Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/4/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ ({0}) Kein Satz von mir, kein Satz, den nur ich zitieren könnte. Es ist ein Satz von Rudolf Virchow, der hier in Berlin Direktor der Pathologie an der Charité war, der gleichzeitig Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, des Preußischen Landtags und des Reichstags über Jahrzehnte gewesen ist und der ein Verständnis von Wissenschaft in der Medizin und der Politik geprägt hat, wie wir es heute anwenden können und müssen in einem Maß, wie es viele von uns sich nie hätten träumen lassen. Ich glaube, dass unsere Aufgaben, die wir fördern und voranbringen müssen, darin bestehen, die weitere Reduktion von Neuinfektionen in unserem Land voranzubringen, die Unterbrechung der diffusen Zirkulation von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung zu erreichen und die Vermeidung eines Wiederanstiegs der Fallzahlen anzustreben, indem die grundlegenden Verhaltensregeln – AHA+L sowie eine Selbstisolierung bei Krankheitssymptomen – von der Bevölkerung weiter praktiziert werden und indem wir mit effektiver Testung und Kontaktpersonennachverfolgung die Zahl der Neuinfektionen niedrig halten, damit der Öffentliche Gesundheitsdienst neu auftretende Fälle nachverfolgen kann, damit Quarantäne und Isolation überall, wo erforderlich, praktiziert werden können und damit Ausbruchsuntersuchungen durchgeführt werden können. Wir brauchen einen umfassenden Einsatz der Impfprävention. Wir können erkennen, dass Impfprävention hilft. Ich erinnere an den 23. Dezember 2020, als wir in den nordrhein-westfälischen Pflegeheimen vor dem Start der Impfkampagne eine Anzahl von über 5 200 infizierten Menschen hatten, die dadurch in größte Gefahr gekommen sind. Wir haben in dieser Woche erlebt, dass, nachdem praktisch alle Bewohner von Altenheimen durchgeimpft sind, in Nordrhein-Westfalen die Zahl der noch von der Krankheit Befallenen in den Heimen auf 560 gesunken ist. Das zeigt, wie sehr Impfprävention wirkt. Impfung ist eine starke Waffe in der Auseinandersetzung mit der Pandemie. ({1}) Das zeigt auch, dass wir mit der Intensivierung der Impfkampagne den Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen ernst nehmen und dass wir damit Wirkungen erzielen. Das RKI hat gestern seinen neuen Bericht zu besorgniserregenden SARS-CoV-2-Virusvarianten vorgestellt. Die britische Variante macht in Deutschland mittlerweile rund 46 Prozent aus. Zugleich haben wir rund 2 800 Covid-19-Patientinnen und -Patienten in intensivmedizinischer Behandlung. Das entspricht dem Höchststand der Welle im Frühjahr 2020, der ersten Welle. Allein das zeigt, dass wir uns ohne jeden Zweifel weiter in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite befinden. Deshalb ist es gut und richtig, wenn wir heute so fraktionsübergreifend wie möglich das rechtliche Fortbestehen dieser Lage nach dem Infektionsschutzgesetz über den 31. März 2021, wenn die derzeitige Feststellung ausläuft, festhalten und für die Zeit ab April festlegen. Wir haben oft über die Rolle des Deutschen Bundestages in der Pandemiebekämpfung debattiert. Gerade nachdem gestern die Ministerpräsidenten der Bundesländer bei der Bundeskanzlerin getagt haben, freue ich mich, dass unser Haus fraktionsübergreifend so voll besetzt ist, wie es ist. ({2}) Ich fände es nicht schlecht, wenn wir hier nicht nur immer die Bundeskanzlerin, den Bundesminister für Gesundheit, den Bundesminister für Wirtschaft zur Rede stellen und zur Verantwortung ziehen würden. Ich rege an, dass sich vielleicht der eine oder andere Ministerpräsident auch mal überlegt, ob er sich diesem Haus stellt, wenn er so was veranstaltet, wie wir es gestern erlebt haben. ({3}) Wir haben Konsequenzen aus den Debatten gezogen, und diese Konsequenzen sind im Wesentlichen, dass wir eine Rechtsgrundlage für die Impfverordnung des BMG neu fassen und in das Infektionsschutzgesetz einfügen. Wir haben uns darauf verständigt, über die Inzidenz hinaus weitere Kriterien im Gesetz festzuhalten: sowohl die Frage der Reproduktionsziffer als auch die Anzahl der Geimpften als auch die Belastungssituation im Gesundheitswesen. Und wir haben uns darauf verständigt, dass wir eine Evaluation mit unabhängigen Wissenschaftlern betreiben, die ihr Ergebnis bis Ende 2021 vorlegen. Wir erwarten von der nächsten Bundesregierung, sich dazu zu verhalten, sodass wir dann eine Debatte darüber bekommen, welche Konsequenzen daraus für die Gestaltung des Infektionsschutzgesetzes zu ziehen sind. Wir haben uns außerdem darauf verständigt, dass wir bei den Kompetenzen, die wir dem Bundesminister für Gesundheit übertragen, durch die Streichung des Wortes „insbesondere“ an vier Stellen eine Konkretisierung des Auftrags vornehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass der Bundestag seine Rolle mit der Verabschiedung dieses Gesetzes stärkt, und deswegen bitte ich Sie alle sehr herzlich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Robby Schlund, AfD. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, nur noch ein Drittel der Bevölkerung hält eine Beibehaltung der Coronamaßnahmen für sinnvoll. Immer mehr Mittelständler stellen sich die Existenzfrage, und die Zahl der psychischen Krankheiten durch den Dauerlockdown steigt exorbitant. Der Mittelstand in Deutschland steht vor der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Arbeitslosigkeit, Betriebsschließungen und Insolvenzen beherrschen in Deutschland die Tagesordnung. Die Coronapandemie ist längst nicht mehr nur ein gesundheitspolitisches, sondern mittlerweile auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. ({0}) Umso unverständlicher ist es, dass statt kurz-, mittel- und langfristiger Lösungen ein chaotisches Krisenmanagement angeboten wird, mit fehlenden Öffnungs- und Unterstützungsperspektiven. Wir brauchen kein Gesetz für den Fortbestand einer epidemischen Lage. ({1}) Was wir aber brauchen, meine Damen und Herren, was wir in der Tat brauchen, ist ein Rastermanagement, welches die AfD bereits seit Februar 2020 fordert. Dies gilt es umzusetzen, und dem gilt es Aufmerksamkeit zu schenken. ({2}) Aber was, meine Damen und Herren, ist denn nun der große Unterschied zu dem, was hier gerade in Deutschland stattfindet? Bei unserem Rastermanagement werden die Risikogruppen und Erkrankten bei gleichzeitigem Aufrechterhalten systemrelevanter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse geschützt. Eine indirekte Bestätigung erfuhr ich dazu bei einem Gespräch mit dem Chef des russischen Gesundheitsausschusses im Oktober letzten Jahres, Herrn Dr. Morozov. Denn in Russland setzt man ein ähnliches Konzept mit Expertenkommissionen ein, wie wir, die AfD, es fordern. ({3}) Ergänzt wird das Ganze durch einen staatlich organisierten Freiwilligendienst, um die Risikogruppen und Erkrankten effektiv zu unterstützen. Einen neuerlichen Lockdown gab und gibt es in Russland nicht. Schauen wir auf die aktuellen Daten der Johns-Hopkins-Universität, wird schnell deutlich, dass es keinen Zusammenhang – ich betone: keinen Zusammenhang – zwischen den Sieben-Tage-Inzidenzen und den Todesraten bei Lockdown-Maßnahmen oder eben keinen Lockdown-Maßnahmen gibt. ({4}) So sind in Russland zum Beispiel die Sieben-Tage-Inzidenz wie auch die Coronatodeszahlen, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, um circa die Hälfte niedriger als in Deutschland oder in Österreich. In Anbetracht des weniger effizienten Gesundheitssystems in Russland zeigt sich hier deutlich, dass es auf jeden Fall am Management liegt und nicht primär an der Gesundheitsversorgung. ({5}) Trotz massiver Kritik aus dem Gesundheitsausschuss besteht aus unserer Sicht eben kein Widerspruch zwischen einem effizienten Expertenrat und der Forderung nach Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage. Denn die epidemische Lage wird sozusagen benutzt, um Grundrechtseinschränkungen zu legitimieren. Deshalb plädieren wir erstens für die sofortige Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, ({6}) zweitens für die Beseitigung der Grundrechtseingriffe und Ermächtigungen durch dieses Gesetz und drittens für die Entwicklung eines Rastermanagementkonzeptes mit Expertenrat unter Berücksichtigung der drei Säulen des Pandemiemanagements: Schutz der Risikogruppen, medikamentöse Beeinflussung der Virusausbreitung und – last, but not least – Prophylaxe sowie Impfstrategie auf freiwilliger Basis. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Sabine Dittmar, SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast genau vor einem Jahr musste das Parlament erstmals eine epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellen. Wir haben damals in Verbindung mit dem Ersten Bevölkerungsschutzgesetz wichtige gesetzliche Regelungen getroffen, um flexibel und schnell auf die Entwicklungen der SARS-CoV-2-Epidemie reagieren zu können. Wir haben die pandemiebedingten Regelungen im lnfektionsschutzgesetz damals für ein Jahr befristet. Dies geschah in der Annahme, dass Corona heute schon längst der Vergangenheit angehören würde. ({0}) Leider ist das nicht der Fall. SARS-CoV-2 hält weiterhin die Welt in Atem, mit fast 150 Millionen Erkrankten und 2,5 Millionen Todesfällen. ({1}) Auch in Deutschland gibt es keine Entwarnung. Nach einem erfreulichen Rückgang der Zahl der Neuinfektionen befinden wir uns seit Mitte Februar in einer Seitwärtsbewegung auf einem sehr hohen Niveau mit steigender Tendenz. Das Virus und mittlerweile maßgeblich die wesentlich infektiöseren Virusmutanten, die in Kürze auch das lnfektionsgeschehen bestimmen werden, erfordern deshalb weiterhin ein konsequentes Handeln von uns allen. Deshalb werden wir heute feststellen, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite weiter besteht. ({2}) Wir werden weiter regeln, dass, wenn nach drei Monaten keine erneute Feststellung erfolgt, diese automatisch als aufgehoben gilt und damit auch alle verbundenen Rechtsverordnungen und Anordnungen ihre Gültigkeit verlieren. Ich möchte an dieser Stelle eines mal ganz deutlich machen, weil ich in vielen Gesprächen den Eindruck gewinne, dass es immer wieder vermischt wird: Wenn der Bundestag heute das Fortbestehen der epidemischen Lage feststellt, heißt das nicht, dass die zur Bekämpfung von Corona getroffenen Maßnahmen auch auf Dauer fortbestehen. ({3}) Schritt für Schritt wird zwischen Bund und Ländern über Lockerungsmöglichkeiten und über notwendige und angemessene Einschränkungen beraten werden, und die Länder müssen bei der Umsetzung begründen, dass die Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind. Und hierzu genügt es eben nicht, sich ausschließlich an den Inzidenzwerten zu orientieren. Hier müssen beispielsweise auch der R-Wert, die Belastung des Gesundheitssystems, die Impfquote oder neue Testmöglichkeiten berücksichtigt werden. Das haben wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf auch noch einmal ganz deutlich festgestellt. ({4}) Meine Damen und Herren, ich kann den Wunsch nach Lockerungen gut verstehen; es geht uns ja allen so. Bürgerinnen und Bürger, Gewerbetreibende, Touristiker, Kulturschaffende, wir alle brauchen eine klare Perspektive. Und genau das ist auch die Herausforderung. Denn das Abwägen zwischen Infektionsgeschehen und weiteren Lockerungen, das Für und Wider zwischen Öffnen und Aufrufen zum Durchhalten – es ist und bleibt eine Gratwanderung. Allerdings kann dieser schmale Grat mittlerweile mit etwas mehr Zuversicht beschritten werden. Denn mit den Impfungen, den Tests und dank der digitalen Kontaktdatenerfassung haben wir neue und bessere Möglichkeiten zur Verfügung. Deshalb bin ich froh, dass die Bund-Länder-Konferenz gestern nicht nur über Öffnungsstrategien, sondern vor allem auch über Impf- und Teststrategien gesprochen hat. Bei der Teststrategie bleiben für mich als Medizinerin allerdings noch einige Fragen offen. Ein Test pro Woche in Schule und Kita kann nur ein Anfang sein. ({5}) Ich begrüße, dass wir nun endlich bei der Impfstrategie weiterkommen. Die große Menge an Impfstoffdosen auf Halde ist für mich völlig inakzeptabel. ({6}) Ein Ausdehnen des Intervalls zwischen erster und zweiter Impfung, ein Abschmelzen der Reserve für die Zweitimpfung und die hoffentlich zügige Anpassung der STIKO-Empfehlung bezüglich des Einsatzes von AstraZeneca sind gute Signale. ({7}) Ich sage mit allem Nachdruck: Neben einer deutlichen Kapazitätssteigerung in den Impfzentren müssen jetzt sehr zeitnah die Haus- und Facharztpraxen und auch die Betriebsärzte mit in die Impfstrategie integriert werden. ({8}) Meine Damen und Herren, zum Ende meiner Rede möchte ich noch auf ein paar wichtige Veränderungen hinweisen, die wir im parlamentarischen Verfahren erreicht haben; auf die rechtlichen Feinheiten wird mein Kollege Fechner eingehen. Für uns als Gesundheitspolitiker war es wichtig, den Pflegeschutzschirm unverändert fortzuführen. Die angedachten Regelungen hätten zu großer Unsicherheit bei den Einrichtungsträgern geführt. Ich hoffe, diese Sorgen haben wir nehmen können. Wir passen auch die Entschädigungsregel im Infektionsschutzgesetz für Eltern, die pandemiebedingt Kinderbetreuung leisten, an die bereits erweiterten Regelungen zum Kinderkrankengeld im Sozialgesetzbuch an. Und wir haben die Prämienzahlung für besonders belastete Pflegekräfte und andere Krankenhausbeschäftigte erheblich ausgeweitet. Hierzu werden 450 Millionen Euro bereitgestellt. Ich denke, die Beschäftigten haben diese Prämie mehr als verdient. Meine Damen und Herren, insgesamt legen wir Ihnen ein gelungenes Gesetz vor, das im parlamentarischen Verfahren wirklich entscheidende Veränderungen erfahren hat. Ich denke, mit ein bisschen mehr Tempo beim Impfen, einer gut durchdachten Teststrategie ({9}) und wenn wir alle weiterhin achtsam und sorgfältig miteinander umgehen, werden wir peu à peu ein Stück Normalität zurückgewinnen. ({10}) Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung zum Gesetz. Bleiben Sie gesund! ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als FDP-Bundestagsfraktion erkennen an, dass Sie einige unserer Forderungen in diesem Gesetzentwurf umgesetzt haben. So begrüßen wir, dass der Bundestag nunmehr mindestens alle drei Monate der Feststellung der epidemischen Lage zustimmen muss. Das haben wir schon sehr lange gefordert! ({0}) Ebenso positiv ist, dass Impfziele für die Priorisierung jetzt im Gesetz aufgeführt werden und auch dass bestimmte Schutzschirme verlängert werden; das ist für die Akteure sehr wichtig. Leider haben Sie es aber nicht geschafft, die verfassungsrechtlichen Verstöße, die immer noch vorliegen, aufzuheben, meine Damen und Herren. ({1}) Von Ihnen als Regierung wurde trotz öffentlicher Anhörungen, trotz einhelliger Auffassung der Verfassungsrechtler, trotz Einschätzung der Leopoldina und des Ethikrates ganz einfach die Mute-Taste, also die Stummschaltung, gedrückt und auf Durchzug geschaltet. Das geht nicht, meine Damen und Herren! ({2}) Ich frage mich ernsthaft: Wo ist die verfassungsrechtliche Expertise der Koalition geblieben? Ich sehe da nichts. ({3}) Die Feststellung der epidemischen Lage alle drei Monate eröffnet dem Ministerium doch nach wie vor die Option, innerhalb dieser drei Monate Verordnungen ohne Zustimmung des Bundestages zu erlassen. Das geht nicht, meine Damen und Herren! ({4}) Eine solche Dauergenehmigung ist verfassungswidrig. Sie umgehen hier den Parlamentsvorbehalt, und das ist eine Missachtung des Parlamentes. ({5}) Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass Ihre Verordnungsermächtigung ohne Beteiligung des Bundestages von allen Verfassungsrechtlern einhellig als Verstoß gegen Artikel 80 Grundgesetz bewertet wird, meine Damen und Herren. ({6}) Außerdem ist die Nennung von Impfzielen für die Priorisierung allein nicht ausreichend; auch das haben Verfassungsrechtler bestätigt. Eine Impfpriorisierung, die ja im Moment leider noch aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit der Impfstoffe notwendig ist, muss gesetzlich normiert sein. Alles andere ist verfassungswidrig. ({7}) Leider stellen Sie unseren Regelungsvorschlag immer wieder falsch dar, wenn Sie behaupten, er wäre zu statisch und zu unflexibel. Ich empfehle einfach mal einen Blick in unseren Änderungsantrag. Auch wir wollen eine Verordnungsermächtigung, um schnell auf neue Impfstoffe oder mit Anpassung der Priorisierung reagieren zu können; auch wir wollen Flexibilität, auch wir wollen Impfungen in Arztpraxen und von Betriebsärzten. Aber – und das weigern Sie sich leider zu akzeptieren – das kann nur mit Zustimmung des Deutschen Bundestages geschehen, meine Damen und Herren. Genau das steht in unserem Änderungsantrag. ({8}) Denn die Frage, wann wer geimpft wird, hat nun mal Auswirkungen auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Menschen. Wir benötigen Rechtssicherheit, und als Fraktion, die die Rechtsstaatlichkeit sehr hochhält, ist uns das besonders wichtig. ({9}) Meine Damen und Herren, leider müssen wir aufgrund des Missmanagements bei der Impfstoffbeschaffung auch weiterhin priorisieren. Deshalb kommt es beim Wettlauf gegen das Virus aufs Tempo beim Impfen an. Da hakt es noch gewaltig. Deswegen gehen wir erneut in Vorleistung und bringen morgen einen Antrag für ein nationales Impfportal in den Deutschen Bundestag ein. Dass Impfdosen auf Halde liegen und nicht verimpft werden, ist ein Zustand, den wir nicht akzeptieren können und der beendet werden muss. ({10}) Meine Damen und Herren, das Impfmanagement der Bundesregierung hat der Politik und dem Ansehen Deutschlands einen schweren Schaden zugefügt: ({11}) Platz 22 in Europa, Platz 40 in der Welt. Das ist doch einfach nicht hinnehmbar! Das ist doch eine Schande, und das muss geändert werden! ({12}) Des Weiteren kritisieren wir an dem Gesetzentwurf, dass die Schutzschirme nicht ausreichend aufgespannt werden. Es fehlen wichtige Akteure wie zum Beispiel die Hebammen, Heilmittelerbringer und Zahnärzte, die jetzt in dem Schutzschirm nicht berücksichtigt werden. Im Ergebnis werden wir Ihr Gesetz ablehnen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Ferschl, Die Linke. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die pandemische Lage besteht weiterhin; das belegen die aktuellen Zahlen. Deswegen sind auch weitere Maßnahmen notwendig; das ist unstrittig. Aber das, was wir hier seit einem Jahr erleben, ist nichts anderes als Chaos und Planlosigkeit. Es fehlt nach wie vor an Transparenz, an demokratischer Beteiligung des Parlaments und an einer klaren Strategie. ({0}) Gestern tagte wieder die Ministerpräsidentenkonferenz samt Kanzlerin, und mir kommt es langsam so vor wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“: stundenlanges Spektakel im Kanzleramt drinnen und stundenlanges Warten draußen auf die Ergebnisse. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber: Die Debatten gehören raus aus dem Kanzleramt und rein hier ins Parlament! ({1}) Frau Bundeskanzlerin, Sie halten es seit einem Jahr nicht für notwendig, zumindest vor dieser Runde hier eine öffentliche Regierungserklärung abzugeben, nicht mal im Nachgang. Das ist doch an Ignoranz kaum zu überbieten! ({2}) Öffentlichkeit würde für Transparenz sorgen und so manchen wilden Theorien vorbeugen. Umso entsetzter bin ich, dass Union und SPD gestern im Gesundheitsausschuss mit den Stimmen der AfD einen Unterausschuss beschlossen haben, der nichtöffentlich hinter verschlossenen Türen beraten soll. ({3}) Das schlägt doch dem Fass den Boden aus! ({4}) Liebe Union und liebe SPD, ich weiß nicht, wie Sie Ihre Rolle verstehen; aber unsere Aufgabe als Parlamentarier ist doch, für Transparenz zu sorgen und wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Bundesregierung zu überlassen. Und die Fragen, ob man seinem Beruf nachgehen kann, ob es Ausgangssperren gibt, ob Schulen und Kitas geschlossen sind, sind doch wohl wesentliche Entscheidungen. Und im Übrigen auch die Frage andersherum: Wann wird denn wieder geöffnet? Das einzig Wesentliche, was der Bundestag in diesen Fragen beschlossen hat, ({5}) war vor circa einem Jahr eine umfassende Verordnungsermächtigung der Bundesregierung und auch der Landesregierungen. Was fällt Ihnen nach einem Jahr an Verbesserungen ein? Der Bundestag soll nun die epidemische Lage im Dreimonatsrhythmus beschließen. Tut er es nicht, gelten auch alle Verordnungen, die seit Anfang 2020 in Kraft getreten sind, nicht mehr, also auch Krankenhausfinanzierung, Arbeitsschutz usw. Das ist doch lediglich eine Scheinbeteiligung des Parlaments; ({6}) Regieren per Verordnung bleibt weiter möglich. Das ist mit uns nicht zu machen, und deshalb lehnen wir das ab. ({7}) Was bezüglich der Akzeptanz der Bevölkerung ein genauso großes Problem ist wie die fehlende Transparenz, ist die fehlende Strategie. Im Vorfeld und auch im Nachgang dieser Ministerpräsidentenkonferenz wird – so würde man es zumindest in Bayern sagen – regelmäßig eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Jeder und jede hat andere Ideen und andere Vorschläge. Der eine erzählt, dass der Osterurlaub nicht möglich ist, der Nächste erzählt was von bedeutenden Schritten der Öffnung, die es demnächst geben wird. Die Inzidenzwerte, die gestern diskutiert wurden, die für die Öffnungen maßgeblich sind, schwankten im Stundentakt zwischen 35, 50 und 100. Es ist nicht mehr nachvollziehbar. Die bisherigen Öffnungsschritte muten zumindest seltsam an. Während aktuell noch ganze Schulklassen in Homeschooling sind, haben Friseure seit 1. März wieder geöffnet. Ich habe nicht grundsätzlich etwas dagegen. Aber warum ausgerechnet Friseure, ({8}) und warum ausgerechnet zum 1. März? Und warum sind eigentlich bayerische Baumärkte weniger infektiös als andere? Ich sage Ihnen: Das ist alles nicht logisch. Das ist Willkür und keine Strategie. ({9}) Wir sind uns einig: Alle Freiheitseinschränkungen müssen so schnell wie möglich aufgehoben werden. Aber für Öffnungsszenarien sind Kontaktnachverfolgung, ein breiter Zugang zu Impfstoffen und Schnelltests nötig. Und bei all diesen Punkten hat die Bundesregierung bislang versagt. ({10}) Die Corona-Warn-App hat gefloppt, und die Gesundheitsämter sind über einen viel zu langen Zeitraum runtergespart worden, sodass die Kontaktverfolgung erschwert wurde. Ausreichender Impfstoff steht nach wie vor nicht zur Verfügung, auch weil sich die Bundesregierung standhaft weigert, die Lizenzen freizugeben. ({11}) Und auf die angekündigten Schnelltests und Selbsttests warten wir noch, während unsere österreichischen Nachbarn damit schon lange arbeiten. Ja, natürlich ist die Lage dynamisch. Aber ein Jahr nach der Pandemie können die Menschen in diesem Land doch erwarten, dass Sie Ordnung in dieses Chaos bringen. ({12}) Und dazu gehören ein im Parlament – und ich betone: im Parlament – beschlossener Stufenplan, der regelt, welche Einschränkungen und welche Bedingungen gelten, und eine hier beschlossene Impf- und Teststrategie. Das alles fehlt in Ihrem Gesetzentwurf. Nach zwölf Monaten hätte ich wirklich mehr erwartet. ({13}) Ich erwarte von dieser Bundesregierung auch, dass sie die Weichen für die Zukunft anders stellt. Wir brauchen Investitionen ins Bildungssystem. Das, was in dieser Pandemie mit Kindern und Jugendlichen passiert ist, darf nie wieder passieren. ({14}) Und der Gesundheits- und Pflegebereich muss endlich der Marktlogik entzogen werden. Es ist doch völlig irre, dass im letzten Jahr 20 Krankenhäuser geschlossen worden sind. ({15}) Abschließend bitte ich Sie, unserem Entschließungsantrag für eine Lohnersatzleistung für die pflegenden Angehörigen zuzustimmen; denn es sind Menschen, die sehr häufig vergessen werden, und sie brauchen unbedingt ein soziales Sicherungsprogramm. Vielen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Wir diskutieren heute unter diesem Tagesordnungspunkt zwei wichtige Punkte, in einer Situation, die ausgesprochen gefährlich und besonders ist. Wir sind in einer Situation, wo die Menschen es satthaben, nicht mehr nach draußen zu können mit all den Lieben, die sie treffen wollen, wo sie große Sehnsucht haben nach Kontakt, nach Kulturveranstaltungen, nach Erleben, nach Gemeinsamkeit. Und gleichzeitig wissen wir, dass die Virusvarianten auf dem Vormarsch sind; fast 50 Prozent aller Infektionen gehen mittlerweile auf diese Varianten zurück. Und wir wissen, dass das eine gefährliche Entwicklung ist, die viele unserer Bemühungen der letzten Monate hinfällig machen kann. Deshalb ist es so wichtig, besonnen und achtsam und nachvollziehbar vorzugehen. ({0}) Genau das passiert heute nicht. Ja, wir werden heute der Feststellung der Fortsetzung der epidemischen Lage natürlich zustimmen müssen. Wir sind in dieser gefährlichen Situation. Das ist das eine. Aber wir sagen Nein zu diesem Gesetzentwurf, der weiterhin nicht vorsieht, dass man im Infektionsschutzgesetz nachvollziehbar findet, was die Politik, was die Regierung in welcher Lage, bei welcher Infektionsrate, mit welchen Maßnahmen und aus welchen Gründen tun wird. Wir haben immer gefordert, dass es einen Stufenplan geben muss, der Verlässlichkeit schafft, der Berechenbarkeit schafft, ({1}) der Nachvollziehbarkeit schafft. Und genau das haben Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht vorgelegt. ({2}) Um zu zeigen, wie das ist: Gestern Abend sind Inzidenzwerte beschlossen worden, die sich in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht wiederfinden. Sie werden sofort eine Änderung des Gesetzes verabschieden müssen, (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Quatsch! Wieso das denn? Das ist überhaupt nicht notwendig! um diese Beschlüsse der MPK mit der Kanzlerin überhaupt umsetzen zu können. So ist die Sachlage. ({3}) Das zeigt: Sie haben es verschlafen, Sie haben es nicht hingekriegt, innerhalb von zwölf Monaten ein Infektionsschutzgesetz vorzulegen, das nachvollziehbar ist, klar ist, rechtssicher ist und damit den Menschen Orientierung und Klarheit und Perspektiven gibt. ({4}) Zusätzlich fehlt eine stringente Teststrategie. Die Selbsttests kommen nicht vor. Es fehlt eine wirkliche Strategie für die Impfung. Die Angehörigen der Risikogruppen bleiben weiterhin außen vor; sie werden nur sehr schleppend mit Terminen versorgt. Und es fehlt eine konsequente und gute, digital gestützte Kontaktnachverfolgung. Auch das haben Sie verschlafen und nicht auf den Weg gebracht. Ich muss an dieser Stelle sagen: Sie haben an vielen, vielen Stellen versäumt, wirklich voranzukommen, die Menschen mitzunehmen und ihnen Orientierung und Verlässlichkeit für die nächsten Wochen zu geben. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle sehnen sich das Ende dieser Pandemie herbei: die Zwölfjährige, die endlich wieder normal in die Schule gehen will und am Nachmittag ihre Freunde vermisst, die 90-Jährige im Pflegeheim, die gerne wieder unbesorgt Besuch von Kindern, Enkeln und Urenkeln hätte, der freiberufliche Musiker, dessen Existenz von Konzerten abhängt, die aktuell nicht stattfinden können – drei von unzähligen Beispielen. Ich kenne niemanden, der diese Pandemie nicht leid ist. ({0}) Niemand möchte Einschränkungen einen Tag länger als nötig. Aber wir sind noch in einer besonderen Lage. Die Pandemie ist noch nicht am Ende. Das zeigen die Zahlen zur Belegung der Intensivstationen, die Zahl der Covid‑19-Patienten, die immer noch zu behandeln sind. Das zeigen die Infektionszahlen. Das zeigt im Übrigen auch der Blick in unsere europäischen Nachbarländer. Deshalb ist es richtig, wenn wir als Bundestag heute feststellen, dass die epidemische Lage weiterhin andauert; denn das entspricht der Lage. Auch wegen der Mutationen ist die Lage dynamisch. Das Virus verändert sich. Die flexible Anpassung bleibt daher notwendige Strategie. Gerade in dieser schwierigen Phase – Frau Klein-Schmeink hat darauf hingewiesen – ist es schwierig, die richtige Balance zu finden. Es gibt ein Bedürfnis nach Normalität. Wir spüren ja alle nach zwölf Monaten der Pandemie diese Sehnsucht nach Normalität, wissen, dass viele Nerven wundgescheuert sind, und sehen gleichzeitig die Notwendigkeit, diese Pandemie unter Kontrolle zu halten. Und wir ringen – Abgeordnete, Fraktionen, Ministerpräsidenten –; wir suchen den Ausgleich der Interessen, so wie gestern zehn Stunden lang Bund und Länder. Es geht ja um was. Deswegen ist es auch richtig, dass gerungen wird. Es geht nicht um absolute Wahrheiten; es geht um Abwägen und das Finden der richtigen Balance. Nicht der Einzelne gewinnt bei solchen Abwägungen, sondern wir gemeinsam, weil es um Schadensbegrenzung geht, um die Balance zwischen Gesundheitsschutz, wirtschaftlichen Folgen und sozialen Härten. Dreh- und Angelpunkt ist die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag. Das Parlament überführt die Rechtsgrundlage für diese Feststellung nun in eine dauerhafte Regelung. Erstmalig haben wir damit eine Pandemiegesetzgebung in Deutschland fest verankert. Das ist eine neue Qualität, ein großer Schritt. ({1}) Es ist ein Schritt, mit dem wir aus dieser noch währenden Pandemie ({2}) weiter Schlüsse ziehen wollen. Der Bundestag hat sich mit dem Gesetz selbst aufgegeben, diese Rechtsgrundlage nach Ende der Pandemie gemeinsam mit der Bundesregierung weiterzuentwickeln. Aber die Grundlage ist gelegt. Von den vielen wichtigen Regelungen will ich auf zwei eingehen: Ich bin dankbar, dass Bund und Länder gestern unseren Vorschlägen – auch meinen Vorschlägen – zum Testen und zum Impfen gefolgt sind. Es stehen mehr Tests zur Verfügung. Bei den Schnelltests übersteigt das Angebot mittlerweile deutlich die Nachfrage. ({3}) Die Selbsttests werden in den nächsten Tagen nach den ersten Zulassungen an vielen Stellen im Land – nach und nach, es wächst auf – verfügbar sein. Ab nächstem Montag, dem 8. März – tatsächlich eine Woche später –, wird der Bund die Kosten für einen Bürgertest übernehmen. Alle können sich regelmäßig kostenlos in einem der Testzentren vor Ort testen lassen. Die Länder haben deutlich gemacht, dass das Angebot nicht gleich überall gleichmäßig vorhanden sein wird, aber sehr viele Länder haben auch gesagt, dass sie startklar sind. Wir setzen auf Vielfalt vor Ort. Die Maßnahmen werden pragmatisch, flexibel und kreativ umgesetzt, in Böblingen, in Tübingen, in Schmalkalden und in vielen anderen Landkreisen bereits. Der Bund setzt den Rahmen, rechtlich und finanziell. Der Bund übernimmt die Kosten, umgesetzt wird vor Ort. Dafür muss der Bund gar nicht, wie ich heute lese, die Tests zentral beschaffen. Eine zentrale Planung wird den Gegebenheiten vor Ort meist nicht gerecht. Die Tests sind verfügbar. Wir setzen den Rahmen. Wir haben eine gemeinsame Strategie, in welchen Kontexten wer wie häufig getestet wird, und das wird dann vor Ort gelebt. Das ist bis jetzt ein sehr gutes Erfolgsrezept in dieser Pandemie. Das setzen wir auf der Grundlage des vorliegenden Gesetzentwurfs fort. ({4}) Zum Impfen. Impfen wirkt, das sehen wir jetzt schon. Der Kollege Henke hat darauf hingewiesen: Über 5,5 Prozent der Deutschen sind geimpft, zuerst die besonders Verwundbaren. Die täglichen Meldungen zeigen, dass der Schutz wächst. Ab April werden die Arztpraxen routinemäßig mitimpfen, jeden Tag Zigtausende, Hunderttausende, später Millionen. Wir müssen schneller werden. War der Impfstoff am Anfang knapp, kommt er jetzt in steigender Menge. Vorhandene Impfdosen müssen schnellstmöglich verimpft werden: in den Impfzentren der Länder, in den Arztpraxen und später auch bei den Betriebsärzten. Das ist die berechtigte Erwartung der Bürgerinnen und Bürger. Das ist auch meine Erwartung, das ist auch mein Ziel als Bundesminister für Gesundheit. ({5}) Auch der Rahmen für das Impfen, die Organisation, die Finanzierung, die noch notwendige Priorisierung – all das fußt auf diesem Gesetz und auf der Feststellung der epidemischen Lage. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtig ist nun: Umsicht beim Öffnen hin zu mehr Normalität, mehr testen, um den Weg zu mehr Normalität abzusichern, und schneller impfen, um den beschwerlichen Weg raus aus der Pandemie unumkehrbar zu machen. ({6}) Das wird nun das zweite Frühjahr in der Pandemie – wir sind noch mittendrin, das Virus hat noch nicht aufgegeben –, ({7}) aber alles spricht dafür, dass das das letzte Frühjahr in dieser Pandemie wird. Umsicht, Testen und Impfen machen das möglich. Dafür legt der vorliegende Gesetzentwurf die Grundlage. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Brandner, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der zweiten Hälfte dieser Debatte stellt sich eine grundsätzliche Frage, nämlich die nach dem Warum. Warum wird diese Debatte hier und heute eigentlich geführt? Weil ich am Rednerpult stehe, meine Damen und Herren, beantworte ich die Frage gleich selber: weil Merkel und Co es nicht können. ({0}) Seit über einem Jahr gelingt es dieser Regierung nicht, die Coronaherausforderungen auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen. Seit über einem Jahr wird hilflos und planlos herumdilettiert, erst gar nicht und, wenn, dann falsch agiert. Man versucht, eine Krise im 21. Jahrhundert mit den Mitteln des 16. Jahrhunderts in den Griff zu bekommen. ({1}) Im Mittelpunkt dieses erbärmlichen Treibens steht ein vollkommen überforderter Jens Spahn, Bankkaufmann, 14 Jahre Student und Ex-Pharmalobbyist. Er steckt einen erheblichen Teil seiner Energie in dubiose Immobiliengeschäfte. Mitten in der Krise wurde er Eigentümer einer millionenteuren Luxusvilla. Eine Immobilie erwarb er – ob zum Marktpreis, Herr Spahn, das weiß ich nicht – von einem Mann, der danach mit üppigem Gehalt Geschäftsführer einer vom Bund beherrschten GmbH wurde, und, wie praktisch, in einer seiner Wohnungen lebt FDP-Chef Christian Lindner. ({2}) Sehr viel Zeit verwendet Jens Spahn auch darauf, Medienberichterstattungen über sein fragwürdiges Treiben zu unterbinden und Journalisten auszuspionieren, ({3}) die ihm und seinen Machenschaften auf die Schliche kommen wollen. Und wenn er nicht gerade beim Notar ist oder mit seinen Anwälten spricht, dann predigt er Verzicht, treibt sich aber gerne auf Partys herum, an denen man gegen eine Spende von läppischen 9 999 Euro teilnehmen darf, 9 999 Euro, damit es nicht dem Bundestagspräsidenten gemeldet werden muss. Wasser predigen und Schampus aus Kübeln trinken – das ist das Motto des Jens Spahn, meine Damen und Herren. ({4}) Wenn Herr Spahn ein guter Minister wäre, könnte man ihm das nachsehen und verzeihen, aber er ist das Gegenteil. Komplettversagen überall: Erst nutzen Masken nichts, dann plötzlich sind sie Pflicht. Erst reicht ein Tuch oder ein Schal oder irgendwas, dann muss es eine medizinische Maske sein. Impfstoff ist erst keiner da, und wenn er da ist, will ihn kaum einer haben. Das ist in der Dritten Welt besser organisiert, Herr Spahn. Selbsttests, ja oder nein? Wenn ja, wie viele, und wer bezahlt? Nur Herumgeeiere. Corona-App, ein Flop. R-Wert, Inzidenzen, alles willkürlich festgelegt. Kurz und knapp: Beim Versagen in der Coronakrise steht einer ganz vorne, und das ist Jens Spahn. ({5}) Knapp dahinter übrigens die Merkel-Trompete Altmaier und das gesamte Kabinett, aber auch die Ministerpräsidenten lassen sich nicht lumpen; denn sie regieren alle irgendwo mit. ({6}) Meine Damen und Herren, dann wäre da noch ein riesiger Korruptionssumpf, der sich auftut, zurzeit beschränkt auf die Union, aber andere werden folgen. Nüßlein, ehemaliger – oder ist er es noch? – Fraktionsvize der Bundestagfraktion, ist schon aufgeflogen: Verdacht auf Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung. Über 600 000 Euro soll er als Maskenlobbyist eingesteckt haben. Spuren führen – wohin? – ins Gesundheitsministerium, meine Damen und Herren. Spuren führen auch in den Amigo-Sumpf in Bayern. Der Name Strauß taucht auf. Der Name Tandler, ehemaliger Finanzminister, taucht auf, meine Damen und Herren. Der Name Söder taucht auf. Laschet in Nordrhein-Westfalen ist über seinen Sohn in millionenteure Geschäfte verwickelt. Alles dubios. Das stinkt aus unserer Sicht zum Himmel. Zusammenfassend zeigt sich also: Alles in allem war es ein Jahr des Totalversagens dieser Regierung, flankiert von und basierend auf der sogenannten epidemischen Lage von nationaler Tragweite, über deren Fortsetzung heute abgestimmt werden soll. Meine Damen und Herren, diese Notstandsgesetzgebung trägt, wie ausgeführt, wirre und irre Blüten und öffnet Vetternwirtschaft und Korruption Tür und Tor. Lassen Sie uns das hier und heute beenden, und lehnen Sie alle, die Sie für Grundrechte, für Verantwortlichkeit und für einen verantwortlichen Umgang mit Steuergeldern stehen, mit uns gemeinsam diesen Gesetzentwurf und die vorliegenden Anträge ab, und beenden Sie die epidemische Lage von nationaler Tragweite hier und heute. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis, SPD. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern wurde in der Presse veröffentlicht: Der Verfassungsschutz stuft die gesamte AfD als Verdachtsfall ein. ({0}) Ich glaube, mehr braucht man dazu nicht zu sagen. ({1}) Uns geht es heute darum, die parlamentarische Demokratie zu festigen. Das tun wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, indem wir die Fortgeltung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschließen. Keiner von uns hat sich letztes Jahr vorstellen mögen, dass wir heute für weitere drei Monate eine pandemische Notsituation feststellen müssen. Jeder hat sich gewünscht, sehr schnell zur Normalität zurückzukehren. Jeder hat sich gewünscht, sehr schnell massive Öffnungsstrategien fahren zu können. Niemand hat sich gewünscht, dass Inzidenzzahlen weiter zu unserem Alltag gehören. Lassen Sie uns hier und heute als Parlament in unserer Verantwortung für die Situation in unserem Land miteinander klären, wie es weitergehen soll. Wir wollen erstens, dass alle Schutzmaßnahmen, die wir ergriffen haben, weiter fortgelten. Wir wollen zweitens die Impfstrategie verbessern und fortentwickeln und unsere Impfziele besser formulieren. Und wir wollen drittens eine belastbare Teststrategie verfolgen. Natürlich überlagert das, was gestern die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin vereinbart haben, unsere Debatte heute. Manch einer hat sich einen Stufenplan gewünscht, der eine Perspektive eröffnet, auch wir. Ein Stufenplan vermittelt der Bevölkerung: Wir haben einen Plan. ({2}) Wir wollten, dass der Bevölkerung klar ist, dass die Teststrategie schnell umgesetzt wird und jeder gleichermaßen Zugang zu Tests hat. Wir alle wollen weiterhin vorsichtig sein; aber leider muss man sagen: Das, was gestern vereinbart worden ist, sind zwei Schritte vor und einer zurück. Das ist schade, und das bemängele ich. Ich glaube, da müssen wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ran. Herr Spahn hat es ja gesagt: Uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern obliegt die Rahmensetzung. Pro Woche geben wir aufgrund der Coronakrise 3 Milliarden Euro aus. Das ist gut angelegtes Geld; das ist wichtig. Darauf aufgesetzt brauchen wir eine Teststrategie, die den Menschen genauso eine Option offenbart, die die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe an Ostern, im Frühjahr und auch danach eröffnet. Für mich ist diese Teststrategie leider keine Teststrategie, sondern ein Schritt, der viele weitere notwendig macht. Ich glaube, wenn wir diese Teststrategie vervollkommnen, dann eröffnen wir damit Perspektiven, nicht vorher. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, dass auch das, was gestern vereinbart worden ist – ein Test, überwacht, pro Woche –, in irgendeinem Verwaltungschaos untergeht. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, dass wir es nicht hinbekommen, dass klar ist: Wo wird getestet? Hat jemand wirklich nur einmal pro Woche diesen Test in Anspruch genommen? ({3}) Ich möchte, wir möchten, dass diese Eigentests zu unserem Alltag gehören; denn nur so, mit diesen Eigentests, können wir Schritt für Schritt öffnen. Ich möchte nicht, dass auch in sechs Monaten die Inzidenzzahlen und die Maskenpflicht noch zum Alltag unserer Kinder gehören. ({4}) Ich möchte, dass in sechs Monaten nicht nur Sommer ist, sondern wir auch ein normales Leben haben. Dafür sollten wir gemeinsam streiten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nicole Westig, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen. Gut, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der GroKo, einige Forderungen unserer Änderungsanträge aufgenommen und Ihren Gesetzentwurf nachgebessert haben. ({0}) Es ist richtig, die coronabedingten Mindereinnahmen von Pflegeheimen weiterhin auszugleichen. Die pflegerische Infrastruktur einzuschränken, wie Sie es erst vorhatten, wäre das völlig falsche Signal zum völlig falschen Zeitpunkt. Gleiches gilt für die Pflegehilfsmittelpauschale. Aber, meine Damen und Herren, damit erschöpfen sich die guten Nachrichten dann auch; denn bei Zahnärzten, Hebammen und Heilmittelerbringern haben Sie nicht nachgebessert. Diese lassen Sie mit Einmalzahlungen und unzureichenden Hilfen im Regen stehen. So gefährden Sie die Versorgungslandschaft, und das kritisieren wir. ({1}) Die erneute Coronaprämie ist ein gutes Zeichen für die Beschäftigten in den Kliniken. Es bleibt allerdings halbherzig, solange die Steuerfreiheit der Prämie nicht geklärt ist. Eines ist auch klar: Mit 1 000 Euro lässt sich die überfällige Anerkennung in der Pflege nicht kaufen. Der Coronabonus entbindet Sie, Herr Minister, nicht von der Pflicht, endlich für nachhaltige Verbesserungen in der Pflege zu sorgen. ({2}) Im Herbst haben Sie noch vollmundig eine Pflegereform in der „Bild“-Zeitung angekündigt, jetzt schlummert die Reform in irgendeiner Schublade. ({3}) Doch kommen wir zurück zur Fortgeltung der epidemischen Lage. Herr Minister Spahn, vor einem Jahr hat der Deutsche Bundestag Sie mit Befugnissen ausgestattet, die man sich vor der Pandemie in unserer parlamentarischen Demokratie nicht hätte vorstellen können. Die Bürgerinnen und Bürger haben sich seither mit beispielhafter Disziplin an die Coronamaßnahmen gehalten. Sie haben ein Recht darauf, dass Sie, Herr Minister, diese umfangreichen Befugnisse nutzen, um die Pandemie bestmöglich zu managen. ({4}) Stattdessen fährt man seit einem Jahr auf Sicht. Lockdown scheint zur Dauerlösung zu werden. Es wird agiert, als ob es auf den Tag nicht ankäme. Dabei zählt jeder Tag; denn jeder Tag kostet Leben, jeder Tag kostet Existenzen, und jeder Tag vernichtet Bildungschancen für junge Menschen. ({5}) Mit einem Stufenplan, der den Gesundheitsschutz achtet, können wir den Menschen endlich wieder eine Perspektive geben. Eine solche Strategie zu entwickeln, ist lange überfällig, und das nicht in irgendeinem Hinterzimmer, sondern hier im Parlament. ({6}) Beenden Sie das Schneckentempo beim Impfen, und flankieren Sie dies mit klugen Testkonzepten. Sorgen Sie dafür, dass unser Land nicht zum Schlusslicht in der Pandemiebekämpfung wird. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesminister Jens Spahn, ich vermute, irgendjemand rät Ihnen zu diesem rhetorischen Trick, den Sie hier jedes Mal anwenden: dann, wenn die Leute außer sich sind, hier in sedierender Langweiligkeit zu reden, und dann, wenn Sie keinen Plan mehr haben, das Wort „Gemeinsamkeit“ in den Raum zu stellen. Ich muss Ihnen sagen: Ich hoffe, Sie haben nicht viel Geld für diesen Rat bezahlt; er funktioniert nicht mehr. ({0}) Liebe Kollegin Sabine Dittmar, lieber Rudolf Henke, liebe Hilde Mattheis, Sie alle arbeiten sich hier an den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz von gestern ab. Ich frage mich allmählich, ob Sie noch was merken. Sie sind Mitglied dieser Regierungskoalition, Mitglied der Mehrheit hier im Parlament. ({1}) Klare Regelungen zu schaffen, die die Gefahren für die Gesundheitsversorgung und die zu ihrer Eindämmung zulässigen Grundrechtseingriffe in ein Verhältnis setzen, das ist Ihr Job. Abzuwägen, ob und wann Impffortschritte, Testmöglichkeiten und die Nachverfolgungskapazität der Gesundheitsämter Alternativen zu Beschränkungen ermöglichen, das ist Ihr Job. Und auch, das den Bürgerinnen und Betrieben endlich nachvollziehbar zu erklären, ist ihr Job. Alles ihr Job! ({2}) Der gesetzliche Stufenplan ist die einzige Lösung für dieses Problem: für Vorhersehbarkeit, für Rechtssicherheit, für Verhältnismäßigkeit. Was Sie uns aber heute vorlegen, ist die Verstetigung des Weiterwurstelns. Es bleibt bei Worthülsen wie „breit angelegte“ und „umfassende Schutzmaßnahmen“. Das Verfallsdatum für Verordnungen wird ganz abgeschafft. Jede inhaltliche Steuerung der Pandemiebekämpfung durch das Parlament geben Sie auf. Entweder ist die Lage ganz schlimm – dann muss per Verordnung alles gehen –, oder sie ist vorbei. ({3}) Jedes Schulkind in Deutschland hat mittlerweile eine differenziertere Sicht auf die Pandemie als die Autoren dieses Gesetzentwurfs. ({4}) Keine einzige der Verabredungen von gestern findet sich hier wieder, von der sogenannten Notbremse keine Spur. Und genau deshalb droht sie im Ernstfall zu versagen. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. ({0}) Die Grundrechtseingriffe vertiefen sich mit jedem weiteren Tag. Die Begründungslast dafür steigt. Und in dieser Situation riskieren Sie, dass uns die Instrumente zur Abwehr der letzten Welle vor Gericht in den Händen zerrinnen. Das liegt doch nicht daran, dass die Gerichte bösen Willens sind oder den Ernst der Lage nicht erkannt haben. Ich glaube, Sie haben ihn nicht erkannt. Sie begründen zu schlecht. ({1}) Wie soll man aber etwas begründen können, wenn man die Beratung durch einen Pandemierat seit einem Jahr stur ablehnt, wenn man jetzt erst anfangen will, sich mit der Frage zu befassen, wie die Maßnahmen überhaupt wirken, und es einem nicht zu peinlich ist, das Ergebnis dazu für den März 2022 anzukündigen? Auf den letzten Metern setzen Sie mutwillig alles aufs Spiel – die Erfolge der bisherigen Einschränkungen und die Bereitschaft der Bevölkerung, mitzuwirken. Deswegen lehnen wir dieses Gesetz ab. ({2}) Früher galt die Große Koalition einmal als Bollwerk in der Krise. Ich will Ihnen sagen: Das ist mit dem heutigen Tag vorbei. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Koalition, blicken Sie eigentlich noch durch? Wir erinnern uns: Vor einem Jahr war das Coronavirus in Ihren Worten „beherrschbar“. Seitdem verstolpern Sie nahezu jede Maßnahme. Ob Abstand, PCR-Test, Masken – die einen oder die anderen oder gar keine –, Lockdown, Schnelltests oder Impfung: Offenbar sind all diese Dinge für Sie nach wie vor ein medizinisches Buch mit sieben Siegeln. Dabei bekommen Sie grundlegende wissenschaftliche Probleme nicht in den Griff. Noch heute sind beim RKI drei Tests derselben Person statistisch drei einzelne Fälle. Damit ist die Statistik wertlos. Das kann Ihnen jeder Student im Grundstudium sagen. Todeszahlen kommen mit wochenlanger Verspätung. Sie passen also nie zu den gemeldeten Zahlen, die wir vermutlich alle täglich konsumieren. Sie ignorieren, dass ein PCR-Test keine Infektion anzeigen kann; auch das mehrfach festgestellt. Was messen Sie dann eigentlich? Womit ängstigen Sie die Bevölkerung? Auf welchen Werten basieren Sie Ihre Maßnahmen? Studien zeigen, dass der Lockdown epidemiologisch nichts bringt. Ja, was tun Sie eigentlich? Sie bedauern, dass Kindern und Jugendlichen wertvolle Lebenszeit gestohlen wird. Das ist richtig. Dann bekommen Sie endlich die medizinischen Grundlagen in den Griff! Sie schüren in den letzten Wochen Angst vor Virusmutationen, dabei sind diese medizinisch völlig normal – bei Grippe redet kein Mensch darüber –, und sie sind kein Grund zur Panik. Seit einem Jahr setzen Sie das normale Leben in Deutschland außer Kraft. Dabei haben wir als Politiker vor allem eine Aufgabe: Bürger und Unternehmen in Ruhe zu lassen und uns aus ihrem Privat- und Berufsleben herauszuhalten. Nicht Corona hält dieses Land gefangen, meine Damen und Herren – Sie sind es. Lassen Sie unser Land endlich frei, und beenden Sie die epidemische Lage und den Lockdown – nicht tröpfchenweise, ({0}) sondern konsequent und vollständig!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nina Warken, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Nina Warken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004437, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Krisensituation, in der wir uns trotz auch positiver Entwicklungen befinden, ist das Gesetz zur Fortgeltung der Regelungen über die epidemische Lage ein weiterer wichtiger und richtiger Schritt zur Bekämpfung der Coronapandemie. Wir sorgen durch maßvolle Änderungen dafür, dass die notwendigen Regelungen zur Überwindung der Krise in der erforderlichen Weise fortgeführt und an die Gegebenheiten angepasst werden können. Kernpunkt ist: Künftig überprüft der Bundestag in kurzen und regelmäßigen Abständen, ob diese epidemische Lage nach wie vor gegeben ist. Die Feststellung der epidemischen Lage tritt automatisch außer Kraft, wenn sie nicht spätestens binnen drei Monaten durch den Bundestag erneut bestätigt wird. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir stellen hier keinen Blankoscheck aus, wie es immer wieder heißt, im Gegenteil, der Bundestag wird stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen. ({0}) Damit gilt auch für die Zukunft: Die Befugnisse zur Bewältigung der Pandemie werden auf Zeit erteilt und kommen künftig regelmäßig in festgelegten und kürzeren Fristen auf den Prüfstand. Die Beteiligungsrechte des Bundestages werden nochmals gestärkt, auch wenn manche Kollegen das hier nicht verstehen. Wenn man dann am Thema vorbeiredet – wie der Kollege Brandner –, ist man dafür dann auch selbst verantwortlich. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, dass all diese Befugnisse hoffentlich nicht mehr lange nötig sein werden, das ist natürlich unser aller Hoffnung und das gemeinsame Ziel, auf das wir hinarbeiten. Doch in der gegenwärtigen Situation ist es schlicht unumgänglich, dass die Voraussetzungen für eine wirksame Bekämpfung der Coronapandemie gesichert bleiben und auch weiterentwickelt werden. Die Gefahr durch das Virus besteht nicht nur fort, sondern die aktuelle Situation wird noch verschärft durch das Auftreten neuer Virusvarianten. Daher bleibt das vorrangige Ziel, mit geeigneten und situationsabgestimmten Schutzmaßnahmen die Ausbreitung der Pandemie zu verhindern und sie zu bekämpfen, um Leben und Gesundheit der Menschen zu schützen. Nur so stellen wir die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitssystems sicher und schützen es vor Überlastung. Das schaffen wir durch dieses Gesetz. An die Kolleginnen und Kollegen der Grünen gerichtet: Sie sind hier schon eine Antwort schuldig geblieben, wie Sie denn mit der dynamischen Lage umgehen wollen. Sie werfen uns Planlosigkeit vor. Was Ihr Plan ist, das haben wir in Ihren Wortbeiträgen aber auch nicht gehört. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, weil das hier auch oft angesprochen wird, möchte ich an dieser Stelle klar zum Ausdruck bringen, dass wir stärker darauf achten müssen, dass wir die wesentlichen grundrechtsrelevanten Fragen im Parlament selbst entscheiden. Genau das machen wir heute. Wir legen mit diesem Gesetz klare und ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen vor. Darüber hinaus geben wir der Bundesregierung, dem Bundesgesundheitsminister, die Ermächtigung, durch Rechtsversordnung gezielt und schnell auf Herausforderungen reagieren zu können. Wir präzisieren im Gesetz auch die Vorgaben für die Maßnahmen der Länder, indem wir festschreiben, dass bei Erwägungen über Öffnungsschritte oder andere Erleichterungen nicht nur die Zahl der Infektionen, sondern auch die Impfquote und der R-Wert zu berücksichtigen sind. ({3}) Auch normieren wir, dass Virusmutationen bei der Abwägung, welche Maßnahmen zu treffen sind, besonders berücksichtigt werden können. Sehr geehrte Damen und Herren, wir befinden uns momentan in einer Ausnahmesituation, und diese Ausnahmesituation bedarf auch außergewöhnlicher Maßnahmen. Gerade deswegen ist es uns wichtig, dass wir die getroffenen Maßnahmen laufend bewerten. Daher sehen wir zum Jahresende vor, dass die Maßnahmen der Krisenbekämpfung von einem unabhängigen und interdisziplinären wissenschaftlichen Gremium evaluiert werden. Wir lassen damit unser Handeln in der Ausnahmesituation überprüfen und schreiben das auch im Gesetz fest. ({4}) Unser Handeln soll für die Bürgerinnen und Bürger noch nachvollziehbarer und verständlicher werden. Anhand der Erfahrungen passen wir die Gesetze maßvoll an. Das ist es doch, was mir und was allen demokratischen Parteien in diesem Hohen Haus ganz besonders wichtig sein sollte. Diese Grundlagen geben uns die notwendige Flexibilität, um, wie bereits erwähnt, auf Virusmutationen reagieren zu können. So können auch Anpassungen an die sich ändernde pandemische Lage vorgenommen werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein gut weiterentwickeltes Instrumentarium zur Verfügung stellen, mit dem wir rechtssicher auf die epidemische Lage reagieren können. Wir führen mit dem Gesetz einen Krisenmechanismus ein. Wir erweitern die Kriterien und gestalten sie differenzierter aus. Ich werbe daher nicht nur um Zustimmung zu diesem Gesetz, werte Kolleginnen und Kollegen. Wir können die Pandemie nicht allein nur mit Gesetzen und Verordnungen bekämpfen. Wir schaffen hier zwar eine gute Grundlage, wir brauchen aber auch die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb lassen Sie uns auch gemeinsam bei den zu Recht pandemiemüden Bürgerinnen und Bürgern für dieses Gesetz und für unser Handeln werben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Am 18. November des letzten Jahres hat sich dieses Parlament mit der Zustimmung zum Infektionsschutzgesetz selbst entmachtet. Auch wenn insbesondere die FDP und die Linken heute lautstark die fehlende parlamentarische Mitsprache bejammern – Sie alle haben den Änderungsantrag der LKR, der damals genau das forderte, mit abgelehnt. ({0}) Eingriffe in die Grundrechte, in Leben, Wirtschaft und Gesellschaft erfordern Vertrauen und Verhältnismäßigkeit. Gehen wir diese Bilanz einmal durch. Zu Beginn der Situation, bei der Einschätzung, ob es eine Grippe ist, ob es schlimmer als eine Grippe ist, ob Masken sinnvoll sind, ja oder nein, wurde bereits Vertrauen verspielt. In der Folge, als es um Maskenbeschaffung, Umgang mit Pflegekräften, Auszahlung von Hilfsgeldern, Impfstoffbeschaffung, Impfpläne ging und mittlerweile auch um die Beschaffung der Selbsttests geht, überall hat diese Regierung Vertrauen verspielt. Erst basierten die Maßnahmen auf dem R-Wert, dann auf dem Inzidenzwert, und jetzt wird die Fortführung der Einschränkungen ausschließlich mit neuen Mutationen begründet. Aber Viren mutieren nun einmal dauernd, und so könnten Sie uns in einen ewigen Dauer-Lockdown schicken. Für die Bürger ist das alles völlig willkürlich: Es gibt keine Planungssicherheit, keine Fakten, keine Richtwerte, sondern eine dynamische Lage, die Sie gar nicht zu definieren wissen und wahrscheinlich auch gar nicht definieren wollen; denn es steht ja der Wahlkampf vor der Tür. Warum soll Ihnen nach diesen Erfahrungen noch irgendjemand der Steuerzahler trauen? Die Antwort auf Corona kann indes nicht sein, das Virus zu leugnen und gar nichts zu tun. Wer aber tragfähige Hygienekonzepte entwickelt hat, der hat es nicht verdient, dass man ihm anschließend mit dem Lockdown-Hammer die Lebensgrundlage entzieht und nach teuren Investitionen von hinten herumgrätscht und doch alles zumacht. Aber ich lehne den Antrag nicht nur wegen seiner fragwürdigen Grundlagen und seiner existenzbedrohenden Auswirkungen auf Familien, Mittelständler, Künstler und Selbstständige ab. Ich lehne ihn speziell als Abgeordneter dieses Hohen Hauses ab. Sie alle haben sich hierher wählen lassen, um Verantwortung zu tragen. Dann werden Sie dem auch gerecht! Dieser Bundestag ist das Gremium, in dem die Politik für dieses Land entschieden wird, und nicht, wie jetzt vorgeschlagen, in irgendwelchen Räten und schon gar nicht in Candy-Crush-Runden. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infektionszahlen sind bei Weitem nicht mehr so hoch, wie sie schon waren. Die Impfungen laufen an, und es stehen demnächst auch Tests in viel größerer Zahl zur Verfügung. All das sind Schritte in die richtige Richtung. Aber wir müssen eben auch feststellen, dass die Schutzmaßnahmen der Länder für die Unternehmen und für die Familien massive negative Beeinträchtigungen zur Folge haben. Die Familien sind am Limit, viele Unternehmen stehen vor dem Aus. Deswegen ist für mich eines klar: Diese weitreichenden Schutzmaßnahmen, diese Grundrechtseingriffe müssen immer wieder genauestens überprüft werden, ob sie überhaupt noch erforderlich sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Diese Fragestellung der Erforderlichkeit nehmen wir heute mit diesem Gesetz auf; denn Schutzmaßnahmen sind erhebliche Grundrechtseingriffe: Ausgangssperren, Schulschließungen und Ähnliches. Deswegen können wir diese Maßnahmen nicht allein am Inzidenzwert 35 oder 50 orientieren. Das ändern wir heute mit diesem Gesetz. Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme ausdrücklich gesagt – ich zitiere –, dass „nicht die Ausbreitung des Virus als solche entscheidend“ sei, sondern vielmehr „nur gravierende negative Folgen wie etwa eine hohe Sterblichkeit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen signifikanter Bevölkerungsteile oder der drohende Kollaps des Gesundheitssystems“. Genau aus diesen Gründen war es uns als SPD so wichtig, dass wir im Infektionsschutzgesetz eine klare Regelung haben, dass nicht nur einzig und allein der Inzidenzwert, sondern auch die Auslastung des Gesundheitswesens, der R-Wert oder die Impfquote berücksichtigt werden müssen, und zwar zwingend von den Ländern. ({1}) Wenn jetzt Wahlkampf wäre, würde ich sagen, dass das die SPD durchgesetzt hat. ({2}) Da gab es erhebliche Widerstände bei der Union. ({3}) Gut, dass wir diese Gesetzesänderung heute so beschließen können. ({4}) Denn die Grundrechte wie Bewegungsfreiheit oder Gewerbefreiheit können wir nur dann einschränken, wenn es tatsächlich erforderlich ist. Deswegen müssen wir an weiteren Kriterien als nur den Inzidenzwerten anknüpfen. Wenn jetzt gesagt wird, dass hier eine verfassungswidrige Regelung beschlossen würde, dann ist das schlicht unzutreffend; ({5}) denn wir stärken doch gerade die Rolle des Parlamentes, weil wir als Parlament und als Volksvertretung eine Evaluierung mit einer klaren Befristung, mit einem klaren Untersuchungsauftrag beschlossen haben. Wir beschränken die Befugnisse des Bundesgesundheitsministers. Er wird zukünftig nur genau die Maßnahmen machen können, die im Gesetz stehen, und nichts darüber hinaus. Vor allem: Wir als Parlament haben die Fäden in der Hand. Wir bestimmen, ob eine epidemische Lage vorliegt. Wir machen das jetzt nicht für ein Jahr, sondern nur für drei Monate. Also kann keiner sagen, dass das Parlament hier Rechte aufgibt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das möchte ich hier ausdrücklich auch an die Adresse der Grünen sagen. Das war schon ein bisschen starker Tobak, wie Sie hier gegen dieses Gesetz geschimpft haben. Die Sachverständigen, die Sie benannt haben, sehen das anders. Diese politische Energie sollten Sie vielleicht darauf verwenden, im grün regierten Baden-Württemberg etwas dafür zu tun, dass dort die Impfungen endlich besser laufen, liebe Kolleginnen von den Grünen. ({7}) Wichtig ist auch – ich will es ganz klar sagen –: Es ist ein Zeichen der Stärke, dass wir als Parlament sagen, wir nehmen Hinweise aus der Rechtswissenschaft oder auch von Gerichten auf – in diesem Zusammenhang schöne Grüße nach Lüneburg an die dortigen Richter – auf. Das ist ein Zeichen der Stärke und nicht der Schwäche. Wir sagen nicht, dass das Gesetz verfassungswidrig wäre, auf keinen Fall. Es hat vor den Gerichten bisher Bestand gehabt. Aber wenn es diese gewichtigen Hinweise gibt, dann müssen wir auch zu Verbesserungen kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das machen wir heute mit diesem Gesetz. ({8}) Insbesondere ist es auch wichtig vor dem Hintergrund dessen, was die Ministerpräsidentenkonferenz gestern Abend beschlossen hat. Zugegeben, diese Diskussion um Stufenpläne und darüber, ob solche Regelungen nicht doch noch Platz im Infektionsschutzgesetz finden, können wir durchaus auch noch führen. Und ja, es mag sein, dass das recht komplizierte Regelungen sind. Aber eines ist bei all diesen Maßnahmen, die gestern beschlossen wurden, auch ganz klar: Zukünftig kann nicht nur der Inzidenzwert allein das Maß sein, ob eine Maßnahme angeordnet wird oder nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das wird ein Beitrag dazu sein, dass die Maßnahmen gerichtsfest sind, und das stärkt das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung, was aus meiner Sicht das wichtigste Gut in dieser Pandemiebekämpfung ist. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin ist, sobald das Pult desinfiziert ist, die Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz heute geben wir einen Rahmen. Wir geben den Ländern einen Rahmen, die in ganz erheblichem Maße zuständig sind. Das gibt unser Grundgesetz her. Deswegen ist es wirklich nicht redlich, wenn einige Kollegen hier so tun, als würden wir vonseiten des Bundestages schlicht verfassungsrechtlich schwierige Entscheidungen treffen; denn das ist nicht der Fall. Wir geben mit verschiedensten Maßnahmen den Ländern den Auftrag, entsprechend danach Maßgaben für die Bekämpfung der Pandemie vorzugeben. ({0}) Es verwundert mich manchmal schon, was denn jetzt gewollt ist. Sollen wir jetzt regional Antworten geben, oder sollen wir ganz starre Vorgaben in einem engen Rahmen geben? Sollen wir Flexibilität ermöglichen, oder sollen wir eben alles bis ins letzte Klein-Klein regeln? Deswegen sage ich gerade auch im Hinblick darauf, dass ich weiß, wie viel die Bürgermeister, die Oberbürgermeister, die Landräte vor Ort in unserem Land leisten, dass es wirklich wichtig ist, dieses Gesetz heute auf den Weg zu bringen, wir gleichzeitig aber im Blick behalten, dass wir regionale Antworten geben und dass wir differenziert vorgehen können, beispielsweise abhängig vom Inzidenzwert vor Ort oder auch von der Durchimpfung der Menschen vor Ort. Viele andere Punkte sind von den Kollegen auch schon angesprochen worden. Wir sind uns dahin gehend einig, dass wir mehr impfen wollen. Wir wollen mehr testen, wir wollen mehr nachverfolgen, wir wollen auch mehr Medikamentenentwicklung. Auch hier schafft dieses Gesetz entsprechenden Rahmen und gibt Antworten. Denn wenn es um die Impfreihenfolge geht, dann ist es so, dass wir uns in diesem Gesetz klar dazu bekannt haben, dass wir eben als Bundesgesetzgeber vorgeben wollen, woran sich die STIKO, die Ständige Impfkommission, halten muss. Das gilt beispielsweise für den Fall – die Ergebnisse geben uns da auch recht –, dass es dabei für Senioren, für Ältere über 80, entsprechend einen Vorrang geben muss. Die Zahlen belegen auch, dass wir in diesem Bereich recht haben. Denn wir haben es von unserem Bundesgesundheitsminister gehört, dass wir rund 5 Prozent der Bevölkerung jetzt schon geimpft haben und dass im Kern die Übersterblichkeit bei den über 80-Jährigen komplett zurückgegangen ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir das hier noch einmal im Gesetz festgelegt haben und damit auch einen weiteren Rahmen geben. ({1}) Für mich ist es aber auch wichtig, wenn die Kollegen von der AfD in ihrem Antrag sagen, dass sie einen Expertenrat einsetzen wollen, danach zu fragen: Ja, was denn jetzt? Ist es jetzt die Beendigung der epidemischen Lage, haben wir jetzt keine Pandemie, oder brauchen wir einen Expertenrat? Wir als Unionsfraktion haben auch zusammen mit der SPD ganz klar gesagt: Wir wollen ein Begleitgremium, das jetzt auch eingesetzt wird, um entsprechend Experten zu hören, und wir wollen eine Evaluation mit einem interdisziplinären Expertengremium. Dass wir dieses Expertengremium natürlich vor allem damit beauftragen, nach Abschluss der Pandemie entsprechend Ergebnisse zu liefern – denn jetzt stecken wir mitten darin –, ist für mich nur logisch und folgerichtig; ({2}) denn wir müssen vor allem im Nachgang bewerten, welche Dinge wo nachgesteuert werden müssen. Deswegen glaube ich, dass es insgesamt ein guter Gesetzentwurf ist. Es ist nicht so, wie auch Kollegen der Grünen suggeriert haben, dass wir als Parlament dort nicht mitsprechen können, sondern das Gegenteil ist der Fall. Es ist selbstverständlich möglich, dass jede Verordnung auch per Gesetz von diesem Hohen Haus, von diesem Parlament wieder ausgehebelt werden kann. Ich bin sehr dankbar, dass wir in diesen Gesetzentwurf auch Regelungen aufgenommen haben wie beispielsweise die Entschädigungszahlungen für Eltern, einen weiteren Schutzschirm für die Pflegeheime und viele andere Maßnahmen. Dies ist ein ganz klares Signal: Auch wir wollen mehr Normalität, auch wir wollen mit unseren Maßnahmen erreichen, dass wir Stück für Stück zurückkommen. Aber wir sind eben zum jetzigen Zeitpunkt noch in einer Pandemie, und wir wollen gut aufpassen, dass sie uns nicht entgleitet. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung zu diesem Gesetzentwurf; denn wir alle in diesem Haus haben das Gemeinwohl im Blick. Daran richtet sich unsere Politik aus. Vielen Dank. ({3})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Vertreter der Bundesregierung! Werte Kollegen! Liebe Landsleute! Seit Wochen und Monaten befindet sich unser Land im Stillstand. Betriebe stehen still, Familien sind zerrissen. Der psychische Druck der Menschen steigt ebenso stark an wie das Unverständnis über die abermaligen Verbote und Einschränkungen. Die Coronamaßnahmen der Bundesregierung sind unhaltbar, unvermittelbar und für die vernünftigen Menschen mittlerweile absolut unverständlich. ({0}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unser Land in eine Sackgasse manövriert, in der wir nur sehr schwer wenden können. Die Menschen waren geduldig. Sie haben Einschränkungen hingenommen. Nur zu welchem Preis? Immer wieder wurden sie vertröstet. Man erlangt den Eindruck, dass Ihre Bundesregierung weder einen Plan noch das Geschick noch einen Willen zu einem gezielten Wendemanöver besitzt. Sehen Sie nicht, was mit diesem Land und seinen Bürgern passiert? Sind Sie alle auf der Regierungsbank ohnmächtig und angstgefangen? Wo sind Ihre Konzepte für die deutsche Wirtschaft, Herr Altmaier? Wo bleiben die lang versprochenen und dringend notwendigen Unterstützungszahlungen? Was liegt Ihnen an dem Wirtschaftszweig, der noch die meisten Beschäftigten hat: den kleinen und mittelständischen Unternehmen? Wer garantiert die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme, wenn die Basis dafür – der Mittelstand und das Handwerk – de facto nicht mehr vorhanden ist, von Ihnen abgeschafft wurde? Nur hier findet die wirkliche Wertschöpfung statt. Nur so können wir weiter in Wohlstand und Frieden leben. ({1}) Herr Altmaier, auch Herr Wanderwitz, gegen Sie waren in der DDR Günter Mittag und auch Hermann Axen wirklich wirtschaftliche Visionäre. ({2}) Von Ihnen kommt in diesem Bezug gar nichts. ({3}) Uns, dem Deutschen Bundestag, wurde durch die Wähler sehr viel Vertrauen geschenkt, dieses Land auch in Krisenzeiten zu führen. Davon, dass wir dieses Vertrauen verdient haben, müssen wir unser Volk wieder überzeugen. Die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland legt mit dem vorliegenden Antrag schlüssige und zügig umsetzbare Einzelmaßnahmen vor. Unser Ziel ist es, ({4}) damit die wirtschaftliche Gegenwart und die Zukunft Deutschlands überhaupt noch gestalten zu können. Viel lieber wäre es uns, wäre es mir, wenn ich meinen Kindern sagen könnte: Ihr müsst euch keine Sorgen um die Zukunft machen. Im Moment bin ich mir nicht mehr sicher, was wir unseren zukünftigen Generationen noch übergeben können, wenn sich Deutschland länger in der Regierungsgewalt von Frau Dr. Merkel befindet. ({5}) Ganz sicher bleiben: Schulden, Depression, Perspektivlosigkeit. Die wissenschaftlich fragwürdigen und rein politisch motivierten „Inzidenzwerte“ dürfen nicht mehr als Basis für Ihre einsamen Entscheidungen im Coronakabinett herhalten. Deswegen zeigen wir hier konkrete Alternativen und Konzepte für einen Ausweg aus der von Ihnen verschuldeten Misere. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zu den Kernforderungen unseres Antragspapiers kommen. Ich beginne mit der Grundvoraussetzung: das geregelte Ende des Lockdowns – so schnell wie möglich! ({6}) Ziel muss es sein, die seit nun fast einem Jahr eingeschränkte Wirtschaft langsam wieder hochzufahren. Dieser Prozess dauert je nach Wirtschaftszweig und Unternehmen unterschiedlich lange. Das muss vorbereitet werden! Mittlerweile sind Lieferketten unterbrochen. Produktionen der Zulieferer wurden ebenso reduziert wie die Konsumketten mit den Endverbrauchern. Nehmen wir das Beispiel der Gastronomie. Noch kurz vor Weihnachten waren die Vorratslager gefüllt. Die Feiertage standen bevor, und die erwarteten Umsätze blieben aus. Der Verlust stellte sich mehrfach dar: Zum einen waren die Lokale geschlossen; zum anderen mussten Lebensmittel in erheblichen Größenordnungen vernichtet werden. ({7}) Und nun greift der zuvor beschriebene Prozess: Die Lieferketten müssen wieder anlaufen, um Geschäfte wieder zu ermöglichen. Das lässt mich zum nächsten Punkt und zu einer der Kernforderungen unseres Antrags kommen: die finanzielle Grundausstattung der Geschäftsleute. Von denen, die noch existieren, brauchen alle endlich die lang versprochenen Coronahilfen. ({8}) Ohne diese können weder Grund- und Lohnkosten noch die Kosten für den Neustart bestritten werden. Uns allen ist mittlerweile klar, dass wir auch in den nächsten Monaten noch eine Vielzahl von Hilfszahlungen an die betroffenen Unternehmen sicherstellen müssen. Wir müssen vonseiten des Staates zeigen, dass wir die Unternehmen auch in schwierigen Zeiten unterstützen. Wir müssen schon heute Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Menschen ihre innovativen Ideen wieder im Land der Dichter und Denker umsetzen möchten. Trotz aller Schwierigkeiten muss es wieder attraktiv sein, in Deutschland ein Unternehmen zu gründen. Ein Schlagwort hierbei ist Bürokratieabbau. Ich kann es nicht mehr hören. Die Bürger und die Unternehmen ersticken unter der Bürokratie. Jede Woche kommen neue Auflagen hinzu. Wir bringen das permanent in die politische Debatte ein. Nur, Sie sind leider taub. ({9}) Schauen wir uns die Seite der Verbraucher an. Ein funktionierendes Wirtschaftssystem lebt von Angebot und Nachfrage. Vielen der Endkunden fehlt nach einem Jahr Kurzarbeit einfach das Geld, um es wieder investieren zu können. Dafür schlagen wir die dauerhafte Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 auf 15 Prozent vor. Profitieren werden davon auch die Binnennachfrage und unsere Einzelhändler. ({10}) Nun fragt man sich natürlich: Wie kann man diese Dinge eigentlich finanzieren? Da hören wir ja immer: Steuererhöhungen oder sonstige weitere Einnahmen. – Aber hier müssen wir auch mal an die Ausgaben ran, zum Beispiel durch Einsparungen bei den finanziellen Beteiligungen an der Europäischen Union. Die Bundesregierung plant, den deutschen Bruttobeitrag auf über 40 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen. Dem können und müssen wir einen Riegel vorschieben. ({11}) Die Zahlungen an Brüssel werden nach unserem Konzept auf die Beitragshöhe des Jahres 2019 rückgeführt und eingefroren. Auch das Projekt Europa kann nur mit starken nationalen Finanzpartnern eine Zukunft haben. Dafür brauchen wir in Deutschland und für unsere Bürger nachhaltige Investitionen. Wir müssen die einheimische Wirtschaftskraft endlich wieder stärken. ({12}) Meine Damen und Herren der Bundesregierung, ein Kommentar in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 1. März dieses Jahres spricht in seinem Titel aus, was die Mehrheit der Deutschen mittlerweile über Ihre Coronapolitik denkt: „Deutschland im Dauer-Lockdown: Zu Tode geschützt ist auch gestorben“. Die rückläufige Akzeptanz Ihrer Maßnahmen oder vielmehr die deutliche Ablehnung der Bevölkerung zeigt, was die Bürger verlangen. ({13}) Frau Bundeskanzlerin, beenden Sie diesen leidbringenden Lockdown! Was muss noch passieren, dass Sie auf die Rufe aus dem Volk hören, bevor Sie zur Vernunft kommen? Es wurden und werden die Hygienekonzepte angepasst und erweitert. Trauen Sie Ihren Bürgern endlich mal was zu! Behandeln Sie sie nicht wie dumme Kinder! ({14}) Mit andauernden Verboten werden Sie die Stimmen Ihrer Kritiker nicht verstummen lassen. Wir werden mehr und mehr den Anschluss an das Leben da draußen verlieren und die Stabilität unserer Demokratie damit aufs Spiel setzen. Werte Kollegen dieses Hohen Hauses, die Wirtschaft und die Menschen in Deutschland brauchen eine wahre Perspektive. Wir sind alle müde von den politischen Wendemanövern dieser Bundesregierung, die nicht mehr auf unser Wohl ausgerichtet sind. Lassen Sie uns vernünftig handeln! Geben Sie sich endlich einen Ruck, und stimmen Sie dem Antrag der AfD zu! Wir brauchen einen Aufbruch für Deutschland. Vielen Dank. ({15})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg stehen Landtagswahlen an, und Sie von der AfD suchen die große Bühne. ({0}) Nur das kann eigentlich der wahre Grund dafür sein, dass Sie hier drei schludrige Anträge eingebracht haben. Sie befassen sich mit einem Sammelsurium von Themen: von der Coronabekämpfung bis zur Energiewende. Sie reden einfach nur alles schlecht. Bei Ihren Vorschlägen zu Corona ist mein Eindruck, dass wir in verschiedenen Welten leben. Sie ignorieren mehr als mittlerweile 70 000 Tote, die Menschen mit Langzeitschäden und das Leid in den Familien. Sie wollen eigentlich nur Risikogruppen schützen, schreiben Sie. In Deutschland haben aber 36 Millionen Menschen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf. Davon sind 21 Millionen Menschen in der Hochrisikogruppe. Sie stellen Ihre populistischen Forderungen über diese Schicksale. Für uns und für mich persönlich steht nach wie vor fest: Menschenleben und Gesundheit stehen vor wirtschaftlichen Erwägungen. ({1}) Wir können dankbar sein, dass wir in dieser Krisenzeit mit Angela Merkel eine Bundeskanzlerin haben, die die Nerven behalten, klug, besonnen und zielführend gehandelt, die Menschen in der Gesundheit geschützt und gleichzeitig die Wirtschaft funktionsfähig gehalten hat. ({2}) Am 1. März schrieb der Deutsche Sparkassen- und Giroverband – ich zitiere –: Der Dienstleistungsbereich ist in vielen Teilen von direkten Schließungen betroffen, während die Industrie größtenteils ungebremst durchproduzieren kann. Natürlich ist die Situation in Gastronomie, Einzelhandel, Tourismus- und Kulturbereich dramatisch. Aber genau deswegen haben wir ein nie dagewesenes Hilfsprogramm auf den Weg gebracht. Und, meine Damen und Herren: Das Ziel ist ja nicht mehr weit. Wir dürfen nur nicht leichtsinnig und ungeduldig werden. Mit Testen, Impfen, Lüften, Corona-App und AHA-Regeln können wir es bis Ende des Sommers geschafft haben. ({3}) Den gleichen Optimismus habe ich übrigens auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Binnen eines Jahres haben wir in Deutschland einen Impfstoff gegen ein Virus entwickelt, das wir vor gut einem Jahr noch nicht einmal gekannt haben. Das ist für mich der klare Beweis für die Innovationskraft unseres Landes. Für diese Innovationskraft unserer Wirtschaft spricht aber nicht nur die rasante Impfstoffentwicklung. Federführend sind wir auch bei Investitionen in die Entwicklung von Strategien zur Abschaffung der Kernenergie und fossiler Energieträger, beim Umbau der Energieversorgung, bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft, der Mobilität, der Wärmeversorgung. Auch hier stecken Sie in alten Denkschablonen. Sie betiteln Ihren Antrag zwar mit „Aufbruch für Deutschland“; aber in Wahrheit ist es ein Aufbruch in die Vergangenheit. Deswegen verstehen Sie auch die Energiewende nicht: weil diese ein Projekt für die Zukunft ist. ({4}) Ich hingegen sage Ihnen: Damit sind gigantische Chancen verbunden, nämlich neue Geschäftsmodelle, zukunftsfähige Technologien, Arbeitsplätze, Technologieführerschaft und Wertschöpfung, insbesondere auch im ländlichen Raum. Ich bin politisch schon einige Jahre unterwegs, und ich kann Ihnen sagen: So etwas Tolles habe ich noch nicht erlebt. Jeden Tag drängen neue Entwicklungen und neue Ideen auf den Markt. Ich sage Ihnen: Die Klimaziele und die Energiewende sind nicht nur erreichbar und machbar, sondern sie sind zwingende Voraussetzungen für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Woher weiß ich das? Als Berichterstatter für Energieforschungs- und Förderprogramme sehe ich, wie das Bundeswirtschaftsministerium unter der Führung von Peter Altmaier die Energiewende systematisch vorbereitet. Mit fünf SINTEG-Schaufensterprojekten im ganzen Land haben wir die Energiewende geübt, mit 20 Reallaboren testen wir jetzt die großtechnische Anwendung, und mit 9 Milliarden Euro gehen wir bei der Wasserstoffstrategie in die Vollen. Wen glauben Sie von der AfD eigentlich mit Ihrer restriktiven Handlung zu vertreten? Die Wirtschaft jedenfalls nicht. ({5}) Die Firmen überschlagen sich mit Ankündigungen, wann sie klimaneutral sein wollen. Das fängt bei der Stahl- und Kupferproduktion an und geht über die chemische Industrie bis hin zu den Rechenzentren. Nur die Energiewende wird unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig halten können. Auf der ganzen Welt läuft die Umstellung schon auf Hochtouren. Die Energiewende mit regenerativer Stromerzeugung und Wasserstoffwirtschaft ist die nächste große industrielle Revolution. Das müssen wir uns vor Augen halten. ({6}) Diese Umsetzung ist natürlich eine große Herausforderung; das sehe ich auch. Daran mitzuarbeiten, ist mir aber eine große Freude. Ich kann Ihnen von der AfD nur empfehlen: Beteiligen Sie sich daran. ({7}) Ansonsten trifft für Sie das Sprichwort zu: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Ich wünsche Ihnen eine gute Reise. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Theurer, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem ihrer drei vorliegenden Anträge beantragt die AfD, sofort alle Anticoronamaßnahmen mit Ausnahme des Schutzes der vulnerablen Gruppen und der Maßgabe von Hygienekonzepten zu beenden. ({0}) Dabei sieht man an Ihrem realen Verhalten heute hier, aber auch an anderer Stelle, dass Sie längst im Lager der Coronaleugner angekommen sind. ({1}) Auf Ihren Pressekonferenzen sitzen Sie ohne jeden Abstand. Schon wieder hat sich ein Kollege von Ihnen infiziert; schon wieder müssen die Fraktionsvorstandskollegen der anderen Fraktionen in Quarantäne. ({2}) Die wichtigste Hygienemaßnahme, die ich mir langsam wünschen würde, wäre eine Plexiglaswand zwischen unserer Fraktion und Ihrer. ({3}) Die wichtigste Maßnahme für die politische Hygiene wäre aber, dass die Bürgerinnen und Bürger diese Fraktion aus den Parlamenten in Bund und Ländern herauswählen, meine Damen und Herren. ({4}) Jetzt zu Ihren Anträgen. Sie vermischen Steuersenkungen und Bürokratieabbau – für beides hat die FDP schon gekämpft, als es die AfD noch gar nicht gab – ({5}) mit Nationalismus, mit Fremdenfeindlichkeit, mit Ressentiments zu einem giftigen Cocktail. Und dann verbreiten Sie auch noch Unwahrheiten. Sie sagen, wenn man EU-Beiträge streichen würde, blieben 40 Milliarden Euro netto bei uns – als ob es keine Rückflüsse aus der EU zu uns gäbe. ({6}) An der Stelle, meine Damen und Herren, sage ich: Das A in Ihrem Parteinamen steht für Abschottung, für Ausgrenzung, für Abstieg, für Albtraum – nicht für Aufbruch, meine Damen und Herren. ({7}) Sie sind auch nicht für etwas, sondern Sie sind meistens gegen etwas. Sie sind gegen die Vertretung der deutschen Interessen in der Europäischen Union. ({8}) Es kann Deutschland auf Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn schlecht geht, meine Damen und Herren. ({9}) Wer ethnische Kriterien zur Grundlage der Politik macht – das kann man in den Donauländern, in Mittel- und Osteuropa sehen –, der endet in Krieg und Krise. Sie aber machen ethnische Kriterien zur Grundlage Ihrer Politik. Herr Gauland, wann ziehen Sie endlich Ihre Pickelhaube ab? ({10}) Die große Idee der europäischen Einigung ist es, den Verlauf der Grenzen unwichtig zu machen, weil die Grenzen durchlässig und offen sind. Darauf müssen wir gerade jetzt achten. ({11}) Angesichts Hunderter aktueller Grenzkonflikte in der Welt wäre das ja die Blaupause für den Frieden in anderen Erdteilen. Dabei sind der Zugang zum Binnenmarkt und die Aufrechterhaltung des Binnenmarktes, also ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union – die auch finanziert werden muss –, ({12}) die Grundlage für Wachstum, für Wohlstand und für Arbeitsplätze. „Aufbruch Deutschland“ heißt: ein ganz klares Bekenntnis zur Europäischen Union. Das lassen Sie vermissen; das ist der Hasenfuß an Ihren Anträgen. Deshalb müssen Ihre Anträge abgelehnt werden. ({13}) Das Medianvermögen in anderen Ländern ist doch deshalb höher, weil in Deutschland viele Mittel in die Sozialversicherung und in den Staat gesteckt werden. Wir als Freie Demokraten haben hier Alternativkonzepte vorgelegt. Wir sehen Reformbedarf in Deutschland; aber das hat mit der Europäischen Union nichts zu tun, meine Damen und Herren. Deshalb müssen wir Ihre Anträge ablehnen. Noch ein Wort zur Fachkräftezuwanderung. Wer verbreitet denn Ressentiments gegen Ausländer und Zuwanderer? Das sind doch Sie! ({14}) Wer in Zukunft die Renten finanzieren will, der muss doch für Weltoffenheit stehen, der muss für Liberalität stehen, der muss gesteuerte Zuwanderung akzeptieren. Dafür stehen Sie nicht. Sie sind für eine rückwärtsgewandte Politik. Ihre Politik ist kein Aufbruch für Deutschland; Ihre Politik ist Abbruch für Deutschland. ({15}) Deshalb, meine Damen und Herren, rufe ich Sie auf: Folgen Sie einem ihrer Gründer! Hans-Olaf Henkel hat klar gesagt – ich zitiere auswendig –, es gräme ihn, mit der AfD ein Monster erschaffen zu haben. Er hat die Konsequenzen gezogen: Er ist ausgetreten. – Ich rufe alle Menschen in Ihrer Partei, die es gut mit Deutschland meinen, auf, auszutreten und damit Herrn Henkel – noch mal: einem der Gründer – zu folgen. Vielen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zukunft gibt es nicht für lau. Darum ist der Antrag der AfD ökonomisch unsinnig, er ist völlig überholt, und er ist vor allem feindlich gegenüber der jungen Generation. ({0}) Die AfD will in ihrem Antrag die Umsatzsteuer um 4 bzw. um 2 Prozentpunkte senken. Das klingt – das muss man zugeben – erst einmal gar nicht so unpopulär. Wir wissen aber, meine Damen und Herren, dass eine dauerhafte Senkung der Mehrwertsteuer leider nicht oder nur um weniger als die Hälfte an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird; das ist nun mal so. Das zeigt auch die Erfahrung aus anderen Ländern wie Frankreich, Finnland und Schweden, die 2009 die Umsatzsteuer für Restaurants gesenkt haben. Das heißt: Das, was Sie in Ihrem Antrag den Menschen vorrechnen und vollmundig versprechen, wird so nicht eintreten. Ihr Antrag ist voller leerer Versprechen. Er ist damit ökonomisch unsinnig. Wenn wir die Steuern für Verbraucherinnen und Verbraucher senken wollen, dann sollten wir das wohlüberlegt tun und an den richtigen Stellen. ({1}) Es ist richtig: Gemessen an ihrem eigenen Einkommen, profitieren Menschen mit wenig Geld von der Mehrwertsteuersenkung am meisten. In absoluten Beträgen wiederum profitieren sie aber nicht am stärksten; denn wenn Sie die Mehrwertsteuer auf Luxusgüter senken, dann profitieren davon diejenigen, die sich teuren Schmuck und andere Luxusgüter kaufen. ({2}) Wenn die AfD die unteren Einkommen hätte entlasten wollen, dann hätte sie der Abschaffung des Solidaritätszuschlages zugestimmt. ({3}) Wir haben den Solidaritätszuschlag für 90 Prozent der Einkommen abgeschafft, nur die oberen 3,5 Prozent zahlen ihn weiter. ({4}) Sie bemühen in Ihrem Antrag auch die kalte Progression, obwohl Sie wissen oder zumindest wissen müssten, dass wir mit der Eckwerteverschiebung nach rechts und der Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrages die kalte Progression ausgleichen. ({5}) Man kann zu der Systematik der Mehrwertsteuer und auch zu der Tatsache, dass sie angehoben wurde, kritisch stehen – ich stehe dazu sehr kritisch –, aber wer an die Mehrwertsteuer heranwill, der sollte sie klug reformieren, nicht einfach via Gießkanne alles senken. Darum ist der vorgelegte Antrag hier keine Alternative. ({6}) Es ist aber auch kein gut überlegter Vorschlag; denn er ist völlig überholt. Sie legen den Haushaltsüberschuss der Jahre 2018 und 2019 zugrunde. Haben Sie eigentlich nicht mitbekommen, was in den letzten Jahren hier passiert ist? ({7}) Es ist ja bekannt, dass es Coronaleugner in der AfD gibt. Dass das aber so weit um sich greift, hätte ich persönlich nicht gedacht. ({8}) Um auch das ganz klar zu sagen: Dass wir in dieser Pandemie milliardenschwere Hilfspakete aufgelegt haben, ist richtig, weil gegen die Krise anzusparen uns am Ende noch viel teurer zu stehen kommen würde. Ich mache mir auch aufgrund unserer Wirtschaftskraft und der im internationalen Vergleich immer noch geringen Schuldenquote keine Sorgen. Schätzungen gehen davon aus, dass die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden 2021 bei rund 73 Prozent liegen. Das sind dann immer noch 9 Prozentpunkte weniger als 2010 nach der Finanzkrise. Darum kommt es in dieser Krise darauf an, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen. Das, was Sie vorgelegt haben, meine Damen und Herren, trägt nicht dazu bei. ({9}) Denn der Vorschlag, den Sie vorgelegt haben, würde zu Mindereinnahmen von mehreren Milliarden Euro führen. Sie rechnen mit 51 Milliarden Euro. Im Endeffekt wird es von der Konjunktur abhängen, wie viel Milliarden es sind; aber es ist klar, dass es hohe Milliardenbeträge sein werden. Mich treibt vor allem um, wie wir die Handlungsfähigkeit des Staates, insbesondere der Kommunen, nach der Krise sichern. Wir brauchen vor Ort Spielraum; denn für Klimaschutz und Verkehrswandel brauchen wir Investitionen. In Deutschland schließt seit Jahren alle vier Tage ein Schwimmbad. Das hat nichts mit Corona zu tun. Diese Hallenbäder sind einfach marode, sie sind kaputtgespart. Ich will aber, dass in Deutschland alle Menschen Schwimmen lernen können. Darum brauchen wir Geld für unsere öffentliche Infrastruktur. ({10}) Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass wir besser in unsere Zukunft investieren und das Geld besser dafür verwenden sollten, Schulen besser auszustatten, Straßen zu sanieren, Breitband bis an jede Milchkanne auszubauen, in jeder Kommune ausreichend Schwimmbäder zu haben und die Angebote in der offenen Kinder-und Jugendarbeit, in der Quartiersarbeit und in der Senioren- und Seniorinnenarbeit auszuweiten, weil all das zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft beiträgt und Zukunftsinvestitionen nicht nur wichtig sind, um den Wirtschaftsstandorts zu sichern, sondern auch, um ganz einfach das Leben lebenswerter zu machen. Das will aber die AfD nicht, weil sie spalten will. Die AfD hat auch mit diesem Antrag wieder einmal gezeigt, dass sie Politik nur für die Reichen macht, auch wenn sie vorgibt, dass das anders sei. Weil sich aber am Ende nur reiche Menschen einen armen Staat leisten können, lehnen wir den Antrag der AfD ab. Herzlichen Dank. ({11})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu einer viel zu guten Zeit müssen wir hier heute AfD-Anträge behandeln, die eigentlich unnötig sind. Das, was wir heute vorgelegt bekommen haben, ist wirtschaftspolitisch und europapolitisch eine Geisterfahrt und sollte eigentlich von Ihnen schon heute zurückgezogen werden, damit wir im Ausschuss überhaupt nicht mehr darüber reden müssen. ({0}) Sie haben kurz vor zwei Landtagswahlen mal wieder alles auf Papier gebracht, was Ihnen schon immer wichtig war, aber was uns als Land massiv schaden würde. Man muss noch mal deutlich sagen: Wenn die AfD was zu sagen hätte, hätten wir heute schon Millionen Arbeitslose mehr, diesem Land würde es insgesamt schlechter gehen, und wir wären europapolitisch und in der ganzen Welt sehr isoliert. ({1}) Das haben Sie heute noch mal sehr gut zu Papier gebracht. In den Anträgen steht wieder alles drin, beginnend damit, dass man das Lieferkettengesetz ablehnt. Was das mit der Coronakrise zu tun hat, weiß ich nicht. Sie wollen zurück zur Kernkraft. Sie wollen im Prinzip, dass die Coronamaßnahmen beendet werden. Das heißt, für Sie sind Profite wichtiger als Menschenleben und Gesundheit. ({2}) All das bringen Sie zu Papier. Deshalb kann das alles nur abgelehnt werden. ({3}) Es ist ein krudes Gemisch und Ausdruck von Planlosigkeit, was Sie uns hier vorschlagen. Von daher: Ziehen Sie die Anträge zurück! Sie sind eigentlich keine Rede wert. ({4}) Dass Herr Altmaier da ist, finde ich gut. Denn dann können wir uns auch ein bisschen mit der Bundesregierung beschäftigen, wenn wir schon mal Anlass zum Reden haben. Herr Altmaier, das Wirtschaftsministerium ist in dieser Coronakrise wirklich – das muss man sagen – ein Schwachpunkt. ({5}) Sie machen ein Wettrennen mit dem Gesundheitsminister, wer der schwächste Minister in Deutschland ist. Jetzt können Sie vielleicht froh sein, dass Herr Spahn mal ein, zwei Wochen vor Ihnen liegt; aber Sie werden sich mit der Notfallhilfe wahrscheinlich bemühen, nächste Woche wieder derjenige zu sein, der sich schwertut, uns durch die Coronakrise zu bringen. Deshalb glaube ich: Wenn wir Gesundheit vor wirtschaftliche Interessen stellen, was wir als Linke begrüßen, dann müssen die Maßnahmen, die wir für diejenigen gedacht haben, die wirtschaftlich unter dieser Krise leiden, aber auch bei ihnen ankommen. ({6}) Was Sie mit Ihren Wirtschaftshilfen bisher gemacht haben, ist eine reine Katastrophe. Da reicht es auch nicht aus, wenn Sie immer wieder auf die Bundesländer verweisen. Wenn es mit der Coronasoforthilfe schon im letzten Sommer nicht geklappt hat, dann hätte doch Ihr Haus sagen müssen: Wir nehmen das jetzt selbst in die Hand und sorgen dafür, dass die November- und Dezemberhilfen, die Coronahilfe III oder nun auch die Notfallhilfe für die, die bisher durch jedes Raster gefallen sind, endlich dort ankommen. – Es kann nicht sein, dass viele Existenzen, Arbeitsplätze, Soloselbstständige und Einzelhändler darunter leiden müssen, dass dieses Wirtschaftsministerium nichts auf die Reihe kriegt. ({7}) Herr Altmaier, Sie sind vielleicht wie die AfD und die FDP Anhänger der Meinung: Wir müssen schnell zurück zu dem alten Zustand. – Wir als Linke sagen Ihnen ganz deutlich: Nach Corona wird es nie mehr so sein wie vor Corona. Denn die Coronakrise hat gezeigt, wie dringend notwendig Zukunftsinvestitionen in diesem Land sind. ({8}) Ob Krankenhäuser, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen insgesamt oder die ökologischen Notwendigkeiten der Klimakrise, wir brauchen viel, viel Geld. Deshalb erneuern wir unseren Vorschlag vom letzten Jahr. Wir brauchen zusätzliche Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren für den sozialökologischen Umbau unserer Gesellschaft. ({9}) Das bekommt man natürlich nicht damit hin, dass man der Frage aus dem Weg geht, wer es zu bezahlen hat. Wir als Linke sagen deutlich: Die Wohlhabenden und die Reichen in Deutschland und in Europa müssen nach der Krise zur Verantwortung gezogen werden; sie müssen mehr beitragen, damit die Gesellschaft gelingt. Deshalb ran an das Geld der Reichen! Mehr Umverteilung! ({10}) Dann ist der sozialökologische Umbau auch ohne neue Schulden zu finanzieren. ({11}) Aber wenn man darauf verzichtet, sich mit den Wohlhabenden anzulegen, dann muss man halt die Schuldenbremse und die schwarze Null außer Kraft setzen. Denn beides geht nicht: Man kann nicht auf Steuererhöhungen verzichten und gleichzeitig sagen, man will wieder zur Schuldenbremse zurückkehren. – Denn dann versündigt man sich an den kommenden Generationen. Deshalb glauben wir, es braucht einen Mix. Wir brauchen höhere Steuern für Reiche und Wohlhabende, und wir müssen weiterhin die schwarze Null zumindest mal aussetzen, damit in die Zukunft investiert werden kann. Denn die Klimakrise macht auch wegen Corona keine Pause. Es muss dringend viel Geld in die Zukunft investiert werden. ({12}) Herr Theurer, ich muss auf Ihre Rede eingehen. ({13}) Sie haben sich von der AfD gut absetzen wollen, indem Sie vorgeschlagen haben, hier eine Plexiglaswand zu errichten. Sie haben dann noch gesagt, dass die Vorschläge, die die AfD macht, die FDP schon gemacht hätte, als es die AfD noch gar nicht gegeben hätte. Vielleicht sollte sich die FDP mal Gedanken machen, ob ihr neoliberaler Mix, der zur sozialen Spaltung führt, nicht im Ergebnis auch dazu geführt hat, dass die AfD überhaupt da ist. Eine soziale Spaltung macht natürlich auch die rechte Seite stark. ({14}) Deshalb: Ihre Politik und das, wofür Sie stehen, ist auch Ausdruck dessen, dass jetzt die AfD im Bundestag ist. ({15}) Deshalb, glaube ich, müsste auch die FDP ihre Politik mal grundsätzlich überdenken. Herr Altmaier, wenn wir jetzt noch einige Wochen und Monate mit der Coronakrise leben müssen, bleibt Die Linke bei ihren Vorschlägen. Wir müssen diejenigen schützen, die darunter zu leiden haben. Das heißt, die Coronahilfen müssen schnell dort ankommen, wo sie hingehören. Die Notfallhilfe muss jetzt schnell zur Auszahlung kommen. Wir brauchen eine Erhöhung des Kurzarbeitergelds. Wir bleiben dabei: Wir brauchen ein Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro. Und wir sagen klipp und klar: Wenn Firmen gerettet werden, dann muss das mit Beschäftigungssicherung verbunden werden. Es kann nicht sein, dass die Lufthansa Milliarden bekommt und dann 30 000 Menschen rauswirft. Auch heute, wo die Lufthansa ja ihre Pressekonferenz hat, muss das noch mal deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Vielen Dank. ({16})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Motto der AfD: „Zurück ins Vorgestern!“ Was sollte man auch anderes von einer vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen Partei erwarten? Die AfD schreibt „Lockdown aufheben“ darüber, will aber möglichst gleich noch sämtliche Maßnahmen für den Klimaschutz aufheben. Dass die braune AfD eine Partei der Vergangenheit ist, das hat sie schon oft bewiesen. ({0}) Mit diesen Anträgen offenbart sie ihre rückwärtsgewandte und wissenschaftsfeindliche Einstellung einmal mehr. ({1}) Egal ob Gender Studies, Epidemiologie oder Klimaforschung, wissenschaftliche Erkenntnisse und die Positionen der AfD gehen nicht zusammen. ({2}) „Zurück ins Vorgestern!“, das ist Ihr Motto. Dabei marschieren Sie im Stechschritt an der Wirklichkeit vorbei. Ihr Antrag mit Vorschlägen zur Konjunkturbelebung liest sich wie eine Sammlung von Worst-of-AfD-Wirtschaftsideen, geprägt von Ihrem vorgestrigen Weltbild und in der heutigen Zeit kontraproduktiv. Nur ein Beispiel: Deutschland braucht dringend mehr Fachkräftezuwanderung. Dafür brauchen wir eine Willkommenskultur, um im globalen Wettbewerb um die bestausgebildeten Talente bestehen zu können. Ihre Vorschläge gehen in die genau entgegengesetzte Richtung. ({3}) Doch dafür, mich an Ihren Widersprüchen und Ihrer Ahnungslosigkeit abzuarbeiten, ist mir, ehrlich gesagt, meine Redezeit zu schade. ({4}) Konstruktive Vorschläge, um Probleme zu lösen, überlassen Sie sowieso uns allen anderen. Das ist schließlich nicht Ihre Stärke. Dass sich die Klimakrise zuspitzt und das Klima sich durch den hohen CO2-Ausstoß erhitzt, leugnet außer Ihnen und Ihresgleichen niemand mehr. Sogar die großen Wirtschafts- und Industrieverbände stellen sich auf den Klimaschutz ein und fordern entsprechende Rahmenbedingungen, damit Klimaschutz sich endlich besser rechnet. Damit sind die Unternehmen und Verbände inzwischen weiter als die Bundesregierung. ({5}) Das Motto muss sein: „Aus der Krise lernen und sie nutzen, um umzusteuern.“ Es werden Milliardeninvestitionen notwendig sein, um aus der Coronakrise herauszukommen. Die können und müssen wir auch so nutzen, dass wir uns nachhaltig aufstellen. Das wäre klug. Hin zu mehr Klimaschutz, hin zu mehr Kreislaufwirtschaft und hin zu mehr Widerstandsfähigkeit gegen Krisen! ({6}) Das ist der Zeitgeist. Die EU und die USA machen es vor. Aber die schwarz-rote Koalition sendet über die letzten Jahre hinweg immer wieder widersprüchliche und falsche Signale. ({7}) Sie nimmt Klimaschutz, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft nicht ernst genug. Gerade in Bezug auf die Digitalisierung haben wir doch in dieser Krise schmerzlich gemerkt, wie sehr uns die fehlende Infrastruktur lähmt. Es ist eine Zukunftsfrage, ob wir nicht nur die Großstädte, sondern auch die Klein- und Mittelstädte und den ländlichen Raum anschließen und ihnen gute Entwicklungschancen bieten. ({8}) Zu wenig Investitionen, ordnungspolitisch zu niedrige Leitplanken und in Brüssel zum Teil sogar der Einsatz gegen entsprechende Regelungen: So schaffen wir die Transformation hin zu ökologischem und krisensicherem Wirtschaften nicht. Da müssen wir dringend was ändern, und da brauchen wir klare Signale der Bundesregierung für Stabilität. Denn wir können es schaffen, aus dieser Krise langfristig stärker hervorzugehen. Ich will mal ein Positivbeispiel nennen. Das EEG, von vielen heute sehr gescholten, hat sehr positive Impulse für die Entwicklung der erneuerbaren Energien gesetzt. ({9}) Recycling, Kreislaufwirtschaft, Energieeffizienz im Bau, im Bereich Mobilität: Wir haben hier unglaubliche Potenziale für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, für den Klimaschutz. Dabei, Herr Altmaier, müssen wir immer auch insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen mit in den Blick nehmen; denn dort ist das Innovationspotenzial Deutschlands. Darauf müssen unsere Programme entsprechend ausgerichtet sein. ({10}) Die Coronapandemie hat deutlich gemacht: Unsere Widerstandsfähigkeit in Krisen ist zu gering. Wir müssen unsere Krisenresilienz in allen Bereichen erhöhen. In Bezug auf die Pandemie heißt das zum Beispiel: Wir brauchen langfristig den Aufbau einer Pandemiewirtschaft, ({11}) in der schnell und zuverlässig Medikamente, Schutzkleidung und Tests produziert werden können. Diese Kapazitäten müssen wir in Europa vorhalten können; denn wir machen das alles nicht alleine, sondern in einem internationalen Kontext – etwas, was Sie nicht verstanden haben. Aber dafür brauchen diese Unternehmen Verbindlichkeit in Bezug auf Abnahme und Preis. ({12}) Aber da ist mehr. Die Klimakrise wird uns immer wieder in solche Ausnahmesituationen bringen, und wir sind unzureichend darauf vorbereitet. Wir brauchen Lösungen, wenn zum Beispiel langanhaltende Trockenheit die Landwirtschaft oder eben durch Niedrigwasser auch Transportwege, notwendig für unsere Stahl- und chemische Industrie, gefährdet.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf gar keinen Fall. ({0}) Um Resilienz zu fördern und Klimaneutralität zu erreichen, muss die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aufgebrochen werden. Kreislaufwirtschaft, Recycling und Upcycling erfahren berechtigterweise neues Interesse. Hier brauchen wir eine bessere Vernetzung. Wir brauchen mehr regionale Wirtschaftskreisläufe, reduzierte Lieferwege und Transporte, um dauerhaft Arbeitsplätze, Wertschöpfung hier zu sichern und gleichzeitig die globale Klimakrise zu bekämpfen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Krisenresilienz. ({1}) Die Aufgabe ist komplex. Krisenpotenziale greifen ineinander. Genauso vernetzt müssen daher unsere Antworten darauf sein. Zur Bewältigung und für eine zukunftsfähige Gesellschaft brauchen wir die drei T: Technologie, Talent und Toleranz. ({2}) Für nichts davon ({3}) steht die AfD. Das haben Sie mit Ihren Anträgen mal wieder eindrucksvoll bewiesen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Müller. – Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Ich hatte Ihnen noch keinen guten Morgen gewünscht. Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin, guten Morgen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich betonen, dass die Anstrengungen der letzten Wochen und Monate nicht umsonst waren, wie das ja suggeriert wurde. Wir haben gemeinsam erreicht, dass die Zahl derer, die sich in intensivmedizinischer Behandlung befinden, massiv gesunken ist. Das ist gut, und das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren. Jetzt, kurz bevor wir am Ziel sind, von Durchseuchungsstrategien zu sprechen, wäre natürlich grundfalsch. Man kann über den Lockdown, man kann auch über einzelne Maßnahmen trefflich diskutieren, aber doch nicht über die Wirkung. Weniger Kontakte gleich weniger Infektionen, das sollten sogar Sie verstehen. Sie zitieren ganz bewusst oder eben auch nicht bewusst Studien falsch oder einseitig. Es ist so, dass die Impfungen jetzt schon eine Wirkung zeigen. Die Zahl der Neuinfektionen ist gerade bei älteren Menschen bereits merklich gesunken. Das ist gut, und das ist wichtig, meine sehr geehrten Damen und Herren. Gerade jetzt müssen wir auch mal ein deutliches Dankeschön sagen: Danke für die Disziplin, für den nicht einfachen Verzicht, für das Mitmachen! Es war ja letztlich nicht die Politik, es waren nicht die Maßnahmen, es waren die Menschen, die dazu beigetragen haben, dass die Situation jetzt wieder besser ist. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. ({0}) Eines muss immer klar sein: Nur wenn die Menschen mitmachen, können die Maßnahmen letztlich auch greifen. Deshalb brauchen wir jetzt vor allem Akzeptanz in der Bevölkerung, auch für die weiteren Maßnahmen. Zur Akzeptanz gehören natürlich auch Perspektiven – Perspektiven für Öffnungen, für mehr Normalität. Ich bin dankbar, dass dementsprechend die MPK gestern einige Schritte in die richtige Richtung beschlossen hat. Klar ist auch, dass für die Einschränkungen, die gerade der Gastro, dem Einzelhandel, aber auch beispielsweise den Friseuren und anderen zugemutet wurden, wirtschaftliche Hilfen benötigt werden. Die Hilfen laufen jetzt endlich Gott sei Dank an, und sie kommen auch an. Wir brauchen aber zusätzlich einen Härtefallfonds – es sind 1,5 Milliarden Euro in den Raum gestellt worden –, genau für die Fälle, in denen die bestehenden Programme, aus welchen Gründen auch immer, eben nicht greifen. Auch die Ausdehnung der Hilfen für Unternehmen bis 750 Millionen Euro Umsatz darf nicht an bürokratischen Hürden scheitern. Wir sehen da Olaf Scholz in der Pflicht. Hier muss gemeinsam geliefert werden, meine Damen und Herren. ({1}) Aber uns muss klar sein, dass die Hilfen natürlich kein Ewigkeitsinstrument sind. Sie sind notwendig, aber normalerweise will natürlich kein Unternehmer alimentiert werden. Die Menschen wollen arbeiten. Das ist gut, und das muss von uns auch mit Perspektiven flankiert werden. Das Testen wird mehr Freiheit ermöglichen. Selbsttests bieten Chancen für mehr Eigenverantwortung, für mehr Freiheit insgesamt, die wir natürlich nutzen müssen. Wir müssen weiter alle Potenziale beim Impfen nutzen. Wir brauchen so viel Impfstoff wie möglich, der so schnell wie möglich verimpft werden muss. Wir werden uns weiter an die AHA-Regeln halten müssen. Wir brauchen die Masken, die Sie für lächerlich halten. Impfen, Testen, AHA und Öffnen, könnte man auch sagen. Wir brauchen Öffnungen, aber wir brauchen differenzierte Öffnungen und nicht undifferenzierte Öffnungen, wie sie die AfD fordert. Dabei betrachte ich die Ergebnisse von gestern als ersten wichtigen Schritt. Weitere werden sich sukzessive nach Wenn-dann-Bedingungen anschließen. Schließlich brauchen wir aber auch jetzt schon Konzepte für das Wiederdurchstarten der Wirtschaft. Ein Licht am Ende des Tunnels beispielsweise ist die schrittweise Mehrwertsteuersenkung für die Gastro, die von uns bis Ende 2022 beschlossen wurde. Übrigens hat die AfD dagegengestimmt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Lenz – Sekunde –, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Diether Dehm? Er sitzt links. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ach, der Komponist, genau. ({0}) – Aber auch.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Möglichkeit einer Zwischenfrage auch nach Ansichtigwerden meiner Person noch aufrechterhalten haben. Ich vermisse einen Begriff, stimme Ihnen bei dem Wort Differenzierung bei Öffnungen, aber auch bei Pandemiebekämpfung völlig zu. Aber brauchen Augenmaß und Differenzierung nicht auch mehr Personal? Ich spüre den Verzicht bei vielen Rednerinnen und Rednern. Ich glaube auch – Kollege Ulrich hat das vorhin angesprochen –, dass das Steilvorlagen für die AfD und ähnliche Kräfte werden könnten, wenn man nicht sagt: Augenmaß braucht einen starken Sozialstaat. Wir müssen die Gesundheitsämter wieder in den Stand von 1995 versetzen, also die 20 000 weggekürzten Stellen neu schaffen, sodass sie Theater für Theater, Einrichtung für Einrichtung, Kita für Kita, Schule für Schule wieder prüfen können, damit sie Infektionsverläufe nachvollziehen können und wir nicht blinde Werte ansetzen, weil wir die Gesundheitsämter heruntergewirtschaftet haben. – Würden Sie mir also darin zustimmen, dass wir die Gesundheitsämter wieder stärken müssen, weil ein starker Sozialstaat das Augenmaß, die Differenzierung, also auch die vertikale Pandemiebekämpfung ermöglicht, von der Sie gesprochen haben? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. – Dr. Lenz, bitte.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dehm, zunächst einmal macht es mir eigentlich immer Angst, wenn Die Linke mir zustimmt, auch wenn es nur eine teilweise Zustimmung ist. ({0}) Aber Sie nehmen sie auch gerne zurück. Aber Spaß beiseite: Zustimmung von Ihrer Seite wird letztlich auch von mir angenommen. Zu den Gesundheitsämtern. Sie haben wahrscheinlich die Beschlüsse des Konjunkturpaketes des letzten Jahres nicht ganz gelesen. Es ist so, dass der Bund insgesamt über 7,5 Milliarden Euro für die Gesundheitsämter zur Verfügung stellt: für die personelle Ausstattung, aber auch für die Ausrüstung im digitalen Bereich. Das läuft jetzt an. Wir sind bei der Umsetzung schon massiv vorangekommen. Insofern läuft es. – Ich bedanke mich trotzdem für Ihre Wortmeldung. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dann geht es weiter mit der Rede.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, zu mehr Normalität zurückkehren – ich habe es gesagt –: Testen, AHA-Regeln, Impfen werden dazu beitragen. Wir wissen auch, wie wichtig die Innenstädte jetzt, aber auch in der Zukunft sind, und wir wissen ferner – das vergegenwärtigt ein Blick in die Runde –, dass auch Friseure für das Erscheinungsbild wichtig sind, aber auch für vieles mehr. Es ist vielen erst jetzt richtig bewusst geworden: Wir müssen also jetzt Konzepte entwickeln, erarbeiten, wie wir den Einzelhandel fit für die Zukunft machen. Da geht es um mehr als Resilienz. Wir haben tolle Einzelhändler, tolle Unternehmer. Das erfahren wir auch jeden Tag. Diese brauchen natürlich Perspektiven, auch wenn es darum geht, Langfristperspektiven zu entwickeln, auch im Wettbewerb gegen die digitale Konkurrenz. ({0}) Darum wird es gehen. Dazu müssen wir beitragen. Hier müssen wir liefern, und hier werden wir auch entsprechende Konzepte erstellen. In dem Sinne: Herzlichen Dank. ({1})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Heute vor genau einem Jahr erreichte uns die Nachricht, dass die Leipziger Buchmesse abgesagt werden musste. ({0}) Seitdem sind Tausende von Veranstaltungen nachgefolgt. Nichts ist mehr, wie es war. Viele Menschen sind in Kurzarbeit oder haben ihren Job verloren. Viele müssen fürchten, ihre Lebensgrundlage zu verlieren. Es ist daher ganz klar: Wir brauchen eine nachvollziehbare Öffnungsstrategie und starke wirtschaftspolitische Impulse. ({1}) In der Tat bietet uns die aktuelle Lage Anlässe, auch über Grundsätzliches nachzudenken. Unser Umsatzsteuersystem ist dringend reformbedürftig. Auch über die Sätze müssen wir sprechen. Darüber sind wir uns weitgehend einig. Ständig wiederkehrende Betrugsfälle, eine nicht nachvollziehbare Anwendung des ermäßigten Steuersatzes – so kann es nicht weitergehen. ({2}) Doch wenn Sie, werte Kollegen von der AfD, ein Papier vorlegen, mit dem Sie Ihre Visionen für eine moderne Umsatzbesteuerung darstellen, dann ist das Beste, was Ihnen einfällt, eine pauschale Umsatzsteuersenkung um ein paar Prozentpunkte. Brauchen wir jetzt wirklich das vierte oder fünfte Herumgewuschel am Mehrwertsteuersatz? Das ist keine Strategie; das ist papiergewordene Einfallslosigkeit. ({3}) Jetzt haben wir schon eine Regierung, die sich jeden nächsten Planungsschritt in der Pandemie aus der Nase ziehen lässt, und jetzt wollen Sie als Oppositionspartei mit noch weniger Plan dagegenwursteln. Das haben die Bürger nicht verdient. ({4}) Ein besonderes Highlight ist übrigens Ihr Vorschlag zur Gegenfinanzierung. Streichen wollen Sie bei der EU. Dabei ist doch gerade der europäische Binnenmarkt die größte Hoffnung für unsere wirtschaftliche Erholung nach der Krise. ({5}) Noch erstaunlicher ist der Hinweis auf die kalte Progression bei der Einkommensteuer. Wir wollen sie abschaffen. Sie werben dafür, diese heimliche Steuererhöhung durch die Hintertür bei den Bürgern abzukassieren – davon abgesehen, dass gerade in der aktuellen Lage das derzeit gar nicht so viel bringt, eigentlich gar nichts. ({6}) Falscher Ansatz, falsche Finanzierung, falsche Zielrichtung! Ja, wir müssen ans Umsatzsteuersystem ran. Gerade haben meine Fraktionskollegen und ich im Bundestag einen Antrag vorgelegt, in dem wir Möglichkeiten einer modernen Umsatzbesteuerung aufzeigen: durch die Einführung eines elektronischen Meldesystems zur Erstellung, Prüfung und Weiterleitung von Rechnungen. Damit können wir echten Mehrwert schaffen. So bringen wir die Mehrwertsteuer ins 21. Jahrhundert. ({7}) Die Steuerpflichtigen könnten medienbruchfrei Kundenaufträge verarbeiten. So würde den kriminellen Karussellgeschäften endlich etwas Wirksames entgegengesetzt. ({8}) Ihre Anträge tragen zu alldem wenig bei. Daran werden wir zwar auch in der Ausschussarbeit nichts ändern, der Verweisung stimmen wir natürlich zu. Dann lasst uns aber bitte dort nicht über ein paar klägliche Punkte sprechen, die Sie uns hier vorgelegt haben, sondern schauen, wo der Schuh bei der Umsatzsteuer wirklich drückt. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Till Mansmann. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie von der AfD beschreiben keine Wege raus aus der Wirtschafts- und Lockdown-Krise, wie der Titel Ihres Antrags verspricht. Vielmehr servieren Sie uns ein Sammelsurium altbekannter AfD-Propaganda. Sie hetzen gegen die EU, Sie hetzen gegen Migranten, Sie hetzen gegen die Energiewende und gegen die Klimarettung, Sie hetzen gegen die Frauenquote in Führungspositionen. Das hat alles nichts und überhaupt gar nichts mit der Bewältigung der Coronakrise zu tun, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Das alles ist alter Kaffee. Aber alter Kaffee zum x-ten Mal aufgebrüht ist am Ende doch nur braune Plörre. ({1}) Lassen Sie sich das deutlich sagen: Sowohl die Pandemie wie auch die damit verbundene Wirtschaftskrise löst man als Exportnation doch nicht national, sondern nur europäisch und global. Das ist das kleine Einmaleins der VWL, der Volkswirtschaftslehre; aber die beherrschen Sie ja scheinbar nicht. ({2}) Mit der Forderung, alle Maßnahmen der Energiewende und des Klimaschutzes auszusetzen, ignorieren Sie doch, dass wir neben der Coronakrise auch noch eine Klimakrise haben, die wir bewältigen müssen. Diese Krise wartet doch nicht darauf, dass wir uns erst um Corona kümmern. Wir haben jetzt die einmalige Chance, beides zeitgleich zu bewältigen, ({3}) weil wir der Auffassung sind, dass die Bewältigung der Klimakrise auch einen Beitrag dazu leisten kann, aus der Coronakrise herauszukommen. Da ist die deutsche Wirtschaft, Gott sei Dank, viel weiter als die AfD, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Mit Ihrer Forderung nach einer pauschalen Öffnung würden Sie die dritte Welle, an deren Anfang wir stehen, zu einem Tsunami machen, und all unsere Erfolge, die wir errungen haben, würden Sie leichtfertig gefährden. Ich finde: Die gestern beschlossene schrittweise Öffnung, verbunden mit einer Schnell- und Selbstteststrategie, gibt Handel, gibt Gastronomie, gibt Kultur eine echte Perspektive, auf die wir vor Ort so dringend gewartet haben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Sie von der AfD bemängeln auch die schleppende Auszahlung der Wirtschaftshilfen. Das Argument habe ich hier auch immer gebracht, und das war bis Mitte Februar ja auch richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren. Jetzt aber nicht mehr. Ein Großteil der Novemberhilfen, der Dezemberhilfen und der Neustarthilfen wurde inzwischen ausbezahlt. Auch die Gelder der Ü III fließen mittlerweile. Ich zitiere jetzt aus einer Whatsapp-Nachricht eines Gastronomen aus meinem Wahlkreis. Der hat mir gestern geschrieben: Lieber Timon, Update zu Ü III: Freitag Antrag gestellt, Samstag Bestätigung, Mittwoch erste Abschlagszahlung auf dem Konto. Das ging ja mal richtig flott. ({6}) Weil ich ja auch häufig kritisiert habe, Herr Altmaier: Herzlichen Dank an Sie und auch an Olaf Scholz; denn die Gelder kommen an. Das ist keine individuelle Erfahrung, sondern, wenn ich richtig informiert bin, mit Stand vom 1. März 2021 sind in allen Förderprogrammen des Bundes, die wir aufgelegt haben, von den insgesamt beantragten 30 Milliarden Euro mittlerweile 26 Milliarden Euro abgeflossen. Ich finde: Das kann sich sehen lassen. – Hilft aber nichts, wenn es vor Ort das ein oder andere Problem gibt. Darum kümmern wir uns jetzt auch mit dem Härtefallfonds. Aber ich glaube, dass wir daran einen Haken machen können. ({7}) Es läuft jetzt, und dazu haben auch maßgeblich die Koalitionsfraktionen beigetragen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das muss man an dieser Stelle auch mal sagen. Ich finde: Jetzt habe ich mich schon viel zu lange mit diesem Antrag der AfD beschäftigt. Lassen Sie mich die Zeit doch nutzen, um Ihnen darzulegen, wie wir als Sozialdemokratie aus dieser Krise kommen wollen. ({8}) Wir sind der Auffassung: Das müssen wir solidarisch machen – mit Respekt, mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und gemeinsam. Wir wollen den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. ({9}) 12 Euro! Wer arbeitet, muss davon auch leben können und sein Leben bezahlen können. Das ist eine Frage des Respekts. Deswegen ist ein erster Schritt Richtung 12 Euro genau der richtige Weg. Dafür steht die Sozialdemokratie, meine Damen und Herren. ({10}) Und wir wollen die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages in der Altenpflege. Das ist für uns wichtig. ({11}) Denn schlechte Löhne für harte Arbeit – das sage ich auch Richtung Caritas – sind unsozial. Damit es auch die Caritas versteht: Die sind unchristlich, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({12}) Deswegen ist es gut, dass unser Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Pflegemindestlohnkommission einberufen will. Genau das ist der richtige Schritt. ({13}) Ich erwarte aber auch von Jens Spahn, statt zu irgendwelchen netten Spendenessen nach Leipzig zu fahren, doch bitte seine Hausaufgaben zu machen ({14}) und sicherzustellen, dass künftig auch in der Altenpflege klar ist, dass die Refinanzierung aus der Pflegeversicherung daran gekoppelt wird, dass es Tarifverträge gibt. Herr Spahn, machen Sie Ihre Hausaufgaben im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege Gremmels, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Ulrich? Der sitzt auch links.

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Das ist sehr nett; aber er kann ja anschließend eine Kurzintervention machen. Vielen Dank. Ich würde gerne in meiner Rede fortfahren. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte deutlich machen, dass die AfD zum Thema der systemrelevanten Berufe, der sozialen Berufe in ihrem Antrag überhaupt nichts gesagt hat. Dass Sie dazu nichts sagen, spricht noch mal gegen Sie. Ich möchte sagen: Wir als SPD wollen weiter eine Tarifbindung; die wollen wir stärken. Wir wollen ein Bundestariftreuegesetz; für uns ist die Vorbildfunktion des Staates bei der Bezahlung, bei ordentlichen Löhnen ganz wichtig. Wir wollen künftig investieren; die öffentliche Hand muss stärker in Zukunftsfelder investieren. Deswegen streben wir eine Investitionssumme des Staates in Höhe von 50 Milliarden Euro pro Jahr an. Wir wollen die Förderbank des Bundes, die KfW, zur modernen Innovations- und Investitionsbank weiterentwickeln, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Wir wollen Start-ups nachhaltig unterstützen und ihnen auch einen besseren Zugang zu Wagniskapital geben. Und wir möchten die Kultur der zweiten Chance, gerade bei den Start-ups, etablieren, meine sehr verehrten Damen und Herren. – Das sind die sozialdemokratischen Vorstellungen von einer modernen Wirtschaftspolitik. Und: Wir müssen nachhaltig aus der Krise kommen; Stichwort „Zukunft heute gestalten“. Die SPD hat in dieser Großen Koalition dafür schon einige Akzente gesetzt. Im Verkehrsbereich haben wir viel erreicht: Die E-Mobilität boomt endlich. Wir haben Förderprogramme für die Automobilzulieferer auf den Weg gebracht. Wir haben das größte Investitionsprogramm für die Schiene aufgelegt. Wir wollen aber mehr: Wir wollen 15 Millionen E-Autos bis 2030, wir wollen Wasserstoff-Lkws und Mobilitätsgarantie, auch auf dem Land. Im Gebäudebereich das Gleiche; wir haben viel erreicht: die Verfünffachung der Gebäudeförderung, ein Gebäudeenergiegesetz samt Anrechenbarkeit von Photovoltaik, Quartiersansätzen und CO2-Preis. Aber auch da wollen wir mehr: 5 Millionen Wärmepumpen bis 2030, nachhaltige Baustoffe und reelles Sanieren. Das ist uns wichtig. ({2}) Im Energiebereich haben wir auch viel erreicht: eine Verdreifachung des jährlichen PV-Zubaus, grundlegende Verbesserungen beim Mieterstrom, Anteil erneuerbarer Energien bei 50 Prozent. Aber auch hier wollen wir noch mehr: eine weitere Anhebung der Ausbaupfade noch in dieser Legislatur – das sage ich auch in Richtung unseres Koalitionspartners –, Klimaneutralität im Stromsektor bis 2040. – Das alles wollen wir, und zwar nicht nur der Umwelt zuliebe, sondern weil wir auch der Auffassung sind: Das ist ein echtes Job- und Konjunkturprogramm für das Handwerk und für den Mittelstand, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus der Wirtschaftskrise gelingt nur dann, wenn wir gleichzeitig auch die Klimakrise sozialverträglich bewältigen. Beide Mammutaufgaben gehen nur partnerschaftlich mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen. Dafür braucht es eine starke SPD. In diesem Sinne: Glück auf und vielen Dank! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Timon Gremmels. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Alexander Ulrich.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Gremmels, Sie wissen doch, dass ich ein Guter bin. Wir sind schon seit Jahren im gleichen Ausschuss; da brauchen Sie doch keine Angst zu haben, wenn ich Ihnen eine Frage stellen will. Denn jetzt müssen Sie ja trotzdem antworten oder können antworten. Ich will zuvor sagen: Wir geben Ihrem Parteivorsitzenden ja recht, der diese Woche gesagt hat, dass in der Coronakrise die Minister der CDU die absoluten Schwachpunkte sind. Ich habe das in meiner Rede ja auch gesagt. Herr Altmaier und Herr Merz rennen dabei um Platz eins, Woche für Woche. ({0}) – Herr Spahn und Herr Altmaier. ({1}) – Ja, Herr Merz wollte ja heute schon Minister sein, wenn es so gekommen wäre, wie er nach dem Parteitag gewollt hätte. Das hat die CDU nicht gemacht. Heute haben Sie den Mindestlohn von 12 Euro genannt. Warum ich es ansprechen will, ist: Wir als Linksfraktion haben diesen Antrag zu 12 Euro Mindestlohn schon mehr als einmal in dieser Legislaturperiode hier eingebracht. Wir waren kurz nach der Bundestagswahl, als die SPD noch nicht davon ausgehen musste, wieder in einer Koalition zu landen, überrascht, dass der jetzige Kanzlerkandidat auch auf 12 Euro gegangen ist. Aber warum stimmen Sie denn immer gegen unseren Antrag hier im Bundestag, wenn Sie jetzt wieder 12 Euro fordern? ({2}) – Ja, man soll Sie an den Taten messen, nicht an den Worten. Bei der SPD ist es zu oft so, dass man vor den Wahlen links blinkt und danach doch wieder rechts abbiegt. Das zweite Thema, das ich ansprechen will: Im Koalitionsvertrag steht drin, dass man die sachgrundlosen Befristungen abschaffen will. Wir haben noch ein paar Monate diese Regierung. Wann wird es in diesem Haus einen Gesetzentwurf geben, mit dem die sachgrundlosen Befristungen endlich abgeschafft werden? Oder ist das auch wieder nur ein Wahlkampfthema für die SPD? ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Alexander Ulrich. – Herr Gremmels.

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ulrich, ich will hinterher meine Rede ins Netz stellen, und da wäre es blöd, wenn Ihre Frage dazwischengegangen wäre. Deswegen: Es lässt sich besser schneiden, wenn wir es hinterher klären. ({0}) So viel dazu. – Scherz beiseite. Ich möchte an dieser Stelle noch mal deutlich sagen, dass gerade wir Sozialdemokraten uns in dieser Koalition keine Vorwürfe machen müssen. Wir haben als Sozialdemokratie die Grundrente eingeführt. Wir haben dafür gesorgt, dass das Recht auf Rückkehr von Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigung eingeführt wird. Wir haben für 90 Prozent der Menschen den Solidaritätszuschlag abgeschafft. Wir brauchen da von den Linken keine Belehrungen. ({1}) Und zu den 12 Euro Mindestlohn: Wir regieren leider nicht allein. Aber wir können ja alles dafür tun – und Sie können uns dabei unterstützen –, dass wir nach dem 26. September hier eine absolute Mehrheit haben. ({2}) Dann setzen wir das alles eins zu eins um. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Dann kommt der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion, und das ist Fritz Güntzler. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Hier erleben wir ja schon Koalitionsverhandlungen am linken Rand des Plenums; das ist schon spannend. Aber es geht ja eigentlich um drei Anträge der AfD, über die man eigentlich – das haben die Vorredner auch schon schön herausgearbeitet – gar nicht diskutieren müsste, weil sie absolut inhaltslos sind. Sie sind einfach unterirdisch, geben keine Antworten auf die Herausforderungen der Zeit und schüren weiterhin Feindbilder – das ist genannt worden –: Hetze gegen die EU, gegen Migranten usw. Von daher ist das kein Beitrag zur Diskussion in dieser schwierigen Zeit, in der sich unser Land bzw. die Welt insgesamt befindet. ({0}) Eigentlich schade, dass Sie Ihrer Verantwortung hier in keiner Weise gerecht werden! ({1}) Selbstverständlich müssen wir auf die coronabedingten Einbrüche der Volkswirtschaften reagieren. Das ist die Stunde der Wirtschaftspolitik. Von daher ist es richtig, dass dieses Parlament und auch die Regierung Handlungsfähigkeit gezeigt haben. Es geht um konjunkturelle Stützungsmaßnahmen, es geht um steuerliche Unterstützung, damit wir Liquidität in die Unternehmen bekommen und damit auch Insolvenzen verhindern, aber auch darum, die Arbeitsplätze zu sichern, und dafür haben wir das gute Instrument der Kurzarbeit. Es geht also darum, zu gewährleisten, dass aus dieser Gesundheitskrise keine systematische Wirtschaftskrise wird und wir den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder gut an den Neustart bringen, nachdem die Krise überwunden ist. Daran wollen wir uns beteiligen, und zwar als Parlament, als Regierungsfraktion gemeinsam mit der Regierung. Wir haben Konjunkturprogramme im Umfang von fast 200 Milliarden Euro gestaltet. Das war nur deshalb möglich, weil wir in den letzten Jahren vernünftig gewirtschaftet haben. Wir haben im steuerlichen Bereich viel gemacht. Wir haben die Möglichkeit eröffnet, Steuerzahlungen zu stunden. Wir haben die Herabsetzung von Vorauszahlungen ermöglicht. Wir haben den Verlustrücktrag verbessert. Da könnten wir uns als Union hier und da noch mehr vorstellen. Ich bin auch der Bayerischen Staatsregierung dankbar, dass sie einen neuen Anlauf im Bundesrat nehmen werden; aber darüber werden wir diskutieren. Darüber hinaus haben wir das Instrument der Wirtschaftshilfen; das ist ja hier mehrfach diskutiert worden, und auch ich habe mich in diese Debatte als Steuerberater des Öfteren einbringen dürfen. ({2}) Da ist am Anfang nicht alles gut gelaufen. Ich glaube, das konnte man auch gar nicht erwarten. Wir haben für diese Krise halt keine Blaupause.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Güntzler, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Hollnagel von der AfD-Fraktion?

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, darauf verzichte ich gerne. ({0}) Wir haben also die Wirtschaftshilfen in die Welt gebracht. Wir haben mit Soforthilfen, der Überbrückungshilfe I, II und III, der Novemberhilfe und Dezemberhilfe klare Signale in die Wirtschaft gesendet. Und, wie gesagt, es gab am Anfang Sand im Getriebe, weil nicht alles sofort klar war, und wenn was beschlossen ist, ist es nicht gleichbedeutend mit sofortiger Umsetzung. Da ist auch das Erwartungsmanagement von uns vielleicht nicht immer optimal gewesen. Aber jetzt – das hat der Kollege Gremmels eben auch gesagt – laufen die Geschichten. Ich will nur mal ein paar Zahlen nennen: Zur Novemberhilfe gab es mittlerweile 340 000 Anträge. Von 5,2 Milliarden Euro sind 4,2 Milliarden Euro bewilligt; das entspricht 96 Prozent der Anträge. Bei der Dezemberhilfe sind es 300 000 Anträge: 5,2 Milliarden Euro wurden beantragt, 3,5 Milliarden Euro wurden ausgezahlt, 97 Prozent der Anträge sind bearbeitet. Da gibt es ein Delta zwischen den Antragssummen und den bewilligten Summen, weil die Novemberhilfe Plus – oder Novemberhilfen Extra, wie Sie sie nennen wollen –, die ja unbegrenzt gezahlt wird, erst jetzt an den Start geht. Erst seit dieser Woche können dort Anträge gestellt werden. Dann wird sich auch dieses Loch ganz schnell schließen. Damit sind die November- und Dezemberhilfen ein großer Erfolg, und ich danke Peter Altmaier und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium dafür, dass das jetzt so gut auf den Weg gebracht worden ist. ({1}) Gleiches gilt für die Überbrückungshilfen. Der Kollege hat die Beispiele genannt; die kann ich ergänzen: Ich habe selber für einen Mandanten einen Antrag gestellt am Freitag. Am Samstag kam der Bewilligungsbescheid. Am Dienstag war das Geld auf dem Konto. Schneller kann es nicht gehen. ({2}) Und auch wenn die Abschlagszahlungen jetzt auf 800 000 Euro erhöht worden sind, läuft es gut. Wir haben den WSF für die Unternehmen, die größer sind, die über 250 Mitarbeiter haben. Dort gab es mittlerweile elf Direktzusagen von über 8 Milliarden Euro. Wir sind also auf einem guten Weg, dort zu helfen, wo wir helfen wollen. Wir haben Zukunftstechnologien gefördert im Rahmen der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz und der Wasserstofftechnik. Wir können zudem feststellen: Der ifo-Geschäftsindex geht nach oben. Die Wirtschaft zeigt sich robust, nicht in allen Branchen – das ist klar –, aber in der Gänze schon. Darauf können wir aufbauen für einen Neustart. Denn wir brauchen die Rückkehr auf einen nachhaltigen Wachstumspfad, um das finanzieren zu können, was wir jetzt als Staat ausgegeben haben. Das werden wir schaffen über Wachstum und dadurch mehr Steuereinnahmen, und daraus werden wir tilgen können. Von daher sind Vermögensteuer, Vermögensabgabe und Verschärfung der Erbschaftsteuer die falschen Mittel. Wir können das durch Wirtschaftswachstum bezahlen, aber dafür brauchen wir eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts. Wir brauchen eine Unternehmensteuerbelastung, die es uns ermöglicht, im Standortwettbewerb mit anderen Ländern mitzuhalten. Wir sind dort Hochsteuerland, wir sind ganz oben; aber an dieser Stelle wollen wir ausnahmsweise nicht ganz oben sein. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Die Union ist bereit. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Güntzler. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Dr. Hollnagel.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Vorsitzende, ich bedanke mich herzlich für das Wort. – Herr Kollege Güntzler, Sie haben eben gerade ausgeführt, dass wir Wirtschaftshilfen brauchen. Wir haben erlebt, dass Kollegin Tillmann und Kollege Rehberg seinerzeit enthusiastisch und mit Begeisterung die Mehrwertsteuer- und Umsatzsteuersenkung gefordert haben, und zwar, um die Wirtschaft zu stärken. Erklären Sie doch mal bitte, warum eine nachhaltige Umsatzsteuerreduzierung die Wirtschaft nicht stärken soll. – Danke schön.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Güntzler, bitte.

