Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/24/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe heute die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder sowie die Vorsitzenden der Fraktionen des Deutschen Bundestages und anschließend auch die Öffentlichkeit davon unterrichtet, dass ich heute Vormittag entschieden habe, die notwendigen Verordnungen für die zusätzliche sogenannte Osterruhe, also die Ruhetage am Gründonnerstag und Karsamstag, nicht auf den Weg zu bringen, sondern sie zu stoppen. Ich möchte diese Entscheidung auch hier zu Beginn dieser Regierungsbefragung noch einmal erläutern. Zunächst: Die Idee eines Oster-Shutdowns war mit bester Absicht entworfen worden. Wir müssen es unbedingt schaffen, die dritte Welle der Pandemie, in der wir uns gerade befinden, zu bremsen und umzukehren. Dennoch – daran kann es keinen Zweifel geben – war die Idee der sogenannten Osterruhe ein Fehler. Sie hatte ihre guten Gründe, war aber jedenfalls in der Kürze der Zeit nicht gut genug umsetzbar, wenn sie überhaupt jemals so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem halbwegs vernünftigen Verhältnis stehen. Viel zu viele Fragen von der Lohnfortzahlung durch die ausgefallenen Arbeitsstunden bis zu der Lage in den Geschäften und Betrieben können – das haben die letzten 24 Stunden gezeigt – jedenfalls in der Kürze der Zeit nicht so gelöst werden, wie es nötig wäre. Um auch ein Zweites klipp und klar zu sagen: Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler; denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung – das ist qua Amt so –, ({0}) also auch für die am Montag getroffene Entscheidung zur sogenannten Osterruhe. Ein Fehler muss als Fehler benannt werden, vor allem muss er korrigiert werden, und wenn möglich, hat das noch rechtzeitig zu geschehen. ({1}) Gleichwohl weiß ich natürlich, dass dieser gesamte Vorgang zusätzliche Verunsicherung ausgelöst hat. Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich auch von dieser Stelle noch einmal die Bürgerinnen und Bürger und auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Verzeihung. ({2}) Diese zusätzliche Verunsicherung bedauere ich umso mehr, als wir uns – dabei bleibt es leider – mitten in der in dieser Schärfe insbesondere durch die Mutationen ausgelösten dritten Welle der Pandemie befinden. Ich möchte deshalb einmal mehr all denen danken, die mit ihrem Verhalten dazu beitragen, die dritte Welle mit der tödlicheren und ansteckenderen Mutation des Coronavirus zu bremsen und zu stoppen. Dazu bietet der Beschluss mit den Ministerpräsidenten vom Montag auch ohne die sogenannte Osterruhe einen Rahmen mit der Notbremse, mit der Möglichkeit von regional zu entscheidenden Ausgangsbegrenzungen und Kontaktbeschränkungen, mit dem Ausbau des Testens und natürlich auch mit der sich immer weiter verstärkenden Impfkampagne. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Wir werden das Virus gemeinsam besiegen. Der Weg ist hart und steinig. Er ist von Erfolgen, aber auch von Fehlern und Rückschlägen gekennzeichnet. Aber das Virus wird seinen Schrecken verlieren. Bis dahin müssen wir mit allen Maßnahmen weiter alles daransetzen, dass unser Gesundheitssystem der immensen Belastung standhält und zugleich die so überaus großen Folgen für Wirtschaft, Bildung, Kultur und für unser ganzes Zusammenleben aufgefangen werden. Dabei danke ich allen, die mir persönlich genauso wie der Bundesregierung insgesamt auch heute wieder ihre Unterstützung angeboten haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und stehe jetzt für Ihre Fragen zur Verfügung. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die erste Frage stellt der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Laut Bericht der „Bild“ vom 2. März gibt RKI-Chef Wieler an, Personen mit Migrationshintergrund, genauer: Moslems, machten auf den Coronaintensivstationen „über 50 Prozent“ aus. Er meint: „Das ist ein echtes Problem“, „aber es ist ein Tabu“. Er sieht da „eine Gruppe …, die die Politik mit Corona-Warnungen überhaupt nicht erreicht“. Er spricht dann von Moscheen und sagt weiter: „Da sind Parallelgesellschaften mitten in unserem Land. … Und da kommen wir nicht rein. … Diese Gruppe besteht aus vier Millionen Menschen …“ Das erinnert an die Superspreader-Events arabisch-türkischer Großhochzeiten und Beerdigungen, Hotspots bei Fastenbrechen, bei Türkeireiserückkehrern. Warum wird diese Gruppe der Regelverweigerer nicht gezielt adressiert, warum nicht mit Maßnahmen gegengesteuert? Ist die Erzählung vom Multikulti-Erfolgsmodell wichtiger als die Bekämpfung des Virus? Ist die Bürger wegzusperren, Geschäfte und Betriebe zu ruinieren, okay, aber gewisse Verursacher einmal in den Blick zu nehmen, die den Staat nicht respektieren, für diese Regierung nicht opportun? Wollen Sie hier nicht eingreifen, vielleicht jetzt am Gründonnerstag? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundeskanzlerin.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich möchte mich als Erstes – ich glaube, im Namen von vielen hier – dagegen verwahren, ganze Gruppen von Menschen in Millionenzahl in einer Art und Weise zu verdächtigen, weil das vollkommen inakzeptabel ist. ({0}) Zweitens gehen wir natürlich allen Fragen, wo und wie besondere Infektionsgeschehen nachzuvollziehen sind, nach. Die Bundesregierung informiert deshalb auch in deutscher Sprache und genauso in vielen anderen Sprachen. Ich selber habe schon einem ausländischen oder besser türkischsprachigen Medium – es ist ein deutsches Medium – Interviews gegeben. Aber ein Generalverdacht hilft uns hier überhaupt nicht weiter. Die von Ihnen zitierten Zahlen, auf die Herr Wieler angeblich Bezug genommen hat, sind vermischt zwischen Zitaten von Herrn Wieler und scheinbaren Fakten, die so überhaupt nicht benannt wurden. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Curio?

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Sie glauben also Ihren eigenen wissenschaftlichen Beratern nicht mehr. Frage zur Osterruhe: Wenn jetzt die Fragen der Lieferketten, der dringenden Krankenhaustermine, der Unternehmenskosten überhaupt nicht mehr bedacht werden, wenn Sie sich mit Ihrem Kopf-durch-die-Wand in Ihrer eigenen Politik der Lockdown-Verschärfung kopflos verheddern, weil Sie es nicht anders kennen, obwohl es nicht greift, ist es dann nicht vielleicht nicht mehr nur eine Frage von Verantwortung oder Verzeihung, sondern müssten Sie nicht nach Artikel 68 die Vertrauensfrage stellen? Oder wagen Sie das nicht mehr angesichts dieses Koalitionspartners?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich habe meinen Worten von eben nichts hinzuzufügen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, angesichts der gerade von Ihnen noch einmal bestätigten Rücknahme der Ruhetagsregelung zu Ostern frage ich mich zusätzlich natürlich schon, welche alternativen Maßnahmen Sie sehen. Wir alle wissen, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern derzeit sehr viel abverlangen, und zwar nicht nur in Form freiwilliger Selbstverpflichtung, sondern eben auch in Form von Grundrechtseinschränkungen. Gleichzeitig wissen wir um die Bedeutung der Testung als Brücke zu einer möglichst schnellen, endgültigen Impferfolgsstrategie. Aber insgesamt müssen wir doch feststellen, dass wir die Kontakte nicht zuletzt auch am Arbeitsplatz versuchen müssen unter Kontrolle zu halten. Meine konkrete Frage an Sie lautet daher: Würden Sie es teilen, dass anstelle weiterer Einschränkungen der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger womöglich so etwas wie Ausgangsbeschränkungen viel dringender es geboten wäre und es längst überfällig wäre, dass wir Arbeitgeber zweimal wöchentlich zu einer Testung verpflichten, anstatt auf Freiwilligkeit zu setzen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass es quasi fast einen Paradigmenwechsel bei den uns zur Verfügung stehenden Tests gegeben hat. Wir haben neben den PCR-Tests schon eine ganze Weile die Antigenschnelltests. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich: Trotz aller Pilotversuche, trotz aller Möglichkeiten, dass sie auch von nicht medizinisch geschulten, sondern nur kurz geschulten Menschen durchgeführt werden können, haben sie sich letztlich nicht durchgesetzt. Ich will das nicht bewerten. Aber durch die Selbsttests haben wir jetzt eine neue Situation. Für diese Selbsttests werden jede Woche noch weitere Präparate zugelassen, sodass man in endlicher Zeit darüber sprechen kann, dass sie ausreichend zur Verfügung stehen. Wir müssen die Selbsttests jetzt erst einmal prioritär für die Kitas und Schulen verwenden. Leider ist es auch hier heute noch nicht so, dass dort eine flächendeckende Testung zweimal die Woche stattfindet. Wir haben zweitens mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern verabredet, dass sie uns bis Anfang April eine Statistik über die Beteiligung an den Tests in den Betrieben vorlegen. Die ist absolut notwendig. Die Bundesregierung hat gesagt: Wenn das Monitoring der Arbeitgeber, aber auch unser eigenes Monitoring zeigt, dass es nicht ausreicht, werden wir Anfang April entscheiden, ob wir regulatorische Maßnahmen im Sinne der Arbeitsschutzverordnung noch durchführen müssen. – Es wird also zeitnah erfolgen. Ich halte die Tests in den Betrieben für außerordentlich wichtig. Die Bestätigung über diese Tests kann dann auch verwendet werden, um bestimmte Zugangsmöglichkeiten im sonstigen Leben zu bekommen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das Dritte sind die Testzentren, wo jedem Bürger und jeder Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland jede Woche mindestens ein Test zur Verfügung steht. Ich will noch einmal auf die Möglichkeit hinweisen, auch wenn ich meine Zeit überzogen habe, dass das, was man zum Beispiel jetzt in Tübingen macht, überall in Deutschland gemacht werden könnte – dem steht nichts entgegen –, wir aber ausdrücklich vereinbart haben, bestimmte einzelne Testgebiete in den Bundesländern auszuweisen, um das zu erproben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Bitte.

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir reden hier aber nicht davon, dass es um das freiwillige und selbstgewählte Einkaufen oder Zum-Friseur-Gehen geht, sondern tatsächlich um eine Verpflichtung, die arbeitsvertragliche Grundlagen hat. Deswegen stellt sich schon die Frage, inwiefern wir hier nicht auch am Arbeitsplatz mehr Vorsorge leisten müssen. Es gibt dort Betriebsärzte, die das gut begleiten können. Es geht also nicht nur um Selbsttests, sondern tatsächlich auch um die Durchführung von entsprechenden Schnelltests. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie hier aber durchaus erwägen und zusagen, dass Sie bei einer entsprechenden nicht ausreichenden wöchentlichen Testung am Arbeitsplatz ab April einer anderen Regelung in der Arbeitsschutzverordnung zustimmen würden? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich will jetzt den Tag im April hier noch nicht abschließend benennen, aber in der ersten Hälfte des Aprils wird diese Entscheidung getroffen, und wir sind bereit, auch regulatorische Maßnahmen durchzuführen, wenn die Beteiligung nicht ausreicht, ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Marco Buschmann, FDP.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns hier gerade erläutert, dass Sie einen Ihrer Fehler von gestern als solchen erkannt haben, dass Sie ihn korrigieren und dass Sie dafür um Verzeihung bitten. Das findet, glaube ich, breiten Respekt. Aber entscheidend ist jetzt, welche Konsequenzen daraus gezogen werden, indem man sich beispielsweise von einem Entscheidungsmechanismus trennt, der systematisch auf die Produktion von Fehlern angelegt ist. Daher frage ich Sie: Wann hören Sie endlich auf, zu versuchen, hinter verschlossenen Türen im ganz kleinen Kreise mitten in der Nacht übernächtigt, ohne Rücksprache mit Praktikern oder mit Menschen mit Sachverstand, mit den Ministerien über das Leben von Millionen von Menschen zu entscheiden? Wann legen Sie die Entscheidung zurück in die Hände der Parlamente? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, wenn es solche geschlossenen Runden wären, wie Sie sie beschreiben, dann wäre das vielleicht manchmal auch gar nicht so schlecht. Aber das ist leider nicht der Fall. ({0}) Aber jetzt zum Ernst der Frage. ({1}) – Ja, ich sehe den Kern schon. – Ich habe eben in meinen einführenden Worten extra auch gesagt, dass ich alle die einbeziehen möchte, die mich unterstützen möchten, und dazu zähle ich auch den Deutschen Bundestag, jedenfalls in seiner großen Breite. In welcher Form das besser gelingen kann, darüber muss weiter nachgedacht werden. Die Runden mit den Ministerpräsidenten sind trotzdem notwendig, weil vieles auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes, das in diesem Parlament ja verabschiedet wurde, dann auch durch Verordnungen umgesetzt werden muss. Aber das eine schließt das andere nicht aus.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Herr Buschmann.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Ich möchte trotzdem noch einmal nachfragen. Wir haben es zum Teil mit Mikromanagement zu tun. Hier ging es um Feiertagsregelungen, hier ging es um Fragen, für die es hier im Parlament Qualitätssicherungsmechanismen gibt. Die sind auch nicht neu, die muss man auch nicht erwägen. Deshalb frage ich noch einmal: Wann wollen Sie damit aufhören, solche Fragen des technischen Mikromanagements übernächtigt mitten in der Nacht im kleinen Kreise zu entscheiden, und sie dorthin geben, wo sie hingehören? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Na ja, also, ich würde schon sagen, dass, so wie hier im Parlament Sachverstand ist, auch in der Bundesregierung Sachverstand ist, ({0}) bei den Ministerpräsidenten Sachverstand ist. Das zeichnet unsere föderale Ordnung, glaube ich, aus. Auch Sie regieren ja in einigen Ländern mit und wissen das. Die Frage, wie man bestimmte Entscheidungen in einer so außergewöhnlichen Situation wie in einer Pandemie trifft, muss immer wieder neu betrachtet werden. ({1}) Ich glaube, es gibt schon sehr viele sehr, sehr gute und gemeinsam mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten getragene Entscheidungen. Und über die Verbesserung der Arbeitsweise – das haben wir heute in der Runde auch gesagt – werden wir auch noch einmal miteinander reden. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt die Kollegin Bettina Wiesmann, CDU/CSU. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, das Instrument der Eigentests ist auch nach meiner Auffassung ein Gamechanger für die weitere Pandemiebekämpfung. Voraussetzung dafür sind eine ausreichende Zahl von Eigentests am Markt und zielgerichtete, sichere Prozesse in der Anwendung. Ich bin auch wie Sie der Auffassung, dass Schulen und Kitas der bestmögliche Anwendungsbereich hierfür sind, weil die Organisation einfach und die Kosten überschaubar sind, und dass man auf diesem Weg einem großen Teil der Gesellschaft – 25 Millionen Menschen leben in Familien mit minderjährigen Kindern – sehr schnell Normalität zurückgeben könnte. Meine Frage: Was unternimmt die Bundesregierung, um Klarheit zu schaffen oder sicherzustellen, dass genügend Eigentests verfügbar sind und diesem Bereich auch fokussiert zur Verfügung gestellt werden? Was unternimmt die Bundesregierung, um die zuständigen Länder dafür zu gewinnen, und wie sind die Reaktionen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Es ist sicherlich nicht die vorrangige Aufgabe der Bundesregierung, jetzt im Blick auf die Schulen zu handeln. Nichtsdestotrotz haben wir wegen der Marktmacht, die man auch entfalten kann, wenn Länder gemeinsam mit der Bundesregierung Bestellvorgänge auslösen, Folgendes vereinbart – das funktioniert auch gut –: Die Taskforce Testlogistik des Gesundheitsministeriums und des Verkehrsministeriums, das ja für Logistik Verantwortung trägt, hat sozusagen eine Plattform organisiert. Über diese Plattform werden Bestellungen abgewickelt. Die Länder haben Verantwortliche benannt, die für die Beschaffung der Tests verantwortlich sind. Es ist so, dass die Bundesländer vor wenigen Tagen erklärt haben, dass sie für die Monate März und April über diese Plattform genügend Tests, Selbsttests bestellt haben und für den augenblicklichen Moment im Blick auf Schule und Kita keinen weiteren Bedarf sehen; zum Teil haben die Bundesländer das auch alleine bestellt. Das ist die Situation. Deshalb besteht trotzdem diese Taskforce weiter; sie kann jederzeit aktiviert werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Wiesmann?

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. – Eine Zusatzfrage. Bisher ist die Rede von zwei Tests pro Woche als Zielmarke, die für die testgesicherte Öffnung von Schulen angestrebt wird. Nach meiner Auffassung würde eine tägliche Testung hohe Prozesssicherheit und auch maximal möglichen Schutz schaffen und damit sowohl Vertrauen bei Schülern, Eltern und Lehrern als auch mehr Unbeschwertheit im Schulalltag ermöglichen. Befürwortet die Bundesregierung, befürworten Sie diesen klaren und kraftvollen Weg?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir haben uns bis jetzt darauf kapriziert – das wird auch von den Ländern so gesehen –, dass eine zweimalige Testung aus unserer Sicht ein hohes Maß an Sicherheit bringen würde. Sicherlich würde eine dreimalige Testung ein noch etwas höheres Maß bringen; Herr Nagel als Modellierer hat uns das noch einmal gezeigt. Die Tests sind etwa einen Tag valide; insofern müsste man, wie Sie sagen, jeden Tag neu testen. Man muss dann aber auch Aufwand und Nutzen abwägen. Experten sagen uns, dass zweimaliges Testen eigentlich schon ein hohes Maß an Sicherheit brächte. Es wäre nur gut, wenn das schon überall durchgeführt würde; das will ich ausdrücklich sagen. Da sind wir noch nicht. Und warum zweimal? Man sagt, wenn ich das richtig verstehe, dass eine Generationszeit dieses Virus immer fünf Tage beträgt. Das heißt, wenn man alle drei, vier Tage testet, dann hat man jedenfalls schon einen großen Erfolgsfaktor.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Fraktionsvorsitzende von der Linken, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier und davor auch der Öffentlichkeit gegenüber Ihren Fehler eingestanden, haben Verantwortung übernommen, haben sich entschuldigt. Das verdient zweifelsfrei Respekt. Ich wäre im Übrigen dankbar, wenn auch Mitglieder Ihres Kabinetts ähnlich handeln würden. ({0}) Da höre ich immer: Es ist im Großen und Ganzen gut gegangen. – Ich denke da zum Beispiel auch an Herrn Scheuer. ({1}) Aber ehrlich gesagt: Angesichts der dramatischen Situation – – ({2}) Also, was die Union, Ihre Fraktion, betrifft: Da würde ich Ihnen dringend raten – ich ändere jetzt meine Frage –, dass Sie sich von ihr und von der SPD die Gewissheit geben lassen, dass Sie das Vertrauen hier im Parlament noch haben; denn das, was da gerade abläuft, ist wirklich inakzeptabel. Wir haben die Situation, dass viele Menschen nicht mehr können, und dann gibt es derartig qualitätslose Zwischenrufe. Versichern Sie sich bitte der Unterstützung dieser Fraktionen, weil ansonsten die Unterstützung in der Bevölkerung nicht mehr gegeben ist. ({3})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das war jetzt keine Frage, sondern eine Aufforderung.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Frage ist: Sind Sie sich sicher, dass Sie die Unterstützung –

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– Ihrer Fraktion und auch der sozialdemokratischen Fraktion haben, –

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und wollen Sie wirklich diejenigen – – Ich habe selten für eine Frage so viel Applaus gekriegt; das finde ich gut. Ich weiß auch gar nicht: Klatscht eigentlich Herr Nüßlein mit, oder wie ist das? Klatscht der mit? Klatschen die anderen auch mit, die hier gerade bei Ihnen verhaltensauffällig geworden sind? Aber ich stelle ja der Bundeskanzlerin die Frage.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich wollte gerade sagen: Ich kann mich auch setzen und einen Augenblick warten.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, nein, nein. Das können wir an anderer Stelle machen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das war die Nachfrage des Kollegen Dr. Bartsch. Sie dürfen darauf antworten, Sie müssen nicht.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde diese Frage trotzdem gerne stellen wollen. Ich habe auf Ihr Kabinett verwiesen, weil ich da höre: Es ist im Großen und Ganzen gut gegangen. – Ich habe von Herrn Scheuer nie ein Eingeständnis gehört, dass Millionen bei der Maut und bei Ähnlichem versenkt worden sind. Finden Sie, dass Ihr Verhalten für die Mitglieder Ihres Kabinetts da maßgeblich sein sollte, oder finden Sie das nicht?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich habe jetzt heute erst einmal mein Verhalten hier dargestellt, und ich glaube, dass ansonsten die Kabinettsmitglieder nach bestem Wissen und Gewissen ihre Arbeit machen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank für Ihre Erläuterungen. Vielen Dank, dass Sie deutlich gemacht haben, dass Sie einen Fehler eingestehen. Ich habe davor sehr hohen Respekt. Das ist auch im Dienst einer Demokratie; ich sage das ohne Aber und auch ohne Klamauk. Gleichwohl sind wir in einer sehr schwierigen Situation. Die dritte Welle rollt, und wir brauchen einen Wellenbrecher. Sie haben ja deutlich gemacht, dass aktuell einiges von dem gilt, was in der Ministerpräsidentinnenkonferenz beschlossen worden ist. Ich frage Sie dennoch: Sind Sie nicht der Auffassung, dass sich dieses Format als das Entscheidungsformat überlebt hat, dass wir hier im Deutschen Bundestag mit Rede und Gegenrede, mit Transparenz, mit Argumenten deutlich machen müssen: „Womit können wir diese Welle tatsächlich brechen?“? Es ist hoch gefährlich. Ich frage sehr konkret: Wo geht es darum, dass weitere Büros zugemacht werden, dass die Betriebe runtergefahren werden, wo noch nicht getestet werden kann, was offensichtlich der Fall ist? Was ist mit den körpernahen Dienstleistungen? Wie sorgen wir dafür, dass die Tests tatsächlich an den Schulen ankommen? Wie sorgen wir zum Beispiel dafür, dass der ÖPNV sein Angebot ausweitet, damit es dort nicht mehr eng wird? Mir würde noch viel mehr einfallen: Wie sorgen wir dafür, dass wir einen Stufenplan haben, damit wir nicht Ad-hoc-Entscheidungen haben, sondern planvolles Verhalten? Ich fände es sehr gut, wenn Sie einen Vorschlag machen könnten, den wir hier im Parlament debattieren könnten. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erstens will ich mitteilen, dass ich den Titel der Regierungserklärung erweitert habe, auch auf Bitten der FDP: Morgen sprechen wir nicht nur über den Europäischen Rat, sondern auch über die Beschlüsse der MPK. ({0}) Zweitens haben wir beim letzten Mal mit der MPK einen Stufenplan vereinbart. Der ist eine sehr, sehr gute Grundlage aus meiner Sicht ({1}) und hat uns ja auch in die Lage versetzt, die Notbremse zu aktivieren, weil sie leider in vielen Bundesländern notwendig ist. Ich bin sehr froh, dass das von den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten akzeptiert wurde und dass wir darüber hinaus noch Anregungen für weitere regionale Maßnahmen machen können, um abzuschätzen, wie wir in Zukunft überhaupt regionaler vorgehen müssen. Ich bin bereit, vieles zu verantworten. Die Verteilung von Selbsttests an Schulen gehört wirklich nicht zu der Aufgabe, die eine Bundesregierung leisten kann. ({2}) Wir haben 40 000 Schulen in Deutschland. Wir haben Landesregierungen. Wir haben kommunale Selbstverwaltungsorgane. Wir können vieles machen, aber in einer Demokratie hat jede Ebene ihre Verantwortung. Wir sind bei der Beschaffung der Selbsttests mitunterstützend tätig. ({3}) Aber alles kann die Bundesregierung nicht machen. Das sage ich ganz ausdrücklich. ({4}) Frau Göring-Eckardt, mit Erlaubnis des Bundestagspräsidenten könnte ich noch zu dem ÖPNV etwas sagen. Da haben wir den Ländern Geld zur Verfügung gestellt, ({5}) und zwar ziemlich viel Geld – ich habe die genaue Milliardenzahl jetzt nicht im Kopf, aber Frau Hagedorn nickt; wir können sie gerne nachreichen –, um genau das Angebot im öffentlichen Personennahverkehr und im Schülerverkehr auszuweiten. Ich habe vielfach – um nicht zu sagen: gefühlt hundertfach – gesagt, dass da etwas geschehen muss. Manche machen es, woanders ist noch Nachbesserungsbedarf. Auch darüber muss gesprochen werden, zumal die britische Mutante – das ist der Unterschied zu früher – bei Kindern und Jugendlichen erwiesenermaßen gefährlicher ist und wir den Schutz der Schulen weit mehr in den Vordergrund stellen müssen als bei dem ursprünglichen Virus. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Göring-Eckardt? ({0}) – Das Mikro wird von hier geschaltet; deswegen müssen Sie warten, bis es rot leuchtet. Sie darf aber auch nicht kritisiert werden, wenn es noch nicht geschaltet ist.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Da habe ich ja Glück.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, Ihres ist gut. Das müssen Sie nicht auch noch machen, Frau Bundeskanzlerin. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist also der Moment der Stille. Den haben wir jetzt erlebt. – Frau Bundeskanzlerin, ich will da noch einmal sehr konkret nachfragen. Wir brauchen jetzt eine Notbremse, weil jetzt die dritte Welle rollt und jetzt die Gefahr besteht, dass unsere Intensivstationen überquellen werden. Deswegen die Frage: Wann werden Sie vorlegen – offensichtlich ja der MPK und nicht uns –, was die Alternativen für das sind, was jetzt nicht geschieht mit den fünf Tagen Ruhe? Welche Möglichkeiten gibt es zusätzlich? Zusatz zu dieser Frage – Stichwort „Tests und Schulen“ –: Das Problem ist ja, dass sie offensichtlich nicht da sind. Zuständigkeiten hin oder her und auch Verteilung hin oder her; aber zunächst mal müssen sie bereitgestellt sein, müssen sie auch da sein. ({0}) Ich erlebe jedenfalls, dass an sehr, sehr vielen Schulen gerade für kleine Kinder diese Tests nicht zur Verfügung stehen, geschweige denn, dass sie richtig verteilt werden. Deswegen habe ich die Frage gestellt. Es gibt ja die Taskforce. Sind genügend Tests da, die tatsächlich ankommen? Ich höre von Eltern, von Lehrerinnen und Lehrern, dass sie nicht da sind. ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erstens. Ich muss noch einmal sagen, dass die Bundesländer erklärt haben, dass ihr Bedarf für die Bestellung von Selbsttests gedeckt ist. Ob die jetzt in jedem Falle schon geliefert wurden, kann ich nicht nachprüfen; da gibt es zum Teil auch Lieferzeiten. Zweitens. Wir reden seit Monaten über das Testen an Schulen. Wir haben einen Modellversuch in Hessen gehabt, wie auch mit den Antigenschnelltests getestet werden kann. Bis vor Kurzem waren die Antigenschnelltests das Einzige und auch Beste, was uns zur Verfügung stand. Sie werden in Testzentren angewandt. Man kann in den Schulen zum Teil um Hilfestellung bitten. Auch in den Betrieben wird man nicht alles sofort mit den Selbsttests machen, weil sie noch nicht in ausreichender Menge für alle drei Säulen des Testens zur Verfügung stehen. ({0}) Deshalb wird bei den Bürgertests auch weiterhin der Antigenschnelltest verwendet. Aus diesem Grunde sage ich: Ich kann mich doch nur auf die Antwort der Länder verlassen. Wir bestellen jederzeit nach, wenn die Länder der Meinung sind, dass sie mehr von den Selbsttests brauchen. ({1}) Es gab noch die Frage: Was kann gemacht werden, um die dritte Welle zu brechen? Erst einmal eine ganz konsequente Umsetzung der Notbremse. Das heißt: Zurück zu den Kontaktbeschränkungen, die wir bis zum 7. März hatten. Das muss dann auch umgesetzt sein. Zweitens haben wir extra in Punkt 3 des MPK-Beschlusses andere Wege aufgezeigt, die je nach politischer Überzeugung eingesetzt werden können, die aber gleichermaßen auch gut sind. Das sind weitere Kontaktbeschränkungen oder auch Ausgangsbegrenzungen. Ich will an der Stelle einmal darauf hinweisen, dass solche Ausgangsbeschränkungen in ganz vielen Ländern Europas gang und gäbe sind: Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Irland, Portugal. ({2}) – Man muss es nicht nachmachen, aber man muss irgendwas machen. Das ist vollkommen klar. Das ist die Antwort auf Frau Göring-Eckardt. Ich möchte das nicht bundesweit vorschreiben, weil wir hier ganz unterschiedliche politische Überzeugungen haben. ({3}) Wenn sich das als nicht ausreichend erweist, dann muss man auch über Gesetzgebungsprozesse – darauf läuft ja Ihre Frage hinaus – nachdenken.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt stellt die nächste Frage der Kollege Albrecht Glaser, AfD.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank. – Verehrte Frau Bundeskanzlerin, der Artikel 311 AEUV – einer der beiden europäischen Verträge – besagt in seinem Absatz 2 – ich zitiere –: Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert. Für den Wiederaufbaufonds der EU sollen bis 2024 über 800 Milliarden Euro als Darlehen – Darlehen der EU – aufgenommen werden. Also verstoßen die Kommission, der Rat, die Bundesregierung und dieser Bundestag gegen das Primärrecht der EU, wenn sie morgen den vorgelegten EU-Eigenmittelbeschluss unterstützen. Können Sie dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit erklären, wie dieses Vorgehen mit Ihrem Amtsverständnis zu vereinbaren ist?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, gerne. Es ist ja, wie Sie genau sagen, ein Eigenmittelbeschluss. Das ist das, worauf Sie auch mit Artikel 311 AEUV hingewiesen haben. Dieser Eigenmittelbeschluss wird einstimmig und jeweils durch die nationalen Parlamente verabschiedet. Alle Mitgliedstaaten müssen das gleichermaßen tun. Damit passiert genau das, was ganz wichtig ist, nämlich dass die Hoheit für bestimmte Kompetenzen – dazu gehört das Haushaltsrecht – in den nationalen Parlamenten verankert ist. Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages, so wie er morgen geplant ist, ist dann genau das, was notwendig ist, auch eingehalten. ({0}) Nicht umsonst heißt das, was wir morgen beschließen, „Eigenmittelbeschluss“.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bitte darum, eine Nachfrage stellen zu dürfen. – Verehrte Frau Bundeskanzlerin, leider können wir eine juristische Diskussion nicht führen. Aber der Eigenmittelbeschluss kann keine Rechtsgrundlage sein für die Darlehensaufnahme der EU. Das sagen 25 000 Professoren. ({0}) Ich stelle meine zweite Frage. „Der Wiederaufbaufonds führt zu schuldenfinanzierten Transfers zwischen den Mitgliedstaaten.“ Das schreibt der Bundesrechnungshof in diesen Tagen. Im Jahr 2012 haben Sie erklärt, eine gesamtschuldnerische Haftung in der EU wird es nicht geben, „solange ich lebe“ – Zitat Ende. In Artikel 9 Absatz 5 des EU-Eigenmittelbeschlusses ist genau eine solche Haftung Deutschlands für die Schulden anderer EU-Staaten vorgesehen. ({1}) Sie beträgt mindestens 80 Milliarden Euro, im ungünstigsten Fall beträgt sie 800 Milliarden Euro. Wie können Sie dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit Ihren Sinneswandel erklären und diese Zumutung für das hochverschuldete Land Deutschland? ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Glaser, generell erteilt der Bundestagspräsident das Wort, auch zu Nachfragen. Also, wenn Sie immer warten, bis ich Ihnen das Wort für die Nachfrage gebe. – Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Nachfrage gehört.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja. – Wir reden hier über Elemente des EU-Haushaltes und über einen Vorgang, der zum Schluss nicht durch das Europäische Parlament befunden werden muss, sondern durch die nationalen Parlamente. Es ist eine Ermächtigung durch Beschlüsse des nationalen Parlamentes für die Europäische Union, und damit gewinnt es den Charakter eines Haushaltes. Und EU-Haushalte beinhalten immer das Element der unterschiedlichen Verteilung zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union; deshalb nennt man uns ja Nettozahler, und andere sind Nettoempfänger. Es gibt nie einen Haushalt, in dem das Mitgliedsland das, was es einzahlt, eins zu eins wieder rausbekommt; gerade darin besteht der Sinn des Haushaltes. Wir wollen Kohäsionselemente, also Elemente des Zusammenwachsens innerhalb der Europäischen Union; denn wir sind davon überzeugt, dass eine bessere wirtschaftliche Kohäsion und Kohärenz auch Vorteile für Mitgliedstaaten bringt, die heute wirtschaftlich stärker sind, weil sie uns zum Beispiel durch den Binnenmarkt ganz andere Chancen einräumt, als wenn wir ganz alleine wären. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Dennis Rohde, SPD.

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Sie hatten ja heute nicht nur eine MPK, sondern Sie haben im Kabinett auch Eckwerte, Finanzplanung und einen Nachtragshaushalt auf den Weg gebracht. In einer Pressemitteilung der Unionsfraktion von Montag heißt es zum Nachtragshaushalt: Es stellt sich aber die Frage, ob bei den Ausgaben des Bundes noch Maß und Mitte gelten. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie die Auffassung der Fraktion teilen, ob Sie die Ausgaben, die Sie auf den Weg gebracht haben, für angemessen erachten. Falls Sie die Kritik teilen, würde ich gerne wissen, wo Sie gerne weniger verausgabt hätten. Die Schwerpunkte sind ja Wirtschaftshilfen und der Gesundheitsbereich. Da immer suggeriert wird, es seien – Zitat – die Schulden des Finanzministers, lautet meine damit verbundene Frage: Tragen Sie den Nachtragshaushalt auch mit den Schulden, die dadrin verankert sind, mit?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich mache es auch gerne zu den gemeinsamen Schulden der Bundeskanzlerin und des Bundesfinanzministers. ({0}) Es sind im Wesentlichen Schulden, die wir dem deutschen Steuerzahler zumuten; das muss unser Verständnis sein. Also, weder die Steuereinnahmen noch die ‑ausgaben sind unser Eigentum; vielmehr handeln wir nach bestem Wissen und Gewissen. Die Pressemitteilung, soweit ich Sie verstanden haben, Herr Rohde, enthält eine Frage. Und so wie wir es von selbstbewussten Haushaltspolitikern kennen, ist es nicht die einzige Frage, die der Bundesregierung gestellt wird; insofern wird auch diese beantwortet werden. Ich als diejenige, die heute mit zugestimmt hat, glaube, dass Maß und Mitte gewahrt sind.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Rohde?

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Da Sie sich ja auch zu den Eckwerten bekannt haben: In den Eckwerten der Finanzplanung ist ein politischer Handlungsrahmen für die nächsten Jahre vorgesehen; eine Finanzlücke von 20 Milliarden Euro muss noch geschlossen werden. Darüber hinaus beginnt ab 2026 die volle Tilgungsleistung von 19 Milliarden Euro im Jahr. Halten Sie es in Anbetracht dieser Herausforderungen, vor denen wir stehen, für realistisch umsetzbar, den Soli in Gänze abzuschaffen, eine Unternehmensteuerreform auf den Weg zu bringen und den Wehretat drastisch zu erhöhen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das sind ja nur drei Elemente; ich könnte noch fünf andere nennen, die auch noch zu erfüllen sind. Ich glaube, dass wir im Augenblick in einer Zeit leben, in der wir sehr schwer überblicken können, welche Wachstumsmöglichkeiten wir haben und wie sich die Steuereinnahmen in den nächsten Jahren entwickeln werden. Insofern ist die mittelfristige Finanzplanung jetzt natürlich mit noch mehr Unsicherheiten behaftet, als sie es normalerweise ist. Ich finde es erst mal sehr beruhigend, dass wir eine Rücklage von, ich glaube, 48 Milliarden Euro haben, auf die wir in den nächsten Jahren noch zurückgreifen können. Wir haben uns ja entschlossen – zwar nicht leichten Herzens, aber ich glaube, das wird von uns gemeinsam geteilt –, dass wir die Aussetzung der Schuldenbremse entsprechend Artikel 115 Grundgesetz noch einmal in Anspruch nehmen; das finde ich auch in der Sache gerechtfertigt. Wir können die Rücklage in den darauffolgenden Jahren einsetzen. Dann wird man sehen, wie die wirtschaftliche Entwicklung verläuft: hoffentlich gut. Wenn ich mir die Schnelligkeit unserer Entscheidungen, auch unserer Investitionsgenehmigungen usw., anschaue, dann bin ich mir sicher, dass wir in den nächsten Jahren noch viel Arbeit haben, hier auch ein bisschen mehr Geschwindigkeit in das ganze staatliche Handeln zu bringen. Das zeigt uns die Pandemie auch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Oliver Luksic, FDP.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, eben wurde ja nach Ihrer Taskforce für Schnelltests gefragt, und da Sie sich mit Zahlen ja offensichtlich gut auskennen, möchte ich da noch mal nachhaken. Der Verkehrsminister ist Teil der Taskforce; er hat bei der Maut Hunderte Millionen Euro an Steuergeldern versenkt. Die Maskenbeschaffung war doch wohl offensichtlich alles andere als effektiv und kosteneffizient, von Provisionen mal ganz zu schweigen. Das hat jeder Discounter in Deutschland besser hingekriegt als die Bundesregierung. Ausgerechnet diese beiden Minister kümmern sich jetzt um die Schnelltests; eine Teststrategie liegt ja offensichtlich gar nicht vor. Wenn es im Fußball eine heftige Niederlagenserie gibt, würde man, bevor man an einen Trainerwechsel denkt, mal überlegen, welche anderen Spieler man einwechseln kann. Deswegen ist meine Frage an Sie: Was muss noch passieren, wie hoch muss der Schaden sein, bevor Sie Ihre Aufstellung im Kabinett ändern?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erstens. Schauen Sie, es sind die Minister und die Ministerien in dieser Taskforce, die dafür zuständig sind: Das sind diejenigen, die mit Logistik zu tun haben, und der Gesundheitsminister. Zweitens: zur Maskenbeschaffung. Es sind Dinge passiert, die zu verurteilen sind, und das hat die Unionsfraktion – ich bin ja auch Mitglied dieser Fraktion – nun auch ausgiebig und, wie ich finde, in sehr beachtlicher Art und Weise getan. Und die übergroße Mehrzahl dieser Fraktion hat sich auch dazu bekannt, dass, wenn wir uns für die Beschaffung von Masken unterstützend eingesetzt haben, wir das in unserer Eigenschaft als Abgeordnete getan haben. Jetzt will ich Sie daran erinnern – in einer Notsituation ist das immer so; dann kann es gar nicht schnell genug gehen –: Ich kann mich an keinen Discounter in Deutschland erinnern, der irgendeinem Krankenhaus irgendeine Maske geliefert hat. ({0}) Ich kann mich nur an ganz sehnsüchtige Rufe erinnern: Wo kommen morgen, übermorgen, überübermorgen und überüberübermorgen die Masken her? Das war die Situation damals. Wir haben daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen: Wir haben inzwischen eine eigene deutsche Fertigung für Masken; andere europäische Länder haben das auch gemacht. Wir haben uns unabhängiger gemacht, wir haben uns hier besser aufgestellt, und damals haben viele dazu beigetragen, dass Masken zu bekommen waren. Dass es in so einer Knappheitssituation Marktverzerrungen gab, sollte Sie nicht verwundern. Aber es ist, zumindest aus meiner Sicht, fraglich, ob der Wahrheit in vollem Umfang Genüge getan wird, wenn man mit dem Blick von heute ohne jedes Hineinversetzen in die Zeit von damals Dinge beurteilt. ({1}) Ich bin froh, dass wir heute bezüglich der Masken eine andere Situation haben. Man wird auch an anderen Stellen der gesamten Pandemie fragen, ob es immer der effizienteste Weg war; daraus wird man später noch Lehren ziehen müssen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Luksic, Nachfrage?

