratie erzeugt, dann sind wir uns alle einig: Das muss ein Verbrechenstatbestand sein. ({8}) Es wird auch so sein, dass wir uns mit dem Tatbestand beschäftigen müssen; denn der ist in der Tat zu eng gefasst. Meine Damen, meine Herren, es ist noch Zeit in dieser Legislaturperiode. Ich mache mir da keine Sorgen. Einig scheinen wir uns ja bei vielen Punkten zu sein. Interessant wird es, was Sie nebenbei alles auch in Ihren Parteien umsetzen können. Da gibt es Handlungsbedarf, Kollege Baumann und Kollege Straetmanns. ({9}) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Friedrich Straetmanns. Die Betonung liegt auf „kurz“.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kriegen wir hin. – Ich will eins noch mal ganz klar und mit ganz starker Betonung zurückweisen: Dass Sie uns mit der AfD in einen Topf stecken, das ist für meine Fraktion eine Unverschämtheit; ({0}) denn wir betreiben keine Obstruktionspolitik. Wir wehren uns mit den parlamentarischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. ({1}) Wir sind in einer inhaltlich starken Abgrenzung und Unterschiedlichkeit zu Ihnen, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Werden vom Verfassungsschutz beobachtet! aber mit dieser Truppe lassen wir uns hier gar nicht von Ihnen vergleichen! ({2}) Das will ich als Erstes feststellen. Zweitens. Zur Frage, wie man Vertrauen in die Demokratie stärkt: Das kann man sicherlich nicht, indem man Herrn Amthor in Mecklenburg-Vorpommern auf Platz eins der Landesliste wählt. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Sie können antworten, müssen aber nicht. – Bitte schön.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, in aller Kürze. – Kollege Straetmanns, Ihre Anmerkung Nummer eins wundert mich. Wir haben heute viele Oppositionsreden gehört, und, Entschuldigung, ich habe eigentlich nur zwei Oppositionsreden gehört, die mit dem fleißig erhobenen Zeigefinger gedroht haben: Die eine war vom Kollegen Baumann, von einer Partei, die ganz dunkel finanziert wird mit irgendwelchen Spenden; das ist angeklungen. ({0}) Und der zweite erhobene Zeigefinger kam von Ihnen – auch von einer Partei, wo Sie Kollegen in Ihren Reihen haben, zu denen Sie gar nichts sagen, gegen die aber mittlerweile ein Ermittlungsverfahren wegen Urkundenfälschung eingeleitet wird. Wenn Sie mit Ihrer Art der Argumentation hier ans Rednerpult treten, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen solche Dinge im Spiegel vorgehalten werden. ({1}) Nun zu Ihrer zweiten Anmerkung. Das habe ich ganz schnell erklärt. Ich bin CSU-Mitglied. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie der Kollege Amthor von der CDU aufgestellt und gewählt worden ist. Das müssen Sie ihn fragen. ({2}) Danke. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ausgerechnet die AfD sich hier als Saubermann aufspielen will, ist natürlich ein echter Treppenwitz. Die AfD ist die Partei, die verdeckte Parteispenden über sogenannte Parallelaktionen finanziert hat. Das Wort kannte ich vorher auch noch nicht. Darunter versteht man Werbemaßnahmen für eine Partei, die nicht von der Partei selbst vorgenommen werden, sondern von Dritten, den berühmten unbekannten Gönnern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aber das Thema ist auch ohnedies ein sehr ernstes. Korruption ist vielleicht das tödlichste Gift für jede Staatsform. Sie untergräbt das Vertrauen in geregelte und unbestechliche Abläufe. Herr Jung, das gilt auch für Kommunalpolitiker. Ich habe eben auf sueddeutsche.de gelesen, dass Herrn Gauweiler vorgeworfen wird, dass er 11 Millionen Euro während seiner Abgeordnetenzeit kassiert hat. Das macht mich schon sehr, sehr sorgenvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Politiker sind bekanntlich keine besseren Menschen. Aber sie sind immer Vorbild – im Guten wie im Schlechten. Als Otto Graf Lambsdorff seinerzeit wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde, sank die Steuermoral der Bundesbürger/innen dramatisch. Sie dachten sich: Wenn der hinterzieht, dann kann ich das auch. – Und so wie das Verhalten von Otto Graf Lambsdorff dazu führte, dass Steuerhinterziehung eine Zeitlang regelrechter Volkssport wurde, ({0}) so können auch Korruptionsfälle im Bundestag sehr leicht dazu führen, dass Korruption und vor allem Korrumpierbarkeit zum Volkssport werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt es zu verhindern. Die zentrale Norm ist der Strafparagraf 108e, Abgeordnetenbestechlichkeit. In den letzten Monaten wurde gehäuft gegen Unionsabgeordnete wegen dieses Deliktes ermittelt. Das belegt, dass die normenverdeutlichende Wirkung des § 108e StGB bislang ganz offenbar nicht besonders ausgeprägt ist, um das mal ganz freundlich zu formulieren. Ich bin mir sicher, dass sich das sehr bald ändern wird; denn die Koalitionsfraktionen planen die Heraufstufung des Deliktes zu einem Verbrechen. Das heißt: Mindeststrafe ein Jahr. Damit wird dann deutlich: Abgeordnetenbestechung ist kein Kavaliersdelikt. Insgesamt muss man leider feststellen – das wurde ja auch eben schon gesagt –, dass der § 108e seit seiner Einführung vor sieben Jahren das erwartete Ziel verfehlt hat. Die Zahl der Ermittlungen und Verurteilungen kann man an einer Hand abzählen. Grund dafür ist vor allem eine Fehlkonstruktion in der Strafnorm selber. Man muss nämlich beweisen, dass ein Mandatsträger eine Zuwendung erhält, um im Auftrag oder auf Weisung eines Dritten zu handeln. Voraussetzung ist also, dass es eine enge Kausalbeziehung zwischen der Einflussnahme auf den Mandatsträger und dessen Handlung gibt. Das führt im Einzelfall regelhaft zu erheblichen Beweisproblemen. ({1}) Denn selbst die bloße Behauptung des Mandatsträgers, dass er einen Auftrag abgelehnt hat und eine Zuwendung nur als quasi Bestätigung der Richtigkeit seiner Handlung angenommen hat, ist kaum zu widerlegen. Das gelingt auch häufig in einem Strafprozess nicht. Es wird daher allerhöchste Zeit, dass wir den Tatbestand des § 108e ändern. Herr Hoffmann, ich freue mich, dass die CSU zumindest signalisiert hat, dass sie dem offen gegenübersteht. Ich bedanke mich. ({2})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede herausstellen, dass es sich hier um ein besonderes Vorhaben unseres Parlaments handelt; denn wir kommen einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom letzten Jahr nach. Vor gerade mal zehn Monaten hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes auf einen neuen, rechtssicheren Boden zu stellen. Für uns als Union ist es sehr wichtig, zwei Bereiche besonders herauszustellen. Das eine ist der Unabhängige Kontrollrat als zentrales Organ der Rechtskontrolle, und das andere ist die Schärfung der parlamentarischen Kontrolle. Zunächst zum Unabhängigen Kontrollrat. Er folgt dem Unabhängigen Gremium und soll, was seine Zusammensetzung angeht, aus Richterinnen und Richtern des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes bestehen, und das im Rahmen der juristischen Kontrolle. Die Auswahl bzw. der Vorschlag für die Auswahl erfolgt, wie es sich für unabhängige Gerichtsbarkeit gehört, durch die Präsidentin oder den Präsidenten der eben genannten Gerichtsbarkeiten. Für uns war es aber wichtig, deutlich zu machen, dass wir im Parlament eine Mitsprache haben, um die Richterinnen und Richter, die hier vorgeschlagen werden, kennenzulernen. Deswegen bestanden wir auf einer Vorstellung und dann auch auf einer Wahl durch das Parlamentarische Kontrollgremium. Diese rechtssichere Grundlage durch den Unabhängigen Kontrollrat zu gewährleisten, ist deshalb wichtig, weil der Bundesnachrichtendienst durch die höchstrichterliche Entscheidung in die Grundrechte von nichtdeutschen Staatsbürgern eingreift. Das ist das Novum in der deutschen Rechtsgeschichte, und dem haben wir zu folgen. Das Entscheidende war, dass wir dies innerhalb von zehn Monaten hinbekommen. Denn bis zum Jahresende soll diese rechtssichere Kontrolle erfolgen, das Personal ist noch auszuwählen, und der Bundesnachrichtendienst hat eine ganze Reihe von Datenbanken und Verfahren anzupassen. Ich möchte an dieser Stelle den Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgewirkt haben, danken. Ich möchte hier die äußerst fairen, aber in der Sache auch sehr harten Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner sehr deutlich herausstellen. Aber wir sind zu einem für beide Seiten in der Koalition sehr tragfähigen Ergebnis gekommen. Wir haben uns auch beide sehr intensiv im Rahmen der Anhörung klarmachen lassen, dass der Unabhängige Kontrollrat auch im Rahmen des achten Leitsatzes zur Begründung des Gerichtes eben eine besondere Unabhängigkeit braucht. Ich danke an dieser Stelle Uli Grötsch und Thomas Hitschler für die hervorragende Mitwirkung. Wir haben das gemeinsam erreicht. In dieser sicherheitspolitischen Frage zeigt sich – wir haben heute viel erlebt in der Debatte – die Große Koalition als absolut handlungsfähig. ({0}) Zweitens ist es mir aber wichtig, den hier anwesenden Kollegen des Parlamentarischen Kontrollgremiums aus der Opposition zu danken: Herrn Konstantin von Notz, Herrn André Hahn und Herrn Stephan Thomae. Nur durch das Ringen miteinander, auch in der Anhörung, war es möglich, möglichst viel aufzunehmen. Denn wir müssen uns bewusst sein, dass die Rechtsentwicklung weitergehen wird, dass die Frage des Grundrechtschutzes und die Frage der Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes mit diesem Gesetzentwurf nicht aufhört, sondern wir uns im Klaren sein müssen, in der Gewinnung dieses neuen Entwurfes so unanfechtbar wie möglich zu sein. Gleichzeitig muss uns auch bewusst sein, dass die Frage, wie der Bundesnachrichtendienst in der Zukunft aufgestellt wird, auch eine Frage von Kapazitäten, Fähigkeiten und Haushaltsmitteln ist. Ferner geht mein Dank an unsere eigene Union. Ich möchte ganz besonders Herrn Thorsten Frei, Frau Andrea Lindholz, Herrn Alexander Throm und Mathias Middelberg und ihren Teams danken, die mit großer Kundigkeit und mit intensivem Bemühen daran mitgewirkt haben, den Bundesnachrichtendienst leistungsfähig zu halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was uns ebenfalls am Herzen lag, war die Schärfung der parlamentarischen Kontrolle. Hier ging es darum, dass der Unabhängige Kontrollrat nicht nur Unterrichtungen leistet, sondern dem Parlament berichtspflichtig wird und dieser Berichtspflicht nachkommt, indem das Parlamentarische Kontrollgremium diese Berichte erhält. Das schärft die parlamentarische Kontrolle und ermöglicht auch, wie ich das vor etwa fünf Wochen in der ersten Lesung angesprochen habe, die Rolle des Parlaments in dieser Frage als Primus inter Pares. Hier danke ich auch dem Vorbereitungsstab um Herrn Schlatmann, der hier wirklich sehr viel leistet, um das Parlament informiert zu halten. Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Frage: Was bedeutet es eigentlich, wenn wir den Bundesnachrichtendienst in diese Richtung aufstellen? Der Bundesnachrichtendienst ist der entscheidende Sensor für die Gewinnung sicherheitspolitischer Informationen für unsere Bundesregierung. Es geht um Gefahrenfrüherkennung, es geht um Gefahrenabwehr, und es geht um die aufmerksame Begleitung von Gefahrenlagen. Dies soll im Rahmen unserer Sicherheitskultur der Bundesnachrichtendienst auch weiterhin auf Augenhöhe leisten. Das müssen wir auch tun, damit wir unsere Sicherheitsarchitektur durch den Bundesnachrichtendienst weiterhin hervorragend schützen können. ({1}) Genauso gehört aber dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn wir einen leistungsfähigen Dienst wollen, brauchen wir auch eine leistungsfähige Kontrolle. Somit ist das Parlament und stellvertretend das Parlamentarische Kontrollgremium Teil der parlamentarischen Kultur, ich möchte es fast Kontrollkultur und ‑kontur nennen. In diesem Sinne danke ich allen, die zu dem Erfolg beigetragen haben, und werbe für Zustimmung zu diesem Gesetz. Wir machen damit den Bundesnachrichtendienst weiterhin rechtssicher leistungsfähig. Das muss auch unsere Aufgabe sein. Danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Dr. Christian Wirth. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Ganz optimistisch sehe ich diesen Gesetzentwurf nicht; denn es gehört auch zur Wahrheit dazu, dass dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 2020 eine schallende Ohrfeige für dieses Parlament und die Bundesregierung ist. Denn es zeigt auf, dass wir die Gewaltenteilung in den letzten Jahren, sogar Jahrzehnten, wenn man das Bundespolizeigesetz hinzunimmt, nicht wahrgenommen haben. Wir haben unsere Sicherheitsorgane, insbesondere die Bundespolizei, aber auch den Bundesnachrichtendienst, einfach ohne ausreichende Rechtsgrundlagen stehen lassen. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht sich genötigt gesehen, als Gesetzgeber aufzutreten und in wesentlichen Entscheidungsgründen auszuführen, wie ein Gesetz auszusehen hat. Das hat mit Gewaltenteilung wirklich nichts mehr zu tun; aber das liegt nicht am Bundesverfassungsgericht, das liegt an diesem Parlament und der Bundesregierung. Das ist bedauerlich. ({0}) Es gehört auch zur Wahrheit dazu, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung leider – das ist wohl weltweit einmalig – entschieden hat, dass das Grundgesetz nicht mehr auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik beschränkt ist, sondern als Weltrecht zu gelten hat. Das hat es auch noch nicht gegeben. Bedauerlich ist des Weiteren, dass die Bundesregierung und die Regierungskoalition sich wohl bemüht haben, ihnen aber wenig anderes eingefallen ist, als diese Entscheidungsgründe abzuschreiben und in einen Gesetzentwurf zu packen, wobei sie vieles vielleicht nicht verstanden haben und wesentliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nicht beachtet haben. Hierzu gehört – aus Zeitgründen kann ich es nicht ausgiebig ausführen – die parlamentarische Kontrolle, die so möglich ist; aber es bleibt natürlich die Frage, ob sie praktikabel ist. Derzeit sind die G 10-Kommision und das Parlamentarische Kontrollgremium zuständig für die Überwachung. Es soll der Unabhängige Kontrollrat eingerichtet werden aus BGH-Richtern und – warum auch immer, es ist nicht unbedingt deren Fachgebiet – Verwaltungsrichtern. Aber dem Bundesverfassungsgericht ging es in dem Urteil erkennbar auch darum, die Überwachung der Geheimdienste zu entpolitisieren – dies, weil aus den Parlamentarischen Kontrollgremien und aus Regierungskreisen immer wieder Informationen an die Presse durchgesteckt wurden. Das nennt man Geheimnisverrat. Das Bundesverfassungsgericht betont die Notwendigkeit, die zu schaffenden Kontrollinstanzen mit fachlich kompetenten und politikunabhängigen Persönlichkeiten zu besetzen anstatt mit politischen Kandidaten. Das Bundesverfassungsgericht fordert für die Kontrollinstanzen im Grunde den Nachbau der Gewaltenteilung im Kleinen. Der im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene neue Unabhängige Kontrollrat als Kontrollinstanz ist sehr personalintensiv und teuer und führt lediglich zu einem Kompetenzwirrwarr und langen Genehmigungswegen, die gerade in der Auslandsaufklärung lebensfremd sind und uns von unseren notwendigen internationalen Partnern weiter isolieren. Die Vorschläge der FDP und der Grünen sind gangbar, aber auch sehr personalintensiv und eventuell aus diesem Grunde mit Geheimnisproblemen behaftet. Bei dem Vorschlag der FDP für einen Nachrichtendienstbeauftragten mag ich nur an das unselige Geschacher der SPD-Fraktion um den Wehrbeauftragten erinnern oder an den Ostbeauftragten der CDU, der seine Kompetenzen für die Ostbürger ja vom Parteibuch abhängig macht. Daher ist er wohl nicht so praktisch. Wir schlagen vor: Statt des vorgesehenen Unabhängigen Kontrollrates soll die gerichtliche Kontrolle durch einen neu zu schaffenden Geheimdienstsenat mit Bereitschaftsdienst beim BGH eingerichtet werden. Dort sitzen Profis, die können das. Eine Beschwerde zum Senat soll möglich sein. Die Ständige Bevollmächtigte beim Parlamentarischen Kontrollgremium soll künftig eine eigene Ermittlungskompetenz haben und die Rechtskontrolle der technischen Aufklärung durchführen, soweit der BGH nicht zuständig ist. Wir wollen eine Enquete-Kommission. Wir wollen eine unabhängige Evaluierung. Wir müssen auch in der nächsten Legislaturperiode darüber reden, wie unsere Sicherheitsarchitektur aussieht. Rechtsstaatlich, schlank, effizient und Vertrauen in den Bundesnachrichtendienst: Für eine solche moderne Sicherheitsstruktur steht die AfD. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. April feiert der Bundesnachrichtendienst seinen 65. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch von dieser Stelle aus! Die jüngste Werbung des BND um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vielleicht haben sie einige hier gesehen – mit dem „Matrix“-Karnickel, das vielleicht manche aus dem Film kennen, oder der Hashtag „#followtheglitchkarnickel“ – ich kannte ihn vorher nicht – zeigen, dass die Behörde mit der Zeit geht und modern ist. Heute passen wir die rechtlichen Arbeitsgrundlagen des BND unserer Rechtsprechung an, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020 ergibt. Wir haben mit dem Koalitionspartner inhaltlich hart gerungen; das ist kein Geheimnis. Aber unterm Strich ist eine Reform herausgekommen, mit der wir alle zufrieden sein können. ({0}) Das hat meiner Meinung nach auch damit zu tun, dass wir alle daran gearbeitet haben, fraktionsübergreifend. Das ist mir hier auch wichtig zu sagen. Es ist mir auch wichtig, dafür Danke zu sagen, weil ich das für ein Glanzstück der parlamentarischen Demokratie halte, allen voran dir, lieber Kollege Roderich Kiesewetter, und den Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die daran mitgearbeitet haben, aber auch allen anderen. Lieber André Hahn, Konstantin von Notz und Stephan Thomae, ihr sollt auch erwähnt sein, weil das wirklich ein gemeinschaftliches Werk war. Ich glaube, gerade in so einem sensiblen Bereich wie dem der Nachrichtendienste ist es gut, wenn wir über die Grenzen aller demokratischen Fraktionen hinweg an den Themen arbeiten. ({1}) Uns kam es in den Verhandlungen im Wesentlichen darauf an, den Schutz zum Beispiel von Journalistinnen und Journalisten zu verbessern, die Besetzung des Unabhängigen Kontrollrates auf Bundesverwaltungsrichter auszuweiten und die Rolle des Bundesdatenschutzbeauftragten bei der administrativen Kontrolle sowie die parlamentarische Kontrolle zu stärken. Das haben wir mit unserem Änderungsantrag erreicht. So haben wir etwa in § 21 beim Schutz der Vertraulichkeitsbeziehungen die Eingriffsschwelle bei der gezielten Datenerhebung mit der neuen Formulierung „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen“ erhöht. Jetzt reichen eben nicht mehr nur tatsächliche Anhaltspunkte, die den Verdacht begründen, aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit der neuen Formulierung haben wir eine höhere Eingriffsschwelle, als Ihr Vorschlag der spezifischen tatsächlichen Anhaltspunkte aus dem „Cicero“-Urteil vorgesehen hätte. Außerdem wollten wir keine komplett neue Verdachtsschwelle einführen, sondern dogmatisch saubere Rechtsbegriffe verwenden. ({2}) Sehr froh bin ich auch, dass wir jetzt klargestellt haben, wer als Journalistin oder Journalist den Vertraulichkeitsschutz genießt. Für uns war es wichtig, dass nicht der BND auf eine intransparente Art und Weise darüber entscheidet, wer Journalist ist, sondern dass es bestimmte Kriterien gibt, an die sich der BND bei der Entscheidung über die Zugehörigkeit zu dieser Berufsgruppe halten muss. Geschützt sind nun explizit auch regierungskritische Journalistinnen, zum Beispiel Blogger in Staaten, in denen die Pressefreiheit sehr stark bedroht ist. Zudem haben wir dem BND eine strengere Dokumentationspflicht auferlegt, sodass der Unabhängige Kontrollrat in seiner Rechtsprüfung ganz genau prüfen und nachvollziehen kann, weshalb der BND eine Person zum Beispiel als Journalist einstuft. Lassen Sie mich zum Ende noch sagen, dass es mir als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums und, ich glaube, uns allen, die wir als PKGr-Mitglieder an diesem Gesetzgebungsverfahren mitgearbeitet haben, wichtig war, dass wir im Zuge der BND-Reform – und ich möchte sagen: fast wie immer – gleichzeitig auch die parlamentarische Kontrolle stärken. Auf unsere Initiative hin haben wir nun einen besseren Whistleblowerschutz und vieles andere mehr, was mir die Zeit nicht mehr erlaubt, zu sagen. Wir hätten uns auch noch ein paar andere Sachen vorstellen können. Ich verspreche Ihnen: Sollten wir an der nächsten Bundesregierung wieder beteiligt sein, arbeiten wir weiter an einem modernen Rechtsrahmen für einen modernen Bundesnachrichtendienst. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und verehrte Kollegen! Der Bundesnachrichtendienst leistet einen wichtigen Dienst für die Demokratie und den Rechtsstaat in Deutschland. Deswegen ist es für uns als FDP völlig außer Zweifel, dass er strengen rechtsstaatlichen Regeln folgen muss und einer strengen demokratischen Kontrolle unterliegt. ({0}) Nun hat das Bundesverfassungsgericht vor zehn Monaten die Regeln für die Auslandsaufklärung noch einmal deutlich präzisiert und nachgeschärft. Es war die Aufgabe der Bundesregierung, in Rekordzeit das sozusagen größte nachrichtliche Kontrollorgan aus dem Boden zu stampfen, das dieses Land jemals gesehen hat. Trotzdem will so keine rechte Begeisterung aufkommen. Woran liegt das, meine Damen und Herren? ({1}) Die Bundesregierung folgte der Bastelanleitung des Bundesverfassungsgerichtes und hat versucht, möglichst genau die Linien und Konturen des Urteils nachzuvollziehen. Was wir als FDP aber bemängeln, ist, dass die Chance, die Gelegenheit vertan worden ist, die nachrichtendienstliche Kontrolle generell neu zu ordnen, neu zu strukturieren. Die Nachrichtendienstkontrolle ist mittlerweile fast genauso schwer durchschaubar geworden wie die Nachrichtendienste selber, und das ist nicht gut für die Transparenz der Dienste, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich müssen sich Nachrichtendienste immer neu anpassen, weil sich auch die Bedrohungslagen ändern; deswegen muss auch die nachrichtendienstliche Kontrolle einem steten Wandel unterliegen. Es gibt mittlerweile weltweit umspannende Netzwerke im Terrorismus, und deswegen müssen sich auch Sicherheitsbehörden neu vernetzen. Deswegen brauchen wir auch eine vernetzte Nachrichtendienstkontrolle bei uns im Land. Das ist das, was uns vorschwebt, was wir als Antrag und Gesetzentwurf und Entschließungsantrag heute vorlegen. Der erste Strang ist, dass wir die Rechtmäßigkeitskontrolle in einer Art Gerichtshof für die Nachrichtendienste bündeln, deren Keimzelle in der Tat dieser neue Unabhängige Kontrollrat werden kann. Der zweite Strang ist – das ist schon betont worden –, dass wir die parlamentarische Kontrolle stärken wollen. Lieber Uli Grötsch, das ist eine weiterhin uns obliegende Aufgabe; denn die PKGr-Reform von 2016 hat sich in dieser Wahlperiode bewährt. Anhand des Kontrollauftrags zur Bundeswehr wurde eine komplette MAD-Reform ausgelöst, Aufgabenverständnisse wurden neu definiert, die Zusammenarbeit des MAD mit anderen Sicherheitsbehörden ist neu justiert worden, und auch die Struktur des MAD hat sich geändert. Das zeigt: Parlamentarische Kontrolle ist wirksam, und auf diesem Weg müssen wir weitergehen, meine Damen und Herren. ({3}) Der dritte Strang ist – und das legen wir Ihnen heute zur namentlichen Abstimmung vor, weil es auch aus den Reihen der SPD und der Union Sympathien dafür gab –, dass wir die Position des Ständigen Bevollmächtigten weiter ausbauen und zu einem parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten aufwerten wollen, weil sich gezeigt hat, dass dieser Muskelarm des PKGr funktioniert und uns in die Lage versetzt, effektive Nachrichtendienstkontrolle zu verfolgen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Zeit ist zu Ende, Herr Kollege.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, ich halte als Fazit fest: Leider ist die Chance für eine große Reform der Nachrichtendienstkontrolle verpasst worden; daran müssen wir weiter arbeiten. Die Regierung geht mit ihrem Gesetzentwurf leider das Risiko ein, eine neue Klage zu riskieren. Diese Unsicherheit können wir eigentlich nicht brauchen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke ist der nächste Redner Dr. André Hahn. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allen freundlichen Worten zum Trotz, Herr Kollege Kiesewetter und auch Kollege Grötsch: Eigentlich ist es kaum zu glauben. Nachdem das 2016 beschlossene Gesetz zur Auslands-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes im Mai letzten Jahres beim Bundesverfassungsgericht krachend gescheitert ist, sind Bundesregierung und die Koalition aus Union und SPD wirklich so dreist, dem Bundestag heute einen Gesetzentwurf vorzulegen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut von den Karlsruher Richtern kassiert werden wird. Das ist nicht nur politisch bescheuert – entschuldigen Sie den drastischen Ausdruck –, das ist auch ein durch nichts zu rechtfertigender Affront gegen das höchste Gericht dieses Landes. ({0}) Union und SPD wollen die anlasslosen Massenüberwachungen des Bundesnachrichtendienstes im Ausland mit ein paar kosmetischen Korrekturen ungeniert fortsetzen, und das trotz der sehr aufschlussreichen Anhörung diverser Sachverständiger im Innenausschuss, die im Februar stattfand. Dabei wurde nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes mehrfach infrage gestellt, sondern es wurden auch konkrete Änderungsvorschläge unterbreitet. Umgesetzt wurde davon nahezu nichts, auch nicht im Änderungsantrag der Koalition. Das Parlamentarische Kontrollgremium wird eben nicht entscheidend gestärkt. Es hat weder ein Vorschlags- noch ein Auswahlrecht für die personelle Besetzung des neu zu bildenden Unabhängigen Kontrollrates, und die Bundesregierung kann sich auch weiterhin hinter dem absurden Konstrukt der sogenannten Third-Party-Rule verstecken, wenn es bestimmte Operationen unter Verweis auf die Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten vor den Parlamentariern verschweigen will. ({1}) Es reicht dann, einfach zu behaupten, der Partnerdienst stimmte einer Unterrichtung des Bundestages nicht zu. Wir als Abgeordnete bleiben bei der Kontrolle völlig außen vor. Hilfsweise kann die Regierung auch angebliche Staatswohlinteressen vorschieben. Eine derartige Praxis ist nicht nur absurd, sondern zum Beispiel in den USA oder Großbritannien völlig undenkbar. ({2}) Mag ja sein, dass der BND von einem solchen Zustand träumt. Wir als Linke werden so etwas niemals mitmachen! ({3}) Aber zurück zum Gesetzentwurf: Der Schutz von Reportern, Redakteuren und anderen Berufsgeheimnisträgern vor Ausspähung ist nach wie vor unzureichend geregelt, obwohl dies ein zentraler Punkt der Klageführer in Karlsruhe war. Nicht einmal der Begriff des Journalisten wird im Gesetz definiert; vielmehr soll er allein in einer geheimen Richtlinie des BND interpretiert werden. ({4}) Die völlige Freigabe der Ausspähung von Maschine-zu-Maschine-Kommunikation, also Handys, Computer, Laptops, und auch zwischen Mensch und Maschine umfasst millionenfach Lebenssachverhalte, auch von deutschen Grundrechtsträgern, darunter Online-Banking, Hotelbuchungen, GPS- und Bewegungsdaten von Mobilfunkgeräten. All das soll künftig anlasslos überwacht werden können, ({5}) obwohl der Europäische Gerichtshof erst im Oktober 2020 entschieden hat, dass diese Übermittlung an Sicherheitsbehörden und Geheimdienste europarechtswidrig ist. Wir als Linke – letzter Satz – sind gegen einen Freibrief für staatliches Hacking, und deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. André Hahn.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachrichtendiensten kommt in Rechtsstaaten zweifellos eine Sonderrolle zu. Aus dieser Sonderrolle wächst Verantwortung: Verantwortung für die Dienste selbst, aber vor allem für diejenigen in der Aufsicht und in der Kontrolle. Und dieser Verantwortung sind Fachaufsicht und Gesetzgeber in den letzten Jahren selten gerecht geworden. Das, was die GroKo hier heute hinlegt, reicht leider hinten und vorne nicht. ({0}) Das Agieren des BND war in der Vergangenheit allzu oft weit vom Boden des Grundgesetztes entfernt. Bis in den Weltraum reichten die Konstrukte, um klar rechtswidrige Praktiken nach außen zu kaschieren. Das war vor allem ein Versagen der politischen Ebene. Offenkundig problematische Bereiche wie die digitale Fernmeldeaufklärung wurden bewusst nicht ausreichend reguliert, und es wurden eben keine klaren gesetzlichen Vorgaben gemacht. Stattdessen hat man sehr bewusst weggeschaut und die Verantwortung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BND abgeladen. Und das war kein Ruhmesblatt, meine Damen und Herren. ({1}) Es brauchte Edward Snowden und die Aufklärungsarbeit eines Untersuchungsausschusses hier im Hohen Haus, um die GroKo dazu zu bewegen, zaghafte Schritte – zaghafte Schritte! – der Verrechtsstaatlichung zu unternehmen. Für die Einsicht, dass deutsche Behörden wie der BND auch im Ausland unserem Grundgesetz verpflichtet sind und man die Verfassungswerte nicht an der Grenze einfach hinter sich lässt, hat die GroKo wieder mal ein Urteil aus Karlsruhe gebraucht. Und das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren. ({2}) Statt jetzt endlich den rechtsstaatlichen Goldstandard zu schaffen, wie wir ihn in unserem Antrag vorschlagen, kommen Sie hier wieder nur mit der Mini-Minimallösung um die Ecke. So geht es nicht; das reicht nicht. Wir begrüßen, dass Sie die Third-Party-Rule-Problematik mit einem neuen Kontrollorgan aufzulösen suchen. Aber das Zentrum der Kontrolle, meine Damen und Herren, muss das Parlament, dieses Hohe Haus, bleiben – deshalb müssten wir das PKGr deutlich stärken, die Arbeit effektivieren und weiter professionalisieren –; so steht es in unserer Verfassung, aber leider nicht in Ihrem Antrag. Herr Kollege Grötsch und Herr Kollege Kiesewetter, Sie müssten das noch sehr, sehr polieren, damit das zustimmungswürdig wird. Insofern tut es mir leid. ({3}) Sie beschenken den BND zum 65. mit einem Trojaner, mit Befugniserweiterung zum staatlichen Hacken, mit unkontrollierbaren Eignungsprüfungen und weiter unklaren Filtersystemen. So schafft man kein Vertrauen. Und wer SIGINT sagt, müsste auch HUMINT sagen. Aber den Bereich lassen Sie gänzlich unbearbeitet. Das ist alles zu wenig. Das ist alles zu spät. Und das ist alles zu unambitioniert. Da sind wir nicht dabei. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Konstantin von Notz. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Andrea Lindholz. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 um. Dazu sind wir auch bis zum 31. Dezember verpflichtet. Ja, das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil einen Paradigmenwechsel vollzogen. Auch Ausländer im Ausland können sich in bestimmten Fällen auf die Abwehrrechte des Grundgesetzes berufen, und wer zum Beispiel als Journalist oder Anwalt Berufsgeheimnisse trägt, ist vor der Überwachung grundsätzlich geschützt. Man kann das, wie die AfD heute, kritisieren, dass das sozusagen nicht an der deutschen Grenze haltmacht; man kann es aber auch verstehen; denn in einer digitalen Welt – um es einfach auszudrücken – haben wir auch technische Möglichkeiten, die weit über die nationalen Grenzen hinausgehen. Alles ist fließender geworden. Insofern ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch nachvollziehbar. Unser Gesetzentwurf schafft für die strategische Auslandsfernmeldeaufklärung eine Rechtsgrundlage, die – und da darf ich Herrn Professor Dietrich aus der Anhörung zitieren – „unter den Gesichtspunkten der Rechtsstaatlichkeit im internationalen Vergleich eine Vorbildfunktion einnehmen kann“. Die Einhaltung dieser Vorgaben bei der Ausland-Ausland-Überwachung kontrolliert der neue Unabhängige Kontrollrat, quasi das Herzstück dieser Reform. Der Unabhängige Kontrollrat besteht aus Bundesrichtern und Bundesanwälten. Er verfügt mit seiner neuen Struktur über eine größere Qualität und auch über eine technisch deutlich mehr ausgeweitete Expertise als das Vorläufergremium. Die Mehrheit der Sachverständigen hat uns in der Anhörung auch bestätigt, dass wir mit diesem Gesetz die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. ({0}) – Mehr geht immer. – Dass wir dieses komplexe Gesetzgebungsverfahren nun so zügig auf den Weg bringen konnten – das ist wirklich schnell und zügig gewesen –, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist heute schon oft Danke schön gesagt worden. Danke auch den Kollegen von der SPD! Ein besonderer Dank geht aber an Roderich Kiesewetter, den neuen Vorsitzenden unseres Gremiums, ({1}) für das gute Verhandlungsergebnis und vor allen Dingen für die gute Zusammenarbeit. Er arbeitet wie sein Vorgänger Armin Schuster parteiübergreifend eng und vertrauensvoll mit allen zusammen; ich glaube, das kann man sagen. Wir sind uns vielleicht nicht immer in allem einig. Aber genau das ist der richtige Weg, um Vertrauen auch in diesen sensiblen Sicherheitsbereichen zu schaffen. Allen anderen Kollegen danke ich auch dafür, dass wir in diesem Gremium, glaube ich, eine besondere Art der Zusammenarbeit haben, auch über Parteigrenzen hinweg. Sie ist gut, sie ist sachlich orientiert. Man muss heute nicht mit allem einverstanden und zufrieden sein. Aber ich glaube, die Arbeit in unserem Gremium ist geprägt von einem großen und guten Miteinander. Ich denke, das ist auch für den BND sowie für alle Nachrichtendienste sehr, sehr wichtig. Der BND kann mit dem Ergebnis leben. Es wird jetzt um die technische Umsetzung gehen. Die wird nicht einfach. Aber wenn wir das heute beschließen, kann auch damit zügig begonnen werden. Für uns als Parlamentarier ist es wichtig, dass das Parlamentarische Kontrollgremium seine zentrale Stellung als Kontrollorgan für die Nachrichtendienste des Bundes behält. Das Gesetz stärkt in einem ersten Schritt die Rolle des PKGr. Wir werden die Mitglieder des Unabhängigen Kontrollrats auswählen. Der Unabhängige Kontrollrat muss uns auch regelmäßig berichten. Trotzdem müssen wir im Kontext dieses neuen Gefüges als Parlamentarisches Kontrollgremium gut auf uns achtgeben. Auch ich gehe davon aus, dass wir in der Zukunft vielleicht noch die eine oder andere Änderung zur Stärkung des Parlamentarischen Kontrollgremiums in Angriff nehmen werden. Eine gute Kontrolle der Nachrichtendienste ist wichtig. Sie sorgt für Rechtssicherheit und Vertrauen in die Arbeit der Nachrichtendienste. Gleichzeitig müssen unsere Nachrichtendienste ein vertrauenswürdiger Partner bleiben. Aber eine rundum zuverlässige parlamentarische Kontrolle dient der Qualitätssicherung und der Akzeptanz unserer Nachrichtendienste. Wir haben nach dem NSA-Skandal das Parlamentarische Kontrollgremium mit einer umfassenden Reform massiv gestärkt. Der Ständige Bevollmächtigte und sein Team, denen ich heute ebenfalls für die Arbeit danken möchte, haben sich als sehr schlagkräftig und für unsere Arbeit sehr wichtig herausgestellt. Wir können wirklich sehr froh sein, dass diese Reform damals so auf den Weg gebracht worden ist. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat uns aber nicht nur aufgegeben, das Gesetz zu ändern und eine Rechtsgrundlage zu schaffen, sondern es hat ganz klar die herausragende Bedeutung des BND für die Sicherheit in Deutschland in seinem Urteil betont. Informiertes Regierungshandeln im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung braucht leistungsfähige Nachrichtendienste. Daher möchte ich mich heute auch beim BND und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken, die nächste Woche ihr 65. Jubiläum feiern, aber damit noch nicht in Rente gehen dürfen; denn wir brauchen sie. Vielen Dank für Ihre Arbeit! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andrea Lindholz. – Es wäre ganz gut, wenn Sie Ihre Gespräche runterdimmen könnten. – Letzter Redner in dieser Debatte: Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004303, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen herzlichen Dank. – Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon mehrfach gehört, was der Anlass für die Novellierung des BND-Gesetzes war: Wir haben vom Bundesverfassungsgericht eine Hausaufgabe bekommen. Ich kann in das einsteigen, was Kollege Kiesewetter und Kollege Grötsch gesagt haben. Ich glaube, wir haben die Hausaufgabe gemeinsam in einer großen Anstrengung – ich will jetzt nicht von Blut, Schweiß und Tränen reden, Roderich; aber ich glaube, es war wichtig, dass wir das angegangen sind – bewältigt, und das Ergebnis kann sich sehen lassen, Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, einerseits den Grundrechtsschutz, den uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, deutlich zu machen und in die Novellierung zu übernehmen, aber gleichzeitig auch den Mitarbeitenden beim Bundesnachrichtendienst Rechtssicherheit zu geben. Wer mal dort mit den Kolleginnen und Kollegen gesprochen und sich die Prozesse angeschaut hat, weiß, dass dieser Punkt nicht zu unterschätzen ist. Deshalb steige ich in das ein, was Kollegin Lindholz gerade gesagt hat: Auch von mir ein großes und herzliches Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes! ({1}) Sie sorgen für ein klares Lagebild für uns, und im Extremfall sichern sie Leben und sorgen dafür, dass die Bundeswehr und viele andere im Ausland ihre Aufgaben machen können. Vielen herzlichen Dank dafür! Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Anstrengungen im harten Ringen gelohnt haben, will ich an zwei Punkten deutlich machen: Erstens. Wir haben eine Stärkung des Parlamentarischen Kontrollgremiums erreicht. Wir haben erreicht, dass die Informationspflichten ausgebaut wurden. Wir haben erreicht – das können diejenigen, die mit mir im PKGr sitzen, bestätigen –, dass die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gremien, wie wir sie in der Kontrollarchitektur haben, ein klein wenig verbessert wurde. Kollege von Notz, jetzt kann man sagen: Da hätte noch mehr drin sein müssen. – Ja, das mag sein, und ich gebe Ihnen recht. Wir werden uns in Zukunft noch intensiver darum kümmern müssen, die wichtigste Kontrolle, die parlamentarische Kontrolle, noch weiter auszubauen. Wir haben auch einen zweiten Punkt erreicht, nämlich die Stärkung der administrativen Kontrolle im UKR. Das hört sich an wie ein technokratischer Bereich. Aber wenn wir einerseits den juristischen Bereich, nämlich die Rolle der Richterinnen und Richter dort, deutlich hervorgehoben haben, dann gehört andererseits auch dazu, dass die Leute, die die Arbeit tatsächlich machen, die also auswerten, draufschauen und für die juristischen Entscheidungen zuliefern, gut aufgestellt sind. Ich betone eines: nämlich die Stärkung der Rolle des BfDI. Das ist uns gelungen. Das ist gut und richtig so, Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich will am Ende einen kleinen Blick in die Glaskugel werfen. Denn wir haben uns auch auf Folgendes verständigt: Die nachrichtendienstliche Situation in Deutschland hat sich verändert. Wir sehen, dass sich Schnittstellen gebildet haben – beispielsweise beim militärischen Nachrichtenwesen, aber auch beim Zollkriminalamt, bei der Bundespolizei –, die wir uns künftig noch etwas genauer anschauen müssen. Es bleibt zentral: Die parlamentarische Kontrolle muss auf der Höhe der Zeit sein. Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns die Aufgabe gestellt. Heute können wir Verantwortung übernehmen: für den BND, für die Sicherheitsarchitektur in Deutschland, für dieses Gesetz. Ich rufe Sie alle dazu auf, dem zuzustimmen. Danke schön. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Hitschler. – Damit schließe ich die Aussprache.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum ersten Mal rief die NATO den Bündnisfall nach Artikel 5 ihrer Charta aus – das war vor 20 Jahren, nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001. Seitdem sind wir und unsere Bundeswehr mit den NATO-Verbündeten in Afghanistan. Dieses Land hatte auch schon zu dem Zeitpunkt 20 Jahre Krieg hinter sich. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Moment, Frau Özoğuz. – Ich meine das jetzt wirklich ernst: Wenn Sie nicht aufhören, Ihre Gespräche hier im Raum zu führen, die für die Rednerin absolut störend sind, dann unterbreche ich jetzt, und dann kommt das Sitzungsende nicht um 4 Uhr, sondern um 5 Uhr. Ich meine das wirklich im Ernst. Sie können Ihre Gespräche wirklich woanders führen. Wir sind hier in einer Afghanistan-Debatte. ({0}) Bitte, Frau Özoğuz, Sie haben das Wort.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Afghanistan hatte bereits 20 Jahre Krieg hinter sich, die sowjetische Besatzung, den Bürgerkrieg und das Talibanregime. Wir werden hier heute natürlich zu ganz unterschiedlichen Schlüssen kommen, wir werden debattieren. Das ist ja auch richtig so. Aber eins möchte ich ganz an den Anfang stellen: Unsere Bundeswehr hat einen ganz wichtigen Beitrag für einen besseren Zugang zu Bildung, für die Ermöglichung so vieler ziviler Projekte, die den Menschen das Leben erleichtern, und für die Stärkung von Frauen-, Kinder- und Menschenrechten leisten können. Dafür gebührt ihnen unser aufrichtiger Dank. ({0}) 59 Soldaten haben dabei ihr Leben verloren, und das dürfen wir nie vergessen. Jetzt stehen die Zeichen auf Abzug. Heute sehen wir zwei Entwicklungen, die man niemals gegeneinander aufrechnen sollte – ich habe das auch schon im Ausschuss gesagt –: Es ist eine Errungenschaft, dass die Müttersterblichkeit zurückgegangen ist, dass Mädchen in ganz vielen Orten so selbstverständlich zur Schule gehen. Es ist übrigens auch eine Errungenschaft, dass die Taliban verhandeln, auch mit den Frauen, die vonseiten der afghanischen Regierung mit am Tisch sitzen. Ich durfte einige Male mit ihnen zwischen diesen Verhandlungen sprechen. Diese Frauen sind sehr bewundernswert; meine Kollegin Siemtje Möller wird noch darauf eingehen. Es gehen heute keine weltweiten Anschläge mehr von Afghanistan aus. Aber es gibt noch eine andere Seite: Es stimmt leider auch, dass der Konflikt immer noch zu den blutigsten auf der Welt gehört. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Ohne internationale Hilfe kann sich die Afghanische Republik nicht finanzieren. Auch die Korruption ist ein weitverbreitetes Problem. Die fragile Sicherheitslage mit Anschlägen, insbesondere auf Frauen, Journalisten und Bildungseinrichtungen, bedeutet doch vor allem eins: Ein sofortiger Abzug der internationalen Truppen ohne ein Ergebnis der Verhandlungen, die zurzeit geführt werden, könnte alles Erreichte zur Disposition stellen. Das sollten wir nicht zulassen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den kommenden Monaten bietet sich vielleicht die letzte Chance, einen halbwegs stabilen Frieden auf den Weg zu bringen. Das jüngste Treffen der NATO-Außenminister zeigt, dass die Biden-Administration erkannt hat, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten, und sich künftig wieder mit ihren Partnern eng abstimmen will. Washington hat zwar noch keine finale Entscheidung über den Zeitraum des Verbleibs der US-Truppen in Afghanistan getroffen, aber schon jetzt ist klar: Der gemeinsame Tenor der NATO-Bündnispartner wird sein: ein geordneter, verantwortungsvoller Rückzug. Was wir jetzt brauchen, sind die Verhandlungen zwischen Taliban und afghanischer Regierung. Wir müssen gemeinsam darauf hinwirken, dass beide Seiten ein ordentliches und auf Gewaltfreiheit beruhendes Abkommen zu Papier bringen. ({2}) Davon, dass die Verhandlungen mühevoll und zäh sind, muss man niemanden überzeugen. Aber ich möchte schon noch sagen, dass ich der Verteidigungsministerin sehr danke, dass sie alles dafür tut, unsere Soldatinnen und Soldaten in dieser Lage bestmöglich zu schützen. Ich danke auch dem Außenminister, dass er die Doha-Verhandlungen so intensiv begleitet und gerade auch die Frauen unterstützt. ({3}) Deshalb ist es zu diesem Zeitpunkt so wichtig, eine Verlängerung des Mandats der Mission Resolute Support der NATO – mit unseren deutschen Soldaten und Soldatinnen vor Ort – hinzubekommen. Ich bitte Sie um Unterstützung des Antrags. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Rüdiger Lucassen. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Afghanistan-Debatte dreht sich schon lange nicht mehr um Afghanistan. Es geht um die Fragen, wie die Bundesregierung Außenpolitik betreibt, wie die Bundesregierung mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr umgeht und wie die Bundesregierung das Leben unserer Soldaten einsetzt. Die Antwort lautet: Sie tut das ziel- und planlos, und zwar seit geschlagenen 20 Jahren. ({0}) Meine Damen und Herren, bei der Frage des Afghanistan-Einsatzes gibt es zwei Kategorien von Menschen in Deutschland: die Dummen und die Wissenden. Die Dummen glaubten immer an die Märchen vom zivilen Wiederaufbau, von der Partnerschaft mit den afghanischen Sicherheitskräften, der deutschen Verantwortung für Afghanistan und vom Erfolg der internationalen Gemeinschaft. Die Dummen ließen sich sogar einreden, dass die Afghanen auf die Paschtunen-Version des Grundgesetzes warten würden. Erinnern Sie sich noch? Sie redeten hier im Bundestag vom Exportschlager Grundgesetz – alles nur Wohlfühlgeschwätz, vorgetragen, um die rot-grünen Koalitionspartner einzulullen und die Wahrheit vor dem Wahlvolk zu verschleiern. ({1}) Den Dummen kann man aber keinen Vorwurf machen; denn sie sind ja dumm. Viel Schlimmer ist die zweite Kategorie von Menschen: die Wissenden, diejenigen, die trotz aller Erkenntnisse über die Lage in Afghanistan von „Erfolg“ reden, diejenigen, die statt einer Ausstiegsstrategie nur Durchhalteparolen verkünden, diejenigen also, die trotz einer gesicherten Erfolglosigkeit weiterhin Soldaten ins Risiko nach Afghanistan schicken. Und diese Leute sitzen hier auf der Regierungsbank. ({2}) Die Wahrheit ist: Alle beteiligten Staaten in Afghanistan – auch die Amerikaner – wollen raus; aber keiner will es offen sagen. Eines der letzten Argumente der Bundesregierung ist Bündnistreue. Und natürlich ist da etwas dran. Einfach so rauszugehen, wäre natürlich, wie die Bundesregierung immer warnt, ein Zeichen für Unzuverlässigkeit. Gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung. Die Bundesregierung zeigt sich bei der Kernaufgabe der NATO, der Landes- und Bündnisverteidigung, seit Jahren maximal unzuverlässig. Ist Ihnen mal die Idee gekommen, Ihre Zusagen von Wales in Bezug auf den Verteidigungshaushalt einzuhalten, um nicht in Afghanistan Zuverlässigkeit simulieren zu müssen? ({3}) Außerdem gibt es bereits gelungene Beispiele für einen Ausstieg: Kanada. Die Kanadier haben Afghanistan bereits 2011 verlassen – nicht „einfach so“, sondern in Absprache mit den Verbündeten –, und heute sind sie immer noch in der NATO. Ich habe noch eine verwegene Idee für die Bundesregierung: Tun Sie das, was normale Regierungen tun, und machen Sie normale Politik für unser Land. Ihr Job ist es nämlich nicht, auf einen Anruf aus Washington zu warten, um zu erfahren, was als Nächstes passieren soll. Übernehmen Sie die Initiative in der Afghanistan-Politik! Starten Sie mit dem Ausstieg aus dem Endloskrieg, und setzen Sie sich mit diesem Ansatz international durch. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Rüdiger Lucassen. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Johann Wadephul. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist das 20. Mal – die Kollegin Özoğuz hat darauf hingewiesen –, dass wir über ein Afghanistan-Mandat diskutieren. Es ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten Mandate nach den schrecklichen Verlusten 2010. Es ist ein Übergangsmandat. Der Umstand, dass es eine Übereinkunft der Amerikaner mit den Taliban gegeben hat, am 30. April dieses Jahres abzuziehen, verlangt in der Tat eine Rechtfertigung, eine Begründung. Es ist eine schwierige Abwägung. Ich bin dankbar, dass die Freien Demokraten und auch viele Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Vorhaben der Koalition folgen und ihm zustimmen. Natürlich hat es im Zuge dieses Mandats Rückschläge gegeben; das ist vollkommen klar. Es ist durch den militärischen Einsatz, durch unseren zivilgesellschaftlichen Einsatz und auch durch unseren Einsatz auf diplomatischer Ebene nicht automatisch alles gut und richtig. Wir werden daraus Schlüsse ziehen müssen. Auch ich bin der Auffassung, dass wir diesen Einsatz evaluieren müssen. Meine Kollegin Heinrich hat kürzlich öffentlich gesagt – ich bin froh, dass wir uns hier mit den Freien Demokraten einig sind; Frau Strack-Zimmermann hat auch schon darauf hingewiesen –, dass wir uns angucken müssen: Was ist in den 20 Jahren an Fehlern gemacht worden? ({0}) Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen? Ich glaube, das sind wir den Soldatinnen und Soldaten schuldig. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag zustimmen, weil uns das die Vernunft gebietet, weil wir Verlässlichkeit zeigen und weil wir Verantwortung übernehmen. ({1}) Erstens. Warum ist das vernünftig? Wir müssen uns ins Jahr 2001 zurückversetzen. Damals haben wir, die NATO und viele weitere Staaten, eingegriffen, weil sich so etwas wie der 11. September 2001 niemals wiederholen sollte. Es ging und es geht in Afghanistan um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, vor allem gegen die Massenmörder von al-Qaida. Und wir waren erfolgreich. Afghanistan ist nicht mehr der sichere Zufluchtsort für internationalen Terrorismus, der er noch 2001 war. Diesen Erfolg, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt es zu sichern. Deswegen setzen wir den Einsatz jetzt fort. ({2}) Wir stehen vor einem Kompromissfrieden in Afghanistan, einem Kompromissfrieden mit den Taliban. Das haben wir uns vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können. Doch es braucht einen solchen Frieden, damit das Land Frieden und die Gewalt ein Ende findet. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das erreicht werden kann. Nur durch den militärischen Einsatz auch der Bundeswehr haben wir eine militärische Pattsituation erreicht. Nur deswegen, weil Militär in Afghanistan präsent ist, wollen die Taliban überhaupt verhandeln. Natürlich brauchen wir eine politische Lösung, eine Versöhnungslösung in diesem Land, aber dazu ist noch militärischer Einsatz – man kann es bedauern, aber man muss es realistisch sehen – notwendig. Zweitens. Wir sind verlässlich. Die Amerikaner haben uns in der Tat gebeten, der neuen Administration von Joe Biden zur Seite zu stehen und es ihr zu ermöglichen, einen Friedensschluss herbeizuführen, der sich an konkreten Bedingungen orientiert. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, die bei ihrer Entscheidung noch überlegen, sagen: Will man Joe Biden nach vier Jahren Trump enttäuschen und die Unterstützung verweigern? Das wäre das falsche Signal. Wir brauchen die Amerikaner, und wir brauchen den Erfolg der Biden-Administration. ({3}) Alle NATO-Partner wollen den Einsatz fortsetzen. Deswegen sage ich an Bündnis 90/Die Grünen: Es reicht nicht, ins Wahlprogramm hineinzuschreiben, dass man zu den Verpflichtungen in der NATO steht. Wenn die NATO an dieser Stelle den Einsatz fortsetzen will, dann muss man im Rahmen der NATO solidarisch handeln. ({4}) Wenn Sie regieren wollen, wenn Ihre Spitzenleute sich für kanzlerfähig halten, dann müssen Sie auch zeigen, dass Sie regierungsfähig sind, dass Sie bündnisfähig sind, dass Sie wirklich in der Lage sind, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Deswegen müssen Sie zustimmen. Sie dürfen sich nicht wegducken. Das wäre das falsche Zeichen. ({5}) – Herr Kollege Nouripour, ich bin sehr dankbar, dass Sie das erkennen und zustimmen. Ich will Ihnen und Ihrer Fraktion da Unterstützung zusagen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine schlechte Argumentation gerade! Ganz schlechte Argumente, die Sie haben! – Frau Kollegin, ich will wiederholen, was Frau Özoğuz vorhin schon gesagt hat. In diesem Land sind gerade Frauen von den Taliban in einer brutalen Steinzeitart misshandelt worden, wie wir es noch nicht erlebt haben. Wir – Sie haben das früher unterstützt – haben durch den Einsatz unserer Bundeswehr gerade für die Bildung der Frauen etwas erreicht. Wer jetzt abzieht und das Land den Taliban überlässt, überlässt auch die Frauen in Afghanistan wieder den Taliban, und das ist dann Ihre Verantwortung. ({6}) Genderpolitik gibt es nicht nur hier, wenn es um das Sternchen geht. Genderpolitik gibt es auch in Afghanistan. ({7}) Zeigen Sie Engagement! Engagieren Sie sich! Zeigen Sie, dass Sie regierungsfähig sind. Es gibt viele taffe Frauen in Afghanistan. Gucken Sie sich die Dokumentation im ZDF über eine Bürgermeisterin an, die sagt: Wir wollen weiterhin die Unterstützung der Alliierten, damit wir unser Land weiter aufbauen können. – Es ist eine Demokratie, natürlich nicht unbedingt so wie in der Schweiz oder in der Bundesrepublik, aber es ist ein demokratisches Land, das für Freiheit und für Rechtsstaatlichkeit kämpft. Das müssen wir unterstützen. Ich möchte die Verluste ansprechen, die es in der Tat gegeben hat. Wir haben 59 Soldatinnen und Soldaten verloren. Wir schicken Soldaten in einen schwierigen Einsatz und sollten unseren Soldaten danken. Ich möchte an dieser Stelle – auch wenn sie vielen Anwürfen ausgesetzt war – die verstorbene Karin Strenz erwähnen, die Weihnachten – nach meiner Kenntnis als einzige Abgeordnete – mit den Soldatinnen und Soldaten vor Ort gefeiert hat. Auch das gehört dazu. Das möchte ich an dieser Stelle erwähnen. Wir sind unseren Soldatinnen und Soldaten dankbar für ihren Einsatz. Wir unterstützen sie. Sie ermöglichen, dass Afghanistan eine gute Zukunft hat. Bitte stimmen Sie dem Antrag zu. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Johann Wadephul. – Ich möchte noch darauf hinweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich die Urnen für die namentliche Abstimmung über den Antrag der FDP noch ungefähr acht Minuten offen lasse. Falls Sie noch nicht abgestimmt haben: Bitte vergessen Sie das nicht. Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank.- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr engagiert sich seit 20 Jahren in Afghanistan. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir in diesem Zusammenhang über eine Abzugsperspektive sprechen bzw. sprechen müssen. Wir brauchen aber nicht nur eine Abzugsperspektive, sondern wir brauchen auch eine Bewertung, eine Bilanz des gesamten Einsatzes der letzten Jahre. ({0}) Eine Abzugsperspektive muss selbstverständlich international abgestimmt werden. Gemeinsam rein, gemeinsam raus! Dieser altbekannte Grundsatz ist wieder von Bedeutung, und das ist auch gut so. ({1}) Die Trump-Administration hat aus unserer Sicht viele Fehler gemacht. Sie hat bei den sogenannten Friedensverhandlungen mit den Taliban den Fehler gemacht, die Taliban massiv aufzuwerten, gleichzeitig aber die afghanische Regierung abzuwerten. Leider ist die Situation in Afghanistan nach wie vor extrem komplex. Ja, es wurden Fortschritte gemacht, aber die Gewalt gegen die Bevölkerung und die Regierungskräfte hält weiter an. Die Bilanz der letzten 20 Jahre fällt also leider nicht nur positiv aus. Ich wünschte, ich könnte hier anderes behaupten. Trotz der bekannten Schwierigkeiten darf ein Abzug der Bundeswehr vor allem weder kopflos noch im Alleingang vollzogen werden. ({2}) Das ist für uns nicht nur eine Frage der Verantwortung, sondern auch eine Frage der Bündnisfähigkeit und des Ansehens Deutschlands in der Welt. ({3}) Unsere Fraktion wird daher der Verlängerung des Mandats heute mehrheitlich zustimmen. 20 Jahre, das ist eine verdammt lange Zeit, und das waren auch verdammt harte Jahre für unsere Soldatinnen und Soldaten. Ihnen gelten unsere Anerkennung und unser Dank. Wir können auf die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan sehr stolz sein. ({4}) Ihnen und den Menschen in Afghanistan sind wir natürlich Antworten schuldig. Wir sind den Menschen in unserem Land gegenüber verpflichtet, zu erklären, warum die Bundeswehr in Afghanistan ist, und wir sind den Menschen in unserem Land gegenüber verpflichtet, zu erklären, warum Sicherheit in Afghanistan auch ein Beitrag zur Sicherheit in Deutschland ist. Deswegen haben wir als FDP-Fraktion auch erneut einen entsprechenden Entschließungsantrag vorbereitet. Klar ist: Das absehbare Ende des militärischen Einsatzes bedeutet nicht gleich ein Ende des Engagements vor Ort. Die Situation in Afghanistan ist nach wie vor fragil, und wir dürfen nicht zulassen, dass Afghanistan eines Tages wieder Brutstätte für internationalen Terrorismus wird. Dazu haben wir uns alle in diesem Haus verpflichtet. ({5}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur mittels massiver internationaler Unterstützung kann der Staat am Hindukusch langfristig stabilisiert werden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Ende.

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Die Arbeit ist selbst nach dem Abzug der Bundeswehr noch längst nicht getan. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Djir-Sarai. – Ich rufe den nächsten Redner auf, und das ist für die Fraktion Die Linke Tobias Pflüger. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in Afghanistan hat sich durchaus verändert. Es gibt eine sicher völlig unzureichende, aber immerhin vorhandene Vereinbarung von Doha, nach der die ausländischen Truppen zum 1. Mai 2021 abziehen sollen. Nach allem, was man hört, will sich die US-Administration nicht daran halten. Und jetzt bekommen wir von der Bundesregierung – als wäre nichts gewesen – den fast gleichen Antrag wie jedes Jahr vorgelegt, diesmal mit einer Verlängerung bis zum 31. Januar 2022. Was soll das denn? Was soll das, dass hier ein Antrag vorgelegt wird, ohne die konkrete Situation vor Ort mit zu berücksichtigen? ({0}) Die Bundesregierung hätte ja eine konditionierte Verlängerung von einigen Monaten beantragen können, um den Abzug vollständig abzuwickeln. Wenn Sie das deshalb machen, um das Thema „Bundeswehr in Afghanistan“ aus dem Wahlkampf rauszuhalten, dann – das sage ich Ihnen klipp und klar – haben Sie sich geschnitten. Für uns als Linke ist das eine Grundsatzfrage. Wir wollen, dass die Bundeswehr endlich aus Afghanistan abgezogen wird. ({1}) Und wieso entscheiden Sie für eine neue Regierung ab Oktober dieses Jahres? Scheitert dieser Abzug, dann drohen neue Angriffe der Taliban – auch auf die Bundeswehr. Diese Gefahr besteht; das geben Bundesregierung und NATO ja zu. Die Bundeswehr ist dann in der schwierigen Situation, den Abzug zu organisieren, während der Krieg wieder stärker aufflammt. Deshalb appelliere ich an Sie: Der Abzug ist vereinbart, die Bundeswehr hat sich darauf eingestellt. Das ist die Gelegenheit, diesen Kriegseinsatz endlich zu beenden! ({2}) Die NATO steht in Afghanistan „vor einer gescheiterten Mission“, kommentiert die „FAZ“. Und Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik sagt klar: Wenn die NATO das Abkommen mit den Taliban brechen sollte und länger im Lande verweilt, gefährdet sie die westlichen Truppen und verharrt weiterhin in einem Krieg, den sie nicht gewinnen kann. Genau so ist es, und deshalb sind wir für einen Abzug der Bundeswehr. ({3}) Nach 20 Jahren westlicher Intervention ist das Land tief gespalten und in den Krieg versunken. Nach UN-Berichten wurden allein im vergangenen Jahr Tausende Zivilistinnen und Zivilisten getötet; Hunderttausende mussten vor den Kämpfen fliehen. Und in Afghanistan grassiert Corona, und zwar heftig. Das Auswärtige Amt schreibt, Afghanistan sei ein „Gebiet mit besonders hohem Infektionsrisiko“. Es heißt dort: Vor Reisen nach Afghanistan wird gewarnt. Deutsche Staatsangehörige werden aufgefordert, Afghanistan zu verlassen. Und in dieser Situation werden Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben! Ich halte das für unverantwortlich. Das muss sofort beendet werden. ({4}) Wir wollen, dass keine Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden, und wir wollen, dass dieser Bundeswehreinsatz in Afghanistan endlich beendet wird. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tobias Pflüger.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht neu im Deutschen Bundestag, muss aber gestehen, dass es kaum eine Debatte gibt, die mich so sehr aufwühlt wie die jährliche um den Bundeswehreinsatz in Afghanistan; denn es geht um so endlos viel, und die Entscheidung ist so unglaublich schwer. Alle, die sich hierhinstellen und so tun, als wäre es total einfach, zu entscheiden, beschäftigen sich einfach nicht mit den Risiken dieses Einsatzes. ({0}) Bei der Debatte gilt es, über Diplomatie zu reden, ja, über Abzug zu reden, ja, und über die Geduld unserer Öffentlichkeit zu reden, darüber, inwieweit sie noch da ist, ja. Wir dürfen dabei aber nicht außer Acht lassen, wie es den Menschen in Afghanistan geht. Die Menschen in Afghanistan begehen derzeit das Neujahrsfest und damit den Frühlingsanfang, und es ist so schwer wie selten in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Die Pandemie grassiert. Das renommierte Afghanistan Analysts Network spricht davon, dass in Afghanistan mittlerweile mehr Menschen an den Folgen von Covid gestorben sind als bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in den letzten 20 Jahren. Dennoch wird die Gewaltspirale immer weiter angeheizt, vor allem auch von den Taliban. Der größte Wunsch der Menschen in Afghanistan in dieser Situation ist der nach Frieden. Die Verhandlungen der Trump-Administration mit den Taliban, ohne dass irgendeiner von der afghanischen Regierung oder der Zivilgesellschaft dabei war und ohne die Beteiligung einer einzelnen afghanischen Frau, war ein großer Schaden für genau diesen Wunsch. ({1}) Wie wir diesen Schaden beheben können, ist nicht klar; darauf gibt es keine einfachen Antworten. Auch um das Eindämmen werden wir noch lange miteinander ringen müssen. Meine Fraktion wird diesem Mandat mehrheitlich nicht zustimmen – und ich kann das sehr gut nachvollziehen –, aus vielen Gründen, auch deswegen, weil wir alle kein Vertrauen mehr haben in eine Bundesregierung, bei der dann am Ende Herr Kollege Wadephul nervöse Wahlkampfreden hält und von Evaluation spricht, die seit 20 Jahren nicht gemacht wird ({2}) und die Ihre Regierung die ganze Zeit verweigert. Wenn Sie davon sprechen, dann machen Sie das bitte auch! Genauso hat es nichts mit der Realität zu tun, wenn Sie uns sagen, wir sollten das wegen Biden machen. Es gibt Kollegen in meiner Fraktion, die wie ich zustimmen werden, weil wir ein Signal an die afghanische Bevölkerung senden wollen, aber nicht wegen Joe Biden. ({3}) Im Übrigen: Sie sprechen davon, wie gravierend die Sicherheitslage in Afghanistan ist. Dann ist es aber doch einfach nicht zu ertragen, dass bei der Frage von Rückführungen genau diese Sicherheitslage von dieser Bundesregierung beschönigt wird. Das muss aufhören. ({4}) Wir, Bündnis 90/Die Grünen, sind uns in einem einig: Wie auch immer es in Afghanistan weitergeht, wie auch immer es mit dem Bundeswehreinsatz dort weitergeht, wir stehen solidarisch an der Seite der Menschen in Afghanistan. Ich wünsche ihnen, dass dieses Jahr ein besseres wird, auch wenn nicht viel dafür spricht. Ich wünsche den Menschen in Afghanistan von dieser Stelle aus ein Neujahr, das friedfertig sein könnte und sein soll und frei und gut – Mardome Mohtarame Afghanestan Norooz-e-shoma pirooz, azad va Solh-amiz bad! ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Zur Erklärung, fürs Protokoll: Der letzte Satz war das, was Sie vorher auf Deutsch gesagt hatten? – Gut. Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Siemtje Möller. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Immer, wenn ich solche Reden wie gerade hier von der AfD höre und ertragen muss, denke ich an Shajillah Hadeed. Frau Hadeed habe ich auf einer Afghanistanreise 2019 kennengelernt. Sie war damals Vorsitzende des Frauenrates der Provinz Balch. In einer dieser typischen Runden mit lauter männlichen Gesprächsteilnehmern saßen wir bei einem landestypischen Mittagessen in einem Zelt, und Frau Hadeed, gekleidet in ein farbenfrohes Gewand, mit einem lockeren Kopftuch, nutzte die Gunst der Stunde, um einen flammenden Appell an die deutsche Delegation zu richten. Sie sprach von ihrer persönlichen Situation in der Zeit der Talibanherrschaft, von Unterdrückung, Entrechtung, Willkür, Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen und von ihrer Furcht vor dem wachsenden Einfluss der Taliban, davor, dass sich genau dieselbe Situation wieder einstellen würde, wenn wir abzögen. Sie beschwor uns, die internationale Präsenz fortzuführen, und ließ sich dabei auch nicht von den Beschwichtigungsversuchen des anwesenden Provinzgouverneurs beirren; denn sie wusste ganz genau, dass sie hier nicht zu gehorchen hatte – wie unter anderen Regimen –, sondern als freie, stolze Frau dort sprechen durfte. Mich hat das zutiefst bewegt; denn für diese Frauen lohnt es sich dort zu sein. ({0}) Es zeigt zudem, dass wir in Afghanistan auf der richtigen Seite stehen: auf der Seite der Freiheit und der Selbstbestimmung dieser Frau, stellvertretend für die afghanische Bevölkerung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre Afghanistan-Einsatz heißt leider nicht, dass alles gut ist. Es ist immer noch gefährlich und mühsam dort. Aber 20 Jahre nach dem 11. September scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein, was für ein Land Afghanistan damals war. Damals gab es keinen regelmäßigen Schulbesuch; es gab nicht einmal Schulgebäude für Mädchen. Es gab keine Wahlen. Es gab kein Rechtssystem. Es gab öffentliche Steinigungen. Afghanistan war ein Hort des internationalen Terrors. All das hat sich glücklicherweise geändert, auch dank der internationalen Kräfte und der intensiven Aufbauarbeit, die durch die zivilen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer vor Ort geleistet wird. ({1}) In einer denkbar unwägbaren Lage wollen wir heute zu einer Verlängerung des Mandates kommen. Eine belastbare Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien wäre die Grundlage für den möglichen Abzug. Die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung stocken, ebenso die zwischen den Taliban und den USA. Ich stelle hier mal die Frage: Welches Signal würden wir an die NATO senden, wenn wir jetzt abziehen? Das Signal: „Für uns gilt nicht mehr gemeinsam rein, gemeinsam raus“? Welches Signal würden wir an die afghanischen Sicherheitskräfte senden, die wir aufgebaut haben und die jeden Tag in Auseinandersetzungen mit den Taliban Verluste hinnehmen? Das Signal: „Wir entziehen euch die Unterstützung und überlassen euch den Taliban, die nur darauf lauern, dass sich ein aus ihrer Sicht müder Westen endlich zurückzieht“? Welches Signal würden wir an Frauen wie Shajillah Hadeed senden? – Ich finde, wir dürfen sie nicht alleine lassen, die afghanischen Sicherheitskräfte nicht und die Bevölkerung von Afghanistan nicht; sie setzen auf uns. ({2}) Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan war intensiver als alle anderen Einsätze. Er hat eine ganze Generation geprägt. Er hat die Bundeswehr verändert. Trotz aller Erfolge müssen wir anerkennen, dass viele Dinge anders gelaufen sind, als wir sie uns vorgestellt hatten. Es gab Rückschläge, Anschläge; wir haben 59 tote Soldaten zu beklagen. Den Angehörigen und den gefallenen Soldaten gegenüber sind wir zum Gedenken, zum respektvollen Umgang mit dem Einsatz und einem In-Verbindung-Bleiben verpflichtet. Und gerade weil der Abzug vermutlich nicht realisiert wird und die Taliban dann auch wieder gegen internationale Kräfte Gewalt ausüben werden, muss der Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten oberste Priorität haben. Kolleginnen und Kollegen, Demokratie lässt sich nur schwer exportieren, und Afghanistan hat noch einen langen Weg vor sich. Aber lassen Sie uns weiterhin Wegbegleiter sein, Wegbegleiter von Shajillah Hadeed, all der anderen Frauen und Mädchen und der afghanischen Bevölkerung! Lassen Sie uns beweisen, dass sie auf uns zählen können! Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Siemtje Möller. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Reinhard Brandl für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht das letzte Mal, dass wir hier im Bundestag über die Verlängerung eines Afghanistan-Mandates beraten. Ein Zeichen dafür, dass der Einsatz dem Ende zugeht, ist auch, dass wir ihn dieses Mal nur um zehn Monate und nicht um die üblichen zwölf Monate verlängern. Der Abzug ist in Sichtweite. Was ist unser Ziel für die nächsten Monate? Wir wollen ein Afghanistan hinterlassen, von dem keine Gefahr mehr für die westliche Welt durch Terrorismus ausgeht. Wir wollen ein Afghanistan hinterlassen, das zumindest so stabil und sicher ist, dass es eine Perspektive auf wirtschaftliche Entwicklung hat, ein Afghanistan, in dem die Menschen für sich eine Zukunft sehen und in dem sie freiwillig gerne bleiben. Ob dies gelingt, hängt ganz wesentlich von den innerafghanischen Friedensverhandlungen ab, die im Moment laufen. Klar ist: Ohne die internationale Gemeinschaft, ohne die internationale Präsenz wäre es nie zu diesen Verhandlungen gekommen. Natürlich liegen bei diesen Verhandlungen auch die internationale Truppenpräsenz vor Ort und die Entwicklungshilfe, die Hilfe, die wir im zivilen Bereich leisten, auf dem Tisch. Die Position der Taliban ist doch klar: Sie wollen die Truppen loswerden und das Geld behalten. Sie wollen die Entwicklungshilfe deshalb behalten, weil sie merken, dass sich damit das Leben der Menschen vor Ort verbessert. Und damit sie Akzeptanz vor Ort haben, müssen sie das Leben der Menschen verbessern. Dazu brauchen sie unsere Unterstützung. Wir sind auch bereit, weiter zu unterstützen. Die Bundesregierung hat ja klargemacht, dass mit einem Truppenabzug nicht das Ende der Entwicklungszusammenarbeit verbunden ist. Aber wir knüpfen unsere Hilfe an Bedingungen für genau diese Verhandlungen. Im Moment – das ist angesprochen worden – gibt es bei zwei Kernfragen keinen Fortschritt; das sind zum einen der Waffenstillstand und zum anderen die Verfassung. Die Situation in Afghanistan kann man momentan mit den Stichwörtern „fight and talk“ beschreiben; sie reden, aber sie kämpfen auch miteinander. Ob am Ende das Reden oder das Kämpfen überwiegt, ist noch nicht sicher. Sicher ist auf jeden Fall, dass, wenn wir zu früh und zu schnell abziehen, Afghanistan keine Chance hat, zu einer friedlichen Lösung mit den Taliban zu kommen. So bleiben wir dort noch einige Monate – vielleicht zehn, vielleicht müssen wir das Mandat auch noch einmal verlängern –, aber nicht auf ewig, sondern nur so lange wie nötig. Vielleicht sind es gerade die letzten Monate, die Afghanistan die Startchancen für eine bessere Zukunft geben. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({0})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist höchste Zeit, die betriebliche Mitbestimmung zu erweitern. ({0}) Seit Jahrzehnten wird die Mitbestimmung ausgehöhlt und damit die innerbetriebliche Demokratie geschwächt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Outsourcing, die Zunahme der Leiharbeit, die Zunahme der Werkverträge, die im Übrigen nichts anderes als organisierte Tarifflucht sind, die Rolle der Betriebsräte geschwächt haben. Ich finde, dass man dieser Schwächung der Betriebsräte viel zu lange zugesehen hat. ({1}) Aktuell erleben wir besonders in der Automobil- und Zuliefererindustrie, wie Zehntausende von Arbeitsplätzen durch radikale Kosteneinsparungsprogramme, durch Schließung und Verlagerung von Standorten vernichtet werden. Daimler, Schaeffler, Bosch, Mahle Behr, Mann+Hummel sind nur die bekanntesten Beispiele. Dabei haben diese Maßnahmen häufig gar nichts mit Corona und auch nichts mit der anstehenden Transformation zu tun. Die Manager nutzen die Gunst der Stunde, um zulasten der Belegschaften Kosten zu sparen und die Rendite hochzuhalten. Dem wollen wir nicht länger zuschauen. ({2}) Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass Standorte, die von den Belegschaften über Jahrzehnte aufgebaut wurden, von den Managern mit einem Federstrich geschlossen werden können. Genauso wenig Verständnis habe ich übrigens dafür, dass staatliche Hilfen an keinerlei Bedingungen zur Arbeitsplatzsicherheit und zum Klimaschutz geknüpft werden. ({3}) Trotz staatlicher Hilfen werden Dividenden ausgeschüttet, werden ganze Standorte geschlossen und Massenentlassungen vollzogen. Das ist das Gegenteil von einem solidarischen Weg aus der Krise. ({4}) Aber das eigentliche Trauerspiel ist, dass alle diese Maßnahmen über die Köpfe der Belegschaften und ihrer Interessenvertretungen hinweg erfolgen. Mehr noch: Betriebsräte werden häufig erpresst, indem Investitionen an Zugeständnisse bei Löhnen und Arbeitsbedingungen geknüpft werden. Hier wird eine Situation schamlos ausgenutzt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dem wollen wir nicht länger tatenlos zuschauen. Es ist Zeit für echte Mitbestimmung bei Betriebsänderungen, Standortverlagerungen, Entlassungen und massivem Stellenabbau. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was ist eigentlich mit euch? War nicht Mitbestimmung und Belegschaftsbeteiligung einmal euer Kernthema? ({6}) – Genau. Es wird Zeit, dass ihr das wieder entdeckt. Entdeckt dieses Thema! ({7}) Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Erweiterung der Mitbestimmung: die anstehende Transformation und Digitalisierung. Wer will, dass dieser Prozess nicht auf dem Rücken der Belegschaften ausgetragen wird, muss sicherstellen, dass sie mitentscheiden und mitbestimmen können, ({8}) und zwar keine Pseudobeteiligung durch unverbindliche Workshops, sondern gesetzlich garantierte Mitbestimmung. ({9}) Das gilt erst recht für den sozialökologischen Umbau: Wer Klimaschutz und die Sicherheit und Zukunftsfähigkeit der Arbeitsplätze zusammenbringen will, muss die Beschäftigten beteiligen und die Mitbestimmung erweitern. Dafür ist es höchste Zeit. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bernd Riexinger. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Jana Schimke. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stelle mir schon immer wieder einmal die Frage, wenn ich solche Anträge lese wie den heute von den Grünen oder auch von der Linkspartei – – ({0}) – Die Linke, Herr Birkmeier, Herr Birkwald, selbstverständlich. ({1}) Ich wundere mich schon immer sehr, wenn ich Ihre Anträge lese, was für ein Unternehmerbild Sie eigentlich haben, was für ein Bild Sie von der deutschen Wirtschaft haben und – vor allen Dingen – was für ein Bild Sie von der Sozialpartnerschaft haben, die in Deutschland seit Langem gelebt wird und vor allen Dingen erfolgreich gelebt wird, meine Damen und Herren. ({2}) Man darf an dieser Stelle doch eines einmal sehr deutlich sagen: Das, was wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Mitarbeitermitbestimmung, mit Tarifpolitik, mit Betriebsräten tun, das ist schon ein deutscher Sonderweg. Da muss ich sagen: Das ist in Europa nicht überall der Fall. Das leisten wir uns; das leisten wir uns auch mit Recht, aber das hat natürlich auch eine Kehrseite. Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen. Es führt natürlich dazu, dass sich betriebliche Prozesse verzögern können, ({3}) ja, es führt zu deutlich mehr Diskussion, und es schränkt natürlich auch ein Stück weit die unternehmerische Freiheit ein. Aber wir machen das, und das ist auch richtig so, und das leisten wir uns. Aber ich sehe es sehr kritisch, dass gerade auch vonseiten der Grünen jetzt der Vorschlag kommt, hier deutliche Ausweitungen vorzunehmen. Ich sage es an dieser Stelle noch einmal deutlich: Das, was wir bei der Mitarbeitermitbestimmung machen, ist natürlich eine Vertrauenspartnerschaft. Also, das ist schon ein Stück weit ein Bild, das wir auch verkörpern, in unserer Wirtschaft zu sagen, dass es hier auf gegenseitiges Vertrauen zwischen Arbeitnehmervertretern und der Arbeitgeberseite ankommt. Nur weil dieses Vertrauen seit Jahren so gut funktioniert, haben wir auch solche erfolgreichen Modelle von betrieblicher Mitbestimmung, von einer Betriebsratskultur, von einer Debattenkultur in den Unternehmen. Ich habe ein großes Interesse daran, dass das so bleibt. Deswegen glaube ich, dass es ein falscher Weg ist, hier jetzt für deutlich mehr Verschärfungen zu sorgen und auch deutlich mehr Rechte auf Eingriff in die unternehmerische Freiheit vorzusehen. Ich will an dieser Stelle auch einmal folgende Frage stellen, gerade an die Kollegen der Linken: Glauben Sie denn eigentlich, dass der Mitarbeiter am Ende der bessere Unternehmer ist? Es hat ja seinen Grund, warum wir ein System haben, wie wir es haben, warum wir Haftungsfragen begrenzen, warum wir sagen, wir haben hier eine Drittelbeteiligung, warum wir sagen, wir haben hier eine paritätische Beteiligung. Wenn Sie das alles ausweiten wollen und wenn Sie sogar den Menschen den Glauben vermitteln, dass wir damit Entlassungen in Deutschland verhindern können, weil Arbeitnehmerschaft mitreden kann, ({4}) dann, glaube ich, sind Sie an dieser Stelle auf dem Holzweg. Das sollte sehr deutlich festgehalten werden. Meine Damen und Herren, ich glaube, die deutsche Wirtschaft, unsere Unternehmen, haben ein großes Interesse daran, Mitarbeiter zu halten. Das erleben wir gerade jetzt in Zeiten der Coronakrise. Wir haben mit dem Kurzarbeitergeld ein sehr wichtiges, ein sehr erfolgreiches Instrument in diesem Land eingeführt, fortgeführt, ausgebaut. Jetzt zu sagen, man entlässt Mitarbeiter, nur um sich persönlich zu bereichern oder was auch immer zu tun, ist völlig an den Haaren herbeigezogen und entspricht nicht der Wahrheit. Einer Ihrer Vorschläge zielt zum Beispiel darauf ab, einen Mindestlohn von 12 Euro in Deutschland einzuführen. Genau das ist eine der Maßnahmen, die dazu führen, dass Beschäftigung in Deutschland abgebaut wird. ({5}) Wir wollen, dass unsere Unternehmen arbeiten können. Wir wollen, dass unsere Unternehmen Menschen beschäftigen, dass dieses Land weiterhin im Wohlstand lebt. Deswegen werden wir Ihre Anträge heute ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Das habe ich angekündigt, weil es schon mehrere Male den Versuch gab. Ich habe gesagt, es hat etwas mit der Zeit zu tun; deswegen keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen. Der nächste Redner, der jetzt das Wort hat, ist Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Werte Zuhörer zu Hause an den TV-Geräten! Es ist ein hehres Ziel, welches sich die Kollegen von der Linken dieses Mal auf ihre Fahnen geschrieben haben: Ausbau der Mitbestimmung und Verhinderung von Massenentlassungen. Das liest sich auf dem Papier gut, aber die genauere Betrachtung ist wie üblich: Es ist keine Substanz zu finden. Nicht nur, dass der Antrag auf eine einzige Seite passt ({0}) – da müssen Sie einmal schauen –, es zeigt einmal wieder, wie absurd die Linke versucht, Politik zu machen. Anstatt den Antrag zum Anlass zu nehmen, Chancen zu nutzen, um die Instrumente der Mitbestimmung den aktuellen Fragen anzupassen, ({1}) wird versucht, billig Stimmen zu bekommen, indem man vorgibt, besonders die Arbeiter in der Automobilbranche zu schützen. Jahrelang wurde das Rückgrat der deutschen Industrie bekämpft, um im Schulterschluss mit den Grünen Stimmen einzufangen. Aber im Wahljahr entdeckt man die neue Liebe zu dem kleinen Mann, der mit Schraubenschlüssel im Blaumann an der Werkbank steht. Im Zuge der allgemeinen Klimahysterie, sehr geehrte Linken, sind Sie sich nicht zu schade gewesen, Arbeitsplätze zu opfern, um dem Zeitgeist zu entsprechen. Da war Ihnen der Arbeitnehmer völlig egal. So etwas nenne ich Opportunismus! ({2}) Schaut man sich Ihren Antrag genau an, stellt man schnell fest, wie substanzlos und realitätsfern er aussieht. Sie wollen Beschäftigten und Betriebsräten Mitbestimmungsrechte bei fast allen Fragen einräumen und jeden Betrieb quasi lahmlegen. Natürlich bin ich ein großer Freund der Mitbestimmung. Aber sie muss machbar sein, Herr Kollege Riexinger; machbar muss sie sein. ({3}) Wir sollten das Miteinander im deutschen Arbeitsrecht stärken, anstatt immer nur vom Klassenkampf zu faseln; denn nur durch das Miteinander schaffen wir Arbeitsplätze. Liest man jedoch die weiteren Anträge durch, Herr Kollege Riexinger, die aus Ihrem Hause kommen, dann wird man sehen, dass diese weiteren Anträge Substanz haben. Da muss ich trotzdem sagen, Frau Krellmann – sie ist jetzt gerade nicht da, aber sie ist Mutter dieses Antrages –: Mir wird bange, wenn ich da von Anpassung des Betriebsbegriffes lese; ein einheitlicher Leitungsapparat muss nicht mehr bestehen. Mir wird bange um die Betriebsräte in unseren Unternehmen, wenn solche Sachen durchgehen. ({4}) Ich kann nach dem Riexinger-Vortrag eigentlich nur eins sagen: Liebe Apparatschiks von den Linken, dass Sie lieber einen Leitungsrat, also einen Betriebssowjet haben wollen, ({5}) das ist mir klar. Aber was Sie hier fordern, ist der unrealistische Ausbau der Mitbestimmung. Massenentlassungen werden hierdurch auch nicht verhindert. ({6}) – Ja, ja. – Liebe Genossen, sollten Sie die Zeit nicht nutzen, um darüber nachzudenken, wie man dem deutschen Arbeitnehmer zu mehr Wohlstand verhelfen kann, ohne dafür große Teile der deutschen Wirtschaft lahmzulegen? ({7}) – Ich komme. Wir von der AfD, der neuen deutschen Volkspartei, ({8}) wollen zum Beispiel einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligungen, um den Arbeitern ein Leben in Wohlstand und eine Rente in Würde zu ermöglichen. ({9}) Alternative zwei: Warum wollen wir dem Betriebsrat nicht in bestimmten Fällen Tariffähigkeit zuerkennen, damit wir an der Lohnsache arbeiten können? Darüber, wie man die kleinen Unternehmen stützt, muss man nachdenken; denn nur dann geht es den Arbeitnehmern gut, wenn es auch den Unternehmen gut geht. Sehr geehrte Kollegen, letzter Satz: Mit einem Mehr an Regulierung, wie Sie es wollen, mit Verboten wird man den deutschen Arbeitern nicht helfen. Wir von der AfD sorgen lieber für vernünftige Löhne und Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze, statt in den Sozialismus zurückzufallen. Danke schön. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernd Rützel. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich finde, die Phase, in der unsere ganze Gesellschaft und auch die ganze Wirtschaft gerade steckt, ist zu wichtig, als dass sie ideologisch verblendet betrachtet wird oder populistisch betrachtet wird, so wie wir das von den beiden Vorrednerinnen und ‑rednern gerade gehört haben. ({0}) Denn viele Unternehmen, ganze Branchen stecken in einem tiefen Strukturwandel. Der Strukturwandel kam nicht durch Corona, aber Corona verschärft den Druck, beschleunigt den Strukturwandel. ({1}) Deswegen ist es bei diesen technologischen Veränderungen extrem wichtig, wie wir darauf reagieren und wie wir hergebrachte Arbeitsweisen und die Strukturen in den Betrieben betrachten. Es gibt ein altes Sprichwort, das lautet: Der eine wartet, bis die Welt sich wandelt, der andere packt an und handelt. – Ich kann für die SPD-Bundestagsfraktion bestätigen, dass wir in dieser Legislatur vieles – das ist hier alles beschlossen worden – auf den Weg gebracht haben, um genau diese Strukturveränderungen zu gestalten. ({2}) Ich erinnere an das Arbeit-von-morgen-Gesetz, an das Qualifizierungschancengesetz; ich gehe später noch einmal darauf ein. Martin Rosemann war bei mir im Wahlkreis, und wir haben mit vielen diskutiert und – das ist wichtig – nach Lösungen gesucht. Ich komme aus Unterfranken. In Unterfranken haben wir mit der Region Schweinfurt und am Bayerischen Untermain zwei ganz große Bereiche von Kfz-Zulieferern. Ich weiß aus vielen Gesprächen – nicht nur bei meinen Betriebsratsstammtischen, sondern auch in den Betrieben; ich sehne mich schon wieder nach Betriebsbesuchen, ein Jahr fanden die durch Corona nicht oder nur digital statt –, dass die Anspannung sehr groß ist und dass auch die Hilfeschreie sehr laut sind. Wir haben es auf dem Schirm, über Lösungen zu diskutieren. Das haben wir hier im Deutschen Bundestag auch mit viel Geld gemacht. Die Bundesregierung hat 1,5 Milliarden Euro in die Hand genommen, um gerade in diesen Branchen Entwicklungen voranzutreiben: autonomes Fahren, digitalisierte und nachhaltige Produktion, Entwicklung von datengetriebenen Geschäftsmodellen und der Umstieg auf alternative Antriebe. Diese Fördergelder können beantragt werden – das wird auch gemacht –, und es wird in Forschung und Entwicklung gesteckt, weil wir gute Branchen und gute Produkte haben. Ich bin nicht der Sprecher der Linken oder der Grünen, aber, liebe Kollegin Schimke, ich konnte in diesen Anträgen der beiden Fraktionen nicht ersehen, dass dort schlecht über unseren Produktionsstandort oder über unsere Betriebe gesprochen wird. Die Frage ist doch: Wie können wir teilhaben? Wie können wir partizipieren? Als Betriebsrat – ich war Betriebsrat, ich war Jugend- und Auszubildendenvertreter, ich bin Personalrat gewesen – sage ich Ihnen, dass Betriebsräte genau wissen, was das Unternehmen braucht. Die sind – im Vergleich zu manchem Manager – lange an Bord, ihr Leben lang. ({3}) Deswegen ist es ganz wichtig, Betriebsrätinnen, Betriebsräte, Personalräte und die gesamte Mitbestimmung nicht nur im Betrieb, sondern auch in den Aufsichtsräten – die Unternehmensmitbestimmung – zu stärken. Bernd Riexinger hat recht, wenn er sagt, das ist ein erodierendes System. Jana Schimke hat auch recht, wenn sie sagt, wir haben da ein Alleinstellungsmerkmal. Aber ihr stinkt das, dass wir ein Alleinstellungsmerkmal haben – unterstelle ich einmal –; denn dieses Alleinstellungsmerkmal hat uns in Deutschland stark gemacht und nicht schwach. ({4}) Deswegen müssen wir die Mitbestimmung stärken und ausbauen, wir müssen sie schützen wie eine zarte Pflanze. Vielen Dank. ({5})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Antrag der Fraktion Die Linke liest, der soll es wohl mit der Angst zu tun bekommen. ({0}) Ja, die Arbeitslosenquote ist bedauerlicherweise gestiegen, und ja, einige Unternehmen haben massive Stellenstreichungen angekündigt. Aber mit Ihrem Antrag, lieber Kollege Riexinger, überziehen Sie maßlos. Die Institute gehen weiterhin von 3 Prozent Wachstum in diesem Jahr aus. Massenarbeitslosigkeit steht nicht vor der Tür. Ich finde, die Menschen in diesem Land haben bereits Angst und Sorgen genug; Sie sollten keine weiteren Ängste schüren. In Zeiten von Frust und tiefer Verunsicherung sind Führung und klare Perspektiven gefordert. Dass die Bundesregierung beides nicht liefert, bedaure ich wie Sie. Aber Ihr düsterer Pessimismus zeigt keinen Weg aus der Krise, sondern den Weg in die Planwirtschaft, und den, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir Freie Demokraten nicht mit. ({1}) Sie erwecken den Eindruck, die Unternehmen würden massenhaft und leichtfertig Standorte schließen und ihre Leute auf die Straße setzen. Dem widerspreche ich ausdrücklich! Das ist faktisch nicht wahr und wird dem großen Verantwortungsbewusstsein der großen Mehrheit der Arbeitgeber in Deutschland auch nicht gerecht. ({2}) Die deutsche Wirtschaft hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt: Sie kann Strukturwandel; Bernd Rützel hat dazu ausgeführt. Was Sie nicht kann, ist Strukturbruch. Damit Strukturwandel aber sozialverträglich gelingt, muss Politik den richtigen Rahmen setzen, Innovationen fördern, Flexibilität am Arbeitsmarkt erhalten und Investitionen erleichtern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die hier vorgeschlagene Ausweitung der zwingenden Mitbestimmungstatbestände bewirkt das exakte Gegenteil. Sie schwächt die Investitionsbereitschaft, statt sie zu stärken. Glauben Sie mir – ich weiß, wie Unternehmer ticken –: Wenn die nicht mehr frei in ihrer Investitionsentscheidung sind, dann laufen die weg, dann investieren die überhaupt nichts, gar nichts, null. ({4}) Genau aus diesem Grund halten sich Arbeitgeberrechte und Arbeitnehmerrechte in der sozialen Marktwirtschaft die Waage. Arbeitgeber können sich auf die grundgesetzlich geschützte unternehmerische Freiheit, das Recht auf Eigentum verlassen; dafür tragen sie auch Verantwortung und Risiko. Arbeitnehmer können sich auf umfassende Schutzrechte verlassen – Arbeitszeit, Mindestlohn, Kündigungsschutz – und haben überall dort weitgehende Mitbestimmungsrechte, wo ihre konkreten Arbeitsbedingungen betroffen sind. Rollen und Verantwortungen müssen klar verteilt sein, dann entfaltet Mitbestimmung ihre Stärken zum Wohle des gesamten Betriebs. ({5}) Der Gesetzgeber fordert zu Recht von den Sozialpartnern, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten; Jana Schimke hat dazu ausgeführt. Wird zugunsten einer Seite interveniert, wird die fein austarierte Balance empfindlich gestört. Deshalb empfehlen die Freien Demokraten minimalinvasive Eingriffe statt Rundumschläge. Sie wissen seit Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es gibt gerade Standortverlagerungen und Entlassungen, die oft weder mit der Transformation noch mit der Digitalisierung zu erklären sind. Das ist ganz einfach nur Rationalisierung. Das geht natürlich komplett zulasten der Beschäftigten. Da geht auch Vertrauen verloren, und das ist fatal; denn die Wirtschaft muss klimaneutral werden. Dieser Strukturwandel gelingt nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit den Beschäftigten, den Betriebsräten und Gewerkschaften. ({0}) Bis hierhin können wir mit dem Antrag der Fraktion Die Linke also mitgehen. Bei der Forderung, die daraus folgt, sind wir uns aber nicht einig. Es wird eine wirtschaftliche Mitbestimmung für die Betriebsräte gefordert. Massenentlassungen, Standortverlagerungen und ‑schließungen usw. werden in der Regel aber nicht im Betrieb vor Ort, sondern im Konzern und damit in den Vorständen und Aufsichtsräten beschlossen. Deshalb muss aus unserer Sicht an dieser Stelle nicht die betriebliche Mitbestimmung, sondern vor allem die Unternehmensmitbestimmung gestärkt werden. ({1}) Daher haben wir heute einen eigenen Antrag zur Unternehmensmitbestimmung dazugestellt. Damit fordern wir ganz konkret ein Schlichtungsverfahren, wenn es um Entscheidungen geht, von denen die Beschäftigten besonders stark betroffen sind. So können Perspektiven für die Beschäftigten und für das Unternehmen gleichermaßen entwickelt werden. Genau das wäre dann für beide Seiten tatsächlich fair. ({2}) Unser Antrag ist aber auch noch aus anderen Gründen wichtig; denn auch die Unternehmensmitbestimmung ist in der Defensive. Zu viele Unternehmen vermeiden die Mitbestimmung durch die geschickte Wahl der Rechtsform. Andere wiederum ignorieren ganz einfach die Unternehmensmitbestimmung. Beides geht gar nicht. Die Flucht aus der Mitbestimmung im Aufsichtsrat kann und muss gestoppt werden. ({3}) Die Begründung dafür ist eigentlich ganz einfach: Bei der Mitbestimmung müssen für alle Unternehmen die gleichen Rahmenbedingungen und für alle Beschäftigten die gleichen Unternehmensmitbestimmungsrechte gelten. Außerdem ist die Unternehmensmitbestimmung gelebte Demokratie. Um diese Teilhabe im Unternehmen sicherzustellen, müssen Sie, die Regierungsfraktionen, endlich die Lücken bei der Mitbestimmung schließen. ({4}) Tja, zum Schluss kann ich mir einen kleinen Abstecher zur betrieblichen Mitbestimmung nicht verkneifen: Als Antwort auf die weißen Flecken haben Sie ja das Betriebsrätestärkungsgesetz angekündigt. Jetzt wird auch dieser Gesetzentwurf von den Wirtschaftsleuten der Union blockiert. Wenn auch das nicht klappt, ({5}) wie viele andere Gesetze auch, dann wäre das wirklich ein Armutszeugnis. Das wäre peinlich und fatal für die Beschäftigten. Vielen Dank. ({6})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Müller-Gemmeke, das Prinzip der Union von CDU und CSU ist, den Ausgleich zwischen den Wirtschaftsleuten und denen, die in der Sozialpolitik tätig sind, zu suchen. Wir bekommen den Ausgleich auch hin, in der eigenen Fraktion, in der Bundesregierung und hoffentlich auch in der Gesellschaft; da sind wir alle gefragt. Deswegen wird nächste Woche im Kabinett der Entwurf des Betriebsrätestärkungsgesetzes eingebracht. Wir haben dann in den nächsten Sitzungswochen Zeit, uns intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinanderzusetzen; denn auch wir als Union wollen die Stärkung der Betriebsräte. Auch wir wollen Mitbestimmung; denn die Mitbestimmung ist eine tragende Säule unserer Arbeitsmarktordnung in Deutschland. Sie hat unser Land in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich starkgemacht. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es ist ja schön und gut, dass Sie einen sozialistischen Staat wollen. Den möchte aber außer Ihnen in diesem Land niemand. Der Antrag, den Sie gestellt haben, soll mal wieder den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital erzeugen. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, dieser Konflikt ist seit 70 Jahren ausgestanden. Wir haben vor 70 Jahren die soziale Marktwirtschaft in diesem Land eingeführt. Wir haben damit die Balance zwischen den wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeführt. Wir haben aber auch die Balance zwischen staatlicher Regierung und wirtschaftlicher und unternehmerischer Freiheit in diesem Land auf den Weg gebracht. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, möchte ich drei Punkte zu Ihrem Antrag kurz ausführen: Erstens. Sie haben von Wirtschaft leider keine Ahnung. ({1}) Zweitens. Sie haben die Transformationsherausforderungen, vor denen unsere deutsche Wirtschaft steht, noch nicht begriffen. Drittens sehen Sie leider den Schuldigen alleine in der Automobilindustrie. Das ist, glaube ich, die falsche Herangehensweise an den in Gänze größten Arbeitgeber in unserem Land. Ich möchte diese drei Punkte angesichts der Kürze meiner Redezeit nur kurz erläutern: Zum Ersten. Dass Sie von Wirtschaft keine Ahnung haben, das zeigt der Antrag, Herr Riexinger. Alleine die Überschrift zeigt das: „Massenentlassungen verhindern – Mitbestimmung ausbauen“. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Zusammenhang müssen Sie erst mal erläutern; denn der ergibt sich nur bei einer sozialistischen Sichtweise auf diese Welt und auf unser Wirtschaftssystem. ({3}) – Ich habe jetzt niemanden lachen gesehen. Erstens haben sie eine Maske auf, und zweitens brauchen wir für eine funktionierende Wirtschaft Innovationen, wir brauchen Ideen. ({4}) – Na ja, vielleicht genau so viel wie Sie, Herr Dr. Dehm. ({5}) – Ich bin kein Millionär. Man sollte vielleicht auch vorsichtig sein, wenn man es ist. Wenn man es sich redlich erarbeitet hat, dann ist das auch gut und recht so; dafür stehen wir als Union. Zweitens. Herr Riexinger, Sie haben die Herausforderungen für die Wirtschaft aufgeführt: Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel. ({6}) Sie ziehen leider nur die falschen Schlüsse. – Bevor Sie wieder dazwischenrufen, sehr geehrter Herr Dehm: Wir können uns nachher gerne unterhalten. Die Präsidentin lässt leider keine Zwischenfragen zu. Ich hätte sie gerne zugelassen. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen lebenslanges Lernen, mehr Ausbildung, mehr Fortbildung, um Arbeitsplätze zu sichern. Das hat die Bundesregierung in den letzten Jahren auf den Weg gebracht. Wir brauchen aber auch die Innovationskraft der Unternehmen in unserem Land. Zum Dritten. Die Automobilindustrie ist ja der große Schuldige laut Ihren Worten. ({8}) – Na ja, lesen Sie doch Ihren Antrag. Da steht es genau so drin. – Ich komme aus einem Wahlkreis, Großraum Regensburg, in dem ungefähr 60 000 Menschen bei BMW und bei den Zulieferern arbeiten. 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten direkt bei BMW. In der Krise, in der, wie Sie schreiben, Arbeitsplätze abgeschafft werden sollten, wurden dort Arbeitsplätze gesichert. Eine neue Linie für Batteriefertigungen wurde aufgebaut. 150 Millionen Euro wurden investiert, um Arbeitsplätze erhalten zu können. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist verantwortungsvolle Politik. Bei mir im Wahlkreis ist aber auch Continental. Continental hat in den letzten Wochen angekündigt, 5 000 Arbeitsplätze abzubauen. Darüber kann man natürlich diskutieren. ({9}) Ich habe mit beiden Seiten geredet, sowohl mit den Betriebsräten, die ich sogar nach Berlin eingeladen habe, als auch mit der Standortleitung. Beide sind bemüht, Arbeitsplätze zu sichern und auch den Standort Regensburg zu erhalten. Ich bin stolz auf beide Seiten. Da ich nur noch sieben Sekunden Redezeit habe, nur noch kurz zum Antrag der Grünen – so wenig Zeit ich habe, so kurz kann man darauf eingehen –: Er ist intensiv zu diskutieren. Er enthält viele Punkte, über die man reden muss. Leider wurde er aber so kurzfristig vorgelegt, dass ich nicht genug Zeit hatte, auf alle Punkte einzugehen. Deswegen freue ich mich auf die Debatte im Ausschuss. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Aumer. – Ich danke auch für das große Verständnis – das hat ja zu großem Applaus geführt –, dass es heute keine Zwischenfragen mehr gibt. Sie wissen genau, woran das liegt. Letzter Redner: für die SPD-Fraktion Michael Gerdes. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider habe ich nur drei Minuten, sonst würde ich gerne noch einiges sagen zu Frau Schimke und der AfD. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich bin überrascht, dass Sie sich gerade das Thema Automobilindustrie ausgesucht haben, um für mehr Mitbestimmung zu werben. Gibt man bei Google „Stimmung der Automobilindustrie 2021“ ein, erscheinen in den Mitteilungen aus diesem Jahr zuversichtliche Aussagen. Auch das ifo-Institut beschreibt einen positiven Trend. Wobei es natürlich richtig ist, dass wir 2019 und auch im letzten Jahr noch Befürchtungen hatten, es könnte zu Massenentlassungen kommen. Diese Befürchtungen haben sich aber glücklicherweise nicht bewahrheitet. Das lag unter anderem an der Kurzarbeit, den Homeoffice-Möglichkeiten und der höheren Umweltprämie, die geholfen haben, Entlassungen zu verhindern. Zahlen zur Kurzarbeit in der Automobilindustrie zeigen dies deutlich: Im Frühjahr 2020 waren knapp 87 Prozent der Beschäftigten von Kurzarbeit betroffen. Ende 2020 waren es dann nur noch etwas mehr als 50 Prozent. Wir haben hier also einen Rückgang um immerhin 37 Prozentpunkte. Dennoch wird sich die Automobilindustrie mit knapp 1 Million Beschäftigten verändern müssen. Der Wechsel zur E-Mobilität und zu weiteren Zukunftstechnologien wie der wasserstoffbetriebenen Brennstoffzelle stellt die Automobilindustrie nicht nur technologisch vor neue Herausforderungen, sondern bedeutet auch Veränderungen für die Beschäftigten und für die Betriebsräte. Insofern sind die Forderungen nach mehr Mitbestimmung berechtigt. Aber das gilt nicht nur für die Automobilindustrie. Immerhin liegt die letzte Reform der Betriebsverfassung 20 Jahre zurück – viel zu lange. Wir brauchen Betriebs- und Personalräte, die den Gesundheits- und Arbeitsschutz beim Einsatz von künstlicher Intelligenz im Blick haben und auch bewerten können und auch die Sicherung der Arbeitsplätze im Blick behalten. Wir brauchen mehr Jugend- und Auszubildendenvertretungen; denn wo liegt denn unsere Zukunft, wenn nicht bei den jungen Menschen? Wir brauchen Regelungen für das Homeoffice. Die Arbeit zu Hause darf nicht ausufern. In dem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass wir im letzten Jahr mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz erst einmal dafür sorgen mussten, dass Betriebsräte während der Lockdown-Phasen durch Videokonferenzen überhaupt arbeitsfähig bleiben. ({0}) Videokonferenzen waren bis dato für Betriebsräte und Betriebsversammlungen gar nicht zulässig. Meine Damen und Herren von den Linken und von den Grünen, ich könnte hier noch eine ganze Weile solche Beispiele anführen. Sie kennen die Haltung der SPD beim Thema Mitbestimmung, insbesondere meine als Gewerkschafter. Mitbestimmen heißt mitverantworten, und deshalb müssen wir Betriebsräte stärken und auch weiterbilden. Natürlich begrüßen wir ihre Initiativen; sie gehören zu unserer DNA. Von daher ist es selbstverständlich, dass wir im kommenden Wahlkampf intensiv dafür werben werden; denn Mitbestimmung ist kein Thema der Vergangenheit – nein, es ist ein Thema der Zukunft, und es dient der Verbesserung des Forschungs- und Wirtschaftsstandortes Deutschland und seiner Wettbewerbsfähigkeit. ({1}) Da müssen wir in der kommenden Regierung eine Forderung im Schulterschluss mit den Gewerkschaften umsetzen. Wir sind dazu gut aufgestellt. Herzlichen Dank und Glück auf! ({2})

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Brexit ist vollzogen, seine Folgen sind es allerdings noch nicht, und deshalb müssen wir uns natürlich an dieser Stelle auch um die soziale Absicherung kümmern. Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich regelt in einem entsprechenden Protokoll die künftige Koordinierung der sozialen Sicherheit. Das ist wichtig; denn auch nach dem Brexit wird es eine Arbeitnehmermobilität zwischen beiden Seiten geben. Die Regelungen sind nach den Prinzipien gestaltet, die auch innerhalb der Europäischen Union für die Koordinierung der sozialen Sicherheit gelten. Sie sind unmittelbar geltendes Recht und seit dem 1. Januar 2021 bereits vorläufig anwendbar. Gleichwohl benötigen wir mit dem Blick auf das Protokoll sowohl ein Umsetzungs- als auch ein Vertragsgesetz. Dies ist für den Bundestag keine Neuigkeit. Die Regierungsfraktionen haben bereits im Februar zwei deckungsgleiche Gesetzentwürfe eingebracht. Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle nur kurz ausführen, wozu beide Gesetzentwürfe dienen, die wir heute behandeln. Der erste Gesetzentwurf lautet in etwa: Entwurf eines Gesetzes zu der Notifikation gemäß dem Protokoll über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit betreffend die Anwendung der Regeln für die Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. ({0}) Es gibt wirklich komplexe Gesetzestitel. Nach Artikel 11 des Protokolls haben die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit, die Regelung zu sozialversicherungsrechtlichen Entsendungen in Bezug auf das Vereinigte Königreich anzuwenden. Eine entsprechende Mitteilung musste bis zum 15. Januar erfolgen. Nach diesem Zeitpunkt war nur noch der Widerruf der Mitteilung möglich, nicht jedoch eine nachträgliche Mitteilung. Deshalb hatten sich auch alle verbleibenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu entschieden, dementsprechend zu agieren. Inhaltlich ist eine solche Beibehaltung der Entsendungsregelungen sehr sinnvoll. Für die Entscheidung zu den Entsendungsregelungen ist jedoch völkerrechtlich ein Vertragsgesetz erforderlich. Für ein förmliches Vertragsgesetz, das nicht rechtzeitig zum 15. Januar verabschiedet und in Kraft gesetzt werden konnte, ist zur Sicherstellung der Entscheidungsmöglichkeit des Gesetzgebers deshalb die fristwahrende Notifikation erfolgt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun die Zustimmung zu dieser Notifikation nachgeholt werden. Außerdem liegt dem Parlament der Entwurf eines Gesetzes zur Koordinierung der sozialen Sicherheit mit dem Vereinigten Königreich und Nordirland vor. Hierbei geht es allein um die Festlegung von innerstaatlichen Zuständigkeiten. Dies erfolgt entsprechend den bisherigen Zuständigkeiten für deutsch-britische Sachverhalte nach den Koordinierungsverordnungen. Dieses zweite Gesetz ist notwendig, da wir aus rechtsförmlichen Gründen die Zustimmung zur Notifikation und die Benennung der zuständigen Stellen nicht in einem Gesetzentwurf zusammenfassen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich sagen: Der Brexit ist und bleibt ein höchst bedauerlicher Vorgang. Daran können weder das Handels- und Kooperationsabkommen noch die vorliegenden Gesetzentwürfe etwas ändern. Dennoch ist es jetzt wichtig, den Blick nach vorne zu richten. Ich bitte um konstruktive Beratung dieser Gesetzentwürfe. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kramme. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Norbert Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wertes Präsidium! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Vertreter der Bundesregierung! Also, dass übereilte Entscheidungen aus nächtlichen Sitzungen gerne mal nach hinten losgehen, das sollten Sie eigentlich diese Woche gelernt haben. Wenn man mit dem Kopf durch die Wand will, dann gewinnt halt gerne mal die Wand. Wenn aber insbesondere Frau Merkel wirklich was aus Ihrem Fehler diese Woche gelernt hätte, dann hätte ich eigentlich erwartet, dass auch diese Gesetzentwürfe von der heutigen Tagesordnung verschwinden. Das ist nämlich eine ganz ähnliche Nummer, die hier mit dem Handels- und Kooperationsabkommen passiert ist. Das Ganze wurde klandestin verhandelt auf europäischer Ebene, von Ursula von der Leyen, Charles Michel, Michel Barnier usw. Am 24. Dezember letzten Jahres wurde es vorgestellt, und schon am 30. Dezember hat der Europäische Rat zugestimmt. Die Ratifikation durch das Europäische Parlament steht noch aus. Das wollte ursprünglich heute entscheiden, hat aber diese Entscheidung in die Zukunft verschoben. Sie legen uns heute zwei Gesetzentwürfe vor, die sich genau auf dieses nicht ratifizierte und nur vorläufig bis Ende nächsten Monats geltende Handels- und Kooperationsabkommen beziehen. Das ist auch sehr interessant, was Sie uns da vorlegen. Zum einen ist das eine nachträgliche Billigung der Notifikation betreffend die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Da hat sich die Regierung befleißigt, bis 15. Januar einfach mal Ja zu sagen, ohne übrigens die Abgeordneten wirklich zu informieren. Es gab zwar eine Mail, aber nicht etwa, dass es ein Berichterstattergespräch oder ein Votum gegeben hätte. Nein, da erwarten Sie jetzt einfach in typisch Merkelʼscher Manier, dass das Parlament im Nachhinein Ja sagt; denn alles andere wäre ja politisch wenig opportun. Aber wir als AfD sagen zu so was ganz klar: So geht es nicht! Sie müssen uns schon fragen, bevor Sie Entscheidungen treffen. ({0}) Und wenn es zeitlich nicht geht, dann holen Sie sich wenigstens in einem Gespräch auch die Meinungen der Opposition ein. Das zweite Gesetz – das haben Sie auch genannt, Frau Kramme – bezieht sich auf die Benennung von Dienststellen in Deutschland, rückwirkend zum 1. Januar 2021. Aber, wie gesagt, all das bezieht sich auf dieses Handels- und Kooperationsabkommen, das noch nicht ratifiziert worden ist und das deswegen auch nur vorläufig gilt, nämlich bis Ende nächsten Monats. Mal ganz ehrlich: Ich glaube, Sie haben da in der Reihenfolge was durcheinandergebracht. Bevor wir Folgegesetze verabschieden, sollten wir eigentlich erst mal auf die Ratifizierung des Europäischen Parlaments warten und diese Sache zweitens in die nationalen Parlamente geben, um das auch dort zu prüfen und national zu ratifizieren. Wir brauchen dieses Abkommen, dieses Handels- und Kooperationsabkommen, als gemischtes Abkommen und nicht „EU-only“. Wie immer versucht Brüssel, die Kompetenz alleine an sich zu ziehen, und möchte bloß vermeiden, dass nationale Parlamente da auch noch drübergucken und sich eine Meinung dazu bilden. ({1}) – Da sind sozialversicherungsrechtliche Regelungen drin, Herr Kollege. Das betrifft unsere Sozialversicherung, unsere Krankenversicherung, unsere Rentenversicherung und unsere arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen. ({2}) Da geht es nicht, dass Brüssel alleine sagt: „Wir entscheiden darüber“, ({3}) sondern das gehört in unsere nationalen Parlamente; das bindet uns. Unsere Leute müssten das doch auch bezahlen, und wir müssen darauf eingehen. ({4}) Jetzt muss ich noch etwas hinzufügen: Wenn sogar unsere lieben Freunde von der Linken, die internationalistischen „Sozialistinnen und Sozialisten“ auf die Idee kommen, in einem Entschließungsantrag zu fordern, dass wir das als gemischtes Abkommen zustande bringen, dann glauben Sie doch endlich mal der regierungsunabhängigen Opposition. Dann wird das schon so sein. ({5}) Es geht um sozialversicherungsrechtliche Regelungen. Deswegen muss das ein gemischtes Abkommen werden, und deswegen hat Die Linke in diesem Einzelfall tatsächlich mal recht. Insofern erwarte ich von Ihnen folgende Reihenfolge: Erstens. Wir warten auf die Ratifikation des Europäischen Parlaments. Zweitens. Wir wollen die Ratifikation auch in den nationalen Parlamenten vornehmen. Dann können wir drittens Folgegesetze verabschieden. Anders geht es nicht. Das ist der demokratische, das ist der transparente, das ist der offene Weg, für den wir als AfD stehen. Bitte halten Sie sich an diese Reihenfolge, die wirklich geboten ist, liebe Bundesregierung! Das wäre jetzt zu tun. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner ist – unschwer zu erkennen – nicht Antje Lezius; sie gibt ihre Rede nämlich zu Protokoll. ({0}) Dafür rückt Kai Whittaker ziemlich weit nach oben und hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, Ihre Kritik hätten Sie besser an die Adresse London geschickt, als uns hier in Berlin vier Minuten unserer Zeit zu stehlen; denn da liegt der Grund, weshalb wir so spät abstimmen. ({0}) Ich will es Ihnen noch mal auf einfachstem Niveau erklären. Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können dem Ganzen heute Abend zustimmen – dann können 400 Millionen EU-Bürger und 60 Millionen britische Bürger beruhigt weiterschlafen –, oder wir stimmen dagegen und versetzen die Europäische Union und Großbritannien in ein Verwaltungschaos. So einfach ist die Wahl. ({1}) Herr Kleinwächter, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Denn vor Ihnen steht ein Mensch, der die doppelte Staatsangehörigkeit hat: die deutsche und die britische. ({2}) Deshalb habe ich eine Bitte an das Hohe Haus: Helfen Sie bitte mit, dass der Frieden in meiner Familie heute Abend gewahrt bleibt, und stimmen Sie dem zu. Ich danke Ihnen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Kai Whittaker. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel des Protokolls über die Koordinierung der sozialen Sicherheit ist es, bestehende EU-Regeln zur Entsendung von Beschäftigten und Selbstständigen über den Brexit hinaus zu retten. Die hierfür erforderliche Notifikation ist rechtzeitig am 15. Januar 2021 durch die Bundesregierung erfolgt. Heute, wenige Wochen später, stimmt der Deutsche Bundestag – auch wir Freien Demokraten – zu. So geht Schadensbegrenzung: durch schnelle, pragmatische Politik in einer unerfreulichen und unverschuldeten Lage. Davon wünschen wir uns dieser Tage mehr. ({0}) Dass schnelles, entschlossenes und pragmatisches Handeln die Leitlinie von Regierungspolitik wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen, davon wünschen sich die Menschen im Land mehr. Europa und Deutschland verlieren mit dem Vereinigten Königreich einen wichtigen und wertvollen Partner – ja, oft unbequem, aber eben auch einen Partner, der immer für Markt und Wettbewerb, für finanzpolitische Stabilität und für Reformen gestritten hat. Deshalb ist es umso wichtiger, jetzt eine intensive Debatte darüber zu führen, welche Lehren wir aus dem Brexit ziehen. Erstens. Wir stellen fest: Der Handel mit Großbritannien ist im ersten Quartal dieses Jahres um 40 Prozent eingebrochen. Statt Handel haben wir jetzt 10 Millionen nutzlose Zollabwicklungen jedes Jahr, endlose Lkw-Schlangen und Lieferzeiten, verlorene Sendungen usw. usf. Keine Zölle und keine Quoten heißt eben nicht keine Verzollung. Einbruch beim Handel, Bürokratie an der Grenze – der Brexit kennt nur Verlierer. Aber das alles zeigt auch den herausragenden Wert unseres europäischen Binnenmarkts. Jeder wird Lügen gestraft, der jetzt noch etwas anderes behauptet. Wer Europa weiterentwickeln will, der muss den Binnenmarkt stärken und ausbauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Zweitens. Das kleinteilige Gezerre um kleine und große Bürokratiemonster muss aufhören, genau wie die gefährliche Unsitte einiger Regierungen, sich für europäische Erfolge selbst zu loben und die Misserfolge Brüssel in die Schuhe zu schieben. Diese oft von nationalen Egoismen getriebenen Nebenkriegsschauplätze lähmen die Aufwärtskonvergenz und schwächen die globale Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Union. Angesichts der globalen Klimakrise oder chinesischer Großmachtfantasien können wir uns das nicht länger leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Schluss damit! Drittens ist jeder Abkehr vom Prinzip der Subsidiarität eine klare Absage zu erteilen. Keine politische Agenda darf die Überschreitung der Zuständigkeitsgrenzen der EU rechtfertigen. ({2}) Deshalb warne ich vor einem europäischen Mindestlohn. Ein übergriffiges, ein zentralistisches Europa integriert nicht, es spaltet. Vielmehr sind Subsidiarität und Mehrwert der Humus, aus dem die weitere europäische Integration wächst und gedeiht. Wenn wir diese Lehren ziehen, dann ist mir nicht bang um die Zukunft Europas und um die Partnerschaft mit unseren britischen Freunden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Brexit-Referendum ist jetzt fast fünf Jahre her. Ich denke, dass man nach diesem Hin und Her, das es da gegeben hat, froh sein kann, dass es Ende letzten Jahres, kurz vor Weihnachten, überhaupt zu einer Einigung gekommen ist. Heute reden wir über den Fortbestand von Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie zur sozialen Sicherheit in den Bereichen Renten-, Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Der Sicherung dieser Regeln stimmen wir zu. Wir begrüßen, dass das endlich geregelt wird. ({0}) In einer Frage, die in einen der jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe sozusagen hineingeschummelt wurde, sind wir jedoch anderer Meinung. Mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich aus dem vorliegenden Gesetzentwurf. Darin heißt es, die vorgenommenen Regelungen stünden „nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass das Abkommen selbst rechtlich zulässig als reines EU-Abkommen abgeschlossen wurde“. In der Tat wurde das Abkommen als „EU-only“ abgeschlossen und nicht als gemischtes Abkommen. Aber dadurch sind die Parlamente der Mitgliedstaaten außen vor. ({1}) Das ist eine höchst fragwürdige Entscheidung des Europäischen Rates, also der EU, die wir kritisieren. ({2}) Die Grundlage dieses Post-Brexit-Abkommens ist ja das CETA-Abkommen zwischen EU und Kanada gewesen; das wurde ja auch immer wieder von Boris Johnson so gesagt. Da war es ganz klar ein gemischtes Abkommen, und wir halten es für wichtig, das auch so zu benennen. ({3}) Heute debattieren wir über die Aspekte, die sich aus dem Vertrag herleiten. Das zeigt, dass das Abkommen mehrere Politikbereiche, die gemischte Kompetenz, berührt. Das gilt darüber hinaus auch für den sogenannten Partnerschaftsrat zur Änderung des Abkommens in der Zukunft. Das Abkommen definiert keine ausreichenden Schranken für die Kompetenzen dieses Rates. So könnten durch eine qualifizierte Mehrheit im Rat der EU, das heißt dann eben auch ohne Zustimmung der Bundesregierung und auch dieses Parlamentes, noch weitere Bereiche in der gemischten Kompetenz berührt sein. Das zeigt in aller Klarheit: Es ist kein reines EU-Abkommen. Die Bundesregierung muss sich dringend dafür starkmachen, dass der Vertrag als gemischtes Abkommen behandelt wird und durch die Mitgliedstaaten und damit auch durch den Bundestag ratifiziert wird. ({4}) Andernfalls könnte diese Praxis Schule machen, die Beteiligung der nationalen Parlamente unterlaufen. Das wäre dann ein Präzedenzfall. Wir haben immer wieder gehört, auch vonseiten der Regierungsfraktionen: Man möchte diesen Präzedenzfall hier vermeiden. Aber ich glaube, wenn man so herangeht, wie das die Bundesregierung macht, dann schafft man diesen Präzedenzfall, und das wollen wir nicht. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hunko. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist fast alles gesagt, aber noch nicht von jedem. Ich will noch mal die Bundesregierung loben, dass sie schnell gehandelt hat, um in kurzer Frist die beiden Gesetze zur Notifikation und zur Koordinierung zu ermöglichen. Die Abgeordneten sind frühzeitig informiert worden. Wir hatten eine Debatte im Ausschuss, bevor der Gesetzentwurf da war, und dann gab es eine ordentliche Behandlung des Gesetzentwurfs im Ausschuss. Insofern ist die Kritik von Herrn Kleinwächter völlig daneben und völlig haltlos. ({0}) Die Gesetzentwürfe sind gut, und wir Grünen werden sie unterstützen, weil es sinnvoll ist, die Regelungen an der Stelle zu finden. Mit bleibt es nur noch, drei Anmerkungen zu machen. Erstens: zum Entschließungsantrag der Linken. Wir Grüne finden die Entscheidung, dass es kein gemischtes Abkommen ist, sondern ein sogenanntes EU-only-Abkommen, richtig und werden den Entschließungsantrag deswegen ablehnen. ({1}) Zweite Anmerkung. Es werden Regelungen für die Sozialversicherungen gemacht. Da werden die Regelungen fortgeführt, die es in der Europäischen Union in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gibt. Das ist sehr gut. Aber es ist natürlich sehr bedauerlich – das liegt nicht an der Bundesregierung, sondern an Großbritannien –, dass es für Deutsche oder EU-Bürger/-innen keine Möglichkeit gibt, Familienleistungen, sogenannte Cash Benefits bzw. Tax Credits, zu beziehen. Das ist sehr bedauerlich; denn Freizügigkeit braucht auch mehr soziale Sicherheit. Dritte Anmerkung. Wenn ein Land aus der Europäischen Union austritt, heißt das nicht, dass das für immer sein muss, sondern es gibt auch die Möglichkeit, irgendwann wieder einzutreten. Deswegen finde ich es wichtig, noch einmal eine Botschaft auszusenden. We send the message to all British citizens: You are always welcome to come back. Herzlichen Dank. ({2})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die politische Hygiene in Deutschland ist unter die Räder gekommen. Sie ist zum einen unter die Räder gekommen, was die Korruptionsfälle in den Altparteien angeht: nahezu täglich neue Fälle nimmersatter Altparteienkarrieren, zu denen Dutzende Fälle in der Vergangenheit hinzukommen. Die politische Hygiene ist aber auch unter die Räder gekommen, wo es um unsere Meinungsfreiheit geht, eines unserer zentralen Grundrechte. Und dieses zweiten Problems nehmen wir uns von der AfD mit unserem Gesetzentwurf an. ({0}) Zitat: „Ich garantiere die Freiheit der Rede, aber nicht die Freiheit nach der Rede.“ Diese Aussage wird dem afrikanischen Despoten Idi Amin zugeschrieben. Die Aussage – Zitat –: „Sie können in Deutschland eigentlich alles sagen. Man muss dann manchmal halt mit Konsequenzen rechnen“, stammt von einer zunehmend erfolglosen Sportmoderatorin des zwangsfinanzierten deutschen Rundfunks. Beide Aussagen oder Drohungen weisen Bezüge zum Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland auf. Dieser Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland ist schlecht. Er ist verdammt schlecht. ({1}) Unser Grundgesetz formuliert in Artikel 5 Absatz 1 – Zitat –: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten … Eine Zensur findet nicht statt. Wie kann es also trotzdem sein, dass in den sozialen Medien gelöscht, zensiert und blockiert wird, dass die Schwarte kracht, dass sogar Reden von Abgeordneten des Deutschen Bundestages gelöscht und gesperrt werden und dass dem Löschmassaker von Facebook, Twitter, Instagram und Co weltweit pro Jahr über 100 Millionen Meinungen, in Deutschland etwa 20 Millionen, zum Opfer fallen, wobei das Wachstum in letzter Zeit exponentiell verlief? Wie sind also diese Löschorgien mit der klaren Verfassungslage, die ich ja gerade mit Artikel 5 des Grundgesetzes zitiert habe, in Einklang zu bringen? Ganz einfach: Unser Grundgesetz bindet nur den Staat und nicht etwa Facebook und Co. Und weil unser Staat das weiß, hat er die Zensur ausgelagert, sozusagen privatisiert. Facebook und Co machen da, jedenfalls unterstützt durch milliardenschwere und steuergeldfinanzierte Regenbogenprogramme der bunten Zivilgesellschaft, der Amadeu-Antonio-Stiftung und anderer dubioser Akteure, gerne mit. „Hass“ und „Hetze“ sind die Zensurwerkzeuge von heute und von gestern. ({2}) Die „Hetze“ erlebt aktuell eine Renaissance. Man kannte sie aus der Gott sei Dank untergegangenen DDR. Dort gab es die Boykotthetze und die staatsfeindliche Hetze – immer wieder gerne benutzt als inhaltsleerer Kampfbegriff gegen kritische Geister und gegen die Opposition. Und „Hass“ – mag er auch nichts Schönes sein – ist in Deutschland nicht verboten, zumal ihn jeder anders definiert. Meine Damen und Herren, wir von der AfD haben dieses massive Zensur- und Verfassungsproblem erkannt. Wir wollen zurück zu den freiheitlichen Wurzeln der sozialen Netzwerke. ({3}) Ursprünglich – wir erinnern uns etwa 15 Jahre zurück – sollten die sozialen Netzwerke dazu dienen, Meinungen zusammenzutragen – ohne Zensur! Dafür haben sie ein Privileg erhalten: Sie haften nicht für das, was auf ihnen verbreitet wird. – Heute haben sich diese Netzwerke allerdings hin zu einem zensierenden Medium entwickelt: Sie greifen massiv in die Meinungsvielfalt ein und sind keine Plattformen mehr. Und deshalb ist deren Haftungsprivileg auch nicht mehr zeitgemäß. Wir wollen daher, dass sich die sozialen Medien entscheiden, ob sie eine Plattform sind und alles zulassen. Wobei unter „alles“ natürlich nicht das fällt, was strafrechtlich relevant ist. Dass dagegen vorgegangen werden muss, darin sind wir uns, denke ich mal, alle einig. Sie müssen sich also entscheiden: Sind sie eine Plattform und lassen all das zu, was nicht strafrechtlich relevant ist, oder möchten sie ein Medium sein, das zensiert, was ihnen nicht gefällt, das zensiert, was dem Staat nicht gefällt, und was nur dazu dient, Wohlfühlphrasen zu verbreiten. Wie gehen wir von der AfD das Problem nun an? Wir schlagen zwei Änderungen in § 7 des Telemediengesetzes vor: Erstens eine klare Entscheidung von den sozialen Netzwerken: Wollen sie eine Plattform sein? Dann gibt es das Haftungsprivileg. Oder wollen sie mehr Medium sein? Dann gibt es kein Haftungsprivileg mehr. Zweitens wird vorgeschlagen, dass Plattformen mit marktbeherrschender Stellung im Sinne des § 18 des GWB ausschließlich strafrechtlich Relevantes löschen dürfen, widrigenfalls – und das ist auch noch eine weitere Neuerung – machen sie sich schadensersatz- und entschädigungspflichtig. ({4}) Meine Damen und Herren, mit diesen beiden Änderungen sollte es uns allen gelingen, einen entscheidenden Schritt in Richtung Meinungsfreiheit zu gehen, also zurück zu den Wurzeln der Freiheit des Netzes. Das Meinungs- und Zensurmassaker muss beendet werden. Unser Gesetzentwurf weist dazu einen guten Weg, weshalb ich von hier aus um Zustimmung bitte. Und ich bitte, festzuhalten, dass ich fünf Sekunden vor der Zeit fertig bin. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brandner, Sie waren punktgenau fertig. – Der Kollege Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Deshalb wird nächster Redner der Kollege Dr. Volker Ullrich sein, der damit aufrückt. Normalerweise, Herr Kollege, reden Sie ja zum Schluss; aber jetzt sind Sie schon ganz weit vorne. ({1})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf der AfD zum Thema Telemediengesetz. Ihre Rede, Herr Kollege Brandner, verlangt allerdings Widerspruch. Sie haben darüber gesprochen, dass es in Deutschland um die Meinungsfreiheit sehr schlecht bestellt sei; Sie haben sogar über ein Meinungsmassaker gesprochen. ({0}) Ich finde es unerträglich – und es bedarf des Widerspruchs des gesamten Hauses –, dass Sie unser Land hier so verunglimpfen. Sie sind das Gegenteil von Patrioten. Sie stellen unser Land bewusst verzerrt und falsch dar. Das ist das Instrument der Lüge. Sie sind damit nicht besser als all diejenigen in der Welt, die mit der Lüge und mit Verschwörungstheorien arbeiten; und das ist unter der Würde dieses Hauses. ({1}) Die Meinungsfreiheit – das ist mir wichtig noch einmal darzustellen – ist sehr weitgehend. Auch abseitige Meinungen müssen ertragen werden. ({2}) Das Instrument dagegen ist die Gegenrede. Aber die Meinungsfreiheit hat Grenzen, und zwar im Recht des anderen. Verleumdungen, Hass, Antisemitismus haben nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern das sind Straftatbestände, und dagegen muss sich der wehrhafte Rechtsstaat in der Tat zur Wehr setzen. ({3}) Sie beklagen sich in Ihrem Antrag darüber, dass Facebook – Zitat – „angebliche ‚Hassrede‘“ lösche. Sie sprechen von koordinierter Gegenrede. Wovon Sie aber nicht sprechen, Herr Kollege Brandner, ist, dass durch Morddrohungen, durch antisemitische Äußerungen, durch Holocaustleugnungen, durch Gewaltandrohungen der Diskurs im Internet vergiftet wird. Und Sie sind Teil des Gifts im Internet. Schauen sich Ihre Posts an und auch die von Ihren Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Diese Posts vergiften unsere Gesellschaft. ({5}) Deswegen ist es heuchlerisch, dass Sie hier sich für die Meinungsfreiheit einsetzen. Sie wollen nicht Meinungsfreiheit; Sie wollen einen Freifahrtschein für Lüge, für Verschwörungstheorien und für Hass. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({6}) Ich will abschließend eines sagen: Wir werden morgen im Deutschen Bundestag das Ergebnis des Vermittlungsausschusses diskutieren. Da geht es um den Gesetzentwurf gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, dass soziale Medien zukünftig verpflichtet werden, Straftaten auch zu melden. Das ist wichtig; denn wir brauchen einen angstfreien Diskurs im Internet. ({7}) Wir müssen sicherstellen, dass Menschen nicht beleidigt werden, nicht bedroht werden und nicht angegriffen werden. Wir tun das im Interesse der Meinungsfreiheit und im Interesse eines pfleglichen Umgangs miteinander. Gerade vor diesem Hintergrund werden wir Ihren Gesetzentwurf natürlich ablehnen. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie es mich kurz machen: Wir werden diesem Gesetzentwurf selbstverständlich auch nicht zustimmen. ({0}) Denn diejenigen, die hier auftreten und sagen, sie würden im Interesse der Meinungsfreiheit handeln, haben nicht vor, Meinungsfreiheit wirklich zu schützen; vielmehr wollen sie weiterhin Plattformen nutzen, um ihre Inhalte, die oftmals ihre Geringschätzung der Meinung anderer und der Meinungsfreiheit geradezu herausschreien, weiterverbreiten zu können. ({1}) Wir halten nämlich was von der Freiheit, und wir bestehen nicht nur auf unsere Freiheit, sondern wir sind auch für die Freiheit von anderen, und wir können sie ertragen und können zuhören, ({2}) ohne dass wir gleich meinen, die Welt würde sich gegen uns verschwören, auch wenn sie zufällig nicht unserer Meinung ist. Wir können das ertragen. Sie können das offensichtlich nicht. Mit Ihrem Gesetzentwurf erheben Sie den Anspruch – oder Sie glauben, einen Anspruch darauf zu haben –, dass Sie das, was Sie bisher verbreitet haben, einfach weiterverbreiten können, auch über Plattformen. Woher beziehen Sie eigentlich diesen Anspruch? Wie kommen Sie zu dem Anspruch, dass irgendeine Plattform Ihnen das erlauben muss? ({3}) Das muss sie nicht. Und zwingen, so wie Sie es mit diesem Gesetz vorhaben, können Sie sie auch nicht. Das, was Sie hier vorhaben, ist ganz gewiss nicht im Dienste der Meinungsfreiheit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Martens. – Man kann Wesentliches auch in kurzer Zeit sagen. ({0}) Das ist für den nächsten Redner auch meinungsbildend. Der Kollege Florian Post, SPD-Fraktion, ist der nächste Redner. ({1})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja schon oft über Meinungsfreiheit hier im Hohen Hause debattiert. Bei dieser Debatte zu dem AfD-Entwurf – das muss man sich direkt mal auf der Zunge zergehen lassen – eines Gesetzes zur Sicherstellung der Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken geht es ja um nichts anderes als um das, was die AfD immer gerne macht: sich in der Opferrolle zu sehen, sich darin zu suhlen, ({0}) dass ihnen verboten wird, die eigene Meinung zu äußern, oder zu behaupten, dass dieses Gesetz nur dazu diene, Postings zu löschen, die der vermeintlichen Mehrheitsmeinung politischer Korrektheit nicht entsprechen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Mit unserem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ermöglichen wir, Postings zu löschen, die gerade Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit unterdrücken sollen. Wir haben genug Beispiele. ({1}) – Herr Brandner, was Sie so von sich geben, hatte auch dazu geführt, dass Sie den Vorsitz im Rechtsausschuss verloren haben; das hatte ja auch Gründe. ({2}) Also das heißt, Sie dürfen sehr wohl sagen, was Sie wollen; aber es hat eben Konsequenzen in diesem Land, und das ist auch richtig so. ({3}) – Jetzt haben Sie mich etwas aus dem Konzept gebracht. Es wird also keiner widersprechen, dass es hier in Deutschland Beispiele dafür gibt, ({4}) dass es Kommunalpolitiker gibt, die sich zurückziehen aus der ehrenamtlichen Politik, weil sie Angst um sich und ihre Familien haben, weil sie bedroht werden, weil sie beleidigt werden, weil gegen sie gehetzt wird. Das kann sehr wohl auch auf einem Level knapp unterhalb der Grenze zu einem Straftatbestand geschehen; und auch dagegen müssen wir vorgehen. Im Übrigen kommen laut Bundeskriminalamt 79 Prozent der strafrechtlich relevanten, politisch motivierten Hasspostings vom rechten Rand; das muss man sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen. ({5}) Deswegen habe ich ja Verständnis dafür, dass ausgerechnet dieser unsinnige Gesetzentwurf von Ihnen kommt. Die geistigen Brandstifter, die im Internet unterwegs sind, sitzen auch in diesem Hause. Sie sitzen auf der rechten Seite. Herr Brandner hat es in seiner Rede eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Wir machen aber klar, dass wir Angriffe auf die Meinungsfreiheit nicht dulden werden, die wir dann als gegeben sehen, wenn Menschen welcher sexuellen Orientierung, welcher Hautfarbe oder welcher Religionsangehörigkeit auch immer sich nicht mehr an Diskussionen und Debatten beteiligen, weil sie Angst haben müssen, dass sie durch Hasspostings niedergemacht werden, oder befürchten müssen, sich unsäglichen Diffamierungen im Netz ausgesetzt zu sehen. Es geht darum, klarzumachen, dass wir auf der Seite derjenigen stehen, die hier Opfer sind. Wir werden mit allen Mitteln des Rechtsstaates dagegen vorgehen, dass Hasspostings zu einer Unterdrückung der Meinungsfreiheit im Internet führen. Wir werden die Stärkung der Schwerpunktstaatsanwaltschaften weiter vorantreiben. Wir werden Personalaufstockung bei einzelnen Ermittlungsbehörden angehen. Aber es geht noch um viel mehr. Das Wichtigste ist, dass wir klarmachen, dass von Hassrede Betroffene nicht alleingelassen werden und dass nicht die Opfer in der Minderheit sind, sondern die Täter. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Post. – Nächste Rednerin: die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD bringt hier einen Gesetzentwurf ein, mit dem sie ihre rechte Hetze weiterhin legitimieren möchte. Ich erinnere daran, dass Frau Storch ({0}) Anfang 2016 auf Social Media den Schusswaffengebrauch gegen Menschen an der Grenze gefordert hat. ({1}) Diese gefährlichen rechten Beiträge in der digitalen Welt schaffen Stimmung, mobilisieren und stärken rassistische Netzwerke. ({2}) Aus Worten werden schließlich Taten, wie wir sie in Halle, in Hanau und im Falle von Walter Lübcke mitverfolgt haben. ({3}) Im November 2017 wurde bekannt, dass unter den Mitgliedern der geschlossenen Facebook-Gruppe „Patrioten“ 48 Mandatsträger der AfD zu finden waren, davon 15 aus der Bundestagsfraktion und 33 aus den Landtagen. ({4}) Neben rassistischen, frauenverachtenden, homophoben und gewaltverherrlichenden Beiträgen versendete ein Mitglied der Gruppe ({5}) eine Fotomontage mit einem Bild von Anne Frank auf einer Pizzaschachtel, versehen mit der Aufschrift „Die Ofenfrische, locker und knusprig zugleich“. Diese zutiefst verachtende Form des Antisemitismus in den Reihen der AfD zeigt auch, ({6}) dass wir uns gemeinsam sowohl in den sozialen Netzwerken als auch in allen anderen Lebensbereichen konsequent gegen Antisemitismus und Rassismus stellen müssen. ({7}) Jens Maier und andere Abgeordnete der Bundestagsfraktion gehörten zu den aktiven Mitgliedern dieser Facebook-Gruppe. Als Ihre Facebook-Gruppe als Rassistentruppe dann öffentlich aufgeflogen ist und sie sich davon distanzieren wollten, ({8}) ist die baden-württembergische Landtagsabgeordnete der AfD, Christina Baum, der Gruppe sogar noch extra beigetreten und forderte die Mitglieder dieser Gruppe auf: Bleibt standhaft und seid mutig! – Dies, meine Damen und Herren, hat nichts mit Meinungsvielfalt zu tun. ({9}) Sie verbreiten auch in dieser Debatte hier wieder Fake News und stellen es so dar, als ob der Raum im Internet komplett überreguliert wäre. Ich als Frau mache eher eine gegenteilige Erfahrung. Frauen, vor allem diejenigen mit Migrationsgeschichte, bekommen immer mehr rassistische und sexistische Kommentare und Drohungen ab. Diese Art der Kommentare und Beiträge sind jedoch keine Meinungen, sondern stellen Straftatbestände dar. Ich habe hier auch einige Anzeigen gemacht und Verfahren gewonnen. ({10}) Beleidigungen und rechte Hetze sind keine Meinungsvielfalt. ({11}) Sie haben in einem demokratischen Diskurs nichts zu suchen. Darum gibt es Regeln für den Umgang im Netz. Die sozialen Netzwerke müssen hier auch ihrer Verantwortung gerecht werden und die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer stärken. ({12}) Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz der Bundesregierung ist bisher ineffektiv geblieben und rechtlich höchst problematisch. Wir fordern spezialisierte Abteilungen in den Bereichen der Justiz und Polizei, die das bestehende Strafrecht im Internet endlich auch konsequent durchsetzen. Ihr Gesetzentwurf gehört in den Papierkorb wie alle anderen. Vielen Dank. ({13})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir beschließen heute in zweiter und dritter Lesung das Lobbyregistergesetz. ({0}) Ich bin sehr froh, dass wir das heute zum Abschluss bringen können. Es hat dem einen oder anderen – mir auch – zu lange gedauert. Die einen sagen: Es hat schon vor der Wahlperiode viel zu lange gedauert. Ich sage: Auch in dieser Wahlperiode hat es sich zum Schluss noch etwas verzögert. Wir hatten es nicht im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart. Gleichwohl hat die Union 2019 die Initiative ergriffen, ein Lobbyregister einzuführen, und wir hätten es auch in 2020 abschließen können, wenn wir uns nicht dreimal hätten einigen müssen. Aber Ende gut, alles gut. Das Ergebnis zählt. Worum geht es? Wir wollen Lobbyismus, Interessenvertretung regeln. Ich will vorab sagen: Interessenvertretung ist nicht per se etwas Schlechtes. Lobbyismus hat einen negativen Beigeschmack, eine negative Konnotation. Aber im Grunde ist es etwas Wichtiges und Gutes für die Demokratie. Es geht darum, dass Interessen vertreten und kenntlich gemacht werden, dass wir als Abgeordnete die Interessen kennen, über die wir dann am Ende abstimmen, dass wir Kontakt haben zur Wirtschaft, zur Zivilgesellschaft, zu NGOs, zu all den Gruppierungen, die Interessen vertreten und die bestimmte Interessen in einem Gesetzesvorhaben geltend machen. Uns geht es darum, das zu regeln und diese Interessenvertretung transparent zu machen. Was wird geregelt? Wir führen ein elektronisches Lobbyregister beim Deutschen Bundestag ein. Es wird eine Eintragungspflicht für Interessenvertreter bestehen, bevor sie mit uns, den Abgeordneten, den Mitarbeitern oder der Fraktion, Kontakt aufnehmen. Die Registrierungspflicht gilt auch bei Kontaktaufnahme mit der Bundesregierung. Das haben wir schon im Rahmen der ersten Lesung des Gesetzentwurfes angekündigt und jetzt auch in diesen Gesetzentwurf aufgenommen. Die anzugebenden Informationen sind sehr weit gefasst. Das will ich im Einzelnen nicht ausführen. Daran kann man sehen, in wessen Auftrag Interessen vertreten werden und mit welchem finanziellen Aufwand dort vorgegangen wird. Wir haben im Gesetzentwurf Sanktionen vorgesehen. Wer gegen die Registrierungspflicht verstößt oder falsche Angaben macht, kann mit einem Ordnungsgeld von bis zu 50 000 Euro belegt werden. Und es wird ein Verhaltenskodex vorgeschrieben, auf den man sich verpflichtet. Wir hatten ursprünglich vorgesehen, dass die Interessenvertreter sich selbst einen Kodex geben müssen, selbst ein Leitbild entwickeln sollen. Jetzt wird der Verhaltenskodex zwischen Bundestag, Bundesregierung und den Interessenvertretern verbindlich festgelegt. Ich glaube, damit kann man sehr gut leben. Nun gibt es natürlich auch Kritik an dem Lobbyregister. Den einen geht es zu weit, den anderen geht es nicht weit genug. Ich will mich nur auf einige Schwerpunkte beziehen. Zum einen ist die Rede davon, wir hätten zu viele Ausnahmen geschaffen. Dazu will ich zunächst einmal sagen: Allein die Anzahl der Ausnahmen sagt noch nichts darüber aus, wer wirklich am Ende ausgenommen worden ist. Es gibt aber eine Reihe von verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, denen wir gerecht werden müssen. Das ist Artikel 4 Grundgesetz, soweit es um Kirchen und Religionsgemeinschaften geht, das ist Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz – Koalitionsfreiheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das ist das Petitionsrecht, und es sind andere Dinge, auf die ich im Einzelnen nicht eingehen will. In Bezug auf Artikel 4 und Artikel 9 will ich zumindest ausführen, dass es vorbehaltlos garantierte Grundrechte sind und dass deshalb zum Beispiel das Grundrecht auf Religionsausübung sehr, sehr weit reicht. Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass auch die Tätigkeiten, die Kirchen zum Beispiel als Arbeitgeber ausüben – sei es die Caritas, die Diakonie oder andere –, davon erfasst sind. Das kann man kritisieren, das muss man auch nicht für richtig halten, aber das sind die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen wir uns bewegen. Dann wird zum Teil Kontakttransparenz gefordert. Dazu sage ich ganz klar: Gegenüber Abgeordneten kann es das nicht geben. Auch da gibt es verfassungsrechtliche Grenzen. Das freie Mandat verbietet so etwas in meinen Augen. Wir wollen aber auch keine Hürden aufbauen für einen Kontakt zwischen Abgeordneten und Zivilgesellschaft, Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen. Deshalb kann es dort nie – das halte ich auch rechtlich nicht für zulässig – zu einer Offenbarungspflicht hinsichtlich Termin, Gegenstand und Gesprächspartner kommen. Dann geht es noch um den exekutiven Fußabdruck, den wir im Gesetz nicht vorgesehen haben. Dazu kann ich nur sagen: Es gibt einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung. Die Bundesregierung hat eine Geschäftsordnungsautonomie. Sie kann alles, was im Rahmen eines exekutiven Fußabdrucks gefordert ist, machen, aber sie muss es selbst machen, und zwar in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. In diesem Gesetz ist dafür kein Platz. Deshalb sage ich hier als Fazit: Es ist ein gutes Lobbyregistergesetz, das wir hier machen. Ich bin froh, dass wir das heute verabschieden können. Es ist ein Fortschritt im Bereich der Transparenz. Deshalb danke ich allen, die daran mitgewirkt haben. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schnieder. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Seitz, AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen von CDU und CSU! Um den Sumpf aus Selbstbereicherung bis hin zum Korruptionsverdacht von Mandatsträgern der CSU trockenzulegen, hat ein gewisser Herr Söder aus Bayern nach einem scharfen Schwert verlangt. Das finden wir gut, und offensichtlich ist es bei Ihnen auch notwendig. Als Erstes muss deshalb Lobbytätigkeit reguliert werden. Der Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zum Lobbyregister sollte den Kollegen von der Union gefallen, denn er ist, anders als der Entwurf der GroKo, geeignet und dazu bestimmt, Transparenz wirklich herzustellen. ({0}) Uns als AfD ist dabei wichtig, dass das Gesetz nicht auf den wirtschaftlichen Lobbyismus eingeengt wird und sogenannte NGOs in gleicher Weise Transparenz herstellen. Denn auch viele NGOs, die nicht demokratisch legitimiert sind und in Wahrheit meist einer anderen Agenda folgen als öffentlich verlautbart wird, haben Millionen von Euro aus dubiosen Quellen zur Verfügung und beeinflussen Debatten im Sinne ihrer eigenen Ziele. ({1}) Ja, jeder sollte das Recht haben, angehört zu werden und für sich zu werben: auch ein Unternehmen, auch eine NGO. Ein freier Staat darf das nicht verbieten. Aber Gehör zu finden, ist etwas anderes, als sich Einfluss zu erkaufen. Deshalb müsste eine wirksame Transparenzregelung vom Minister bis hinunter zur Referentenebene greifen und nicht Letztere ausnehmen, wie es die GroKo heute beschließen will und vermutlich auch wird. Denn dies ist nichts anderes als eine bewusste und planvolle Einladung zur Umgehung der Bestimmungen, die jetzt verabschiedet werden; denn niemand verbietet einem Staatssekretär oder Abteilungsleiter, das Gespräch zwischen einem Lobbyisten und einem Referenten durch eine geöffnete Zwischentür zu verfolgen. Und die effektivste Beeinflussung setzt doch bei dem an, der den ersten Entwurf formuliert, also beim Referenten. Diese Ebene nehmen Sie bewusst aus. Der nächste Mangel Ihrer Änderungsfassung ist der umfassende Katalog an Ausnahmen, die jetzt sogar noch zahlreicher sind als im ersten Entwurf und auch inhaltlich zu einer geringeren Anwendungsbreite des Lobbyregisters führen werden. Warum diese Ausnahmen falsch sind, zeigt das Beispiel der Kirchen. Diese bieten nicht nur Gottesdienste an, sondern machen als Teil der Sozialindustrie über Caritas und Diakonie Milliardenumsätze, Umsätze, die nicht von einem freien Markt abhängen, sondern von der Sozialgesetzgebung. Insoweit unterscheiden sich Einrichtungen der Kirche nicht von den Interessenverbänden irgendwelcher Branchen wie Automobil oder Versicherung. ({2}) Uns als AfD ist wichtig: Transparenz erfordert auch zwingend den legislativen Fußabdruck, also die Kenntnis, welche Interessenvertreter im Laufe des Verfahrens Einfluss auf ein Gesetz genommen haben. Warum fehlt er dann in Ihrem Entwurf? Ist ein Kollege Amthor vielleicht doch nicht so geläutert, wie der Öffentlichkeit vorgespielt wird? Meine Damen und Herren, insbesondere wieder von der Union, gestern haben wir erlebt, wie eine – sagen wir einmal – handwerklich suboptimale Idee zum Oster-Lockdown eingestampft wurde, was die Mehrheit unseres Volkes sehr gut findet und auch unsere Fraktion begrüßt. Auch Ihr Entwurf zum Lobbyregister ist, mit den Worten von König Söderle von Bayern, kein scharfes Schwert, sondern allenfalls ein Fischmesser mit stumpfer Klinge. ({3}) Wenn Sie von der Union wirklich wollten, dass Selbstbereicherung und Vorteilsnahme zumindest erschwert werden, dann müssten Sie heute gegen Ihren eigenen Antrag stimmen. Ich komme zum Schluss. Warten Sie nicht, bis vielleicht demnächst ein aufgeflogener Raffke von der Kripo aus dem Plenarsaal gezogen wird. Da hilft dann auch keine Ehrenerklärung mehr.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Zeigen Sie Größe und stimmen Sie für den Antrag der AfD, wenn es Ihnen wirklich um echte Transparenz und nicht nur um ein Feigenblatt geht. ({0}) Vielleicht ist das Ihre letzte Chance bei den Wählern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte kommen Sie jetzt zum Schluss.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Denken Sie an das Schicksal – – ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine späte Stunde, aber es ist eine große Stunde für die deutsche Sozialdemokratie. ({0}) Seit mehr als zehn Jahren fordern wir ein effektives und verbindliches Lobbyregister, und heute ist der Tag, an dem wir sagen können: Wir haben es erreicht. ({1}) Erstmalig müssen sich Lobbyisten in ein Register beim Deutschen Bundestag eintragen. Sie müssen darin Auskunft geben über ihre Tätigkeit, ihre Vorhaben, ihre Auftraggeber und ihre finanziellen Aufwendungen. Sie müssen einen verbindlichen Verhaltenskodex annehmen, der Grundsätze integrer Interessenvertretung vorsieht. Verstöße gegen die Registrierungspflicht werden mit einem Bußgeld geahndet. Verstöße gegen den Verhaltenskodex werden im Register veröffentlicht. Im Register wird ebenfalls veröffentlicht, wer sich weigert, Finanzangaben zu machen. Dadurch schaffen wir eine öffentlich einsehbare schwarze Liste, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, trifft die Lobbyisten hart. Als zusätzliche Sanktion bekommen dann Lobbyisten keinen Hausausweis, und sie werden nicht zu öffentlichen Anhörungen eingeladen. Das, Herr Buschmann, ist eine zusätzliche Sanktion und keineswegs die härteste. Und wenn Sie gleich reden, erzählen Sie nicht wieder was Falsches, so wie letztes Mal. Ich sage Ihnen: lieber gar nicht reden als schlecht reden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einige Ausnahmen für Organisationen und Personen, die sich nicht registrieren lassen müssen. Das hängt mit dem Regel-Ausnahme-Prinzip des Gesetzes zusammen; der Kollege Schnieder hat es eben erläutert. Es hat nämlich einen sehr breiten Anwendungsbereich. Interessenvertretung ist nach § 1 des Gesetzes – ich zitiere – jede Kontaktaufnahme „zum Zweck der unmittelbaren oder mittelbaren Einflussnahme“ auf Bundestag oder Bundesregierung. Das ist eine sehr, sehr weite Definition. Aber natürlich soll und kann nicht jede Einflussnahme eine registrierungspflichtige Lobbytätigkeit sein, und deswegen sind die Ausnahmen nötig. Denn natürlich ist es nicht registrierungspflichtig, wenn Bürgerinnen und Bürger gegenüber Abgeordneten nur persönliche Interessen formulieren oder wenn sie eine Petition einreichen oder sie ein öffentliches Mandat wahrnehmen oder, oder, oder. Wir haben alle Ausnahmen im Gesetz zusammengefasst. Und das sind natürlich einige; das liegt einfach in der Natur der Sache. Eine Ausnahmeregelung will ich hier erläutern, weil ich glaube, dass sie erläuterungsbedürftig ist. Sie betrifft Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Ausnahme muss sein; das hat auch die Sachverständigenanhörung ergeben. Denn Artikel 9 unseres Grundgesetzes gewährt die Koalitionsfreiheit, und zwar schrankenlos. Die Privilegierung für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gilt allerdings nur, soweit sie zur Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beitragen; denn nur das wird vom Grundgesetz privilegiert. Für das Lobbyregister heißt das, dass auch nur das eine Ausnahme rechtfertigt. Wenn Gewerkschaften sich beispielsweise für die Sterbehilfe einsetzen oder Arbeitgeber für die Organspende, dann hat das nichts mit der Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu tun, ({3}) und dann begründet das keine Ausnahme mehr. Und dann müssen sie sich genauso registrieren lassen wie alle anderen Lobbyisten auch. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hier vorliegende Lobbyregistergesetz ist ein wirklich gelungenes Gesetz. Dennoch gibt es einen erheblichen Wermutstropfen: Das ist der fehlende exekutive Fußabdruck. Unter „exekutivem Fußabdruck“ versteht man die Veröffentlichung aller Lobbyistenkontakte und aller Lobbyistenstellungnahmen; das muss jedem Gesetz beigefügt werden. Die SPD wollte das, und ich sage Ihnen hier ganz offen: Wir haben es nicht durchbekommen. ({5}) Mit der Union war das auf Teufel komm raus nicht zu machen. Offen gestanden: Ich hatte gehofft, dass die Vorkommnisse der letzten Wochen dazu beitragen, dass die Union ihre Verweigerungshaltung überdenkt, dass sie sich doch zu mehr Transparenz bekennt. Das war leider eine vergebliche Hoffnung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden nicht lockerlassen. Ich sage Ihnen: Die erste Amtshandlung des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz ({6}) wird die Einführung des exekutiven Fußabdrucks sein. Ich danke Ihnen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartke. Aber auch ein potenzieller Bundeskanzler Scholz kann das nicht einführen, sondern das ist immer noch Aufgabe der Regierung insgesamt oder des Deutschen Bundestages. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marco Buschmann, FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Hauptmangel eines Lobbyregistergesetzes ist es sicherlich, wenn man einige der größten Lobbyverbände von vornherein außen vor lässt. Dieser Gesetzentwurf enthält scheunentorgroße Ausnahmen, er ist löchrig wie ein Schweizer Käse, er war es von Anfang an, und er ist es immer noch – das sind die Fakten. ({0}) Dahinter steckt, dass beispielsweise Kirchen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände herausgenommen werden. Und jetzt hören wir hier ja, das erfordere angeblich unser Grundgesetz. ({1}) Bei dieser Pauschalausnahme sind Ihnen ja sogar die eigenen Sachverständigen in der Anhörung von der Fahne gegangen, Herr Bartke. Erinnern Sie sich doch mal: Die Sachverständigen haben erläutert: Natürlich gibt es verfassungsrechtlich empfindliche Bereiche, natürlich kann man nicht verlangen, dass man Streikkassen offenlegt, natürlich kann man nicht verlangen, dass man Mitgliederlisten offenlegt; aber das bedeutet doch nicht, dass man die Gewerkschaften pauschal aus der Registrierungspflicht herausnehmen muss. Das ist doch – wie man bei Ihnen im Norden sagt – dumm Tüüg, Herr Dr. Bartke, und das wissen Sie auch selber. ({2}) – Herr Bartke, ich gehe gerne darauf ein. – Herr Dr. Bartke erzählt uns jetzt die Geschichte, dass der DGB-Gewerkschaftssekretär, der seine Anliegen vortragen will, hereinkommt und sagt: Ich möchte jetzt über die Wirtschafts- und Sozialbedingungen reden, dann beende ich das Gespräch, verlasse den Raum, und dann kommt der Gewerkschaftssekretär von DGB 2, der mit mir nichts zu tun hat, und trägt etwas völlig anderes vor. – Dieses Märchen können Sie auf dem Parteitag erzählen, aber nicht im Deutschen Bundestag. ({3}) Das ist nirgendwo im Gesetz hinterlegt. ({4}) – Herr Dr. Bartke, lesen Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf. Ich möchte Ihnen mal eins sagen: Wir haben hier in den letzten Tagen und Wochen viel von Verantwortung gehört, wir haben viel von „Respekt vor den Institutionen zurückgewinnen“ gehört, wir haben viel davon gehört, dass Sie jetzt aber wirklich entschlossen sind. Aber wenn wir diesen Gesetzentwurf lesen, dann kommen wir zu dem Schluss, dass er doch nicht mehr ist als der kleinste gemeinsame Nenner. Und wenn Sie das hier abfeiern wollen, Herr Dr. Bartke, dann ist das nichts anderes als ein parteipolitisches Manöver. Dieser Entwurf ist vielleicht besser als nichts; aber er ist doch nicht mehr als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Das wird nicht reichen, um Vertrauen zurückzugewinnen, und es reicht auf keinen Fall für eine Zustimmung der Freien Demokraten. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Buschmann. Als ebenfalls Norddeutscher kann ich Ihnen sagen: Es heißt nicht „dumm Tüüg“, sondern „dumm Tüüch“. Das muss man vielleicht einem Nordrhein-Westfalen sagen. ({0}) – Gut, ein Westfale. Ich weiß nicht: Ist das eine Abstufung gegenüber „Nordrhein-Westfale“? ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({2})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ist es erfreulich, dass wir heute zusammenkommen und endlich ein Lobbyregister beschlossen werden soll. Doch wenn man von der Schlagzeile „Die Koalition einigt sich beim Lobbyregister“ aus weiter ins Detail geht, dann sieht alles schon wieder nicht mehr so wunderbar und zufriedenstellend aus. Es geht mir gar nicht nur um den Inhalt des vorgelegten Gesetzes, sondern auch um das Zustandekommen. Seit Jahren fordern wir, genauso wie nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, ein Lobbyregister für Deutschland. Die von uns und anderen Fraktionen vorgelegten Gesetzentwürfe haben Sie von der Union und der SPD mit Ihrer Ausschussmehrheit ausgebremst, wo Sie nur konnten. Und immer wenn es in der Öffentlichkeit eng für die Union wurde, weil einer oder gleich zahlreiche Ihrer Abgeordneten unter massiven Beschuss gerieten, weil sie Gemeinwohl und schamlosen Eigennutz durcheinandergebracht haben, dann kamen Sie mit dem Lobbyregister um die Ecke. Das Lobbyregister ist längst überfällig. ({0}) Aber dass Sie es immer wieder hervorkramen, wenn Sie wegen möglicher Korruptionsfälle angezählt werden, zeigt vor allem zwei Dinge: dass Sie – erstens – den Menschen da draußen nicht zutrauen, Ihren billigen Taschenspielertrick zu durchschauen, bei dem Sie mit längst überfälligen Regelungen punkten wollen, die an den aktuellen Fällen rein gar nichts geändert hätten, und dass es – zweitens – vor allem Ihnen von der Union gar nicht ernst ist mit der besseren Kontrolle von Lobbyismus. Denn um etwas anderes geht es auch mir und meiner Fraktion ja gar nicht: Wir wollen Lobbyismus nicht verbieten; wir wollen aber, dass jede Bürgerin, jeder Bürger in diesem Land die Möglichkeit bekommt, zu erfahren, wer Einfluss auf Gesetze genommen hat. Dieser sogenannte legislative Fußabdruck fehlt nach wie vor. Aber ohne diesen ist ein Lobbyregister nicht einmal die Hälfte wert, weshalb wir Ihnen die Möglichkeit zur Korrektur geben wollen und einen entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt haben. ({1}) Sie haben sich nun doch dazu durchringen können, dass die Regierung in die Regelungen des Lobbyregisters mit aufgenommen wird. Es freut mich, dass Sie verstanden haben, dass ein Lobbyregister, das nur für rund 10 Prozent der Gesetzentwürfe angewendet werden müsste, eine absolute Frechheit gewesen wäre. ({2}) In Ihrem jetzigen Entwurf ziehen Sie die Grenze für die Dokumentation von Gesprächen auf der Unterabteilungsleiterebene. Und wo entstehen in den Ministerien die ganzen Gesetze? – Der Titel verrät es: Die meisten davon kommen zunächst als Referentenentwurf in Umlauf. Sie entstehen also auf Referatsebene, genau eine Ebene unterhalb der Transparenzpflicht. Gut für die Wirtschaft, schlecht für die Allgemeinheit. ({3}) Sie schaffen zudem zahlreiche Ausnahmen von der Transparenzpflicht; es ist angesprochen worden. Ich will einen Punkt herauspicken: Die Sanktionen sind viel zu milde, der Entzug des Hausausweises ändert überhaupt nichts. Dann lässt man sich eben an der Pforte anmelden. Und letztlich sind 50 000 Euro Strafe für Unternehmen bei absichtlichen Falschangaben viel zu wenig. ({4}) Für eine solche Summe greift man in der Unionsfraktion ja noch nicht einmal zum Hörer, um Herrn Spahn überteuerte Masken anzudrehen oder zu vermitteln. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 12. Juni 2020 berichtete die Presse über die Amthor-Affäre und fragte: „Ist Philipp Amthor käuflich?“ – Ein paar Tage später, am 3. Juli 2020, die große Eilmeldung: Die Koalition einigt sich auf ein Lobbyregister. – 2020! Wir mussten lange warten, meine Damen und Herren. Heute nun liegt ein Gesetzentwurf vor, der beschlossen werden soll. Am 25. Februar 2021: Maskenaffäre Nüßlein. Am 2. März 2021 – im selben Medium – die Meldung: Einigung beim Lobbyregister. Und schon feierte sich diese Koalition aus CDU/CSU und SPD und überschlug sich öffentlich schulterklopfend, dass man nun endlich den Durchbruch erreicht hat. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD, können Sie mir die Frage beantworten, warum Sie nur handlungsfähig sind, wenn Druck im Kessel ist? ({0}) Nur weil der öffentliche Druck so groß war, gab es minimale Bewegungen. Es liegt uns ein Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Lobbyregisters vor, das allenfalls ein erster Schritt ist. Gleichzeitig ist es eine verpasste Chance. Wir haben die letzten zehn Jahre dafür gestritten, dass es im Deutschen Bundestag zur Einführung eines gesetzlichen Lobbyregisters kommt. Dass es so lange gedauert hat, lag in erster Linie an der Blockade der CDU/CSU; aber auch die SPD hat sich nicht besonders forsch daran beteiligt. ({1}) Ich bin froh, dass es diesen ersten Schritt gibt, auch wenn klar ist, dass es eine verpasste Chance ist. ({2}) Ich will Ihnen sagen, warum. Sehr viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsverbände haben jahrelang dafür gestritten. Wir wollten, dass Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Offenlegung von politischer Interessenvertretung demnächst für Bundesregierung und Bundestag insgesamt gelten. Sie haben der Bundesregierung gegenüber Zugeständnisse gemacht, indem Sie darauf verzichten, dass ab der Ebene der Referentinnen und Referenten eine Nachweispflicht besteht. Warum eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, verzichten Sie in einer solchen öffentlichen Lage darauf? Der legislative Fußabdruck kommt nicht. Warum bedauern Sie das hier mit Krokodilstränen, anstatt weiter zu verhandeln? ({3}) Die CDU/CSU ist in einer ziemlich schlechten Lage, und Sie hätten die öffentliche Lage nutzen können, um mit FDP, mit Linken und mit Grünen mehr Druck zu machen, damit dieses Lobbyregister wirklich gut ist und Lobbytätigkeit durch einen legislativen Fußabdruck dargelegt wird. Darauf haben Sie verzichtet.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das finde ich bedauerlich. Deshalb ist es allenfalls ein erster Schritt und nicht mehr. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Nunmehr erhält das Wort der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Da hilft alles Schreien nichts: Das, was wir vorlegen, ist weltweit das am weitesten gehende Werk, das den Umgang mit Interessenvertretung gegenüber Parlament und Regierung regelt. Das finden Sie nirgendwo auf der Welt. ({0}) Ich kann nur sagen: Tatsache ist, dass wir mit einem Satz angefangen haben, und der Satz lautete: Der Deutsche Bundestag führt ein Lobbyregister ein. – Die Vorlage jetzt umfasst neuneinhalb Seiten. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten: Wir haben den gesamten Gesetzgebungsprozess vor allem hinsichtlich der Interdependenzen zwischen Regierung und Parlament abgebildet. Deshalb tut man sich an dieser Stelle sehr schwer, in irgendeiner Art und Weise großartig Kritik an dem Gesetzentwurf anzubringen. Wie groß muss die Angst der FDP vor Interessenvertretungen wie Gewerkschaften und Kirchen sein? ({1}) Entschuldigen Sie bitte, aber diese Panik kann man nicht nachvollziehen. Es sind verfassungsrechtliche Gründe, die zu den Ausnahmen geführt haben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Kollegen, aber angesichts dessen, was die AfD heute vorgeschlagen hat – Sie wissen, dass ich ein Faible für Karl Kraus habe –, kann ich nur sagen: Es reicht anscheinend nicht aus, nichts zu sagen zu haben, man muss auch noch unfähig sein, es auszudrücken. ({2}) Jedenfalls habe ich überhaupt nicht verstanden, was letztendlich der Ansatzpunkt ist. Wir wollen die Expertise. Wir wollen den Sachverstand. Wir wollen die Meinung der Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen, dass die Menschen, die Verbände und auch die Unternehmen mit ihrer Expertise an diesem Prozess teilhaben. Das muss bis tief in jedes einzelne Ministerium gehen. Die politische Verantwortung für jeden Entwurf, der rausgeht, liegt beim Unterabteilungsleiter. Genau so weit sind wir auch gegangen. Genau das ist wirklich sinnvoll. An die Linksbündnis/Rot-Adresse appelliert: Sie wissen, was ein legislativer bzw. ein exekutiver Fußabdruck bedeutet? Das bedeutet, dass nicht nur bei jedem innerhalb der Fraktionen, sondern auch bei der gesamten Bundesregierung über alles, was dort passiert, ein Wortprotokoll erstellt werden muss, weil Sie sonst anschließend weder Begrifflichkeiten noch sonst irgendetwas nachvollziehen können. ({3}) Lesbarer und besser vorbereitet wird die gesamte Art und Weise des Gesetzgebungsverfahrens dadurch nicht. Sie als Abgeordnete sind Ihrem Gewissen unterworfen. Sie sind Ihrer eigenen Expertise unterworfen. Am Ende des Tages hilft Ihnen die Information „Jetzt weiß ich genau, wo das herkommt“, kein Jota weiter. Sie müssen Entscheidungen selbst politisch verantworten. Ihr Vorschlag wäre ein Irrsinn an bürokratischer Verwaltung. Weil die Verzweiflung schon sehr groß sein muss, weil einem nichts Gutes mehr dazu einfällt, wie man beim vorgelegten Lobbyregister noch einen draufsatteln kann, hat sich Die Linke gedacht: Ein bisschen was geht immer, also schafft man einen Beauftragten für Lobbyismus. – Das führt allerdings zu mehr Bürokratie; aber okay, wir haben nichts anderes erwartet. Aber dann kommt man zu dem Ergebnis: Wenn dieser die Angaben prüft und am Ende des Tages sagt: „Das reicht mir nicht“, erhält er darüber die Befugnis, Grundstücke zu betreten, Räume zu durchsuchen, Vorlagepflichten ohne jegliche Form von richterlichem Vorbehalt durchzusetzen. Herr Straetmanns, bitte! Dass Die Linke ein etwas gespaltenes Verhältnis zum Rechtsstaat hat, das verstehe ich ja noch; das können wir nachvollziehen. ({4}) Aber das geht nun wahrlich zu weit. ({5}) Dass man an dieser Stelle die Expertise, das Einbringen von Sachverstand, die Meinung, die Haltung der Menschen in diesem Land auf diese Art und Weise herauszuhalten versucht, das schlägt dem Fass nun wirklich den Boden aus. Am Ende des Tages hat das überhaupt nichts mehr mit Transparenz zu tun. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. Sie hatten mich vorhin so erstaunt angeschaut. Zwischenrufe beleben die parlamentarische Debatte. Ich wollte Sie jetzt nicht rügen wegen der nicht aufgesetzten Maske – Sie waren von sich so begeistert, dass mir klar war, dass das – – ({0}) – Ich bin immer noch begeistert. – Ich wollte Ihnen nur sagen: Zwischenrufe beleben die parlamentarische Debatte. Dass, wenn Leute Maske tragen und zwischenrufen, wir nichts verstehen, müssen die Kolleginnen und Kollegen mit sich selbst ausmachen. Ich habe gesehen, dass die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen das Prinzip verstanden haben und dann, wenn Sie zwischenrufen, die Maske abnehmen, damit der Zwischenruf fürs Protokoll wahrnehmbar wird. Also auch hier ist Bündnis 90/Grüne vorne. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Marco Bülow, fraktionsloser Abgeordneter.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Fünfzehn Jahre kämpfe ich jetzt für das Lobbyregister. Deswegen stünde jetzt eigentlich eine Party an. Aber die wird nicht nur wegen Corona abgesagt. An dem, was mein Vorredner hier gesagt hat, merkt man, dass die Union immer noch nicht begriffen hat, warum wir ein Lobbyregister brauchen. Wenn er sogar so weit geht, das Rechtsempfinden einer Fraktion infrage zu stellen, muss man sich angesichts der Vorkommnisse der letzten Wochen in der Unionsfraktion wirklich fragen, wo man hier gelandet ist. ({0}) Immer wieder versuchen Sie, Lobbyismus gleichzusetzen, indem Sie sagen: Die Bürgerinnen und Bürger haben ja ein Recht, das zu machen. – Ja, natürlich haben sie das. Aber es gibt eine riesige Waffenungleichheit in Deutschland, was Lobbyismus angeht: Die einen betreiben gut ausgestattete Büros mit gut bezahlten Menschen, die dort arbeiten und Profitlobbyismus betreiben. Die anderen sind Initiativen, Vereine und Menschen, die kein Geld dafür haben, die das nebenbei betreiben. Da brauchen wir Waffengleichheit. ({1}) Transparenz ist nur ein erster Schritt. Gehen wir noch einmal in die Geschichte – Frau Haßelmann hat das ja schon deutlich gemacht –: Es gäbe doch jetzt gar kein Lobbyregister, wenn es den Fall Amthor nicht gegeben hätte; denn im Koalitionsvertrag steht nichts von einem Lobbyregister. Komisch, dass die FDP und die Grünen darauf nicht eingegangen sind; denn in den Koalitionsverhandlungen zu Jamaika stand es in einem Vorvertrag. ({2}) Bei Rot-Schwarz aber nicht. Also, wer will es denn wirklich? Ich war dabei und weiß, dass die SPD sehr verschämt von diesem Lobbyregister bei Koalitionsverhandlungen immer als Erstes Abstand genommen hat. ({3}) Also geben Sie das doch zu ({4}) und tun Sie hier nicht so, als ob Sie der große Vorkämpfer gewesen wären! Klar ist: Transparenz ist eine Selbstverständlichkeit, und genau die führen wir ein. Aber damit verhindern wir keinen Lobbyismus, damit verhindern wir keine Korruption. Deswegen brauchen wir insgesamt Regeln, die dazu führen, dass das verhindert wird. Wir brauchen – das müssen wir machen – einen wirklichen Ehrenkodex und nicht irgendeine Ehrenerklärung der Union, die nach der Wahl wieder vergessen ist. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Ich komme zum Ende; vielen Dank, Herr Präsident. – Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Profitlobbyismus zerstört werden muss. Danke. Mahlzeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie sehen, Herr Bülow, ich habe ein Herz für Minderheiten. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt, mit weniger Emotionen, ist der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein bisschen westfälischer Pragmatismus kann manchmal nicht schaden. Darum will ich an dieser Stelle einmal sagen: Immer wenn mich Schulklassen hier auf das Thema Lobbyismus angesprochen haben – als das noch möglich war –, habe ich ihnen gesagt, dass man da schon differenziert hinschauen muss, dass es Gespräche gibt, die wir alle führen: mit Initiativen, mit Wirtschaftsunternehmen im Wahlkreis, bei Gesetzgebungsverfahren natürlich auch mit Verbänden und mit Gewerkschaften. Aber – und das ist, glaube ich, das Entscheidende, und darum ist die Verabschiedung dieses Lobbyregisters am heutigen Abend ein wirklich wichtiger Schritt – damit das transparent ist und das nachvollziehbar ist, damit die Bürgerinnen und Bürger sehen können, wie das stattfindet und wie das geregelt ist, ist es wichtig, dass wir diese nicht einfachen Verhandlungen – das will ich durchaus einräumen – hiermit heute Abend auch zum Abschluss führen. Herr Schnieder, ich habe Ihrer Rede aufmerksam zugehört. – Zu Herrn Frieser sage ich zum Schluss noch etwas. – Man muss schon sagen: Die Bewegung, die wir in diesen Verhandlungen gespürt haben, kam immer erst, als das ein oder andere zum Vorschein kam, meist medial. Ich will hier nicht noch einmal an Philipp Amthor oder an Georg Nüßlein erinnern. Aber wir haben doch eine vermehrte Bewegung immer dann erlebt, wenn etwas vorgefallen war. ({0}) Nichtsdestotrotz: Wir sind in guten Gesprächen zu einem Ergebnis gekommen, und das ist, glaube ich, gut. Was Herr Seitz hier ausgeführt hat, hat mich, muss ich sagen, ein bisschen überrascht. Ich hätte großes Interesse daran, etwas über die schwarzen Kassen, über die heimlichen Spender im Hintergrund zu erfahren oder auch über die fragwürdige Art und Weise Ihrer Fraktionsvorsitzenden, Steuern zu zahlen. Sie könnten eine Menge dazu beitragen, Intransparenz aufzuklären. Leider ist das heute Abend auch nicht erfolgt. ({1}) Herr Buschmann, bei Ihnen bin ich ein bisschen überrascht, dass Sie plötzlich der große Fan eines transparenten Lobbyismus sind. Ich glaube, wir müssen gar nicht allzu sehr bis zu den Mövenpick-Geschichten ({2}) und Sonstigem, was da gewesen ist, zurückgehen. Aber daran zu erinnern, das gehört schon dazu, weil das eine Form von Intransparenz gewesen ist, die schon ein starkes Stück gewesen ist. ({3}) – Da Sie jetzt diesen Zwischenruf machen: Ich meine, wir diskutieren momentan ja nicht nur über das Lobbyregister. Wissen Sie, was mein Verständnis von Transparenz ist und mein Verständnis, was das Thema Nebeneinkünfte angeht? Das, was wir als Abgeordnetendiät erhalten, das ist absolut angemessen. Und es ist eine Kernaufgabe eines jeden Abgeordneten, Reden zu halten. ({4}) Wissen Sie, was ich nicht für richtig halte und was ich gerne verbieten möchte? Dass jemand Abgeordneter des Deutschen Bundestages ist und für Vorträge auch noch Geld nimmt. ({5}) Das kann nicht sein, das gehört verboten! ({6}) – Da können wir ja Ihren Fraktionsvorsitzenden einmal fragen. Ich will mal schauen, ob da dann wirklich Transparenz ist, ob Sie dann mitstimmen oder ob Sie an der Stelle einknicken, wie es das ein oder andere Mal schon der Fall war. ({7}) Herr Präsident, ich sehe, dass Sie das Warnlicht angestellt haben; daher will ich zum Schluss kommen. – Herr Frieser, bei allem Respekt: Wer im Glashaus sitzt, der sollte momentan nicht mit Steinen werfen! Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wiese; Sie haben in aller Ruhe zur emotionalen Bewegung bei den Abgeordneten beigetragen. Auch dafür bin ich Ihnen dankbar zu dieser Tageszeit. – Ich schließe damit die Aussprache.

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Multiples Politikversagen“, „Chaos Corona Club“, „Der Verhinderungsgipfel“, die Schlagzeilen zur jüngsten Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten sind genauso vernichtend wie die Ergebnisse für die Tourismusbranche in Deutschland. Die Enttäuschung ist riesengroß, egal mit wem man spricht. Nach den Herbst- und Weihnachtsferien fällt nun für Millionen von Menschen auch noch Ostern ins Wasser. Nicht einmal kontaktarmer Urlaub auf dem Campingplatz oder in einer Ferienwohnung ist möglich. Was für eine politische Bankrotterklärung dieser Bundesregierung! ({0}) Schwarz-Rot, meine Damen und Herren, hat erkennbar keinen Plan, und für diese Planlosigkeit müssen Hunderttausende Betriebe in der Veranstaltungswirtschaft, in der Reisewirtschaft, in der Gastronomie, in der Hotellerie, im Food-Service-Bereich und auch die Ferienhausbetreiber bitterböse bezahlen; ihre finanziellen Ressourcen sind aufgebraucht, sie stehen vor dem wirtschaftlichen Abgrund. Aber anstatt den besten Gastgebern der Welt jetzt endlich einmal eine verlässliche Perspektive zu geben, straft diese Bundesregierung eine der Topbranchen in Deutschland mit absoluter Nichtbeachtung. ({1}) Der für Tourismus zuständige Minister, Peter Altmaier, ist wieder einmal abgetaucht, heute Abend nicht anwesend! Mehr Desinteresse geht nun wirklich nicht. ({2}) Als Sprecher für Tourismus möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen: Urlaub im In- und Ausland ist in Verbindung mit Tests und klugen Hygienekonzepten absolut möglich. Reisen ist kein Pandemietreiber, wie jüngst Ihre Experten vom Robert-Koch-Institut auch noch einmal bestätigt haben. ({3}) Die Branche hat ihre Hausaufgaben gemacht – wann erledigen Altmaier, Scholz & Co eigentlich die ihrigen? ({4}) Und hören Sie auf, meine Damen und Herren, Auslandsreisen zu verteufeln! Entweder ist eine Destination ein Risikogebiet, oder sie ist es nicht. Mallorca als Urlaubsziel freizugeben und im gleichen Atemzug vor Reisen dorthin zu warnen, das zeigt doch nur die Absurdität Ihres Krisenmanagements. Wer jetzt noch ein generelles Verbot von Auslandsreisen prüft, dessen Verhalten ist an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten. Jeder, der Ahnung hat, kann da doch nur mit dem Kopf schütteln. ({5}) Meine Damen, meine Herren, der FDP liegt die mittelständisch geprägte Tourismuswirtschaft mit all ihren hervorragenden, großartigen Betrieben und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr am Herzen. Deswegen wollen wir mit den Anträgen, die wir heute vorgelegt haben, einen gangbaren Weg aus dieser Krise aufzeigen. Übrigens, jeder in der Branche ist auch bereit, bei der Coronabekämpfung mitzumachen. Wir Freie Demokraten wollen auch nicht morgen alles auf einmal aufmachen, falls das gleich als Totschlagargument wieder in dieser Debatte kommt. – Die Menschen und die Branche warten aber händeringend auf eine verlässliche Perspektive und auf einen Plan, und genau dieser Plan ist überfällig, vor allem, wenn man bedenkt, dass laut jüngster ifo-Konjunkturumfrage acht von zehn Betrieben – ich wiederhole: acht von zehn Betrieben – existenzbedroht sind. Lassen Sie mich daher drei Punkte aus unserem Antrag herausgreifen: Wir fordern erstens umgehend einen bundesweiten Stufenplan für den Neustart des Tourismus – und das bitte in enger Abstimmung mit der Branche; denn die haben sich unglaublich viele Gedanken gemacht und unglaublich viele gute Konzepte auf den Tisch gelegt. Sprechen Sie doch endlich mal mit denen! ({6}) Zweitens benötigen wir einen Kurswechsel bei den Wirtschaftshilfen und einen Unternehmerlohn. Wir schlagen vor, die Hilfe über die Finanzämter auszuzahlen und als Berechnungsgrundlage den Rückgang vom Betriebsergebnis zu nehmen – Stichwort: Kieler Modell. ({7}) Damit garantieren wir übrigens auch, dass die mittelständisch geprägten familiengeführten Hotelketten nicht weiter leer ausgehen; denn die haben bislang gar nichts gesehen. Denen müssen wir genauso helfen. ({8}) Das Verbot von touristischen Übernachtungen wollen wir drittens unter der Voraussetzung von effektiven Hygienekonzepten aufheben. Gleiches gilt für die Gastronomie – stufenweise, außen wie innen. Stupides Wegsperren, unsinnige Reiseverbote und massive Eingriffe in unsere Freiheits- und Bürgerrechte sind keine Antworten auf diese Pandemie, impfen, impfen, impfen hingegen schon.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Daher: Nutzen Sie endlich die Möglichkeiten, die Impfkampagne zu beschleunigen! Nur so können wir einen echten, erfolgreichen Neustart für die Tourismusbranche mit über 3 Millionen Beschäftigten in diesem Jahr garantieren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir alle hoffen auf einen Neustart und würden auch gerne wissen, wann es denn dazu kommt. Der gleichlautende Antrag der FDP ({0}) liefert dazu eine Liste von möglichen Maßnahmen, die gut und richtig sind und deshalb zum großen Teil von uns schon umgesetzt wurden. ({1}) Alle Branchen – vor allem die Tourismuswirtschaft, die von Anfang an von Einschränkungen extrem und brutal getroffen ist – fordern Öffnungsperspektiven, und ich verstehe die Menschen, die Unternehmer und auch ihre Mitarbeiter sehr gut. Alle diese Branchen unterstreichen, dass genau sie keine Treiber der Infektion seien. Dennoch haben sich gestern wieder über 22 600 Menschen neu infiziert. Vor allem die Variante B.1.1.7 ist nicht nur ansteckender, sondern wohl auch tödlicher. – So viel zum Thema Fahrplan aus der Krise! Wenn wir den Fahrplan Ende letzten Jahres aufgestellt hätten und wir auf Basis der Erfahrung mit Covid-19 geplant hätten und wenn die Unternehmen und Betriebe sich auf diese, wie du es gesagt hast, verlässliche Perspektive verlassen und sich darauf eingestellt hätten, dann müssten wir heute aufgrund der aktuellen Entwicklung – verursacht durch die britische Mutation – alle Pläne wieder in die Tonne treten; denn das Virus interessiert sich eben nicht für unsere Pläne. Deshalb müssen wir weiter auf Sicht fahren – leider. ({2}) Dabei verstehe ich den Wunsch nach Planungssicherheit. Die will ich auch, und Planungssicherheit will auch die Regierung. Das war auch der Grund, warum die Länder am 3. März 2021 mit dem Bund die Öffnungsschritte beschlossen haben – mit klaren Werten, mit Maßnahmen, aber eben auch mit Notbremsen. ({3}) Öffnungsperspektiven schaffen und diese dann bei steigenden Infektionszahlen zwei Wochen später wieder kassieren: Das ist zweifelhaft. – Zweifelhaft ist auch, ob die Menschen in dieser Situation Kneipen, Restaurants und Hotels überhaupt besuchen würden – und sei das Konzept noch so gut. ({4}) Wir haben es doch im letzten Sommer gesehen. Draußen, in den Biergärten, war es voll; drinnen, in den Restaurants, war es leer. Auch der Tenor des FDP-Antrags, dass ganze Branchensegmente im Tourismus keinerlei oder zu geringe Wirtschaftshilfen bekämen, kann man so nicht stehen lassen. 85 Prozent der Novemberhilfen – 4,8 Milliarden Euro – wurden ausbezahlt, 78 Prozent der Dezemberhilfen – 0,7 Milliarden Euro – wurden ausbezahlt. ({5}) Daneben nenne ich das Kurzarbeitergeld und die neue Überbrückungshilfe III in Höhe von 1,4 Milliarden Euro, und gerade unsere Fraktion hat neu noch durchgesetzt, dass auch die Mischbetriebe wie Brauereigaststätten jetzt förderfähig sind. ({6}) Manche Kritikpunkte entbehren jeder Grundlage, zum Beispiel die Forderung in dem Antrag, dass Investitionen in Digitalisierung gefördert werden sollen. Aber das ist doch schon Realität; das ist in der Überbrückungshilfe III schon mit drin. Auch die Möglichkeit – auch das ist ein Wunsch –, die Außengastronomie aufzumachen, ist bereits im Öffnungskonzept enthalten und ist in einigen Bundesländern aktuell schon in der Umsetzung. Ja, manches mag langsam vorangehen; das ist der Preis des Föderalismus, des Rechtsstaats und auch der Kontrolle, um Betrug zu vermeiden. Es ist nicht alles gut und erst recht nicht alles perfekt, was wir tun, aber wir helfen der Tourismusbranche in dieser Naturkatastrophe, und wir werden es auch weiter tun. ({7}) Und dann haben wir heute Abend auch noch den FDP-Antrag vom 17. November letzten Jahres mit dem Titel „Unterstützung für das System Luftverkehr in Zeiten von Corona“ auf dem Tisch. Das ist ein guter Antrag, lieber Marcel Klinge. Wir haben am 20. November letzten Jahres im Verkehrsausschuss ausführlich darüber beraten und kamen mit großer Mehrheit zum Ergebnis: Wir lehnen ihn ab. ({8}) Ich habe gesagt, es ist ein guter Antrag, und trotzdem lehnen wir ihn ab. Passt das zusammen? Ja, das passt zusammen. Die Luftverkehrswirtschaft ist für den Industrie- und Tourismusstandort unverzichtbar. Airlines, Flughäfen, Serviceeinrichtungen sind von der weltweiten Pandemie brutal getroffen. Wir sehen Passagier- und Einnahmerückgänge in ungekanntem Ausmaß. Und was fordert ihr? Eine Rückführung von Reiserestriktionen! Das ist richtig und haben wir sehr differenziert gemacht. Daneben fordert ihr Schnelltestverfahren, die wir eingeführt haben. Schnelltests sollen vor dem Abflug im Ausland vorgenommen werden. Auch das sogenannte Freitesten wird gefordert. Außerdem sollen Defizite der Flugsicherung in Höhe von 300 Millionen Euro übernommen werden. Auch das alles ist erledigt. Ich könnte mit der Aufzählung so weitermachen. – Sie sehen, es ist ein guter Antrag, aber es ist wie bei „Der Hase und der Igel“.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Donth.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der FDP-Hase hechelt mit seiner Idee heran, der Koalitions-Igel kann rufen: Ich bin schon da; haben wir schon gemacht. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie wissen, es waren immer zwei Igel, die an dem Rennen teilgenommen haben. – Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Münzenmaier, AfD-Fraktion. ({0}) Und auf Ihrem Weg nach vorne gebe ich bekannt, dass wir es geschafft haben, zwei Stunden einzusparen. Wenn wir noch eine halbe Stunde schaffen können, dann können die Bediensteten des Deutschen Bundestags noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren. Also, gerade die Fraktionen, die für Umweltschutz sind, sollten sich jetzt in dieser Frage engagieren, damit wir dort weiterkommen. ({1}) Herr Kollege Münzenmaier, Sie haben das Wort.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Reisen in Zeiten von Corona ist keine leichte Sache. Reisewarnungen, Risikogebiete und die Pflichtquarantäne nach der Reiserückkehr sorgen zuverlässig dafür, dass die Menschen eben nicht mehr reisen; und außerdem scheint Reisen auch politisch nicht mehr erwünscht zu sein. Das wird zumindest von der Bundesregierung vor jedem neuen Coronagipfel bestätigt. „Zu Hause bleiben“ ist wohl die neue Staatsräson. Dabei bleibt aber nicht nur unser aller Wunsch, zu verreisen, auf der Strecke, sondern auch die deutsche Reisewirtschaft. Diese beklagte 2020 einen unfassbaren Verlust von 28 Milliarden Euro. Es ist deshalb absolut richtig, wenn die FDP heute mit drei guten Anträgen auf verschiedenen Ebenen einen Wiederanfang des Tourismus einfordert. Dem Luftverkehrsantrag haben wir in den Ausschussberatungen bereits zugestimmt, und auch die beiden neuen Anträge zum Neustart des Tourismus können wir mittragen. Kurzum: Wir sind für all das, was verantwortbar ist und den Menschen ihre Freiheit wiedergibt. ({0}) Verzagtheit und Bevormundung wohnen im Kanzleramt. Wir stehen für freie Menschen und für Vernunft. Apropos Verzagtheit und Versagen: Wenn heute hier in dieser wichtigen Debatte der Beauftragte der Bundesregierung für Tourismus überhaupt nicht da ist, die beiden tourismuspolitischen Sprecher der Regierungskoalition sich nicht ans Pult trauen und ihre Reden zu Protokoll geben und von der SPD kein Einziger in dieser Debatte spricht, dann ist das ein Armutszeugnis, und Sie sollten sich dafür schämen. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn jetzt kein Ausbruch aus dem Lockdown gelingt, droht Tausenden von Menschen im Tourismus ein Jobverlust. Mutige Selbstständige, die ihr ganzes Vermögen in ihre Übernachtungsbetriebe, Restaurants, Cafés, in die Busunternehmen oder Reisebüros gesteckt haben, stehen vor dem Totalverlust ihres Lebenswerks. Wir dürfen nicht weiter in der Schockstarre dieses Lockdowns verharren. Das Virus wird nicht einfach verschwinden, sosehr wir uns das auch wünschen. Deshalb hilft es alles nichts: Wir können jetzt nicht einfach die Welt anhalten. Wir müssen jetzt weitermachen. Was wir über dieses Virus mittlerweile erfahren haben, genügt, um zu wissen, wie man die verwundbarsten Menschen in unserer Mitte schützt. Es ist eben keine Option, uns alle zu Hause einzumauern, bis alles den Bach runtergeht. ({2}) Deshalb haben wir keine Probleme damit, heute die Anträge der Liberalen zu unterstützen, um gemeinsam den Zusammenbruch der Tourismuswirtschaft abzuwenden. Ich will an dieser Stelle aber schon daran erinnern, dass es die AfD war, die als erste Kraft für eine konsequente Aufhebung des Lockdowns bei gleichzeitigem Schutz der Risikogruppen in unserem Land eingetreten ist. ({3}) Als Sie, liebe FDP-Fraktion, am 4. März hier im Bundestag die Möglichkeit hatten, diesen Kurs zu unterstützen, haben Sie sich verweigert. Das ist leider die Wahrheit. Ohnehin – das muss man zugeben – ist Ihr Retterimage, das Sie hier propagieren, natürlich schnell dahin, wenn man in die Länder schaut, in denen Sie in der Regierung sitzen. Dort setzt die FDP, die hier konsequent für Öffnungsschritte eintritt, nämlich keine um. ({4}) Keine FDP, die den Betrieben beispringt, denen das Wasser bis zum Hals steht! ({5}) – Tut mir leid, der stellvertretende Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, der Herr Wissing, hat alle Lockdowns mitgetragen und alles dichtgemacht in Rheinland-Pfalz. ({6}) Also, was Sie hier sagen, stimmt einfach nicht. Sie plappern hier viel. In der Theorie sind Sie stark, aber in der Praxis kriegen Sie nichts hin. ({7}) Ein Beispiel: Bis heute konnten Sie mir nicht überzeugend erklären – ja, fangen Sie gleich mal damit an –, warum kontaktarmer Urlaub in der Ferienwohnung gefährlicher sein soll, als in der eigenen Wohnung zu bleiben. Gleiches gilt für die Urlaube in Wohnmobilen oder in Wohnwagen mit Sanitäreinrichtungen. Aber selbst diesen kleinen Schritt konnten Sie überhaupt nicht umsetzen. Was ist denn mit Rheinland-Pfalz und den anderen Ländern, wo Sie regieren? Haben Sie den umgesetzt oder nicht? – Nichts, Pustekuchen! ({8}) Sie sind eine machtlose Opposition im Bund; da nehmen Sie den Mund sehr voll, und da führen Sie heute die Oper „Tourismus-Neustart“ in drei Akten auf. Ja, das können Sie, aber als an der Macht beteiligte Regierungspartei – da, wo es darauf ankommt, in den Ländern – bekommen Sie keinen Ihrer großen Öffnungspläne auf die Reihe, obwohl Tourismus in erster Linie Ländersache ist. ({9}) Aber Schwamm drüber! Heute stehen wir ja trotzdem an Ihrer Seite, um den Menschen zu helfen, ({10}) die durch die Lockdown-Politik der Bundesregierung unverschuldet vor dem Abgrund stehen; denn diese Menschen brauchen Fürsprecher. Deshalb stellen wir auch weiterhin Anträge im Interesse der Menschen in unserem Land, und wir stimmen Ihnen auch weiterhin zu und sagen: Dort, wo Sie recht haben, haben Sie recht, ({11}) obwohl Sie als Musterdemokraten unsere sachgleichen Anträge ja stets ablehnen. Diese Scheinheiligkeit sehen die Menschen, und die Zeit spricht für uns. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Münzenmaier. – Da ich ja von Amts wegen gehalten bin, allen Reden sehr sorgfältig zu lauschen, darf ich Ihnen mitteilen, dass zehn Minuten vor Schluss Deutschland gegen Island 3:0 führt. Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion, hat Ihre Rede zu Protokoll gegeben. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit liegt es an dieser Stelle wirklich völlig fern, hier irgendwelche ideologischen Rechthabereien auszutauschen. Dafür ist die Not der Branche viel, viel zu groß. Wir müssen hier gemeinsam nach Wegen aus dieser Situation suchen und ganz laut und stark sagen, was wir von der Regierung fordern, was wir von ihr erwarten und was wir selber auch bereit sind, zu tun, um aus dieser Situation wieder herauszukommen. ({0}) Ich sage Ihnen: Diese Woche war mit riesigen Enttäuschungen für die ganze Branche verbunden. Am Montag gab es am Brandenburger Tor eine Demo. Dort wurde noch mal deutlich gemacht, dass den Kolleginnen und Kollegen – ich darf das als ausgebildete Touristikerin sagen – das Wasser bis zum Hals steht. Wer nicht da war und sich kurzfristig entschuldigt hat, war Herr Bareiß. Heute ist er auch wieder nicht da. Keiner aus dem Ministerium ist hier und hört sich an, was wir vorschlagen. Ich finde, das ist haltlos; das darf es einfach nicht geben. ({1}) Wir haben hier heute Abend noch einmal die Möglichkeit, unsere Solidarität mit der Branche zum Ausdruck zu bringen. Ich kann Ihnen das am Beispiel von Rügen, woher ich komme, erklären: Dort liegt das BIP, den Tourismus betreffend, nicht bei 11 Prozent, wie das in dieser Republik durchschnittlich der Fall ist, sondern bei 30 Prozent. Wenn dort der Tourismus wegbricht, dann ist da wirklich Matthäus am Letzten. Man weiß also nicht mehr, wie man da über die Runden kommen soll. Deshalb meine Forderung: Wir brauchen Unterstützung für alle Betriebe. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben die Chance vertan, den Unternehmerlohn einzuführen. Damit hätten wir vielen kleinen Unternehmen helfen können. Wir hätten auch der Veranstaltungsbranche helfen können. Vertane Chance! ({2}) Wir haben noch immer viele Betriebe, die die Überbrückungshilfen nicht so bekommen haben, wie sie sie brauchen. Auch die Rahmenbedingungen stimmen nicht. Also, Hilfe ist dringend notwendig. – Das an die Regierung! ({3}) Ich wünsche mir auch, dass wir mit dem Impfen endlich vorankommen. Das ist der einzige Brecher, der die Situation wirklich verändern kann. Hören Sie auf die Branche! Sie hat sich viel Arbeit gemacht. Sie hat Hygienekonzepte entwickelt und umgesetzt, und jetzt sagt man wieder: Nein, eine Öffnung geht nicht. Völlig zu Recht kommt die Frage – was soll man darauf antworten? –, warum man nicht in eine Ferienwohnung fahren kann, bei der man nicht mal den Vermieter sieht, sondern das Geld überwiesen und der Schlüssel unter irgendeinen Stein gelegt wird. Das kann man niemandem erklären. ({4}) Man kann auch niemandem erklären, warum der Tourismus so ausgebremst wird, während in anderen Branchen zusammen am Band gearbeitet wird. Also, seien wir solidarisch, und helfen wir der Branche! Sie hat es dringend nötig, und sie hat es auch verdient. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kassner. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe: Da mehrfach angesprochen worden ist, dass der Parlamentarische Staatssekretär und Tourismusbeauftragte Bareiß in der Debatte nicht anwesend ist, gebe ich bekannt, dass er krank ist. Ich wünsche ihm von hier aus – ich glaube, im Namen aller Beteiligten – gute Besserung. ({0}) Es gab hier – das muss ich mal sagen – persönliche Angriffe gegen den Tourismusbeauftragten. Nicht alle Mitglieder der Bundesregierung, die auf der Bank sitzen, sind Tourismusbeauftragte, was ich auch sehr schade finde. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Markus Tressel, Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie hält uns ja seit exakt einem Jahr in Atem. Die Tatsache, dass wir hier immer noch wie am ersten Tag über grundlegende Fragen zur Erhaltung der Tourismuswirtschaft in diesem Land diskutieren müssen, besorgt und entsetzt mich auch. ({0}) Ich weiß, jetzt kommt der Einwand: Die Bundesregierung hat viel gemacht, etwa das Kurzarbeitergeld oder die Überbrückungshilfe etc. – Ja, das ist richtig. Das sind vielleicht die allernotwendigsten lebenserhaltenden Maßnahmen, aber ein Plan, wie der Patient wieder aus dem künstlichen Koma kommt, ist das nicht. ({1}) Viele – die Kollegen haben das angesprochen – sind in ihrer Existenz tatsächlich bedroht. Deswegen ist zunächst mal das Wichtigste: Die angekündigte Hilfe muss tatsächlich schnell fließen, und wir brauchen in der Folge auch einen Wiederaufbaufonds, gerade für kleinere und mittlere Unternehmen der Tourismuswirtschaft. Es geht hier doch nicht nur um Öffnungen, sondern es geht um grundlegende Weichenstellungen. Wir brauchen endlich mehr und bessere tourismuspolitische Koordinierungen zwischen den Bundesländern und auf der europäischen Ebene. Das hat diese Krise doch deutlich gemacht. Es kann doch nicht sein, dass wir nach fast 13 Monaten immer noch nicht in der Lage sind, ein bundeseinheitliches Vorgehen für den Tourismus mit klaren Regeln zu definieren, wann was geht und mit welchem Konzept. ({2}) Und es geht auch darum, dass sich nach einer MPK alle mal länger als fünf Minuten an die Vereinbarungen halten. ({3}) Das Gleiche brauchen wir auch EU-weit. Von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätte ich eigentlich erwartet, dass sie eine europäische Initiative dahin gehend startet, unter welchen klaren und einheitlichen Pandemiebedingungen wir in Europa Reisen ermöglichen können. Fehlanzeige! ({4}) Die aktuelle Mallorca-Debatte zeigt doch, wie wichtig eine europäische Regelung wäre. Darum müssen wir uns jetzt kümmern. Der Frust und die Wut, die da gerade allseitig entstehen, schaden doch nicht nur dem Tourismus, sondern sie schaden über den Tag hinaus allen. ({5}) Wenn wir Strukturen erhalten und vor allem nicht eine ganze Generation von jungen und gut ausgebildeten Touristikern verlieren wollen, dann brauchen wir gerade jetzt kein Durcheinander, sondern ein koordiniertes Vorgehen. Wir brauchen kein Fahren auf Sicht, Kollege Donth. Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung da endlich den Hut aufsetzt. Das hat im Übrigen – das hat der Kollege Klinge ja zu Recht angesprochen – auch etwas mit Wertschätzung für die Tourismuswirtschaft zu tun, die ihr in den vergangenen 13 Monaten verweigert wurde. ({6}) Diese Wertschätzung drückt sich eben nicht nur irgendwie und irgendwann in Geld aus, sondern das hat auch etwas mit Verständnis und Repräsentanz zu tun. Ich sage nur: „Unternehmerlohn“ – die Kollegin Kassner hat das angesprochen –, und ich sage auch: Tourismusgipfel. Dass der Kollege Bareiß krank ist, ist das eine, aber das andere ist: Ich würde erwarten, dass dann bei diesem wichtigen Thema heute der Wirtschaftsminister auf der Regierungsbank Platz nimmt. Ja – ich komme gleich zum Schluss –, wir befinden uns in einem Spannungsfeld. Die Infektionszahlen steigen wieder, und wir müssen damit umgehen, auch mit Mutationen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Schutz von Leib und Leben hat Vorrang. Es geht hier nicht darum, morgen alles wieder undifferenziert aufzusperren, aber einen verlässlichen Stufenplan hätte man hier nach einem Jahr haben müssen. ({0}) Wir erwarten – – ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie teilen jetzt das Schicksal anderer; ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Nachdem Sie 20 Sekunden überzogen haben, finde ich das jetzt auch angemessen. Es tut mir leid.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde an diesem Abend wird ein wichtiges Thema beraten und in zweiter und dritter Lesung abgeschlossen: das in dem Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode vorgesehene Verbot geschlechtsangleichender Maßnahmen. ({0}) Ich glaube, heute ist ein guter Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, an dem wir eine unsägliche Geschichte für kleine Kinder, für größere Kinder und für erwachsene Menschen in unserem Land, mitten in Europa, beenden. Wenn wir es mit einer mitmenschlichen Gesellschaft ernst meinen, dann betrachten wir die Gesellschaft und fragen: Welchen Schutz können wir den Schwächsten in unserer Gesellschaft angedeihen lassen? – Und die Schwächsten in unserer Gesellschaft sind nun mal unsere Kinder. Ich weiß, dass der gesellschaftliche Druck über viele Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte groß war, weil immer dann, wenn eine Frau ein Kind geboren hat, eine Familie also ein Kind bekommen hat, zuerst die Frage kam: Was ist es denn, ein Junge oder ein Mädchen? – Die Antwort darauf: „Seid doch froh, es ist gesund“, war eine Antwort, die man eigentlich nicht hören wollte; denn die Oma und die Tante hatten vielleicht schon Kleidungsstücke in Rosa oder in Blau gestrickt. Man war in der gesellschaftlichen Einbindung daran gewöhnt, dass es nur Menschen gibt, denen ein bestimmtes Geschlecht zugewiesen ist. Aber Fakt und Tatsache ist – das haben wissenschaftliche Erhebungen gezeigt –, dass rund 160 000 Kinder in dieser Bundesrepublik Deutschland mit nicht eindeutiger Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen geboren werden und das Recht haben, genauso glücklich, genauso selbstbestimmt, genauso frei wie jeder andere in diesem Land zu leben und den Schutz zu bekommen, den wir ihnen als den Schwächsten dieser Gesellschaft zukommen lassen wollen. ({1}) Deshalb ist es gut und richtig – ich bedanke mich ganz außerordentlich bei den Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, die daran mitgewirkt haben, vorrangig bei den Kollegen der Koalitionsfraktion, die gemeinsam mit unserem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sehr konstruktiv daran mitgearbeitet haben –, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das geschlechtsangleichende Operationen, die – das wissen wir auch – in vielen Fällen medizinisch nicht begründet, aber gesellschaftlich gewünscht waren, grundsätzlich verbietet und in diesem Land endlich beendet. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin froh, dass wir mit diesem Gesetz auch deutlich gemacht haben, dass alle Menschen – ganz gleich, welche geschlechtliche Ausbildung sie bei ihrer Geburt haben – in diesem Land die gleichen Rechte und vor allem die gleichen Ansprüche haben, dass ohne Zustimmung der individuellen Person keine Operation durchgeführt werden kann, es sei denn – dies ist wirklich die einzige Ausnahme, die es gibt –, das konkrete Leben dieses Menschen wäre bedroht und aus dieser Lebensbedrohung heraus müsste eine Operation – gegebenenfalls eine Angleichung – durchgeführt werden. Nach Abwägung zwischen dem Leben und dem Tod kann eine solche Maßnahme also erlaubt sein. Ich weiß, dass wir mit diesem Gesetz – der späte Beratungszeitpunkt in diesem Hohen Haus zeigt, dass die Öffentlichkeit kein sehr großes Interesse daran hat – zwar nicht Millionen von Menschen, aber 160 000 hier geborenen Kindern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Lassen Sie mich am Ende meines kurzen Wortbeitrags an diesem Abend noch eine Bitte aussprechen, die in der Beschlussempfehlung mit enthalten und uns und dem Koalitionspartner ein wichtiges Anliegen ist: Wir möchten gerne mit den Ländern gemeinsam ein Zentralregister schaffen, um den Menschen, die geschlechtsangleichenden Maßnahmen unterzogen wurden, auch für die Zukunft anonymisiert und trotzdem personalisiert die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichte, ihr Leben, ihren Eingriff, ihre Individualität nachvollziehen zu können. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollege Brunner, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dies darf nicht am Geldbeutel scheitern, sondern dies ist zwingend notwendig, und deshalb hoffe ich, dass wir uns in den nächsten Jahren mit den Ländern dahin gehend einigen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und einen schönen Abend. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Oh, da fällt mir doch die Maske, das beste und wichtigste Stück, was es in Deutschland gibt, runter. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wen die Regierung mit diesem Gesetzentwurf beglücken möchte – wahrscheinlich die Vertreter der links-grünen Genderideologie oder die Macher des Regenbogenportals. ({1}) Eines ist sicher: Dieser Gesetzentwurf ist Ballast für die betroffenen Kinder, Ballast für Eltern, Ärzte und Familienrichter. ({2}) Er schwächt Elternrechte, und er sät Misstrauen. Um es mit den Sozialisten der SPD zu sagen: Der Staat will die Lufthoheit über die Kinderbetten übernehmen. Der Staat will Eltern lehren, was Liebe ist. – Welch eine Anmaßung, meine Damen und Herren! ({3}) Familiengerichte sollen jetzt klären, ob Ärzte und Eltern für ein Kind die richtige medizinische Entscheidung treffen. Familienrichter werden sich in medizinische Spezialthemen einarbeiten müssen. Das werden sie aber nicht leisten können. Sie werden sich auf das Gutachten von Experten verlassen müssen. Dieser Gesetzentwurf schafft ein bürokratisches Ungeheuer. Er belastet betroffene Kinder, ihre Eltern, die Ärzteschaft und die Gerichte. ({4}) Aus jeder Seite dieses Werkes springt medizinische Ahnungslosigkeit heraus. Haben Sie im Justizministerium eigentlich jemals mit Ärzten gesprochen? Aus meiner Sicht nicht! ({5}) Eine Medizinerweisheit sagt: Nicht nur eine Behandlung muss wohlbegründet sein, sondern auch das Unterlassen einer Behandlung. Dem wird der Gesetzentwurf nicht gerecht. Im Gegenteil: Die größte Gruppe der Betroffenen sind Mädchen mit dem Adrenogenitalen Syndrom. Und genau diese Mädchen werden durch das Gesetz gewissermaßen eine unterlassene Hilfeleistung empfinden. ({6}) Diese Regierung verhöhnt diese Mädchen, wenn sie sie aus ideologischen Gründen mit einem zwischengeschlechtlichen Genital aufwachsen lässt. Diese Regierung verhöhnt diese Mädchen, wenn sie billigend zulässt, dass psychische Probleme entstehen, und ihnen dann sagt, dass die Kosten der Psychotherapie von der Krankenkasse übernommen werden. ({7}) Sie ignorieren in Ihrem Gesetzentwurf die S2k-Leitlinie der einschlägigen ärztlichen Fachgesellschaften – ärztliche Fachgesellschaften, die seit Jahrzehnten Erfahrung mit der Behandlung von intergeschlechtlichen Kindern haben, ({8}) ärztliche Fachgesellschaften, die wissen, wovon sie reden. Diese Leitlinie fordert von der Ärzteschaft mehr, als es dieser merkwürdige Gesetzentwurf tut. Sie unterstellen der Ärzteschaft, dass sie noch immer irgendwelche veralteten Behandlungsmethoden anwendet. ({9}) Da frage ich Sie: Wie naiv ist das denn? ({10}) Intergeschlechtliche Kinder werden in Spezialkliniken behandelt, in Unikliniken, die auf dem neuesten Stand der Wissenschaft therapieren. Diese Kinder werden doch nicht in irgendeinem Kreiskrankenhaus behandelt, wo es vielleicht noch Fragen geben müsste. Ich frage mich, warum Sie den Gesetzentwurf auch noch voreilig einbringen. Das Ministerium für Gesundheit hat eigens zum Thema „Intergeschlechtliche Menschen“ eine Studie ins Leben gerufen, weil man eben so wenig über diese Menschen weiß ({11}) und immer nur Mutmaßungen und Schätzungen folgt. Diese Studie läuft bis 2023. Warum warten Sie die Ergebnisse Ihrer eigenen Studie eigentlich nicht ab? ({12}) Vielleicht ergibt sich daraus, dass die betroffenen Kinder bereits heute optimal behandelt werden. Vielleicht ergibt sich daraus aber auch einfach, dass Ihr Gesetzentwurf überflüssig ist. Daher fordere ich Sie auf: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück! Hören Sie auf, ideologisch verblendete, medizinisch ahnungslose Schnellschüsse abzufeuern! Dieser Gesetzentwurf schadet. Er gefährdet das Kindeswohl. Vielen Dank. ({13}) – So gut wie Sie sehe ich auch mit Maske noch aus. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Reichardt. – Ich kann nur feststellen, dass das wirklich eine Bewertungsfrage ist. Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, zur AfD heute mal überhaupt nichts zu sagen, aber, Herr Reichardt, Sie kommen mit solchen Falschbehauptungen daher und haben offensichtlich zu erkennen gegeben, dass Sie bei der Sachverständigenanhörung gar nicht zugegen waren. AGS wird auch in Zukunft operiert werden können. Machen Sie die Leute doch nicht kirre, und erzählen Sie hier am Rednerpult des Deutschen Bundestages nicht die Unwahrheit! ({0}) Kommen Sie in die Ausschusssitzungen, kommen Sie zur Anhörung, dann wissen Sie auch, um was es geht! Und ja, warum haben wir nicht gewartet, Herr Reichardt? Weil wir eine Verantwortung gegenüber den kleinen Kindern haben, ({1}) weil es schade ist um jedes Kind, das ohne Not operiert wird. Zu diesem Ergebnis können Sie mit ein bisschen elegantem Nachdenken auch gelangen. ({2}) – Ich habe genauso meine Zweifel, Frau Kollegin Werner; aber es hilft alles nichts. ({3}) Für Mütter und Väter ist die Geburt ihres Kindes – darauf haben die Vorredner zum Teil schon hingewiesen – sicherlich einer der emotionalsten und schönsten Momente des Lebens. ({4}) Weltweit gibt es Babys, die kerngesund das Licht der Welt erblicken, aber weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Kollege Brunner hat auf die Situation der Großmutter hingewiesen, die in Rosa und Hellblau gestrickt hat und dann eben beide Farben eigentlich nicht richtig anwenden kann. Ja, man kann sich sicher sehr gut vorstellen, welche sorgenvollen Gedanken den Eltern in diesem Moment durch den Kopf schießen. In den darauffolgenden Wochen, Monaten und Jahren müssen sich die Eltern enormen Herausforderungen stellen, vor denen ich allergrößten Respekt habe. Mit diesem Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung soll nun das Recht der Betroffenen auf geschlechtliche Selbstbestimmung geschützt und diese zugleich vor unnötigen Behandlungen – unnötigen Behandlungen, Herr Reichardt; passen Sie auf – bewahrt werden. Dazu wird ein umfassendes Verbot zielgerichteter geschlechtsangleichender Behandlungen eingeführt, das all jene Behandlungen umfasst, die die Absicht verfolgen, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das männliche oder das weibliche Geschlecht anzugleichen. Das Verbot endet mit der Einwilligungsfähigkeit des Kindes. Das Kind und sein Wohl stehen an erster Stelle. Es erhält damit die notwendige Zeit und Möglichkeit, mit sich und seiner Umwelt die nötigen Erfahrungen zu sammeln, um seine eigene, selbstbestimmte Entscheidung treffen zu können. Ausgenommen davon sind in unserem Gesetz operative Eingriffe, die zur Abwehr einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Kindes notwendig sind. Wir haben dieses Gesetz in der Sachverständigenanhörung und auch im Ausschuss ausführlich beraten. Ich darf mich sehr herzlich bedanken bei unserem Koalitionspartner – bei Kollegen Brunner, der hier ja bereits gesprochen hat, beim rechtspolitischen Sprecher, Herrn Kollegen Fechner, aber auch bei Ihnen, Herr Staatssekretär Lange – für die Berichterstattergespräche, die konstruktiv waren und auch immer zielgerichtet zum Ergebnis geführt haben, und natürlich ganz herzlich bei meinem rechtspolitischen Sprecher Jan-Marco Luczak. Wir haben gemeinsam mit der SPD konsequent und gut auf ein Ergebnis hingewirkt. Es ist ein guter Tag für die betroffenen Kinder, auch wenn manche von der Opposition das nur schlechtreden wollen. Wir können uns darüber freuen: Wir haben den Kleinsten, die Hilfe brauchen, die Hilfe gewährt, auf die sie seit Jahren warten. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Ich wollte Ihnen nur sagen: Auch Jungs können Rosa tragen. Schauen Sie auf den Kollegen Brunner, und Sie wissen, wovon ich rede. ({0}) – Frau Künast, ich empfehle Ihnen einen Gang zum Augenarzt. Diese Krawatte ist nicht rosa. ({1}) Das Sitzungspräsidium ist sich einig, dass es kein Rosa ist. Den Unterschied zwischen Rosa und Lachs kann Ihnen vielleicht der Kollege Birkwald erklären; der kennt sich da auch aus. ({2}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Helling-Plahr, FDP-Fraktion. ({3})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wird’s denn? Ein Junge oder ein Mädchen? Das ist – wir haben es schon gehört – eine der ersten Fragen, die werdenden Eltern immer wieder gestellt werden. Wird die Frage, aus welchem Grund auch immer, für den Fragesteller nicht zufriedenstellend beantwortet, folgt meist ein „Na ja, Hauptsache das Kind ist gesund“. Meine Damen und Herren, das ist der Punkt: Jedes Kind ist gut so, wie es ist. Es muss in keine Schablone passen. Hauptsache, es geht ihm gut. ({0}) Dennoch: Obwohl medizinische Leitlinien – das sind quasi die Leitplanken für fachgerechtes ärztliches Handeln – längst von normangleichenden Genitaloperationen bei intergeschlechtlichen Kindern abraten, finden sie weiter statt. Insofern ist es gut und überfällig, dass der Gesetzgeber hier nun tätig wird. Wir haben eine entsprechende Initiative ja auch selbst mehrfach angemahnt. Leider genügt es aber nicht, werte Bundesregierung, überhaupt etwas zu tun, sondern man muss das Richtige tun – zum Schutz der betroffenen Kinder. Das tun Sie mit dem vorliegenden Entwurf leider nicht in ausreichendem Maße. Ich will nur drei Aspekte herausgreifen, die aufzeigen, dass das Schutzkonzept des Entwurfs bei Weitem nicht ausreicht: Erstens. Das Schutzniveau ist zu gering. Ein Eingriff sollte nur dann zulässig sein, wenn er zur Abwendung einer Gefahr für das Leben oder einer erheblichen Gefahr für die Gesundheit des Kindes erforderlich ist und nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. ({1}) Zweitens. Der Entwurf ist erschreckend undurchdacht. Wie wird sichergestellt, dass das Verbot nicht durch eine zu enge Auslegung des Begriffs „Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ umgangen wird? Wie werden einheitliche Standards bei der Entscheidung der interdisziplinären Kommission gewährleistet? Was ist mit hormonellen und medikamentösen Behandlungen? Wo ist der Beratungsanspruch? Drittens. Der Rechtsschutz ist verkürzt. Liegt eine befürwortende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission vor, findet ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren statt – anders als üblich rein schriftlich, ohne Anhörung oder Mitwirkung des Jugendamtes, ohne persönliche Anhörung der Eltern und ohne Bestellung eines Verfahrensbeistandes. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, es geht hier nicht um irgendetwas, sondern es geht um das Recht von Kindern auf geschlechtliche Selbstbestimmung. ({2}) Ja, Sie haken mit diesem Gesetz einen Punkt auf der To-do-Liste aus Ihrem Koalitionsvertrag ab, mehr aber auch nicht. Das Gesetz ist lieblos, undurchdacht, kompliziert, und es schützt nicht ausreichend. Eine neue Bundesregierung sollte sich des Themas erneut annehmen. Wie das richtig ginge, können Sie unserem Entschließungsantrag entnehmen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, liebe Kollegin Helling-Plahr. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende! An intergeschlechtlichen Kindern, denen bei der Geburt nichts fehlt außer Akzeptanz, gehört nicht herumgeschnippelt und ‑gedoktert, bis das Erscheinungsbild ihrer Genitalien zu gängigen Vorstellungen passt. Ihre Körper haben das Recht auf Unversehrtheit, Respekt und selbstbestimmte Entwicklung. ({0}) Dass Grundrechte Jahr für Jahr tausendfach gebrochen wurden, damit Kinder, ohne Anstoß zu nehmen, als angemessen männlich oder weiblich durchgehen, hatte und hat fatale Folgen: lebenslange Prozeduren und Schmerzen, Sprachlosigkeit, was erlittene Zwänge angeht, Scham und Unsicherheit in der Familie und dem eigenen Körper gegenüber, eingeschränkte Sexualität und Empfindungsfähigkeit. Ich kann nur empfehlen, die Stimmen Betroffener zur Kenntnis zu nehmen, die in den Materialien von Verbänden wie TransInterQueer oder der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen eine Plattform bekommen. Dort schildert eine Person – ich zitiere –: Bis zu meinem elften Lebensjahr habe ich meine Kindheit damit verbracht, alle anderthalb Jahre ins Krankenhaus zu gehen, um OPs und Katheter zu bekommen. Die ganze Zeit Tests und Blutabnahmen, geprüft werden, ob alles funktioniert, die Hormone richtig eingestellt sind. Wenn die Katheter entfernt wurden, konnte ich meine Blase nicht kontrollieren. Ich hatte oft Schmerzen, war traumatisiert. Und auch jetzt, mit 37, habe ich noch Schlafprobleme. ({1}) Es wird wirklich Zeit, derart unnötigen Zumutungen die Behandlungsgrundlage zu entziehen und diese ganzen Eingriffe möglichst unmissverständlich zu verbieten. ({2}) Rhetorisch und rechtlich hält sich der Gesetzentwurf da noch einige Hintertüren offen, und das ist kontraproduktiv, weil treibende Kräfte – seien es Mediziner/-innen oder Eltern – nach Spielräumen suchen und fündig werden. Der Schutz der Kinder vor diesen Menschenrechtsverletzungen sollte über allem stehen. Mit dem Gesetz der Bundesregierung wird die Situation besser, aber nicht gut genug. Dass der Geltungsbereich auf die derzeit definierten Varianten der Geschlechtsentwicklung beschränkt ist, birgt das Risiko, dass Diagnosen anders formuliert und Verbote umgangen werden. Wir fordern, diese Lücke zu schließen. Es braucht außerdem ein Zentralregister zur Aufbewahrung der Patient/-innenakten, welches Betroffenen garantiert, sich über lange zurückliegende Eingriffe umfassend informieren zu können. ({3}) Dass es das noch nicht gibt, ist eine gravierende Leerstelle unter vielen. So fehlt es auch an Klarstellungen, dass unerlaubte Eingriffe nicht schon im Kindesalter verjähren und Betroffene die Möglichkeit haben, als Erwachsene Regressansprüche geltend zu machen. ({4}) – Ihre Meinung hat wirklich nichts zur Sache beigetragen; das muss man hier feststellen. ({5}) Von daher fahren wir da einfach ohne Ihre Position fort. Das ist besser für alle Beteiligten. Es ist auf jeden Fall vielen Organisationen und Einzelkämpfer/-innen zu verdanken, ({6}) dass fremdbestimmte OPs an intergeschlechtlichen Kindern hier im Bundestag endlich beleuchtet und beschränkt werden, aber wir müssen weiter daran arbeiten, dass diese Eingriffe und der gesamte gesellschaftliche Anpassungsdruck gestoppt, Verstöße geahndet und die Betroffenen entschädigt werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir werden darauf zurückkommen; das sind wir den Betroffenen, die keine Betroffenen sein müssten, einfach schuldig. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Achelwilm. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen, der mit „Frau Präsidentin“ beginnen darf. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Abend, liebe Kollegen! – Sven Lehmann ist der Nächste.

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Kaum etwas auf dieser Welt ist so starr wie die Aufteilung der Menschheit in Frauen und Männer. Wird es ein Mädchen oder ein Junge? Das ist in der Tat die entscheidende Frage schon vor der Geburt. Dabei war die Biologie – und damit auch die Realität – schon immer variantenreicher und vielfältiger. Intergeschlechtliche Kinder werden und wurden als exotisch abgetan, belächelt, versteckt – oder halt eben operiert, obwohl es medizinisch gar nicht notwendig ist. Für die Kinder ist ein solcher Eingriff an ihren Körpern auch ein Eingriff in ihre Psyche und in ihre Seele, ein Eingriff in ihr Recht auf Selbstbestimmung. Deswegen findet kaum ein Anliegen so breite Zustimmung in diesem Haus wie das Anliegen, Säuglinge und Kinder vor diesen Zwangsoperationen zu schützen; das ist genau richtig so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wir Grüne fordern – wie viele andere in diesem Haus – seit vielen, vielen Jahren ein solches Schutzgesetz. Mit dem von uns vorgelegten Entwurf eines Selbstbestimmungsgesetzes haben wir gezeigt, wie das konsequent hätte umgesetzt werden können. Umso enttäuschter sind wir von dem Entwurf, der heute hier zur Abstimmung steht; denn der Gesetzentwurf legt die Entscheidung über den Körper von Kindern weiter in die Hände von Erwachsenen. Er enthält immer noch zu viele Lücken, obwohl diese in der Anhörung im Rechtsausschuss deutlich kritisiert wurden. Sie haben diese Kritik der Sachverständigen gehört, Sie haben sie offenbar auch verstanden; die zentralen Punkte haben Sie aber in dem Gesetzentwurf nicht untergebracht. Es soll erst einmal kein Bundeszentralregister der Operationen geben, welches es den Kindern erleichtern würde, später etwas über die an ihnen vorgenommenen Operationen und Behandlungen zu erfahren. Die vorgesehenen Verjährungsfristen, Aufbewahrungsfristen für Gerichtsakten sind deutlich zu kurz. Und es ist unklar, wie die eingesetzte interdisziplinäre Kommission arbeiten soll, vor allem, warum eigentlich die Eltern die Kosten dafür tragen sollen. Trotz fast zweijährigem Beratungsprozess kann sich die Koalition nur auf einen Prüfauftrag zu diesen wichtigen Punkten einigen. Das ist bei einem so zentralen Menschenrechtsthema einfach zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir können deswegen mit großem Bedauern – das sage ich sehr ausdrücklich: mit großem Bedauern – Ihrem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen. Wir zeigen stattdessen in einem Entschließungsantrag, wie ein Schutzgesetz wirklich aussehen muss: Die Entscheidung über den eigenen Körper und über das eigene Geschlecht kann nur bei einer Person liegen, und zwar bei jedem Menschen selber. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sven Lehmann. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Susann Rüthrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Natur – für manche mag es der liebe Gott gewesen sein – hat viel mehr zu bieten als nur zwei Geschlechter. Das ist so schön wie normal. Würden wir alle mehr als nur Junge und Mädchen mitdenken, dann bräuchten wir vielleicht ein solches Gesetz zum Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen und Behandlungen gar nicht. Es werden aber Jahr für Jahr immer noch Kinder operiert und mit Hormonen behandelt, allein um ihr Geschlecht der Erwartung anzupassen. Das ist oft schmerzhaft. Stellen Sie sich nur einmal das Bougieren vor, wenn eine neue Vagina unter anderem durch Aufdehnen angelegt wird. Nicht selten sind solche und weitere Eingriffe traumatisch. Manchmal wird sogar eine Sterilisation in Kauf genommen, obwohl die Betroffenen vielleicht hätten Eltern werden können. Wir stellen heute klar: Diese Operationen sind verboten. ({0}) Operationen zur Abwendung von Lebensgefahr sind davon selbstverständlich ausgenommen. Es würde aber reichen, die Lebensgefahr abzuwenden, ohne dabei eine Geschlechtsangleichung vorzunehmen. Die Familien und behandelnden Medizinerinnen und Mediziner haben Eingriffe zu unterlassen, bis das Kind selbst so weit ist und sagen kann, wer es ist und wie es leben möchte. Alle Begleitung und Unterstützung sei dabei den Kindern wie den Eltern von dieser Stelle aus versprochen. Infolge der wirklich eindrücklichen Anhörung hatten wir sehr ernsthafte Berichterstattergespräche. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken beim Koalitionspartner, bei meiner eigenen Fraktion wie auch bei Staatssekretär Christian Lange. Wir haben den Gesetzentwurf, der gut war, noch geändert. Wir stellen jetzt klar, dass Eltern auch nicht selbst die Eingriffe vornehmen dürfen und die Behandlungen auch im Ausland nicht vorgenommen werden dürfen. Wir haben uns angeschaut, wie diese Kommission zusammengesetzt sein muss, die in einer Stellungnahme für das Familiengericht feststellt, dass eine Operation ausnahmsweise doch zulässig ist, wenn sie zum Wohl des Kindes ist, und wir haben festgelegt, mit welchen Angaben diese Kommission ihr Votum begründen muss. Die Beratung auch durch nichtmedizinische Personen, etwa aus der Selbsthilfeberatung, hat den Familien immer angeboten zu werden. So können sich die Eltern wie natürlich auch die Kinder ein umfassendes Bild machen und von Erfahrungen lernen, die andere Interpersonen gemacht haben; denn, ja, die Situation kann für Familien herausfordernd sein, gerade weil die Gesellschaft immer noch in Rosa und Blau tickt. Das Umfeld hat die Kinder aber so anzunehmen, wie sie nun mal sind; es ist nicht an den Kindern, sich möglichst erwartungsgemäß ihrem zum Teil auch irritierten Umfeld anzupassen. ({1}) Mir ist es deshalb wichtig, dass alle gesellschaftliche, soziale, psychologische Unterstützung das erste Mittel der Wahl ist, um die Situation annehmen zu können. Diese Situation quasi durch eine Operation aus der Welt schaffen zu wollen, das entspricht nicht dem Kindeswohl. ({2}) Allein eine drohende psychische Belastung für Kinder und Eltern ist eben kein Grund für eine geschlechtsangleichende Maßnahme. ({3}) Die dann doch Behandelten sollten jederzeit prüfen können, was die Gründe für den Eingriff waren. Daher ist es wichtig, dass diese Daten an einer leicht zu findenden Stelle aufbewahrt sind. Ein Zentralregister steht aber jetzt nicht im Gesetz; denn da sind noch viele rechtliche und praktische Fragen zu klären. Uns ist es wichtig, dass wir heute endlich beschließen können. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder Mensch ist besonders; entsprechend sind Interpersonen ganz normal. Ich wünsche im Namen der SPD und auch ganz persönlich den Interkindern und deren Familien alles erdenklich Gute. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susann Rüthrich. – Die Kollegin Wiesmann hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir erleben jetzt einen historischen Moment für die Bundeswasserstraßen. Man soll mit dem Wort „historisch“ vorsichtig umgehen – das ist mir sehr wohl bewusst –, gleichwohl ist dies ein solcher Moment. Warum ist das so? Ziemlich genau heute vor 100 Jahren, im Jahr 1921, ganz genau am 1. April, wurde eine sehr große Reform der Wasserstraßen vorgenommen. Damals ging die Kompetenz für die Reichswasserstraßen von den Ländern auf das Reich über. Seitdem sind die Wasserstraßen Reichswasserstraßen bzw., in der Rechtsnachfolge durch die Bundesrepublik Deutschland, Bundeswasserstraßen. Übrigens haben sich in der damaligen Zeit die schlauen Hamburger rechtlich garantieren lassen, dass die Elbe immer so tief gehalten wird, dass die größten Schiffe Hamburg erreichen können – eine Entscheidung, die in meiner Heimatregion bis heute noch ihre Folgen zeitigt. Wir stehen mit dem heutigen Beschluss wieder vor einer sehr großen Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Derzeit schließen wir die politische Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung ab. Wir haben dann aus 7 Direktionen 1 Generaldirektion gemacht, wir haben dann aus 39 Ämtern 17 Ämter gemacht und gehen davon aus, dass dann wesentlich schlanker, effektiver, schneller gearbeitet werden kann, entschieden werden kann und durch die Eigenverantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort viel mehr geleistet werden kann. Es ist eine großartige Reform, die wir vor allem mithilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umgesetzt haben. Ich darf mich herzlich bei den vielen Personalräten, insbesondere beim Bezirkspersonalrat, bedanken, aber auch bei den vielen Menschen, die mitgeholfen haben, diese Reform zu einem großen Erfolg werden zu lassen. Das letzte Amt wird demnächst umgewandelt; dann ist diese Reform politisch abgeschlossen. ({0}) Wir haben aber mit dem heutigen Gesetz eine weitere große Reform vor. Bisher hat die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung bei den Bundeswasserstraßen ausschließlich die Kompetenz für Güterverkehr und Logistik. Mit dem heutigen Beschluss wird sich das fundamental ändern. Künftig ist die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung auch zuständig für alle touristischen Belange auf den Wasserstraßen, für die Fahrgastschifffahrt und eben auch für die Freizeitschifffahrt – von der Nutzung von Motorbooten und Segelschiffen durch Hobbyfahrer bis hin zum muskelbetriebenen Wassersport. Das ist eine große Veränderung des Aufgabenspektrums. Gerade in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg freut man sich auf diese große reformerische Veränderung, weil die Wasserstraßen dort, die ausschließlich touristischen Zwecken dienen, dann von uns als Bund ganz anders behandelt werden können, als das derzeit der Fall ist. Neben dieser Reform wandeln wir die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung auch in eine Umweltbehörde um. Denn in Zukunft wird die Behörde nicht nur für die Fahrrinne selber, sondern auch für die Gewässerrandstreifen und für die Nebengewässer zuständig sein und kann dort zum Beispiel Renaturierungsmaßnahmen und ökologische Ausgleichsmaßnahmen durchführen. Sie kann dort mit Dritten gemeinsam Anlagen entwickeln, zum Beispiel für den Tourismus. Und sie wird zuständig für die Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie – eine Zuständigkeit, die bisher sehr auf Bund und Länder verteilt war, mit häufig schwierigen Abgrenzungsfragen: Wer ist jetzt eigentlich zuständig? Wer macht was? Wer muss was genehmigen? Wer darf was beantragen? Wer soll was bezahlen? In Zukunft ist das klar geregelt: Das macht der Bund. Und der Bund wird mit seiner WSV auch dafür sorgen, dass das zu einem Erfolg wird. ({1}) Neben diesen Punkten werden wir auch zuständig für die Umsetzung des Bundesprogramms „Blaues Band“. Ich darf mich sehr bei der Kollegin aus dem Umweltministerium bedanken: Liebe Rita Schwarzelühr-Sutter, wir haben das hervorragend zusammen hinbekommen. Wir sind beide gemeinsam zuständig dafür und haben uns darauf verständigt, es gemeinsam weiterzuführen. Aber die Umsetzung übernimmt jetzt die WSV, damit das in einer Hand liegt. Die Renaturierung von Flüssen, die wir nicht mehr brauchen für Güterverkehr und Logistik, die wir nicht mehr brauchen für die Freizeitschifffahrt, die wir aber ökologisch umgestalten können, das übernehmen wir in Zukunft ebenfalls. Dieses Programm nennt sich „Blaues Band Deutschland“. Also: Es ist eine große Aufgabenreform, die Sie heute beschließen. Ich bin sehr froh, dass wir Ihnen diesen Gesetzentwurf vorlegen können. Ich würde sagen – ich mache da aus meinem Herzen keine Mördergrube –, es ist einer der besten Gesetzentwürfe in dieser Legislaturperiode, die ich diesem Parlament vorlegen kann. Ich kann Sie nur von Herzen bitten – ebenso den Bundesrat –: Stimmen Sie dem zu! Sie tun ein gutes Werk für die Wasserstraßen in Deutschland. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Enak Ferlemann. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Andreas Mrosek. ({0})

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Es klingt ja schon interessant, dass nach 100 Jahren etwas passiert. ({0}) Wie gesagt: Deutschland, unsere deutsche Heimat ist auch reich an Wasser, ist ein Wasserreich: rund 7 300 Kilometer Binnenwasserstraßen, davon 4 500 Kilometer Hauptwasserstraßen, circa 2 800 Kilometer Nebenwasserstraßen; hinzu kommen 23 000 Kilometer Seewasserstraßen, 315 Schleusen, 280 Wehre usw. Deutschlands einzigartiges Wasserstraßennetz könnte unendliche Möglichkeiten bieten, nicht nur für den Güterverkehr und für den Wassertourismus, sondern auch für den Wassersport, der im Übrigen auch unter dem Lockdown leidet. ({1}) Betrachten wir nur einmal die touristische Komponente, Akteure der Sport- und Freizeitschifffahrt mit Seglern und Hausbooten, aber auch Vereine und andere Freizeitaktivitäten: Im Bereich Wassersporttourismus bestreiten über 65 000 Menschen ihren Lebensunterhalt. Der Wassertourismus mit seinen Sport- und Freizeitangeboten ist in Deutschland eine Boombranche. Diese darf, Herr Ferlemann, nicht weiter stiefmütterlich behandelt werden, ({2}) sondern muss beim Ausbau der Bundeswasserstraßen berücksichtigt werden. Die Anforderungen und Bedarfe in dem gesamten Bereich sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen, was nicht nur an der Weiterentwicklung von Sport- und Freizeitmöglichkeiten liegt. In meiner Kleinen Anfrage vom 28. Mai 2019 auf der Drucksache 19/10493 hinterfragte ich den Sanierungsstau bei Schleusen, nachdem ich die Sanierungsfortschritte der Sportbootschleuse in Zaaren persönlich besichtigt hatte. Antwort der Bundesregierung auf Drucksache 19/10998: An den 315 Schleusenanlagen in der Zuständigkeit der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes befinden sich derzeit 474 Schleusenkammern der WSV in Betrieb. 41 Schleusenkammern wurden in den letzten 30 Jahren in Betrieb genommen (Baujahr nach 1988). Aber 32 Prozent der Schleusen und 28 Prozent der Wehre sind über 100 Jahre alt. Oftmals fallen Schleusen komplett aus. Das trifft dann ganze Tourismusketten, wie seinerzeit an der Schleuse in Zaaren. Es entstand ein großer wirtschaftlicher Schaden. Wir stellen fest: teils über 100 Jahre alte Infrastruktur am Wasser, Jahre des Stillstands und des Verfalls von Schleusen und Wehren, eingeschränkte Schleusenzeiten – in der Hauptsaison des Tourismus und des Sports mussten ganze Schleusen gar schließen –, fehlendes Fachpersonal, zum Beispiel Wasserbauingenieure; vielleicht finden wir geeignete Goldstücke, die das Problem lösen könnten. ({3}) Es gilt, neue Wasserstraßen zu erschließen für die Hunderttausenden von Menschen, die in unserer deutschen Heimat bereits begeistert aktiven Wassersport betreiben, sei es Rudern, Kanufahren, Kajakfahren, Segeln, Yachting, Wasserwandern oder auch Schwimmen. ({4}) Das sollte möglich sein; wir leben nicht in der Sahara. ({5}) Tagebaurestlöcher müssen miteinander verbunden werden; sie können diesen Regionen eine neue Zukunft geben. Genau hier sind die Kohleausstiegsmilliarden angebracht und richtig eingesetzt. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit; Sie sind schon drüber.

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lassen Sie mich noch einen Schlusssatz sagen? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Einen Satz!