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Möglichkeit geben, einen Teil meiner Rede jetzt noch auszuführen, die ich sonst aufgrund der Zeit nicht hätte ausführen können. ({0}) Von daher hätte ich vielleicht doch die Zwischenfrage zulassen sollen; aber jetzt habe ich hier ja die Möglichkeit. Wenn Sie sich erinnern – ich weiß nicht, ob Sie dabei waren bei den Anhörungen zum Corona-Steuerhilfegesetz II, wo wir uns über die temporäre Senkung der Umsatzsteuer unterhalten haben – war genau die Zielrichtung aller Sachverständigen, zu sagen: So was muss man temporär machen, damit man einen Nachfrageeffekt auslöst. ({1}) Wenn so was dauerhaft ist, wird dieser Konjunkturimpuls halt nicht gesetzt. Von daher war es richtig, es bis zum 31. Dezember 2020 zu begrenzen. Ich erlaube mir auch folgende Anmerkung: Die AfD formuliert in ihrem Antrag, es gebe Ausfälle von 50 Milliarden Euro; das ist fast das einzig Konkrete in Ihrem Antrag. Gleichzeitig aber sagen Sie: Wir haben Haushaltsüberschüsse aus 2019, also könnte man das damit finanzieren. – Ich frage Sie: Haben Sie das Jahr 2020/2021 überhaupt nicht mitbekommen? Haben Sie nicht mitbekommen, dass hier andere Haushaltslagen sind, dass wir uns verschulden müssen, damit wir die Wirtschaftshilfen leisten können? Das scheint an Ihnen vorbeizugehen. Wenn Sie sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen wollen, gucken Sie sich die Untersuchungen zum Vereinigten Königreich an. Dort sind 2008 die Mehrwertsteuersätze gesenkt worden, und da gab es eben auch nur diesen temporären Effekt. Sie werden konjunkturell keinen dauerhaften Effekt haben. Anders ist es übrigens – wenn Sie sich die Studien zu Schweden, Frankreich und Finnland ansehen – im gastronomischen Bereich. Dort gibt es Erfolge, die man nachweisen kann und die zeigen, dass es in diesem Bereich dauerhaft zu höheren Nachfragen gekommen ist. Von daher ist es auch richtig, dass wir hier, jedenfalls erst mal temporär bis zum Ende des Jahres 2022, eine Senkung haben. Von daher finde ich das alles sehr stringent, und wir machen da, glaube ich, eine klügere Politik, als einfach mal so einen Schuss rauszuhauen. Im Übrigen – auch das haben schon ein paar Kollegen angesprochen –: Das, was Sie vorhaben, ist überhaupt nicht zielgenau; denn Sie treffen alle. Sie fingieren in Ihrem Antrag, dass Sie die unteren Einkommensgruppen damit entlasten wollen. Sie entlasten aber alle Einkommensgruppen. Von daher sollten wir vielmehr darüber nachdenken, ob wir den Einkommensteuertarif nicht modernisieren können, weil die Eingangssteuersätze zu hoch sind, weil der Anstieg der Tarife zu steil ist. Darüber sollten wir debattieren, aber nicht über diese Umsatzsteuer. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank Ihnen beiden. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja mit Sicherheit trefflich über die einzelnen getroffenen Maßnahmen diskutieren, und das tun wir hier im Parlament. Wir ringen um die beste Lösung für unser Land – gerade in dieser Situation – mit den unterschiedlichsten Sichtweisen. Das ist Wesen der Demokratie: Rede und Gegenrede und dann vor allem das Finden eines guten Kompromisses. Das Wesen der Demokratie ist aber auch ein respektvoller und vor allem ein sachlicher Umgang miteinander. Diesen sachliche Umgang lassen Sie in Ihren drei Anträgen vermissen. Sie haben diese drei Anträge gestellt, um Unruhe zu stiften und um Desinformationen zu verbreiten. Nichts anderes bezwecken Sie mit diesen drei Anträgen. ({0}) Gerade in einer solch schwierigen Lage für alle Beteiligten brauchen wir genau das Gegenteil: Sorgfalt, Konzentration, Sachlichkeit und vor allem auch Zuversicht. Ihre drei heutigen Anträge zeigen, dass Sie diese Attribute – Sorgfalt, Konzentration, Sachlichkeit – überhaupt nicht können; von Zuversicht will ich gar nicht reden. Ihr Mantra ist: Masse statt Klasse. – Sie fordern ja immer Bürokratieabbau und Entbürokratisierung. Wenn Sie einen anständigen Antrag stellen würden, anstatt drei schlampige, die die Bundestagsverwaltung behandeln muss, ({1}) und wir die Debatte hier nicht führen müssten, wäre das das Beste, was Sie heute zur Entbürokratisierung beitragen könnten. ({2}) Also, konzentrieren Sie sich doch auf die Sache! Zum ersten Antrag „Aufbruch für Deutschland – Raus aus der … Krise“: Sie wollen wichtige Weichen stellen; aber was Sie mit Ihrem Antrag liefern, ist eine unendlich lange, ermüdende Liste von Behauptungen, verbunden mit der Bitte, nicht genau hinzuschauen und dann eventuell zuzustimmen. Ich greife mal nur einen Punkt raus: systemische Mehrkosten für die Energiewende zwischen – so geschätzt – 500 Milliarden und 3 Billionen Euro. ({3}) Übrigens: Im zweiten Antrag zur Umsatzsteuer sind es 2,3 Billionen Euro. Welcher Satz stimmt jetzt eigentlich in Ihren Anträgen? Oder machen Sie Haushaltspolitik nach dem Prinzip des grünen Daumens? ({4}) Für Sie gibt es keine Klimakrise, also wollen Sie alle diese Mehrkosten abschaffen. Übrigens: Was Sie damit in der Wirtschaft anrichten würden, wäre ein Desaster. Der Duktus setzt sich im zweiten Antrag „Den Steuerzahlern einen fairen Anteil lassen – Senkung der Umsatzsteuer …“ fort. Sie hatten mehrmals die Gelegenheit, übrigens auch in der letzten Sitzungswoche, der Senkung der Mehrwertsteuer zuzustimmen, auch – der Kollege Güntzler hat es korrekt ausgeführt – der Verstetigung der Herabsenkung der Umsatzsteuer für die Gastronomie. Sie haben nicht zugestimmt. Das muss man all den Gastronomen in unserem Land mal sagen: Sie haben nicht zugestimmt. Sie fordern es heute, und wenn es im Parlament zur Abstimmung steht, dann stimmen Sie nicht zu. So ist natürlich auch irgendwie Politik zu machen. ({5}) Der letzte Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, der dritte Antrag „Aufbruch für Deutschland – Beendigung der vom Staat zu verantwortenden Corona-Krise …“, setzt dem Ganzen die Krone auf. Und wenn man den Antrag wirklich ernsthaft durchliest – das kann man, wie es der Kollege Alois Karl mal gesagt hat, wahrscheinlich nur, wenn man zwei Bier trinkt –, ({6}) kommt man aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Ich zitiere: „Je mehr Tests, desto mehr ‚positiveʼ.“ Das steht in dem Antrag, den Sie da stellen: „Je mehr Tests, desto mehr ‚positiveʼ.“ Was ist denn das für eine Haltung? Also, wer nicht testet, hat auch keine Krise. Wer die Augen zumacht, sieht auch nichts. Wegschauen ist sozusagen Ihr Mantra, um aus der Krise herauszukommen. Das ist eine verantwortungslose Haltung; das ist ein verantwortungsloses Handeln; das bietet auch keinen Schutz für die Menschen und ist übrigens auch für die Wirtschaft extrem schädlich. Wir brauchen ganz andere Maßnahmen; der Kollege Fritz Güntzler hat es ja ausgeführt. ({7}) Ich sage Ihnen: Wir können natürlich trefflich über die einzelnen Maßnahmen diskutieren. Gestern sind gute Maßnahmen, eine gute Öffnungsstrategie, beschlossen worden. ({8}) Das ist der erste Schritt in die richtige Richtung; wir brauchen natürlich auch die entsprechenden Maßnahmen. Aber Ihnen ist es völlig egal, was in unserem Land passiert; das zeigen Ihre Anträge. Ihnen ist es wurscht, wie viele Tote es in unserem Land gibt. Ihnen ist es völlig egal, was mit unserer Wirtschaft passiert. Sie stellen Anträge mit Auflistungen von irgendwelchen Forderungen, die in keiner Weise substanziiert sind, die in keiner Weise haushaltsrechtlich in irgendeiner Art und Weise verifizierbar sind. Das ist eine schlampige Arbeit, kann ich da nur sagen, und Sie haben sich mit diesen schlampigen Anträgen völlig disqualifiziert – spätestens heute, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Man kann es so zusammenfassen: keine Klimakrise – keine Kosten, keine Coronakrise – keine Maßnahmen. Ich sage Ihnen, was ich da aus den Anträgen herauslese, ist keine Alternative für Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns weiter um die einzelnen Maßnahmen trefflich streiten, aber mit solchen Anträgen uns nicht mehr beschäftigen. Herzlichen Dank. ({10})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in diesen Tagen in aller Munde; und das ist auch gut so. Denn mit einem Spot auf die Schwierigkeiten des Bildungssystems, die Corona so gnadenlos offengelegt hat, gibt es auch die Hoffnung, dass wir mit vereinten Kräften für Fortschritt sorgen. ({0}) Und ich will es hier und heute ganz deutlich sagen: Die Digitalisierung des Bildungssystems bietet Chancen für jeden und jede. Seit Beginn der Legislaturperiode haben wir viele Projekte in Gang gesetzt, gerade auch in der digitalen Bildung. Und ja, es hat eine Weile gebraucht, bis der DigitalPakt ins Laufen gekommen ist. ({1}) Inzwischen arbeitet die große Mehrheit der Schulen mit digitalen Lern- und Arbeitsplattformen, und digitale Tools werden immer selbstverständlicher. ({2}) Und nein, natürlich ist noch nicht alles perfekt; denn digitale Bildung ist eben nicht nur das Nutzen von Technik. Im Gegenteil: Es geht um Lernen, angepasst an die Bedürfnisse unserer Kinder, es geht um Lehren, wie es den Lehrerinnen und Lehrern entspricht. Das wird eine Aufgabe sein, die Bund, Länder und Kommunen in Arbeitsteilung noch länger fordert. Aber das Geld aus dem DigitalPakt kommt an: ({3}) Die jüngsten Berichte aus allen Ländern zeigen zunehmende Fortschritte bei der Umsetzung, die finanziellen Abflüsse nehmen zu. ({4}) Natürlich stellt mich der aktuelle Zustand nicht zufrieden, und natürlich hätten wir uns schnellere Umsetzung gewünscht. ({5}) Aber mein Blick nach vorn ist positiv. Überall herrscht Aufbruchsstimmung. ({6}) Und deshalb, liebe Opposition, ist es besser, wenn Sie nun nicht wieder einen falschen Anschein erwecken, sondern ehrlich anerkennen, dass vieles passiert ist. ({7}) Wo stünden wir denn wohl heute, wenn der Bund den DigitalPakt nicht so entschieden auf den Weg gebracht hätte? ({8}) Allein für den DigitalPakt stellen wir inzwischen 6,5 Milliarden Euro bereit. Wir bezahlen Schülerlaptops, wenn Schüler keine eigenen Geräte haben. Wir bezahlen Laptops für Lehrerinnen und Lehrer. ({9}) Wir bezahlen den Aufbau professioneller Administratorenstrukturen in den Ländern. Alles übrigens Aufgaben der Länder und Kommunen – wo auch Sie Verantwortung tragen –, bei denen wir sie finanziell unterstützen. ({10}) Was uns in diesen Tagen aber auch umtreibt, ist die Frage, wie wir den Kindern helfen können, verpasste Bildungschancen nachzuholen. ({11}) Und dabei geht es mir nicht nur um Lernrückstände; denn geschlossene Schulen sind auch verpasste Chancen in der Persönlichkeitsentwicklung. ({12}) Und Schulleitungen berichten mir, dass Teamwork und Rücksichtnahme mittlerweile neu erlernt werden müssen – manchmal habe ich auch hier im Hohen Haus den gleichen Eindruck. Als erste Maßnahme haben wir den Ländern unsere Unterstützung für Osterferien- und Sommerferienprogramme angeboten. ({13}) Aber Kinder mit größeren Lernrückständen brauchen umfangreichere Unterstützung. ({14}) Dazu brauchen wir Klarheit, wie groß die Lernrückstände tatsächlich sind, und dann können wir gemeinsam mit der KMK ({15}) aktiv werden. Doch zurück zum aktuellen Bildungsbericht. Ja, es gibt noch viel zu tun. ({16}) Der Bericht ist ein Gradmesser, wo wir in der Bildung in Deutschland stehen. Und weil er den Schwerpunkt auf die digitale Bildung legt, ist er höchst aktuell. Und er ist Ansporn für alle, sich für Bildung weiterhin zu engagieren. ({17}) Und er ist weiß Gott kein Grund, schwarzzumalen. ({18}) Denn der Bildungsbericht dokumentiert eine ganze Reihe sehr erfreulicher Entwicklungen: Die Bildungsbeteiligung nimmt zu, der Bildungsstand hat sich verbessert, die Bildungsausgaben steigen kontinuierlich, Bildungswege werden flexibler. Flexibilität – ein magisches Wort für die Zukunft der Bildung. ({19}) Denn jeder wird in Zukunft berufliche und theoretische Elemente in seine Aus- und Weiterbildung hineinbringen. Wir werden immer wieder im Laufe unseres Lebens modular lernen. Deshalb möchte ich gerne für den Sommer Praktika in Betrieben unterstützen. Denn das hilft Betrieben und Jugendlichen gleichermaßen, und wir wissen, dass das Matching die große Herausforderung bleibt; und da bieten Praktika beste Chancen. ({20}) Ich möchte, dass in diesem Sommer für die nächsten Jahre möglichst viele Ausbildungsverträge abgeschlossen werden können. Denn unsere Berufsausbildung ist stark, modern und attraktiv. Wir werden nicht umsonst weltweit darum beneidet. ({21}) Wir befinden uns mitten in einem technologischen Sprung. Die duale Bildung ist ein tolles Instrument in diesem Wandel, weil sie Wurzeln und Flügel verleiht: Wurzeln für ein stabiles Fundament der eigenen beruflichen Zukunft und Flügel, weil die Aufstiegschancen in der dualen Bildung noch nie so groß waren wie heute. ({22}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die digitale Bildung ist jetzt überall im Alltag angekommen – in der dualen und in der schulischen Bildung, ({23}) in der Hochschulbildung und in der Weiterbildung. Das ist der Grund, warum ich mit der Bundeskanzlerin die digitale Bildungsinitiative ins Leben gerufen habe. ({24}) Ziel ist, einen nationalen digitalen Bildungsraum zu entwickeln, damit Bildung für die Menschen in unserem Land bedeutet: sicher navigieren in der digitalen Welt. ({25}) Viele Schritte haben wir angepackt. Aber wir kommen in der Zusammenarbeit zwischen Bund, Länder und Kommunen an unsere Grenzen. ({26}) In jedem Gespräch sagen mir Schulleiter, dass das Geld bei ihnen zu langsam ankommt. Wir brauchen kürzere Drähte und schnellere Koordination. ({27}) Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas. Wir haben gesehen, dass wir in vielen Bereichen nicht wirklich gut aufgestellt waren. Doch in den vergangenen Monaten sind viele Weichen gestellt worden. ({28}) Deshalb möchte ich hier und jetzt auch die Gelegenheit nutzen, allen zu danken, die diese schwere Zeit mit uns gemeinsam durchstehen. Mein Dank geht an Lehrerinnen und Lehrer, an Schülerinnen und Schüler, an Eltern, aber ganz genauso – und das will ich hier auch deutlich sagen, weil wir oft über Schule, aber selten über Hochschule reden – an alle Studierenden und Hochschullehrenden, aber natürlich auch an alle Auszubildenden und Ausbilder in den Betrieben. ({29}) Wir wissen, was die Pandemie ihnen in den letzten Monaten zugemutet hat, und wir wissen auch, dass wir alle miteinander langsam an Grenzen stoßen. Die Pandemie ist für uns alle eine Geduldsprobe. ({30}) Und wo es auf der einen Seite so schwer ist, gibt es auf der anderen Seite eine Aufbruchsstimmung: Es geht ein Ruck durch das Bildungsland Deutschland. ({31}) Von vielen im Bildungssystem höre ich in diesen Tagen: Jetzt erst recht. -Gemeinsam werden wir Bildung in Deutschland wieder erstklassig machen. ({32}) Gute Bildung ist nicht nur für jeden Einzelnen und die Gesellschaft wichtig, sondern soll auch Freude machen – ein Leben lang. Denn in der Bildung ist „lebenslang“ ein Versprechen für immer wieder neue Chancen, für persönliche Weiterentwicklung, für das permanente Entdecken neuer Lebenswelten. ({33}) Das Bildungsland Deutschland und das Innovationsland Deutschland gehen Hand in Hand ({34}) in eine wettbewerbsfähige Zukunft, eine am Menschen ausgerichtete Zukunft, ({35}) eine Zukunft, in der Kreativität und Empathie der Kern eines neuen Bildungsversprechens sind. ({36})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anja Karliczek. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Karliczek, Sie haben versucht, zu beschönigen, wo es nichts mehr zu beschönigen gibt. Ich glaube, ich spreche nicht nur für die AfD-Fraktion, sondern für das ganze Haus – – ({0}) – Hören Sie doch erst einmal, was ich sage.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte! Jetzt ist Herrn Frömming dran.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Etwas mehr Mut zur Wahrheit hätte Ihnen in der derzeitigen Lage gut zu Gesicht gestanden. ({0}) Meine Damen und Herren, zurück zur Realität. Vor zwei Tagen berichtete der Berliner „Tagesspiegel“ direkt aus den Schulen, wie es den Schülern wirklich geht. Ein Schüler berichtet – ich zitiere –: Meine Schwester hat einfach aufgegeben und sitzt nachts weinend im Bett und schläft tagsüber – sie nimmt einfach nicht mehr am Homeschooling teil, weil es ihr zu viel wird. Ein weiterer Schüler schreibt: Ich habe das Gefühl (und ich glaube, viele andere auch), dass die Tage nur vorbeifliegen und man in einer Sackgasse gelandet ist und nicht weiß, wie man wieder heraus kommt. Meine Damen und Herren, die Zahl der psychisch erkrankten Kinder hat während des Lockdowns dramatisch zugenommen, wie eine Studie der Uniklinik Hamburg nachweist. Fast jedes dritte Kind zeigt inzwischen Hinweise auf psychische Belastungsstörungen. Eine aktuelle Auswertung der Krankenkasse DAK kommt zu dem Ergebnis, dass sich in Berlin im ersten Halbjahr 2020 die Zahl der Psychiatrieeinweisungen junger Menschen fast verdoppelt hat. 16 Prozent der Schüler haben nach einer österreichischen Studie – in Deutschland sieht es wahrscheinlich ähnlich aus – suizidale Gedanken, weil sie es einfach nicht mehr aushalten. Meine Damen und Herren, der Blick in unser Nachbarland Frankreich zeigt: Der permanente Schul-Lockdown war und ist nicht alternativlos. Es geht auch anders. In Frankreich sind die Schulen offen geblieben, und wir sehen, dass Frankeich bei den schweren Verläufen und bei den Coronatodesfällen nicht wesentlich mehr, sondern weniger – sogar fast 40 Prozent weniger – Fälle verzeichnet. Der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth fasst die gesamte Situation zusammen, indem er sagt: „Das Vorenthalten der Schule ist ein Verbrechen am Kind.“ Ich finde, er hat recht. ({1}) Schauen wir in den Nationalen Bildungsbericht. Klar ist, dass er die Folgen der Pandemie noch nicht abbilden kann. Aber auch schon vor dem Lockdown sah es nicht gut aus. Ich möchte einen Blick auf den Schulbereich werfen, der meist sträflich vernachlässigt wird, und zwar auf die Hauptschulen. Es gibt in Deutschland immer weniger Hauptschulen. Die Zahl der Hauptschulen nimmt bundesweit ab. Man kann geradezu von einem Hauptschulsterben sprechen. Dass einige diese Entwicklung offenbar auch noch begrüßen, zeigt, wie wenig Ahnung sie von der Sache haben. Die Hauptschule ist über Jahre hinweg systematisch schlechtgemacht worden. In Berlin hat man sie heruntergewirtschaftet und am Ende ganz abgeschafft. Aber mit welchem Ergebnis, meine Damen und Herren? Sind dadurch die Leistungen der Schüler wirklich besser geworden? Das Gegenteil ist interessanterweise der Fall. Ausgerechnet in Bayern, wo es noch die meisten Hauptschulen gibt, schneiden die Schüler quer über alle Schultypen relativ gut ab. ({2}) Und ich sage: Noch schneiden sie in Bayern gut ab; denn inzwischen muss man dem ergrünten Ministerpräsidenten Söder ja alles zutrauen. Es ist allerdings erschreckend, meine Damen und Herren, dass der Anteil der Gruppe von Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss um 20 Prozent gestiegen ist, obwohl es vor zwölf Jahren das Ziel des Bildungsgipfels in Dresden war, die Zahl der Schulabbrecher zu halbieren. Allein in den ostdeutschen Flächenländern sieht es gut aus. Dort haben wir relativ wenige Bildungsabbrüche und relativ viele gelungene Fachausbildungsabschlüsse. Ganz anders sieht es aus, wenn man nach Bremen, ins Saarland oder nach Nordrhein-Westfalen schaut. Kurz gesagt: Überall dort, wo die SPD lange regiert hat, geht es mit der Bildung bergab. ({3}) In den Bundesländern, wo die AfD gute Wahlergebnisse erzielt, steht es um die solide Bildung sehr gut. ({4}) Ich finde, der nächste Nationale Bildungsbericht sollte dies gründlicher erforschen. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann geht es mit der Bildung in Deutschland wieder voran. Ich danke Ihnen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Frömming. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Bärbel Bas. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir den Bildungsbericht angeschaut und will zunächst mit den positiven Ergebnissen beginnen. Ja, es ist so, dass die Bildungsausgaben insgesamt gestiegen sind – das ist erst mal ein gutes Zeichen –, und auch der Bildungsstand steigt. Das Bildungssystem selbst ist durchlässiger geworden, und deshalb kann die Bildungspolitik insgesamt durchaus auf Erfolge verweisen. Ich will aber auch deutlich machen, wo die Defizite liegen. Darauf ist mir die Ministerin zu wenig eingegangen; denn die Defizite stehen deutlich in diesem Bericht. Ich finde, die muss man ansprechen. Zum einen gibt es Defizite im Bereich der Digitalisierung. Wir als Koalition – und das ist richtig gut gewesen – haben den DigitalPakt Schule ins Leben gerufen und mit richtig viel Geld versehen. Doch wenn man sich anschaut, wie viel Geld daraus abgerufen wurde und wie viel Geld liegen bleibt, ({0}) und auch angesichts der Tatsache, dass wir es nicht schaffen, in die Wege zu leiten, dass die Mittel in der letzten Schule, auf dem letzten Schreibtisch und in der letzten Wohnung ankommen – auch was Geräte angeht –, müssen wir doch alle gemeinsam feststellen, dass wir nicht gut genug sind. Es braucht da in der Tat mehr Initiative. Jetzt kann man zweierlei machen: Man kann sich ausruhen, zurücklehnen und sagen: Dafür sind die Länder und Kommunen zuständig. Man kann aber auch die Initiative ergreifen und, ich sage mal, mit Verve dafür sorgen, dass die Mittel in jeder einzelnen Schule ankommen. ({1}) Diese Kritik will ich hier vorbringen; denn wir können doch nicht so tun, als wären wir schon richtig gut. Wir haben den richtigen Weg beschritten. Wir als Bund haben die Mittel zur Verfügung gestellt. Auch ich kritisiere die Länder, dass es nicht funktioniert. ({2}) Aber ich erwarte von einer Bundesministerin auch, dass sie das Problem in Angriff nimmt. ({3}) Ich will an den Nationalen Bildungsrat erinnern. Frau Karliczek, Sie haben gerade betont, dass die Kooperation zwischen Bund, Land und Kommune sehr wichtig ist. Wir hatten uns auf einen Nationalen Bildungsrat geeinigt, um eine Kooperation auf den Weg zu bringen, in der wir gemeinsam handeln und im Sinne der Kinder gleichwertige Bildungschancen schaffen; das ist das Ziel. Doch der Nationale Bildungsrat ist an Bayern und Baden-Württemberg gescheitert; das muss man hier festhalten. ({4}) Es sollte eigentlich an einer Alternative gearbeitet werden, aber bis jetzt ist nichts passiert. Deshalb scheitern wir alle gemeinsam an der Aufgabe, für gleichwertige Bildungschancen in diesem Land zu sorgen. Das muss besser werden. ({5}) Das will ich an der Stelle als großes Defizit benennen; auch das steht im Bildungsbericht. Und auch im Bereich der Infrastruktur – das ist der Arbeitsauftrag, den Sie bekommen haben – müssen wir besser werden. Zum anderen – es ist angesprochen worden – gibt es eigentlich einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Aber auch dieses Vorhaben ist noch in der Schwebe. Das liegt nicht nur am Bund – keine Frage –, sondern es stockt an mehreren Stellen. Aber der Bildungsbericht sagt deutlich: Der Bedarf an Betreuung ist gestiegen. Die Eltern brauchen das. Die Kinder brauchen das. Auch die frühkindliche Bildung bleibt auf der Strecke. Deshalb kritisiere ich hier, dass Sie die Initiative nicht ergreifen. Gerne ergreifen wir gemeinsam die Initiative, aber klar ist: Wir müssen dieses Koalitionsprojekt jetzt auf die Reise schicken, sonst wird das nichts mehr, und die Angebote für die Kinder und für die Eltern kommen zu spät. ({6}) Meine letzte Minute will ich noch dafür verwenden, um auf ein weiteres Defizit einzugehen – das ist ein wichtiger Punkt –: Ganz viele Kinder und Jugendliche gehen ohne Abschluss von der Schule. Das war vor der Pandemie schon so, und die Pandemie wird das noch verschärfen. Jetzt habe ich gerade Ihrer Rede entnommen, dass man eine Lernstandsprüfung durchführt, und dann guckt man weiter. Ich glaube, das ist zu spät. ({7}) Ich sage ganz deutlich: Wir brauchen jetzt ein Konzept für Nachhilfe. Wir brauchen jetzt ergänzende Kräfte, die die Lehrerinnen und Lehrer unterstützen. Ich komme aus Duisburg, einer Ruhrgebietsstadt, und wir haben genau diese Probleme. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam die Schulen unterstützen, wenn jetzt nicht ein Konzept auf den Tisch kommt, dass wir die Nachhilfe ausbauen und dass wir den Kindern helfen, ihre Defizite in den Ferien aufzuholen, dann werden wir das nicht schaffen, und dann wird die Lücke, die es schon jetzt gibt und die dieser Bildungsbericht anspricht, noch größer werden. Deshalb kann ich uns allen nur raten, dass wir noch in dieser Koalition ein Konzept erarbeiten – meinetwegen auch mit Bundesgeld –, mit dem wir den Schülern helfen. Am 21. Juni beginnen die Ferien in Mecklenburg-Vorpommern und in Schleswig-Holstein. Ich finde, bis dahin muss eine Lösung her, damit wir die Ferien nutzen können, um den Kindern zu helfen, dass sie zumindest einen Teil ihrer Defizite aufholen, die jetzt in der Pandemie entstanden sind und die vielleicht sogar schon vor der Pandemie vorhanden waren. Herzlichen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Korte verteilt die Noten. – Vielen Dank, Bärbel Bas. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Thomas Sattelberger. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bildungsbericht 2020 – es geht um die Zeit vor Corona. Wie wird erst der Bildungsbericht 2022 ausfallen, der das Bildungsfiasko in voller Tragweite abbilden wird? Der 2020er jedenfalls ist ein Armutsbericht gegenüber dem von 2018: Die Zahl junger Menschen ohne Hauptschulabschluss ist um fast 20 Prozent gestiegen. Rund 30 Prozent der Schulabgängerinnen und Schulabgänger beginnen keine vollqualifizierende Ausbildung. Sie landen im Dschungel des Übergangssystems. Und von dort gelingt gerade mal der Hälfte der Sprung in eine Ausbildung – nach zwei oder mehr Übergangsmaßnahmen. Um eine Stadt so groß wie Heidelberg ist die Zahl junger Menschen zwischen 20 und 35 ohne berufliche Ausbildung gestiegen: um 150 000 auf 1,5 Millionen. Die Kompetenzverluste durch die Pandemie werden die Situation dramatisch verschlechtern. Nachhilfe allein reicht nicht, Frau Bas. Deswegen unser Antrag. Wir müssen Brücken bauen, zum Beispiel indem wir das untaugliche Übergangssystem rasch reformieren. Mein Favorit ist die Renaissance der Einstiegsqualifizierung. Sie führt zu 70 bis 80 Prozent in die Berufsausbildung. Ein seriöses Programm, eine Marke, eine Finanzierung, eine Evaluierung, eine Bildungsmarke – Optimierung statt Wildwuchs, das wäre es. ({0}) So was hätte als Erfolg in den Bildungsbericht gehört, Frau Karliczek. Wir brauchen Perspektiven statt Etikettenschwindel wie beim Bachelor Professional; selbst der hat heute keine Rose für Sie, ({1}) auch nicht für die Kanzlerin, die 2008 die Bildungsrepublik ausgerufen hat. Wenn wir uns heute, gut zwölf Jahre danach, mit anderen Nationen vergleichen, dann blicken wir eben nicht auf eine Bildungsrepublik, sondern auf eine Bildungsarmutsrepublik, und zwar am Sockel der Bildungspyramide genauso wie an ihrer Spitze. Selbst bei Topleistungen liegt Deutschland inzwischen im Mittelfeld. Die Bildungskette ist ungenügend, von der Kita bis zum Berufseinstieg. ({2}) Das ist nicht – ich zitiere Ihre Aussage, Frau Karliczek, aus dem Sommer 2020 – viel Licht, aber auch Schatten. Nein, es ist quer durch die Republik schattenduster. Hic Rhodus, hic salta, Anja! Vielleicht hilft es Ihrer zarten Seele, Herr Rossmann, wenn ich meinen regelmäßigen Aufruf extra für Sie – aber nur heute – einmal bildungsbürgerlich formuliere. ({3}) Schavan, Wanka, Karliczek, eine nach der anderen hat Schule versaubeutelt! ({4}) 16 Jahre christdemokratische Bildungspolitik wurden von der Realität brachial eingeholt, genauso wie der DigitalPakt Schule, der seit 2000 nötig ist und jetzt, in der Krise, vollends eingeknickt ist. Frau Karliczek, Sie haben es immer noch nicht verstanden: Das Land ist mitten in einer Transformation. Es geht nicht um ein bisschen mehr Onlineunterricht. Was Sie gut konnten, war Schulen schließen. Was Sie gar nicht können: Krisen managen, Deutschland fit machen für die Digitalisierung, Transformieren, Lösungen finden für die junge Generation. Dieses Land braucht einen Neustart. Dann geht ein Ruck durch Deutschland. Wir freuen uns auf den 26. September! ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Thomas Sattelberger. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Verlaub, Frau Bundesministerin, Ihre Rede war die einer Märchentante. Ich muss es mal sagen: In welcher Welt leben Sie? ({0}) Lassen Sie sich bitte die Anrufe aus Schulen in Ihr Büro durchstellen. Das Chaos an sich ist schlimm genug, aber noch schlimmer ist es, das hier schönzureden. 