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, vielen Dank. – Also, ich entnehme Ihrer Äußerung, dass Sie alles als richtig empfunden haben, dass alles gut gelaufen ist und dass dann wahrscheinlich auch im Gesundheitsministerium alles wunderbar mit rechten Dingen zugegangen ist. ({0}) Meine Frage ist: Was muss denn eigentlich passieren? Ich war gerade in einem Schuhgeschäft. Der Unternehmer muss das Geschäft schließen, weil die Hilfen bis heute nicht angekommen sind. Das liegt ja nicht am Geld. Das liegt an der Bürokratie. Das Geld ist ja da. Deswegen ist meine Frage an Sie: Was muss passieren, dass Sie da eingreifen? Ihr Minister Altmaier hat gesagt, es solle kein Job verloren gehen wegen Corona. Jetzt haben wir hunderttausend Unternehmer, Selbstständige, Arbeitnehmer, die um ihren Job bangen, und es liegt an der Bürokratie. Was muss passieren, dass Sie da eingreifen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich beschäftige mich jeden Tag – damit das auch ganz klar ist – mit dem, was die Minister tun, auch was die Überbrückungshilfen und Ähnliches anbelangt. Dass da vieles länger dauert, als wir uns das alle wünschen, ist klar. Dass jeden Tag auch aus den Kreisen des Parlaments Nachbesserungswünsche kommen, ist auch klar und richtig, weil somit mehr Sachverstand einfließt, wodurch zum Ausdruck kommt, was vielleicht noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Insofern hat manches länger gedauert, was ich auch bedauere, aber was wiederum mehr Möglichkeiten geschaffen hat. Ich denke etwa daran, dass die Lagerbestände in Textilgeschäften und Ähnliches mit abgerechnet werden können. Deshalb weiß ich, was wir den Unternehmerinnen und Unternehmern oder auch den Geschäftsleuten und den Kulturschaffenden und vielen anderen zumuten in dieser Pandemie. Aber unser Gegner ist das Virus; das dürfen wir nicht vergessen. ({0}) Das hat keiner von uns hier angeschafft. Wir können unsere Prozesse immer optimieren. Ich weiß, wie viele Beamte auf Hochtouren in dieser Pandemie arbeiten, und ich weiß, wie viele Minister auf Hochtouren arbeiten. Dort, wo etwas nicht optimal läuft, muss es verbessert werden. Dazu hat man auch die Opposition, die darauf hinweist. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Marian Wendt, CDU/CSU, stellt die nächste Frage. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, zunächst muss ich Ihnen meinen tiefen Respekt und meine Anerkennung aussprechen. ({0}) Denn ich glaube, in diesem Land ist etwas verloren gegangen, nämlich das, was sich Fehlerkultur nennt. Sie tragen die Verantwortung für einen Fehler – das haben Sie gesagt –, der gemacht wurde. Ich glaube aber – das hat auch Michael Kretschmer vor wenigen Minuten gesagt –, dass auch die gesamte Ministerpräsidentenrunde die Verantwortung für diesen Fehler trägt. Deswegen will ich sagen: Sie tragen die Verantwortung für diesen Fehler nicht allein. Jetzt gilt es aber, nach vorne zu schauen. Dieser Fehler ist korrigiert; es ist erledigt. Jetzt gilt es vor allen Dingen, Analyse zu betreiben, wie wir besser werden können. Viele Menschen in unserem Land sind seit zwölf Monaten konsequent, konkret, die ganze Zeit im Kampf gegen dieses Virus, das unser eigentlicher Gegner ist. Da denke ich an das DRK, das THW, die Malteser, die Bundeswehr und an alle, die im Einsatz sind, etwa beim Impfen und beim Testen, was den ganzen Tag läuft; das muss man auch einfach mal sagen. Und deswegen ist meine Frage ganz konkret, welche Vorstellung Sie darüber haben, wie im Rahmen von Lessons learned, wie eine mögliche Bewertung, Neubewertung und Neuaufstellung des Bevölkerungsschutzes und Zivilschutzes in diesem Land aussehen könnten angesichts der Erfahrungen, die wir in den letzten zwölf Monaten gemacht haben. Dass nicht alles gut ist, ist klar. Aber ich glaube, es ist wichtig, jetzt auch daraus zu lernen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erst einmal danke, dass Sie diejenigen erwähnt haben, die jeden Tag – wirklich Tag und Nacht; so kann man es sagen – neben den Medizinern und den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern im Einsatz sind, und dass Sie darauf hingewiesen haben, welche ehrenamtlichen Organisationen wir hier auch haben, die uns mit ihrer Hilfe in dieser Pandemie zur Seite stehen. Das verdient es, außerordentlich gewürdigt zu werden. Bei den vielen Dingen, die wir zu kritisieren haben, geht das manchmal unter. Zweitens. Der Bundesinnenminister hat heute im Kabinett vorgetragen über die Reform des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz. Ich glaube, dieses Bundesamt ist wichtig, und es ist richtig, dass es da ist; aber es hat ein Schattendasein geführt und seine Potenziale sozusagen nicht gelebt und gezeigt. Mit der Reform haben wir jetzt, glaube ich, ein sehr viel besseres Instrumentarium. Das wird auf vielen Ebenen, angefangen bei den Sirenenalarmen und Apps, die zu installieren sind, bis hin zu präventiven Fähigkeiten auch für mögliche zukünftige Pandemien, wichtig sein. Ein Schlüsselpunkt ist für mich allerdings das, was wir im Zusammenhang mit der MPK immer wieder diskutieren: Es muss die Schnittstelle zwischen Länderverantwortung und Bundesverantwortung besser in den Blick genommen werden, und es muss an Strukturen angeknüpft werden, die wir zum Beispiel für die gemeinsame Terrorismusbekämpfung haben. Ständige, immer arbeitende, täglich zusammenkommende Taskforces oder Einheiten von Bund und Ländern, die sich mit diesen Fragen gemeinsam beschäftigen, damit auch eine gemeinsame Kultur des Durchlebens einer solchen Pandemie entsteht, das halte ich vielleicht für den wichtigsten Punkt in diesem Reformvorhaben für dieses Bundesamt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege Wendt?

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn Sie gestatten. – Das ist wahrscheinlich ein sehr wesentlicher Punkt. Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich im Bereich Zivilschutz und Bevölkerungsschutz, aber auch in der Reform der Sicherheitsbehörden auskennen, stoßen natürlich immer wieder auf die Frage der Bund-Länder-Zusammenarbeit. Diese Frage stellt sich dann ganz ohne Zweifel. Ich glaube, ehrlich gesagt, in den letzten Jahren sind viele Reformen gescheitert, weil es in den Ländern, unabhängig von der parteipolitischen Farbe, mitunter einen gewissen Widerstand gab gegen Reformanstrengungen oder Reformbewegungen aus dem Parlament hier. Glauben Sie, dass durch diese Coronapandemie vielleicht ein neuer Geist der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern entstehen könnte? Man kann ja die Ministerpräsidentenkonferenzen kritisieren; aber man kann vielleicht auch feststellen, dass es eine Plattform ist, wo Bund und Länder sich wirklich auf das Ziel einigen, gemeinsam einheitliche Regeln zu schaffen. Das ist ja ein guter Ansatz, und es ist besser, als 16 verschiedene Regeln in diesem Land zu haben. Das würde wahrscheinlich zu noch mehr Durcheinander und Chaos führen. Deswegen meine Frage: Wie, glauben Sie, wird sich dieser Geist künftig im Hinblick auf den Bevölkerungsschutz sowie gemeinsame Lagebilder und gemeinsame Lagezentren entwickeln?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich kann hier nur eine Hoffnung äußern. Diese Hoffnung ist, dass neben dem Stolz der Länder auf ihre Eigenständigkeit, der ja berechtigt ist und der uns auch stark macht, weil es so zu Vielfalt kommt, auch die Tatsache Berücksichtigung findet, dass wir heute in einer globalen Situation leben, in der mehr Krisen auftreten, als es vielleicht früher der Fall war, und dass fast keine dieser Krisen auf ein Bundesland oder eine Kommune lokalisiert werden kann, sondern sie meist sogar das Bundesgebiet übersteigen. Das merken wir ja auch an der Notwendigkeit, europäisch einheitlich zu handeln. Das muss mehr in den Blick genommen werden. Es sollten nicht mehr permanent Fragen der Zuständigkeit eine Rolle spielen, sondern Fragen der Best Practice: dass man sich darüber austauscht, dass man bereit ist, offen mit anderen zu verhandeln. Ich glaube, wir haben hier schon große Fortschritte gemacht, sei es beim Onlinezugangsgesetz, bei der gemeinsamen Terrorismusbekämpfung, der Islamismusbekämpfung usw. usf.; aber wir sind längst noch nicht am Ende. Wir müssen dem noch viel hinzufügen. Ansonsten wird unser Land nicht widerstandsfähig genug sein, um die auf uns zukommenden Krisen der Zukunft zu bewältigen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Fabio De Masi, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, in den vergangenen Wochen ist etwas sehr Wertvolles in diesem Land beschädigt worden: Vertrauen – einerseits durch das Impfstoffmanagement, andererseits durch das Maskenchaos, auch weil wir entgegen der Empfehlung nicht über nationale Pandemiereserven verfügten. Ich teile die Einschätzung des Kollegen Luksic, dass es nicht unbedingt das Vertrauen erhöht, wenn nun ausgerechnet Herr Spahn und Herr Scheuer für die Corona-Taskforce zuständig sind. Aber das nur am Rande. Auch angesichts der Debatten, die wir um Maskendeals geführt haben – ich will hier ausdrücklich klarstellen, dass ich nicht alle Abgeordneten der Union unter Generalverdacht stelle –, möchte ich Sie etwas fragen. Es gab in Leipzig am 20. Oktober 2020 ein Spendendinner, an dem Ihr Minister Herr Spahn teilgenommen hat. Er hat die dort versammelten Unternehmer aufgefordert, in Höhe von 9 999 Euro zu spenden, damit diese Spenden eben nicht direkt öffentlich nachvollziehbar werden. Ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht die Erwartung an Ihren Minister haben, dass er diese Namen offenlegt, damit wir wissen, wem er unter Umständen eine Gefälligkeit schuldet. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nach allem, was ich gelesen habe, hat sich alles, was bei diesem Essen passiert ist, im Rahmen der Regeln bewegt. ({0}) Zweitens kann ich Zitate, die ich in der Zeitung lese und nur vom Hörensagen kenne, nicht bestätigen. Wir haben geltende Spendenregeln. Wenn man der Meinung ist, dass das nicht richtig ist – dieser Meinung sind Sie ja schon lange –, dann muss versucht werden, eine parlamentarische Mehrheit dafür zu finden, dass es verändert wird; denn das Ganze beruht ja auf gesetzlicher Grundlage. Ich will an der Stelle allerdings noch eines hinzufügen, was manchmal in Vergessenheit gerät. Wenn ich es richtig verstehe, ist unser Gesetz über die Parteispenden darauf ausgelegt, dass sogar Steuergelder hinzugegeben werden, wenn Spenden eingesammelt werden. Das heißt: Es ist ausdrücklich erwünscht, dass Spenden in einer transparenten Art und Weise – dieses Gesetz ist von einer Mehrheit im Deutschen Bundestag bestätigt worden – eingesammelt werden. Ich glaube, die Parteien tun gut daran, den Bürgerinnen und Bürgern oder den Unternehmen, die bereit sind, zu spenden, dafür zu danken, weil sie sich überhaupt noch für die parlamentarische Demokratie einsetzen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Kollege De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, ich habe Sie ja nach Ihrer persönlichen Erwartung an Herrn Spahn gefragt. Ich freue mich natürlich, wenn Sie hier strengere Regeln unterstützen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass es dafür ein geltendes Gesetz gibt.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Deswegen kann ich da direkt anschließen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie dafür sind – Sie sind ja auch Bundestagsabgeordnete –, dass Bundestagsabgeordnete jeden Cent an Nebeneinkünften offenlegen müssen. Ich beispielsweise veröffentliche jedes Jahr meine Steuererklärung und lege jedes Treffen mit Lobbyisten offen. Sind Sie dafür, dass wir einen exekutiven Fußabdruck bekommen, damit wir wissen, wer an Gesetzen mitgewirkt hat? Wir sind natürlich den Bürgerinnen und Bürgern dankbar für Spenden. Aber wir dürfen es nicht zulassen, dass bestimmte Stimmen in diesem Land wertvoller werden als andere, weil sie sich politische Entscheidungen kaufen können. Deswegen möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie diese Verbesserungen für unsere Arbeit unterstützen und ob Sie auch unterstützen, dass es zukünftig ein Verbot von Lobbytätigkeiten für Abgeordnete gibt und dass die Abgeordnetendiät nicht das Trinkgeld obendrauf wird. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sie wissen, dass sich die CDU/CSU-Fraktion jetzt selber Regeln gegeben hat. Über diese wird auch mit anderen Fraktionen gesprochen. Diese Regeln, die mehr Transparenz hinsichtlich Fragen der Kollision von Berufstätigkeit und Tätigkeit im Abgeordnetenmandat adressieren, unterstütze ich ausdrücklich. Ich will deutlich sagen, dass ich auch angesichts der Verweildauer im Parlament ein hohes Interesse daran habe, dass Menschen, wenn sie im Parlament waren, wieder in ihre Berufe zurückkehren können. Das wirft Spannungen auf. Die müssen gelöst werden. Den Beirat bzw. Rat, der in der Union kreiert wurde, in dem Abgeordnete offen darüber berichten können, ob man im Landwirtschaftsausschuss sein kann, wenn man parallel noch einen Landwirtschaftsbetrieb führt – das ist nur ein Beispiel –, oder ob man in der Gesundheitspolitik arbeiten kann, wenn man als Physiotherapeut tätig ist, finde ich wichtig. Das gilt natürlich auch für andere Bereiche, also ob man im Umweltausschuss sein kann und zugleich in einem entsprechenden Bereich arbeitet, in dem man auch Entgelt bekommt; das prägt eben nicht nur Tätigkeiten von Unionsabgeordneten. Darüber muss man immer wieder sprechen. Ein vielfältiges Parlament hat aber auch seine Vorteile. Auch das muss man sagen. Wenn hier nur noch Menschen sitzen würden, die wissen, dass sie irgendwann auf sichere Arbeitsplätze zurückkehren können – diese sind zum Beispiel im öffentlichen Dienst sicherer als in anderen Bereichen –, dann glaube ich nicht, dass hier die Vielfalt unserer Gesellschaft widergespiegelt würde. Das muss immer wieder abgewogen werden. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, auch von meiner Seite Respekt für die Entscheidung, heute einen Fehler einzugestehen. Das kann nicht jeder, um das ganz klar zu sagen. Damit haben wir hinreichende Erfahrungen gemacht. Mich interessiert aber dennoch – und das gehört ja dazu –: Warum weigern Sie sich eigentlich bis heute, den Deutschen Bundestag in die Entscheidung zur Pandemiebekämpfung einzubeziehen? Und nicht etwa einzubeziehen, indem Sie eine Regierungserklärung halten, sondern einzubeziehen, indem Sie uns einen Stufenplan mit Kriterien vorlegen, der den Menschen Perspektive gibt, der auch klare Orientierung für Erwartung und Verhaltensweisen gibt, an dem man sich also orientieren kann, ob man jetzt Soloselbstständiger ist, Unternehmerin ist, oder ob man Mutter von Kindern ist, die in eine Kita gehen. Wir stellen einfach fest, dass Sie seit über einem Jahr Pandemiebekämpfung die Ministerpräsidentenkonferenz zu einer Institution gemacht haben – bei allem Respekt für Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen –, die einen entsprechenden Stellenwert in der Verfassung nicht hat. Bundestag, Landesparlamente und Bundesrat sind die Entscheidungsgremien. Deshalb meine Frage: Warum weigern Sie sich bis heute, hier im Parlament einen Stufenplan zu verabschieden? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erstens. Ich glaube, dass die Ministerpräsidentenkonferenz sozusagen ohne den Bundesrat nicht denkbar ist. Das ist zwar nicht der Bundesrat, aber sie ist ohne den Bundesrat nicht denkbar. Zweitens haben wir ein Spannungsfeld. Ich sehe sehr wohl, dass Sie auch gute Argumente haben, wenn Sie fordern: Machen wir doch jetzt einmal einen Stufenplan, und dann weiß jeder, was Sache ist. – Wir haben eine Gesetzgebungskompetenz. Die liegt hier im Deutschen Bundestag. Die ist in den letzten Monaten auch durch das Infektionsschutzgesetz verfeinert worden und hat in vielem mehr Klarheit und auch sozusagen Leitplanken gegeben für die Entscheidungen, die die Bundesländer überhaupt treffen können; denn diese werden sie jetzt immer innerhalb des Rahmens dieses sehr detaillierten Infektionsschutzgesetzes machen. Ich will nur die Inzidenzen 50 und 35 nennen sowie die zugefügten Faktoren „R-Faktor“, „Belegung der Krankenhausbetten“ und Ähnliches. Drittens. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ein solcher Stufenplan, jedenfalls aus der Sicht der Bundesländer, so einfach nicht akzeptiert wird, weil man sagt: Die Inzidenz kann ja ein lokaler Ausbruch sein, sie kann ein diffuses Geschehen sein, sie kann wieder etwas ganz anderes sein. ({0}) Das heißt, die Länder – und daher kommt das Spannungsverhältnis – haben durch das Infektionsschutzgesetz eine Vielzahl von Verordnungsermächtigungen. Von diesen Verordnungsermächtigungen wollen sie Gebrauch machen. Gleichzeitig sagen Sie: Sie wollen einen Stufenplan haben. Der hat aber sehr viel Inhalt genau auf der Ebene der Verordnungsermächtigung. Dieses Spannungsfeld aufzulösen, ist bisher vielleicht noch nicht ausreichend gelungen; darüber muss man sprechen. Aber so einfach ist das nicht. Der Rahmen ist das Infektionsschutzgesetz. Bei der einzelnen Entscheidung – wie mache ich das in meinem Landkreis, wie mache ich das landesweit? – gibt es ein Spannungsfeld. Wenn wir einen Stufenplan in einem Gesetz hätten, dann müsste das vom Bundesrat auch so akzeptiert werden. Da hätten wir ziemlich viel zu tun, das in der Pauschalität wirklich auch durchzubekommen. Aber ich sehe das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und dem, was wann passiert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundeskanzlerin.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, ich bin sofort fertig und werde versuchen, die Nachfrage kürzer zu beantworten. Ich sehe aber auch dieses Spannungsverhältnis – – Ich höre da jetzt auf; vielleicht kriege ich die Antwort noch bei der zweiten Frage unter.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Haßelmann, möchten Sie eine Nachfrage stellen? – Bitte sehr.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Daran kann ich ja noch einmal anknüpfen. – Frau Merkel, das ist doch genau das Problem. Warum trauen Sie diesem Parlament nicht zu, eine solche Entscheidung zu treffen? ({0}) Wir können klare Rollenverteilungen vornehmen. Niemand von uns hat gesagt, dass ich morgen früh von Ihnen angerufen werden möchte, um eine Verordnungsermächtigung mit auf den Weg zu bringen. Wir alle kennen das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz. Aber warum weigern Sie sich, den gesetzlichen Rahmen, die klare Orientierung für das, was möglich ist, woran wir uns orientieren, hier im Parlament zu treffen? Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund dafür, das jetzt ständig in einer sich ritualisierenden Ministerpräsidentenkonferenz zu tun. Sie bezahlen für diesen Fehler heute mit Ihrer Erklärung, und Sie haben vor drei Wochen auch schon eine Fehlentscheidung getroffen. Letztlich entscheidet doch: Gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern stehen wir alle hier in der Verantwortung für die Entscheidungen, die Sie in der Ministerpräsidenten- und ‑präsidentinnenkonferenz treffen. Deshalb meine Frage: Wann kommt das hier auf den Tisch? Wann kann der Bundestag endlich über die nächsten Maßnahmen in dieser dritten Welle zeitnah entscheiden? ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Dieses Datum kann und werde ich Ihnen jetzt nicht geben. Ich weiß, wie Sie im Feuer der Meinung stehen; das ist doch gar keine Frage. Aber nicht nur Sie. Die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen nehmen das für sich natürlich auch mit Recht in Anspruch – die Landtage im Übrigen auch –, dass sie Rede und Antwort stehen müssen. Wenn in § 28a des Infektionsschutzgesetzes steht, dass bei Inzidenzen über 50 umfassende Maßnahmen zu ergreifen sind, dann entscheiden die Länder, welche umfassenden Maßnahmen für ihre Kommune, für ihr Land genau die richtigen sind. Das ist nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages. Vielmehr wird das zwischen Schleswig-Holstein und Bayern jeweils anders gemacht. Dieses Spannungsverhältnis muss ich aushalten. Ich lege weder die umfassenden Maßnahmen der Länder, also was sie unter umfassend verstehen, fest, noch können Sie einfach sagen: Ich mache das einmal für die Länder mit. Es ist vielmehr ein komplizierter Aushandlungsprozess, bei dem wir aufpassen müssen, dass wir uns zum Schluss nicht so lange miteinander beschäftigen, ({0}) dass wir nicht von Woche zu Woche die richtigen Maßnahmen treffen. Alle vier Wochen müssen die Länder neue Maßnahmenpakete machen, weil der Bundestag das so vorgegeben hat. ({1}) Sie werden auch auf ihrem Spielraum beharren. Das macht die Sache etwas schwieriger, sodass ich Ihnen heute hier kein Datum nennen kann.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Sebastian Münzenmaier, AfD, stellt die nächste Frage.

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, laut Medienberichten war ja die MPK am Montag geprägt von Streit, von Auseinandersetzungen, von einer sehr langen Unterbrechung. Einer der Knackpunkte dieses Streites soll die Diskussion um den kontaktarmen Urlaub gewesen sein, also um die Frage, ob man die Vermietung von Ferienwohnungen ermöglicht, ob man den Bürgern einen Urlaub in der Ferienwohnung – möglichst kontaktarm – zugesteht. Laut Presseberichten – die Presse ist ja meistens etwas schneller und besser informiert als wir hier im Parlament – haben Sie sich vehement dagegen ausgesprochen, haben dagegen gekämpft. Deshalb meine Frage an Sie: Wieso lehnen Sie es denn so entschieden ab, dass eine Familie die Osterfeiertage statt bei sich zu Hause in der eigenen Wohnung in einer Ferienwohnung verbringen kann, wo ja die Außenkontakte ähnlich reduziert werden können wie zu Hause? Und vor allem: Wie begründen Sie diese Ablehnung mit irgendwelchen wissenschaftlichen Erkenntnissen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich persönlich glaube – es gab ja einige Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, die das befürwortet haben –, dass schon das Wort des kontaktarmen Urlaubs ein bisschen in die Irre führen könnte. Auf einem Zeltplatz oder auf einem Campingplatz oder in einer Ferienwohnung muss man sich auch die jeweiligen Situationen vorstellen. Sie alle kennen solche Situationen. Dass die Familien, sozusagen ohne Kontakt mit einer anderen Familie zu haben, einen ganzen Urlaub verbringen, das erschließt sich mir nicht auf den ersten Blick; das mag es im Einzelfall geben. Aber in der Regel gibt es wieder vollkommen neue Konstellationen von Kontakten. Menschen nämlich, die sich bisher nicht kannten, kommen sich dann sehr nah, und es gibt Mobilität zumindest innerhalb eines Bundeslandes; die meisten haben ja gesagt, sie wollen es auf das Bundesland beschränken. Ich sehe durchaus die Vorteile, die das haben kann, wenn man eine kleine Wohnung hat, wenn man keinen Zweitwohnsitz hat usw.; all diese Argumente sind ja ausgetauscht worden. Ich glaube trotzdem: In einer Situation, wo wir im exponentiellen Wachstum der Fälle sind, wäre es das falsche Signal gewesen. Das war meine Überzeugung. Das heißt nicht, dass ich mir das unter anderen Umständen, wenn wir zum Beispiel wieder langsam sinkende Inzidenzen hätten, nicht sehr, sehr gut vorstellen könnte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Münzenmaier?