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab – Frau Merkel ist bald nicht mehr da; das Gute liegt doch so nahe –, und stimmen Sie unserem Antrag zu! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Andreas Mrosek. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Mathias Stein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor meiner Zeit als Abgeordneter des Deutschen Bundestages war ich 25 Jahre in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung als Wasserbauer und Bautechniker beschäftigt. Wir haben Uferböschungen saniert und wasserbauliche Anlagen repariert und damit dafür gesorgt, dass die Wasserstraßen schiffbar geblieben sind. Dabei haben wir stets die Güterschifffahrt im Blick gehabt. Die Güterschifffahrt auf unseren Flüssen und Kanälen bildet seit Jahrhunderten die Grundlage für Handel und Industrie. Die großen Handels- und Industriemetropolen in unserem Land sind auf leistungsfähige Wasserstraßen angewiesen. Daher beruht auch unser Wohlstand zu einem großen Teil auf unseren Wasserwegen. Aber unsere Flüsse und Kanäle können noch mehr: Sie dienen der Erholung, dem Tourismus, dem Sport, und sie sind ein bedeutender Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Auch hierfür muss sich jemand zuständig fühlen. Bisher haben das die Länder gemacht, aber nur unzureichend. Deshalb ist es richtig und gut, dass der Bund jetzt diese Verantwortung übernimmt. ({0}) Mit dem heutigen Gesetzentwurf bekommt die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung als Behörde des Bundesverkehrsministeriums einen deutlichen Aufgabenzuwachs. Zukünftig ist die Behörde auch zuständig für Freizeitschifffahrt und sorgt dafür, dass die Gewässer so beschaffen sind, dass die Lebensräume für Pflanzen und Tiere erhalten bleiben. Wir als Deutscher Bundestag haben dafür gesorgt, dass im Verkehrshaushalt mehr Personal und mehr finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Ich habe allerdings große Sorge, ob das im Bundesverkehrsministerium genauso umgesetzt wird, wie Herr Ferlemann es eben gesagt hat. Die Wasserstraßen in Deutschland leiden seit Jahren unter einem massiven Sanierungsstau. Schleusen, Wehre, Ufer, Brücken müssen dringend saniert werden. Weder Bundesverkehrsminister Scheuer noch der Präsident der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt leisten aus meiner Sicht einen hinreichenden Beitrag dazu. Einige Beispiele aus Schleswig-Holstein: Seit etlichen Monaten sind Schleusentore am Nord-Ostsee-Kanal kaputt, und sie sind noch nicht einmal zur Sanierung ausgeschrieben. Sorgen Sie dafür, dass diese Ausschreibungen kommen! In Geesthacht streitet man sich darüber, wer für die Schiffsaufstiegsanlage zuständig ist; meistens sind es Juristen und keine Wasserbauingenieure. ({1}) Ein anderes Beispiel, aus Nordrhein-Westfalen: Seit drei Jahren werden Nischenpoller an der Schleuse in Marl am Wesel-Datteln-Kanal nicht saniert. – Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, bis in die Morgenstunden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das machen wir nicht. Gerade jetzt erwarten wir von einem Bundesverkehrsminister – sagen Sie das Herrn Scheuer! –, Sorge dafür zu tragen, dass die Stellen nicht in einem monatelangen, mühsamen Abstimmungsprozess zwischen Ministerium, GDWS und seinen Ämtern, sondern zügig besetzt werden. ({0}) Sorgen Sie dafür, dass die Anlagen an den Wasserstraßen zügig saniert und instand gesetzt werden. Und sorgen Sie dafür, dass die Führungsebene der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung ein Verständnis dafür entwickelt, dass sie auch für einen natürlichen Ausbau der Wasserstraßen zuständig ist. Für uns als Sozialdemokraten ist das das Mindeste. Wir wollen mit unserem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz ({1}) das modernste Mobilitätssystem Europas schaffen. ({2}) Dazu gehören natürlich Wasserstraßen – Kanäle und Flüsse –, die klimaneutral und zukunftsfest gestaltet werden. Wir wollen die Potenziale der Schifffahrt und des Tourismus heben und dass die Wasserstraßen für alle nutzbar sind. Das ist für uns ein ganz wichtiger Beitrag. ({3}) Ganz kurz zum Schluss – ich habe noch drei Sekunden; der Kollege Jung macht sich bereit –: Ich danke Ihnen. Sie halten jetzt Ihre letzte Rede, weil Sie sich nach Baden-Württemberg aufmachen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss. Das wollte ich jetzt nämlich sagen. Jetzt aus die Maus! ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach so. – Sie haben hervorragend – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, jetzt kommen Sie zum Schluss! Das ist mein Part.

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay, alles klar. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mathias Stein. – So, wie fange ich denn jetzt an? Also, wir haben uns hier etwas überlegt. Es gibt ja die sogenannte Premiere – wenn jemand zum ersten Mal redet –, und dann gibt es – wir wussten nicht, was das Gegenteil ist – – ({0}) – Ihr Angeber, Gscheitle! ({1}) Das haben wir in der Zwischenzeit auch herausbekommen: Es gibt die Dernière. Dr. Christian Jung wird in der Tat jetzt seine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag halten, weil er uns verlässt. Das Warum kann man beantworten: weil er in den baden-württembergischen Landtag wechselt. Ob Sie das dann genauso genießen können wie hier, das werden wir dann vielleicht von Ihren Kollegen hören. Auf jeden Fall freuen wir uns jetzt – und Ihre ganze Fraktion – auf Ihre letzte Rede hier im Deutschen Bundestag. Das Wort hat für die FDP-Fraktion Dr. Christian Jung. ({2}) – Ich bin in Ulm geboren; wir müssen ja jetzt Herrschaftswissen austauschen. ({3})

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst einmal vielen Dank für die freundliche Begrüßung! In meiner letzten Rede als Bundestagsabgeordneter werde ich über die Bundeswasserstraßen und die Wasserrahmenrichtlinie sprechen. ({0}) Die Wasserrahmenrichtlinie hat zum Ziel, bis 2027 alle Gewässer in Deutschland in einen guten ökologischen Zustand zu bringen. Wir Freie Demokraten haben bereits in der Vergangenheit betont, dass wir hier aber einen realistischeren Zeithorizont brauchen. Außerdem dürfen keine wichtigen Planstellen für die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie abgezogen werden, die Priorität muss auch weiterhin auf dem Erhalt und der Ertüchtigung der Wasserstraßeninfrastruktur liegen. Gleichzeitig ist es richtig, dass wir eine konstruktive Zusammenarbeit der zuständigen Stellen brauchen. Wir unterstützen daher das Ziel des Gesetzentwurfs, dem Bund die Verantwortung für den wasserwirtschaftlichen Ausbau der Bundeswasserstraßen zu übertragen. ({1}) So kann das Ziel von gesunden und klaren Gewässern effektiver erreicht werden. ({2}) Für Baden-Württemberg bedeutet dies aber auch, dass wir dringend eine Rheinvertiefung zwischen Karlsruhe und Kleve brauchen ({3}) und die Neckarschleusen bis Plochingen für größere Schiffe ausgebaut werden müssen. ({4}) In den kommenden Jahren stehen im Südwesten viele Instandsetzungen, Optimierungen und Neubauten in allen Verkehrs- und Infrastrukturbereichen an. So setze ich mich beispielsweise seit vielen Jahren für den Bau der zweiten Rheinbrücke zwischen Karlsruhe und Wörth ein. ({5}) Erlauben Sie mir zum Abschluss noch einige persönliche Worte. Da ich bei der Landtagswahl am 14. März 2021 im Wahlkreis Bretten im Landkreis Karlsruhe auch in den baden-württembergischen Landtag gewählt wurde, ({6}) werde ich mein Bundestagsmandat am 30. April niederlegen. ({7}) Einen Tag später werde ich dann Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg sein und dort meine fachliche Arbeit in gewohnter Weise weiterführen. ({8}) Für dreieinhalb intensive Jahre hier im Deutschen Bundestag und die kollegiale, sachorientierte und manchmal auch härtere Zusammenarbeit, zum Beispiel bei den finanziellen, strukturellen und personellen Problemen bei der Deutschen Bahn oder auch im Maut-Untersuchungsausschuss, danke ich Ihnen sehr herzlich. ({9}) Der Dank gilt neben meiner Fraktion der Landesgruppe, dem AK VI der FDP-Bundestagsfraktion ({10}) und der AG Verkehr mit Daniela Kluckert, Oliver Luksic, Torsten Herbst und Bernd Reuther, ebenso den Abgeordneten im Maut-Untersuchungsausschuss, die die Regierung kontrollieren und gerade nicht schützen oder beschützen wollen. Trotz einiger sachlicher und politischer Differenzen gab es im Maut-Untersuchungsausschuss immer eine sehr gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Ausschussvorsitzenden Udo Schiefner und Obfrau Kirsten Lühmann von der SPD. Vielen Dank! ({11}) Vor allem – das darf hier auch gesagt sein – entwickelte sich mit den Grünen im Maut-Untersuchungsausschuss zwischen den Mitarbeitern und ebenso zwischen den Obleuten zuerst mit dem heutigen Dresdner Baubürgermeister Stefan Kühn und später mit Oliver Krischer eine exzellente und vertrauensvolle Zusammenarbeit. ({12}) Das entstandene Vertrauen werde ich mit nach Stuttgart nehmen. Herzlichen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Dr. Christian Jung. Sie sehen, das ganze Haus wünscht Ihnen einen guten Wechsel, einen guten Einstieg im baden-württembergischen Landtag. Sie werden uns mit Sicherheit vermissen.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine Sorge, ich nehme nicht die ganzen zehn Minuten in Anspruch, nur ein paar. ({0}) – Das geht alles von der Zeit ab. Zum Schluss reicht auch. ({1}) Wir ändern heute das Strahlenschutzgesetz. Dabei geht es um Dinge, die die Praxis verändern sollen. Aus der Erfahrung mit der bisherigen Anwendung haben wir in diesem Gesetz eine Reihe von Änderungen für den praktischen Vollzug zu beschließen; sie gehen zu einem erheblichen Teil auf Anregungen des Bundesrates zurück, denen wir folgen. Erstens. Wichtig ist – und das kommt nicht so häufig vor –, dass wir eine Genehmigungs- in eine Anzeigepflicht umwandeln, nämlich bei bestimmten Lasern. Es geht also manchmal auch einfacher und nicht nur komplizierter. ({2}) Der zweite Punkt, den wir in diesem Gesetz regeln, betrifft die Fristen, wenn Radongrenzwerte überschritten werden und dann verpflichtend Maßnahmen ergriffen werden müssen. Derzeit haben Sie ein Jahr Zeit zum Messen und ein Jahr Zeit für Maßnahmen. Das erschien vor allen Dingen den Betroffenen in Sachsen ein bisschen zu kurz. Deswegen haben wir die Frist um sechs Monate verlängert und außerdem eine Flexibilisierungsmöglichkeit mit Ausnahmegenehmigungen geschaffen. Das ist sinnvoll, weil die Maßnahmen in dieser Zeit dann auch realisiert werden können. Bei der Gelegenheit ein Wort zu den Grenzwerten. Die Grünen haben bemängelt, die Grenzwerte seien zu hoch, und hätten sie gerne niedriger. Die AfD hat bemängelt, die Grenzwerte seien zu niedrig und wir brauchten sie gar nicht. Richtig ist: Radon ist neben Rauchen die wichtigste Ursache für Lungenkrebs. Sie haben im Ausschuss versucht, das mit ein paar Zahlenspielen wegzudiskutieren. Es gibt medizinische Anwendungen von Radon; die werden aber in genauer ärztlicher Abwägung gemacht. Radon ist gefährlich, und deswegen müssen wir versuchen, die Belastung zurückzudrängen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Letzter Punkt. Es gab Befürchtungen, dass die Zollverwaltung nicht mehr zuständig sein sollte für Kontrollen an der Grenze im Hinblick auf Waren, von denen ionisierende Strahlung ausgeht. Da haben wir eine ganz klare Feststellung gemacht: Es bleibt dabei, dass die Zollverwaltung an der Grenze kontrolliert und die Fachverwaltung, nämlich die für Strahlenschutz zuständigen Landesbehörden, zur Bewertung der Sachverhalte herangezogen wird. Alles in allem angemessene Grenzwerte, ein praktikables Gesetz, ein gutes Gesetz. Ich empfehle die Annahme und bitte um Zustimmung des Hauses. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Geschätzte Präsidentin! Werte Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine kleine Vorbemerkung. Es hat sich nicht nur gestern, rund um den Oster-Lockdown, gezeigt, dass die Berliner Blase vielleicht ein bisschen auf Distanz zum Volk gegangen ist und den direkten Draht verloren hat. Das wird auch daran offensichtlich, dass man sich jetzt in Gesetzentwürfen und anderen Dokumenten des Bundestages eines subkulturellen Kauderwelsches, genannt Gendersprache, bedient, sodass man sich auch sprachlich vom Volk entfernt. ({0}) Das erinnert irgendwie an alte Feudalzeiten, als die Oberschicht natürlich nicht gewillt war, die Sprache des einfachen Volkes zu sprechen. Ich halte es tatsächlich nicht für ein Kavaliersdelikt, wenn Gesetzentwürfe der Bundesregierung nicht mehr in richtiger deutscher Sprache, sondern in einer selbstverfertigten Fantasiesprache mit „Stern ‑innen“ abgefasst werden. ({1}) Ich würde mir wünschen, dass sich der Deutsche Bundestag hier zum Bewahrer der deutschen Sprache erklärt, sich als Hüter der verbalen Kommunikation mit dem Volk versteht und wir uns nicht mit überbordendem Snobismus einer Sprache einer abgehobenen Nomenklatura befleißigen. Ihr wildes Herumgegendere hat, mit Verlaub, nichts, aber wirklich absolut gar nichts mit Gleichberechtigung der Geschlechter zu tun. ({2}) Zum Thema. ({3}) Wir diskutieren zu später Stunde – Kollege Möring hat fast alles vorweggenommen – einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Strahlenschutzgesetzes. Dieser Gesetzentwurf enthält tatsächlich einige gute Ansätze. So sind die entbürokratisierenden Regelungen durchweg zu begrüßen, die es in bestimmten Fällen erlauben, Anlagen im Wege einer reinen Anzeige und nicht mehr nur nach einem langwierigen, ausbremsenden Genehmigungsverfahren zu betreiben. Solchen Verbesserungen im Strahlenschutzgesetz würden wir gerne zustimmen; allerdings kippen Sie an anderer Stelle ein kleines bisschen bürokratischen Essig in den Wein, und da machen wir eben nicht mit. Ihr Gesetz verschärft zum Beispiel die Dokumentationspflichten und Auflagen für fliegendes Personal. So müssen künftig nicht nur die Blockzeiten des fliegenden Personals dosimetrisch erfasst werden, sondern auch die sogenannten Positionierungen, also die Flüge, die einen Angestellten zu Beginn seines Arbeitstages an seinen Arbeitsplatz bringen, und Flüge, die ihn am Ende seines Arbeitstages wieder nach Hause bringen. All dieser bürokratische Aufwand muss nun mitgeleistet werden. Sie belasten also einen bis ins Mark erschütterten Wirtschaftssektor, der in der Lockdown-Zeit massive Einbußen erlitten hat, mit zusätzlicher Bürokratie. Ich weiß nicht, ob das Ihr Verständnis davon ist, diesen Sektor wieder auf die Beine zu bringen. ({4}) Das Thema Radon – Kollege Möring hat es angesprochen – wird auch wieder bürokratisch erfasst. Radon wird immer wieder als signifikanter Verursacher von Lungenkrebs erwähnt. Das liegt auch an der falschen Anwendung des LNR-Systems. Statistisch tritt das aber nicht in Erscheinung. ({5}) Es gibt eben keine statistische Signifikanz beim Vergleich von Bundesländern mit hohen Radonwerten – wir haben sie zum Beispiel in Thüringen, Sachsen oder auch Bayern – und solchen mit niedrigen Radonwerten, weder bei Männern noch bei Frauen. Und wenn wir europäische Nationen mit hohen Radonbelastungen mit solchen mit niedrigen Radonbelastungen vergleichen, dann finden wir bei Männern und Frauen auch keine statistisch signifikanten Ergebnisse. Das heißt nicht, Herr Möring, dass ich sage, dass das Risiko null ist – selbstverständlich nicht. Es sagt uns aber, dass es hier selbstverständlich Faktoren gibt, die sehr viel prominenter und sehr viel signifikanter für die Ausbildung von Lungenkrebs sind, als dies bei Radon offensichtlich der Fall ist. Diese fehlende statistische Signifikanz wird nun von der Bundesregierung weiterhin in Beschlag genommen, um Bürokratie und Berichtspflichten rund um die Gestaltung von Arbeitsplätzen in Deutschland beizubehalten. ({6}) Erneut wirft die Bundesregierung in wirtschaftlich schwerem Fahrwasser unseren Unternehmen bei der Sicherung von Arbeitsplätzen und Wohlstand ideologische Knüppel zwischen die Beine und gängelt die Wertschöpfung mit bürokratischem Leerlauf. Die AfD setzt sich für den Abbau von Bürokratie in Deutschland und nicht nur für deren Umschichtung ein, und daher lehnen wir den Gesetzentwurf trotz der guten Ansätze ab. Danke. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Judith Skudelny für die FDP, Ralph Lenkert für Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen und Dr. Nina Scheer für die SPD geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Heute Abend machen wir einen wichtigen Schritt im Kampf gegen die Wegwerfgesellschaft. Plastikhaltige Produkte gehören weder in Flüsse noch ins Meer noch in die Umwelt, und mit der Verordnung, über die wir heute abstimmen, wollen wir die Verbraucherinnen und Verbraucher verstärkt dafür sensibilisieren, wie ein richtiger Umgang mit Abfällen aussieht. Wir haben vor Kurzem die Einwegkunststoffverbotsverordnung erlassen, und jetzt geht es darum, dass wir mehr für Einwegkunststoffprodukte, die nicht verboten sind, sensibilisieren, die in der EU-Richtlinie geregelt sind. Dazu zählen Hygieneprodukte wie Feuchttücher und Binden, Tabakprodukte mit kunststoffhaltigen Filtern, aber auch Einweggetränkebecher aus Kunststoff, die zukünftig von einer Kennzeichnungspflicht erfasst werden. Warum? All diese Produkte gehören zu den zehn Dingen, die wir am häufigsten an Stränden und in der Umwelt finden. Das ist der Grund, warum wir das heute regeln. Diese ganzen Produkte werden zum Zwecke der Aufklärung nun mit einem hochauflösenden Logo versehen, das ein bisschen auf sich hat warten lassen. Es hat durchaus auch einen kulturell-künstlerischen Aspekt. Wer dieses Logo zu Gesicht bekommt, wird nämlich feststellen, dass die Freiheit der Kunst sehr groß ist und dass man sich doch sehr viele Gedanken darüber gemacht hat, wie man ein einprägsames Logo hervorbringen kann. Wer neugierig ist: Ich habe gehört, dass ein Nachredner das in vergrößerter Form mitgebracht hat. Auf alle Fälle wird es so viele Rätsel auslösen, dass viele Menschen sich Gedanken darüber machen werden, was sie dort in den Händen halten. Damit sensibilisieren wir, und das ist der richtige Weg. Weil die Frist zur Umsetzung kurz ist, ist es wichtig, dass wir auch dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die wegen der verspäteten Veröffentlichung durch die EU‑Kommission jetzt schon Produkte in den Umlauf gebracht haben, diese auch weiterhin verkaufen können. Warum? Weil es natürlich völliger Unsinn wäre, diese aus dem Handel zu nehmen und zu vernichten. Das wäre auch nicht nachhaltig. Wir haben uns auch darauf festgelegt, dass wir auch den betroffenen Herstellern durch einen praxisgerechten Vollzug in den Ländern bei der Umsetzung helfen wollen. Wichtig ist, dass wir mit dieser Verordnung insgesamt einen weiteren kleinen Baustein für mehr Aufklärung über den richtigen Umgang mit Kunststoffabfällen und für die Vermeidung der Vermüllung unserer Umwelt leisten werden. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Karsten Hilse. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Wir besprechen heute die Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung. Die Mitarbeiter in den Ministerien sind ja bekanntermaßen Meister der Wortkreationen. Beredte Beispiele sind das in dieser Woche behandelte „Hass-und-Hetze-Anpassungsgesetz“ und eben die Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung. Sie ist ein Beispiel dafür, wie hochbezahlte Beamte in Brüssel sich unsinnigerweise mit Dingen beschäftigen, die unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips von den Nationalstaaten selbst geregelt werden könnten. Einen größeren Nutzen für die Umwelt hätte es wohl gebracht, wenn diese hochbezahlten Beamten mit Mülltüten bewaffnet an afrikanischen oder asiatischen Flussmündungen Plastikmüll gesammelt hätten; denn genau dort wird das meiste davon in die Meere eingetragen. Der Anteil von Plastik aus Europa an der Meeresverschmutzung ist minimal; das wissen Sie selbst. Das Geld, welches hier für sinnlose Maßnahmen ausgegeben werden soll, könnte besser verwendet werden, wenn haupteintragende Länder beim Aufbau eines funktionierenden Müllsammel- und ‑verwertungssystems unterstützt würden. ({0}) Die Vermeidung der Meeresverschmutzung wird ja als eines der Hauptziele dieser Verordnung bezeichnet. Dabei nimmt man irrsinnigerweise in Kauf, dass mehr Plastik produziert wird, damit Deckel während des Gebrauchs von Plastikeinwegflaschen an dieser verbleiben. Ansonsten sollen Hinweise auf Umverpackungen, dass Plastik enthalten ist, zu einem anderen Entsorgungsverhalten beim Verbraucher führen. Genannt sind in der Verordnung unter anderem Damenbinden und Tampons. Ich hoffe inständig, dass Sie, liebe Frauen und Mädchen, trotz der sinnfreien Belehrungen auf der Verpackung bei Ihren Entsorgungspraktiken, die mir allerdings nur vom Hörensagen bekannt sind, bleiben. ({1}) Diese Verordnung, die ihr zugrundeliegende Richtlinie der EU sowie die EU selbst sind überflüssig. Die AfD fordert, das Bürokratiemonster zu einer Wirtschafts- und Interessenvereinigung von freien Nationalstaaten zurückzuführen oder aus diesem antifreiheitlichen Gebilde auszusteigen. ({2}) In § 4 dieser Verordnung werden alle zu kennzeichnenden Produkte aufgelistet. Es fehlt da aber ein bestimmtes Produkt, von dem Stefan Aust Folgendes sagt – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung –: Die Maske muss der Maske wegen getragen werden. Als Symbol für Gehorsam den Maßnahmen der Regierung gegenüber. Diese Masken sind, abweichend von der jetzigen Praxis, eigentlich Einwegprodukte und enthalten nicht nur jede Menge Plastik, sondern, wie es der Wissenschaftliche Leiter des Hamburger Umweltinstituts ausdrückte, jeden „Dreck der Welt“. Was wir … über Mund und Nase ziehen, ist eigentlich Sondermüll“, so Professor Braungart in einem Artikel von „heise online“. Weiter heißt es, in „zertifizierten Masken“ wurden unter anderem „flüchtige … Kohlenwasserstoffe“ und in manchen „große Mengen Formaldehyd oder Anilin“ gefunden. Alles in allem tragen wir einen Chemiecocktail vor Nase und Mund, der nie auf seine Giftigkeit und niemals auf etwaige Langzeitwirkungen untersucht wurde. Außerdem … atmen wir auch noch Mikrofaserpartikel ein, die genau die richtige Größe haben, um sich in unserer Lunge festzusetzen oder von dort aus weiter durch den Körper zu wandern. Das sind die Fasern, die nach der Definition der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung die gefährlichsten sind. Brächten Sie eine Verordnung ein, in der gefordert wird, all diese Informationen auf die Verpackung von Masken zu drucken und die Bevölkerung über diese Risiken zu informieren, könnten wir zustimmen. Allerdings wird das wahrscheinlich nicht passieren, weil sich zu viele von Ihnen mit dem hart erarbeiteten Geld der Menschen ihre sowieso schon prallgefüllten Taschen vollstopfen wollen. ({3}) Noch eine Anmerkung. Werte Frau Merkel, machen Sie in Anbetracht des von Ihnen angerichteten Chaos den Deutschen doch ein Ostergeschenk: Folgen Sie den Vorschlägen der AfD, der Linken und der FDP, und stellen Sie im Parlament die Vertrauensfrage! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Björn Simon und die Kollegin Judith Skudelny geben ihre Reden zu Protokoll. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung“ ist ein langes Wort, und sie ist mehr Schein als Sein. ({0}) Worum geht es? Ein Piktogramm mit sterbender Schildkröte und kaputtem Kunststoffbecher ist nunmehr der Hinweis, dass man Hygieneartikel nicht im Abwasser entsorgen soll. Vielleicht hilft es; aber dass die EU nach massivem Druck der Tabakindustrie das Problem von Zigarettenkippen in der Umwelt nur durch dieses einfallslose Piktogramm angeht, zeigt die Wirklichkeitsferne mancher Bürokraten. ({1}) Und es geht noch besser: Zukünftig sollen Plastikdeckel von Einwegkunststoffflaschen fest mit der Flasche verbunden sein, wahrscheinlich damit Deckel und Flasche nicht einsam, allein in der Umwelt herumliegen. Diese Idee löst kein Problem, und dass die EU diese Verbindungspflicht nur für Kunststoffdeckel an Kunststoffflaschen festlegt und Metalldeckel ausnimmt, zeugt auch noch von technischer Unkenntnis. ({2}) Dadurch werden Tausende Tonnen Kunststoff sinnlos für Einwegflaschen verschwendet. Das widerspricht den Klimazielen und ist richtig ärgerlich. Daher fordert Die Linke: Setzen Sie endlich auf mehr Mehrwegflaschen! ({3}) Leider wurden die guten Ideen von Experten in Brüssel und Berlin durch Industrielobbyisten ausgehebelt. Was würde aber wirklich Plastikmüll aus unserer Natur, den Flüssen und Meeren fernhalten? Gerade bei Hygieneartikeln braucht es schon in der Schule Aufklärung. In Coronazeiten kommen täglich Abermillionen Desinfektionstücher zu den schon großen Mengen an Feuchttüchern und anderen Artikeln hinzu. Es braucht ausreichend Mülleimer, damit das Entsorgen in der Toilette verhindert wird. ({4}) Wir unterstützen die Idee des Verbandes kommunaler Unternehmen, dass die Tabakfirmen die Kosten für die Beseitigung der Kippen übernehmen müssten. ({5}) Das würde bei der Industrie Lösungsideen freisetzen oder wenigstens die Reinigung finanzieren. Statt Kopfstände bei Deckeln für Einwegkunststoffflaschen zu machen, fordert Die Linke: Installieren Sie ein Mehrwegsystem und ein Pfand auf alle Einweggetränkeverpackungen! ({6}) Und wenn Sie das unbedingt wollen, dann können wir auch die Rückgabe der Deckel sicherstellen, indem wir ein Extrapfand auf die Deckel erheben und dieses wieder auszahlen, wenn sie mit der Flasche zurückgegeben werden. Die Linke traut es den Ingenieurinnen und Ingenieuren in den Unternehmen übrigens zu, entsprechende Rücknahmesysteme zügig in den Markt einzuführen. Das Piktogramm der Schildkröte gemäß dieser Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung ist leider nicht wirksam genug, aber wir können ja gemeinsam für ein Mehrwegsystem und gegen Einweg kämpfen. Dann können wir wirklich wirksam Plastikmüll aus der Umwelt fernhalten. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Die Reden der Kollegin Dr. Bettina Hoffmann, der Kollegin Dr. Anja Weisgerber und des Kollegen Michael Thews gehen zu Protokoll,

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vor ein paar Tagen einen Aufruf zu einer Demonstration für den Klimaschutz gelesen. Selbstverständlich war darin der Hinweis enthalten, dass hier eigentlich nichts zum Klimaschutz geschehe und dass die Politik eigentlich viel zu wenig mache. Annähernd zeitgleich hat Bundesumweltministerin Svenja Schulze die erste Klimabilanz nach den Vorgaben des Bundes-Klimaschutzgesetzes vorgestellt, und das Ergebnis lautet: Die Treibhausgasemissionen lagen in Deutschland knapp 41 Prozent unter dem Vergleichsjahr/Bezugsjahr 1990, und mit 9 Prozent hat es den größten jährlichen Rückgang im letzten Jahr gegeben. Das hat auch mit Corona zu tun, aber keineswegs nur. Wie passt beides eigentlich zusammen? Ist das sozusagen nur ein Kommunikationsproblem? Ich habe ja durchaus Verständnis für manche Forderungen, die gestellt werden, auch von der Klimabewegung, aber ich will an dieser Stelle eines vielleicht mal festhalten, was für alle gesellschaftlichen Bewegungen wichtig ist: Empörung allein reicht nicht. Im Gegenteil! Bleibt es nur bei Empörung, führt das nur zu Frustration, die auf dem Fuße folgt, weil ja sowieso schon klar ist, dass sich nichts ändert. Nur wenn sich Empörung sozusagen in Handlungen umwandelt, bekommt Fortschritt eine Richtung; nur dann gibt es Erfolge. Dann ist man aber in einem Feld, das viele sehr distanziert mit Realpolitik bezeichnen. Sie ist aber eben notwendig. Lässt man sich darauf ein, wird erkennbar: Wir reden nicht nur über Klimaschutz, nein, wir machen auch tatsächlich Klimaschutz, und die von der Koalition ergriffenen Maßnahmen wirken. ({0}) Mit dem Bundes-Klimaschutzgesetz haben wir zum ersten Mal feste Jahresemissionsmengen für die einzelnen Sektoren festgelegt; ich komme gleich darauf zurück. Diese zählen auch. Auch die Folgen von Covid-19 haben zu dem Ergebnis beigetragen, aber in ganz unterschiedliche Richtungen: Entlastung im Verkehrssektor, aber nicht alleine dort. Im Gebäudebereich beispielsweise kam es 2020 zu einer Emissionsminderung von nur gut 3 Millionen Tonnen auf 120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. Der Gebäudesektor überschreitet also seine Jahresemissionsmenge gemäß dem Bundes-Klimaschutzgesetz, die eigentlich bei 118 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente liegen müsste. Erfolge gab es beim geringeren Brennstoffverbrauch im Bereich „Gewerbe, Handel, Dienstleistungen“. Weniger Erfolge gab es im Bereich des Wohnens und der privaten Haushalte. Wir halten aber jedenfalls mal fest: Im Gebäudebereich gibt es hier noch deutlich Luft nach oben. Nach den Vorgaben des Bundes-Klimaschutzgesetzes muss das zuständige Ministerium, also Horst Seehofer, ({1}) bis spätestens 15. Juli 2021 ein Sofortprogramm vorlegen, über das der Bundestag dann zu unterrichten ist. Wahrscheinlich wird man dann noch weiter in konkretere Details einsteigen müssen; die Mühen der Ebenen, wie Brecht mal gesagt hat, liegen auch im Bereich des Klimaschutzes noch vor uns. Und genau damit haben wir es heute Abend zu tun. Denn wer befasst sich schon freiwillig zu mitternächtlicher Stunde mit der Verordnung zur Änderung der Energetische Sanierungsmaßnahmen-Verordnung? ({2}) – Wir auch; ich komme gleich darauf zurück. Es geht beim Klimaschutz und bei der Klimawende eben auch um das Wohnen und Bauen, und hier ist das Potenzial zur CO2-Reduktion noch erheblich. Um das zu erreichen, wollen wir aber nicht irgendwie den Bau von Eigenheimen einschränken oder verbieten, sondern wir wollen bestehende Gebäude energieeffizienter machen. ({3}) Wir wollen energieproduzierende Gebäude haben und nicht nur energieverbrauchende Häuser. Unser Motto lautet, ein schönes Ziel zu formulieren, und so ein Motiv ist besser als Verbote. Deshalb haben wir 2019 im Steuerrecht Anreize für energetische Sanierungsmaßnahmen an eigengenutzten Wohnungen geschaffen. Seit dem 1. Januar werden befristet für zehn Jahre zum Beispiel Kosten für den Austausch einer alten Ölheizung oder eine bessere Wärmedämmung zusammenhängend steuerlich gefördert. Das hört sich abstrakt an – so ist das eben in der Steuerpolitik –, aber es macht sich in Cent und Euro bemerkbar. Konkret können Eigentümerinnen und Eigentümer 20 Prozent der Aufwendungen für jede Einzelmaßnahme verteilt auf drei Jahre von der Steuerschuld abziehen. Um das mal in Mark und Pfennig zu sagen: Insgesamt sind bei Aufwendungen für Sanierungsmaßnahmen an einem begünstigten Projekt in Höhe von 200 000 Euro 40 000 Euro von der Steuerschuld abzugsfähig. Das ist schon eine ziemliche Menge. ({4}) Das Wohngebäude muss dabei übrigens älter als zehn Jahre sein. Es geht nicht um den Neubaubereich, sondern es geht um den Wohnungsbaubereich im Bestand, und das ist ein großer, wichtiger Faktor. Wir haben uns dabei für einen schlanken, bürokratiearmen Zugang zu dieser steuerlichen Ermäßigung ausgesprochen; denn wir wollen, dass die Menschen diese Möglichkeiten auch nutzen. Motivieren ist das Motto bei dieser Angelegenheit. Dazu gehört übrigens auch Vertrauen in Handwerksunternehmen, die das machen. Deshalb ist für uns die Hinzuziehung eines Energieberaters ein Angebot, aber keineswegs eine Pflicht; wir haben auch Vertrauen in Handwerksunternehmen. ({5}) Im November 2020 ist das GEG, das drei Rechtsakte zusammenfasst, und darüber hinaus die Bundesförderung für effiziente Gebäude, die vier Rechtsakte zusammenfasst, in Kraft getreten. Mit der vorliegenden ersten Verordnung zur Änderung der Energetische Sanierungsmaßnahmen-Verordnung nehmen wir jetzt die notwendigen Anpassungen vor, den Gleichklang, so wie das eigentlich vernünftig ist. Dabei gibt es Diskussionen, beispielsweise um die Frage, ob denn eigentlich die sogenannten Mini-KWKs in ihrer bisherigen Form noch dabei sind. Sie sind es; sie werden in der Zukunft auch dabei sein. Wenn sie aber nur gas- oder ölbefeuert sind, dann sind sie es nicht, sondern gasbasierte Systeme sind nur als Hybride und in Kombination mit erneuerbaren Energien weiterhin förderfähig. Das will ich hier jetzt aus Zeitgründen nicht im Einzelnen darstellen, aber in einer entsprechenden Protokollerklärung haben wir das jedenfalls auch festgehalten. ({6}) Jetzt haben die Grünen – Lisa wird ja gleich noch reden – das im Ausschuss abgelehnt, unter anderem, weil die Begleitung von Sanierungsmaßnahmen durch Energieberatung nicht verpflichtend ist. Man kann dieser Auffassung sein. Außerdem wollen sie eine höhere steuerliche Förderung und den KfW-Standard 55 für Effizienzhäuser, die es im Neubau gibt, auch auf den Altbau übertragen. ({7}) Das kann man machen, aber die Folge wird sein, dass diese Hürden die Investitionen nicht befördern, sondern wahrscheinlich eher verhindern. ({8}) Dieses Risiko müssten eigentlich auch die Grünen noch mal reflektieren. ({9}) Ich will daran erinnern, dass die Grünen der bestehenden Regelung damals im Vermittlungsausschuss zugestimmt haben. Wir haben volles Vertrauen in Energieberater. Sie können hinzugezogen werden, ihre Kosten können geltend gemacht werden, aber wir schreiben es eben nicht vor. Die steuerliche Förderung soll bürokratiearm sein; sie soll motivieren, nicht verkomplizieren. Jetzt komme ich zum Schluss zurück zum Beginn: Klimawandel und Protest. Es tut sich eben offenbar doch etwas, wie ich dargestellt habe, ({10}) ganz konkret durch politisches Handeln. Der gesellschaftliche Protest zeigt immer dann Wirkung, wenn er auf parlamentarische Unterstützung stößt, und zwar durch Handeln und nicht nur durch Reden, und genau das machen wir. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt kommt für die Fraktion der AfD die Abgeordnete Franziska Gminder. ({0})

Franziska Gminder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004728, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Am 1. November 2020 ist das Gebäudeenergiegesetz, GEG, in Kraft getreten. Zudem wurde mit der Bundesförderung für effiziente Gebäude, BEG, die energetische Gebäudeförderung des Bundes neu erweitert. Auf Grundlage des § 35c Einkommensteuergesetz werden mit den Änderungen bei der direkten Förderung auch steuerliche Vergünstigungen eingeführt. Damit wird eine Harmonisierung beider Wege erreicht. Zusätzlich erfolgen eine Anpassung zahlreicher technischer Mindestanforderungen und eine Anforderung an die handwerkliche Qualität des ausführenden Unternehmens. Früher waren die Hauptgründe für eine Sanierung des Eigenheims oder einer Immobilie Schäden an der Außenhaut, undichte Fenster und Dächer, defekte, energiefressende Heizungsanlagen. Die Verteuerung der fossilen Brennstoffe reißt ein immer größer werdendes Loch in unsere Geldbeutel. Haben wir noch vor einigen Jahren 35 Cent für einen Liter Heizöl bezahlt, so sind es heute schon 65 Cent; es waren sogar mal 95. Von daher ist es für jeden Immobilienbesitzer wichtig, Energie einzusparen. Wir als AfD unterstützen Immobilienbesitzer und Häuslebauer und wollen sie steuerlich entlasten – ganz im Gegensatz zu den Plänen der Grünen, die ein Einfamilienhausverbot planen, wie in der Presse zu lesen war und wie es in Hamburg-Nord schon durchgesetzt wird. ({0}) Gezielte Maßnahmen bei der Gebäudesanierung senken den Energiebedarf eines Hauses erheblich: der Ersatz alter Ölheizungen durch neuere, effizientere Geräte, der Einbau moderner Öl-/Gas-Brennwertkessel, der Einbau einer Wärmepumpe, die Dachisolierung, der Einbau neuer Fenster mit Isolierglas. Eine Dämmung der Außenhaut kann Wärmeverluste um bis zu 40 Prozent senken. Wie wirken nun das Gesetz und die steuerlichen Vergünstigungen? Wir meinen: positiv. Die neue Verordnung definiert genau, wer oder was förderfähig ist. Sie setzt neue Standards. Die Ausführungen der Arbeiten stehen unter Meisterzwang, wenn die steuerliche Abschreibung in Anspruch genommen werden will. Somit werden deutsche Qualitätsstandards gefördert und unser heimisches Handwerk gestärkt. Pfusch am Bau soll verhindert werden. Nach deutscher Verwaltungsart ist die Verordnung sehr detailliert; es hätte sicherlich auch etwas unbürokratischer sein können. Eine Dachdämmung kostet bis zu 20 000 Euro, eine Heizung bis zu 10 000 Euro, Fenster gut und gerne 1 000 Euro pro Stück, eine Fassade bis zu 20 000 Euro. Bei solchen Sanierungskosten, die sich erst langfristig rechnen werden, begrüßt die Alternative für Deutschland sehr, dass es bei einer maximal anzurechnenden Investitionssumme von 200 000 Euro eine steuerliche Förderung, also eine Steuerentlastung, von bis zu 40 000 Euro – über drei Jahre verteilt – geben wird. Die Verantwortung für eine gelungene Sanierung liegt jedoch beim Auftraggeber. Die Beauftragung eines Meisterbetriebs wird in der Regel für eine korrekte Ausführung sorgen. Die Wahl der Außendämmung sollte nicht auf billiges Dämmmaterial wie Styropor fallen, da es äußerst brennfähig und schwer löschbar ist; Steinwolle sollte man bevorzugen. Aber wie in vielen Lebenslagen ist auch hier jeder seines eigenen Glückes Schmied. Wir als AfD leisten konstruktive Oppositionsarbeit und stimmen der Verordnung gerne zu. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Gminder. – Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Johannes Steiniger. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Daldrup hat darauf hingewiesen: In der vergangenen Woche haben wir gesehen, dass die Energiewende nicht nur gelingen kann, sondern dass die Energiewende auch schon gelingt und weiter gelingen wird. Wenn wir uns anschauen, wie sich der CO2-Ausstoß in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, dann müssen wir feststellen: Wir haben mit 40,8 Prozent – das wurde erwähnt –, also 70 Millionen Tonnen, CO2-Emissionen weniger seit 1990 die selbstgesteckten Klimaziele erreicht: ({0}) Jetzt gibt es ja so ein paar Schlauberger – die sitzen vor allen Dingen hier –, ({1}) die davon sprechen, das sei alles nur Corona geschuldet. ({2}) Das ist eben genau nicht der Fall. ({3}) Denn wenn das alles nur wegen Corona so wäre, dann wären wir niemals zu dieser Reduktion an der Stelle gekommen. Es sind eben die Kraftanstrengungen dieser Großen Koalition der letzten Jahre und der CDU-geführten Bundesregierungen der vergangenen 15 Jahre gewesen, die dazu geführt haben, dass wir diese Ziele jetzt erreicht haben. ({4}) Wir haben sie in verschiedenen Bereichen erreicht, etwa in den Bereichen Wirtschaft und Verkehr, aber im Gebäudesektor haben wir noch ein bisschen was vor uns. ({5}) Es sind insgesamt 2 bis 3 Millionen Tonnen CO2, um die wir das Ziel da verfehlt haben. Der Gebäudesektor ist der schlafende Riese im Klimaschutz. Wir haben hier vor, den CO2-Ausstoß über die nächsten zehn Jahre von 120 Millionen Tonnen auf 70 Millionen Tonnen zu senken. Deswegen haben wir, als wir vor anderthalb Jahren das Gesetz zur Umsetzung des Klimaschutzprogramms 2030 im Steuerrecht verabschiedet haben, die steuerliche Privilegierung der energetischen Gebäudesanierung eingeführt, und hier beschließen wir jetzt die erste Fortschreibung der zugehörigen Verordnung. Wenn wir sehen, dass es im Jahr 2020 insgesamt 40 Prozent mehr Sanierungen auf Effizienzhausniveau gegeben hat, dann wissen wir, dass sich die Anreize, die wir hier gesetzt haben, in der Realität schon ausgewirkt haben, ({6}) und das ist ja auch logisch, weil Sie ja dargestellt haben, Herr Kollege Daldrup, was für eine großzügige steuerliche Förderung es gibt, eine Förderung, mit der man über insgesamt drei Jahre bis zu 40 000 Euro sparen kann. Da wir Deutsche ja immer da, wo es einen Rabatt gibt, durchaus gerne zulangen, haben wir hier, glaube ich, ein sehr kluges Instrument geschaffen – und im Übrigen, Frau Gminder, ein Instrument, das unbürokratisch ist. Man braucht nämlich keinen Antrag zu stellen, sondern das läuft einfach alles über die Steuererklärung. ({7}) Was uns wichtig war, ist, dass auch Mini-KWK-Anlagen förderfähig sind, wenn sie mit Biomasse oder Wasserstoff betrieben werden und die technischen Anforderungen erfüllen. Da gab es zwischendurch mal etwas Bedenken, ob das möglich ist. Das haben wir aber in den letzten Tagen klären können, und das finde ich auch gut. ({8}) Schauen wir uns an, wie die Rahmenbedingungen für die Arbeiten, die durchgeführt werden, aussehen. Vom Maurer bis zum Elektrotechniker kann das jeder machen. Ich freue mich sehr, dass wir hier auf unsere deutschen Stärken setzen. Die Basis des Ganzen ist der Meisterbrief als deutsches Qualitätssiegel. Auch mit Blick auf den Entschließungsantrag, der hier vorliegt, möchte ich schon noch mal ganz klar sagen: Wir haben Vertrauen in das deutsche Handwerk. ({9}) Die ganze Welt beneidet uns um unsere Meisterinnen und Meister und die Qualität in diesem Bereich. Anders als Sie in Ihrem Antrag schreiben, haben wir die Meisterpflicht eben schon vor anderthalb Jahren in das Gesetz aufgenommen; deswegen brauchen wir hier gar nichts einzufügen. Was in dieser Verordnung also sehr technisch rüberkommt, ist, glaube ich, ein guter Beitrag dafür, dass wir es schaffen, die Energiewende und den Klimaschutz made in Germany zum Erfolgsmodell zu machen und in die Welt zu exportieren. Wir als CDU/CSU wollen keine ideologischen Diskussionen. Wir wollen keine Enteignungen, wir wollen auch keine grüne Verbotspolitik. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, in welchem Haus sie wohnen sollen, ob sie ein Einfamilienhaus bauen dürfen oder nicht, sondern wir setzen auf Anreize. ({10}) Insbesondere im steuerlichen Bereich ist das, glaube ich, ein sehr, sehr gutes Instrument. Deswegen kann man sagen: Auch um 0.22 Uhr, also mitten in der Nacht, kann die Berliner Politik noch gute Entscheidungen treffen. In diesem Sinne schenke ich uns die letzten 30 Sekunden. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir bedanken uns. – Markus Herbrand und Jörg Cezanne geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) Lisa Paus hat das Wort. Bitte schön. ({1})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem 1. Januar 2020, also seit gut einem Jahr, haben wir tatsächlich endlich die steuerliche Förderung der energetischen Sanierung selbstgenutzten Wohneigentums. ({0}) Es hat wirklich sage und schreibe zehn Jahre gedauert; wir Grünen haben zehn Jahre dafür gekämpft, bis das endlich gekommen ist. ({1}) Das ist wichtig, weil es eben für jeden und jede machbar sein muss, das eigene Haus klimagerecht zu modernisieren. Und es ist auch deswegen wichtig, weil es eine riesige Aufgabe ist; denn derzeit ist es noch so, dass Gebäude durch Heizen, Kühlen und sonstigen Energieverbrauch für ein Drittel des klimaschädlichen CO2-Ausstoßes in Deutschland verantwortlich sind. Ein Großteil der Gebäude in Deutschland ist derzeit noch schlecht oder gar nicht gedämmt, und der Anteil der erneuerbaren Energien an der Wärmeerzeugung stagniert seit Jahren bei lächerlichen 14 Prozent. Hier und heute wird die entsprechende Verordnung angepasst; aber sie wird eben nur formal angepasst. Diese Verordnung legt fest, welche Klimastandards, welche Energiestandards bei der Sanierung eingehalten werden müssen, um die steuerliche Förderung zu erhalten. Es ist aber so: Diese Energiestandards passen einfach nicht zu den eigenen Klimazielen der Bundesregierung. ({2}) Damit verpassen Sie eben eine zentrale Chance. Entweder nehmen Sie also Ihre eigenen Klimaziele nicht ernst, oder Sie treiben Hunderttausende Eigentümerinnen und Eigentümer in teure Fehlinvestitionen; denn Gebäude haben nun mal eine Lebensdauer von 80 Jahren, Heizungen haben eine Lebensdauer von 30 Jahren. Das heißt, wenn Sie bis 2040 einen klimaneutralen Gebäudebestand schaffen wollen, dann müssen Sie jetzt schärfere Standards unterstützen. ({3}) Ein solcher Standard wäre der heutige KfW-Effizienzhaus-55-Standard für Komplettmodernisierungen oder eben auch für Einzelmaßnahmen entlang eines Sanierungsplanes, den wir zu 100 Prozent fördern wollen. Gleichzeitig sagen wir, es wäre ganz wichtig, auch die Qualität zu sichern; denn wir kennen doch ganz viele Erzählungen und Hinweise darauf, ({4}) dass die Ausführung auf dem Papier zwar in Ordnung war, die entsprechende Qualität dann aber nicht geliefert wurde. Also: Qualitätssicherung durch eine Prüfung nach dem Vieraugenprinzip mit Gegencheck durch einen Energieberater! Das ist übrigens auch der bewährte Standard bei den KfW-Programmen. Damit das alles auch bezahlbar bleibt, sagen wir: Ja, man muss dann auch die steuerliche Förderung von derzeit eben bis zu 40 000 Euro auf 50 000 Euro erhöhen. So würde man das Ganze bezahlbar machen, ({5}) man hätte die Qualität gesichert, und man würde damit langfristig werthaltige Immobilien und gleichzeitig Planungssicherheit für alle Eigentümerinnen und Eigentümer schaffen. Das finden Sie in unserem Entschließungsantrag. Deswegen bitten wir Sie, die Verordnung entweder heute noch mal zurückziehen oder in den laufenden Beratungen mit dem Bundesrat vielleicht doch noch zu besseren Ergebnissen zu kommen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank – auch für die geschenkten 13 Sekunden –, liebe Kollegin. – Der Kollege Sebastian Brehm gibt seine Rede zu Protokoll, ({0}) – Herzlichen Dank dafür. – Dann schließe ich die Aussprache zu TOP 26.