28 Prozent der Mittel aus dem DigitalPakt sind abgeflossen. Was wäre das eigentlich für eine Schulleistung? Einen Abschluss schaffen Sie auf diese Weise ganz sicher nicht! Um mal den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Herrn Sattelberger und mir zu nennen: Ich hoffe ehrlichen Herzens, dass Sie den Bildungsbericht 2022 nicht mehr kommentieren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer in Deutschland in armen Verhältnissen groß wird, der kriegt das auch in der Schule zu spüren: wenn das Gebäude der Förderschule noch den Charme von vor 30 Jahren hat, wenn diese Schülerinnen und Schüler in der nahegelegenen Sekundarschule gar nicht gewollt sind, weil – positiv formuliert – das Personal fehlt, wenn sich Eltern mit wenig Geld keinen Laptop, keinen Drucker leisten können, wenn junge Leute mit Hauptschulabschluss nahezu automatisch im Übergangssystem zwischen Schule und beruflicher Ausbildung geparkt werden oder wenn das Gymnasium deshalb verwehrt wird, weil mutmaßlich die Unterstützung im Elternhaus fehlt. Kinder werden in Deutschland platziert, und zwar abhängig von den Verhältnissen, aus denen sie kommen. Meine Damen und Herren, das ist ein jahrzehntelanger Befund, ein jahrzehntelang beschämender Befund. ({2}) Wir haben kein Erkenntnisproblem. Die Bildungspolitik in Deutschland hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, allen voran die Bundesregierung. Mindestens fünf Punkte fallen mir dazu ein: Erstens. Die Mangelwirtschaft muss endlich beendet werden: der Lehrermangel, der Mangel an Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, der Mangel an schönen Schulen und der Mangel an digitaler Infrastruktur. ({3}) Hinzu kommt, dass auch in der Bildung gilt: Wer hat, dem wird gegeben. Geld, Ressourcen, öffentliche Aufmerksamkeit und sogar der Mangel selbst sind ungleich verteilt. Lehrermangel ist vor allen Dingen ein Problem von Brennpunktschulen. Alte und baufällige Schulen finden sich vor allem dort, in sozialen Brennpunkten. Digitale Infrastruktur wird vor allem in der dualen Bildung gefördert, nicht aber in den Ausbildungen, beispielsweise bei Trägern der Jugendsozialarbeit oder im Übergangssystem. Geld und Ressourcen müssen stattdessen vor allem dorthin fließen, wo sie am meisten gebraucht werden. Deshalb brauchen wir einen Sozialindex und keinen Königsteiner Schlüssel. ({4}) Zweiter Punkt. Frau Giffey, Sie legen ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vor, aber ohne klare Regelung zur Schulsozialarbeit. Seit Jahren ist klar und unumstritten – sogar bei der Union, und das war nicht immer so, wie die Debatte gezeigt hat –, dass Schulsozialarbeit erfolgreiches Lernen unterstützt. Dennoch bleibt auch diese Erkenntnis folgenlos. Wir bleiben dabei: Schulsozialarbeit muss Regelaufgabe im SGB VIII, im Kinder- und Jugendhilferecht, werden. ({5}) Drittens. Ich finde, es wäre ein sehr starkes Signal, wenn jetzt ein ernstzunehmendes Programm gegen Bildungsarmut aufgelegt würde. ({6}) Geld, Personal und Unterstützung müssen an finanzschwache Kommunen gehen, ({7}) an die, die gebeutelt sind durch Sozialausgaben, durch einen hohen Anteil benachteiligter Kinder. Die Landkreise legen ihrerseits ein Konzept gegen Bildungsarmut vor. Das tun einige Gemeinden und Städte übrigens bereits jetzt, gerade die finanzschwachen, allerdings auf eigene Rechnung. Viertens. Bildung in einer digitalen Gesellschaft braucht Verlässlichkeit und Sicherheit. Es wurde vielfach gesagt: Wir brauchen ein Recht auf digitale Grundsicherung: Laptop, Drucker, Papier für jede Schülerin, für jeden Schüler. Und wir brauchen jetzt die Regelungen für eine dauerhafte gemeinsame Finanzierung digitaler Infrastruktur – für die Zukunft. Fünfter Punkt. Das Übergangssystem zwischen Schule und der beruflichen Ausbildung muss reformiert werden; dazu haben wir einen Antrag vorgelegt. Zwei Qualitätskriterien, sagt uns die Wissenschaft, sind dafür entscheidend: Zum einen müssen 50 Prozent der Maßnahme tatsächlich in den Unternehmen, also praxisbezogen, stattfinden, und zum anderen müssen die jungen Leute eine Chance haben, ihren Schulabschluss zu verbessern. ({8}) Was müssen wir aus der Krise lernen? Wir brauchen einen Bildungsgipfel. Wir brauchen einen Bildungsgipfel gegen Bildungsarmut. ({9}) Erstens muss die Mangelwirtschaft beendet werden. Zweitens gehört die soziale Spaltung abgebaut. Drittens muss Schule endlich zu einem freudvollen, innovativen Ort des Lernens werden, zu einem Treiber von Bildung und Innovation. Lernanstalten preußischer Prägung – ich sage es ruhig mal so zugespitzt – müssen der Vergangenheit angehören. Neue Schule braucht das Land! ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Birke Bull-Bischoff. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Margit Stumpp. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbericht zeigt vor allem eines: Seit Jahren nimmt diese Regierung die eklatanten Mängel unseres Bildungssystems hin, ohne sich darum zu kümmern. Die Analyse bezieht sich noch auf die Zeit vor der Pandemie. Man kann sich heute schon ausmalen, wie verheerend die nächste Zustandsbeschreibung ausfallen wird. Der Bericht offenbart, dass die offensichtlichen Mängel jahrzehntelang ignoriert wurden. Das ist wie TÜV ohne Plakette. Jedes Mal sagt der: „Die Karre hat erhebliche Mängel“, und dann wundert man sich, wenn sie auf einer Holperstrecke, sprich: Pandemie, auseinanderfällt. Ministerin Karliczek hat gerade sehr deutlich demonstriert: Der Blick zurück verklärt so manches, und wer jetzt einen bildungspolitischen Aufbruch spürt, dem darf man, glaube ich, ruhig Realitätsverlust bescheinigen. ({0}) Meine Perspektive ist eine andere. Der Blick zurück erklärt vieles: Nach wie vor hängt der Bildungserfolg vom Elternhaus ab. Die Risikolagen – sozial, finanziell, formal geringqualifizierte Eltern – sind bei Alleinerziehenden und Familien mit Migrationshintergrund besonders zahlreich. Ergebnis: Die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten stagniert, und – das ist ganz bitter – auch die Zahl der Abgängerinnen und Abgänger ohne Abschluss steigt. Das heißt, die Lebenschancen der Kinder sinken. Das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung wird immer seltener eingelöst. Das muss sich wieder ändern! ({1}) Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dem Lehrkräftemangel abzuhelfen. Das Bildungspersonal wird im Moment zahlenmäßig mehr, aber eben auch älter. Viele Lehrkräfte stehen vor dem Ruhestand. Trotzdem gibt es dazu bis heute keine Impulse aus dem BMBF. Das nenne ich Arbeitsverweigerung. 2018 waren 13 Prozent der neueingestellten Lehrkräfte Quer- und Seiteneinsteiger. Diese werden überdurchschnittlich oft an Brennpunktschulen eingesetzt, also da, wo man pädagogische Qualifikationen ganz besonders braucht. Diese Schulen können von der Alltags- und Lebenserfahrung der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger wirklich sehr profitieren, allerdings muss bei der pädagogischen Qualifizierung dringend nachgebessert werden. Die verheerende Bestandsaufnahme der Digitalisierung erspare ich Ihnen. Ich fürchte, Frau Karliczek wird sich im nationalen Bildungsraum wieder verlaufen. Gehen Sie endlich die Basisdigitalisierung der Schulen an! Das wäre das Wesentliche. ({2}) Aktuell steht die Erreichbarkeit der Schülerinnen und Schüler noch im Vordergrund. Das darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass Technik der Pädagogik folgen muss. Der Bericht bemängelt in diesem Zusammenhang, dass es an wissenschaftlichen Untersuchungen zum Nutzen digitaler Technologien im Unterricht immer noch fehlt. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf. ({3}) Ein Satz ist in allen Bildungsberichten wie in Stein gemeißelt – leider –: Die Bildungsausgaben bleiben, gemessen an der Wirtschaftskraft, weit unter EU- und OECD-Schnitt. Solange der Bund sich nicht angemessen und stetig an Bildungsinvestitionen beteiligt, fehlen die Mittel für gerechte Bildungschancen. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margit Stumpp. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Albert Rupprecht. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Sattelberger, der vorliegende Nationale Bildungsbericht gibt überhaupt keine Grundlage für eine derartige Skandalisierung, wie Sie sie hier vorbringen. ({0}) Ich war wirklich gespannt – – ({1}) – Eigentlich sollten Sie Mitarbeiter der „Bild“-Zeitung werden. Sie lesen durch, schauen überall, wo ein Schwachpunkt ist, ({2}) und skandalisieren das auf eine dramatische Art und Weise. Aber Lösungen – ich war wirklich gespannt darauf, was Sie an Lösungen vorschlagen –: null Komma null. ({3}) Wenn das die Auseinandersetzung mit einem komplexen Bildungssystem in unserem Land ist, dann ist das viel zu kurz gesprungen. ({4}) Der Nationale Bildungsbericht zeigt Stärken, und er zeigt Schwächen. Er zeigt im Ergebnis ein weit besseres und ein weit differenzierteres Bild, als die Debatte hier abbildet. Auf der Positivseite ist zu vermerken: Die Zahl der Bildungsteilnehmer, der Bildungsstand, die Zahl der Beschäftigten im Bildungswesen und die Ausgaben für Bildung sind gestiegen. Die Ausgaben für Bildung sind gegenüber 2010 um 30 Prozent gestiegen, also 9,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Bildung insgesamt. ({5}) Die Durchlässigkeit des Bildungssystems nimmt zu. Die Zahl der Kinder geht zurück, aber die Zahl der Lehrkräfte steigt. Ja, es gibt auch viele Punkte auf der Negativseite. Ja, die Zahl der Jugendlichen ohne Abschluss steigt. Der Grad der Digitalisierung – das haben wir rauf und runter diskutiert – ist vollkommen unzureichend. Da ist die Frage – abseits von Rumgeschrei und Skandalisierung –: Was sind unsere politischen Konzepte? Gehen wir doch mal ans Eingemachte: Wer macht es gut, und wer macht es schlecht? ({6}) Welche politischen Konzepte funktionieren, und welche sind bloß Sonntagsreden? ({7}) Gehen wir mal die Punkte im Bildungsbericht durch: Erster Punkt: Schulqualität, Mathematikkompetenzen. Am Ende der 9. Klasse haben 25 Prozent der Schüler den Mindeststandard nicht erreicht. ({8}) Bayern ist 8 Prozentpunkte besser und Sachsen 11 Prozentpunkte besser als der Durchschnitt. ({9}) Zweiter Punkt: Bildungsarmut. Der Anteil von Schulabsolventen ohne Abschluss beträgt in Bayern 5,5 Prozent, in Berlin aber 9,6 Prozent – das sind Unterschiede! ({10}) Dritter Punkt: Bereich der Integration, Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Im Bildungsmonitor 2020 hat Bayern hier den ersten Platz. Das sind die Unterschiede, sehr geehrte Damen und Herren! ({11}) Jetzt könnte man weitermachen mit beruflicher Bildung und noch vielen anderen Sachen darüber hinaus. Erstes Zwischenergebnis. Wenn alle Bundesländer dieselben Ergebnisse hätten wie Bayern und Sachsen – alte Bundesländer, neue Bundesländer –, dann wären wir im internationalen Vergleich vorne dabei. ({12}) Zweites Zwischenergebnis. Das ist an Sie gerichtet: Wo Unionsparteien schon seit langer Zeit regieren wie in Bayern und in Sachsen, sind die Bildungsergebnisse substanziell besser. ({13}) Drittes Zwischenergebnis. Dieses ewige Lamento, die Länder seien überfordert und der Bund müsse alles lösen, stimmt schlichtweg nicht. ({14}) Wenn man sich die Länder genauer anschaut, sieht man nämlich, dass es Länder gibt, die die Kraft haben, gute Bildungspolitik hinzukriegen. ({15}) Sie müssen es nur endlich tun, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! ({16}) Subsidiarität, Dezentralität, Entscheidungsfähigkeit in kleinen Einheiten vor Ort sind in komplexen, modernen Zeiten wichtiger denn je. Die Hattie-Studie aus dem Jahr 2009 hat genau das noch einmal gezeigt: Entscheidend für den Unterschied im Lernergebnis ist der Lehrer, seine Einstellung, wie er auf die Schüler zugeht und wie er seinen Beruf versteht. ({17}) Deswegen braucht der Lehrer Freiheit. Er braucht eines als Allerletztes: dass wir hier glauben, in Berlin ohne Komma und Punkt alles übernehmen zu wollen, weil wir anscheinend für alles zuständig wären. Subsidiarität und Dezentralität sauber neu durchdeklinieren – das ist das, was wir tun müssen. ({18}) Das gilt im Übrigen auch in Coronazeiten. Ich habe eine Tochter von acht und eine Tochter von zwölf Jahren, und ich kriege das mit so wie viele Eltern zu Hause. Da gibt es Lehrer, die sind herausragend trotz widriger Umstände. Und wieso sind sie das? Weil sie die richtige Einstellung haben. Weil sie trotz dieser widrigen Umstände einen genialen, bravourösen Fernunterricht machen. Ich weiß, dass die Umstände schwierig sind, dass das nicht zufriedenstellend ist. Aber es ist möglich, wenn man Lehrerinnen und Lehrer motiviert und unterstützt. Das ist die Schlüsselfrage. ({19}) Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, das heißt aber nicht, dass unsere Position wäre, dass der Bund nicht zuständig sei und keine Aufgaben hätte; ganz im Gegenteil. ({20}) Wir müssen uns sehr genau überlegen, was wir tun und wie wir es tun. Diese naive Sicht einiger linker Gruppierungen – im Übrigen gehört die FDP seit dieser Legislaturperiode inzwischen dazu –, ({21}) dass immer dann, wenn etwas nicht klappt, der Bund sofort in die Bresche springen muss, das ist der falsche Ansatz. Das ist Unsinn, weil es letztendlich das gesamte System durcheinanderbringt und das Problem nicht löst, sondern mehr Probleme schafft. Die Aufgaben des Bundes nehmen zu. Aber es braucht klare Verantwortlichkeiten. Und wenn jeder für alles zuständig ist, ist zuletzt keiner verantwortlich und zuständig, sehr geehrte Damen und Herren. ({22}) – Ich sage nur: Das gehört auch zur Bildungspolitik dazu. Hier wird ständig ausschließlich über Schulpolitik diskutiert. Es geht um den Nationalen Bildungsbericht. Da geht es um weit mehr als um die Kerntätigkeiten von Schule. ({23}) Wir haben in den vergangenen Jahren mit großen Paketen Verantwortung übernommen: Wir geben für den Hochschulpakt bis 2023  20 Milliarden Euro an Bundesmitteln. Wir geben in den nächsten Jahren für die Hochschulen mit dem Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ 2 Milliarden Euro jährlich. Wir haben für Innovation und Modernisierung in der beruflichen Bildung in den letzten drei Jahren während dieser Legislaturperiode so viel zusätzliches Geld gegeben wie Jahrzehnte nicht, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen. Wir geben jetzt die 6,5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule. Und vielleicht eine Anmerkung: Ich war einer von denen, der vor fünf Jahren hier mit Ministerin Wanka gesagt hat: Wir stellen die 5 Milliarden Euro ins Schaufenster. ({24}) Von den Kolleginnen und Kollegen hier ist so etwas nicht gekommen. Von den Ländern, in denen Sie Verantwortung haben, gab es keinen Antrag im Bundesrat. Es war unsere Initiative. Aber wir erwarten schon, dass Sie bei der Umsetzung Ihre Arbeit machen. ({25}) Zum Geld. Was haben wir als Bund gemacht? Und dann schauen wir, ob das die ganze Nation hinkriegt. Wir haben vonseiten des Bundes seit 2005 die Bildungsausgaben von 4,4 auf 11 Milliarden Euro erhöht. Das ist eine Steigerung um 150 Prozent. Das Land Brandenburg hat im selbigen Zeitraum die Gelder um 72 Prozent erhöht – um nur ein Beispiel zu nennen. Also, reden Sie nicht über uns, sondern reden Sie dort, wo Sie Zugang haben, mit denen, die da Verantwortung tragen! ({26}) Wenn alle das machten, was wir, seit wir an der Regierung sind, machen, dann wären das gute Zeiten in diesem Lande. Deswegen abschließend: Ja, der kooperative Föderalismus muss weiterentwickelt werden. ({27}) Natürlich macht es keinen Sinn, dass jedes Bundesland eine eigene Schul-Cloud hat. Deswegen haben wir auch in den letzten zwei Legislaturperioden die Verfassung geändert, 2014 den Artikel 91b – seither können wir uns an der Grundfinanzierung der Hochschulen beteiligen – und 2019 den Artikel 104c hinzugefügt. Seither können wir die Schulen bei Digitalisierung, Betreuungsangeboten und Weiterem mehr unterstützen. Wir werden auch in der nächsten Legislaturperiode die Zuständigkeiten weiterentwickeln. Ralph Brinkhaus hat recht, wenn er sagt: Corona hat uns gezeigt, dass die Zusammenarbeit auf den staatlichen Ebenen grundlegend verbessert werden muss. – Genau das werden wir tun, nicht aktionistisch, beliebig und nach dem Motto „Jeder ist für alles zuständig“, sondern indem wir genau überlegen, was unsere Aufgabe auf Bundesebene sein soll, was wir weiterentwickeln müssen. Dann werden wir genau diese Reform des Staatswesens machen – nicht aktionistisch, sondern klug und vernünftig. Danke schön. ({28})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Albert Rupprecht. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Nicole Höchst. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vieles ist bereits gesagt worden. Auf der Tagesordnung heute müsste eigentlich nicht die Selbstbeweihräucherung der Regierung, sondern ein Strategiepapier zur schnellstmöglichen Wiederherstellung des Regelbetriebs in unseren Bildungseinrichtungen stehen. ({0}) Der Bericht und die Vielzahl der gestellten Anträge zeigen, dass die Fehlentwicklungen in Bund und Ländern nun überdeutlich zutage treten. Dass immer mehr Bürger über Abitur oder einen Hochschulabschluss verfügen, ist generell keine Errungenschaft, sondern ein trauriges Zeugnis über den Niveauverfall im deutschen Schul- und Hochschulwesen, meine Damen und Herren. ({1}) Zudem verschärft diese Entwicklung den Fachkräftemangel im Handwerk und die Quote arbeitsloser Akademiker. Stärken Sie endlich die berufliche Bildung, wie in unseren zwei heute zu beratenden Anträgen gefordert! ({2}) Das Anwachsen des Segments „frühkindliche Bildung“, das heißt die Fremdbetreuung von Klein- und Kleinstkindern ab einem Jahr, feiern Sie als einen Erfolg. Dabei ist die klassische Familie die pandemiekrisensicherste, maskenfreieste und kinderfreundlichste Form, seine Kinder zu betreuen. ({3}) Wir fordern: Eine Familie muss endlich wieder von einem Gehalt leben können, damit sie echte Wahlfreiheit bezüglich innerfamiliärer Arbeitsaufteilung und Kinderbetreuung hat. ({4}) Meine Damen und Herren, alle tanzen um den weißen Elefanten im Raum. Der Bildungsbericht hingegen spricht Probleme an, die die staatlich forcierte Zuwanderung nach Deutschland mit sich bringt. ({5}) – Ja, lachen Sie nur. Es ist so. – 40 Prozent der Zuzügler über 19 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Von den in Deutschland geborenen Menschen mit besonderem Migrationshintergrund hat mehr als jeder Vierte keinen Berufsabschluss, und das, obwohl diese Menschen das komplette Bildungsangebot in Deutschland wahrnehmen konnten. Leider passt das genau zu den Erkenntnissen von 2019, ({6}) dass sich nämlich Zugezogene aus bestimmten Zuzugskontexten in unserem Hartz-IV-System mit 53 Prozent besonders wohlfühlen. Wann fangen Sie endlich an, mit diesen Erkenntnissen zu arbeiten? ({7}) Wer die Zukunft sehen will, schaut in die Kitas. Selbst im beschaulichen Kurort Bad Kreuznach waren im Jahr 2016 die Kinder mit Migrationshintergrund teilweise schon in der Mehrheit. Spitzenreiter war eine Kita mit fast 95 Prozent Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. Wer integriert sich hier wo hinein? ({8}) Der Bildungsbericht und sämtliche Statistiken zeigen: Wir haben ein wachsendes migrationsgeschuldetes Passungsproblem beim Übertritt in den Ausbildungsmarkt und die Beruflichkeit. ({9}) Deutschland braucht dringend eine Abkehr von der globalistischen Politik, die scheinbar jedem Erdenbürger das Menschenrecht auf ein Leben in Deutschland zuerkennen möchte. ({10}) Die Alternative für Deutschland fordert eine Willkommenskultur für Kinder, eine geregelte qualifizierte Zuwanderung. Dann klappt es auch wieder mit Integration und Bildung. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Oliver Kaczmarek. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natürlich kann man so tun, als wenn das eine Debatte wäre, in der man alles Mögliche unterbringen kann. Aber es geht um Bildungspolitik, und darum, dass in diesem Land, in dieser Situation viele Anforderungen an unser Bildungssystem gestellt werden. Ich will zwei Punkte aufgreifen. Der Lockdown hat doch gezeigt, wie wichtig Schulen, wie wichtig Kitas als Orte sind, wo Wissen geschaffen wird, als Orte, wo sozialer Zusammenhalt geschaffen wird. Und deshalb ist es gut, dass die ersten Schülerinnen und Schüler wieder in die Schule gehen können; wenn auch noch nicht alle und viele im Wechselunterricht. Jetzt kommt es darauf an, dass wir dieser Öffnung von Schulen den Rücken stärken. Ich will deshalb auch ganz klar sagen: Das, was da gestern beschlossen worden ist – das Vorziehen der Impfung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern und die Vereinbarung über regelmäßige Tests in den Schulen und Kitas –, gibt Sicherheit für den Schul- und Kitabetrieb, das ermöglicht weitere Öffnungsschritte. Die Beschlüsse von gestern gehen vielleicht noch nicht so weit, wie wir uns das vorgestellt haben, ({0}) aber sie sind ein Fortschritt und geben auch ein bisschen Rückenwind für die Öffnung von Schulen und Kitas. ({1}) Aber das reicht noch nicht; denn Schülerinnen und Schüler haben zu Hause in den letzten Wochen und Monaten unterschiedlich lernen können. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, die jetzt in die Einrichtungen zurückkommen, Lernrückstände haben und damit auch unterschiedlich ausgeprägten Förderbedarf aufweisen. Diese Schülerinnen und Schüler, meine Damen und Herren, brauchen Unterstützung, und zwar nicht nur in den nächsten vier Wochen oder in den Ferien, sondern über mindestens ein Jahr, damit aus Lernrückständen eben nicht weniger Chancen für die Zukunft junger Menschen werden. ({2}) Frau Karliczek, wir fanden es gut, dass Sie schon vor zwei, drei Wochen angekündigt haben, dass Sie den Ländern dazu auch ein Angebot machen wollen. Wir freuen uns darüber und auch darüber, dass wir von Ihnen jetzt konkrete Vorschläge und Verhandlungsergebnisse bekommen. Denn das, was wir machen müssen, ist klar: Wir müssen die Lernrückständige in den Mittelpunkt stellen – nicht alles Mögliche, sondern die Lernrückstände –, und es muss schnell gehen. Das Datum der Sommerferien ist genannt. Wir freuen uns über die Initiative. Es muss jetzt auch ganz konkret werden. ({3}) In Corona hat sich bestätigt, was der Nationale Bildungsbericht mit Zahlen belegt hat: Die Menschen in diesem Land wünschen sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. – Der Bedarf ist groß. Der Nationale Bildungsbericht weist einen Bedarf von etwa 800 000 Plätzen bis 2025 für die Ganztagsbetreuung in der Grundschule aus. Deshalb war es richtig, dass wir als Koalition in dieser Frage gehandelt haben. Insgesamt 3,5 Milliarden Euro für den Ausbau von ganztägiger Bildung und Betreuung an den Grundschulen haben wir in dieser Wahlperiode zur Verfügung gestellt. Das Geld steht zur Verfügung. Wir können jetzt in mehr Ganztagsbetreuung investieren. Das war eine richtige Entscheidung und auch eine wichtige Lehre aus Corona. ({4}) Ich will aber auch sagen: Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen fehlt uns noch; der würde das vervollständigen. Ich habe deshalb die Bitte, dass unser Koalitionspartner, aber auch die Grünen auf ihre Landesverbände in Baden-Württemberg und Hessen zugehen, damit wir Klarheit bekommen, wie man dort zu einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen steht. Wir müssen auch bei diesen Ländern endlich die Bremsen lösen. Dazu reicht es nicht, Appelle hier im Bundestag abzugeben. Bitte sorgen Sie in Ihren eigenen Läden dafür, dass das in dieser Wahlperiode über die Bühne gehen kann. ({5}) Corona hat gezwungenermaßen die Potenziale und Defizite des digital unterstützten Lernens aufgezeigt. Der DigitalPakt hilft; das ist doch gar keine Frage. Er hilft vielleicht noch nicht ausreichend und sicherlich noch nicht schnell genug, aber man muss sich doch einmal vorstellen, wo wir in der Pandemie ohne ihn wären. Von Frau Wanka gab es nur eine Ankündigung ohne Ergebnis; kein einziger Euro wurde im Haushalt dafür bereitgestellt. Es war doch richtig, dass Olaf Scholz und Frau Karliczek gehandelt haben und dass Olaf Scholz als Finanzminister in einer seiner ersten Amtshandlungen den Digitalfonds eingerichtet hat. Das erste Geld für den DigitalPakt Schule stand bereits zur Verfügung, bevor es eine entsprechende Bund-Länder-Vereinbarung gegeben hat. Deswegen sage ich: Der DigitalPakt ist eine gute Sache. Das Geld ist da. Es muss jetzt noch schneller und unkomplizierter gehen. Daran müssen wir noch arbeiten. ({6}) Ich glaube, wenn wir dies in den Mittelpunkt stellen – Ganztagsbetreuung, Digitalisierung – und wenn wir uns jetzt um die Schülerinnen und Schüler mit Lernrückständen kümmern, dann können wir Vertrauen in Bildungspolitik zurückgewinnen. Ich glaube, die Debatte heute hat gezeigt, dass das notwendig ist. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Kaczmarek. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Bericht, der im Wesentlichen unser Bildungssystem in der Zeit vor der Pandemie beschreibt. Seitdem hat sich viel verändert. Aber einiges war vorher schon absehbar. Der Bildungserfolg eines Menschen hängt in Deutschland von seiner sozialen Herkunft ab, stärker als in vielen anderen entwickelten Staaten. Die Zahl junger Menschen ganz ohne Schulabschluss ist um erschreckende 20 Prozent angestiegen. Auch die digitale Bildung hat Deutschland völlig verschlafen. Die Coronakrise hat diese Probleme massiv verschärft. Im Fernunterricht haben schon jetzt viele Schüler und Schülerinnen den Anschluss verloren. Viele Auszubildende sorgen sich um ihre Zukunft. Viele Studierende haben Nebenjobs verloren und fallen beim BAföG trotz finanzieller Nöte weiter durchs Raster. Sie alle leiden im Lockdown unter sozialer Isolation. Die Probleme sind riesig. Und was macht unsere Regierung? Ein Progrämmchen hier, ein Trostpflaster dort. Aber die nötigen PS bringen Sie nicht auf die Straße. Das Vorhaben, einen Nationalen Bildungsrat einzusetzen, haben Herr Söder aus Bayern und Herr Kretschmann aus Baden-Württemberg gegen die Wand gefahren. Im Kernprogramm des DigitalPakts Schule sind nach fast zwei Jahren bundesweit gerade einmal etwa 2 Prozent der Mittel abgeflossen. Frau Eisenmann hat diesen Schnitt in Baden-Württemberg mit 1,3 Prozent noch deutlich unterboten, und Bayern, Herr Rupprecht, liegt übrigens bei 0,1 Prozent des Mittelabrufs nach zwei Jahren. ({0}) Wenn Sie, Frau Ministerin, dieses bundesweite Schneckentempo heute hier in der Debatte allen Ernstes als eigenen Erfolg verkaufen wollen, dann ist das ein schlechter Witz. ({1}) Von routinierten Kenntnisnahmen haben wir hier genug. Unser Land braucht endlich eine Regierung, die Bildungschancen in Deutschland wieder zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit macht. ({2}) Ein paar Vorschläge dazu? Sehr gerne: Schaffen Sie doch endlich einen DigitalPakt 2.0, der Schulen Planungssicherheit gibt und auch in IT-Kräfte, in pädagogische Konzepte und Lehrerweiterbildung investiert. ({3}) Wir brauchen ein Bundesprogramm Lern-Buddys – dies haben wir letzte Woche vorgeschlagen –, bei dem Studierende bundesweit Schülerinnen und Schülern helfen, die Lernrückstände aufzuholen. Wir brauchen eine starke MINT-Offensive für Mathe und Naturwissenschaften, auch um die Fachkräftelücke endlich wieder zu schließen, einen modernen Bildungsföderalismus mit verbindlichen Standards und Abschlussprüfungen und auch hoher Umsetzungsfreiheit vor Ort. Wir brauchen eine strukturelle Reform des BAföG zu einer elternunabhängigen Förderung, damit sich jeder ein Studium leisten kann, eine Qualitätsoffensive in der Lehre, um den Hochschulen zu ermöglichen, auch bessere Betreuungsquoten und innovativere Lehrkonzepte anzubieten, eine Exzellenzinitiative in der beruflichen Bildung, angefangen bei der Berufsorientierung über Auslandsaufenthalte bis hin zur besseren Ausstattung der Berufsschulen. ({4}) Ein weiterer Vorschlag betrifft eine Öffnung der Begabtenförderung – dies wurde mehrfach hier im Deutschen Bundestag beantragt –, der akademischen Begabtenförderung für Talente in der beruflichen Bildung. Wir wollen ein Midlife-BAföG für Weiterbildung ein Leben lang, auch in der Mitte des Lebens. Frau Karliczek, ich hoffe, Sie haben jetzt fleißig mitgeschrieben. Wir haben all diese Vorschläge und vieles mehr in dieser Legislaturperiode immer wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. ({5}) Sie müssen das nicht alles sofort übernehmen, aber schon ein Stück davon würde unser Land spürbar voranbringen. Tun Sie es nicht für uns, sondern für Millionen Schülerinnen und Schüler, für Auszubildende und Studierende in diesem Land. Weltbeste Bildung für jeden, unabhängig von der sozialen Herkunft, das muss unser aller Anspruch sein. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brandenburg. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Kai Gehring. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eigentlich immer noch ziemlich konsterniert. Niemand braucht eine Ministerin fürs Schönreden, sondern es braucht eine Bundesbildungsministerin, die Bildungsrealitäten anerkennt, die Ambitionen hat, die Engagement für beste Bildung zeigt, die dafür brennt, dass alle Kinder in unserem Land die gleichen Chancen haben. Ihre Rede aber strotzte vor Realitätsverweigerung und Planlosigkeit. ({0}) Der Bildungsbericht, den wir hier heute debattieren, ist für mich wie ein Stillleben, eine Momentaufnahme der deutschen Bildungslandschaft vor dem Coronaausbruch. Und was sehe ich? Ich sehe Schulen und Universitäten, die kaum digitale Bildung anbieten konnten. Ich sehe, dass wieder mehr Jugendliche ohne Abschluss die Schule verlassen und mehr junge Erwachsene ohne Berufsausbildung bleiben. Im BMBF müssten alle Alarmglocken schrillen, aber keiner reagiert. Das ist doch fatal. ({1}) Dann kam die Coronapandemie. Sie wirkte wie ein Krisenbeschleuniger. Geschlossene Kitas und Schulen bedeuten weniger Chancen auf Bildung. Einschränkungen im sozialen Leben lassen Kinder und Jugendliche vereinsamen. Viele Studierende und Azubis haben Finanznöte, stehen vor einem ungewissen Berufseinstieg. Ob Homeschooling oder Onlinesemester – Lernen und Prüfungen digital sind der pure Stresstest. ({2}) Ob Kinderärzte, ob Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher – alle warnen vor den Folgen des Lockdowns auf die psychosoziale Gesundheit, auf die Entwicklung von Kids, auf ihre Chancen. Aber wann kapiert das eigentlich diese Bundesregierung? ({3}) Nach einem Jahr Corona wird weiter herumgedoktert ohne ein klares Regierungskonzept, wie Familien mit der Pandemie leben und wie Bildungseinrichtungen sicher geöffnet werden können. Bundesregierung und Ministerpräsidentenkonferenz gehen eindeutig den zweiten Schritt vor dem ersten. Öffnungen ohne ausreichende Tests, ohne Teststrategie, mit geringen Impfquoten sind ein Wagnis. Man sehnt die Normalität herbei, aber vorausschauendes Handeln für sichere Bildung geht eindeutig anders. ({4}) Ihre S3-Leitlinie zu Schulen in der Pandemie bündelt wissenschaftliche Erkenntnisse von 30 Fachgesellschaften, kam aber ein Dreivierteljahr zu spät. Frau Karliczek, Sie haben einfach Ihren Job nicht gemacht. ({5}) Die Bundesregierung macht so aus der Coronakrise eine Bildungskrise. Das muss sich ändern. Es geht um 13,5 Millionen unter 18-Jährige. Viele können die Coronaeinschränkungen kompensieren, indem sie auf Wissen und Unterstützung der Eltern zurückgreifen. Andere können das aber nicht. Gerade Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern haben nur eine Chance, wenn sie gute Bildung und Begleitung bekommen. ({6}) Initiativen von den demokratischen Oppositionskräften, die Sie hätten aufgreifen können, gab es zuhauf: Luftfilter an Schulen, Teststrategien, Anspruch auf Förderung bei Lernrückständen, eine Öffnung des BAföG für bedürftige Studierende, eine Ausbildungsgarantie und, und, und. Wann bringen Sie das denn endlich auf den Weg? Ein Bildungsschutzschirm des Bundes ist überfällig. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Schluss bitte!