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gerne, Herr Präsident. – Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. Ich habe noch eine Nachfrage dazu. Sie sprechen von einem falschen Signal. Das hat natürlich eine politische Wirkung. Aber ich habe ja explizit auch nach den wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen gefragt und möchte daran anknüpfen. Es ist ja so, dass das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, im Freien, also draußen, wesentlich geringer ist als in Innenräumen. Dazu gibt es Studien, zum Beispiel aus China. Da spricht man davon, dass die Infektionsrate im Außenbereich bei 0,01 Prozent liegt. Namhafte Virologen wie zum Beispiel Professor Kekulé sehen das ähnlich. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen: Wenn Sie diese Fakten berücksichtigen und nicht nur aus dem Bauch heraus entscheiden, sondern auf wissenschaftlichen Grundlagen basierend politische Entscheidungen treffen, wie können Sie dann rechtfertigen, dass in diesen Zeiten zum Beispiel die Außengastronomie oder ähnliche Dienstleistungen, die sich im Freien abspielen und wo wir quasi ein nahezu nicht existentes Infektionsrisiko haben, geschlossen bleiben müssen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Es geht einerseits um das, was in der jeweiligen Einheit vor sich geht. Ich glaube, wenn es Tests in der Außengastronomie gibt, wenn es dort auch Platzvergabe usw. gibt, man also reserviert, dann ist das in der Tat mit einem sehr geringen Risiko behaftet. Deshalb haben wir ja auch gesagt, dass dort, wo 14 Tage nach Öffnung des Click-and-Meet die Inzidenz konstant bleibt, die Außengastronomie geöffnet werden kann. Das ist ja ein Teil unseres Öffnungskonzepts und nicht eine Maßnahme, die irgendwie in die Ferne geschoben ist. Jetzt haben aber leider mindestens zehn Bundesländer Inzidenzen über 100. Bei wachsenden Inzidenzen und einem R-Wert über 1 sagt uns das Robert-Koch-Institut sowieso, dass man da mit solchen Öffnungen vorsichtig sein muss. Man muss immer die Gesamtheit der Bewegung im Auge haben. Es bleibt ja nicht dabei, dass man einfach an einem Tisch sitzt. Man muss dahin, man muss zurück. Danach passiert was, davor passiert was. Die Gesamtheit dieser Bewegung muss eingeschränkt werden, wenn wir im exponentiellen Wachstum über 100 sind. Das ist aber Teil unseres Öffnungskonzepts, und zwar nicht unter „ferner liefen“, sondern ziemlich bald nach Click-and-Meet. Und ich glaube, dass in Rheinland-Pfalz die Außengastronomie öffnet, in Schleswig-Holstein auch in einigen Kreisen – ich weiß es nicht genau –, jedenfalls in Kreisen, in denen die Inzidenz unter 50 liegt. Es ist also nicht so, dass es das in der Bundesrepublik im Augenblick nicht gibt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Damit beende ich die Regierungsbefragung, danke der Frau Bundeskanzlerin und übergebe das Präsidium an die Kollegin Pau.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter, lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie hält die ganze Welt in Atem, überall kämpfen Menschen ums Überleben. Aber wir erleben noch eine andere Pandemie: die Gewalt- und Autoritarismuspandemie, wenn Autokraten und Diktatoren im Windschatten von Covid die elementarsten Menschen- und Freiheitsrechte mit Füßen treten. Und genau das passiert in der Türkei: eine Welle von Repressionen, die Entrechtung des Rechts, der Angriff auf die letzten mickrigen Reste von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem von Erdogan zerrissenen Land. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention, vor zehn Jahren in Istanbul verabschiedet, ist im allerbittersten Wortsinn ein Schlag ins Gesicht der Frauen in der Türkei – einem Land, das mit an der blutigen Spitze der Femizide steht, und in dem, wie Amnesty International aufzeigt, im vergangenen Jahr 474 Frauen ermordet wurden; einem Land, in dem die Gewalt an und der Hass gegen Frauen brutaler Alltag sind. Recep Tayyip Erdogan sei gesagt: Gewalt gegen Frauen ist kein Kavaliersdelikt! ({0}) Gewalt gegen Frauen ist kein Männervorrecht! Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit! Sie geht uns alle an, und deswegen stehen wir an der Seite der vielen, vielen mutigen Frauen, die sich gegen diese patriarchale Gewaltdominanz und gegen das unterdrückerische Frauenbild der Islamisten in der AKP wehren. ({1}) Genauso geht uns das Verbotsverfahren gegen die kurdisch geprägte HDP, die drittgrößte Partei, etwas an; denn es ist der Versuch Erdogans, die Opposition zu spalten, die Mitglieder, aber auch Millionen von Wählerinnen und Wählern der HDP, zu kriminalisieren und damit seinem faschistischen Koalitionspartner, der MHP, entgegenzukommen. Wir stehen an der Seite der demokratischen Opposition, an der Seite von Künstlerinnen und Künstlern, Journalistinnen und Journalisten und der Zivilgesellschaft. Und wir vergessen sie nicht: Osman Kavala, Ahmed Altan, Selahattin Demirtas, Figen Yüksekdag, Eren Keskin, Ömer Gergerlioglu – stellvertretend für all die Frauen und Männer in türkischen Gefängnissen, die dort einsitzen wegen einer zur Strafverfolgungsbehörde des Präsidenten verkommenen Justiz. All das geht uns sehr wohl etwas an, ({2}) wie auch die Enteignung und die ideologische Einverleibung des Gezi-Parks, des wohl symbolträchtigsten Platzes der proeuropäischen, der demokratischen Türkei. Es geht uns etwas an; denn wir haben engste, jahrzehntelange Verbindungen in die und mit der Türkei durch unsere gemeinsame 60-jährige Migrationsgeschichte – Verbindungen mit dem NATO-Partner und dem EU-Beitrittskandidaten. Daraus erwächst Verantwortung: Verantwortung für verantwortungsvolle Politik, nicht aber dafür, das schmutzige Spiel Erdogans mitzuspielen, der von einem „Menschenrechtsplan“ redet und ein „Reset“ in der Beziehung zur EU ankündigt. Wie zynisch ist das denn? ({3}) Und wenn Heiko Maas beschönigend von Licht und Schatten spricht, dann frage ich mich: Wo, bitte schön, ist denn das Licht? Wenn die EU jetzt mit Ursula von der Leyen ihre Aufwartung bei Erdogan machen will, der im Mittelmeer, in Syrien, im Nordirak aggressive Außenpolitik betreibt, dann ist das ein Hohn und verrät und enttäuscht alle Erwartungen der Demokratinnen und Demokraten an uns. ({4}) Es ist mir unbegreiflich, worauf der Optimismus von EU und Bundesregierung fußten. Schließlich entbehrt der massive autokratische Umbau der Türkei jeden Hauchs eines gemeinsamen Wertefundaments. Wenn Menschenrechte und Demokratie für die Bundesregierung mehr als warme Worte sind, dann muss sie endlich eine Kehrtwende in der Türkeipolitik einleiten und die Hebel wirksamer Maßnahmen auch nutzen. ({5}) Dazu gehören deutlich spürbare Sanktionen im politischen wie im wirtschaftlichen Sinn; keine Modernisierung der Zollunion; keine Investitionen, die Erdogans umweltzerstörenden Größenwahnprojekten und seiner Rüstungsindustrie zugutekommen; das Ende des im Kern asylrechtswidrigen und menschenrechtsverachtenden Flüchtlingsdeals und natürlich keine weiteren Rüstungsexporte – ({6}) und das übrigens in Übereinstimmung mit unseren eigenen Rüstungsexportrichtlinien.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Vizepräsidentin.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns endlich da stehen, wo wir als Bundesrepublik stehen müssten: an der Seite aller Demokratinnen und Demokraten, an der Seite unserer Freunde und unserer Bündnispartner in der Türkei. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Roth. Frau Vizepräsidentin, ich darf auch Sie darauf hinweisen – um die Maske geht’s mir gar nicht –, dass die Redezeit in der Aktuellen Stunde exakt fünf Minuten beträgt. Und darauf werde ich künftig achten. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist keine Debatte nur um die Haltung einer einzelnen Regierung zu Menschenrechtsverletzungen in einem nicht unwichtigen Land. Heute reden wir über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Die EU befindet sich gerade, gemeinsam mit den USA und anderen, in einer globalen Auseinandersetzung mit der größten Diktatur der Erde, namentlich China. Diese Mosaiksteine – hier die Türkei, dort China, und auch Russland wäre hier zu nennen – gehören zum selben Bild. Die brutalen Menschenrechtsverletzungen, die offene Verachtung für freies Denken, ja für die Freiheit selbst, die das Regime Erdogan seit Jahren unter zynischer Missachtung aller internationalen Verträge praktiziert, sind nicht denkbar ohne den Hintergrund der als schwach empfundenen Demokratien, denen einfach nicht mehr zugetraut wird, dass sie sich tatsächlich wehrhaft zeigen, wenn es um die Verteidigung von Menschenrechten und Freiheit geht. Wie schon in der Ära der globalen Bedrohung der Freiheit durch die Sowjetunion, so werden auch heute autoritäre Führer wie der türkische Präsident Erdogan durch diese Spekulation auf einen schwachen Westen und durch die Hoffnung auf eine Stärkung der autoritären Welt, dieses Mal unter Führung Chinas, in ihrem Kampf gegen die Freiheit ermutigt. Die Türkei ist NATO-Partner. Die NATO ist nicht nur ein militärisches Bündnis, sondern sie ist ein Bündnis von Staaten, die sich zur Verteidigung gemeinsamer Werte zusammengefunden haben. Das türkische Regime verletzt diese Werte auf offener Weltbühne, und das seit Jahren. Die türkische Regierung erpresst Europa. Sie droht, mal offen und mal weniger offen, europäische NATO-Partner mit unkontrolliertem Zustrom von Migration und Flüchtlingen zu destabilisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Drohung will sie nicht nur weitere Milliarden von der EU. Sie will auch unser Schweigen angesichts einer immer schlimmer werdenden Verfolgung unschuldiger Bürgerinnen und Bürger der Türkei im Inneren. Partner reden miteinander, und hier müssen wir glasklar bleiben. Wer erpressen will, der will und der kann kein verlässlicher Partner mehr sein. ({0}) Diese Fragen sind von strategischer Natur. Auch wenn es in dieser Aktuellen Stunde keine fertigen Lösungen geben kann und auch wenn der Protest des Deutschen Bundestages gegen die brutale Unterdrückung der Menschenrechte in der Türkei nur ein Beispiel von vielen bleiben darf, um den Druck aufrechtzuerhalten: Insgesamt brauchen wir eine strategische Neuausrichtung unserer Außen- und Sicherheitspolitik, um die wachsende Bedrohung durch die globale autoritäre Herausforderung erfolgreich beantworten zu können. Dazu zählt zuallererst eine ehrliche Bestandsaufnahme. Wir müssen uns darüber klar werden, was wir für die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte bereit sind zu tun und manchmal auch zu opfern; denn vom Reden alleine ist noch nichts getan. Und dann, wenn man zur Tat schreitet, muss man das klug tun. Wir dürfen weder feige und opportunistisch sein, noch dürfen wir die internationale Lage durch falsche Schritte destabilisieren. Von einem allerdings müssen wir ausgehen: Nur dann, wenn die andere Seite spürt, dass wir notfalls dazu bereit sind, für unsere Überzeugungen, für die Menschenrechte auch einen gewissen Preis zu zahlen, werden wir ernst genug genommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, politische Waschlappen beeindrucken wirklich niemanden. Politische Waschlappen beeindrucken niemanden. ({1}) Noch haben wir es in der Hand, der globalen autoritären Herausforderung erfolgreich zu begegnen. Mehr noch haben es die Mutigen, die Tapferen, die ihre Freiheit und ihr Leben auch für unsere Werte riskieren, verdient, dass wir konkreter, besser werden in Wort und Tat. Klug ja, feige nein: Das muss unsere klare Haltung sein. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brand. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Lothar Maier, AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Begriff der Menschenrechte ist einer, der in der Türkei offenbar nicht bei allen gleichermaßen hohe Wertschätzung findet. Ich musste das erleben, als ich vor wenigen Jahren – das war vor Beginn dieser Legislaturperiode – in Ankara an einem Seminar teilnahm, in dem es um Verbraucherrechte ging. Ich sagte: Geschützt zu sein vor Betrug, vor Übervorteilung, vor gefährlichen Produkten, ist ein Menschenrecht, ein Grundrecht. – Darauf erhob sich Unruhe unter den Teilnehmern. Ein Teilnehmer sagte: Hören Sie, der Begriff der Menschenrechte, der gefällt uns nicht, den benutzen wir nicht; Menschenrechte, das ist nichts weiter als ein Kampfbegriff, den der Westen verwendet, um die Türkei dauernd auf die Anklagebank zu setzen. Nun denkt sicherlich nicht jeder so in der Türkei. Es ist ein modernes Land. Das kann internationale Rechtsnormen nicht einfach ignorieren. Es gibt auch eine immer breiter werdende gebildete Bevölkerungsschicht, in der Menschenrechte durchaus zum Wertekatalog gehören. Aber auch bei dieser Schicht finden Menschenrechte zwei Grenzen. Die eine ist der Islam – darüber möchte ich hier nicht weiter reden –, der ja sagt: Die Menschenrechte finden ihre Grenzen da, wo der Koran etwas anderes sagt. – Die andere ist – das soll mein Thema sein – ein ethnisch-kulturell geprägtes Bild vom Türkentum und seiner Mission. Daraus resultiert der Versuch, eine ethnisch homogene Bevölkerung zu schaffen, zunächst in der Türkei selbst, aber dann auch in von ihr beeinflussten Ländern. Das bedeutet: Minderheiten müssen entweder angepasst oder ausgemerzt werden. Das zieht sich durch die ganze moderne türkische Geschichte. Es beginnt bei den Armeniern – der Kollege Braun wird dazu noch mehr sagen –; darüber haben wir uns hier im Haus ja schon des Öfteren unterhalten. Es gibt aber auch noch eine andere große Opfergruppe, von der weniger die Rede ist: Das sind die Griechen, von denen in dem Zeitraum von 1912 bis 1921 1,8 Millionen in den Kämpfen teils vertrieben, teils umgebracht worden sind. Die noch übriggebliebenen 13 000 Griechen, die danach in Istanbul – wie sie selber sagen würden: in Konstantinopel – noch lebten, sind erst 1964 vertrieben worden. 1974, zehn Jahre später, hat die Türkei den Nordostteil von Zypern besetzt und auch dort alle Griechen vertrieben. Heute ist es der Versuch der türkischen Regierung, die türkische Bevölkerung im Ausland homogen zu erhalten. Präsident Erdogan hat die Assimilation an die Kultur und die Sprache der aufnehmenden Völker als Verbrechen bezeichnet. Erdogan hat bei einer Gelegenheit wörtlich gesagt: Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig akzeptiert. Wir müssen überall sein, wo unsere Ahnen waren. Stellen Sie sich vor, ein deutscher Politiker würde einen solchen Satz sagen, vielleicht sogar noch in Polen. In Deutschland hat die türkische Politik eine Reihe von Instrumenten, um unsere Politik zu beeinflussen. Das sind die von einem türkischen Ministerium aus gesteuerten DITIB-Moscheevereine, es sind die Idealistenvereine, es sind die Grauen Wölfe. Es sind auch die omnipräsenten türkischen Medien, die von der türkischen Bevölkerungsgruppe vielfach intensiver genutzt werden als die deutschen Medien. Und es ist, nicht zu unterschätzen, der türkische Geheimdienst MIT, der nach den Angaben der Tageszeitung „Die Welt“ in Deutschland mit 6 000 Agenten die Deutschtürken überwacht und bespitzelt. Einer auf 500 – das Ministerium für Staatssicherheit der DDR wäre neidisch geworden. ({0}) Die deutsche Politik muss nun nicht versuchen, unseren Wertekatalog in der ganzen Welt durchzusetzen. Sie muss ihn aber im eigenen Land durchsetzen, und das ohne Kompromisse. Das heißt auch: Keine Ehrenmorde, keine Zwangsverschleierungen, keine Zwangsheiraten, keine Clanstrukturen als Parallelwelt, keine Verächtlichmachung der aufnehmenden Gesellschaft und auch kein tägliches Neuaushandeln der Regeln des Zusammenlebens, wie es sich viele vorstellen. Diese Regeln sind bestimmt durch die deutschen Gesetze und durch das Grundgesetz. ({1}) Die Kultur der Freiheit, meine Damen und Herren, will selbstbewusst sein. Dieses Selbstbewusstsein muss auch bewahrt werden gegenüber denen, die der Freiheit nicht viel abgewinnen können. Ich danke Ihnen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Maier. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren brachte der Europarat ein wegweisendes Abkommen auf den Weg. Es ist das erste verbindliche Instrument, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern, um Opfer zu schützen und die Straflosigkeit der Täter zu beenden – kein Garant, aber ein unverzichtbares Instrument. Als erstes Land hat die Türkei diese sogenannte Istanbul-Konvention 2012 ratifiziert. Jetzt ist es gerade die Türkei, die austreten will. Damit verlieren 42 Millionen Frauen in der Türkei ein wichtiges Instrument im Kampf um Gleichberechtigung. Und das gerade jetzt: Allein im vergangenen Jahr wurden in der Türkei mindestens 300 Frauen ermordet, nur weil sie Frauen waren; über die Dunkelziffer will ich gar nicht nachdenken. Und gerade jetzt will sich Präsident Erdogan aus der Verantwortung ziehen. Seine Begründung für den Austritt ist der blanke Hohn: Er wolle die Normalisierung von Homosexualität unterbinden, und durch die Istanbul-Konvention sei ein Verstoß gegen traditionelle, soziale und familiäre Werte zu befürchten. Wenn er so etwas sagt, muss der türkische Präsident sich schon fragen lassen, welche Werte das denn bitte sein sollen. Hass und Gewalt? ({0}) Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wer so ein Abkommen ablehnt, kämpft nicht für traditionelle Familienwerte. Wer so etwas ablehnt, stellt grundlegende Menschenrechte infrage. ({1}) Präsident Erdogan eröffnet Spielraum für Gewalt und baut Schutzräume für Frauen ab. Was bedeutet das anderes, als das blanke Patriarchat durch ein Deckmäntelchen traditioneller Familienpolitik wieder salonfähig zu machen? Der Präsident sendet ein fatales Signal an alle Frauen im eigenen Land und letztlich an die gesamte türkische Gesellschaft: Frauen sind in der Türkei weniger wert. – Erst am Internationalen Frauentag wurde breit davor gewarnt, dass errungene Frauenrechte wieder zerschlagen werden. Noch etwas: Länder wie Ungarn, Bulgarien und Tschechien haben die Istanbul-Konvention noch nicht ratifiziert. Sie sollten das jetzt umso schneller tun. Aber noch verwerflicher, als sie nicht zu ratifizieren, ist es, diese Errungenschaft einfach wieder zurückzunehmen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter Präsident Erdogan stehen nicht nur die Frauenrechte unter Druck, sondern noch viel mehr Menschenrechte. Der zweitgrößten Oppositionspartei, der HDP, droht das Verbot, weil sie Erdogan nicht in den Kram passt. Journalistinnen und Journalisten und Oppositionelle werden willkürlich inhaftiert. Wir mussten in den letzten Jahren auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst ein deutscher Pass nicht vor Haft oder vor Hausarrest in der Türkei schützt. Die türkische Regierung schränkt grundlegende Rechte ein. Aber in einem demokratischen und rechtsstaatlichen Land ist es eben gerade nicht möglich, Oppositionsparteien zu verbieten und Hunderte Politikerinnen und Politiker mit einem Berufsverbot zu belegen. Im Umkehrschluss heißt das: Die Türkei ist schon lange nicht mehr rechtsstaatlich und demokratisch. Und deswegen bin ich auch der Meinung, dass es jetzt aus Berlin, aus Brüssel und vom Europarat Ansagen geben muss. Ich hoffe sehr, dass sich der Europarat wirksam einmischt und die Menschenrechtsverletzungen dort klar benannt werden. Und am Ende, wenn das alles nichts bringt und Präsident Erdogan weiterhin die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs ignoriert, müssen die neuen Sanktionsmöglichkeiten starten und muss die Türkei vielleicht sogar ausgeschlossen werden. ({3}) Außenminister Maas hat bereits eine deutliche Botschaft nach Istanbul geschickt. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die türkische Regierung auf, damit aufzuhören, rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien mit Füßen zu treten. Der türkischen Opposition muss der Raum gegeben werden, sich im Rahmen des demokratischen Prozesses einbringen zu können. Und den türkischen Frauen muss die Möglichkeit garantiert werden, frei von häuslicher und sexualisierter Gewalt leben zu können – unter dem Schutz der Istanbul-Konvention. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Heinrich. – Nächste Rednerin ist die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Freie Demokraten wollen eine enge Beziehung zur Türkei. Wir wollen eine freundschaftliche Beziehung zur Türkei, eine gute Beziehung. Und deshalb bedauern wir zutiefst, was aus dieser Beziehung unter Präsident Erdogan in den vergangenen Jahren geworden ist. Eine gute Beziehung baut auf Vertrauen auf. Und Vertrauen wiederum baut darauf auf, dass man Dinge miteinander vereinbart, an die man sich im Anschluss auch hält. Gute Beziehungen, Herr Erdogan, die kann man nicht erpressen, indem man im Mittelmeer mit Säbeln rasselt oder die verwundbarsten Mitglieder einer Weltgemeinschaft, die Geflüchteten, als Faustpfand einsetzt. Gute Beziehungen, Herr Erdogan, die erhält man nicht durch Täuschung und Augenwischerei – eine Täuschung wie am 2. März, als der türkische Präsident seinen sogenannten Aktionsplan für Menschenrechte vorstellte, sicher auch mit einem Seitenblick auf seine Charmeoffensive an die EU und das Angebot eines Neustarts der EU-Beziehungen. Das ist Augenwischerei, weil Erdogan seit der Ankündigung dieses Aktionsplans für Menschenrechte keinen einzigen politischen Gefangenen freigelassen hat, kein einziges Urteil des EGMR umgesetzt hat – nicht dass er das vorher wirklich häufig getan hätte –, einem der profiliertesten Menschenrechtspolitiker des Landes, Ömer Faruk Gergerlioglu, das Mandat und damit die Immunität entzogen hat und ihn zeitweise sogar inhaftieren ließ sowie juristische Schritte einleiten ließ, um die Oppositionspartei HDP zu verbieten. Der traurige Höhepunkt – darüber haben wir hier in dieser Debatte schon gesprochen – folgte dann am Wochenende mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention. Per Präsidialdekret wurden die Frauen in der Türkei zu Bürgerinnen zweiter Klasse degradiert. Dieser Schritt ist natürlich nicht nur ein schwerer Schlag gegen die Frauenrechte in der Türkei, es ist vor allen Dingen ein Austritt mit Symbolkraft; denn am 11. Mai 2011 wurde diese Konvention verabschiedet, und zwar in Istanbul als symbolischem Ort nicht nur für die historischen Fortschritte im Menschenrechtsschutz, sondern auch für die Wirkmacht unserer multilateralen Ordnung. Außenminister Maas bezeichnete diesen Austritt aus der Konvention am Montag am Rande des EU-Außenministertreffens ganz lapidar als – ich zitiere – „falsches Zeichen“. Bereits in dieser Antwort, meine Damen und Herren, zeigt sich die Türkei-Politik der Bundesregierung in ihrer ganzen Problematik: Kritik am türkischen Präsidenten ist für Sie eine reine politische Pflichterfüllung, die mit einer Phrase abgearbeitet wird. ({0}) Vor allen Dingen in Zeiten, in denen die Bundesrepublik den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates hat, Herr Minister – er ist nicht anwesend; deswegen schaue ich jetzt Herrn Roth an –, hätten Sie eine Verantwortung gehabt, viel deutlicher zu werden; denn zwei Drittel der Zeit im Ministerkomitee sind bereits um. Der Journalist Deniz Yücel schrieb am 22. März für „Die Welt“ – ich zitiere –: Die Türkei ist dabei, sich von einer korrupten Autokratie in eine islamistisch-nationalistisch gefärbte (und korrupte) Diktatur zu verwandeln. Dieser Prozess, meine Damen und Herren, ist seit vielen Jahren erkennbar, und wir haben derzeit leider keinen Anlass zur Hoffnung, dass sich dieser Prozess wieder umkehren wird. Deshalb ist es auch an der Zeit, ein kleines bisschen mehr Ehrlichkeit in der Türkei-Politik walten zu lassen. Eine Türkei, die auf dem Weg in eine Diktatur ist, kann keine EU-Beitrittskandidatin sein, meine Damen und Herren von der Bundesregierung. ({1}) Wir Freie Demokraten fordern deshalb schon sehr lange, die Beziehungen zur Türkei in einem Grundlagenvertrag neu zu regeln. Der Fokus unserer Türkei-Politik muss sich ein Stück weit verschieben. Die Zivilgesellschaft in der Türkei muss unsere neue Partnerin sein. Deswegen brauchen wir gerade jetzt einen Ausbau von Austauschprogrammen mit der Türkei für Studentinnen und Studenten und junge Berufstätige. Wir müssen gerade jetzt Medienprojekte unterstützen, die unabhängig über die türkische Politik auf Türkisch berichten. Gerade jetzt müssen wir im Europarat alle uns zur Verfügung stehenden Mechanismen nutzen, damit EGMR-Urteile umgesetzt werden. Und wenn Eskalationen seitens Erdogan Konsequenzen der EU und der Bundesregierung notwendig machen, dann müssen dies Konsequenzen sein, die nicht die türkische Zivilgesellschaft treffen, sondern den Präsidenten selbst und diejenigen, die das System Erdogan stützen. Und schließlich – das muss uns allen klar sein, meine Damen und Herren – brauchen wir ein menschenrechtskonformes, ein funktionierendes Asyl- und Migrationssystem in der EU; denn das ist die entscheidende Grundlage dafür, dass die EU sich nicht länger erpressen lassen muss. ({2}) Frau Bundeskanzlerin – sie hört diese Debatte hoffentlich irgendwie –, bitte nehmen Sie die Gedanken aus dieser Debatte mit zum EU-Gipfel morgen und besprechen Sie dort genau die nächsten Schritte. Enttäuschen Sie die Millionen Türkinnen und Türken nicht, die ihre Zukunft immer noch in der EU oder zumindest in enger Verbundenheit mit der EU sehen. Denn unsere Solidarität gilt den Journalistinnen und Journalisten, den Politikern, den Menschenrechtsverteidigern, all denjenigen wie Osman Kavala, die unrechtmäßig inhaftiert sind.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Sie gilt den Studentinnen und Studenten, die an der Bogazici-Universität für Wissenschaftsfreiheit kämpfen, und natürlich all den Türkinnen, die gerade dafür kämpfen, dass sie eben nicht Bürgerinnen zweiter Klasse in der Türkei werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte jetzt!

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Genau das muss auch im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU besser ablesbar sein. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. Auch für die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses gilt die Fünf-Minuten-Regel bei Aktuellen Stunden. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Innen- sowie außenpolitisch hat der türkische Staatspräsident Erdogan seinen Kurs in Richtung islamistischer Unterdrückungsstaat verschärft. Nach den Tausenden, wirklich Abertausenden Verhaftungen von Politikerinnen und Politikern der Demokratischen Partei der Völker – der zweitgrößten Oppositionspartei, landesweit drittgrößten Partei – und den zahlreichen Amtsenthebungen der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die zuvor demokratisch gewählt worden sind, kommt jetzt das Verbot dieser Oppositionspartei in der Türkei. Zugleich hat Erdogan als Staatspräsident die frauenfeindliche Agenda seiner islamistisch-faschistischen Koalition aus AKP und MHP – anders kann man das nicht beschreiben – exekutiert und per Dekret den Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt erklärt. Er zeigt uns, was Frauenrechte wert sind bei Moslembrüdern und völkischen Menschen. Außenpolitisch hält die Türkei weiterhin völkerrechtswidrig Teile Syriens und auch Iraks besetzt ({0}) und hat dort gemeinsam mit islamistischen Terrorbanden der al-Qaida und der Ahrar al-Scham ein Schreckensregime in Teilen errichtet. In Bergkarabach hat Erdogan der aserbaidschanischen Familiendiktatur Alijew mitgeholfen, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen und Armenier in Bergkarabach abzuschlachten. Und jetzt zündelt er durch die Lieferung türkischer Kampfdrohnen in die Ukraine an einem neuen Krieg im Donbass. Während das Leben in der Türkei für normale Menschen immer schwieriger wird, bereichern sich Erdogan und seine Clique und setzen auf innenpolitische Repression und außenpolitisches Abenteurertum. Und das Erschreckende ist, dass wir nicht nur über das reden müssen, was in der Türkei passiert, sondern auch über das, was hier in Berlin und in Brüssel passiert. Das Erschreckende ist, dass vor diesem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag alles darauf hindeutet, dass die Europäische Union ihr NATO-Land Türkei weiterhin unterstützen möchte mit Waffen und üppigen Wirtschaftshilfen. Ich finde, es ist wirklich abenteuerlich, was Sie als Bundesregierung hier für Politik machen. ({1}) Es ist doch absurd, dass nach dem jüngsten politischen Amoklauf von Erdogan gegen die Opposition, gegen demokratische Rechte, gegen Frauen in der Türkei jetzt von einer – ich zitiere – „positiven Agenda“ gesprochen wird, ({2}) dass jetzt davon gesprochen wird, dass man die Zollunion erweitern solle. Die Zollunion muss eingefroren werden, weil die Türkei Rechtsverstöße begeht. ({3}) Sie erkennt Zypern nicht an und lässt die Waren von dort auch nicht im Hafen einlaufen. Das heißt, es gibt eine Akzeptanz der Rechtsverstöße der Türkei. Das treibt die Heuchelei in Sachen Menschenrechte bei der Bundesregierung und auch der Europäischen Union wirklich auf die Spitze. Der deutsche Außenminister Heiko Maas spricht von Licht und Schatten in der Türkei. Ich sage Ihnen: Wenn Sie dieser Tage von Licht sprechen, ist das nichts anderes als ein Schlag ins Gesicht der mutigen Frauen in der Türkei. ({4}) Es ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen. Sie sprechen davon, weiterhin Rüstungsgüter liefern zu wollen. Ich sage Ihnen: Wer wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas alles tut, um Erdogan weiter mit Waffen und Wirtschaftshilfen zu stützen, der macht seine Kritik nicht nur unglaubwürdig, nein, der macht sich auch mitschuldig an der politischen Verfolgung von Demokratinnen und Demokraten in der Türkei, ({5}) der macht sich mitschuldig daran, dass das Erdogan-Netzwerk hier in Europa Andersdenkende bedroht und – wie im Fall meiner geschätzten Kollegin Berivan Aslan in Österreich – die Mordkommandos des türkischen Geheimdienstes losschickt, um Kritikerinnen und Kritiker auf europäischem Boden zu bedrohen und zu attackieren. Es ist in diesem Zusammenhang mehr als beunruhigend, dass der deutsche Innenminister Horst Seehofer trotz der Forderung des Deutschen Bundestages, die türkischen faschistischen Organisationen der Grauen Wölfe in Deutschland zu verbieten, diesen Verbotsauftrag bis heute verschleppt und alles tut, um uns hier ein organisiertes Staatsversagen vorzuführen. Das ist inakzeptabel! ({6}) Es muss etwas gegen die türkischen Faschisten in diesem Land getan werden. „Keinen Fußbreit den Faschisten“ heißt nicht nur “keinen Fußbreit den deutschen Faschisten“, auch die türkischen Faschisten gehören dazu. ({7}) Wer wirklich helfen möchte, der darf es nicht bei wortreicher Kritik belassen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wortreiche Kritik ohne jedwede Konsequenz ist keine Hilfe für die bedrängten Demokratinnen und Demokraten. Jetzt ist die Zeit zum Handeln. Solidarität mit den Frauen in der Türkei, Solidarität mit der HDP –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– ich komme zum Ende – und allen demokratischen Kräften in der Türkei, auch den Studierenden der Bogazici-Universität –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte jetzt.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– bedeutet nichts anders als: Klare Kante gegen Erdogan und Einstellung der Unterstützung für Erdogan! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich weiß gar nicht: Funktioniert die Uhr da vorne nicht mehr? ({0}) – Ist klar. – Herzlichen Dank, Frau Kollegin. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist seit 1950 de facto Gründungsmitglied des Europarats. Damit hat sie sich selbst zur Einhaltung höchster Standards im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verpflichtet. Es ist unbestreitbar, dass sich die türkische Regierung mehr und mehr von diesen elementaren Verpflichtungen entfernt. Damit gerät die innere Verfasstheit der Türkei aber auch immer stärker in Gegensatz zu ihren eigenen strategischen Interessen; denn zu diesen gehört zweifelsohne eine möglichst enge Anbindung an Europa. Ich will festhalten: Die Bürgerinnen und Bürger der Türkei haben in den letzten Jahren immer wieder ihre besondere Wertschätzung für die parlamentarische und pluralistische Demokratie zum Ausdruck gebracht, nicht zuletzt durch hohe Wahlbeteiligungen bei nationalen wie kommunalen Wahlen. Fairer und offener politischer Wettbewerb bei freien Medien ist aber eine grundlegende Voraussetzung für den demokratischen Prozess. Nur so kann eine legitime Vertretung der Vielfalt von Meinungen und Interessen aller Bürgerinnen und Bürger eines Landes erreicht werden. In aller Klarheit: Politische Konkurrenten zu kriminalisieren, gewählte Bürgermeister in großer Zahl ihres Amtes zu entheben, Parlamentsabgeordneten ihr Mandat zu entziehen oder sie gar zu verhaften – das ist völlig inakzeptabel. ({0}) In aller Klarheit: Parlamentarier gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis! ({1}) Die Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die HDP durch die türkische Generalstaatsanwaltschaft ist nun eine weitere Eskalation auf diesem Weg. Zu den vorrangigen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates im Europarat gehören die Einhaltung und Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wir fordern daher mit allem Nachdruck, dass die Türkei dieser Verpflichtung in einer Reihe prominenter Fälle endlich umfassend nachkommt. ({2}) Insbesondere der Kulturförderer Osman Kavala und der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas müssen endlich freigelassen werden. ({3}) Wir begrüßen ausdrücklich, Herr Staatsminister Roth, dass die Bundesregierung die Umsetzung der Urteile des EGMR zu einer ihrer obersten Prioritäten in ihrem Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates gemacht hat. Mit Blick auf die Türkei hat das jetzt auch klare Konsequenzen: Die Fälle Kavala und Demirtas werden künftig – das haben Sie am Freitag angekündigt – bei jeder Sitzung des Ministerkomitees auf der Tagesordnung stehen, bis sie zufriedenstellend geklärt sind. Es muss allen klar sein: Wenn es hier nicht zu einer Lösung kommt, stellt die Türkei ihre Mitgliedschaft im Europarat selbst infrage. ({4}) Das haben wir auch am Freitag im Ständigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung sehr deutlich gemacht. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass wenige Stunden später Staatspräsident Erdogan den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – das ist die sogenannte Istanbul-Konvention – verkündet hat. Das ist umso unverständlicher und schmerzhafter, da es ja ursprünglich die Türkei selbst war, die dieses Abkommen während ihres Vorsitzes im Ministerkomitee vor gut zehn Jahren vorangetrieben hat. Und es war die Große Nationalversammlung der Türkei, die 2012 als erstes Parlament überhaupt die Istanbul-Konvention ratifiziert hat – damals übrigens einstimmig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegen Frauen, insbesondere häusliche Gewalt, zu verhindern, den Opfern Schutz und Hilfe zu gewährleisten und die Täter strafrechtlich zu verfolgen – im Hinblick auf diese Ziele kann es in unserer Zeit doch nicht ernsthaft Dissens geben. Wir rufen die türkische Regierung deshalb dringend auf, die Frauen in der Türkei dieses wichtigen Instruments gegen Gewalt nicht zu berauben und das europaweite Schutzsystem der Konvention nicht zu schwächen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir im Westen haben mit Blick auf die Türkei unsererseits weiterhin ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft und mit einer starken Orientierung nach Westen und mit einer Anbindung an Europa. Es ist gut, dass es in den letzten Wochen zwischen der EU und der Türkei wieder zu vermehrtem Dialog in außenpolitischen Fragen gekommen ist; das ist zur Überwindung einiger aktueller Konflikte dringend notwendig. Aber es ist völlig klar: Einer positiven Agenda sind äußerst enge Grenzen gesetzt, wenn die Türkei ihren elementaren Verpflichtungen als Mitglied des Europarates nicht nachkommt und ihre institutionelle Anbindung an Europa damit weiter erodiert. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Andreas Nick. – Ich begrüße Sie recht herzlich – in einer anderen Rolle –, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Ich erteile das Wort dem nächsten Redner: für die AfD Fraktion Jürgen Braun. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Präsidentin! Auch für Sie gilt das.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das generische Maskulinum – das gilt – ({0}) ist die deutsche richtige Anrede, die ist bis heute gültig.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, dann bekommen Sie einen Ordnungsruf von mir; denn es gibt einen Beschluss, dass Sie die Präsidentinnen als Präsidentin bezeichnen. ({0}) Ich erteile dem Abgeordneten Braun einen Ordnungsruf.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gut. Das korrekte Deutsch gilt für alle. ({0}) Ich bitte, die Zeit anzuhalten, wenn hier in dieser Form in meine Redezeit eingegriffen wird. So.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie haben gar nichts zu bitten, ({0}) Sie haben jetzt zu reden, oder Sie hören auf zu reden. So. ({1})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag. Der türkische Präsident Erdogan hat den Austritt aus der Konvention verkündet. Ein fatales Zeichen ist gesetzt. Erdogan missachtet die Frauenrechte. ({0}) Die türkische Oppositionspartei, CHP, teilt mit: Der Austritt bedeutet, dass – so wörtlich – Frauen Bürger zweiter Klasse sind und getötet werden. ({1}) – Ich habe jetzt das Wort, Entschuldigung. ({2}) Die Grünen haben diese Aktuelle Stunde verlangt. Die Grünen müssen offensichtlich etwas korrigieren, müssen sich rechtfertigen; denn sie sind eigentlich alte Erdogan-Fans, ({3}) Beifallklatscher für den Despoten. ({4}) Die Frauenrechte in der Türkei waren ihnen lange Zeit völlig egal – ({5}) allzu oft völlig blind gegenüber der Gefahr aus dem legalistischen Islam, allen voran Claudia Roth: Sie umarmt ja auch Massenmörder aus dem Iran gerne mal und grüßt sie mit einem kumpelhaften High five.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich erteile Ihnen einen zweiten Ordnungsruf –

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Eigentlich war Staatschef Erdogan – ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

– und erbitte, dass das morgen im Ältestenrat thematisiert wird.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– Ihr edler Held gegen das böse türkische Militär. – Ich bleibe bei der Sache im Gegensatz zu anderen hier. ({0}) Als Erdogan an die Macht gekommen war, gehörten die Grünen als Regierungspartei zu den ganz lauten Trommlern für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Und immer war Erdogan der große Held gegen das böse, böse Militär. Ein zu großer Einfluss des Militärs auf die Politik ist natürlich schädlich; aber die starke Generalität hat die islamische Radikalisierung der Türkei lange Zeit verhindert. Genau diese Radikalisierung betreibt jetzt Erdogan. Erdogans islamistische Gesinnung ist es, die Jahr für Jahr Hunderte von Frauen das Leben kostet. Frauenrechte sind wichtig. Die AfD-Fraktion betrachtet mit großer Sorge die Entwicklung in der Türkei. Erdogans Scharia-Politik kostet Zigtausende von Menschenleben. Seyran Ates, die mutige Berliner Anwältin, muss unter ständigem Polizeischutz leben, weil sie den politischen Islam kritisiert, und das mitten in Deutschland. Seyran Ates schreibt – Zitat –: Ein Gutteil der muslimischen Jugendlichen in Deutschland denkt mittlerweile islamisch-identitär. Das haben wir den vom türkischen Staatsislam dominierten Verbänden zu verdanken – und der ständigen Klassifizierung kritischer Auseinandersetzung damit als ‚rechtsʼ. ({1}) Die Armenienresolution: Hundert Jahre hat das deutsche Parlament gebraucht, um diesen Völkermord als das zu benennen, was er ist. Die Bundeskanzlerin und Herr Steinmeier sprechen immer noch nicht von Völkermord, und die Resolution wird nach wie vor durch den Bundestag nicht ernsthaft umgesetzt. ({2}) Aber das ist auch kein Wunder. Die CDU pflegte ihre Partnerschaft zur Erdogan-Partei AKP. In der SPD geben sich türkische Funktionäre die Türklinke in die Hand. Diese Funktionäre hetzen massiv gegen Armenier. Die etablierten Altparteien sind mit den Leugnern des Völkermords verbündet. Sie sind damit ganz, ganz tief in die Leugnung des Völkermords an den Armeniern verstrickt. Nur die AfD steht konsequent an der Seite der Armenier. ({3}) Sir Karl Popper sagte: Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition. Wer den Himmel verspricht, aber die Hölle bringt: Diese Hölle bringen Kommunisten und Sozialisten. ({4}) Es geht in der Außenpolitik nicht darum, was der Himmel ist, sondern es geht vor allem in der Menschenrechtspolitik darum, was weniger Hölle ist. Der Einfluss der früheren kemalistischen Generalität in der Türkei war weit weniger Hölle als der Islamismus. Und eines muss die Bundesregierung sofort leisten: Die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union müssen sofort beendet werden, und zwar restlos. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank Ihnen. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Frank Schwabe. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Das, was wir im Moment in der Türkei erleben, hat innenpolitische Gründe und nichts anderes. Ich glaube, man muss klar analysieren: Es ist der Versuch des Machterhalts, weil nämlich Machtverlust droht. Man muss sich nur die Umfragen angucken, dann weiß man, wie es eigentlich um Erdogan steht. Deswegen gibt es den Versuch, die Lage zu eskalieren. Bei allem außenpolitischen Bemühen und bei aller Wertschätzung dessen, was die Türkei auch leistet, zum Beispiel in der Frage von Geflüchteten, ist klar: Es darf keinen menschenrechtlichen Kredit geben. ({0}) Opfer der aktuellen innenpolitischen Lage und des Eskalierens durch Präsident Erdogan sind Studentinnen und Studenten, sind Herr Kavala und Herr Demirtas, die eben nicht aus dem Gefängnis entlassen werden, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das so bestimmt hat, sind die HDP, aber auch die CHP als Oppositionsparteien und sind insbesondere auch die Frauen. Übrigens, das muss man ja auch mal sagen: Da gibt es eine absurde Koalition. Die Frage von Menschenrechten ist eben keine von Ost oder West und auch keine von Religionen. Vielmehr gibt es eine absurde Koalition aus extrem konservativen Muslimen in der Türkei und zum Beispiel extrem konservativen Christen in Polen. Mich würde mal interessieren, wo die AfD in dieser Koalition eigentlich wäre. ({1}) Das sind nämlich diejenigen, die Frauenrechte missachten, die am Ende gegen die Istanbul-Konvention kämpfen. In Polen wird gerade eine Alternative dazu vorbereitet. Das ist das Spiel, das dort entsprechend betrieben wird. Womit Herr Erdogan, glaube ich, nicht gerechnet hat, ist der große internationale Protest, im Übrigen auch aus Deutschland. Deutschland hat sich in der Präsidentschaft des Europarats gemeinsam mit anderen Institutionen des Europarats am Wochenende klar positioniert, wie auch Herr Biden, der Präsident der USA, die Vereinten Nationen usw. Das heißt, wir kriegen noch eine große Debatte über die Istanbul-Konvention, und das ist gut so. ({2}) Bei den Attacken auf die HDP geht es eben nicht darum, dass sich die HDP in den letzten Jahren radikalisiert hätte; das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass die HDP eine neue Strategie eingeschlagen hat und in den Großstädten der Türkei Unterstützung gefunden hat und deswegen dauerhaft möglicherweise über 10 Prozent der Wählerinnen- und Wählerstimmen bekommt. Das ist die Gefahr, die Erdogan droht. Deswegen gibt es jetzt die Angriffe auf die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei: Mittlerweile sind 10 000 Mitglieder inhaftiert, 50 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden abgesetzt. Und jetzt soll eben der finale Schlag gegen die HDP erfolgen: nicht nur ein Verbot der Partei, sondern auch ein Verbot für knapp 700 Mitglieder, für fünf Jahre politisch tätig zu sein. Das ist eigentlich nur vergleichbar mit dem Militärputsch 1980, wo Menschen auch mit einem solchen Politikverbot belegt worden sind. Wie wenig unabhängig die türkische Justiz ist, zeigt sich daran, wie mit dem Thema der Aufhebung der Immunität von Abgeordneten gespielt wird. Es sind mittlerweile deutlich mehr als 1 000 Verfahren gegen Abgeordnete im türkischen Parlament auf dem Weg. Davon betreffen nur 15 Verfahren die AKP und die MHP – nur 15, weil die wahrscheinlich alle so wenig kriminell sind –; aber über 200 die CHP und über 900 die HDP. ({3}) Der aktuelle Fall ist genannt worden: Ömer Faruk Gergerlioglu, der als Menschenrechtler und als Abgeordneter anerkannt ist, soll wegen eines Tweets für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Zum Europarat. Ich glaube, wir müssen noch mal miteinander darüber reden, was der Europarat ist und was er leisten kann. Er ist etwas anderes als die Europäische Union. Die Europäische Union hat nur die Möglichkeit, Sanktionsinstrumentarien zu nutzen; die sind mittlerweile geschärft worden und müssen auch genutzt werden. Der Europarat ist aber etwas anderes. Der Europarat hat die Möglichkeit, in Ländern zu agieren, weil nämlich Staaten – auch die Türkei – Souveränitätsrechte abgegeben haben. Sie haben sich den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen. Sie lassen zu, dass zum Beispiel das Antifolterkomitee Monitoringmissionen in einem Land durchführen kann. Deswegen bitte ich alle, noch mal darüber nachzudenken und nicht zu leichtfertig mit der Frage der Mitgliedschaft im Europarat zu spielen; denn der Europarat ist nicht für die Staaten und nicht für die Präsidenten gemacht, sondern für die Menschen in den Staaten. Und in dem Moment, wo ein Land nicht mehr im Europarat ist – man kann das nur einmal tun –, ist dann eben auch Schluss mit der Möglichkeit der Verteidigung der Menschenrechte. Aber eines will ich am Ende noch sagen – meine Zeit ist gleich abgelaufen –: ({4}) Das heißt nicht, dass es keine roten Linien im Europarat gibt. Eine dieser roten Linien ist hier in der Tat die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Und wenn die Türkei nicht in den nächsten Wochen, würde ich sagen, Herrn Kavala und anschließend Herrn Demirtas freilässt, dann ist diese rote Linie überschritten, dann wird Artikel 46 Absatz 4 des Vertrages entsprechend Anwendung finden müssen. ({5}) Und das kann dann dazu führen, dass die Türkei entweder das umsetzt oder am Ende eben nicht mehr Mitglied des Europarates sein kann. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir. ({0})

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns die Türkei-Politik der Bundesregierung genauer anschauen, dann merken wir sehr schnell: Zwischen Reden einerseits und Handeln andererseits klafft leider eine Lücke. In ihren gedruckten Pressemitteilungen findet sich berechtigterweise Kritik an der immer katastrophaler werdenden Menschenrechtslage in der Türkei; aber im Regierungshandeln schlägt sich diese Kritik leider nicht nieder. Wo sind denn die Konsequenzen für Erdogan aus seiner Unterdrückungspolitik für Andersdenkende? Wo ist die Reaktion auf seine aggressive Außenpolitik? Was tun Sie gegen seinen Versuch, Hass und Hetze auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu verbreiten und seine Kritikerinnen und Kritiker sogar hier in Deutschland einzuschüchtern? Wo merke ich an Ihrem Handeln, dass Erdogans langer Arm hier nichts verloren hat? Als Demokratinnen und Demokraten muss unsere Solidarität all denen gelten, die sich in der Türkei – oft genug unter Einsatz ihrer wirtschaftlichen Existenz, ihrer Freiheit und manchmal sogar unter Einsatz ihres Lebens – für unsere gemeinsamen Werte einsetzen. ({0}) Der Journalist Deniz Yücel, über den wir hier ja schon früher geredet haben, hat richtig beschrieben, worum es geht: Wir brauchen mit der Türkei eine Partnerschaft, aber keine Komplizenschaft. Über 400 Morde an Frauen hat es in der Türkei im letzten Jahr gegeben. Und was tut Erdogan? Er tritt aus der Istanbul-Konvention aus, die dazu dient, diese Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu bekämpfen, statt stolz darauf zu sein, dass dieses Abkommen den Namen einer wunderschönen türkischen Stadt trägt. Statt Frauen vor Gewalt zu schützen, liefert er sie ihrem Schicksal aus. Wie schwach ist dieser Präsident eigentlich? ({1}) Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention belegt einmal mehr, was wir auch von seinen Brüdern im Geiste in Deutschland und Europa gewohnt sind: Autoritäre, Rassisten, Islamisten, Rechtsextremisten sind eben immer auch Frauenfeinde, wie wir vorhin gerade gesehen haben. ({2}) Meine Damen, meine Herren, Erdogan macht aber nicht nur Geschenke an die Islamisten, nein, mittlerweile auch an die Mafia, die er sich als Koalitionspartner in Form der MHP an die Seite gestellt hat. Das Verbotsverfahren gegen die prodemokratische HDP ist da nur die Spitze des Eisbergs. Umso befremdlicher ist – das muss ich nach dieser Debatte jetzt schon noch mal sagen; ich habe gerade Frank Schwabe aufmerksam zugehört; bei jedem Wort habe ich geklatscht oder hätte ich klatschen können; nur, das korrespondiert nicht mit der Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes, lieber Kollege –, dass sich die Pressemitteilung zum HDP-Verbot so liest, als ob sie mit der türkischen Botschaft abgestimmt wäre. ({3}) Ich wünsche mir aber eine Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die Bezug nimmt auf die Ereignisse in der Türkei und nicht auf das, was Herr Erdogan lesen möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Nein, meine Damen und Herren, Herr Erdogan ist keiner, der einen Kuschelkurs belohnt – man darf in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen stellen; ein Blick in die Geschäftsordnung bildet weiter –; deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Setzen Sie sich – Sie haben es hier jetzt mehrfach gehört – beim Europäischen Rat endlich für konsequentes Handeln ein! Es gibt viele Möglichkeiten: gezielte Wirtschaftssanktionen, beispielsweise gerichtet an diejenigen an der Spitze der AKP und der MHP, die sich daran beteiligen, dass das Eigentum von Leuten, die bei uns Schutz gesucht haben, ihnen in der Türkei widerrechtlich, auch nach türkischem Recht, geklaut wird. Nutzen Sie den Menschenrechtsmechanismus der EU! Beginnen Sie ein Ausschlussverfahren der Türkei aus dem Europarat! Wenn es diese Regierung nicht macht, dann die nächste. Und: Stellen Sie endlich die deutsche und die europäische Türkei-Politik an die Seite der aktuellen US-Administration, der Biden-Regierung, und machen Sie effektiven Druck auf die Regierung Erdogan! ({5}) – Leider reicht die Zeit nicht, darauf einzugehen, lieber Kollege Lambsdorff. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Weil die AfD in den Debatten hier mehrfach den Eindruck erweckt hat, als ob das Problem ein kulturelles wäre, nach dem Motto „Die haben es halt nicht so mit der Demokratie, mit den Menschenrechten, vielleicht wegen der Kultur und der Religion“, will ich hier eines sagen: Unweit von hier gab es einen Völkermord an den Muslimen in Bosnien. Ich könnte jetzt viele Beispiele nennen. Wir alle kennen diese Beispiele. Das Problem ist doch nicht die Religion oder die Ethnie, sondern das Problem ist der alte Konflikt derer, die an Demokratie glauben, und derjenigen, die dies nicht wollen. Die Mehrheit hier steht an der Seite der Demokraten. Wo Sie stehen, das wissen wir. Danke sehr. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Cem Özdemir. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Sylvia Pantel.