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Nacht einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der europäischen Warenkaufrichtlinie aus dem Jahre 2019. Zusammen mit der sogenannten Digitale-Inhalte-Richtlinie ersetzt sie die noch geltende Verbrauchsgüterkaufrichtlinie und ergänzt sie die Verbraucherrechterichtlinie aus dem Jahre 2011. Sie ist bis zum 1. Juli in deutsches Recht umzusetzen und ab dem 1. Januar 2022 anzuwenden. Ziel der Richtlinie ist es, die Gewährleistungsrechte von Verbrauchern zu verbessern und europaweit zu harmonisieren. Außerdem sollen grenzüberschreitende Hindernisse im Handel zwischen Verkäufer und Verbraucher innerhalb der EU beseitigt werden. Zudem soll die Lebensdauer von Kaufgegenständen mit digitalen Elementen verlängert werden. Dies ist aus ökologischen Gründen zu begrüßen und passt auch zu den Prinzipien der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Worum geht es im Wesentlichen? Zunächst soll europaweit ein zweistufiges Gewährleistungsrecht für den Warenkauf eingeführt werden. Dies haben wir bereits in Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch; das brauchen wir nicht mehr zu machen. Umsetzungsrelevant für den deutschen Gesetzgeber sind aber folgende Regelungen: Der Begriff des Sachmangels soll neu gefasst werden. Ein zwischen den Parteien vereinbarter Zustand des Kaufgegenstandes soll keinen Vorrang mehr vor objektiven Beschaffenheitskriterien haben. Davon soll nur mit dem ausdrücklichen gesonderten Einverständnis des Verbrauchers abgewichen werden können. Eine Aktualisierungsverpflichtung soll den Verbraucher dazu berechtigen, bei Kaufgegenständen mit digitalen Elementen Updates einzufordern. Darüber soll der Verkäufer rechtzeitig informieren. Damit soll auch verhindert werden, dass sich Kunden nur deshalb ein neues Gerät kaufen, weil der Elektronikteil technisch nicht mehr auf dem neuesten Stand ist. Die Geltung der Beweislastumkehr soll von sechs auf zwölf Monate verlängert werden. Bei digitalen Bestandteilen der Kaufsache, die dauerhaft zur Verfügung gestellt werden, soll die Beweislastumkehr sogar während des gesamten Bereitstellungszeitraumes gelten. Und letztlich: Gewährleistungsansprüche sollen weiterhin nach zwei Jahren verjähren. Was sagen die Marktteilnehmer dazu? Die Verbraucherverbände sind mit dem Entwurf nicht unzufrieden. Ihnen geht die Umsetzung nur nicht weit genug, sie fordern, die Geltung der Beweislastumkehr auf zwei Jahre und die Gewährleistungsfristen – insbesondere bei langlebigen Produkten – auf drei Jahre zu verlängern. Manche wünschen sich zudem eine gesetzliche Unterscheidung zwischen dem Verkauf von gebrauchten und von neuen Sachen. Der Handel ist in weiten Teilen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einverstanden. Änderungsbedarf sieht er darin, dass im Rahmen der Aktualisierungspflicht dem Verbraucher ein Anspruch auf Updates nicht nur gegenüber dem Verkäufer, sondern zusätzlich auch gegenüber dem Hersteller zustehen soll und dass die zweijährige Verjährung von Ansprüchen im Zusammenhang mit Mängeln an digitalen Elementen nicht erst mit Ablauf des Aktualisierungszeitraumes zu laufen beginnen soll. Der Bundesrat empfiehlt längere Gewährleistungsfristen; diese sollen an die Lebensdauer der jeweiligen Produkte angepasst werden. Er möchte eine Verlängerung der Geltungsdauer der Beweislastumkehr auf zwei Jahre; dies würde nach seiner Auffassung für die Hersteller einen Anreiz schaffen, langlebigere Produkte herzustellen, und würde die Bereitschaft von Verbrauchern steigern, ihre Rechte im Streitfall auch durchzusetzen. Bei Kaufverträgen mit Montageanteil empfiehlt er, die Formulierungen zu den Montageanforderungen im Gesetz klarer zu fassen. Und, letztlich: Der Bundesrat kritisiert den späten Beginn der Verjährungsfrist bei Mängeln an den digitalen Elementen der Kaufsache. Die Pferdezuchtverbände fordern – Bezug nehmend auf eine Öffnungsklausel in der Richtlinie –, dass lebende Tiere ganz vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen sind, jedenfalls die Beweislastumkehr beim Pferdekauf aufzuheben ist, wenigstens aber keine Verlängerung der Beweislastumkehr erfolgt, weil dies eine weitere rechtliche Benachteiligung für Züchter und Verkäufer darstelle. ({0}) – Die Pferdefreunde! Alles in allem ist festzustellen, dass der bisherige Gesetzentwurf eine gelungene Umsetzung der europäischen Warenkaufrichtlinie in deutsches Recht darstellt, mit der sich in den nächsten Wochen gut arbeiten lässt. Bei der einen oder anderen Umsetzung besteht sicherlich noch Verbesserungsbedarf. Insoweit erwarte ich mir da wichtige Erkenntnisse von der Sachverständigenanhörung Anfang Mai. Ziel muss jedenfalls sein, dass die gesetzliche Umsetzung der Richtlinie einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen des Handels bzw. der Verkäuferseite und den Interessen des Verbraucherschutzes herstellt. Gleichzeitig sind umweltrelevante Auswirkungen mit in den Blick zu nehmen und die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages zu beachten, der eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Richtlinien in deutsches Recht vorsieht. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen, meine Damen und Herren – aber dann zu den in Mitteleuropa üblichen Arbeitszeiten. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So machen wir das. Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Abgeordnete Tobias Peterka, AfD-Fraktion. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Werte Kollegen! Die Warenwelt verändert sich rapide, und das nicht erst seit Corona. Digitale Güter sind für viele jedoch leider immer noch Neuland oder lediglich Musikstücke, Filme oder vielleicht noch Computerspiele. All das geht heute aber viel weiter. Die Möglichkeiten, zum Beispiel Partizipationsrechte, Unternehmenseigentum, Kunst- und Sammelobjekte und vieles mehr über blockchain-basierte Token zu erwerben, stecken erst in den Kinderschuhen. Die meisten dürften zunächst einmal googeln, was hier jetzt gemeint ist. Daher wundert es mich nicht: Heute geht es eher um die Basics, um kleinere Brötchen. Zu begrüßen ist, dass die vorliegenden Umsetzungen von zwei EU-Richtlinien zumindest bei grundlegenden Fragen Pflichtarbeit leisten. Die sogenannte Warenkaufrichtlinie befasst sich vor allem damit, die Rechtssicherheit beim Verkauf und Erwerb von Sachen mit digitalen Elementen zu verbessern, zum Beispiel wenn ich ein Smart-TV kaufe, bei dem dann die Software anfängt zu bocken. Die Digitale-Inhalte-Richtlinie befasst sich hingegen mit dem reinen Kauf und der Miete – zum Beispiel von Software – ohne zwingenden Bezug zur körperlichen Welt. Da das deutsche Recht ziemlich starr an der Definition von Sachen als körperliche Gegenstände festhält, wurden lange Hilfskonstruktionen über Datenträgerverkauf und sonstige Verrenkungen unternommen, um irgendwie einen stimmigen Softwareerwerb hinzubekommen. Für den Verbrauchsgüterkauf wurde eine Regelung, wie sie hier vorliegt, daher besonders nötig. Endlich gibt es eine saubere Regelung für die kostenlosen Apps, bei denen der Verbraucher ja in der Tat mit seinen Daten – je nachdem – sehr teuer bezahlt. Der Kritik, dass die Gewährleistung und die jetzt allgemein bessere Rechtsstellung erst recht massenhaft Verbraucher dazu verleiten werden, ihre Daten zu verramschen und sich Gratisprogramme herunterzuladen, kann man nicht folgen. ({0}) In erster Linie machen sich die Verbraucher zunächst nämlich gar keine Gedanken; sie klicken einfach auf „Download“, wenn es angeblich gratis ist. Besser im Nachhinein geschützt als auf eine Grauzone verwiesen, die den meisten bewiesenermaßen ex ante – also vor dem Erwerb – völlig egal ist! Die Festlegung einer Aktualisierungspflicht für Software war überfällig, ganz genau. Die Mischung von objektiven und subjektiven Beschaffenheitsstandards, das passt ebenfalls. Bei reißerischer Werbung muss ich mich als Anbieter dann eben festhalten lassen. Ebenfalls zurechtkommen muss ich als Anbieter mit der Verlängerung der Beweislastumkehr im Hinblick auf Mängel auf nunmehr ein Jahr. Das ist nicht unproblematisch, aber noch vertretbar im rein digitalen Bereich mit seinen vergleichsweise geringen Rückabwicklungskosten. Zur Warenkaufrichtlinie. Auch hier ist ein Produkt nur mangelfrei, wenn die enthaltene Software aktuell ist. Definiert ist nun aber gar nicht, wie lange die Updatepflicht überhaupt besteht. Die Umstände des Einzelfalls werden hier interessante Urteile hervorbringen; schließlich haben Programme und Software endlose Abstufungen von Grund- und Zusatzfunktionen, über die man sich dann streiten kann. ({1}) Auch der Lieferantenregress wird nun potenziell ohne zeitliches Limit ablaufen. Wenn der kleine Elektronikhändler – also einer der paar, die überhaupt noch existieren – vom Käufer das alte Apple-Produkt nun zurücknehmen muss, weil Apple beschlossen hat, es nicht mehr zu aktualisieren, dann kann der Händler Apple theoretisch in Regress nehmen. Dabei wünsche ich viel Spaß! Hier muss nämlich gegebenenfalls mit anderen Gesetzentwürfen im B2B-Bereich, im Bereich zwischen den Unternehmen, nachgesteuert werden; denn die Marktmacht sollte hier für jeden offensichtlich sein, auch nachts um halb eins. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Dr. Jürgen Martens und Amira Mohamed Ali geben ihre Reden zu Protokoll. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen bei hochwertigen Produkten zu Recht erwarten, dass diese langfristig nutzbar sind“, das sagte Verbraucherschutzministerin Lambrecht kürzlich in einem Interview. Dem kann ich voll und ganz zustimmen. Dann frage ich aber: Warum haben Sie die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie nicht für eine längere Gewährleistungsfrist genutzt? Die könnte nämlich ein wirkungsvoller Hebel sein, damit Hersteller langlebigere und reparierbare Produkte entwickeln. Die EU-Richtlinie lässt hier bewusst einen Umsetzungsspielraum. Was aber macht die Bundesregierung? Sie setzt wieder einmal nur das Nötigste um. Welch Armutszeugnis! Wir sollten doch die nationalen Spielräume für einen besseren und nachhaltigen Verbraucherschutz ausschöpfen! ({0}) Fakt ist: Der Berg an Elektroschrott wächst und wächst und wächst; allein in Deutschland sind es rund 20 Kilo pro Kopf jährlich. Dabei ist es immer wieder ein großes Ärgernis für die Verbraucher/-innen, wenn Elektrogeräte nach kurzer Zeit den Geist aufgeben. Die zweijährige Gewährleistungsdauer ist insbesondere für langlebige Waren viel zu kurz. Eine gute Waschmaschine hält locker zehn, zwanzig Jahre. ({1}) Aber Geräte werden oft billig produziert und machen viel zu früh schlapp. Warum? Weil die kurze Gewährleistungsdauer Fehlanreize setzt. Wir Grüne fordern daher eine Gewährleistung von vier Jahren und für langlebige Produkte eine noch darüber hinausgehende Gewährleistung. ({2}) Mindestens genauso wichtig ist die Beweislastumkehr, damit die Gewährleistungsrechte in der Praxis tatsächlich greifen. Laut EU-Richtlinie wäre eine Anhebung auf zwei Jahre möglich. Ich fordere Sie auf: Machen Sie es wie Frankreich, und verlängern Sie die Beweislastumkehr auf zwei Jahre! Darüber hinaus sollten die Hersteller angeben, wie lang die Lebensdauer ihrer Produkte ist. Sie könnten auch eine kurze angeben; dann wüssten die Verbraucherinnen und Verbraucher beim Kauf zumindest, woran sie sind, und der Wettbewerb um langlebige Produkte würde angeregt. Nur so wird die Entwicklung und Herstellung von nachhaltigen Produkten befördert. Weg von der Wegwerfgesellschaft und hin zu reparaturfähigen und leistungsstarken Geräten, das ist der richtige Ansatz, meine Damen und Herren. ({3}) Noch ein Wort zur Updatepflicht: Gut, dass sie kommt. Damit sie funktioniert, sollte sie aber nicht nur gegenüber den Verkäufern gelten, sondern auch gegenüber den Herstellern; denn die haben das notwendige Know-how, um Softwareupdates zu entwickeln und auch bereitzustellen. Mein Fazit: Sie lassen wieder eine Chance für mehr Nachhaltigkeit verstreichen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen! Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Karl Lauterbach und Alexander Hoffmann geben ihre Reden zu Protokoll. Ich schließe die Aussprache.

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne weniger. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer mit einem Begriff beschreiben möchte, um was es in digitalpolitischen Debatten heutzutage im Grunde geht, der wird am Terminus der digitalen Souveränität nicht vorbeikommen, ({0}) und es ist dieser Begriff, der auch das Ansinnen des vorliegenden Gesetzes sehr gut fasst. Doch die Geschichte des Souveränitätsbegriffes ist so ambivalent wie die Entwicklung der digitalen Gesellschaft. Dass wir heute mit digitaler Souveränität etwas Positives verbinden, ist eng verknüpft mit der Entwicklung eines aufgeklärten Europas. Der Erfinder der Souveränitätsthese, Jean Bodin, hätte mit unserer heutigen Staatsform wahrlich seine Probleme; denn er rechtfertigte mit diesem Begriff im 16. Jahrhundert den Absolutismus. Da ein Fürst Ebenbild Gottes sei, müsse er ebenso souverän sein wie dieser und somit ohne jede Machteinschränkung regieren. Diese Regel galt lange auch für die Herrscher der heutigen digitalen Welt; denn die Entscheidung über die Erhebung und die Nutzung der Daten, die beim Surfen durchs Netz von Bürgerinnen und Bürgern hinterlassen werden, betreffen bis heute einige wenige Konzerne. Mitbestimmung? Fehlanzeige! Doch die Dinge sind im Wandel, genauso wie einst der Souveränitätsbegriff. Jean-Jacques Rousseau haben wir es zu verdanken, dass sich der Begriff im 18. Jahrhundert von der Fürsten- zur Volkssouveränität wandelte. Heute leitet sich aus diesem Verständnis auch der rechtswissenschaftliche Souveränitätsbegriff ab. Dieser stellt die Selbstbestimmungsfähigkeit eines Rechtssubjekts in den Mittelpunkt, also die Fähigkeit, Entscheidungen eigenständig und unabhängig zu treffen. Es ist dieses Verständnis von Souveränität, das den Bundesgerichtshof zu einem folgenreichen Urteil bewogen hat: Einwilligungen zu Cookies müssen beim Besuch einer Website aktiv gegeben werden. Der Richterspruch war für die Stellung des Datenschutzes und von Bürgerrechten sicherlich ein Erfolg, für die Akzeptanz der Umsetzung von Maßnahmen zum Datenschutz jedoch nicht; denn die Millionen von Cookie-Einwilligungen, die tagtäglich auf deutschen Bildschirmen aufploppen, haben nichts mit digitaler Selbstbestimmung zu tun, sondern mit digitaler Sisyphusarbeit. Davon müssen wir die Bürger befreien. ({1}) Digitale Souveränität muss deshalb anders gehen. Die Grundlagen dafür wollen wir in diesem Gesetz umsetzen, und dies gleich dreifach: durch klar geregelte Datenschutzrechte, durch Schaffung eines Rechtsrahmens zur tatsächlichen Wahrnehmung dieser Rechte im digitalen Zeitalter und durch mehr Wettbewerb. Die Klarheit dieses Gesetzes ergibt sich daraus, dass der Datenschutz bisher im Telekommunikations- und Telemediensektor auf zwei Gesetze verteilt war. Nun gießen wir die Vorschriften in ein eigenes Gesetz. Das hilft nicht nur Juristen, den gesetzgeberischen Willen klar zu erkennen, sondern auch den Bürgern, die Regeln nachzuvollziehen. ({2}) Doch als Unionsfraktion möchten wir mehr, als nur aus zwei Gesetzen ein neues zu machen. Wir möchten nicht nur datenschutzrechtliche Klarheit – wir wollen Selbstbestimmung durch Innovation. Und bei der Innovationskraft hat dieses Gesetz noch ein Stück Nachholbedarf. Denn in Deutschland und in Europa stehen zahlreiche Unternehmen und Initiativen bereit, den Datenschutz von einem Bürokratiemonster zu einem Instrument echter digitaler Souveränität zu machen. Wenn Datenschutzeinstellungen zentral bei einem Treuhänder vorgenommen werden können, braucht niemand mehr genervt irgendwelchen Cookie-Richtlinien zuzustimmen; dann kann jeder Bürger selbstbestimmt und in Ruhe eine Entscheidung treffen. Als Politik muss es unsere Aufgabe sein, diese Entwicklungen per Gesetz zu unterstützen, ohne sie jedoch überzuregulieren. Wir wollen eine entwicklungsoffene Lösung; das schließt die Anbieterseite ein. Ob gemeinnützige Organisationen, der Staat oder Unternehmen: Welchem Angebot der Bürger am meisten vertraut, muss er selbst bestimmen. Wir müssen ihn lediglich dazu in die Lage versetzen. Der dritte und letzte Punkt, der für digitale Souveränität wichtig ist, ist ein funktionierender Wettbewerb. Denn nur wenn der Bürger wirklich eine Wahl zwischen verschiedenen Produkten treffen kann, ist die Ausübung von Souveränität möglich. Deshalb darf es keine Machtübertragung von monopolartigen Anbietern von Internetbrowsern in andere Geschäftsmodelle geben, wie zum Beispiel das der Werbung. Wir müssen deshalb sicherstellen, dass die Anbieter von Browsern kein vom Nutzer entkoppeltes Datenschutzregime etablieren. Entscheiden soll allein der Nutzer, wer seine Daten bekommt. Klare Regeln, ein neuer Rechtsrahmen für einen innovativen Datenschutz und einen starken Wettbewerb – das ist der Fahrplan der Union für den Datenschutz der Zukunft und für die nun vor uns liegenden Beratungen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Nach Hansjörg Durz kommt jetzt – – ({0}) – Herr Hansjörg Müller gibt seine Rede zu Protokoll; ({1}) Dann kommt jetzt der Kollege Dr. Joe Weingarten für die SPD-Fraktion. ({2})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der effektive Datenschutz in der Telekommunikation ist eine wesentliche Grundlage für die informationelle Selbstbestimmung im Netz. Die digitale Souveränität der Bürgerinnen und Bürger ist das erklärte Ziel der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion und der Bundesregierung. Die Sicherheit von Kommunikationsdaten ist aber auch ein entscheidender Standortfaktor für unsere Wirtschaft, nicht nur für Anbieter, sondern eben auch für Nutzer. Nutzungsdaten sind ein zunehmend entscheidender Faktor; deswegen ist der Schutz solcher Daten zugleich auch erfolgreiche Standortpolitik. Das gilt grundsätzlich für die Datennutzung; die zunächst oft geschmähte DSGVO, die heute weltweit als Vorbild gilt, belegt das. Gleichzeitig müssen wir aber auch darauf achten, klare Regelungen zu formulieren; denn dann steht der Datenschutz der Innovation nicht im Weg. Das ist gerade für kleine und mittelständische Betriebe, für Handwerk und Dienstleistungen ein ganz wichtiger Punkt. Deswegen müssen wir bei der Gestaltung der datenschutzrechtlichen Regelungen in einem einheitlichen Gesetz diese Zielgruppe mitdenken. Im Mittelstand hat man gerne einfache und klare Lösungen. Bisher ist der Datenschutz bei Telekommunikation und Telemedien in verschiedenen Gesetzen geregelt. Mit dem vorliegenden Gesetz schaffen wir eine einheitliche Regelung, die die bisherige Unübersichtlichkeit ablöst, um klare Grenzen und Pflichten aufzuzeigen. Damit wird der Datenschutz transparenter und effizienter. Für kleine und mittelständische Unternehmen sind Datenschutzregeln eine Chance, aber auch eine Herausforderung und manchmal eine Bedrohung. Dort, wo große Compliance- und Datenschutzabteilungen fehlen, darf der Gesetzgeber die Unternehmen nicht überfordern. Gerade KMU sind besonders betroffen; denn sie stehen im stetigen Wettbewerb mit großen internationalen Konzernen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich besteht bei diesem Gesetz noch Redebedarf. Wir werden uns in der Ausschussdiskussion genau mit den Stellungnahmen aus Wirtschaft und Gesellschaft befassen. Themen wie die Ausgestaltung der Cookie-Nutzung oder Regelungen für Werbung und Kundenansprache müssen weiter geschärft werden. Schäden durch zu weit gefasste oder unklare Formulierungen gilt es zu vermeiden. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Diskussion aktiv mitgestalten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Joe Weingarten. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Reinhard Houben. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Der Kollege Müller hat anscheinend seinen Termin verschlafen. ({0}) – Herr Baumann, das haben Sie ganz geschickt gemacht, die Rede jetzt zu Protokoll zu geben. Das ist nicht sehr glaubwürdig, vor allen Dingen, weil Ihr Kollege immer ein besonderer Lautsprecher ist, was die Leistungsfähigkeit der AfD-Fraktion angeht. ({1}) Zur Sache, meine Damen und Herren. Es ist ein Vorgang, der einen schon sehr misstrauisch machen muss: Wenn ein Tagesordnungspunkt aus der Primetime, Donnerstagmittag, auf einmal auf mitten in der Nacht verschoben wird, dann muss man sich als Oppositionspolitiker doch die Frage stellen: Was soll das denn? ({2}) – Nun beruhigen Sie sich doch, Herr Mohrs! – Die Strategie ist doch erkennbar – es ist genauso wie beim TKMoG –: Sie nutzen ein eigentlich technisches Gesetz dazu, bestimmte datenschutzrechtliche Probleme zu lösen, und trauen sich nicht einmal, mit der entsprechenden Forderung in den Innenausschuss zu gehen, sondern geben das uns in den Wirtschaftsausschuss. ({3}) Ich setze mich ja gerne mit dem Thema auseinander; aber es ist doch schon ein bisschen merkwürdig, dass zum Beispiel der Kollege von Notz jetzt hier antritt, der nun wirklich im Wirtschaftsausschuss bisher noch nicht aufgetreten ist. ({4}) Das nehme ich ihm auch gar nicht übel. ({5}) – Ihre Fraktion muss Sie schon einladen, Herr von Notz. Also, worum geht es? Es ist einiges in diesem Gesetz gemacht worden, um eine Rechtsangleichung in Richtung DSGVO, TKG und TMG herzustellen. Das ist im Grunde sinnvoll. Wir sehen das Gesetz trotzdem kritisch, weil Sie wieder bestimmte Dinge einbringen wollen, die wir schon in eigenen Anträgen kritisiert haben. So haben wir hier im Januar dieses Jahres einen Gesetzentwurf der Regierungskoalition zum Thema Bestandsdatenauskunft kritisiert. Dieser sah die Herausgabe von Passwörtern vor. Sie wollen jetzt mit diesem Gesetz wieder versuchen, die Herausgabe von Passwörtern zu regeln. Und Sie wollen es – wie gesagt – über diesen technischen Umweg an der Debatte im Innenausschuss vorbeibringen. Das ist nicht korrekt. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie sind an dieser Stelle erwischt worden. Es wundert mich auch ein bisschen, dass dann so wortreich darumherum geredet wird. Sie könnten ja zumindest die Offenheit haben, zu sagen: Wir gehen diesen Weg über den Wirtschaftsausschuss. – Aber seien Sie sicher: Die Opposition, zumindest vertreten durch FDP, lässt es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie Grundrechte mit dieser Trickserei irgendwie aushebeln wollen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke ist die nächste Rednerin die Kollegin Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz zur Regelung des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre in der Telekommunikation und bei Telemedien ist in der Tat seit Jahren überfällig; es soll Rechtsunsicherheit bei Verbraucherinnen und Verbrauchern und Anbietern beenden und EU-Recht in nationales Recht umsetzen. Leider bleibt dieser Gesetzentwurf dennoch hinter unseren Erwartungen zurück. Verbraucherschutz findet man dort einfach zu wenig; denn der Gesetzentwurf vertritt primär offensichtlich die Interessen von Unternehmen und die Überwachungswünsche Herrn Seehofers. Das lehnt die Linksfraktion ab. ({0}) So nutzt die Bundesregierung dieses Datenschutzgesetz für eine Ausweitung der Bestandsdatenauskunft, obwohl Karlsruhe schon zwei frühere Versionen in Teilen für verfassungswidrig erklärte. Das erste Urteil erging 2012 nach acht Jahren Verfahrensdauer, das zweite Urteil 2020 nach sieben Jahren Verfahrensdauer. Bei dieser zweiten Klage vor dem Bundesverfassungsgericht war ich eine von 6 000 Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern. Auch wenn ich weiß, dass auch dieses Gesetz durch das Bundesverfassungsgericht vermutlich kassiert werden wird, macht es mich, ehrlich gesagt, richtig rasend, dass das der Bundesregierung scheißegal ist und sie weiter solche Gesetze verabschiedet – weil sie dann wieder sieben oder acht Jahre diese Gesetze anwenden kann, bevor sie kassiert werden. ({1}) So sollen nicht nur Telemediendienste Bestandsdaten herausgeben, sondern auch, wer daran mitwirkt oder den Zugang zur Nutzung vermittelt. Welchen Kreis von Adressaten man damit eigentlich meint, bleibt der Interpretation überlassen. Das können im Grunde auch Krankenhäuser und Cafés sein, die Zugang zu Telemediendiensten vermitteln. So etwas lässt das Bundesverfassungsgericht nicht durchgehen. ({2}) Das Gesetz sollte eher „Telemedienüberwachungsgesetz“ heißen statt „Gesetz zur Regelung des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre“. Die Erwartungen erfüllt der Gesetzentwurf aber auch bei der Neuregelung der Cookies nicht. Die Bundesregierung hätte Internetsurfer endlich davon erlösen können, ständig Cookie-Warnungen wegklicken zu müssen. ({3}) Dies wäre möglich gewesen, ohne dass Nutzer/-innen auf den Schutz ihrer Privatsphäre verzichten müssen, wenn die Bundesregierung ermöglicht hätte, Entscheidungen pro oder kontra Tracking pauschal zu treffen, zum Beispiel mittels Do-not-track-Funktion im Browser oder in einer App. ({4}) Dann könnte nämlich ein elektronisches Helferlein meine Einstellungswünsche in den Cookie-Pop-ups unsichtbar im Hintergrund eintragen, ohne dass ich das jedes Mal selber machen muss. So hat das die europäische E-Privacy-Richtlinie im Übrigen auch vorgesehen. ({5}) Aber im Gesetzentwurf findet sich dergleichen nicht, obwohl es in früheren Entwürfen mal drinstand. Da hatten Verbraucher/-innen wohl mal wieder die schlechtere Lobby als Unternehmen, die von Onlinewerbung leben. Einem solchen Gesetzentwurf kann die Linksfraktion nicht zustimmen. ({6}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen auch 2021 nichts im Strafrecht verloren haben; § 219a gehört abgeschafft! Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner der heutigen Debatte ist der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Grüne. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! TKG, Telekommunikationsgesetz, und TMG, Telemediengesetz, sind für die elektronische Kommunikation von zentraler Bedeutung. Die GroKo hat es über tausend Tage – über tausend Tage! – verpasst, diese beiden Gesetze an die europäische Datenschutz-Grundverordnung anzupassen. Das führt täglich zu erheblicher Rechtsunsicherheit bei Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrauchern. Das Ergebnis Ihrer bewussten Nichtregulierung ist eine wahre Flut von Cookie-Bannern – wir haben es hier gehört –, die alle nervt, und zwar massiv. Dieses Verzögern und Verweigern von Gesetzgebung steht längst exemplarisch für die krassen Versäumnisse der GroKo bei der Regulierung im Digitalen, meine Damen und Herren. ({0}) Vor Wochen haben Sie das Telekommunikationsmodernisierungsgesetz vorgelegt, ein Gesetz, dem erneut schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken begegnen. Sämtliche datenschutzrechtlichen Regelungen haben Sie in ein gänzlich neues Gesetz, das TTDSG, überführt. Eindringlich wurden Sie gewarnt, von allen Fachleuten, dass es durch das erheblich zeitversetzte Inkrafttreten zu massiven Problemen kommen kann. Das haben Sie ignoriert. So ist die Privatheit der elektronischen Kommunikation derzeit insgesamt und einmal mehr gefährdet. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat die Große Koalition nicht geliefert. Eine E-Privacy-Verordnung ist in weiter Ferne. Umso wichtiger wären gute nationale Regelungen. Doch Sie chaotisieren weiter. Das verfassungswidrige Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das der Bundespräsident völlig zu Recht nicht ausgefertigt hat, Ihr Reparaturgesetz für die Bestandsdatenauskunft, das TKModG, das IT-SiG 2.0: Sie verdealen alles mit allem, ({1}) geben den Gesetzen beknackte Namen ({2}) und haben selbst den Überblick völlig verloren, meine Damen und Herren. So geht es nicht, so geht es nicht! Während die Kollegen Jarzombek und Schipanski in Besinnungsaufsätzen die ungeheure Bedeutung – der Kollege von der FDP hat es angesprochen – dieses Gesetzes öffentlich betonen, schieben Sie die Debatte auf diese Uhrzeit, nachdem Sie versucht haben, es ohne Debatte abzuhandeln. Das ist höchst widersprüchlich und offenbart, dass Sie versuchen, etwas einfach durchs Parlament zu schieben. Auch das geht so überhaupt nicht! ({3}) Richtig bleibt: Wir brauchen zielführende Lösungen gegen die derzeitige Cookie-Flut und Regelungen für den digitalen Nachlass, und zwar dringend. Vorschläge liegen seit Jahren vor. Seit Jahren gibt es Initiativen wie „Do Not Track“. Passiert ist nichts. So kann man als Gesetzgeber nicht agieren! Auch im TTDSG finden sich Regelungen zu den Bestandsdaten. Allein deswegen ist nach der Befassung im Vermittlungsausschuss, die in den letzten Wochen stattgefunden hat, eine grundlegende Überarbeitung nötig. Sie chaotisieren weiter, Sie verschlimmbessern die sowieso schon schwierige Lage. Es ist ein Trauerspiel, meine Damen und Herren. Gute Nacht! ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank für die aufgeweckte Debatte zu dieser Stunde. – Ich schließe die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 13.