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention wird jetzt international in Medien und Politik zu Recht beklagt. Die Türkei hatte die Istanbul-Konvention als erster Staat bereits am 14. März 2012, also noch vor Inkrafttreten, ratifiziert und ließ sich dementsprechend feiern. Trotzdem blieb in Teilen des Landes die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor ein großes Problem. Dieses eigentliche Problem, die Gewalt gegen Frauen, hat sich durch den seinerzeitigen Beitritt des Landes offensichtlich nicht gebessert. Die niedrigsten Zahlen hatte die Türkei im Jahr 2012, als die Regierung eine Nulltoleranzkampagne zu Gewalt gegen Frauen gestartet und durchgesetzt hat; also es wäre gegangen. Doch schon kurz nach der Kampagne stiegen die Zahlen von Gewalttaten und Morden an Frauen wieder an. Die Istanbul-Konvention, die im August 2014 in Kraft trat, wurde durch Deutschland im Oktober 2017 ratifiziert. Damals kam der Vorwurf auf, Deutschland hätte die Konvention schon viel, viel früher ratifizieren müssen. Ich habe 2017 an gleicher Stelle bereits ausgeführt, dass wir in Deutschland zunächst die rechtlichen Voraussetzungen für die Ratifizierung schaffen mussten, wie etwa die gesetzliche „Nein heißt Nein“-Regelung, die vorschreibt, dass sich nun jeder strafbar macht, der sich über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt. Dieser schon an sich wichtige und richtige Schritt war auch eine Voraussetzung für unseren Beitritt und die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Denn – und das ist das Entscheidende – es ist eine Tatsache, dass allein die Unterschrift unter ein Abkommen noch keine Frau aus häuslicher Gewalt befreit oder diese verhindert hat. Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention war und ist richtig und wichtig, aber sie ersetzt nicht konkrete Maßnahmen vor Ort. In der Türkei ist das Konzept der sogenannten Familienehre nicht selten eine Rechtfertigung von Gewalttaten an Frauen. Bei der Istanbul-Konvention verpflichten sich die Unterzeichner hingegen dazu, Verhaltensweisen zu ändern, die auf althergebrachten Geschlechterrollen beruhen. Artikel 42 hält gesondert fest, dass es mit Blick auf Kultur, Traditionen und Religion keine Rechtfertigung für Gewalt gegen Frauen gibt. Dies gelte insbesondere für Verbrechen, die im Namen der sogenannten Ehre begangen werden. Doch die Fälle von Gewalt an Frauen in der Türkei sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. So wurden allein im Jahr 2019 offiziell 474 Frauen getötet. Die Dunkelziffer liegt dabei wahrscheinlich noch viel höher. Laut der türkischen Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen!“ gibt es pro Monat 20 bis 30 Morde an Frauen, und auch schon 50 Morde in einem Monat seien vorgekommen. Es reagieren Polizei und Behörden oftmals nicht auf Hilferufe von Frauen. So ging die 45 Jahre alte Ayşe Tuba Arslan 23-mal zur Polizei, um ihren gewalttätigen Mann anzuzeigen. Sie bekam keine Hilfe und wurde schließlich im Oktober 2019 von ihm erstochen. Nach einem öffentlichen Aufschrei wegen diesem und zwei weiteren brutalen Frauenmorden sah sich die türkische Regierung Anfang letzten Jahres dazu gezwungen, Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen anzukündigen. Doch durch die Coronapandemie und den Lockdown der türkischen Regierung trat das Thema schnell wieder in den Hintergrund und verschärfte sich sogar. Die Hilferufe von Frauen steigerten sich um über 50 Prozent, und alleine im Juni 2020 wurden nicht nur 27 Morde an Frauen gezählt, hinzu kamen weitere 23 Todesfälle von Frauen unter nicht ganz klaren Umständen. Erschwerend kommt hinzu, dass es in der Türkei nur knapp über 3 400 Plätze in Frauenhäusern gibt. In Deutschland dagegen sind es 34 000 Plätze, also zehnmal so viel. Wir wissen alle, dass es bei Weitem nicht ausreicht. Die Ratifizierung eines Abkommens verhindert keine Gewalt an Frauen. Die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen steht ohne Maßnahmen nur auf dem Papier. Zur Durchsetzung gehört das gesellschaftliche Bewusstsein der gleichen Rechte aller Menschen. Gewalt gegen Frauen ist leider oftmals ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Diese haben sich offensichtlich in der Türkei verschlechtert. Der gezielte Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zeigt, dass die derzeitige türkische Regierung nicht vorhat, Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Gleichzeitig zeigen sich autoritäre Tendenzen, wie etwa die Einschränkung der Pressefreiheit, Verbotsverfahren gegen politische Parteien und eine vom Staat geförderte Islamisierung der säkularen Gesellschaft. Keine Religion oder Kultur auf der Welt rechtfertigt es, die Rechte von Frauen einzuschränken, sie zu missachten oder gar Gewalt gegen Frauen anzuwenden. ({0}) Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zeigt die Missachtung von Frauen, die daraus folgende Gewalt gegen Frauen und den fehlenden Schutz von Frauen. Hier müssen der Europarat und Deutschland klare Ansagen an Erdogan machen und ein Umdenken einfordern. Wir wollen ein gutes Verhältnis zu den Türken haben, aber nicht mit einem Erdogan, der die Rechte der Frauen und die Menschenrechte mit Füßen tritt. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sylvia Pantel. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Aydan Özoğuz. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist traurig, dass wir diese Debatte so führen müssen. Das möchte ich zum Ende dieser Debatte mal sagen. Wir haben immer wieder Anlass – leider zu viele Anlässe –, um über die Türkei zu sprechen. Der Austritt aus dieser Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen erscheint eigentlich auch nur noch als die Spitze eines Eisbergs – auch das hat diese Debatte gezeigt – bei den angeschlagenen und sehr schwierigen deutsch-türkischen und auch europäisch-türkischen Beziehungen. Ich möchte, weil dieses Kulturelle hier tatsächlich betont wurde – ich war Cem Özdemir sehr dankbar, dass er das aufgegriffen hat –, noch einmal ganz deutlich sagen: Präsident Erdogan hat per Dekret etwas, was für uns und auch für weite Teile der türkischen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit ist, per Handstreich aufgekündigt. Dagegen demonstrieren die Menschen in der Türkei. Auch bei uns wird dies kritisiert. ({0}) Es war der Staatspräsident selbst, der dieses Dekret unterschrieben hatte. Es hat ihn damals niemand dazu gezwungen, das zu tun. Der gleiche Mann kündigt das heute wieder auf, und zwar, weil er dem Druck von Ultratraditionalisten nachgibt. Es ist ein Signal, dass er die Situation der Frauen gar nicht mehr ernst nimmt und dass er die Gewalt gegen Frauen hinnimmt und akzeptiert. Wir haben von Claudia Roth, von Gabriela Heinrich und auch von Frau Pantel noch einmal die Zahlen gehört, die nun bittere Realität für die Frauen in der Türkei sind. Natürlich gehen sie dagegen auf die Straße. Es sind nicht gerade wenige, und sie verdienen unsere Unterstützung dabei. ({1}) Was ich besonders erschreckend finde, ist, dass heutzutage so ziemlich alles in der Türkei per Handstreich geht: Finanzminister entlassen, Menschen verhaften, Dekrete erlassen. Was scheinbar miteinander gar nichts zu tun hat, offenbart eben doch ein sehr, wie ich finde, verstörendes Bild: Es wird alles so gemacht, wie der Präsident es möchte. Es ist leicht geworden, Menschen in der Türkei als Terroristen zu brandmarken. Wer weiß schon, ob es stimmt. Vor wenigen Tagen wurde der HDP-Abgeordnete Gergerlioglu – wir haben das schon gehört – aus dem Parlament ausgeschlossen. Er war wegen angeblicher terroristischer Propaganda zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Genannt werden alte Tweets. Ich habe selber bei Canan Kaftancioglu das Gerichtsverfahren mitbekommen. Es war schon frappierend, zu sehen, dass Richter, die ihre Aufgabe ordentlich machen wollen, die ihrem Job nachgehen wollen, während eines Gerichtsverfahrens sogar ausgetauscht werden, wenn sie eben nicht das machen, was der Präsident möchte. Ein beliebter Präsident hätte es wohl nicht nötig, solche Dinge zu tun, Kritiker auszuschließen, wegsperren zu lassen. Also da scheint einiges nicht richtig zu laufen. ({2}) Osman Kavala sitzt seit genau 1 239 Tagen in Untersuchungshaft, ohne bis dato ein ordentliches und anständiges Gerichtsverfahren erhalten zu haben. Es scheint mir eine Art Machtdemonstration zu sein, ihn im Gefängnis zu halten, während gleichzeitig der Taksim-Platz umgebaut wird. Es ist eine gewisse Machtdemonstration, zu sagen: Schaut her, ich kann jeden im Gefängnis halten. Und dass wir dies aus dem Deutschen Bundestag kritisieren, ist doch eine Selbstverständlichkeit. ({3}) Die Inhaftierung von Oppositionellen und Journalisten, Andersdenkenden gehört ja mittlerweile zur traurigen Tagesordnung. Dazu passt das hier auch erwähnte eingeleitete Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei HDP. Wir haben damals übrigens alle vor der Einführung dieses Präsidialsystems gewarnt. Ich muss leider sagen: Die Opposition in der Türkei war damals nicht geschlossen genug, um sich dagegenzustellen. Und „alle Macht dem Präsidenten“ war und ist eben niemals ein Weg, mit dem man Demokratie erhalten kann oder mit dem man irgendwie zu Demokratie zurückgeht. Es ist so traurig, weil die Türkei doch schon sehr viel weiter war, an einer ganz anderen Stelle war, dass wir dieses heute mitbekommen müssen. Ein letzter Satz ist mir noch wichtig; denn mit einigen Dingen spielen wir manchmal auch gerade diesem Präsidenten in die Hände. Herr Brand soll es mir nicht übelnehmen, aber der Vergleich mit China erscheint mir dann doch abstrus, denn in China hätte ein Imamoglu niemals auf diese Art und Weise eine Wahl gewonnen. Da haben die Menschen gezeigt, dass sie eben hingehen, dass sie wählen dürfen, dass sie Macht haben als Wählerinnen und Wähler. Ich glaube, wovor die Menschen in der Türkei besonders Angst haben, ist, dass der Weg Richtung Iran geht. Das hört man gerade immer wieder von Frauen. Das hört man und denkt man ja auch, wenn man jetzt sieht, wie gerade dieser Weg eingeschlagen wird, die Frauenrechte weiter zu untergraben. Ich muss sagen: Ich bin Frank Schwabe dankbar, dass er uns gezeigt hat: Der Europarat hat wichtige Dinge eingeleitet, und es muss natürlich unsere Regierung mit allem Nachdruck auch mitverfolgen, und wir alle müssen das auch beobachten, so wie wir es heute tun. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in der Türkei ist mehr als besorgniserregend. Insbesondere seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Lage noch einmal deutlich verschlechtert. Die damaligen Notstandsregelungen wie drastische Einschränkungen des Versammlungsrechts, Polizeigewahrsam, Entlassungen aus dem Staatsdienst und vieles, vieles mehr wurden in der Zwischenzeit sogar in ordentliche Gesetze überführt. Regierungskritiker sind von Strafverfolgung und Verhaftung bedroht – es gibt ja einige, die seit langer Zeit inhaftiert sind –, und der Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz wurde heute schon besprochen. Regierungskritische Demonstrationen werden verboten. Der Großteil der türkischen Medien ist von der Regierung abhängig. Seit dem 1. Oktober 2020 gibt es noch zusätzlich ein Gesetz, das Sperrungen von Internetplattformen ermöglicht, wenn auf diesen kritische Inhalte veröffentlicht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch um die Religionsfreiheit steht es nicht gut. Nichtsunnitische und nichtislamische Gruppen haben keinen rechtlich gesicherten Status in der Türkei. Der aktuelle Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen zeigt deutlich die Verschärfung der Lage in der Türkei auf. Frauen sind wirtschaftlich, sozial und politisch die Leidtragenden in der Türkei. Häusliche Gewalt und Frauenmorde sind zudem nach wie vor ein großes Problem im Land. Allein im vergangenen Jahr wurden über 400 Frauen ermordet. Mit der Abkehr von der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen wird dieses wichtige Übereinkommen beendet, welches die verbindlichen Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen darstellt. In den letzten Wochen sind, ähnlich wie in Belarus, mutige Frauen auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren. Ich kann von dieser Stelle bloß sagen: Wir stehen an der Seite dieser mutigen Frauen. Sie machen Hoffnung auf eine neue Türkei. Sie machen Hoffnung auf eine demokratische Gesellschaft in der Türkei. Deswegen stehen wir an ihrer Seite. ({0}) Und Erdogan setzt sein Ziel unvermindert fort, Schritt für Schritt, nämlich das Land in eine patriarchale Gesellschaft zurückzuführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer solchen Debatte muss man aber auch mal gucken, wann die Warnungen im Hinblick auf den Präsidenten angefangen haben. Damals in der Diskussion hier im Deutschen Bundestag, 2003/2004, als es um die Verhandlungen über den Beitritt der Türkei in die EU ging, haben die Abgeordneten Angela Merkel, Friedbert Pflüger und Gerd Müller gewarnt und gesagt: Die angeblichen Fortschritte in der Türkei sind nicht mal das Papier wert, auf dem sie stehen. – Das muss man in dieser Diskussion auch mal sehen. Herr Kollege Özdemir, Sie fordern, zu handeln und nicht nur zu reden. Es lohnt sich daher, die Beiträge zur damaligen Debatte noch einmal nachzulesen. Damals haben die Grünen – Ludger Volmer und Christa Nickels – sich entsetzt über unsere Warnungen geäußert. Ich darf aus der Rede von Christa Nickels in dieser Debatte im Jahr 2004 zitieren: Ich kenne weltweit keinen zweiten Staat, der in einer derartigen Kraftanstrengung von Regierung, Verwaltung und anderen ... Organisationen in nur zwei Jahren die gesamte Gesetzeslage umgekrempelt hat … Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar … dass Sie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Art von Bedenkenträgerei anfangen. Das ist die Wahrheit aus 2004. ({1}) Wenn Sie also von Reden und Handeln sprechen, dann müssten Sie jetzt auch fordern, dass man die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufkündigt und beendet. Aber das tun Sie nicht. ({2}) Deswegen sollten Sie handeln und gleichzeitig reden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den bevorstehenden Gesprächen des Europarats auf Ebene der EU müssen wir weiterhin unermüdlich und mit allem Nachdruck auf die Lage der Menschen und die schweren Menschenrechtsverstöße in der Türkei aufmerksam machen. ({4}) – Natürlich. Das tun wir ja von hier. ({5}) Es sind schwierige Verhandlungen mit dem notwendigen Ziel, natürlich auf der einen Seite politische Stabilität in Europa zu haben und auch die Frage der Migration zu lösen und auf der anderen Seite dennoch politische und wirtschaftliche Konsequenzen bezüglich der zahlreichen Menschenrechtsverstöße zu diskutieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht wegsehen. Wir dürfen auch nicht alles akzeptieren. Es braucht – das wurde heute in der Debatte ja diskutiert – klare Grenzen, und diese werden wir aufzeigen. Herzlichen Dank. ({6})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach Beginn der Pandemie steht heute kaum ein Staat besser da als vor Ausbruch des Virus. Zu den glücklichen Ausnahmen gehört ein Land, von dem man das wohl am wenigsten erwartet hat, nämlich Libyen. Vor einem Jahr brannte der libysche Bürgerkrieg noch lichterloh. Viele sahen keine Hoffnung mehr für Frieden und natürlich auch den Berliner Prozess schon am Ende. Doch bei aller gebotenen Vorsicht: Libyen hat zuletzt ganz beeindruckende Schritte in Richtung Frieden gemacht. Im Oktober des letzten Jahres einigten sich die Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand und begannen mit vertrauensbildenden Maßnahmen, und wenig später endete auch die Ölblockade. Zum Jahresende vereinbarten die Parteien einen Fahrplan für einen politischen Übergang einschließlich freier Wahlen, die in diesem Jahr im Dezember stattfinden sollen. Vor zwei Wochen hat das libysche Repräsentantenhaus die neue Übergangseinheitsregierung bestätigt, die bereits ihre Arbeit aufgenommen hat. All das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Ergebnis von harten Kompromissen, aber auch von noch hartnäckigerer Diplomatie, und zwar der der Vereinten Nationen, Europas und nicht zuletzt auch Deutschlands. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausgangspunkt und der Bezugspunkt aller diplomatischen Fortschritte, inklusive aller Rückschläge, die es auch gegeben hat, sind und bleiben die Berliner Libyen-Konferenz von Anfang 2020. Hier in Berlin haben sich alle in Libyen Einfluss nehmenden Staaten erstmals verpflichtet, die innerlibysche Versöhnung zu unterstützen und das Waffenembargo der Vereinten Nationen zu respektieren. Genau darauf basieren auch die jüngsten Fortschritte. Gleichzeitig ist klar, dass der Weg zu dauerhaftem Frieden und der Wiedervereinigung Libyens noch sehr weit sein wird. Die wichtigste Aufgabe der neuen Übergangsregierung ist es, gesamtlibysche Wahlen im Dezember wie vereinbart zu organisieren. Die Bevölkerung erwartet zudem sehr schnell eine bessere Grundversorgung, weniger Korruption und mehr Rechtsstaatlichkeit. Dem neuen Premierminister Dbeiba habe ich bereits versichert, dass Deutschland und die Europäische Union ihn bei diesen Herkulesaufgaben unterstützen werden. Ich bin in der Europäischen Union nicht der Einzige gewesen, der das getan hat, und für die Vereinten Nationen gilt das selbstredend ebenfalls. Für wirkliche Versöhnung in Libyen ist es außerdem essenziell, dass nun alle ausländischen Kämpfer wie vereinbart das Land verlassen. Das machen auch wir – nicht nur wir, aber ganz besonders wir – gegenüber der Türkei, Russland und anderen sehr deutlich, die direkt oder über Söldner eine der beiden Parteien in der letzten Zeit unterstützt haben. Dabei wissen wir alle – da gibt es nichts schönzureden –: Waffen, Kriegsmaterial und auch Kämpfer gelangen nach wie vor weiter nach Libyen. Auch da hat es zuletzt Fortschritte gegeben; aber auch diese sind beileibe noch nicht da, wo wir sie sehen wollen, nach all dem, was wir auf der Konferenz in Berlin verabredet haben. ({1}) Dafür, dass es Fortschritte gegeben hat, ist aber nicht allein der verstärkte diplomatische oder politische Druck von Einzelnen oder der internationalen Staatengemeinschaft verantwortlich. Vielmehr hat auch die Operation Irini der Europäischen Union dazu ihren Beitrag geleistet. ({2}) Denn dank Irini müssen Waffenschmuggler überhaupt erst fürchten, bei ihren illegalen Machenschaften entdeckt zu werden: Die Schiffe und Flugzeuge der Mission haben im vergangenen Jahr in über 2 300 Fällen die Angaben von Schiffen abgefragt und sind auch in knapp 100 Fällen mit Einverständnis des jeweiligen Kapitäns an Bord gegangen, um Überprüfungen durchzuführen. Auch an Land behielt die Operation verdächtige Aktivitäten im Blick, zum Beispiel durch die Beobachtung von 25 Flughäfen und der entsprechenden Flugbewegungen. Solche Aktionen, meine sehr verehrten Damen und Herren, verunsichern die Waffenschieber und stellen ihre staatlichen Auftraggeber bloß. Deshalb hat auch die frühere Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Stephanie Williams, Irini als eine wichtige Stütze des Waffenembargos bezeichnet.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Neu?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sowohl als auch. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, er muss sich schon entscheiden. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir belassen es bei Fragen. – Sie haben ja gerade beeindruckende Zahlen genannt, Herr Minister. Aber bei wie vielen dieser Durchsuchungen der Schiffe mit Zustimmung des Flaggenstaates wurde man denn fündig? – Frage eins. Frage zwei: Hat das tatsächlich zur Abschreckung beigetragen? Ich meine, die Türkei hat das nicht interessiert. – Vielen Dank.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Wir sind fest davon überzeugt, dass es auch zur Abschreckung beigetragen hat. Das sagen uns auch diejenigen, die dort vor Ort für die Vereinten Nationen tätig gewesen sind. Auch die Durchsuchung von Schiffen, bei denen man nichts gefunden hat, leistet dazu einen Beitrag. Insofern muss man ganz einfach noch einmal darauf hinweisen: Wenn wir auf der Libyen-Konferenz in Berlin vereinbart haben, dass das Waffenembargo durchgesetzt werden soll, und alle sich verpflichtet haben, es anzuerkennen, wir aber genauso wissen, dass welche, die sich dazu verpflichtet haben, das Gegenteil tun, dann zeigt dies, dass wir auch Instrumente brauchen, mit denen wir deutlich machen, dass wir bereit sind, das, was wir beschlossen haben, auch durchzusetzen. Diese Mission – und ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass diese Mission nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auf Schiffen geführt hat – hat dazu einen Beitrag geleistet. Sie hat nicht alleine dafür gesorgt, dass das Problem gelöst worden ist, aber sie hat der internationalen Staatengemeinschaft geholfen, zu dokumentieren: Wir wollen damit Ernst machen. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das auch für die Zukunft ein wichtiges Thema, gerade jetzt, in der Phase, in der wir uns befinden, in der Wahlen in Libyen vorbereitet werden. Aber auch über Irini hinaus stehen wir in Libyen denjenigen bei, die unsere Hilfe dringend brauchen: den Zehntausenden Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten genauso wie der libyschen Zivilbevölkerung. Über das UN-Flüchtlingskommissariat hat Deutschland in den vergangenen Jahren mehr als 45 Millionen Euro zum Schutz von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Mit diesen Mitteln konnten die Vereinten Nationen seit Ende 2017 über 5 500 besonders schutzbedürftige Menschen aus Libyen evakuieren. Über den Nothilfefonds für Afrika der Europäischen Union unterstützt Deutschland die Internationale Organisation für Migration mit 121 Millionen Euro. Diese Hilfen fließen in die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr von Migranten und in Schutzmaßnahmen in Libyen selbst. Im Kampf gegen die Pandemie hat die Bundesregierung das libysche Gesundheitssystem im letzten Jahr mit zusätzlichen fast 10 Millionen Euro unterstützt. Bis Ende Mai erhält das Land 300 000 Dosen Impfstoff über Covax. Meine Damen und Herren, das Beispiel Libyen zeigt: Diplomatie ist manchmal mühsam, verbunden mit vielen Rückschlägen, aber sie kann auch funktionieren. Auf den Erfolgen des Berliner Prozesses werden wir in den kommenden Monaten weiter aufbauen. Die Operation Irini ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Aber die Operation Irini sendet auch ein Signal europäischer Geschlossenheit. Sie steht für ein souveränes Europa, das einen Beitrag leistet für mehr Frieden und Stabilität in unserer Nachbarschaft. Und sie kann helfen, dass wir auch nächstes Jahr auf ein Libyen zurückblicken, das besser dasteht als zwölf Monate zuvor. Deshalb bitte ich Sie um die Unterstützung unseres Antrages. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Minister Heiko Maas. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Petr Bystron. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich wollte mich erst mal beim Kollegen Özdemir für die gute AfD-Rede bedanken, die er vorhin gehalten hat. Ich konnte das vorhin nicht machen, weil es eine Aktuelle Stunde war; da sind keine Unterbrechungen erlaubt. ({0}) Herr Brehm von der Union hat es auch schon gesagt: Mir hat nur die Konsequenz aus dieser Kritik an der Bundesregierung und an der Türkei gefehlt. Man sollte dann eigentlich konsequenterweise die Verhandlungen mit der Türkei einstellen. Das würden wir von der AfD machen. ({1}) Aber zum Thema – ich greife das gerne auf –: Lieber Herr Minister Maas, Sie haben lange geredet, aber fast gar nicht zum Thema. ({2}) Herr Dr. Neu, der Minister konnte Ihnen die Frage nicht beantworten: Auf wie vielen Schiffen wurde denn überhaupt etwas gefunden? Ich sage Ihnen, warum. Die Mission hatte drei Ziele, nämlich die Ausbildung der libyschen Küstenwache zu fördern, Waffenschmuggel zu unterbinden und Migration einzudämmen. Und was sind die Ergebnisse beim Waffenschmuggel? Tausend Mann haben ein Jahr lang irgendwas gesucht, sind auf Schiffe gegangen und haben auch mal was beschlagnahmt. Auf einem einzigen Schiff – das wäre die Antwort gewesen – wurde etwas gefunden, aber keine Waffen, sondern nur Kerosin. Es gab ein Schiff, auf dem waffenfähige gepanzerte Fahrzeuge gesichtet worden waren. Aber da sind die Leute nicht raufgegangen. Warum? Weil es ein türkisches Schiff war und weil die Türkei gesagt hat: Nein, wir lassen die nicht drauf. – So viel zu der von Ihnen genannten abschreckenden Wirkung und zu der Behauptung, dass die Schmuggler Angst vor dieser Mission haben. Das ist ein völliger Mumpitz. ({3}) Der zweite Punkt. Ausbildung der libyschen Küstenwache fand das ganze Jahr nicht statt. Warum? Weil die Libyer überhaupt kein Interesse daran haben. Der dritte Punkt: Migration eindämmen. Entschuldigung, darüber haben wir uns schon vor einem Jahr unterhalten. In den fünf Jahren der Vorgängermission – sie hieß Sophia – wurde die Migration gar nicht eingedämmt. Im Gegenteil: Da haben Sie sogar fast 50 000 Migranten nach Europa geholt. Und die Operation Irini tritt in die Fußstapfen der Operation Sophia: Hier werden Migranten nach Europa gebracht – genau das Gegenteil von dem, was Sie den Menschen hier versprechen. Und wissen Sie: Das sind die Charakteristika der Politik Ihrer Regierung, das zeichnet Ihre Regierung aus. Sie versteigen sich auf die Bekämpfung von Problemen mit völlig falschen Mitteln. Sie nehmen dabei auch keine Rücksicht darauf, dass die Betroffenen das von Ihnen gar nicht wollen, so wie die Libyer. Und bei Misserfolgen ziehen Sie nicht die richtigen Konsequenzen; Sie hören nicht auf. Sie gehen immer weiter mit dem Kopf durch die Wand. ({4}) Das ist bezeichnend, gerade jetzt, nur wenige Stunden nach der Bankrotterklärung Ihrer Kanzlerin hier in diesem Hause. Sie machen das außenpolitisch genauso wie innenpolitisch. ({5}) – Jetzt hören Sie mal! Gucken Sie doch mal, mit wem Sie da regieren: Die Hälfte der CDUler ist gar nicht hier, weil sie irgendwie unterwegs ins Gefängnis sind, weil sie sich bereichert haben an dem Lockdown, an den Maskengeschäften. ({6}) – Also bitte! Sie stellen das ganze Land unter Hausarrest, obwohl nur 0,16 Prozent der Menschen von der Covid-19-Pandemie betroffen sind. ({7}) Das sind die Parallelen, das ist die gleiche Regierung. Das ist die Sache: dass diese Regierung komplett das Vertrauen der Bevölkerung, auch das Vertrauen von uns, verloren hat. ({8}) Deswegen stimmen wir keinem Antrag dieser Regierung mehr zu. Es ist Zeit für eine Vertrauensfrage hier im Parlament. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Bystron, danke schön. Aber ich rüge Ihre Bemerkung zu den Kollegen der CDU. Sie sagten, die Hälfte ist auf dem Weg ins Gefängnis. – Das ist unzulässig. ({0}) Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt. ({1})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich dem Thema dieser Debatte widmen. ({0}) Es geht um den Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der EU-Mission Irini, ({1}) natürlich ganz eng mit der Frage der Entwicklung in Libyen verknüpft. Deutschland hat, wie ich finde, eine gute Rolle gespielt bei der Anbahnung einer diplomatischen Lösung für diesen geradezu unlösbar erscheinenden Konflikt. Viele Beobachter der internationalen politischen Szene haben ein wenig gelächelt angesichts des Projekts der Berliner Libyen-Konferenz der Bundeskanzlerin und des Bundesaußenministers am 19. Januar 2020, aber sie ist tatsächlich zu einem wichtigen Pfeiler der jetzigen Entwicklung geworden. Ohne diese Libyen-Konferenz wäre das, was wir in den letzten Wochen erlebt haben, nicht möglich gewesen. Ich glaube, der Geist, der die Berliner Libyen-Konferenz möglich gemacht hat, ist auch in der Lage, jetzt den schwierigen Weg bis zu den geplanten Neuwahlen am 24. Dezember 2021 – heute in neun Monaten ist es so weit – zu ebnen. Ich wünsche, dass die deutsche Bundesregierung weiterhin engagiert an diesem Projekt mitwirkt. Ich habe das Gefühl, dass das gesamte Haus, zumindest alle diejenigen, die etwas von Außenpolitik verstehen, diesen Weg positiv unterstützt. Die deutsche Bundeswehr beteiligt sich an Irini in Kürze wieder mit einem Einsatzgruppenversorger, also mit einem Schiff, das möglicherweise als Basis für die Arbeit anderer gut dienen kann, weil es eine große seegehende Einheit ist. Wir finden es richtig, dass das Mandat in der vorgesehenen Form verlängert wird. Wir wünschen, dass diese Operation dazu beiträgt, dass der Friedensprozess in Libyen in gutes Fahrwasser kommt. Wir haben die vierköpfige Übergangsregierung – Exekutivkomitee, oder wie auch immer man das nennen soll –; interessanterweise abgesegnet von einem Gremium aus Repräsentanten praktisch aller wichtigen politischen und gesellschaftlichen Gruppen in Libyen. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass diese vierköpfige Regierung jetzt auch die Rückendeckung der Akteure im Lande hat. Jetzt muss die Gelegenheit genutzt werden, daraus etwas zu machen. Mit Blick auf die Zukunft Libyens können wir uns vor Augen führen, dass dieses Land – der Minister hat davon gesprochen, dass wir bereit sind, beim Wiederaufbau und beim Wiedereintritt Libyens in eine integrierte globale Volkswirtschaft zu helfen – tatsächlich enorme Ressourcen hat. Libyen wäre in der Lage, vieles von dem, was ein Land braucht, aus eigener Kraft zu finanzieren, wenn das Geld, das man zum Beispiel mit der Ölförderung verdient, nicht in die Taschen von Warlords wandern würde, sondern rechtmäßig in den Staatshaushalt fließen würde, also Steuern und Abgaben. ({2}) Das ist einer der Hauptgründe, warum die Libyen-Situation so verfahren ist. Die verfeindeten Lager, die sich militärisch glücklicherweise gegenseitig neutralisiert haben, also erkannt haben, dass eine militärische Lösung unmöglich ist, hatten hinter den Kulissen sicherlich arrangiert, dass bestimmte Gelder aus bestimmten Bereichen regelmäßig in bestimmte Taschen fließen. Das muss durchbrochen werden. Ich glaube, wenn es gelingt, das wirklich zu durchbrechen und zu erreichen, dass diejenigen, die ihr Geschäft bisher unter Ausnutzung der Situation in Libyen gemacht haben, sich hinter den Prozess der Stabilisierung und der Schaffung einer neuen demokratischen Regierung stellen, dann haben wir den Durchbruch erreicht. Wir sind an diesem Punkt dichter dran, als wir das in den letzten Jahren jemals gewesen sind. Das ist auch das Verdienst der Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Die nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die EU-Mandatsverlängerung mit dem verheißungsvollen Namenszusatz Irini, „Frieden“, beruht auf der Vereinbarung der Libyen-Konferenz, unter anderem das UN-Waffenembargo im Bürgerkrieg der indirekt beteiligten Staaten durchzusetzen. Es ist keine Frage: Dieses Mandat hat erhebliche Mängel. Erstens. Schwerpunktmäßig wird das Embargo nur seeseitig kontrolliert. Es findet keine landseitige Operation statt. Das bedeutet, dass das Embargo nur eine Bürgerkriegspartei im Fokus hat. Zweitens. Unsere für diese Aufgabe zur Verfügung gestellten Ressourcen sind deutlich überschaubar. Dass wir uns nur seegehend und aus der Luft an der Mission beteiligen – mit einem Einsatzgruppenversorger, abwechselnd mit einem Seefernaufklärer; Letzterer fiel auch noch 40 Tage lang aus –, ist wieder ein sichtbares Zeichen dafür, dass Deutschlands Marine einfach zu klein ist. ({0}) Drittens. Ernüchternd ist auch, dass wir aufgrund des internationalen Seerechts nur eingeschränkt Kontrollen wahrnehmen können; das wurde gerade genannt. Die Fracht des türkischen Frachters „Rosaline A“ konnte nicht untersucht werden, weil Ankara das als Flaggenstaat mit einem Veto verhindert hat. Es gibt aber auch eine gute Nachricht, nämlich: Die Mission sammelt wichtige Informationen und Aufklärungsergebnisse, um eine politische Lösung im Konflikt zu finden; denn militärisch, meine Damen und Herren, ist dieses Problem auf lange Sicht nicht zu lösen. Deutschlands Rolle ist die des Maklers. Der „Tagesspiegel“ titelte: „Gerechtigkeit für Guido Westerwelle“, den man verachtet, ja, medial verhöhnt hat, weil er sich seinerzeit als Außenminister geweigert hat, in Libyen militärisch zu intervenieren. ({1}) Das Hauptproblem heute ist, dass sich die Teilnehmer der Friedenskonferenz nicht an Absprachen halten. Mindestens so problematisch ist es, dass es, Herr Außenminister, leider keine einheitliche europäische Linie gibt. Das klingt gut, ist es aber nicht; denn man darf über Sanktionsmaßnahmen wegen Verstößen gegen das Waffenembargo nicht nur reden. Man darf Sanktionen nicht immer nur ankündigen, sondern man muss vor allen Dingen bereit sein, sie durchzusetzen. Herr Außenminister, Deutschland sollte eine zielgerichtete Vorreiterrolle in der Konfliktlösung übernehmen und seine Ziele und Interessen deutlich artikulieren. Die Region vor Europas Türen muss stabilisiert werden. Und ja, es müssen Antworten auf Probleme der Migration, der Rohstoffverteilung und des Terrorismus gefunden werden. Auch die NATO muss reagieren, wenn ein Mitglied des Bündnisses – in diesem Fall die Türkei – ein Teil des Problems wird und das Embargo unterläuft. Meine Damen und Herren, die Operation Irini ist nicht perfekt; aber sie vorschnell zu beenden, sollte heute keine Option sein. Am 24. Dezember werden in Libyen voraussichtlich die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Es gibt Hoffnung auf einen Neustart; oder wie es ein Journalist der Deutschen Welle mal formuliert hat: Es klingt „wie eine ferne Verheißung“. – Sich dafür starkzumachen, meine Damen und Herren, ist und bleibt Europas Aufgabe. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Strack-Zimmermann. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Alexander Neu. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Heute reden wir zur Abwechslung mal wieder über einen der vielen Auslandseinsätze, in dem Falle über die Mission Irini. Es gibt bei diesem Einsatz aber einen Unterschied zu den übrigen Auslandseinsätzen. Der Unterschied liegt darin, dass dieser Auslandseinsatz schon durch den Mandatstext zum Scheitern verurteilt ist; da steht das Scheitern gewissermaßen schon drin. Der Reihe nach. Der Hauptauftrag sei also, dass wir das UNO-Waffenembargo gegenüber Libyen – übrigens mit „i“ gesprochen, Herr Außenminister, nicht mit „ü“ - ({0}) durchsetzen. Dazu gehört die Aufklärung, dazu gehört die Datensammlung, dazu gehört die Weiterleitung derselben an die Vereinten Nationen und an die Europäische Union, dazu gehören das Anhalten, die Kontrolle und die Durchsuchung sowie die Umleitung von Schiffen, die verdächtigt sind, gegen das Waffenembargo zu verstoßen. So weit, so gut. Auf den ersten Blick wirkt das sehr entschlossen und robust – ist es aber nicht. Irini ist zahnlos. Warum ist Irini zahnlos? Es wurde mehrfach angesprochen: weil es keine effektive Verhinderung von Waffenembargobrüchen gibt. Zur Durchsetzung bedarf es nämlich der Zustimmung des Flaggenstaates. Keine Zustimmung des Flaggenstaates bedeutet: keine Durchsuchung der Schiffe. Diese Auftragsrestriktion ist lächerlich. Sie führt die Mission Irini hinsichtlich der Auftragslage, wohlgemerkt, ad absurdum. Wie diese Absurdität in der Praxis aussieht, zeigt unser geliebter NATO-Partner Türkei. Die Türkei bricht das Waffenembargo immer wieder, sogar unter Androhung von Waffengewalt. Beispiel 10. Juni 2020: Eine türkische Fregatte hat das Feuerleitradar auf eine französische Fregatte gerichtet. Kurzum: Der NATO-Partner Türkei richtet seine Waffen gegen den NATO-Partner Frankreich. Oder anders ausgedrückt: EU-Partner Frankreich wird durch EU-Anwärter Türkei mit Waffen bedroht. Was sagt die Bundesregierung dazu? Da vorne sitzt ein Vertreter der Bundesregierung. Was sagt er dazu? – Nichts sagt er. Es gibt keine Solidarisierung mit Frankreich in diesem Fall. Es gibt keine Kritik an der Türkei. Stattdessen gibt es weiter Waffenlieferungen seitens Deutschlands an die Türkei, auch U-Boote fürs Mittelmeer. ({1}) Auch in diesem Antrag sind keine Aussagen zur Türkei als Embargobrecher enthalten, ganz so, als sei die Türkei, die das Embargo bricht, nicht die Türkei, die Mitglied in der NATO ist, als seien das zwei verschiedene Staaten und nicht derselbe Staat. Sehr geehrte Damen und Herren, was ist Irini? Um diese Frage zu beantworten, muss man, glaube ich, zunächst einmal sagen, was Irini nicht ist. Irini ist definitiv kein Einsatz zur effektiven Durchsetzung des UNO-Waffenembargos. Irini ist letztendlich eine Farce, eine Farce, weil sie von der Türkei und anderen Staaten durchbrochen wird, eine Farce, für die der deutsche Steuerzahler 32 Millionen Euro zahlen wird. Was ist denn nun Irini? Nun, die EU-Operation Irini und die NATO-Operation Sea Guardian sind nichts anderes als Show-of-Force-Einsätze, das heißt die Demonstration maritimer Macht im Mittelmeer seitens der NATO und der Europäischen Union, nicht mehr und nicht weniger. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Neu. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren haben in Libyen Menschen mit so viel Mut und so viel Hoffnung gegen die Herrschaft des Diktators al-Gaddafi protestiert. Die Realität, ihre Realität, war seitdem immer wieder von Gewalt und brutalen Machtkämpfen, von Korruption und Staatszerfall geprägt. Den Mut und die berechtigten Hoffnungen haben wir aber auch zehn Jahre später nicht vergessen; sie sind uns nicht gleichgültig, sondern auch heute noch Inspiration und Ansporn. Lange fehlte eine gemeinsame Strategie der europäischen Staaten. Das hat ein gefährliches Vakuum in unserer Nachbarschaft hinterlassen. Staaten wie Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei oder Ägypten haben das ausgenutzt und immer wieder skrupellos ihre eigenen Interessen verfolgt. Sie haben trotz des Waffenembargos der Vereinten Nationen Bürgerkriegsparteien mit Söldnern und Waffen versorgt, und sie tun es auch noch heute. Viel zu spät, aber besser spät als nie, ist es dann bei der Berliner Konferenz letztes Jahr endlich gelungen, eine gemeinsame Antwort zu finden und die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Wie in so vielen Konflikten auf der Welt ist eines ganz klar: Frieden und Stabilität kann man nicht mit Waffen herbeibomben, sondern dafür braucht es langen Atem, Dialog und Diplomatie. ({0}) Dafür müssen wir diejenigen unterstützen und ernst nehmen, die sich an die Vereinbarungen halten, und den Regelbrechern zeigen, dass ihr Verhalten einen Preis hat. Damit sind wir bei dem Mandat für die europäische Marinemission Irini, deren Kernaufgabe die Überwachung des Waffenembargos zu See, Land und Luft ist. Und das will ich hier ganz klar sagen: Das ist ein richtiger Auftrag. – Er macht aber nicht viel Sinn, wenn die Vereinigten Arabischen Emirate oder Präsident Erdogan wegen ihres Verhaltens nichts zu befürchten haben. Es ist nicht der einzige, aber ein weiterer gewichtiger Grund, Rüstungsexporte an diese Staaten sofort zu stoppen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat hat aber noch ein weiteres Problem: Die Bundesregierung – so steht es im Text – will die libysche Küstenwache ausbilden. Diese wird in Teilen von Milizenführern und Schleppern kontrolliert, Geflüchtete werden abgedrängt, es kommt zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Diese Ausbildung findet derzeit in der Realität zum Glück nicht statt. Aber wir fordern die Bundesregierung auf: Nehmen sie diese falsche Komponente endlich aus dem Mandatstext! ({2}) Auch wenn mutige private Initiativen oder Militärmissionen Tausende von Menschenleben gerettet haben, bleibt es eine Schande, dass es angesichts des Massensterbens im Mittelmeer keine zivile europäische Seenotrettung gibt. Beim Start von Irini haben Österreich und Ungarn sogar darauf gedrängt, einen Mechanismus einzuführen, der zum Stopp führen kann, wenn es zu viel Seenotrettung gibt. Das ist zynisch und menschenverachtend. Die Bundesregierung muss sich davon klar distanzieren. ({3}) Meine Damen und Herren, mit der Regierung der nationalen Einheit und dem angekündigten Wahltermin gibt es vorsichtige Hoffnung. Wenn wir den Erfolg des politischen Prozesses und des Waffenstillstandes wollen, müssen die Europäische Union und die Bundesregierung das auch mit aller Kraft unterstützen. Und das heißt, die Schwächen der Mission Irini zu beseitigen und endlich dafür zu sorgen, dass Embargobrecher und Saboteure nicht länger ohne Konsequenzen ihr Unwesen treiben können. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Gisela Manderla. ({0})

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute debattieren wir über die Verlängerung der Teilnahme Deutschlands an der Mission EUNAVFOR MED Irini. Vorgesehen ist hier der abwechselnde Einsatz einer seegehenden Einheit und eines Seefernaufklärers im östlichen Mittelmeer. Bis zu 300 Soldaten und Soldatinnen können hierbei eingesetzt werden. An dieser Obergrenze wollen wir auch nichts ändern. Meine Damen und Herren, Deutschlands Beitrag zu dieser Überwachungsmission ist nur ein wichtiger Bestandteil seines großen und vielschichtigen Engagements in Libyen; aber er bleibt ein notwendiger Anteil. Unter der Ägide der Vereinten Nationen hat Deutschland bereits als Initiator der Berliner Libyen-Konferenz maßgeblich dazu beigetragen, den politischen Lösungsprozess in Libyen voranzutreiben. Das wesentliche Ziel ist, einen Weg aus der militärischen Eskalation zu finden und einen innerlibyschen Versöhnungsprozess zu schaffen. Dieser Weg wurde begonnen, aber das Ziel bis heute leider noch nicht zufriedenstellend erreicht. Doch nach dem Waffenstillstand besteht diesbezüglich durchaus Hoffnung. Es lohnt sich, dieses zarte Pflänzchen der Hoffnung zu hegen und in unseren Bemühungen nicht nachzulassen. Erzielte Fortschritte müssen untermauert und neue geschaffen werden, meine Damen und Herren. Es galt und es gilt, die äußere Einflussnahme jener Länder zu unterbinden, die in diesem zerrütteten und schamlosen Stellvertreterkrieg versuchen, auf Kosten Libyens ihre egoistischen Interessen und Vorteile durchzusetzen. ({0}) Indem wir den Waffenschmuggel auf See verhindern oder vielmehr effektiv aufdecken, bietet sich die Gelegenheit, jene Länder, die gegen das Waffenembargo verstoßen, einem erhöhten Druck durch die internationale Gemeinschaft auszusetzen. Allein das kann etwas bewirken, so hoffe ich zumindest. ({1}) Diplomatische Anstrengungen reichen hierbei leider nicht aus; das haben uns die Entwicklungen der letzten Monate gezeigt. Eine militärisch getragene Mission wie Irini bleibt daher unerlässlich. Eine Teilnahme Deutschlands an ihr ist umso wichtiger, da unser Land bereits direkt und erfolgreich auch auf anderen Wegen Lösungen sucht. Mit der Fortsetzung dieser Mission folgen wir darüber hinaus der festen Zusage der EU, die Einhaltung des Waffenembargos zu überwachen. Hier kommen wir zu einer weiteren Tatsache, die die Teilnahme an Irini schlicht und einfach gebietet, meine Damen und Herren: Mit seiner Partizipation kommt Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union aktiv seiner Verpflichtung nach, einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein konkretes Gesicht zu geben. Diese Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollten wir unbedingt weiterhin verfolgen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich empfehle meinen Kolleginnen und Kollegen, diesem Einsatz der Bundeswehr zuzustimmen – ich danke allen Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich –, genauso wie dem Einsatz Atalanta, den wir gleich noch diskutieren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darüber reden wir später.

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und morgen geht es um den Einsatz in Afghanistan. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gisela Manderla. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Vor zehn Jahren versank Libyen in einem Bürgerkrieg, der das Land ins Chaos stürzte. Seitdem ist dieses Land zum geopolitischen Spielfeld geworden. Die Anfang des Monats eingeschworene Übergangsregierung hat die Aufgabe, diesen Bürgerkrieg zu beenden und das Land zu Wahlen im Dezember zu führen. Ich darf noch einmal zusammenfassend sagen: Diese Übergangsregierung ist das Ergebnis langer Friedensbemühungen, bei denen der Berliner Prozess und die Berliner Libyen-Konferenz wichtige Bausteine waren. Sie ist auch das Ergebnis der vielen vertrauensbildenden Maßnahmen, die nach dem Waffenstillstandsabkommen im Oktober letzten Jahres umgesetzt wurden. Und sie ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Denn bei allen offenen Fragen und Herausforderungen können wir doch eines festhalten: Das Waffenstillstandsabkommen und der Friedensprozess verschaffen der notleidenden libyschen Bevölkerung eine Perspektive. Aber natürlich müssen die Herausforderungen weiter benannt werden: Immer noch sind Tausende ausländische Kräfte und Söldner im Land. Terroristische Organisationen, kriminelle Schmuggler und Schleusernetzwerke operieren weiterhin fast ungehindert in Libyen und aus Libyen heraus. Und gegen das Waffenembargo wird verstoßen; Waffen, Material und Kämpfer erreichen die Kriegsparteien. Für dieses Waffenembargo ist die EU-geführte Mission Irini ein wichtiger Beitrag, eine Komponente. Sie unterstreicht auch, dass die Europäische Union sicherheitspolitisch vor ihrer Haustür handlungsfähig ist. Diese militärische Präsenz im Mittelmeer ist wichtig, um Schleusernetzwerke zu bekämpfen, die illegale Ausfuhr von Öl zu unterbinden und natürlich um Waffenlieferungen zu verhindern. Und diese Präsenz ist auch für Aufklärungsergebnisse wichtig. Für diesen Einsatz danke ich allen Soldatinnen und Soldaten. ({0}) Meine Damen und Herren, wir müssen die Situation in Nordafrika ganzheitlich betrachten und Lösungsansätze finden. Instabilität im Norden Afrikas befördert Flucht, Migration und Terrorismus. Das wollen wir bekämpfen, dem wollen wir entgegenwirken. Die Mission Irini ist da ein Baustein, mit dem wir fortfahren müssen. Frieden in Libyen ist nur möglich, wenn weniger Waffen ins Land geschmuggelt werden. Dazu trägt die Mission Irini bei, auch mit Abschreckung, auch mit Show of Force. Sie ist eine wichtige Mission. Ich bitte um weitere Zustimmung im Verfahren. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Erndl. – Damit schließe ich die Aussprache.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie gibt es eine wichtige Erkenntnis, die Erkenntnis, dass unser Bildungssystem schlecht aufgestellt ist, dass es soziale Spaltung und soziale Ungleichheit sogar verschärft und dass es dramatische Folgen hat, wenn der Zugang zu Bildung für Kinder und junge Menschen eingeschränkt ist. ({0}) Diese Erkenntnis ist jetzt da. Alle wissen: Daran muss sich jetzt schnellstens etwas ändern. Jetzt ist die Bildungspolitik gefragt. Aber aus dem Bildungsministerium kommt nichts, keine Vorschläge, keine Initiativen von Frau Karliczek, wie man das Bildungssystem jetzt auf Vordermann bringen könnte. Sie ist noch nicht einmal bei dieser Debatte heute hier – das ist wirklich unglaublich –, dabei wäre das jetzt der Job der Ministerin. ({1}) Was wir an Schulen und Hochschulen in diesen Tagen erleben, ist nicht nur eine Extremsituation unter den Bedingungen einer Pandemie, sondern auch das Ergebnis einer neoliberalen Bildungspolitik und das Ergebnis einer kurzsichtigen Sparpolitik durch Einführung der Schuldenbremse. Spätestens jetzt ist doch klar geworden, dass die Schuldenbremse in Wahrheit vor allem die Investitionen in die öffentliche Infrastruktur gebremst hat, dass sie die bitter nötigen Investitionen in unser Bildungssystem verhindert hat. Die Schulen und Hochschulen wurden buchstäblich kaputtgespart. ({2}) Das war ein fataler politischer Fehler, der uns jetzt auf die Füße fällt. Es ist höchste Zeit, ihn zu korrigieren, und zwar nachhaltig zu korrigieren. ({3}) Viele Schulen und Hochschulen sind in einem miserablen Zustand. Es fehlt manchmal an allem – das sehen wir jetzt –: Es fehlt an warmem Wasser, an funktionierenden Toiletten. Die Fenster lassen sich nicht öffnen; von Lüftungsanlagen möchte ich gar nicht sprechen. Es gibt nicht genügend Steckdosen, kein WLAN. Die meisten Gebäude sind nicht barrierefrei, und die Räume reichen nicht aus, um kleinere Klassen zu schaffen oder endlich flächendeckend den Ganztagsbetrieb zu ermöglichen. Der Investitionsstau an Schulen und Hochschulen beläuft sich auf rund 80 Milliarden Euro – 80 Milliarden Euro –, und das ist noch konservativ geschätzt. Die Mittel, die Sie für den Schulbau mit dem Kommunalinvestitionsförderungsgesetz bereitstellen, sind nur ein Bruchteil dessen, was benötigt wird. Es war ein kompletter Irrsinn, dass die gemeinsame Finanzierung des Hochschulbaus durch Bund und Länder im Jahr 2006 aufgegeben wurde. Das hatte nämlich gut funktioniert. Seither funktioniert es nicht mehr, und das darf nicht so bleiben. ({4}) Es ist völlig offensichtlich: Wir brauchen die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen. Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern für die Bildung muss endlich vollständig fallen. ({5}) Wir brauchen die Gemeinschaftsaufgabe Bildung; nur so bekommen wir das Problem in den Griff. Und es braucht ein Förderprogramm für die Hochschulen, mit dem auch der Bund notwendige Mittel für die Sanierung und den Neubau von Gebäuden zur Verfügung stellt. Ich würde jetzt gerne Frau Karliczek fragen – wenn sie denn da wäre –, die an dieser Stelle immer gerne argumentiert, dass sie dafür gar nicht zuständig ist. ({6}) Ganz ehrlich: Das kann kein Mensch mehr nachvollziehen, kein Mensch. Die Menschen wollen – und damit haben sie recht, und ich finde, darauf haben sie auch ein Recht –, dass das Bildungssystem funktioniert, und zwar gut und überall und für alle Menschen in diesem Land. ({7}) Mitten in einer Jahrhundertpandemie darf es kein Weiter-so geben. Kolleginnen und Kollegen, eine gute Bildungspolitik war selten wichtiger als jetzt. Aber diese Regierung duckt sich weg. Wenn Frau Karliczek das Ziel hat, als unauffälligste Ministerin aller Zeiten in die Geschichte einzugehen, dann muss ich das nicht verstehen; es kann mir herzlich egal sein. ({8}) Nicht egal ist es mir aber, dass Frau Karliczek und diese Regierung die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern, die Lehrenden und die Studierenden im Regen stehen lässt und diese Krise noch mal dazu führt, dass der Zugang zu Bildung von der sozialen Herkunft abhängt. Das darf man nicht hinnehmen, und das wird Die Linke auch nicht hinnehmen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicole Gohlke. – Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Astrid Mannes. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Wir diskutieren nun seit Monaten über die Kompetenzfrage im Bildungsbereich, die jedoch klar geregelt ist und die man durch noch so viele Debatten nicht um- oder wegdiskutieren kann. Und wir müssten das auch nicht immer wieder neu diskutieren, wenn die Linke und auch die FDP mal akzeptieren würden, wofür die Länder und wofür der Bund zuständig sind. Auch heute diskutieren wir auf Bundesebene wieder über Luftfilter, funktionstüchtige Toiletten oder den Mangel an Steckdosen. Ich halte es für klug, dass gewisse Dinge auf den Ebenen geregelt werden, wo man näher dran ist, und dass sich der Bund nicht im Klein-Klein verliert. ({0}) Zu der Forderung der FDP, der Bund solle die Hochschulen insbesondere bei der digitalen Lehre unterstützen, ist zu sagen, dass dies wieder originäre Aufgabe der Länder ist. Diese verfassungsrechtlich festgeschriebene Aufgabenverteilung sollten gerade wir als Bundespolitiker auch akzeptieren. ({1}) Dort, wo der Bund Handlungsmöglichkeiten hat, hat die Bundesregierung diese bereits genutzt, zum Beispiel mit dem Hochschulforum Digitalisierung. Dieses Forum berät bundesweit Hochschulen und Hochschullehrende dabei, analoge Lehrformate auf digitale umzustellen. Es fördert den Austausch und macht erfolgreiche Beispiele aus der Hochschullehre sichtbar. Die Beratung umfasst auch Fragen zum Datenschutz und zum Urheberrecht. Ich erinnere ebenfalls an den Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“, mit dem vereinbart wurde, dass Bundesmittel zur Digitalisierung von Studium und Lehre eingesetzt werden. Der Antrag der Linken stellt auf die Sanierung und Modernisierung der Hochschul- und Schulgebäude ab. Der Bund unterstützt Kommunen und Länder bereits bei ihren Aufgaben mit dem 2015 errichteten Kommunalinvestitionsförderungsfonds in Höhe von insgesamt 7 Milliarden Euro. Darin enthalten sind 3,5 Milliarden Euro für die Sanierung, den Umbau oder die Erweiterung von Schulgebäuden ({2}) auf Grundlage des Artikels 104c Grundgesetz. Nicht nur die Ausstattung und die Sanierung von Schulen sind Aufgaben der Länder oder der Kommunen als Schulträger. Auch der Betrieb der Schulen einschließlich der Umsetzung von Hygienemaßnahmen liegt in der alleinigen Zuständigkeit der Länder bzw. der Kommunen als Schulträger. Im Bereich des Hochschulbaus ist eine Unterstützung des Bundes lediglich bei Forschungsbauten einschließlich Großgeräten möglich und wird entsprechend auch praktiziert. Der Bund stellt im Rahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe seit 2007 jährlich 298 Millionen Euro zur Verfügung. Der Bund hat die Länder beim BAföG bereits vollständig entlastet. Seit 2020 erhalten die Länder zusätzliche Umsatzsteueranteile. Auch die Kommunen wurden durch die Gewerbesteuerkompensation im Rahmen des Nachtragshaushaltes 2020 ordentlich unterstützt. ({3}) Über die große, milliardenschwere Unterstützung der Länder im Bereich der Digitalisierung der Schulen haben wir an dieser Stelle schon mehrfach gesprochen. Die Unterstützung der Länder durch den Bund im Bereich des Kitaausbaus, des ÖPNVs – hier möchte ich vor allem auf die Vervielfachung der GVFG-Mittel hinweisen –, im sozialen Wohnungsbau und künftig auch im Bereich der Ganztagsbetreuung an Grundschulen möchte ich nicht unerwähnt lassen. Der Bund unterstützt die Länder im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten also an sehr vielen Stellen bei ihren eigenen, originären Aufgaben. Ich denke, dies sollten wir auch mal anerkennen und nicht immer nur einseitig mehr fordern. Die Union lehnt daher die hier vorliegenden Anträge ab. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Astrid Mannes. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Für unseren besten Mathelehrer; wir werden Sie sehr vermissen“ stand auf dem Schild und darunter in Klammern: „Scheiß Corona“. Es stimmt mich nachdenklich und traurig, wenn ich mir vorstelle, ({0}) dass dieser Lehrer vielleicht noch hätte leben können, wenn er nicht in Berlin, sondern in Israel gelebt hätte. Meine Damen und Herren, zu den Anträgen. Die Anträge adressieren Probleme, für die zum großen Teil die Länder zuständig sind; Frau Dr. Mannes hat es schon erwähnt. Die Linke will Investitionen in den Bau von Schulen und Hochschulen. Die FDP legt einmal mehr die Platte auf, die wir hier schon seit vier Jahren hören: mehr Digitalisierung, dieses Mal zur Abwechslung an den Hochschulen – immerhin. Meine Damen und Herren, sowohl Die Linke als auch FDP und Grüne, die hier immer dazwischenquäken, ({1}) sind ja an Landesregierungen beteiligt. Dann müssen Sie sich schon mal fragen lassen: Was haben Sie denn eigentlich in den Ländern, wo Sie regieren bzw. mitregieren, im Bildungswesen bisher erreicht? Sieht es denn dort wesentlich besser aus? Wir alle kennen die Antwort. Sie lautet: Nein. ({2}) Schon in der Analyse liegen Sie übrigens in Ihren Anträgen falsch. Was den Bau von Schulen anbelangt, so mangelt es vor allem nicht an Geld, sondern am politischen Willen, es richtig einzusetzen. Ein Blick in den Bildungsfinanzbericht von 2020 wäre hier aufschlussreich gewesen. Die Pläne der öffentlichen Haushalte sahen für 2020 Bildungsausgaben in Höhe von fast 160 Milliarden Euro vor. Die öffentlichen Bildungsausgaben pro Einwohner lagen 2019 rund 39 Prozent über dem Niveau von 2010. Und durch die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen von 2017 – Kollege Rehberg ist heute nicht da; er erwähnt das auch immer zu Recht – stehen den Ländern ja jährlich 10 Milliarden Euro mehr für Bildung zur Verfügung, wenn sie denn wollen. Es ist also eigentlich genug Geld im System; es wird nur falsch eingesetzt. ({3}) Wenn man die Milliarden natürlich lieber in Digitalisierungsprojekte steckt, deren pädagogischer Nutzen mehr als fragwürdig ist, dann muss man sich nicht wundern, wenn auf der anderen Seite das Geld für die Neueinstellung von Lehrern, den Neubau sowie die Sanierung von Schulgebäuden fehlt. Was uns beim Antrag der Linken einmal mehr irritiert, ist Ihre Sorglosigkeit beim Umgang mit unserer Verfassung. Schon wieder wollen Sie ein angebliches Kooperationsverbot abschaffen, das es so gar nicht gibt, und den Ländern Kompetenzen streitig machen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das hier ganz deutlich sagen: Der föderale Aufbau unseres Staates gehört zu den Kernbereichen unseres Grundgesetzes, und wir sollten ihn nicht antasten. ({4}) Wenn Sie den Ländern letztlich die Zuständigkeit für die Bildung entreißen wollen, dann rütteln Sie damit an den Grundfesten unserer demokratischen Ordnung. Wir machen das nicht mit. Worauf Sie hinauswollen, ist doch vollkommen klar: Ihnen schwebt eine zentralistische Steuerung unseres Bildungswesens vor, wie wir sie aus der DDR kennen. ({5}) Alle demokratischen Fraktionen dieses Hauses sollten sich diesem Ansinnen entgegenstellen. ({6}) Die Bildung wird von zwei Seiten in die Zange genommen: Auf der einen Seite ist es die FDP, die Bildung zur Ware machen will, und dazu ist ihr die Digitalisierung der Schlüssel. Auf der anderen Seite sitzt Die Linke; sie will die digitalen Systeme mit ihrer zentral gesteuerten Gender- und Gleichheits-, Quoten- und Umverteilungsideologie füllen. SPD und CDU leisten nach Jahren ideologischer Gehirnwäsche nur noch geringen Widerstand, schauen dem Treiben zu oder machen sogar mit, weil sie das für modern halten. ({7}) Meine Damen und Herren, um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Wir sind sehr für Gleichberechtigung; wir sind für das Leistungsprinzip. Aber wenn Sie Ergebnisgleichheit als Ziel postulieren wollen, dann sind Sie mehr bei Margot Honecker und nicht bei Wilhelm von Humboldt, für den wir stehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Dr. Götz Frömming. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Wiebke Esdar. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr Geld für Bildung, das ist das Gebot der Stunde. Wir brauchen mehr Räume, mehr Ausstattung. Wir brauchen gut bezahltes Personal. Das hat uns die Coronapandemie noch einmal sehr deutlich gezeigt. Kinder, Jugendliche, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende, sie alle brauchen einen Ort, an dem sie lernen können, an dem sie sich austauschen können, an dem sie zusammenkommen. Da reichen nicht der Küchentisch, das Jugendzimmer oder die Studi-WG. ({0}) Das ist nicht neu, aber durch die Coronapandemie ist das umso eindringlicher deutlich geworden. Darum – wenn wir uns ehrlich machen – legt die Opposition heute den Finger in eine altbekannte Wunde. Wir haben bei den Hochschulen einen massiven Sanierungsstau, und wir haben einen dringenden Bedarf, die Hochschulen besser zu digitalisieren. ({1}) Nun haben wir auch mit Anja Karliczek leider eine Bundesbildungsministerin, die sich für so vieles nicht richtig zuständig fühlt. Weil es aber auf Dauer nicht reicht, immer wieder nur auf die Länder zu verweisen, finde ich es gut und richtig, dass wir heute im Bundestag auch über mehr Geld für Bildung sprechen. ({2}) Als SPD-Fraktion machen wir dazu konkrete Vorschläge. Die SPD will mehr Geld für Hochschulbildung, und es ist nicht so, dass da nichts passiert wäre. Ein Erfolg ist beispielsweise der „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“. Mit dem sind wir als Bund endlich dauerhaft in die Grundfinanzierung der Hochschulen eingestiegen – auf Druck der SPD. ({3}) Doch der Bund muss mehr tun, um gemeinsam mit den Ländern mehr zu erreichen. ({4}) Uns sind dabei fünf Punkte wichtig. Erstens. Wir brauchen eine Digitalisierungspauschale für Hochschulen: für Infrastruktur, Wartung und digitale Lehre. Das hat uns Corona sehr deutlich und schonungslos gezeigt. ({5}) Zweitens. Wir brauchen mehr Gelder – eine Verdoppelung der Gelder – für die Stiftung Innovation in der Hochschullehre, weil wir auch da gerade sehen, wie erheblich der Bedarf an innovativen Lehrformaten ist. ({6}) Drittens. Wir müssen den Sanierungsstau an den Hochschulen auflösen. Aus diesem Teufelskreis werden die Länder nicht alleine herauskommen. ({7}) Viertens müssen wir das BAföG updaten und ausbauen, um zu mehr Chancengleichheit zu kommen. Da wird es vor allem darauf ankommen, dass endlich wieder mehr Schülerinnen und Schüler, Studierende, Azubis BAföG bekommen. Wir müssen es aber auch flexibler gestalten und anpassen an das lebensbegleitende Lernen. Es muss leichter zu beantragen sein, und wir brauchen die Perspektive zum Vollzuschuss, weil wir während Corona noch einmal gesehen haben, wie hoch die Angst vor Verschuldung ist. ({8}) Fünftens brauchen wir einen Hochschulsozialpakt. Wir brauchen mindestens 100 000 neue Wohnheimplätze für Studierende bis 2030; ({9}) denn wer kein Dach über dem Kopf hat, der kann keine Spitzenleistungen im Studium erbringen. Fünf Punkte, bei denen wir tätig werden wollen, bei denen wir tätig werden müssen, ({10}) fünf Punkte, bei denen die Bildungsministerin und die CDU/CSU auch aktiv werden könnten, fünf Punkte, bei denen Sie uns als SPD an Ihrer Seite wissen! ({11}) Um das aber auch klar zu sagen: Es darf nicht wieder so laufen wie beim DigitalPakt, bei dem erst Olaf Scholz dafür gesorgt hat, dass die leeren Versprechungen von den Ministerinnen Wanka und Karliczek mit Geld hinterlegt worden sind. ({12}) Ich bin der Überzeugung, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler endlich eine Bundesregierung, eine Bundesministerin und auch eine Union brauchen, die auch im Bund für ihre Interessen kämpfen. Darum will ich ehrlich sagen: Wir reichen Ihnen die Hand, um jetzt noch zu handeln. Ich sage aber auch ganz klar: Wenn Sie sich dagegen sperren, dann kämpfen wir in der nächsten Wahlperiode für andere Mehrheiten, die das dann anpacken. Herzlichen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Wiebke Esdar. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Peter Heidt. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert in ihrem Antrag mehr Geld für den Schul- und Hochschulbau und schlägt eine Grundgesetzänderung zur Aufhebung des Kooperationsverbotes vor. Dieses Ansinnen unterstützen wir. Wir Freien Demokraten fordern schon länger eine Grundgesetzänderung. Wir brauchen ein Kooperationsgebot und kein –verbot. ({0}) Frau Dr. Mannes, Sie ducken sich doch weg. Die Kollegin Dr. Esdar hat das anscheinend begriffen. Niemand hindert die Union daran, hier gemeinsam mit uns etwas auf den Weg zu bringen und damit etwas zu tun, um den Ländern und Kommunen zu helfen. Es geht hier nicht um irgendwelche juristischen Klimmzüge. Es geht um unsere Kinder, und da sollten Sie auch einmal über den Tellerrand schauen. ({1}) Erinnern Sie sich an unsere Debatte zu Luftfiltern im November 2020? Seitdem ist wertvolle Zeit verstrichen. Gibt es Verbesserungen? Nein, nicht wirklich. Ich frage die Koalition, wann Sie endlich auf den Trichter kommen, dass die fehlenden Mittelabflüsse vor allen Dingen an der überbordenden Bürokratie liegen, die auch Sie zu verantworten haben. ({2}) Ein typisches Beispiel aus Hessen: Ein Schulträger in Hessen bekommt Mitte März den Bewilligungsbescheid für die Anschaffung von Mitteln für Coronaschutzmaßnahmen, abzurechnen bis April 2021 – ambitioniert –, aber nur für Anschaffungen von Schutzmaßnahmen ab Oktober 2020, also des Vorjahres. Das heißt, alles, was vorher gemacht worden ist, fällt heraus. Diejenigen, die schlau waren und vorzeitig etwas getan haben, fallen hinten herunter. Wir müssen alles daransetzen, dass unsere Kinder trotz der Pandemie ihren Anspruch auf eine gute Bildung erfüllt bekommen; denn unsere Kinder gehören zu den großen Verlierern in dieser Krise. Wir Freien Demokraten sind zutiefst davon überzeugt, dass das Offenhalten der Schulen eine extrem hohe Priorität hat. ({3}) Mich erschüttert wirklich die Gleichgültigkeit der Union, mit der Sie über die massiven Probleme im Bereich der Schule hinweggehen. ({4}) Das in Deutschland lange herrschende Problem der starken Abhängigkeit des Bildungserfolges vom Elternhaus wird durch die Schulschließungen extrem verschärft. Ich besuche viele Schulen, rede mit Schülern, Schülerinnen, Lehrern und Eltern – gerade in sozialen Brennpunkten. Die Probleme sind wirklich massiv. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit Monaten sind Läden, Restaurants, und Hotels geschlossen. Wir zahlen Milliardenbeträge zum Ausgleich der entstehenden Einbußen. Und wir haben nicht 250 Millionen oder 500 Millionen Euro für Luftfilter? Lieber zahlt Herr Spahn 2 Milliarden Euro an Apotheken für FFP2-Masken zu viel? Was für eine miese, schlechte Prioritätensetzung! ({5}) Luftfilter sind kein Allheilmittel, aber sie sind ein wichtiger Mosaikstein, um das öffentliche Leben zu ermöglichen und Schulen offen zu halten. Unser Ziel muss es doch sein, intelligente technische Lösungen zu erarbeiten, und nicht, wie im Mittelalter einfach ideenlos alles zu schließen und auf den lieben Gott zu hoffen. Eine Hanauer Firma hat – das ist ein hervorragendes Beispiel – einen Luftfilter entwickelt. Diese Luftreiniger zerstören Viren sofort und zuverlässig, zu 99 Prozent; unter anderem das Fraunhofer-Institut bestätigt das. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Keine Randale! – Und Sie kommen bitte zum Ende der Rede.

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Egal ob im öffentlichen Nahverkehr, in Schulen oder in großen Betrieben, diese Geräte sind maßgeschneidert und können überall eingesetzt werden. In Hanau geschieht das schon. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, bitte nehmen Sie im Interesse unserer Kinder Vernunft an. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Heidt. – Herr Rossmann, Ihnen ist aber nichts passiert? – Mir ist auch schon einmal etwas heruntergefallen; das kennen wir. ({0}) Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Margit Stumpp. ({1})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mir ging es gerade wie der Präsidentin. Auch ich habe im ersten Moment einen Schreck bekommen und gedacht, den Kollegen hat es bei so viel Einigkeit vor Schreck vom Hocker gehauen. Der erste Lockdown hat schon offenbart, wie sehr die Bildungschancen und die wichtigen Sozialräume Schule und Kita eingeschränkt werden, wenn Bildungs- und Betreuungseinrichtungen geschlossen sind. Jetzt erleben wir den dritten Lockdown, und immer noch wird viel zu wenig getan, um Schulen und Kitas bei ihren Vorkehrungen zur Sicherstellung einer sicheren Betreuungs- und Lernumgebung zu unterstützen. Die Zahl der Infektionen von und durch Kinder und Jugendliche hat durch die Mutanten zugenommen, und trotzdem lehnt die Koalition jede zusätzliche Maßnahme ab, um das Recht auf Bildung unserer Kinder zu sichern. Begründung – das haben wir gerade gehört –: Wir sind nicht zuständig. – Das heißt, das Haus brennt lichterloh, und ein Teil der Feuerwehr streikt. Das ist unterlassene Hilfeleistung. ({0}) Wir brauchen doch gerade jetzt das ganze Repertoire an Maßnahmen, um Kinder, Jugendliche, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte zu schützen. Dazu gehört auch eine durchdachte Teststrategie vor Ort. Versprochen wurde viel. Unser Antrag in der letzten Sitzungswoche dazu wurde abgelehnt. Umsetzung der großspurigen Ankündigungen von Herrn Spahn? Fehlanzeige! Immer noch sind Schulen, Kitas und Träger auf Eigeninitiative angewiesen. Das ist wieder unterlassene Hilfeleistung. Noch einmal: Geeignete Luftfilter können dabei helfen, die Virenlast deutlich zu reduzieren. Sie können zur Eindämmung des Infektionsgeschehens und zur Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts und der Betreuung beitragen; denn a) geht Lüften immer noch nicht überall, und b) reicht es nicht. Das bestehende Förderprogramm des BMWi mit dem eingeschränkten Fokus auf Aufrüstung bestehender stationärer Filteranlagen greift nicht; das zeigt der schleppende Mittelabruf. Nicht einmal 60 Schulen haben bis jetzt davon profitiert. Genau das haben wir vorhergesagt. Die meisten Schulen haben keine stationären Filter, und wer welche hat, der baut sie doch nicht in der kalten Jahreszeit um. Mobile Luftfilter können sofort zum Einsatz kommen und neben anderen zeitgleich zu verfolgenden Maßnahmen einen wichtigen Baustein in der Pandemiebekämpfung in Schulen und Kitaräumen leisten. ({1}) Das Programm muss von Wirkungsforschung begleitet werden, um in Zukunft die Virenlast an Schulen zielführender zu reduzieren und grundsätzlich die Luftqualität zu verbessern. Angesichts des deutlich größeren Infektionsrisikos sollen von dem Förderprogramm für mobile Luftfilter in den Schulen vor allem solche Schulen zeitnah profitieren, in denen sich Klassenräume eben nicht pandemiegerecht lüften lassen, und dort, wo Kommunen als Träger nur über geringe finanzielle Spielräume verfügen. Die zwingende Voraussetzung für Bildungserfolg ist erteilter Unterricht. Sorgen wir dafür, dass er auch stattfinden kann, und zwar jetzt! ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margit Stumpp. – Der nächste Redner steht schon da. Für die CDU/CSU-Fraktion: Andreas Steier. ({0})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise hat die Herausforderungen an den Bildungsföderalismus noch einmal deutlich sichtbar gemacht. Wichtig dabei ist, die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Das bedeutet auf der einen Seite: Wo kann der Staat sinnvoll ansetzen, um bessere Lösungen für die Menschen vor Ort zu finden? Auf der anderen Seite ist das die Frage: Wo führt Eigeninitiative zu besseren Lösungen für die Menschen vor Ort, und wo kann der Staat hier Anreize setzen? Der Antrag der Linken ist mal wieder typisch: Der Bund soll alles richten: Es werden zusätzliche Milliarden für den Schulausbau in den Ländern gefordert; dazu soll das Kooperationsverbot für Bund und Länder aufgehoben werden. Damit wären wir wieder einmal auf dem Weg zum Zentralismus. Das Geld ist ja nicht Ihr Geld; das kann ruhig weiter mit der Gießkanne ausgeschüttet werden, wie im Einheitsstaat üblich. Meine Erfahrungen in der Krise lehren mich aber etwas anderes. Dort, wo umsichtige Schulleiter vor Ort sich früh Gedanken gemacht haben, gibt es meist heute schon Leuchttürme in der Bildung. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie – – Sie haben es gesehen.

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Machen wir nachher.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. – Nachher, Frau Gohlke.

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dort, wo Eigeninitiative vor Ort unterstützt wurde, kam man am besten durch die Krise. Von daher ist das Gebot der Stunde nicht mehr Staat und mehr Zentralismus, sondern Förderung und Unterstützung vor Ort. ({0}) Und ja, manchmal braucht es auch eine unterstützende Finanzspritze. Wir haben – meine Kollegin Astrid Mannes hat es eben schon gesagt – bereits vor sechs Jahren Geld mit dem Kommunalinvestitionsförderfonds gegeben. Die Hälfte der Mittel, 3,5 Milliarden Euro, stehen gezielt für die Sanierung von Schulen in finanzschwachen Kommunen zur Verfügung. Hier wurden bei Weitem noch nicht alle Mittel abgerufen – Stand heute: 20 Prozent der Mittel –, und das Programm läuft noch weitere zwei Jahre. Bevor wir da einfach so etwas nachschießen, wäre es vielleicht angebracht, dass die Länder dieses Geld mal vor Ort investieren würden. Mein Fazit: Eigenverantwortung statt bürokratischem Zentralismus. ({1}) Damit bin ich gleich bei der FDP-Fraktion. Auch Ihnen, liebe Kollegen der FDP, fällt wieder nichts Besseres ein, als nach dem Bund zu rufen. Damit unterscheiden Sie sich kaum noch von der Linkspartei, die hier auch einen Einheitsstaat fordert. ({2}) Waren Sie nicht einmal eine Partei des Wettbewerbs, des Wettstreits um die besten Ideen? ({3}) Wäre es da nicht besser, die zuständigen Stellen, die Bundesländer, mit Ihrem Antrag anzusprechen? Über Lehrpläne und technische Ausstattung wissen doch die Hochschulen vor Ort viel besser Bescheid; da brauchen wir die nicht von Berlin aus zu belehren. Wo der Bund allerdings ein Wort mitzureden hat, da haben wir bereits in der Vergangenheit mit vielen Programmen unterstützt. Beispiel: Hochschulforum Digitalisierung. Hier wird geholfen, analoge Lehrformate auf digitale umzustellen, und da wird schon längst über Datenschutz gesprochen, wie es die FDP in ihrem Antrag fordert. Zweites Beispiel: Stiftung Innovation in der Hochschullehre. 150 Millionen Euro gibt der Bund jährlich für eine bessere Vernetzung zwischen den Hochschulen aus. ({4}) Zu guter Letzt, Herr Brandenburg: Auch mit dem „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ verbessern wir die Qualität der Lehre in der Hochschule. In den kommenden zwei Jahren geben wir jährlich 1,8 Milliarden Euro vom Bund an die Länder, und danach geben wir jährlich sogar 2 Milliarden Euro für die Länder aus. ({5}) Für mich ist daher klar: Bevor wir hier neue Finanzpakete schnüren, sollten wir uns erst einmal Gedanken darüber machen, wie die Leute ihrer Verantwortung gerecht werden und die bestehenden Mittel, die jetzt schon im System sind, auch vor Ort umsetzen. Von daher brauchen wir keine Gleichmacherei, sondern eine Stärkung der Eigeninitiative vor Ort. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andreas Steier. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Nicole Gohlke.

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die Linke hat heute einen Antrag eingebracht, dass sich der Bund mehr und besser an der Sanierung und an dem Neubau von Schulen und von Hochschulen beteiligen möge. Sie unterstellen jetzt, Herr Kollege, wir wollten damit den Zentralismus einführen, und es ginge uns um Gleichmacherei. Ich habe in meiner Rede gerade eben zum Ausdruck gebracht, dass wir bis 2006 eine gemeinsame Finanzierung des Hochschulbaus durch Bund und Länder hatten. Jetzt möchte ich Sie ernsthaft fragen, ob Sie eigentlich der Meinung sind, dass wir bis 2006 nicht in einem föderalen Staat gelebt haben. Das wäre meine erste Frage. ({0}) Ich habe eine zweite Frage. In meiner Rede habe ich auch dargestellt, dass wir es an Schulen und Hochschulen mit einem Sanierungsstau von um die 80 Milliarden Euro zu tun haben, davon – konservativ gerechnet – ungefähr 42 Milliarden, 43 Milliarden bei den Schulen und fast die gleiche Summe bei den Hochschulen. Wie genau schaut denn Ihre Antwort aus, wie die Länder und die Kommunen das in naher Zukunft bewältigen sollen? Können Sie dazu auch eine Antwort geben? Aus dem Kommunalinvestitionsförderungsgesetz wird diese Summe ja nicht zustande kommen; da sind wir uns wahrscheinlich einig. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Steier, wenn Sie mögen. – Sie mögen, gut.

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Was Sie hier ansprechen, ist die Eigenverantwortung vor Ort. Wir sehen, dass viele Bundesländer ihrer Verantwortung gerecht werden und auch in den Hochschulbau investieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Bundesländer, hier ihrem Investitionsauftrag gerecht zu werden und dort zu investieren, wo es notwendig ist. Wenn wir mehr Zentralismus schaffen, werden wir dadurch nicht die Probleme lösen; vielmehr werden nur dort, wo sich Schulleiter und Hochschulrektoren Gedanken machen, die Mittel auch zielgerecht umgesetzt. Von daher bringt uns eine Gleichmacherei nicht weiter. Wir brauchen wirklich die Initiative vor Ort, und dort finden wir dann die besseren Lösungen. Viele Menschen haben schlaue Köpfe, und wenn wir diese nutzen, dann kommen wir zu besseren Lösungen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Steier und Frau Gohlke. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: für die SPD-Fraktion Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Einsatz mobiler Luftreinigungsgeräte ist in der Pandemiebewältigung sicherlich eine sehr relevante Frage, aber diese betrifft in erster Linie die Zuständigkeit der Länder und Kommunen. Die Kollegin Mannes hat dazu eben schon sehr detailliert ausgeführt. Dennoch hat der Bund bereits in der letzten Wahlperiode über das auch schon mehrfach angesprochene KIP-II-Programm die Möglichkeit geschaffen, in Schulbauten zu investieren. Für raumlufttechnische Anlagen gibt es aktuell übrigens auch ein Förderprogramm aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Auch ich begrüße genau wie meine Kollegin Wiebke Esdar dennoch die heutige Debatte, kann ich doch da mein Augenmerk auf zwei für mich noch sehr zentrale Punkte lenken, die mir, aber auch der SPD besonders wichtig sind. Der erste ist ein Programm gegen Bildungsbenachteiligung; der zweite ist das Thema der digitalen Lernmittelfreiheit. Die Coronapandemie hat uns allen leider sehr eindrücklich vor Augen geführt, dass Bildungschancen in unserem Land immer noch viel zu stark von der sozialen Herkunft der Kinder und Jugendlichen abhängen. Dagegen müssen wir ankämpfen, gemeinsam, mit aller Entschlossenheit und mit aller Kraft, die wir haben. ({0}) Das haben unsere Kinder und Jugendlichen, die Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern, aber natürlich auch die Lehrkräfte und das pädagogische Personal in unseren Schulen verdient. Wir von der SPD sind die, die sich immer für diese Kinder und Jugendlichen eingesetzt haben und auch in Zukunft einsetzen werden, zum Beispiel mit unserem Programm „Schule macht stark“. Dieses Programm ist inhaltlich natürlich nicht so ausgerichtet, dass es uns aus der aktuellen coronabedingten Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern heraushelfen könnte. Dazu ist es auch nie gedacht gewesen; es stammt aus der Zeit vor Corona. Deshalb brauchen wir jetzt eine neue gemeinsame Kraftanstrengung aller Akteure, der Kommunen, der Länder und des Bundes. Wir brauchen einen großen Wurf. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen wir als SPD? Wir brauchen schnell wirkende Maßnahmen. Diese müssen mindestens ein Jahr in Anspruch genommen werden können, und sie müssen mindestens 1 Milliarde Euro umfassen. ({2}) Neben dem Ausbau der Schulsozialarbeit brauchen wir hierzu zusätzliches Personal in unseren Schulen. Dies könnten zum Beispiel FSJler oder Lehramtsstudierende sein. Aber auch die Jugendhilfe und Schulpsychologen müssen wir mitdenken und mit dabeihaben. ({3}) Denn uns allen ist klar – das ist leider sehr, sehr traurig –: Geschlossene Schulen führen eben nicht nur zu Lernrückständen, sondern auch zu psychischen Folgen, über die wir sicherlich morgen hier noch einmal debattieren werden. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, auch bei der Bildung in der digitalen Welt bräuchte es einen etwas größeren Wurf als das, was wir guterweise schon auf den Weg gebracht haben. Was wir nicht brauchen, ist eine Werbeveranstaltung des Bundesbildungsministeriums für Frau Karliczek wie das neulich aus dem Boden gestampfte Format „Initiative Digitale Bildung“, bei der nicht einmal Schülerinnen und Schüler aktiv auf dem Podium mitdiskutieren durften. Um zum Schluss zu kommen: Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten machen keine Showveranstaltung; wir arbeiten in der Sache. ({5}) Wir wollen zum Beispiel, dass alle Schülerinnen und Schüler einen gesicherten Zugang zu einer digitalen Infrastruktur haben, zu Geräten und Internet, auch daheim, und das dauerhaft. Wir brauchen also die digitale Lernmittelfreiheit. ({6}) Digitale Teilhabe darf keine Frage der Herkunft oder des Geldbeutels der Eltern sein. Gehen wir das Ganze gemeinsam an! Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marja-Liisa Völlers. – Damit schließe ich die Aussprache.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch wenn ich nicht aus Niederbayern komme. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sicherheit auf den Weltmeeren – das darf ich an dieser Stelle als Hamburger sagen – ist ein hohes Gut für Deutschland nicht nur als Exportnation und auch von strategischer Bedeutung. Seit 2008 leistet die EU-Marineoperation Atalanta daher ihren Beitrag zur Sicherheit auf den Weltmeeren und auch am Horn von Afrika. Ebenso lange beteiligen sich daran Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr, der Marine, mit Schiffen, Luftfahrzeugen und Führungspersonal. Es ist also auch ihr Verdienst, dass die Schiffe des Welternährungsprogramms und die Mission der Afrikanischen Union in Somalia ihr Ziel sicher erreichen können. Vielen Dank dafür! ({0}) Die Piraterie vor der Küste Somalias wurde in den letzten Jahren dank dieser konsequenten Maßnahmen durch die internationale Gemeinschaft wirksam zurückgedrängt. Ich habe hier im vergangenen Jahr an dieser Stelle, an diesem Pult gesagt, dass die jährliche Verlängerung unseres militärischen Engagements kein Automatismus sein darf. Schon damals war klar, dass sich Atalanta weiterentwickeln muss, um mit der aktuellen Bedrohungssituation Schritt zu halten; denn die Piraten, um die es ja ging, die diesen Einsatz ausgelöst haben, sind nicht einfach verschwunden; sie haben, so könnte man sagen, zum Teil einfach auch ihr Geschäftsmodell verändert. Die einstigen Piraten sind nun Waffenhändler, Drogenschmuggler, sie sind Schleuser und Schlepper. Mit ihren Aktivitäten verletzen sie weiterhin das Waffenembargo, das der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in Bezug auf Somalia verhängt hat. Sie schmuggeln zudem, das wissen wir alle, im großen Stil Drogen über den Indischen Ozean nach Ostafrika; auch das ist ein destabilisierender Faktor. Von dort – auch das ist kein Geheimnis, liebe Kolleginnen und Kollegen – werden diese Drogen weitertransportiert nach Europa, auch hierher zu uns nach Deutschland. Dadurch tragen diese kriminellen Netzwerke mittelbar auch zur Finanzierung terroristischer Organisationen wie al-Schabab in Somalia bei. Deswegen: Der Einsatz der internationalen Gemeinschaft bleibt von großer, von entscheidender Bedeutung. Er ist ein wichtiger Beitrag für die Stabilität Somalias, aber eben auch der gesamten Region. Ich glaube, ich habe eben deutlich machen können, dass er auch etwas mit unserer Sicherheit und Stabilität zu tun hat. Vor diesem Hintergrund hat der Rat der Europäischen Union im Dezember über die zukünftige Ausrichtung von Atalanta beraten. Der Rat hat zweierlei Dinge beschlossen – ich darf das hier einmal kurz skizzieren –: Erstens bleibt der Schutz der Transporte von AMISOM und des Welternährungsprogramms vor Piratenangriffen unverändert – ich glaube, das muss man betonen: unverändert – Kernaufgabe von Atalanta. Wir diskutieren häufig so, als ob eine positive Entwicklung sich einfach fortsetzen würde, wenn wir in unseren Bemühungen nachlassen. Die Erfahrung, meine sehr verehrten Damen und Herren, lehrt uns etwas anderes: Das Wiederaufleben von Piraterie, auch im großen, organisierten Stil, ist keineswegs ausgeschlossen; wir müssen – im Gegenteil – damit rechnen, wenn wir uns nicht weiter engagieren. Zweitens wird die Operation künftig einen Beitrag zur Durchsetzung des Waffenembargos der Vereinten Nationen gegen Somalia und zur Bekämpfung des Drogenschmuggels im Seegebiet am Horn von Afrika leisten sowie ein umfangreiches, umfassendes Lagebild über die Erscheinungsformen der maritimen Kriminalität erstellen. Die Bundesregierung hat die Einführung dieser sogenannten Sekundäraufgaben nachdrücklich unterstützt. ({1}) – Vielen Dank. Wir wollen uns mit den Kräften der Bundeswehr an allen durch die EU mandatierten Aufgaben der Mission beteiligen; ich glaube, das ist auch eine wichtige Botschaft an unsere Partner. Im Rahmen der angestrebten Mandatierung durch Sie, durch den Deutschen Bundestag, wollen wir damit den deutschen Beitrag anpassen. Neben Personal im Operationshauptquartier ist künftig auch die temporäre Beteiligung mit im Einsatzgebiet befindlichen Marineeinheiten vorgesehen. Ich glaube, das ist eine gute Nachricht. Diese Anpassung macht es dann möglich und auch verantwortbar, die Obergrenze des Mandates von 400 auf 300 Soldatinnen und Soldaten abzusenken. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland wird damit auch weiterhin einen maßgeblichen Beitrag zur maritimen Sicherheit am Horn von Afrika leisten, einen Beitrag – das will ich hier noch mal unterstreichen –, der ausdrücklich dem Wunsch der Staaten der Region entspricht, ({2}) weil sie selber gesehen haben, dass es eine konkrete Auswirkung auf die Stabilität in der Region durch dieses Engagement gegeben hat; einen Beitrag, der sich einordnet in das Engagement nicht nur von uns, sondern von etwa 30 Nationen, die in diesem Seegebiet mit Marineeinheiten präsent sind. Das zeigt auch: Das ist kein isolierter Blick Deutschlands auf die Region, sondern tatsächlich eine internationale Bemühung. Während dieser Beitrag unverzichtbar bleibt, müssen wir gleichzeitig anerkennen, dass die tieferen Ursachen für die Gesetzlosigkeit auf See, über die wir hier miteinander sprechen, natürlich auch weiterhin auf dem Lande liegen und dass sie mit nachhaltigen Konzepten angegangen werden müssen. Die Rahmenbedingungen dafür sind – jeder, der das beobachtet, weiß das – denkbar herausfordernd, schwierig, in einigen Bereichen Somalias weiterhin katastrophal. Die innenpolitische Lage bleibt angespannt; der politische Reformprozess, den wir nachdrücklich unterstützen, stockt; Wahlen sind wiederholt verschoben worden; die staatlichen Strukturen bleiben fragil und damit insgesamt die Lage am Horn von Afrika. Und jetzt kommt, wie in so vielen Krisenregionen der Welt, eben auch noch der Einfluss der Coronapandemie hinzu. Aber ich glaube, wir müssen über Corona hinaus auch auf langfristige Trends schauen, sie analysieren und Konsequenzen daraus ziehen, wie beispielsweise auf die Folgen des Klimawandels. Es ist ja kein Zufall, dass diese Region, über die wir hier sprechen, eine so arme Region, ganz besonders auch von einer Heuschreckenplage betroffen ist. Also: Die humanitäre und auch die Ernährungssituation bleiben kritisch, ja sie droht sich zu verschlechtern. Ich weiß, Sie wissen das alles. Aber ich denke, man muss das hier noch mal darstellen, um auch den Rahmen ein bisschen zu beschreiben: Knapp 6 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, in Somalia sind auf Hilfe angewiesen, und wir leisten auch weiterhin Hilfe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entwicklung Somalias zu einem friedlichen und stabilen Staat bleibt eine Langzeitaufgabe; da ducken wir uns nicht weg. ({3}) Dazu gehören eben auch Maßnahmen wie die Unterstützung des Föderalisierungsprozesses und die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir nutzen Mediation; wir nutzen die Kompetenzen, die wir uns selber geschaffen und erarbeitet haben. Und – ich habe das eben erwähnt – wir engagieren uns auch weiterhin im Bereich der humanitären Hilfe; wir leisten mit unseren europäischen Partnern dazu einen Beitrag. Wir versuchen auch, die Sicherheitskräfte zu ertüchtigen und auszubilden, auch im Sinne dessen, was wir an gemeinsamen Werten in der Europäischen Union leben. Das wollen wir hiermit auch vermitteln. ({4}) Deswegen darf ich Sie an dieser Stelle alle ganz herzlich weiter um Unterstützung bitten, nicht nur um die Zustimmung für dieses Mandat. Dieses Mandat ist wichtig, es bleibt wichtig; aber es bettet sich ein in eine langfristige Politik. Ich glaube, die hat es verdient, von uns unterstützt zu werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Lothar Maier, AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Operation Atalanta war erfolgreich; sie hat die ihr vorgegebenen Ziele erreicht. Sie verdiente und verdient weiter unsere Unterstützung. Das, meine Damen und Herren, würde ich gerne mal sagen können über die Operationen in Mali, in Niger – von Afghanistan sicher ganz zu schweigen, wo man sich den Zielen nicht nur nicht angenähert, sondern sich weit von ihnen entfernt hat. Aber immerhin – zunächst einmal bleiben wir bei der Mission am Horn von Afrika –: Die Freiheit Deutschlands wird zwar nicht am Hindukusch verteidigt, aber am Horn von Afrika wurde sie verteidigt, und das mit gutem Erfolg. Die Zahlen für die erste Phase dieser Operation sind erschreckend: Im Zeitraum von 2008, als Atalanta begonnen hat, bis 2012 hat es sage und schreibe 571 bewaffnete Angriffe auf Schiffe gegeben. Manche davon sind abgewehrt worden, manche davon sind abgeschreckt worden durch das Auftauchen von Kriegsschiffen, aber viel zu viele davon waren eben erfolgreich, führten zur Kaperung der Schiffe, zu Geiselnahmen der Besatzungen, die sich oft über viele Monate erstreckten, bis durch Lösegeldzahlungen die Besatzungen befreit werden konnten. Das hat sich dann laufend verbessert: Im Zeitraum von 2013 bis 2017 hat es nur noch zehn solcher Angriffe gegeben, 2018 zwei, 2019 einen und im vergangenen Jahr gar keinen mehr; dort herrscht jetzt Ruhe. Aber das ist keine Garantie dafür, dass dort auch weiter Ruhe herrschen wird. Man wird den abschreckenden Effekt einer solchen Operation noch geraume Zeit aufrechterhalten müssen. Die Marine hat sich mit größeren Einheiten an diesen Operationen beteiligt, auch mit einer beachtlichen Zahl an Soldaten, die über die Jahre auch im Austausch immer wieder daran teilgenommen haben und die gute Erfahrungen sammeln konnten, die ihnen künftig nutzen werden. So weit die positive Bilanz. Aber kein Wenn ohne Aber: Es hat zwölf Jahre gedauert, bis man dahin gekommen ist. Deswegen hat es auch schon sehr früh Kritik an den von vielen als viel zu zögerlich angesehenen Vorgängern gegeben. Es kann bei der Bekämpfung von Seeräuberei einfach nicht ausreichen, nur die Schiffe aufzugreifen, die die Seeräuber tragen und die ihre Angriffe ermöglichen, nicht aber deren Stützpunkte und Ressourcen; das lehrt die ganze Geschichte der Seeräuberei. Wir erleben eine Form von asymmetrischem Krieg: Auf der einen Seite kämpfen brutal vorgehende Piraten gegen Einsatzkräfte auf der anderen Seite, die streng nach rechtlichen Vorgaben ihrer Länder handeln müssen. Auch wenn man sich anschaut, was mit den Piraten geschehen ist, die festgenommen werden konnten, die zum Teil auch Gerichtsverfahren in Deutschland durchlaufen haben: Das ist nicht beeindruckend. Die meisten sind nach wenigen Jahren wieder freigekommen und können sich – es ist erschreckend, was Staatsminister Annen dazu gesagt hat – jetzt weiter betätigen als Schmuggler, als Drogenhändler, als Schlepper und was es an schönen Berufen in dieser Richtung sonst noch gibt. ({0}) Abschreckend jedenfalls wirkt das nicht. Und man muss sich fragen: Was kommt als Nächstes? Werden wir uns jetzt beteiligen müssen an Einsätzen im Zusammenhang mit der Seeräuberei vor Westafrika, in der Straße von Malakka usw.? Wir müssen versuchen, aus den problematischen Erfahrungen zu lernen, die wir bei Atalanta gewonnen haben, und sie bei künftigen Operationen vermeiden. Ich danke Ihnen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Maier. – Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn für die Bundesregierung. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Seegebiet am Horn von Afrika ist die Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien; deshalb ist es für die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas von essenzieller Bedeutung. Gleichzeitig leidet Ostafrika weiterhin unter Instabilität, unter Nahrungsmittelknappheit, unter den Folgen des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie. Viele Menschen in der Region benötigen weiterhin humanitäre Versorgung mit Nahrungsmitteln durch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Diese Hilfe kommt aber nur dann an, wenn die Seewege frei und sicher sind. Dazu gibt es die Operation Atalanta. Auch durch diese Mission ist es gelungen, die Gefahr durch Piraterie in den vergangenen Jahren ganz wesentlich einzudämmen. In Zahlen heißt das: Mehr als 1 500 Schiffe des Welternährungsprogramms und mehr als 700 Schiffe der Mission der Afrikanischen Union AMISOM wurden seit Beginn der Operation ohne Zwischenfälle durch die Operation Atalanta begleitet. Durch die Schutzmaßnahmen konnten insgesamt mehr als 2 Millionen Tonnen Hilfsgüter sicher ihren Bestimmungshafen erreichen. Dieser Erfolg geht auch auf das kontinuierliche Engagement der Bundeswehr seit 2008 zurück. Ich möchte allen Soldatinnen und Soldaten, die im Rahmen der Operation Atalanta eingesetzt waren und eingesetzt sind, für ihren Dienst sehr herzlich danken. ({0}) Meine Damen und Herren, die kriminellen Netzwerke hinter der Piraterie bestehen fort, und sie haben sich auch auf andere Tätigkeitsfelder verlagert wie den illegalen Waffen- und Drogenhandel, der die regionale Stabilität gefährdet. Aufgrund dieser gewandelten Bedrohungslage hat die Europäische Union das Mandat zum Jahreswechsel angepasst: Künftig wird Atalanta auch den Waffen- und Drogenschmuggel am Horn von Afrika in den Blick nehmen. Dazu gehört zum Beispiel die Durchsuchung von Schiffen zur Durchsetzung des UN-Waffenembargos gegen Somalia. Der Ihnen vorliegende Antrag der Bundesregierung für ein Bundestagsmandat deckt auch diese neuen Aufgaben des EU-Mandats ab. Kernaufgabe bleibt allerdings der Schutz der Transporte des Welternährungsprogramms, von AMISOM und der internationalen Schifffahrt vor Piratenangriffen. Deutschland wird die Operation, wie bereits in früheren Jahren, künftig durch die Entsendung von seegehenden Einheiten unterstützen. Wir werden temporär Schiffe der Marine einmelden, die sich in diesem Seegebiet befinden. Den Anfang wird in diesem Herbst die Fregatte „Bayern“ während ihres Transits in den Indopazifik machen. Zugleich verzichten wir auf eine dauerhafte Präsenz in Dschibuti und rüsten unser Unterstützungselement dort bis zum 31. Mai dieses Jahres zurück. Aus diesem Grund kann die Personalobergrenze von 400 auf 300 Soldatinnen und Soldaten gesenkt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland und unsere europäischen Partner haben ein vitales Interesse an Stabilität in der Region und an sicheren maritimen Verbindungs- und Transportwegen. Mit unserer Beteiligung demonstrieren wir unser fortgesetztes Engagement für eine effektive Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, und wir zeigen, dass wir Verantwortung übernehmen am Horn von Afrika und im indopazifischen Raum. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Fortsetzung dieses Mandats. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Ulrich Lechte, FDP-Fraktion. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Zuallererst möchte ich mich bei der deutschen Bundesregierung recht herzlich bedanken, dass sie unseren Vorschlag vom letzten Jahr aufgegriffen hat: ({0}) Das neue Atalanta-Mandat soll um die Überwachung des Schmuggels von Drogen, Holzkohle und Waffen inklusive der Durchsetzung des Waffenembargos der Vereinten Nationen erweitert werden. – Das ist eine zusätzliche Maßnahme, die zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in der Region beitragen wird. ({1}) Doch wieder einmal fehlte der deutschen Bundesregierung der Weitblick, unseren Vorschlag rechtzeitig in die Tat umzusetzen, sodass es Ende letzten Jahres zu einem Debakel kam: Die Ausweitung der Kompetenzen der Atalanta-Mission durch die EU auch auf andere Kriminalitätsbereiche ging nämlich weit über den Rahmen des aktuellen deutschen Mandats hinaus, sodass wir jetzt nur noch mit angezogener Handbremse in der Mission mitmachen. Wir haben unser Aufklärungsflugzeug abgezogen, und unseren Stabsoffizieren sind die Hände gebunden, wenn es um die neuen Missionsbestandteile geht. So ein Fauxpas zwischen EU und Deutschland hätte vonseiten der Bundesregierung leicht verhindert werden können, wenn sie vor einem Jahr auf die Fraktion der Liberalen im Deutschen Bundestag gehört hätte. Aber auch, wenn der Bundesregierung die Weitsicht der FDP fehlt ({2}) – wir sind doch Serviceopposition, liebe Marianne Schieder –, so hätte sie doch den Beschluss der EU vom 22. Dezember 2020 zum Anlass nehmen können, dem Bundestag zeitnah einen neuen Mandatsentwurf vorzulegen. Nirgendwo steht geschrieben, dass sie damit bis zum Ende des laufenden Mandatszeitraumes warten muss. Auch fokussieren sich diese Maßnahmen, wie schon im Falle der Pirateriebekämpfung, zu sehr auf die Gewässer vor dem Horn von Afrika. Doch um Piraterie und Organisierte Kriminalität wirksam zu bekämpfen, bedarf es einer größeren Kraftanstrengung auf dem Festland. Denn immer noch ist Somalia wirtschaftlich am Boden, was sich durch den Klimawandel und die grassierende Coronapandemie weiter zuspitzt. Seit Herbst 2020 nehmen auch die Anschläge der Al-Schabaab-Miliz wieder zu, die im Zentrum und Süden von Somalia noch viel zu stark ist. Solch fragile Staatlichkeit bietet einen Nährboden und einen Rückzugsort für Organisierte Kriminalität. Um dem etwas entgegenzusetzen, engagiert sich Deutschland mit drei Polizeibeamten und drei sekundierten zivilen Experten an der Sicherheitssektorenreform im Rahmen von EUCAP Somalia. Im letzten Jahr war es nur eine Polizistin; der Trend geht also nach oben, aber das Engagement ist definitiv noch ausbaufähig. Sie werden mir wohl zustimmen, dass der Aufbau des somalischen Sicherheitsapparates immer noch viel zu schleppend verläuft. Die Fortführung der Atalanta-Mission ist grundsätzlich wichtig und sinnvoll. Deswegen stimmen wir als FDP-Fraktion für eine Überweisung des Antrags an die zuständigen Ausschüsse, und wir werden dort noch mal im Detail über die kritischen Punkte sprechen müssen. Unsere Zustimmung zu diesem Mandat scheint relativ sicher zu sein. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lechte. – Als Nächster erhält das Wort der Kollege Tobias Pflüger, Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die offizielle Begründung für den Atalanta-Einsatz der Bundeswehr war lange Jahre die Verhinderung von Piratenangriffen am Horn von Afrika. Problem: Spätestens seit 2018 gibt es dort gar keine Piratenangriffe mehr, und trotzdem soll die Bundeswehr weiter vor Somalia kreuzen. Na ja, dann könnte die Bundesregierung den Einsatz ja beenden. Das fordern wir auch; ({0}) aber die Bundesregierung denkt nicht daran. Warum? Es geht um mehr: Es geht um wirtschaftliche und geostrategische Interessen Deutschlands und der Europäischen Union. Das Horn von Afrika ist eine zentrale Verbindungsroute für den Welthandel. Keineswegs zufällig haben in Dschibuti am Roten Meer die USA, Frankreich, Italien, Japan, inzwischen auch China ihre Stützpunkte etabliert. ({1}) Wie schreibt die Bundesregierung in ihrem Antrag so schön: Die strategische Lage der Staaten am Horn von Afrika hat in den vergangenen Jahren zu einem stetigen Zuwachs an internationalen Akteuren vor Ort geführt. Genau, es ist ein geradezu klassischer imperialer Wettlauf, und die EU will bei diesem Spiel der Großmächte auch noch mitmachen. Um es deutlich zu sagen: Bundeswehrsoldaten in einen Einsatz zu schicken, um geostrategische Interessen der EU und Deutschlands durchzusetzen, lehnen wir als Linke ab. ({2}) Natürlich geht es dabei um Wirtschaftsinteressen; das hat ein Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion 2018 an dieser Stelle ganz klar gesagt – Zitat –: „Wir haben auch deutsche und europäische Wirtschaftsinteressen im Blick.“ Sie erinnern sich vielleicht ungern, aber das war Nikolas Löbel, der damals für die CDU/CSU-Fraktion zu diesem Thema gesprochen hat. Für wirtschaftliche Interessen hatte Löbel ja tatsächlich einen Blick, wie heute alle wissen. Interessanterweise hat die EU nun mit Beschluss vom 22. Dezember 2020 das Atalanta-Mandat geändert. Neu ist die Bekämpfung des Handels mit Suchtmitteln, sprich: Drogen. Schiffe im Rahmen von Atalanta stellte die Bundeswehr seit 2016 keine mehr; geplant ist dies offensichtlich auch nicht mehr oder eben temporär. Der regelmäßige Einsatz von Seeaufklärern ist beendet. Die eingesetzten „P-3C Orion“ waren gegen Ende eh fast alle defekt. Und die Unterstützungsbasis der Bundeswehr in Dschibuti für den Einsatz Atalanta wurde vor einer Woche, am 17. März, aufgelöst. Warum genau brauchen Sie also ein Mandat des Deutschen Bundestages? Wir fordern: Ziehen Sie die Bundeswehr nun vollständig vom Horn von Afrika ab! Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir selbstverständlich ab. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Pflüger. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pflüger, als ich Ihnen eben zugehört habe, habe mich ernsthaft gefragt, wie denn die imperialen geostrategischen Interessen überhaupt durchgesetzt werden sollen, wenn die Bundesregierung – das sagten Sie in der zweiten Hälfte Ihrer Rede – dort gar nicht engagiert ist? Also, vielleicht gehen Sie noch mal Ihre Argumente durch, ganz so passend waren die, ehrlich gesagt, nicht. ({0}) Zum Atalanta-Mandat selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ja, dieses Mandat ist leider noch immer notwendig, und es ist grundsätzlich auch sinnvoll. Wir reden ja nicht über irgendeine Region dieses Planeten; wir reden über das Horn von Afrika. Die Menschen, die dort leben, sind durch viele Katastrophen gebeutelt: durch politische Instabilität, gescheiterte, zerfallene Staaten, durch eine seit Jahren andauernde Heuschreckenplage, die zu Lebensmittelknappheit führt, durch Kriminalität, durch Terrorismus und, ja, auch durch diese Pandemie. Deswegen ist es grundsätzlich auch sinnvoll, dass gegen Piraterie vorgegangen wird und dass man im Rahmen von Atalanta versucht, Piraterie am Horn von Afrika weiterhin so erfolgreich, wie dies geschehen ist, zu unterbinden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden nicht über die Ausweitung des Mandatszwecks – Bekämpfung Organisierter Kriminalität, Waffenhandel, Drogenschmuggel, illegaler Holzhandel – reden, wenn Atalanta nicht vorher schon bis zu einem gewissen Punkt – machen wir uns da ehrlich – eines gewesen wäre, nämlich Symptombekämpfung. Wir haben Piraterie auf See bekämpft; aber wir haben die Ursachen von Piraterie nicht beseitigen können. Die Piraten und auch die ehemaligen Piraten sind immer noch da; Kriminalität, Organisierte Kriminalität in dieser Region sind immer noch da, und die Tatsache, dass das Mandat im Hinblick auf das, was bekämpft werden soll, jetzt ausgeweitet wird, ist auch ein Eingeständnis: Die Ursachen dieses Konfliktes hat die internationale Staatengemeinschaft über Jahre hinweg nicht beseitigen können. ({1}) Letzter Punkt. Bei diesem Mandat ändert sich auch die Realität der Beteiligung Deutschlands. Es ist von diesem Pult schon erwähnt worden, dass die Fernaufklärer vom Typ „Orion“ abgezogen wurden, auch deshalb, weil die Seefernaufklärer überaltert sind, viele sind kaputt; die Bundeswehr stößt im Hinblick auf eine Fähigkeit, die für die Erstellung eines Lagebildes äußerst wichtig ist, schlichtweg an ihre Grenzen. Deutschland wird sich wohl mit drei Soldatinnen und Soldaten im internationalen Stab beteiligen, und gelegentlich, wenn ein Schiff auf der Durchfahrt ist, wird es eingemeldet. Die Einsatzrealität besteht also darin, dass, wenn ein Schiff durchfährt, es dazu kommen kann, dass ein anderes Schiff angehalten und durchsucht wird. Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es absolut unverständlich, warum der Mandatstext der Bundesregierung weiterhin die Option enthält, bis zu 2 Kilometer an Land agieren zu können. Das hat mit der Realität nichts zu tun; aber es birgt Risiken. Sie kennen die Bedenken meiner Fraktion an dieser Stelle. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lindner. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten, die diese Debatte verfolgen! Ich erkläre es dem Herrn Pflüger von der Linken gerne noch mal, warum dieses Mandat so wichtig ist. Das Horn von Afrika krankt an vielen Übeln: ethnische Spannungen, schwache staatliche Dienstleistungsstrukturen, fragile Ökosysteme, Lokalmilizen, die dort ohne staatliche Kontrolle operieren, mangelnde Versorgungssicherheit, letztes Jahr – das wurde schon erwähnt – verstärkt durch eine Heuschreckenplage. Der Tigray-Konflikt und die Spannungen zwischen Somalia und Kenia tragen außerdem dazu bei, das Horn von Afrika zum echten Sorgenkind des Kontinents zu machen. Und nirgendwo treten diese Probleme gebündelter auf als in Somalia. Die Stiftung Wissenschaft und Politik nennt Somalia den „Probleme-Champion“. Die Wahlen in dem Land sind dringend überfällig. Lieber Herr Lindner, natürlich ist das eine der Ursachen für die Problematik dort, und auch das muss gelöst werden. Aber das kann natürlich nur im Land selbst passieren. Somalia wäre ohne die Clans dort selbstverständlich besser dran. Aber solange das vor Ort so ist: Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Gemengelage wäre es eine Katastrophe, wenn das Geschäftsmodell Piraterie wieder Auftrieb bekäme. Es wäre eine Katastrophe, wenn Drogen und Waffen, geschmuggelt über den Seeweg, das Land überfluten würden. Und es wäre eine Katastrophe, wenn Millionen Menschen vor Hunger sterben müssten, weil die Schiffe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen die Küsten nicht mehr sicher erreichen könnten. In welchem Umfang das stattfindet, hat der Staatssekretär vorhin erläutert. Genau deshalb ist es richtig, dass wir unsere Soldatinnen und Soldaten für einen weiteren Mandatszeitraum in den Indischen Ozean entsenden, um die Seewege und Somalia zu schützen. Damit erfüllen wir unsere Verpflichtungen in der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik; auch das ist ein Punkt, den Die Linke bitte mal berücksichtigen müsste. Das ist grob uneuropäisch, was Sie immer fordern. ({0}) Ich begrüße die Ausweitung des Mandats auf die Durchsetzung des UN-Waffenembargos und die Bekämpfung des Drogenhandels ganz ausdrücklich. Die EU-Mission Atalanta ist im deutschen und im europäischen Interesse. Sie ist es aus handelspolitischen Gründen, ja, sie ist es aus sicherheitspolitischen Gründen, sie ist es aus migrationspolitischen Gründen und auch aus menschenrechtspolitischen Gründen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Somalia braucht jetzt akut einen Fahrplan für freie und faire Wahlen. Die abtrünnige Provinz Somaliland hat ja vorgemacht, worum es geht, wie es auch laufen kann: mit Demokratie und Stabilität vor Ort. Wir wissen auch: Militärische Vorgehen allein werden natürlich nicht dafür sorgen, dass die al-Schabab dort vernichtet wird. Atalanta wird auch nicht alleine die Ursachen der Piraterie aus der Welt schaffen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Aber mit einem breiten Konsens für dieses Mandat übernehmen wir Verantwortung in dieser schwierigen Region. Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und einen aufrichtigen Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben dort im Einsatz riskieren. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Leikert. – Normalerweise würde ich jetzt Ihrer Fraktion eine Minute abziehen. Aber da wir heute schon so viel erlebt haben, bleibt es bei den letzten drei Minuten für den Kollegen Jens Lehmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0}) – Genau, die Linken geben zehn Sekunden an die CDU weiter. ({1}) Es geschehen noch Wunder in diesem Parlament.

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung bittet das Parlament um die Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Mission Atalanta. Dafür setze ich mich gerne ein und werbe ich hier um Ihre Zustimmung; denn die Marineoperation sorgt seit 2008 für Sicherheit und Stabilität am Horn von Afrika und erfüllt ihren Auftrag, den Seeraum zu schützen und die Piraterie zu bekämpfen, äußerst erfolgreich. Seit 2018 gab es keinen erfolgreichen Angriff mehr durch Piraten. Damit sichern wir wirksam das Prinzip der freien Schifffahrt, das die Abwicklung des internationalen Handels über das Meer ermöglicht. Dieser Erfolg gäbe durchaus Anlass zur Freude; aber wir müssen feststellen, dass die kriminellen Banden ihre Aktivitäten verschoben haben. Die Piraterie ist durch Atalanta erfolgreich in den Hintergrund gedrängt worden. Aber der Auftrag von Atalanta hat sich erweitert. Nun gilt es, beispielsweise auch den illegalen Handel mit Suchtstoffen, die illegalen Fischereitätigkeiten, den illegalen Holzkohlehandel vor der Küste Somalias sowie das Waffenembargo zu überwachen. Die Verschiebung der kriminellen Machenschaften im Einsatzgebiet bedroht weiterhin die empfindliche Entwicklung Somalias. Das erfordert auch zukünftig Wachsamkeit und Engagement der internationalen Gemeinschaft. Deshalb ist die Fortsetzung der Operation Atalanta notwendig und wichtig. Um weiterhin unseren Beitrag leisten und unsere Bündnisverpflichtung erfüllen zu können, müssen wir unsere Marine ertüchtigen. Damit verbinde ich den Auftrag an uns Politiker, für eine noch bessere Ausrüstung unserer Streitkräfte zu sorgen. Wir alle kennen die Probleme um die Ausrüstung; diese sind zu Recht benannt worden. Ich möchte also die Fortsetzung der Mission Atalanta mit einem Appell an das Bundesministerium der Verteidigung, an das Bundesministerium der Finanzen, an die zuständigen Haushalts- und Verteidigungspolitiker verknüpfen: Wenn wir weiter unsere internationalen Verpflichtungen wahrnehmen wollen, wenn wir unsere und europäische Interessen wirksam umsetzen wollen und wenn wir einen substanziellen Beitrag als Bündnispartner leisten wollen, dann müssen wir weiterhin für eine steigende Finanzlinie im Verteidigungsetat sorgen! Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich allen im Einsatz befindlichen Soldaten recht herzlich danken. Sie repräsentieren mit ihrem Einsatz unser internationales Engagement und zeigen vor Ort, dass die Bundesrepublik als verlässlicher und engagierter Partner im Staatenverbund mitwirkt. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Operation Atalanta; denn eine gute Entwicklung Somalias zu flankieren und die Freiheit des Welthandels zu bewahren, liegt im Kerninteresse Europas. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht blicken viele Menschen in unserem Land mit einer gewissen Fassungslosigkeit auf die Lage auf den griechischen Inseln und an der bosnisch-kroatischen Grenze. Und zu Recht stellen viele die Frage danach, welchen Stellenwert die universellen Werte der Europäischen Union heute noch im Konkreten tatsächlich haben: die Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität. In Bezug auf die Flüchtlingspolitik der letzten Jahre müssen wir feststellen, dass die europäischen Regierungen – und da ist die Bundesregierung keine Ausnahme – diese Werte leider zunehmend aus dem Blick verlieren. ({0}) Menschen müssen an unseren Außengrenzen für Essen, den Toilettengang, Duschen stundenlang Schlange stehen und haben buchstäblich keinen festen Boden unter den Füßen. Das ist nicht würdevoll. Menschen werden an unseren Außengrenzen inhaftiert – unter dem Vorwand, Rückführungen zu erleichtern, die faktisch nicht stattfinden. Das ist keine Freiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Menschen können sich an unseren Außengrenzen nicht ausreichend vor dem Coronavirus schützen, von Testungen oder Impfstrategien gar nicht zu reden. Das ist keine Gleichheit. Und Menschen leben an unseren Außengrenzen im Winter unter Planen, Kinder sind den Witterungsbedingungen schutzlos ausgeliefert. Aber die Bundesregierung will nicht mehr tun, weil andere gar nichts tun. Das, meine Damen und Herren, ist keine Solidarität. ({1}) Die Wahrheit ist doch, dass wir seit 2015 keinen Schritt vorangekommen sind. Und auch derzeit zeichnet sich keine Einigung für ein gemeinsames europäisches Asylsystem ab. Diesen Umstand sitzt die Bundesregierung aus, während Menschen an unseren Außengrenzen aber konkret Hilfe brauchen. Wieso hören wir nichts von Herrn Seehofer zum Eingeständnis von Frontex, dass die Agentur keine Kontrolle mehr über ihre eigenen Einsätze hat, wenn sie die jemals hatte, und dass Pushbacks von Schutzsuchenden und damit Völkerrechtsbrüche stattfinden? Der Innenminister hat eine Verpflichtung gegenüber unseren Beamtinnen und Beamten, die in diese Einsätze gehen sollen. Herr Seehofer, Sie können es sich nicht leisten, nichts zu sagen und wegzusehen! ({2}) Aber auch von Heiko Maas hört man ebenso wenig. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, ich weiß, wir sind in vielen programmatischen Punkten in der Asylpolitik, vor allen Dingen der europäischen, auf einer Linie. Aber wir sehen davon nichts im konkreten Regierungshandeln. In Griechenland und Bosnien müssen die Geflüchteten menschenwürdig untergebracht werden, Organisationen wie UNICEF für ihre Projekte ausreichend finanziell unterstützt und ausgestattet werden und die Gelder vor allen Dingen transparent eingesetzt werden. Hier wünschen wir uns „mehr Heiko Maas“. ({3}) Eine Aufnahme weiterer Schutzbedürftiger von den griechischen Inseln schafft Entlastung vor Ort und Perspektiven für die Menschen. Die vielen Kommunen und Bundesländer stehen längst dafür bereit. Sie müssen nur endlich ernst genommen werden. Das geht natürlich an die Adresse unseres Innenministers. ({4}) Ich würde mir wirklich wünschen, liebe Bundesregierung, aber auch liebe regierungstragende Fraktionen, dass auch denjenigen Gehör geschenkt würde, die tatsächlich jeden Tag an unseren Außengrenzen unsere Werte verteidigen. Hören Sie Ärzte ohne Grenzen zu, die einen besorgniserregenden Anstieg von Suizidgedanken Geflüchteter konstatieren! Hören Sie Mare Liberum zu, die über illegale Pushbacks als neue Norm des europäischen Grenzschutzes berichten! Hören Sie UNICEF zu, dass in den Wäldern Bosniens – ja, auch in Bosnien – Kinder leben, was Sie bis heute bestreiten! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage das deswegen, weil es am Ende tatsächlich eine Haltungsfrage ist. Flüchtlingspolitik ist eine Haltungsfrage und die Frage danach, ob wir uns mit diesen Umständen zufriedengeben wollen oder nicht. Ich sage Nein. ({5}) Wenn geflüchtete Menschen tagtäglich an unseren Außengrenzen ihrer Grund- und Menschenrechte beraubt werden, dann dürfen wir das nicht einfach so hinnehmen. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. – Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in dieser Debatte zwei Anträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zu einem Thema, das wir hier im Bundestag schon mehrfach miteinander beraten haben. ({0}) Wenn ich mir die Forderungen der beiden Fraktionen anschaue, dann kann man diese in wenigen Punkte zusammenfassen. Erstens. Das EU-Türkei-Abkommen soll sofort gekündigt werden. Zweitens – das ist eine Forderung der Linken –: Frontex soll zerschlagen und abgeschafft werden. Drittens. Diejenigen, die als Migranten nach Europa kommen, sollen sich das Land, in dem sie den Asylantrag stellen, frei auswählen können. Und viertens. Diejenigen, die seit 2015 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, sollen in den Genuss von umfassenden Bleiberechtsregelungen kommen. ({1}) Wer so etwas fordert, liebe Kolleginnen und Kollegen, der zeigt vor allen Dingen eines: dass er überhaupt nicht daran interessiert ist, zu einer gemeinsamen europäischen Haltung im Bereich des Asyl- und Migrationsrechts zu kommen. ({2}) Denn mit den Vorschlägen, wie sie in diesen beiden Anträgen niedergelegt sind, werden wir nie auf einen gemeinsamen europäischen Nenner kommen. ({3}) Schon deshalb zeigen Sie letztlich, dass das nichts anderes ist als praktizierte Verantwortungslosigkeit, weil Sie keine nachhaltige Lösung schaffen bei diesem Thema. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Frei, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Amtsberg?

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Frei. – Wenn man auf die Bilanz guckt, verhält es sich meiner Meinung nach so: Wir unterbreiten hier Vorschläge, weil Sie ganz offensichtlich auf europäischer Ebene gescheitert sind. Das ist ja das Problem. ({0}) Für die Vorschläge, die Sie gebracht haben, wurde während der Ratspräsidentschaft der Deutschen keine Mehrheit gefunden. Eine Einigung ist in weite Ferne gerückt. Das Mindeste, was man erwarten kann, ist ja, dass man sagt, was man eigentlich selber möchte und wo die Kompromisslinien sind. Aber auch da: Stillstand. Die Verhandlungen stehen still. Von Ungarn über Deutschland bis nach Griechenland sind die Meinungen so vielfältig, dass ich mir tatsächlich die Frage stelle: Wann kommen Sie an den Punkt, zu sagen, dass Deutschland vielleicht eine eigene Haltung entwickeln muss, sich Partner für eine humanitäre solidarische Flüchtlingspolitik suchen muss und einfach vorangehen muss? ({1}) Im Übrigen haben Sie die Forderungen unseres Antrags heute gar nicht wiedergegeben, sondern Sie haben sich bei Ihren Ausführungen ausschließlich auf den Antrag der Linken bezogen. Das noch einmal zur Richtigkeit.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, liebe Frau Amtsberg, selbstverständlich habe ich auch den Antrag der Grünen gelesen. Da dürfen Sie ganz sicher sein. Zweitens. Die Bundesregierung und auch die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben eine klare Haltung im Bereich einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik. Im Februar 2020 haben wir uns in der Koalition auf Vorschläge und Vorstellungen verständigt, mit denen wir die Verhandlungen zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem vorantreiben möchten. Sie wissen ganz genau, dass Bundesinnenminister Seehofer dieses letzte halbe Jahr genutzt hat, um intensive Gespräche und Verhandlungen auf europäischer Ebene zu führen, und zwar mit einer klaren Agenda. Das Bundesinnenministerium hat auch Vorschläge dazu vorgelegt. Es waren auch die Umstände der Situation, die dazu geführt haben, dass wir nicht zu einer substanziellen Einigung gekommen sind, und natürlich die Tatsache, dass die Vorstellungen auf europäischer Ebene extrem auseinandergehen. Das haben Sie, Frau Amtsberg, ja selber in Ihrer Fragestellung beschrieben. ({0}) Jetzt zum letzten Punkt. Sie sagen, wir würden nicht vorangehen. Also, ich will jetzt einmal eines ganz klar sagen, und zwar am Beispiel Griechenlands, weil auch Sie in Ihrer Rede dort den Schwerpunkt gesetzt haben. Das EU-Türkei-Abkommen hat dazu geführt, dass die Anlandungen in Griechenland massiv zurückgegangen sind. Im letzten Jahr weniger als 14 000 Menschen, ({1}) in den ersten beiden Monaten dieses Jahres 400 Personen. ({2}) Wir haben dafür gesorgt, dass wir vor Ort massiv finanziell unterstützt haben: seit 2015 2,61 Milliarden Euro. Wir haben dafür gesorgt, dass wir die Situation dort mit eigenen Mitarbeitern entlasten. Zeitweise waren zwei Drittel der EASO-Mitarbeiter Deutsche, um Asylverfahren zu beschleunigen. Und auch bei der Aufnahme von Migranten: Wir haben beispielsweise 240 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, 242 behandlungsbedürftige Kinder mit ihren Kernfamilien, ({3}) 1 553 Familienangehörige, insgesamt 2 750 Personen. Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen: ({4}) Das sind zehnmal so viele, wie Frankreich, und es sind im Übrigen doppelt so viele, wie alle anderen europäischen Staaten zusammen aufgenommen haben. Liebe Frau Amtsberg, wir können nicht eine Asylpolitik machen, die da lautet: Deutschland löst die Probleme für ganz Europa. ({5}) Das geht nicht. Das wollen wir nicht, das ist verantwortungslos, und es wird im Ergebnis nie zu einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik führen. Das sollten Sie im Blick behalten. ({6}) – Ja, damit habe ich doch die Frage beantwortet, und zwar in allen drei Punkten, die Sie angesprochen haben. Jetzt lassen Sie mich, wenn wir gerade bei Griechenland sind, noch auf einen Aspekt eingehen, den ich auch wichtig finde. Es ist in der Tat unbefriedigend, wie es in Griechenland läuft. Das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass ich akzeptiere, dass dieses Land in besonderer Weise durch die Migrationsherausforderungen belastet ist. Aber Tatsache ist, dass seit Mitte letzten Jahres jeden Monat etwa 1 000 Migranten nach Deutschland kommen, hier einen Asylantrag stellen, obwohl sie bereits in Griechenland als schutzbedürftig anerkannt worden sind. Gleichzeitig gab es im Januar ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, in dem steht, dass bei niemandem der Asylantrag als unzulässig abgewiesen werden darf, der aus Griechenland kommt und dort schon als schutzbedürftig anerkannt ist, weil ihm in Griechenland offensichtlich die ernsthafte Gefahr von erniedrigender und menschenunwürdiger Behandlung droht. Das ist absolut inakzeptabel vor dem Hintergrund der umfassenden Hilfsmaßnahmen, die die Europäische Union und im Besonderen Deutschland gegenüber Griechenland geleistet haben. ({7}) Deswegen müssen wir ganz klar sagen: So funktioniert Schengen nicht. Alle Staaten in der Europäischen Union haben eine Verantwortung dafür, dass die Dinge, die Sie in Ihrer Rede, Frau Amtsberg, dargestellt haben – das Asylrecht, die Menschenwürde, die sich daraus ergebenden Rechte –, von ihnen auch tatsächlich eingehalten werden. Dafür werden wir sorgen. Dafür haben wir, dafür hat die Bundesregierung die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen. Und deswegen sind Ihre Anträge abzulehnen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es liegen heute Anträge der Grünen und der Linken vor mit dem kaum verhohlenen Ziel, das rechtlich bereits weitgehend durchlöcherte Asylmanagement an der EU-Grenze noch durchlässiger zu machen, unberechtigte Immigration weiter massenhaft zu forcieren. Überall jetzt Reisebeschränkungen, nur Europa soll weiter geöffnet werden. Beide Anträge sind getragen von einer für Deutschland schädlichen Zielsetzung: Migration und Ausland first, deutsche Interessen last and least. – Wie bei der Impfdosenbeschaffung der Regierung. Stichwort: nur kein Impfnationalismus. Grüne und Union, da wächst zusammen, was zusammengehört, meine Damen und Herren. ({0}) Mit dem Plan, den unberechtigten Grenzübertritt scheibchenweise zu entkriminalisieren, wird der Rechtsstaat unterlaufen. Denn bei den Grenzübertrittsversuchen durch Afrikaner von Libyen nach Italien, durch Syrer, Iraker, Afghanen von der Türkei nach Griechenland handelt es sich nicht um Personen, die auch nur behaupten, in dem Staat verfolgt zu sein, aus dem heraus sie in die EU übertreten wollen: Libyen, Türkei. Im Falle Libyen waren sie keineswegs genötigt, sich überhaupt erst dort hinzubegeben, und können es wieder rückwärts verlassen. Sowohl nach dem Geist von Artikel 16a Grundgesetz wie auch Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention gibt es in diesen Fällen nicht den geringsten Schutzbedürftigkeitsanspruch für einen Grenzübertritt in die EU. Dafür, dass dies auch in wünschenswerter Klarheit im EU-Recht niedergelegt wird, steht der Antrag der AfD. ({1}) Bekanntlich hat die Merkel-Regierung in offen erklärtem Gesetzbruch – Dublin III sei obsolet – aber genau solchen Personenkreisen den Zugang in die EU und nach Deutschland ermöglicht. Aufgrund der Migrationsroute durch zig sichere Zwischenstaaten besteht aber tatsächlich keine akute Schutzbedürftigkeit beim Übertrittsversuch in die EU oder gar nach Deutschland. Und warum ziehen sie wohl weiter? Betrachten Sie es mal andersherum: Wäre in Bayern ein Bürgerkrieg, flieht man vielleicht nach Österreich. Aber nach Afghanistan, Irak, Nigeria? Wohl kaum. Aber diese Regierung hat wie die Antragsteller der Grünen und Linken wohl noch anderes im Sinn. Unter dem Label „Asyl“ findet tatsächlich eine aggressiv forcierte Massenmigration nach Europa und Deutschland statt. Es ist die genaue Kehrseite eines betonten Unwillens zu einer aktivierenden Familienpolitik. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hatte kein anderes Land der Welt so lange derart niedrige Geburtenziffern wie Deutschland: seit 1975, fast 40 Jahre lang, weniger als 1,5 Kinder pro Frau. Laut demografiepolitischem Resümee der Bundesregierung sei die Geburtenzahl gestiegen vor allem aufgrund von Asylzuzug 2015/2016. Frauen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak hätten mit vier Kindern eine nochmals auffallend höhere Geburtenziffer als sonst ausländische Frauen mit 2,1 Kindern. ({2}) Hier braucht es statt forciert zugelassenen Asylrechtsmissbrauchs endlich eine an einheimischen Interessen, ({3}) auch der Integrierbarkeit orientierte aktivierende Familienpolitik. ({4}) Dass es auch anders geht, zeigt übrigens Dänemark. Die Regierungschefin sagt, Ziel seien 0 neue Asylbewerber. Sie sagt: Wir müssen sicherstellen, dass nicht zu viele Menschen in unser Land kommen, sonst kann unser Zusammengehörigkeitsgefühl nicht existieren. ({5}) Dort ist Staatsziel nicht Integration, sondern schnellstmögliche Rückführung, und das ist richtig so, meine Damen und Herren! ({6}) Demgegenüber zeigen die hier vorliegenden Anträge wieder einmal: Für Die Linke gehören antideutsches Klassendenken zu ihrer DNA wie der Deutschlandhass zu den Grünen. Und die Union, von Merkel gesellschaftspolitisch nach linksaußen verschoben? ({7}) Sind ihre Abgeordneten generell an der Rettung Deutschlands interessiert oder eher an der Rettung ihrer Parteikarriere? Als Interessenvertreter der deutschen Bürger verbleibt da nur noch die AfD. Ich danke Ihnen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Curio. – Vielleicht darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten: Wenn Sie einen Zwischenruf machen, der im Protokoll vermerkt werden soll, sollten Sie die Maske abnehmen. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Professor Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({1})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Nach dieser geschäftsleitenden Bemerkung, die man natürlich gerne gleich mal ausprobieren kann – ich bin darauf jetzt vorbereitet –, grüße ich Sie, die Kolleginnen und Kollegen und auch die Damen und Herren hier, und will einmal sagen, was eigentlich unsere Grundsätze sind ganz im Gegensatz zu dem, was wir gerade wieder anhören mussten. Wir sagen: An den Außengrenzen unseres Landes und von Europa dürfen Menschen nicht zu Tode kommen. ({0}) Wir sagen: Wenn dort jemand die Grenze erreicht, dann hat er ein anständiges Verfahren verdient, wenn er oder sie um dieses Verfahren bittet. Es soll niemand zurückgedrängt werden dorthin, wo ihm Verderben droht. Und selbstverständlich soll man alles tun, was möglich ist, um in den Herkunftsländern dafür zu sorgen, dass Menschen dort Perspektiven haben. Das sind unsere Grundsätze. An diesen halten wir fest. Denn wir haben nach wie vor viele Gründe, an diesen Aufgaben auch engagiert weiterzuarbeiten. ({1}) Es ist ja richtig, dass wir da eine ganze Menge machen; der Herr Kollege Frei erwähnt es ja in jeder Rede. Ich muss auch sagen: Wir sind das fünftgrößte Aufnahmeland weltweit. Wir sind das zweitgrößte Geberland weltweit. Ja, wir nehmen aktuell doppelt so viele Menschen aus Griechenland auf, wie das die gesamte Koalition der Menschlichkeit macht. Das ist beachtlich; das kann man so auch festhalten. Das ist ein Teil unserer Regierungsarbeit. Und es ist alles andere als ein Stillstand, liebe Kollegin Amtsberg, sondern es ist das, was wir miteinander jetzt in dieser Koalition haben erreichen können. ({2}) Die Frage ist allerdings: Reicht es? Ich erinnere mich gut daran, als der Innenminister in der Ausschusssitzung im letzten Jahr vorgetragen hat, dass er nun bereit ist zur Aufnahme. Da hat er mich gefragt: „Herr Castellucci, sind Sie denn nun damit zufrieden, dass wir dieses Kontingent jetzt zusammengebracht haben?“, und ich habe ihm gesagt, ich danke ihm für sein auch sehr persönliches Engagement – er hatte ja nicht zuletzt in den eigenen Reihen da einige Widerstände zu überwinden –, aber zufrieden bin ich erst, wenn dort unten, wie überall, die Menschenrechte funktionieren und die Menschen ein würdiges Leben führen können. Vorher kann man nicht zufrieden sein. ({3}) Jetzt ist es ja klar, dass wir das nicht alleine lösen können. Aber es stellt sich sehr wohl die Frage: Wie geht es weiter, wenn dieses Kontingent aus Griechenland dann vollständig in Deutschland ist? Ich habe es eben gesagt: Wir sind bei etwa 2 800 Menschen, die nach Deutschland kommen können. Die Gesamtzahl der Zusagen aus 16 anderen Ländern beläuft sich nicht mal auf die gleiche Zahl – das muss man sagen –; das läuft schleppend. Nicht einmal 1 000 sind in die anderen 15 Länder übersiedelt worden. Deswegen ist unser klarer Aufruf auch an unsere europäischen Partner, dass sie mithelfen sollen. Aber Mithelfen an der Gesamtaufgabe „Menschenwürde in Europa“ heißt, es so sicherzustellen, wie es den Werten Europas auch entspricht. Vorher kann es da auch kein Halten geben. Es sind immer noch 2 000 Kinder mehr oder weniger im Dreck und ohne Lebensperspektiven auf den griechischen Inseln, 100 unbegleitete Kinder in Bosnien. Da sind wir weiter gefragt. Wenn jemand zum Arzt geht, lieber Herr Frei, dann ist es ja auch nicht so, dass gesagt wird: „Na, Sie kriegen doch schon eine ganze Menge Medikamente“, sondern dann ist die Frage: Was muss eigentlich alles getan werden, damit man möglichst wieder gesund werden kann? Das ist eben die Verantwortung, vor der wir auch stehen. Verantwortung heißt, dass man tut, was man kann. Ich denke, da kann Deutschland auch mit der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, die ja da ist, mehr tun. ({4}) Viel besser wäre es natürlich, wir müssten nicht immer dort, wo schon so viel schiefgegangen ist, im Nachhinein handeln, sondern wir würden proaktiv – so nennt man es – handeln, also vor die Entwicklung treten. Der UNHCR hat dazu einen Vorschlag unterbreitet, nämlich 1 Million sogenannte Resettlement-Plätze, also Umsiedlungsplätze, weltweit zur Verfügung zu stellen innerhalb von zehn Jahren. Das ist eine Aufgabe, der wir uns mit größerem Nachdruck zuwenden müssen. Denn wer über ein Resettlement-Programm kommt, dem wird dieser leidvolle Weg, der manchmal tödlich endet, erspart. Dann wissen wir in den Aufnahmeländern auch, wer zu uns kommt, und dann können wir sicherstellen, dass die Schutzbedürftigsten, die Schwächsten auch zuerst Aufnahme und Sicherheit erlangen. Ich glaube, wir sollen uns gemeinsam vornehmen, die Kontingente, die wir dem Resettlement des UNHCR zur Verfügung stellen, zu erhöhen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das wäre eine gute Aufgabe, die helfen wird, neues Leid zu vermeiden. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Castellucci. – Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge von Grünen und Linken sind Anlass, noch einmal in dieser Debatte klarzustellen, worüber weitgehend Klarheit und Einigkeit besteht und worüber nicht in der Frage der Migrationspolitik. Weitgehende Klarheit und Einigkeit, denke ich, besteht in diesem Haus zum Ersten darüber, dass Schutzsuchende menschenwürdig untergebracht werden müssen. Das ist übrigens auch eine Anforderung an Griechenland, nicht menschenunwürdige Zustände auch zur Abschreckung zu nutzen. Das ist ein für uns ganz klarer Grundsatz. ({0}) Klar ist auch, dass bei Notlagen vor Ort schnell geholfen werden muss, zum Beispiel mit dem THW. Und dass aus Seenot gerettet werden muss, dass es eine unbedingte Pflicht zur Lebensrettung gibt. Und drittens ist klar, dass es geordnete, faire und zugleich zügige rechtsstaatliche Asylverfahren geben muss. Möglichst jetzt auch auf den griechischen Inseln und perspektivisch an der EU-Außengrenze in Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Das muss das Ziel sein. Dann gibt es leider auch ein paar Punkte, wo offenbar zu wenig Klarheit herrscht. Zum einen ist die Frage der Rettung aus Seenot zu unterscheiden von der Frage der Einreise und des Aufenthaltes. So viel Differenzierung muss man auch zum Beispiel von den Grünen verlangen dürfen. ({1}) Eine möglichst frühzeitige und deshalb am besten schon an der EU-Außengrenze erfolgende Prüfung, ob überhaupt realistischerweise ein Anspruch auf Schutz besteht, muss Ziel unserer Migrationspolitik sein. Schließlich gilt: Wer das Asylrecht wahren will, und zwar praktisch und politisch, der muss auch bereit sein, zu unterscheiden: Besteht ein Fluchtgrund oder nicht? Die Flucht selbst ersetzt nicht den Fluchtgrund. Deshalb müssen wir hier unterscheiden. Wir brauchen Frontex, nach rechtsstaatlichen, gemeinsamen europäischen Regeln, ({2}) mit eigenen Befugnissen, kontrolliert auf die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten. Aber wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Befugnisse für Frontex, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir brauchen vor allem mehr und nicht weniger Klarheit bei den Zuständigkeiten in der Migrationspolitik. Wir brauchen Kommunen, die für die Integration zuständig sind, gemeinsam mit den Ländern. Wir brauchen den Bund, der für den Grund der Einreise, des Aufenthalts und auch für die Rückführung zuständig ist. Und wir brauchen den Bund und Europa, die für eine gemeinsame Migrationspolitik zuständig sind. Wir brauchen keine Nebenaußenpolitik und Nebenmigrationspolitik von Ministerpräsidenten und Kommunen. Wir haben die Verantwortung, zu steuern, was zu steuern ist. Für eine Ordnung der Humanität. Und sosehr es richtig ist, die Bundesregierung hart dafür zu kritisieren, dass sie hier während der Ratspräsidentschaft Deutschlands keine Fortschritte erreicht hat, so wenig sind die Anträge von Grünen und Linken ein Beitrag, um hier voranzukommen. Wir brauchen neue, realistische Anläufe in dieser Frage, gemeinsam mit Frankreich und den Niederlanden. Wir müssen die Kooperationsbereitschaft von Drittstaaten einfordern. Und deshalb: Es geht in weiteren Beratungen um tragfähige Lösungen. Die Anträge, um die es heute geht, müssen wir allerdings ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Als Nächste hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst in der vergangenen Woche kamen erneut 60 Schutzsuchende vor der libyschen Küste ums Leben, nachdem ihr Boot in Brand geraten war. Wie Zehntausende vor ihnen, wurden sie faktisch durch das europäische Grenzregime getötet. Sie haben doch mit den europäischen Staaten zusammen verhindert, dass es eine zivile Seenotrettung gibt. Sie haben verhindert, dass es wirklich menschenwürdige Aufnahmebedingungen gibt. Und das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist schändlich gescheitert; es gibt überhaupt keine Ansätze der Europäischen Kommission. Und dass überhaupt nicht mehr auf das reagiert wird – auch hier gar nicht mehr –, was an menschenrechtsverletzenden Dingen an den europäischen Außengrenzen passiert, finde ich nur noch beschämend. ({0}) Auch an der bosnisch-kroatischen Grenze werden täglich Schutzsuchende von kroatischen Grenzpolizisten geschlagen, beraubt, gewaltsam zurückgeschoben. Pushbacks finden auch in Griechenland statt. Sie haben die ganze Zeit immer so getan, als wenn Sie nichts davon wüssten. Erst als die Beweise auf dem Tisch lagen – auch dank europäischer Abgeordneter und NGOs –, haben Sie überhaupt mal darüber nachgedacht, diese Dinge zu untersuchen. Insofern sagen wir ganz klar: Es muss untersucht werden, was im Bereich der Pushbacks passiert ist. Hier muss auch Frontex ganz klar ins Visier genommen werden. Vor allem muss es eine unabhängige Untersuchung geben und nicht eine Untersuchung durch die Polizeibeamten selbst, wovon wir immer wieder hören. ({1}) Wer es dann noch schafft, in der EU einen Asylantrag zu stellen, wird auf unbestimmte Zeit in menschenunwürdige Lager gesperrt. Seit Langem ist auch bekannt, unter welchen unbeschreiblichen Bedingungen Schutzsuchende auf den griechischen Inseln jahrelang ausharren müssen. Die von der Bundesregierung unterstützten Pläne der EU-Kommission haben überhaupt keine Verbesserung zum Ziel. Sie wollen beschleunigte Verfahren an den Außengrenzen, und das bedeutet noch mehr Hotspots, wie wir sie mit Moria kennengelernt haben. Da kann man wirklich nur sagen: Warum nehmen Sie nicht endlich das Angebot von fast 200 Städten und Kommunen an, die Menschen aufnehmen wollen? ({2}) Denn es gibt offensichtlich keine andere Lösung, als die Menschen tatsächlich aus solchen Lagern rauszuholen. Die Linke fordert deswegen eine Abkehr von der tödlichen Politik der Abschottung. Es braucht legale und sichere Fluchtwege, es braucht eine staatlich-zivile Seenotrettungsmission. Nur so kann das tausendfache Sterben im Mittelmeer beendet werden. ({3}) Die Beteiligung von Frontex an illegalen Pushbacks muss durch unabhängige Instanzen aufgeklärt werden, und Zurückweisungen müssen sofort beendet werden. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Jelpke, kommen Sie bitte zum letzten Satz.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Deswegen sage ich zum Schluss: Alle Geflüchteten haben das Recht auf ein faires Asylverfahren. Das sollte weiterhin die Grundlage sein, wenn man über Asylpolitik an den Außengrenzen spricht. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Herr Kollege Birkwald, jetzt haben wir ein Plus von 20 Sekunden. ({0}) – Sehr gut. Nächster Redner ist der Kollege Detlef Seif, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grundforderung, dass Migranten menschenwürdig zu behandeln sind und Asylverfahren fair sein sollen, können zumindest die meisten Mitglieder dieses Hauses sicherlich teilen. Dass in einzelnen Mitgliedstaaten auch Mängel existieren, wissen wir: Schwierigkeiten bei der Rückführung im Dublin-Verfahren in die Länder, wo diese Mängel eben bestehen. Das merken wir immer wieder, auch durch Gerichtsentscheidungen. Es führt aber nicht weiter, wenn man mit Unterstellungen, Mutmaßungen und Falschinformationen arbeitet. Frau Jelpke, da spreche ich Sie an: Als Sie Mitte Dezember letzten Jahres hier vorgetragen haben, dass die meisten Verletzungen von Kindern auf der Insel Lesbos durch Ratten herbeigeführt wurden, da war ich persönlich beeindruckt. Ich glaube, dass diejenigen, die zugehört haben, auch gedacht haben: Das kann doch nicht wahr sein. – Letztlich ist das von einer Taskforce der EU untersucht worden, und es hat sich herausgestellt: Da ist nichts dran. ({0}) Jetzt kommen wir zu den Pushbacks. Bei den Pushbacks behaupten Sie, das wäre einfach so, und Sie sagen, das wäre systemisch, und dann reden Sie davon, dass es untersucht werden muss. Eigentlich bringen Sie damit zum Ausdruck, dass Sie es selbst besser wissen, obwohl bislang gar keine Nachweise da sind. ({1}) Wir wissen: In Einzelfällen gab es ein Fehlverhalten. Kroatien hat auch Untersuchungen eingeleitet. Es gibt Grenzbeamte, gegen die Verfahren laufen und die auch suspendiert worden sind. Gerade das spricht dafür, dass es sich nicht um ein systemisches Verhalten handelt. Grüne und Linke fordern die Aufhebung des EU-Türkei-Aktionsplans; Kollege Frei hat es auch schon erwähnt. Sie haben aus 2015 wirklich nichts gelernt, Sie haben nichts dazugelernt. Das muss ich Ihnen ganz klar sagen. ({2}) Nach Ansicht der Grünen sollen Dublin-Asylverfahren mit Griechenland-Bezug im nationalen, deutschen Verfahren entschieden werden, ja, sogar Anträge von bereits in Griechenland anerkannten Flüchtlingen. Auf das Ganze setzen die Linken noch einen drauf und fordern, dass Flüchtlinge und Migranten, die sich auf den Ägäis-Inseln aufhalten, innerhalb der EU verteilt werden. Na ja, dreimal dürfen Sie raten, wer die meisten aufnehmen würde, wenn verteilt würde. Entscheidend ist doch, dass wir die betroffenen Länder vor Ort massiv unterstützen. Das tut nicht nur die EU, das tut insbesondere auch Deutschland ({3}) durch die Gestellung von Personal, Hilfsgütern, Beratungen und finanziellen Hilfeleistungen. Da kann der Staatssekretär Mayer Ihnen sicherlich viele, viele Dinge aufzählen. Eines ist klar: In besonderen Notlagen ist es aber auch richtig, darüber hinaus zu helfen. Und das tut Deutschland ja mit der zusätzlichen Aufnahme von 2 750 Menschen von den Ägäis-Inseln. Aber im Ergebnis dürfen wir die anderen Länder doch nicht aus der Verantwortung entlassen. ({4}) Vor allen Dingen müssen wir auch noch unser eigenes Land und die Menschen, die hier leben, ein bisschen im Blick behalten. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Seif. – Ich hätte Sie jetzt ganz freundlich auf die Maske hingewiesen. ({0}) – Das hätten Sie mir jetzt nicht sagen sollen. ({1}) Es kommt bei Ordnungswidrigkeiten auf den Vorsatz nicht an; das darf ich Ihnen als Jurist vielleicht sagen. Als nächsten Redner hören wir jetzt den Kollegen Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({2})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erlebten heute einen sehr spannenden Moment – bei aller berechtigten Kritik –: die Souveränität der Kanzlerin, sich deutlich zu Fehlern zu bekennen, und die pure Gegenkultur von Herrn Curio, der eben wieder gesprochen hat, nämlich die komplette Unfähigkeit zur Selbstkritik und zur Selbstanalyse. Diese Unfähigkeit zur Selbstkritik hat im Übrigen auch nicht unerheblich zur jetzigen Situation in Bezug auf Migration und Flucht in Europa beigetragen, nämlich in Form der Stimmungsmache der Koalition der Rechtspopulisten in ganz Europa. Daher ist das Stichwort des Tages: „sich zu Fehlern bekennen“. Angesichts dessen, dass Pushbacks und damit die Erosion des Non-Refoulement-Prinzips keine Legende sind, muss man über Fehler sprechen. Angesichts der Lage in Moria können wir nur über Fehler und über Scheitern, auch über unser eigenes Scheitern, sprechen. Wenn wir jetzt – was notwendig ist, und darin sind wir uns in diesem Hause weitgehend einig – über das Gemeinsame Europäische Asylsystem sprechen und darüber in Brüssel verhandeln, gehört zur Ehrlichkeit auch, zu sagen, dass die bestehenden Gesetze und die bestehenden Konventionen derzeit permanent durch Pushbacks und anderes gebrochen werden. Das ist Teil der Bestandsaufnahme, zu der wir verpflichtet sind. Es wird noch komplizierter und noch unangenehmer: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass vor der Türkei-EU-Erklärung 1 Million Menschen in zwölf Monaten über die Grenze kamen, im Folgejahr der Erklärung kamen nur noch 26 000 Menschen über die Grenze, 2020 wurden 62 000 Flüchtlinge abgewiesen, derzeit liegt die Zahl bei unter 3 000 Flüchtlingen. Die Bedingungen sind aber noch schlechter geworden. Das heißt, einfache Lösungen haben nicht funktioniert. Allein die Türkei-EU-Erklärung als Problem zu betrachten, funktioniert aber auch nicht. Keiner hier hat bisher die Frage beantwortet, was wir mit den Millionen Syrerinnen und Syrern machen, die in der Türkei leben. Auch ihnen sind wir Antworten schuldig, auch den Menschen in Idlib, auch den Menschen in anderen Teilen Syriens. Deshalb ist es, glaube ich, nicht unsere Aufgabe – das machen wir ritualisiert immer wieder –, aufzuzählen, wie viele Menschen wir hierhergeholt haben, wie groß unsere Leistungen sind. Sich an die Brust zu klopfen, ist kein Ansatzpunkt. Es ist aber auch kein Ansatzpunkt – das ist auch nicht der sozialdemokratische Weg –, zu sagen, dass Migrationspolitik und Asylpolitik nur eine Frage der Haltung sind. Haltung reicht nicht. Wenn wir auf die letzten Jahre gucken, haben wir zur Kenntnis nehmen müssen: Es braucht auch Politik und Handeln. Deshalb ist es aus meiner Sicht gefährlich, wenn wir suggerieren, wir würden unbegrenzt aufnehmen, obwohl wir genau wissen, dass wir es nicht tun werden. Es ist wiederum ein bisschen scheinheilig, zu suggerieren: Die europäische Lösung wird kommen; dabei wissen wir genau, dass die große europäische Lösung bis auf Weiteres nicht kommen wird. ({0}) Also: Was brauchen wir? Ich denke, wir brauchen eine Koalition der Willigen, bei der Deutschland vorangehen kann; aber eben nicht alleine. Wir brauchen ernsthafte und ehrliche Debatten über das Thema Rückführung, inklusive Stichtagsregelung. Wir ducken uns bei dem Thema immer weg; aber es wird Menschen geben, die an Europas Außengrenzen nicht aufgenommen werden oder die in der Duldung landen. Was geschieht mit ihnen? Wo ist unsere Antwort darauf?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was passiert in den Transit- und Herkunftsländern? Das sind die Fragen, auf die ich mir Antworten wünsche. Es reicht nicht, dass wir uns vergewissern, dass wir es richtig oder falsch gemacht haben oder dass wir auf der Seite der reinen Lehre sind.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Menschen dort unten brauchen Antworten, und Griechenland, Malta und Italien brauchen unsere Unterstützung. Das ist das Gebot der Zeit. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will als Zusammenfassung der Debatte sagen, liebe Kollegen von den Grünen: Ich weiß ja, dass Brauchtumspflege nicht so euer Ding ist; aber im Spielen mit gezinkten Karten seid ihr ganz vorne dabei. ({0}) Sie legen uns einen Antrag vor, in dem Sie in 20 Punkten vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen. Sie zählen viele Sachen auf, die zu den Selbstverständlichkeiten des Handelns dieser Bundesregierung gehören, um das, was Sie eigentlich mit dem Land machen wollen, im Kleingedruckten zu verstecken. Das ist ungefähr so wie eure gesamte Taktik momentan: Ihr schläfert das geneigte Publikum in den abendlichen Talkshows mit Robert Habeck ein, und dann lacht ihr euch schlapp, wenn die Menschen dann eines schönen Morgens mit dem Hofreiter Toni jäh wieder aufwachen. ({1}) Sollen wir jetzt wirklich mit Ihnen über die Forderung nach einer humanitären Unterbringung oder nach einem gleichberechtigten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und zur gleichberechtigten Impfstoffversorgung der Antragsteller in Griechenland diskutieren? Darüber gibt es doch überhaupt keinen Dissens. Sie wissen, dass das seit Langem die Politik der Bundesregierung ist. Ich will die Zahlen über die Aufnahme jetzt nicht noch einmal rezitieren; vielmehr will ich noch eine andere Zahl ins Spiel bringen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir seit 2015 2,6 Milliarden Euro an EU-Mitteln für das Migrationsmanagement investiert haben und dass wir allein im März 2020 zusätzliche 700 Millionen Euro für die Pandemiebekämpfung und für die Verbesserung der Unterbringungsstandards aufgewendet haben. Das verschweigen Sie bewusst. Ich bitte Sie: Stehen Sie doch mal zu dem Kleingedruckten. Sagen Sie den Leuten offen, dass Sie statt eines europäischen Miteinanders wieder den deutschen Alleingang wollen, dass Sie statt eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ein deutsches Asylsolo wollen. Sagen Sie den Leuten, dass es nach Ihren Vorstellungen in Deutschland – das erkennen wir, wenn wir uns Ihre Vorstellungen in Ihrem Wahlprogramm anschauen – in Zukunft nicht mehr um Integration, sondern um Migrantenquoten geht und dass Sie für Migranten keine Diskriminierungsfreiheit, sondern eine Überholspur wollen. Sie wollen keine andere Politik, Sie wollen ein anderes Land. Verstecken Sie sich bei alledem bitte nicht immer hinter der angeblichen Aufnahmebereitschaft einzelner Kommunen. Ich sage Ihnen: Die Kapazitäten einzelner Kommunen sind an dieser Stelle nicht der Maßstab. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es um die Grenzen der Leistungsfähigkeit geht. Und wenn diese Grenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, überschritten würden, dann bleibt das kein Problem der jeweiligen Kommune, sondern es landet ganz schnell wieder auf dem Tisch dieses Hauses. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Herr Kollege Kuffer, ich habe durch Ihre Rede dazugelernt. Ich wusste bisher nicht, dass das Spiel mit gezinkten Karten zum bayerischen Brauchtum gehört. ({0}) Man lernt ja nie aus. Ich werde das in meinen weiteren Reden verwenden, wenn ich das darf. ({1}) – Claudia, es gibt nicht nur die CSU in Bayern. Es gibt auch Grüne in Bayern und auch Freie Demokraten. ({2}) Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Sprossen noch, dann hat sie es geschafft: Imane steht in schwindelerregender Höhe auf einem kleinen runden Plateau. In der Mitte klafft ein tiefes Loch. Sie holt tief Luft und schaut in den dunklen Abgrund hinunter – und lacht. Die 17-Jährige ist zum ersten Mal oben auf dem Übungsturm für Auszubildende in der Windkrafttechnik. Zeit für ein Selfie in voller Arbeitsmontur bleibt: Klettergurt, riesige Karabinerhaken, Helm. Imane war eine der ersten von rund 70 Auszubildenden des Instituts für die Berufsbildung in erneuerbaren Energien und Energieeffizienz, das 2015 in Marokko mit deutscher Unterstützung gegründet wurde. Mit ihrer Lehre zur Spezialistin für Energiequellen der Zukunft macht sie gleichzeitig einen großen Schritt, einen Schritt in die eigene Zukunft; denn im Gegensatz zu ihr hat fast die Hälfte der Jugendlichen in Marokko weder einen Ausbildungsplatz noch Arbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt, Geschichten wie diese bei der GIZ nachzulesen. Es gibt viele davon, nicht nur im Bereich der Energieversorgung, auch im Bereich der Landwirtschaft, der Wasserversorgung, der Mechatronik oder der Textilverarbeitung. Aber insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es immer noch zu wenige dieser Geschichten. In Afrika drängen pro Jahr rund 20 Millionen Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt. Das heißt, pro Jahr werden 20 Millionen neue Jobs gebraucht – eine unvorstellbare Zahl, wie ich finde. Berufliche Bildung „made in Germany“ oder vielleicht besser „made like Germany“ ist weltweit ein Begriff, und er steht für Qualität. Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht vor allem auch für eine starke Wirtschaft, einen starken Mittelstand, herausragende Fachkräfte im Handwerk und vor allem für eine geringe Jugendarbeitslosigkeit. All das weckt Interesse, Interesse am deutschen Ausbildungssystem, Interesse an unserem dualen Ansatz. Deshalb war es richtig, dass Bundesminister Müller einen Schwerpunkt auf die berufliche Bildung gelegt hat. Es war richtig, eine Ausbildungsinitiative für Afrika zu starten. Afrika, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unser Nachbarkontinent. An der engsten Stelle trennen Europa und Afrika nur rund 20 Kilometer Luftlinie. Uns geht es mit unserem Antrag heute um eine praxisorientierte und bedarfsgerechte Berufsausbildung. Es geht um Jobs und damit um Teilhabe, um Chancengleichheit, um Eigenverantwortung, um Selbstverwirklichung. Kurzum: Es geht um die Zukunft von Millionen von jungen Menschen. Unser Nachbarkontinent Afrika hat ein unglaubliches Potenzial. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Zusammenarbeit intensivieren. Mit unserem Antrag wollen wir den Austausch zwischen Deutschland und unseren Partnerländern in Afrika, in Asien und in Südamerika ausbauen. Uns geht es um Bildungsmanagement. Es geht um Unterstützung beim Auf- und Ausbau von Berufsbildungseinrichtungen. Wer, wenn nicht wir, könnte hier Expertise anbieten? Es geht um die Expertise unserer Sozialpartner, der Handwerksinnungen, der Handwerkskammern, der Fach- und Berufsschulen und auch der Auslandsschulen. Es braucht hier Praktiker vor Ort, die wissen, auf was es ankommt, welche Herausforderungen und Schwierigkeiten es beim Aufbau von Berufsschulen gibt und auch beim Zusammenspiel mit Lehrbetrieben geben kann. Wir wollen die bestehenden Ausbildungsprogramme ausbauen und stärken, weil wir überzeugt sind, dass es sich lohnt, vor Ort Perspektiven zu schaffen, und weil wir auch aus eigener Erfahrung in Deutschland wissen, dass ohne qualifizierte Fachkräfte kein Wachstum, keine starke Wirtschaft und kein Wohlstand möglich sind. Wir haben viel Know-how im Bereich der beruflichen Bildung. Lassen Sie uns bitte dieses Know-how nutzen und zur Verfügung stellen. Deswegen wollen wir Unternehmen bei uns darin bestärken, auch bei ihren Mitarbeitern dafür zu werben, sich in der Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren. Der Senior Experten Service zum Beispiel ist eine führende Organisation für die Entsendung von ehrenamtlichen Fachkräften auf Zeit als Experten für die duale Ausbildung in ein Entwicklungsland. Hierfür müssen wir werben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen den Ländern helfen, Potenziale zu erkennen und diese Potenziale zu nutzen. Mit unserem Antrag wollen wir darauf hinwirken, dass künftig ein Viertel der Haushaltsmittel im Entwicklungsetat für Bildung bereitgestellt wird. Wir sind davon überzeugt, dass berufliche Bildung nicht nur der berühmte Schlüssel zum Wohlstand ist, sondern auch einer unserer entwicklungspolitischen Leuchttürme. Mit unserem Antrag wollen wir diesen Leuchtturm, wenn Sie so wollen, weiter ausbauen, aufstocken, dazu beitragen, dass er weiterhin sichtbar ist und sein Licht noch heller strahlt. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zum Anfang vielleicht etwas Positives über den Antrag von CDU/CSU und SPD und über den Antrag der FDP: Da, wo diese Parteien den Ansätzen der AfD folgen, ist alles richtig: deutsche Sprache forcieren, private Wirtschaft fördern. ({0}) Weiter so, es geht in die richtige Richtung! Aber danach scheitert es kläglich: Es wird wieder von Multilateralität gesprochen, von inklusiver Bildung, die in Deutschland krachend gescheitert ist, und von Gleichstellung anstatt von Gleichberechtigung. Bevor ich nun ins Detail gehe, ein Wort vorab. Am Montag, nach der Lockdown-Regelung der Kanzlerin mit Ihren Ministerpräsidenten, die wie immer am Parlament vorbei getroffen wurde, habe ich eine Nachricht bekommen. Darin stand: Erstens. Welchen Sinn macht es, in diesen Wochen und Monaten über Entwicklungspolitik zu reden, wenn Deutschland von der eigenen Regierung vor die Wand gefahren wird und selber zu einem Entwicklungsland gemacht wird? ({1}) Zweitens. Warum redet ihr über Bildung und Ausbildung in der Entwicklungspolitik, wenn in Deutschland Bildung und Ausbildung gerade zu Grabe getragen werden? Drittens. Welches Geld wollt ihr noch verteilen, wenn in Deutschland bald keines mehr vorhanden ist? Ja, es stimmt: Deutschland braucht eine bessere, eine andere Politik. Bildungsnotstand, Ausbildungsnotstand, Perspektivennotstand – diese Regierung hat endgültig fertig. Nun, auch in Krisenzeiten darf man die Armen der Welt nicht vergessen. Daran erkennen wir den wahren Menschen. So sagte der CSU-Abgeordnete Nüßlein in einer Rede, dass es geradezu Christenpflicht ist, in Coronazeiten zu helfen, den Mantel zu teilen, wie der barmherzige Samariter. Hätten die Zuhörer damals gewusst, dass er mit dem Teilen des Mantels, der komplett überzogenen Politik der Regierung und der Not der Menschen mutmaßlich zusätzlich Geld verdient hat: Unfassbar! So viel zur abnehmenden christlichen Ausrichtung einer untergehenden Union. Aber zur Sache. Das zentrale Problem der zu entwickelnden Länder ist der Bildungs- und Ausbildungsnotstand. Perspektiven fehlen genauso wie lebenssichernde Arbeit. Faktum: Gebildete Mädchen und Frauen werden später verheiratet und bekommen später und weniger Kinder. Gebildete Frauen suchen sich Partner, die auch gebildeter sind. Richtige Bildung sichert die demografische Dividende, ist Freiheit und stärkt kulturelle Identität. Wenn Deutschland Bildung und Ausbildung in den zu entwickelnden Ländern eine hohe Priorität einräumen will, dann kann das nur bilateral und nur mit ausgesuchten Partnern erfolgen. Dazu braucht es die Kooperation mit der Privatwirtschaft, die auch ein entsprechendes Ausbildungs- und Arbeitsangebot sicherstellen muss. Damit schaffen wir Nachhaltigkeit, Perspektive und einen wachsenden, eigenständigen Binnenmarkt in Afrika. ({2}) Dazu kommt, dass die deutsche Sprache in Kombination mit der Herstellung und Nutzung deutscher Produkte – und jetzt aufpassen – in Afrika für Afrika Nachhaltigkeit und Akzeptanz für „Made in Germany“ schafft. Das ist der Grundpfeiler unseres Erfolges. Digitalisierung kann hier helfen, eine ganz neue Geschwindigkeit aufzunehmen; aber das Thema, werte Kollegen, sollten wir in Deutschland erst einmal selber lösen. Deutschland ist absolutes digitales Bildungsentwicklungsland. ({3}) Der zunehmende Verlust von Bildungszugangsmöglichkeiten durch einen völlig fehlgeleiteten Lockdown und der Zusammenbruch von Lebensrealitäten weltweit führen auch in diesem Bereich zu einer Katastrophe, deren Ende wir noch gar nicht absehen können. Was wir jetzt sofort machen müssen: Schauen wir endlich mehr und genauer nach Deutschland. Unsere Kinder sind in ihrer Entwicklung bedroht. Es war ein verlorenes Jahr. Mehr Kinder denn je sind in unserem Land Bildungsverlierer. Schützen wir unsere Bildung, öffnen wir die Schulen, geben wir unseren Kindern wieder Perspektive, damit Deutschland nicht zu einem Bildungsentwicklungsland wird. Danke. ({4})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Koalition sendet vier klare, deutliche Signale: Das erste Signal. Wir wollen, dass mehr Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit für die Bildung eingesetzt werden; denn Bildung ist die wichtigste Entwicklungsressource überhaupt. ({0}) Nur über Bildung kann es gelingen, dass Menschen ihren Lebensweg selbstbestimmt in die Hand nehmen können. Nur über Bildung kann wirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt werden. Nur über Bildung entstehen Perspektiven für Millionen Menschen in unseren Partnerländern. Die zweite Botschaft. Wir wollen mehr für die berufliche Bildung tun; der Kollege Stefinger hat eine ganze Menge dazu gesagt. Unsere Erfahrung in der beruflichen Bildung wird in vielen Ländern der Welt geschätzt – wie ich finde, zu Recht –, weil wir ein System haben, bei dem die Sozialpartner und die Kammern zusammenarbeiten. Wir wollen – das steht auch im Antrag – auch in der Entwicklungszusammenarbeit, dass die Sozialpartner beim Ausbau von Berufsbildungssystemen in den Partnerländern stärker zusammenarbeiten. ({1}) Die dritte Botschaft. Wir wollen die schulische Bildung stärken. Es ist mir besonders wichtig, dass wir nicht nur über die berufliche Bildung reden. Wie wichtig schulische Bildung ist, erleben wir gerade auch hierzulande – das zeigen auch die Debatten –, weil Kinder über Monate nicht mehr in die Schule gehen konnten. Wir reden zum Beispiel darüber, dass in unseren Partnerländern – ich schaue jetzt einmal auf Subsahara-Afrika – nicht nur für ein paar Monate, sondern dauerhaft aktuell 30 Millionen Kinder gar nicht in die Schule gehen können. Das ist ein gewaltiges Entwicklungshemmnis für die Gesellschaften, aber auch für jeden einzelnen Menschen, der betroffen ist. Von diesen 30 Millionen ist die Mehrzahl Mädchen und junge Frauen, die keine Schule besuchen können. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir nicht nur über berufliche Bildung reden, sondern dass wir über den Anfang von Bildung reden, dass wir die schulische Bildung stärken, und das wollen wir mit diesem Antrag erreichen. ({2}) Ich will an dieser Stelle dazusagen, dass es uns gemeinsam in der Koalition in den letzten Jahren gelungen ist, die Ausgaben für die Globale Bildungspartnerschaft auf inzwischen 75 Millionen Euro deutlich zu steigern. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal bei der Kollegin Sonja Steffen ganz herzlich bedanken, die als Haushälterin dieses Thema wesentlich vorangetrieben hat. ({3}) Bildung für Frauen und Mädchen bedeutet mehr Potenzial für wirtschaftliche Entwicklung in unseren Partnerländern. Es ist aber auch die wichtigste Möglichkeit, auf ein sensibles Thema einzuwirken, nämlich das hohe Bevölkerungswachstum, das wir in vielen Staaten Subsahara-Afrikas haben. Das ist deshalb ein Problem, weil es oft schneller steigt, als die wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Wenn man sich einmal vor Augen führt, dass die afrikanische Bevölkerung in den nächsten drei Jahrzehnten um gut 1 Milliarde Menschen wachsen wird, dann kann man sich vorstellen, was das für die Bildungssysteme heißt, wie viele Schulen gebaut werden müssen, wie viele Lehrer ausgebildet werden müssen. Das können diese Staaten oft nicht aus eigener Kraft schaffen. Deshalb ist es wichtig, dass wir in die schulische Bildung in diesen Staaten investieren. ({4}) Die vierte Botschaft, die dieser Antrag sendet: Wir wollen auch im Hochschulbereich stärker auf praxisorientierte Ausbildung setzen. Wir haben in Deutschland mit den Fachhochschulen oder Hochschulen für angewandte Wissenschaften, wie sich viele nennen, ein sehr gutes Modell entwickelt. Ich finde, wir sollten nicht nur Universitäten in den Partnerländern stärken und dort Partnerschaften aufbauen, wir sollten auch dafür sorgen, dass Modelle wie die Hochschulen für angewandte Wissenschaften in unseren Partnerländern stärker unterstützt werden, und zwar mit einer praxisorientierten Hochschulausbildung, damit Absolventen hinterher nicht arbeitslos dastehen, sondern auf dem Arbeitsmarkt unterkommen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der letzte Satz. Ich finde, das Signal wichtig: Wir wollen in der Entwicklungszusammenarbeit deutlich mehr Geld für die Bildung einsetzen; ein Viertel der Ausgaben des BMZ soll das sein. Ich bin gespannt auf den nächsten Haushaltsentwurf der Bundesregierung, der das dann sicherlich umsetzt. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Das konnte Kleist auch: über eine ganze Seite einen Satz formulieren. ({0}) Als Nächster hat das Wort der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion. ({1})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundbildung ist die wichtigste Voraussetzung für ein Leben in Würde und Selbstbestimmtheit. Wer nicht lesen, schreiben oder rechnen kann, wird in unserer heutigen Welt kaum auf eigenen Beinen stehen können; das gilt hier genauso wie in Entwicklungs- und Schwellenländern. Chancengleichheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit sind ohne Bildung nicht zu realisieren. Das gilt besonders für Mädchen und Frauen, die gerade in Entwicklungsländern noch immer zu den Schwächsten in der Gesellschaft gehören. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihr Antrag ist ein netter Forderungskatalog. Wir dürfen aber den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen. Wenn wir die berufliche Bildung stärken wollen, dann müssen wir gerade jetzt unser Engagement im Bereich der Grundbildung ausbauen. ({0}) Die Auswirkungen der Pandemie in Entwicklungsländern sind verheerend. Ich nenne nur Schulschließungen, fehlende Schulspeisungen, die dramatische Zunahme von häuslicher und sexueller Gewalt und ungewollte Schwangerschaften. Hier können wir nur mit multilateralen Bildungsprogrammen gegensteuern. Durch diese Programme wird auch in der Pandemie für Millionen Kinder ein ortsunabhängiges Bildungsangebot bereitgestellt. Es war richtig, die Mittel kurzfristig aufzustocken; doch dabei darf es nicht bleiben. Wir fordern, den Beitrag zu Education Cannot Wait dauerhaft auf 50 Millionen Euro im Jahr zu erhöhen, damit diese wertvolle Arbeit auch in Zukunft geleistet werden kann. ({1}) Gleiches gilt für die Global Partnership for Education, die 870 Millionen Kindern in 89 Entwicklungsländern einen besseren Zugang zu Bildung ermöglicht. Wir sollten den letzten Schritt zu einem gerechten Anteil gemeinsam gehen und spätestens im nächsten Haushalt 110 Millionen Euro pro Jahr für die GPE bereitstellen. Denn wir wissen schon heute, dass wir für die Zeit nach der Pandemie auch Konzepte zur nachholenden Grundbildung benötigen werden. Wir laufen Gefahr, eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen zu verlieren. Doch nur mehr Geld allein wird nicht reichen – es ist auch notwendig, dass sich die Bundesregierung aktiv in den Gremien der Organisationen einbringt. An alle Grundbildungsmaßnahmen muss ein Angebot für Sekundarbildung und berufliche Bildung anknüpfen. Das ist nur mit der Privatwirtschaft möglich und nicht mit staatlichen BMZ-Ausbildungsprogrammen, die ohne konkrete Aussicht auf ein späteres Jobangebot sind. Deshalb müssen wir die Wirtschaftsförderung und den Auf- und Ausbau von Ausbildungsplätzen noch besser vernetzen. Genau daran scheitert die Politik bisher. Erlauben Sie mir abschließend, für meine Fraktion in Richtung SPD noch eines zu sagen: Werter Herr Kollege Matschie, ich habe Ihnen gerade sehr genau zugehört. Ihr Spitzenkandidat, Olaf Scholz, will den Etat des BMZ bis 2025 einfach um 25 Prozent kürzen, während Hunger, Elend, Not und Perspektivlosigkeit auf der Welt zunehmen. Was für eine Bankrotterklärung der deutschen Sozialdemokratie! ({2}) Mit Ihnen stiehlt sich Deutschland aus seiner internationalen Verantwortung. Das werden wir nicht mitmachen. Danke schön. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege in der Beek. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva-Maria Schreiber, Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist ein Menschenrecht und hat einen enorm hohen Stellenwert für die persönliche Entfaltung jedes Menschen; das ist weltweit so. Genau das konnte ich in Äthiopien, Marokko und Mauretanien erleben. Dort besuchte ich von der Bundesrepublik unterstützte Berufsbildungszentren und sah, mit welcher Begeisterung die jungen Menschen ihren Beruf erlernten. Jedoch: Obwohl „Dual“ draufsteht, ist kein „Dual“ drin; denn die komplette Ausbildung findet in diesen Zentren statt. Schule und Betrieb wie bei uns zu kombinieren, funktioniert dort nicht. Duale Ausbildung als deutscher Exportschlager ist kein praktikables Angebot. Man stelle lieber erst nach erfolgter Ausbildung ein, dann aber mit Kusshand, sagte uns ein Fabrikbesitzer in Marokko. Darauf sollten wir hören, das Konzept überdenken und es an die Gegebenheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Partnerländer anpassen. Aber wie ist denn die Lage in vielen Ländern? Viele junge Menschen können nicht ausreichend lesen und schreiben. In den ärmsten Ländern sollte deshalb der Fokus nicht vor allem auf weiterführenden Bildungsangeboten liegen, solange die Grundbildung nicht für alle gesichert ist. ({0}) Das Ziel muss Chancengerechtigkeit für alle sein und nicht vor allem Berufsausbildung für einige wenige. ({1}) Eine ausreichende Grundbildung wirkt der Armut entgegen. Ein zusätzliches Schuljahr erhöht laut Education for All Global Monitoring Report der UNESCO das persönliche Einkommen um etwa 10 Prozent, bei Mädchen sogar um 20 Prozent. Dennoch werden mehr Entwicklungsgelder in die Berufsbildung und die höhere Bildung investiert. Das zementiert Ungleichheit, und das lehnen wir ab. ({2}) Um dem Prinzip, niemanden zurückzulassen, gerecht zu werden, wäre eine Unterstützung der Globalen Bildungspartnerschaft von mindestens 120 Millionen Euro pro Jahr angemessen. Deutschlands Beitrag hat sich zwar in den letzten Jahren von 9 auf 50 Millionen pro Jahr stark gesteigert. Aber mal zum Vergleich: Ein einziges Kampfflugzeug des Typs Tornado kostet 98 Millionen Euro. Wie vielen Kindern mehr könnte man mit dem Geld Grundbildung ermöglichen! ({3}) Die Bildungskrise weltweit muss endlich ein Ende finden. Bildungsungleichheiten, die in der Coronapandemie noch verstärkt werden, durch deutsche Entwicklungspolitik weiter zu verschärfen, lehnen wir entschieden ab. ({4}) Ein Mindestmaß an Bildung ist die Grundvoraussetzung, um an der Gesellschaft teilhaben und ein Leben in Würde führen zu können. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ottmar von Holtz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist natürlich ein Schlüsselfaktor für den erfolgreichen Lebensweg eines jeden Menschen. Darin besteht ja Einigkeit. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, was Sie hier – trotz aller guten Reden, Kollege Christoph Matschie – vorlegen, ist ein Antrag, in dem Sie eine Schwerpunktsetzung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit fordern. Drei Monate vor Ende der Sitzungszeit dieses Parlaments beginnen Sie also, über Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit nachzudenken. Oder: Mehr als ein Jahr, nachdem Ihr Entwicklungsminister mit „BMZ 2030“ einen Plan vorgelegt hat, wie sein Haus die EZ künftig gestalten will, kommen Sie mit Schwerpunkten. Worüber wir am Ende abstimmen werden, ist nicht Ihre Rede, sondern ist der Antrag, den Sie vorgelegt haben, und das ist, ehrlich gesagt, kein Antrag zur Gestaltung. Wenn man sich ihn anguckt, stellt man fest: Das ist von Anfang bis Ende ein Loblied auf die tolle Arbeit Ihrer Regierung: 16 Punkte, mit denen der Bundestag begrüßen soll, was die Bundesregierung alles so Tolles macht. Und da glauben Sie doch nicht im Ernst, dass wir dem folgen werden. ({0}) Der Forderungskatalog ist dann auch entsprechend kürzer ausgefallen, darunter dann viele Punkte, die nur lauten: Dies und das soll die Regierung weiter oder noch stärker fördern. – Würden wir solche Anträge vorlegen, würden Sie sofort sagen: Macht die Regierung doch alles, lehnen wir ab. Und dann entdecke ich Forderungen wie diese: Die Bundesregierung wird aufgefordert – und ich zitiere –, „Ausbildungsprogramme mit einer Ausbildungskomponente in Deutschland nur mit Ländern zu vereinbaren, die bereits in anderen Bereichen der Migrationspolitik umfassend mit Bund und Ländern kooperieren“. – Also, deutlicher kann man nicht dokumentieren, dass es euch in der Entwicklungspolitik vorrangig um Migrationskontrolle geht, und das ist für uns inakzeptabel. ({1}) Auch hinsichtlich der Vorstellung, berufliche Bildung zum EZ-Schwerpunkt zu machen, habe ich wirklich große Zweifel. Zwei Punkte dazu: Erstens. Ohne gute Grundbildung kommt es gar nicht erst zu einer beruflichen Ausbildung. Die Grundbildung ist die Basis von allem, nicht die berufliche Bildung. Wenn überhaupt, dann kann die Schwerpunktsetzung nur dort liegen. Insofern hat der Antrag der FDP genau den richtigen Akzent. Und noch mal – bei aller Rede –: Im Titel steht: berufliche Bildung zum Schwerpunkt machen. Das ist das, was Sie fordern. Deutschland ist aber bei Weitem nicht der einzige Anbieter, der einzige Akteur. Das ist das Problem dessen, der sich auf berufliche Bildung konzentrieren will, und das ist zum Nachteil der Grundbildung. Die EU will ihren Fokus ändern. Auch über die G 7 wird die berufliche Bildung gepusht. Grundbildung hat es einfach momentan in der Entwicklungszusammenarbeit richtig schwer. Dabei ist sie die Grundlage für weitere berufliche Bildung und elementar wichtig. ({2}) Zweitens. Wer zwar eine Berufsausbildung hat, aber in seinem Beruf keinen Job findet, hat davon nichts. Die Schwerpunktsetzung in der Entwicklungszusammenarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann doch nur darin liegen, dass wir endlich kohärent werden mit all unseren Programmen. Darin müsste der Schwerpunkt liegen, und zwar europaweit. ({3}) Wenn wir unsere einseitige Handelspolitik zulasten der afrikanischen Märkte weiter betreiben, dann nutzen Berufsbildungsprogramme nichts. Das muss alles Hand in Hand gehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Oder: Wenn wir nicht über Programme und Konditionen auf mehr Rechtsstaatlichkeit in den Partnerländern drängen, damit diejenigen, die eine Berufsausbildung bekommen haben, auch ihren Job ausüben können und nicht wegen Diskriminierung daran gehindert werden, dann haben wir auch nichts von Berufsbildungsprogrammen, usw. usw. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Liste fehlender Kohärenzen ist sehr lang, Herr Präsident; aber ich kann es auch kürzer machen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das müssen Sie jetzt sogar; sonst entziehe ich Ihnen das Wort.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir lehnen Ihren Antrag ab. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege von Holtz. – Vorletzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stefan Sauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen die globalen Probleme lösen, sonst stellen sich bei uns lokal die Probleme ein. Bildung steht im Mittelpunkt unseres Antrags und ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung im Globalen Süden. Wir können die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Entwicklungsprozess schaffen, die Entwicklung in Gang bringen. Die Marktmechanismen funktionieren weltweit gleich und beginnen stets mit Bildung. Ausbildung sorgt für ein stabiles, ausreichendes Einkommen, für persönliche Unabhängigkeit, und daraus resultiert gesellschaftliche Anerkennung und nicht selten daraus auch gesellschaftliches Engagement. Ein selbstbestimmtes Leben abseits von Militär und Familienclans, das muss uns in den Entwicklungsländern gelingen. Die Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung eines Landes schenkt Zufriedenheit. Wir müssen aber – und ich spanne da den Bogen – auch andere Themen wie die Korruption mit betrachten. Ich glaube, die Korruption bremst uns in unserer Entwicklung dort sehr stark aus. Deshalb brauchen wir gesellschaftliche Stärke vor Ort. Menschen wollen raus aus Abhängigkeiten. Sie wollen Perspektive in ihrer Heimat statt Migration. Voraussetzung dafür: Bildung, berufliche Bildung, der Aufstieg in dem dann angestrebten Beruf. Die berufliche und persönliche Perspektive ist hierbei wichtig – wichtig, um aus der Armut herauszukommen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, nicht den vorbestimmten Lebensläufen zu folgen, wie es gerade den Frauen immer wieder passiert. Wir müssen helfen. Lebensqualität vor Ort bindet junge Menschen an ihre Heimat und ist Voraussetzung für eine leistungsstarke Mittelschicht. Ich verstehe nicht, warum die AfD dagegen ist. Wenn Sie aufrichtig Politik machen würden, sollten Sie das Ziel verfolgen. – Und, Herr von Holtz, ich verstehe auch nicht, warum Sie dann in diesem Zusammenhang von einer Migrationskontrolle sprechen und es negativ darstellen. Bildung ist ein Schwerpunkt der europäischen Zusammenarbeit – auch und gerade für Deutschland. Wir möchten ein Viertel unserer Haushaltsmittel dafür ausgeben. Warum steht berufliche Bildung im Zentrum unseres Antrags? Weil wir sagen: Hier haben wir jahrzehntelange Erfahrung, hier haben wir Multiplikatoren, die uns im Ergebnis um einiges nach vorne werfen. Wir haben eine Champion-Position in der beruflichen Bildung. Ja, wir sind größter Geber schon heute, und diese Position wollen wir ausbauen. Wir kennen die Arbeitsmärkte vor Ort. Und wir können mit den vorhandenen Mannschaften Akzente setzen, wir brauchen nicht erst noch irgendwelche Einrichtungen zu schaffen. Unsere Akteure sind da; sie sind leistungsstark. Ich denke an die Berufsbildungspartnerschaften, an die Außenhandelskammern, die Handwerkskammern. Die Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main beispielsweise sucht eine passgenaue Ausbildung, und deshalb werden Handwerksmeister und Experten für Auslandsausbildungseinheiten zur Verfügung gestellt. Zu den weiteren Akteuren zählen die GIZ als langjähriger Partner in Berufsbildungsprojekten, EZ-Scouts in den Kammern, Verbänden und Betrieben, die Organisation sequa und – der Kollege Stefinger hat es schon angesprochen – Senior Experten Service, tatsächlich eine Einheit, wo ehrenamtlich viel Berufserfahrung weitergegeben wird. Und man kann sagen: Fachlichkeit, Menschlichkeit und auch Zuspruch wird in einem Bündel übergeben. Das schafft Mut und Zuversicht bei den Menschen dort für die Zukunft im eigenen Land. Wir haben ein weiteres wichtiges Scharnier; das ist die private Wirtschaft. Hier ist eine zentrale Bedeutung zu sehen. Die Kooperation entspricht auch den Leitlinien des BMZ; wir haben uns hier mit privatem Engagement zu vernetzen. Wo liegen die Vorteile? – Klar, die deutschen Unternehmen haben auch Vorteile; denn sie bekommen für ihre Investitionen vor Ort ausgebildete Fachkräfte. Die Vermittlung von Know-how in der Ausbildung hilft, die Position vor Ort zu stärken. Ausbildungsprogramme helfen aber auch den lokalen Unternehmen vor Ort und stärken deren Wettbewerbsposition, und gut für die Infrastruktur ist es ebenso. Wir haben Programme des BMZ – AfricaGrow-Fonds und AfricaConnect –, die hier sinnvoll ergänzt werden. Und vor allem die Auszubildenden profitieren. Es wurde vorhin vom Prinzip der dualen Ausbildung gesprochen: Ja, die praktische Komponente fehlt dort. Die Theorie ist oft gut, aber in der Praxis hapert es. Warum gerade jetzt, zur heutigen Zeit, dieser Antrag? – Ich glaube, wir dürfen sagen: Es passiert viel, Zukunftsthemen spielen sich auch in Afrika ab. – Auch hier muss die Ausbildung weitere Bereiche umfassen. Ich denke an die Energie: Solarenergie und Grüner Wasserstoff. Dies sind große Themen, und wenn wir diese auch dort leistungsstark umsetzen wollen, dann brauchen wir ausgebildete Fachkräfte vor Ort. Mit dem Antrag erreichen wir deshalb vieles. Wir erreichen berufliche Bildung und gesellschaftliche Entwicklung junger Menschen in ihrem Land und eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vor Ort. Korruption kann entgegengewirkt werden, und wir schaffen Zukunftsperspektiven im eigenen Land. Die Verhinderung von Migration aus Verzweiflung ist ein Ziel, das wir alle zum Wohle aller verfolgen sollten. Bildung ist wichtig. Ich würde mich freuen, wenn Sie den Antrag unterstützen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sauer. – Letzter Redner des heutigen Tages ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Bemerkung in Richtung des FDP-Kollegen, der den Haushalt angesprochen hat. Der nächste Haushaltsansatz ist gleich geblieben, und später entscheidet der neue Bundestag über den Haushalt. Und da greift natürlich die Schuldenbremse; das kennen Sie ja auch. Dies muss an dieser Stelle korrigiert werden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen in Deutschland darüber, dass wir unbedingt eine verlorene Coronageneration vermeiden wollen. Das, was für uns in Deutschland gilt, gilt auch für andere Länder. Kurz gesagt: Wir wollen niemanden zurücklassen. – Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass bereits 2010 die berufliche Bildung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit an Bedeutung hinzugewonnen hat. Wir haben mehr Mittel für die berufliche Bildung zur Verfügung gestellt als die EU-Kommission und die Weltbank. Die Bundesregierung setzt sich weltweit für die Qualifizierung in der informellen Wirtschaft und beruflichen Bildung im ländlichen Raum ein. Angesichts von 68 Millionen jungen Menschen, die arbeitslos sind, ist das ein wichtiger Beitrag. Die berufliche Bildung trägt nicht nur zur Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen bei, sondern befähigt sie auch zur gesellschaftlichen Teilhabe und stärkt ihren Selbstwert. ({1}) Darüber hinaus leistet die berufliche Bildung einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele. Ganz konkret sind es folgende Ziele: Erstens. „Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern.“ Zweitens. „Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen.“ ({2}) Drittens. „Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen also unsere Förderung der beruflichen Bildung in der Welt weiter ausweiten. Wichtig ist dabei, dass die Anforderungen der Gesellschaft mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes in dem jeweiligen Land zusammenpassen. ({3}) Wir müssen die Perspektivlosigkeit in den Ländern bekämpfen; denn sie gefährdet den sozialen Frieden, schafft Konflikte und erhöht den Migrationsdruck. Mangelnde Aus- und Beschäftigungsmöglichkeiten verstärken den Wunsch oder die Notwendigkeit, die Herkunftsregion zu verlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was für uns in Deutschland gilt, gilt auch für andere Länder. Wir wollen niemanden zurücklassen. Deshalb ist es wichtig, unsere Anstrengungen in der beruflichen Bildung mit Einbeziehung der Sozialpartner auszuweiten. Lasst uns das gemeinsam voranbringen! Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Diaby. – Damit schließe ich die Aussprache, und wir nähern uns den Abstimmungen.