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Mangels Tatkraft klafft die Bildungsschere weiter auseinander. Ich mache mir große Sorgen und fürchte mich vor dem nächsten Bildungsbericht und vor einem PISA-Schock in der Zukunft. Der muss abgewendet werden. Wenn jeder vor Ort an seiner Stelle die Verantwortung wahrnimmt, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege!

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– dann schaffen wir es, dass auch bildungsbenachteiligte Kids Chancen bekommen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Tankred Schipanski. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte heute geht es um den Nationalen Bildungsbericht 2020. Erst mal sage ich ein ganz herzliches Dankeschön an das Wissenschaftlerteam, das diesen Bericht zusammengestellt hat. Dieser Bericht liefert Fakten. Diese Fakten hat Albert Rupprecht vorgetragen, und diese Fakten hat die Ministerin vorgetragen. Es ist keine Schönrederei, lieber Herr Gehring, wenn man Fakten darstellt. ({0}) Mich entsetzt an dieser Stelle die Skandalisierung, die AfD, Linke und FDP mit diesem Bericht betreiben. Ich wundere mich auch über Ihre Wortwahl, Frau Bull-Bischoff, und darüber, dass Sie im Zusammenhang mit der Ministerin von „Märchentante“ sprechen. Hätten Sie nach der Rede von Frau Höchst – Stichwort: Migration – von „Märchentante“ gesprochen, dann hätte ich das alles verstanden, ({1}) aber im Zusammenhang mit einer sachbezogenen Rede der Ministerin verstehe ich eine solche Wortwahl auf gar keinen Fall. Schauen Sie mal in den Spiegel! Ich glaube, Sie sind die Märchentante in dieser Debatte. Oder Sie sind hier vielleicht doch noch mal als FDJ-Sekretärin aufgetreten. ({2}) Uns zu erzählen, wie wir Mangel beenden sollen, liebe Linke, wo Sie über Jahre Mangel produziert haben! Sie sind die personifizierte Mangelwirtschaft. Schauen Sie da hin, wo Sie Verantwortung tragen. Ich erinnere wieder an Thüringen und daran, welches Chaos wir da haben. ({3}) Ihr Kultusminister Holter kriegt es nicht hin. Der Bund muss helfen – Albert Rupprecht hat es gesagt –: bei der Schul-Cloud, bei den Laptops, bei den Systemadministratoren, bei der Ausstattung von Schülern. Der Bund muss helfen, weil es das Land nicht packt. ({4}) Blicken wir einfach mal in den Bildungsbericht. Was steht denn da? Es wird gezeigt, dass es sinnvoller ist, in die Anzahl der Erzieher in einem Kindergarten zu investieren als kostenfreie Besuche dieser Einrichtungen zu ermöglichen. – Ganz logisch. Leider handeln Länder wie Berlin und Thüringen, rot-rot-grün regiert, nicht nach diesen Empfehlungen der Wissenschaftler. Schauen wir weiter: Natürlich ist es bedauerlich, dass immer mehr Jugendliche die Schule ohne Schulabschluss verlassen. Aber gehen Sie mal in die Einrichtungen, welche die Jugendlichen dann betreuen, und schauen Sie sich an, wie massiv wir dort Förderprogramme einsetzen. In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings recht geben: Natürlich wäre es sinnvoller, Gelder auch in die außerschulische Bildung zu investieren, um diesen jungen Menschen früher zu helfen. Ja, die Zahl der Menschen, die einen Fachhochschulabschluss schaffen, ist leicht rückläufig. Die Forscher finden das aber völlig normal. Wir haben eine Art Sättigung erreicht. Nicht alle Menschen können und wollen studieren; das ist auch gut so. Dafür steigt die Zahl bei der beruflichen Ausbildung, und darüber freue ich mich; denn berufliche Bildung ist Teil des Bildungsaufstiegs. ({5}) Liebe Kollegin Bas und lieber Kollege Brandenburg, hier in der Debatte jetzt noch einmal das tote Pferd des Bildungsrates zu reiten, ist, glaube ich, einfach unnütz. ({6}) Blicken Sie noch einmal in den Bericht! Er stellt eindeutig fest – Albert Rupprecht hat darauf hingewiesen –, dass Deutschland mehr Geld in die Bildung jedes Einzelnen steckt als die OECD- oder die EU-Staaten im Durchschnitt. Auch das ist eine positive Tatsache, die man noch mal betonen muss. ({7}) Das spricht nicht für eine Armutsrepublik, Herr Sattelberger, sondern wir leben wirklich in einer Bildungsrepublik. ({8}) Schauen Sie mal international, wie es woanders aussieht. ({9}) Die Wissenschaftler sagen zudem auch ganz deutlich, wer für welchen Bildungspart Verantwortung trägt. Das stellen sie ganz nüchtern fest, auch mit dem einfachen Blick in die Verfassung; das habe ich Ihnen ja schon oft erklärt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein kurzer Blick auf die leere Bundesratsbank während der Debatte über einen so wichtigen Bericht, den auch die Kultusministerkonferenz mit in Auftrag gibt, zeigt: Die Länder verweigern hier förmlich ihre Verantwortung. Das ist skandalös. Das muss an dieser Stelle auch gesagt werden. ({10}) Abschließend blicke ich noch auf das Schwerpunktkapitel „Bildung in einer digitalisierten Welt“. Hier stellen die Wissenschaftler mit Daten aus 2018 das fest, was wir jetzt in der Coronapandemie erleben. Die Hochschulen kommen mit dem digitalen Lernen vergleichsweise gut zurecht, die Schulen nicht. Auf die mangelnde technische Ausstattung haben wir ebenso hingewiesen wie auf die mangelnde Qualifizierung der Lehrkräfte usw. Aber genau da setzen wir an. Die Ministerin hat den DigitalPakt Schule noch mal dargestellt. ({11}) Die Nebenvereinbarungen wurden erwähnt. Wir haben vor zwei Wochen die bundesweite Lernplattform vorgestellt, ({12}) die wir auf den Weg gebracht haben. Beim Thema Lehrerfortbildung sind wir mittendrin, digitale Kompetenzzentren zu schaffen. Impulse und Maßstäbe setzen wir hier. Wir haben ein ausbaufähiges Eckpunktepapier zwischen Bund und Ländern vereinbart. Sie sehen aber auch hier: Der Bund ist wieder Taktgeber, ({13}) weil sich die Länder über Jahre verweigert haben. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Digitalisierung ist nicht nur im Bildungsbereich für unser System eine Herausforderung; wir erleben das auch im Verwaltungsbereich. Ralph Brinkhaus hat es in seinem wegweisenden Interview vom 21. Februar mit der „Welt am Sonntag“ trefflich festgestellt: … es macht keinen Sinn, die Digitalisierung der Schulen 16 Bundesländern und 16 Datenschutzbeauftragten jeweils individuell zu überlassen. Wir müssen … d ie einzelnen Ebenen vom Bund bis zur Kommune besser miteinander vernetzen. Das wollen wir tun. Da brauchen wir ein neues Miteinander. Wir brauchen dafür einen neuen Rahmen. Auf diese Reform hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Lust. Wir werden Ihnen dazu die entsprechenden Vorschläge präsentieren und umsetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tankred Schipanski. – Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte: für die SPD-Fraktion Yasmin Fahimi. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien dieses Hauses! Ich muss jetzt auf einiges eingehen, was in der Debatte gesagt worden ist. Frau Höchst, Sie wissen ganz genau, dass Kinder mit Migrationsgeschichte oft aus Haushalten in prekärer Lage kommen. – Sie können mir übrigens auch gerne mal zuhören, wenn ich schon auf Sie eingehe. ({0}) Da sind sie nicht aus Zufall, sondern weil wir immer noch eine Willkommenskultur haben, die darin besteht, dass diejenigen, die in unser Land einwandern, die dreckigsten und billigst bezahlten Jobs machen. Das gilt für die Gastarbeiterfamilien genauso wie für die Russlanddeutschen oder jetzt für die Flüchtlinge. ({1}) Wenn wir dann noch in Deutschland ein Bildungssystem haben, das kaum Aufstieg ermöglicht oder jedenfalls deutlich unterdurchschnittlich im globalen Vergleich – das bescheinigt PISA; dabei schneidet Bayern übrigens besonders schlecht ab –, ist es kein Wunder, dass auch die zweite und dritte Generation in einer sozialen Lage lebt, die ihr einen entsprechenden Bildungsaufstieg nicht ermöglicht. Sie wollen hier keine evidenzbasierte Politik machen, sondern Sie wollen den Menschen immer noch erzählen, dass die Geburtenrate in der DDR deswegen angestiegen ist, weil dort Störche angesiedelt worden sind. ({2}) Hören Sie auf mit Ihrer Hassideologie und damit, in einer solchen Art und Weise Fakten zu verdrehen! ({3}) Jetzt zur FDP. Ich kann die Krokodilstränen wirklich nicht mehr ertragen, die Sie hier mit Blick auf die Jugendlichen im Übergangssystem verdrücken. 255 000 junge Menschen im Übergangssystem: Ja, das ist eindeutig zu viel. Aber die Gründe dafür sind eben sehr unterschiedlich. Was findet sich dazu eigentlich im FDP-Antrag wieder? Da steht: ein Programm, ein Zertifikat für alle, die im Übergangssystem sind. – Die Bedarfslagen sind aber sehr unterschiedlich. ({4}) Es gibt Jugendliche, die Sprachförderung brauchen. Es gibt Jugendliche, die Hilfen zum Aufbau einer Alltagsstruktur brauchen. Es gibt Jugendliche, die Suchtproblematiken oder Gewalterfahrungen haben. Auf all das gehen Sie nicht ein, sondern scheren alle schön über einen Kamm und sagen: Die sind selber schuld, dass sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Deswegen stecken wir sie in ein System. Da sollen sie eine grundständige Ausbildung bekommen, und zwar für die Arbeitgeber kostenfrei – das ist nämlich der zweite Aspekt, Sie wollen einfach mal nebenbei das ganze Berufsbildungssystem zerschlagen –, und wenn sie sich dort vielleicht ordentlich angestellt haben, können sie vom Arbeitgeber übernommen haben. Das ist nichts anderes als ein kostenfreies Probejahr für den Arbeitgeber. ({5}) Erklären Sie doch erst mal diesem Hause und den Menschen da draußen, was Jugendliche überhaupt im Übergangssystem zu suchen haben, wenn sie offensichtlich doch geeignet sind, eine Ausbildung aufzunehmen! Das beantworten Sie überhaupt nicht. ({6}) Im Bericht kann man Folgendes lesen, ich zitiere: Es kann jedoch auch 2019 nicht von einer ausgeglichenen Ausbildungsmarktsituation gesprochen werden ... Die ANR variiert auch im Jahre 2019 erheblich … In 21 Prozent der Arbeitsagenturbezirke haben wir eine deutliche Unterversorgung. – Sehr verehrtes Haus, wie viele Argumente braucht man eigentlich noch, um jetzt endlich mal eine Ausbildungsgarantie und eine Ausbildungsverpflichtung in diesem Land einzuführen? Das würde im Übrigen auch die Lasten unter den Branchen endlich mal gerecht verteilen. ({7}) Ja, sehr geehrtes Haus, jetzt ist die Prüfstunde der Politik. Jetzt wird sich zeigen, wer es wirklich ernst meint mit der Gleichwertigkeit von Bildungswegen und dem Respekt aller Lebensentwürfe. Deswegen bitte ich Frau Ministerin Karliczek, endlich eine kostenlose Prüfungshilfe für diejenigen in der Ausbildung anzubieten, die schon viel zu lange im Ausnahmezustand lernen mussten. Ich bedanke mich bei Hubertus Heil für den Schutzschirm, den er für die Ausbildung geschaffen hat, für die Impulse, die er gesetzt hat, aber auch dafür, dass er jetzt noch mal nachjustiert. ({8}) Ich fordere den Bundesminister Altmaier auf, die Wirtschaft endlich an ihre Verantwortung zu erinnern. Der jungen Generation jetzt Ausbildung und Übernahme zu verweigern, steht in keinem Verhältnis zu den Hilfen, die die Wirtschaft gerade von der Gemeinschaft erhält. Die SPD wird dies jedenfalls nicht schweigend zur Kenntnis nehmen. Wir fühlen uns zum Handeln aufgerufen. Vielen Dank. ({9})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Während einfache Menschen in der Pandemie um ihre Existenz ringen, kassieren andere Dividenden. Das ist bezeichnend für die Krisenpolitik der Bundesregierung. Wie oft habe ich hier schon gehört: In dieser Krise sitzen wir alle in einem Boot. – Der Unterschied ist nur: Ein paar sind schon über Bord gegangen, einige rudern wie verrückt, und auf dem Oberdeck findet gleichzeitig eine Party statt. ({0}) Um das Bild zu übersetzen: Viele Beschäftigte haben ihren Job verloren. Leiharbeitnehmer, befristet Beschäftigte und Minijobber waren als Erste raus. Nach nur zwölf Monaten Arbeitslosengeld fallen sie sofort in Hartz IV oder sind, wie Minijobbende, gar nicht in der Arbeitslosenversicherung abgesichert. Kolleginnen und Kollegen in der Gastronomie und im Dienstleistungsbereich sind besonders betroffen. Das Kurzarbeitergeld reicht hinten und vorne nicht. ({1}) Selbstständige, Künstler, Einzelhändler und Kneipenbesitzer stehen vor dem Ruin, weil die Hilfen nicht oder nicht ausreichend ankommen. Gleichzeitig schütten mitten in der größten Krise elf DAX-Konzerne – und das ist nur die Spitze des Eisbergs – insgesamt fast 14 Milliarden Euro an Dividenden an ihre Aktionäre aus. Das ist doch unfassbar. ({2}) Daimler hatte im vergangenen Jahr einen Gewinn von 6,6 Milliarden Euro und hat die Dividenden auf sage und schreibe 1,4 Milliarden Euro erhöht. ({3}) Allein BMW hat 770 Millionen Euro ausgeschüttet. Diese Unternehmen haben sich über Kurzarbeit die Gehälter und die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Mitarbeiter erstatten lassen. Allein im Fall von Daimler waren es 700 Millionen Euro. ({4}) Geld der Solidargemeinschaft wandert so direkt in die Taschen von Millionären wie Stefan Quandt und Susanne Klatten. Das hat mit „Wir sitzen alle in einem Boot“ rein gar nichts mehr zu tun. Das ist Abzocke unter den Augen der Bundesregierung und gehört unterbunden. ({5}) Bevor Sie jetzt sagen: „Da kann man nichts machen; das regelt alles der Markt“, schauen wir mal zu unseren europäischen Nachbarn: In Frankreich und Dänemark ist so was verboten. Hierzulande dürfen Unternehmen Kurzarbeit in Anspruch nehmen, ungeniert Dividenden ausschütten, Aktien zurückkaufen und ihren Vorständen Boni und überhöhte Gehälter zahlen. Der Gipfel ist, wenn dann noch Beschäftigte entlassen werden. Damit muss Schluss sein. ({6}) Ja, ich kenne die Leier: Die Arbeitslosenversicherung ist eine Versicherung, an die auch Unternehmen Beiträge abführen. – Aber das, was wir hier erleben, das grenzt nahezu an Versicherungsbetrug. ({7}) Unternehmen, die so liquide sind, dass sie Dividenden in Millionenhöhe auszahlen können, sind kein Fall für die Sozialversicherung und brauchen erst recht nicht unser Steuergeld. ({8}) Die Sozialversicherung ist dafür da – so formuliert es das Sozialgesetzbuch I –, wirtschaftliche Sicherheit herzustellen. Davon, dass sich auch die Aktionäre die Taschen füllen, steht da nichts drin. ({9}) Letztes Jahr hat der Bund fast 7 Milliarden Euro an Liquiditätshilfen an die Bundesagentur für Arbeit überwiesen, und dieses Jahr werden es voraussichtlich über 3 Milliarden Euro sein, um sie zu stützen. Spätestens wenn Staatszuschüsse an die Bundesagentur für Arbeit nötig sind und gezahlt werden, muss doch dieses Treiben ein Ende haben. ({10}) Man muss sich das vor Augen führen: Millionen von Menschen fürchten um ihre Existenz, und gleichzeitig landet staatliches Geld auf Umwegen bei den Aktionären, und das in einer Zeit, in der die Bundesregierung ein Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro ebenso ablehnt wie die verlängerte Zahlung des Arbeitslosengeldes. Das würden die Betroffenen so dringend benötigen. ({11}) Ein Argument dafür, warum das nicht gezahlt wird, ist die klamme Finanzsituation der Bundesagentur für Arbeit. Ja, richtig, die Rücklagen sind aufgebraucht, und auf die Liquiditätshilfen hatte ich hingewiesen. Aber das ist doch erst recht ein Grund, Kurzarbeit und auch die Gewährung von staatlichen Hilfen an Bedingungen zu knüpfen. ({12}) Es muss klar sein: Wer die Hand aufhält, darf nicht betriebsbedingt kündigen, keine Dividenden oder Boni auszahlen und muss die Vorstandsgehälter begrenzen. ({13}) So bekäme man zumindest ansatzweise wieder das Gefühl, wir sitzen tatsächlich alle in einem Boot, und es rudern auch alle ein Stück weit mit. Wenn die Bundesregierung hier nicht handelt, dann verkommt die von ihr vielbeschworene Solidarität zur hohlen Phrase. Dafür braucht es Mut, sich mit den Konzernen und Mächtigen anzulegen. Neben Mut braucht es aber auch andere Mehrheiten für die praktische Umsetzung. ({14}) Letzten April hat mir der Kollege Carsten Schneider von der SPD aus der Seele gesprochen, als er gesagt hat – ich zitiere –: „Wer auf Staatshilfe setzt, kann nicht gleichzeitig Gewinne an Aktionäre ausschütten.“ Dieses Gerechtigkeitsverständnis wird aber mit einer Union in der Bundesregierung niemals realisierbar sein. Deswegen brauchen wir nach der Bundestagswahl einen sozialen Aufbruch, und dafür gehört die Union in die Opposition. Vielen Dank. ({15})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Menschen an den Bildschirmen und den digitalen Endgeräten! Wir beraten heute drei Anträge, davon zwei von den Linken, der SED-Fortsetzungspartei. ({0}) Die Sprüche, die wir von Ihnen zu dem Thema hören, heucheln Mitgefühl für Betroffene und Ähnliches. ({1}) In Wirklichkeit geht es Ihnen darum – das haben Sie ganz zum Schluss zum Ausdruck gebracht –, möglichst mit Sozialdemokraten und Grünen dieses Land in einer Art und Weise umzubauen, dass wir dann munter sagen können: Wir haben wieder Volkseigene Betriebe und HO-Gaststätten. – Dann ist das Ziel erreicht, das Sie sich so vorstellen. ({2}) Deshalb will ich mich mit Ihrem Quatsch gar nicht weiter auseinandersetzen. Lesen Sie mal ein Schulbuch zu Politik und Wirtschaft für die Sekundarstufe I, darin können Sie nachlesen, was der Unterschied zwischen einer Versicherungsleistung und einer Sozialleistung ist. Kurzarbeitergeld ist eine Versicherungsleistung – da gilt das Äquivalenzprinzip –; darauf hat man Anspruch, wenn man Beiträge gezahlt hat. ({3}) Aber darauf werden die Kollegen aus dem Ausschuss für Arbeit und Soziales sicher noch näher eingehen. Lassen Sie mich kurz zu dem Antrag der Grünen sprechen, die hier große Krokodilstränen fließen lassen, obwohl sie – zumindest Sie, Frau Dröge – im Wirtschaftsausschuss mit dabei waren, wo wir bei allen Maßnahmen Schritt für Schritt immer wieder nachgebessert haben. Die Wirtschaft ist nämlich ungeheuer komplex ({4}) und übersteigt an Komplexität gelegentlich das Vorstellungsvermögen der Ministerialbürokratie und selbst das von Abgeordneten. Wir haben jeden Tag neue Fallkonstellationen gesehen, die wir uns nicht ausgemalt hatten, und immer wieder nachgesteuert. Das hat natürlich Zeit gekostet. ({5}) Die Coronahilfsmaschine läuft aber mittlerweile auf Hochtouren. 85 Milliarden Euro Hilfsgelder hat der Staat in den letzten zwölf Monaten ausgezahlt. Ich denke, das kann sich durchaus sehen lassen. Bei der November- und Dezemberhilfe sind es mittlerweile 75 Prozent. Alle, die sich ein wenig eingehender mit der Thematik befasst haben, wissen: Das sind keine trivialen Vorgänge, sondern sie sind gerade im Zusammenwirken von Bundesverwaltung und Landesverwaltung nicht immer einfach zu lösen. Sie begrüßen in Ihrem Antrag die unbürokratische Beantragung der Soforthilfe, sagen aber nichts dazu, dass wir später jede Menge Beschwerden über Hunderttausende Bescheide hatten – gerade hier in Berlin ist sehr großzügig mit dickem Daumen verteilt worden –, bei denen die Empfangsberechtigung völlig infrage stand und es zu Rückforderungen kam. Da ist es mir schon lieber, wenn wir es jetzt über Steuerberater und Wirtschaftsprüfer machen, die sich da auch sehr gut einbringen, den Prozess mitbegleiten und Anregungen geben und dabei durch spezielle Informationen dazu auf der Homepage des Wirtschaftsministeriums unterstützt werden. Damit können wir einen Beitrag dazu leisten, dass die ganzen Programme passgenauer werden. Wir arbeiten also kontinuierlich daran, weil wir das alles sehen. Als Wahlkreisabgeordnete bekommen Sie jeden Tag neue Fallschilderungen, wo was nicht passt bzw. wo Anspruchsvoraussetzungen, Umsatzgrenzen oder Verlustgrenzen in der konkreten Situation unpassend erscheinen. Wir werden das nie alles hundertprozentig gerecht abbilden können. Das wird nicht funktionieren. Umso wichtiger ist es, dass gestern Abend bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin wieder verschiedene Erleichterungen und Verbesserungen miteinander vereinbart worden sind: Erhöhung der Abschlagszahlungen in der Überbrückungshilfe III auf bis zu 800 000 Euro. Es können jetzt auch an große Unternehmen mit höherem Finanzbedarf Hilfen gezahlt werden; die Umsatzhöchstgrenze ist entfallen. Wir haben damit eine Grundlage für Hilfsoperationen auch für Firmen, die in den Bereichen Einzelhandel, Veranstaltungs- und Kulturbranche, Hotellerie, Gastronomie, Pyrotechnik, Großhandel, Reisebranche unmittelbar von den Schließungsanordnungen des Bundes und der Länder betroffen sind. Darüber hinaus bin ich, um wirklich noch ein Tool zu haben, um helfen zu können, auch froh, dass die Vereinbarung über den Bund-Länder-Härtefallfonds gestern Abend bekräftigt worden ist und im Laufe der nächsten Woche das Bundeskanzleramt und die Staats- und Senatskanzleien den Ablauf dazu klären werden. Das ist eine Möglichkeit, noch einmal nachzusteuern, wo es trotz der großen Möglichkeiten aufseiten der Bundesebene nicht funktionierte. Ich will jetzt kein Schwarzer-Peter-Zuschieben vornehmen, auch nicht zum roten Minister hier; aber wir haben natürlich als Wirtschaftspolitiker der Union zeitig gefordert, viel stärker auf schon bestehende Finanzbeziehungswege zu setzen, also auf viel großzügigere Steuerverlustverrechnungsmöglichkeiten. Das wäre ein ganz schneller und sehr viel treffsicherer Weg gewesen. Da ist ja zum Glück auch ein wenig nachgebessert worden. Im Rahmen der Überbrückungshilfe III sind etwa 1,92 Milliarden Euro beantragt und mehr als ein Viertel davon schon ausgezahlt worden, obwohl das Programm ja noch nicht lange offen ist. Ich finde, wir sollten da nach vorne schauen. Ich habe gestern in der Aktuellen Stunde schon mal kurz darüber gesprochen. Clemens Fuest vom ifo-Institut hat das heute Morgen im „Morgenmagazin“ gemacht. Wir müssen den Menschen die Vorteile von Selbsttests deutlich machen. Clemens Fuest hat heute ein Beispiel gewählt und gesagt: Wenn vor der Einkaufsgalerie die Teststation ist und die Leute sehen: „Wenn du dich testen lässt, kannst du da reingehen“, dann kriegen wir einen höheren Kenntnisstand in der Frage, wer bei uns infiziert ist, zumindest einen guten Anhaltspunkt dafür, und dann werden die Menschen von sich aus Tests nachfragen. – Dann müssen wir uns nicht ständig nur Gedanken darüber machen, wie der Staat die bezahlt und welche Stelle vom Staat die bezahlt und welche Stelle vom Staat das organisiert. Hier müssen wir auf Kräfte des Marktes setzen. Deshalb hoffe ich, dass die behutsamen Öffnungsschritte, die gestern besprochen worden sind, hier genug Raum geben, dass diese Marktkräfte sich entfalten können. – Vielen Dank für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Der Satz ist zu Ende. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Steffen Kotré von der AfD-Fraktion. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke will also Steuergeldverschwendung der Unternehmen verhindern. Aber wir müssen auch grundsätzlich Steuergeldverschwendung und ‑missbrauch anprangern und verhindern, eben auch den Missbrauch durch die Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({0}) Der Lockdown zum Beispiel ist längst schon Willkür. Er muss sofort aufgehoben werden, damit Steuergelder nicht weiter missbräuchlich Verwendung finden. ({1}) Wenn wir mal weiter in diesem Reigen gehen: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz muss abgeschafft werden, damit wir für diese schädliche Art der Stromversorgung nicht weiter Steuergelder verwenden und verschwenden. Wir können es den Bürgern eigentlich auch gar nicht mehr erklären, warum links-grüne Wind- und Sonnenunternehmen hier die Gewinne garantiert bekommen. Anderes Beispiel: Dänemark hat gerade seinen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen erklärt, dass sie zurück in ihre Heimat gehen sollen. Syrien ist längst sicher. Genau das Gleiche sollten auch wir tun. Dann hätten wir nämlich hier auch keine Veruntreuung von Steuergeldern mehr in der Form, dass wir Menschen hier alimentieren, die im Übrigen größtenteils gar nicht bei uns sein dürfen. ({2}) Wir haben es hier mit dem massenhaften Bruch des Artikels 16a GG zu tun, nur noch mal zur Erinnerung. Aber davon reden wir ja schon seit Jahren. ({3}) Der deutsche Steuerzahler zahlt Kindergeld ins Ausland. Also auch hier geschieht ein Missbrauch des deutschen Sozialstaates durch die Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({4}) Dann gibt es den Missbrauch in Form der Entschädigungszahlung an die Kraftwerksbetreiber, die ihren Kernenergiestrom jetzt nicht mehr liefern dürfen, weil die Bundesregierung aus der Kernenergie eben völlig überstürzt und ideologiebedingt ausgestiegen ist. Man hätte einfach nur die Laufzeiten entsprechend so gestalten müssen, wie es geplant war. Auch hier geschieht ein Missbrauch in Höhe von 4 bis 5 Milliarden Euro zulasten des Steuerzahlers. Aber die Laufzeitverlängerung wurde ja leider durch eine unverantwortlich agierende Kanzlerin verhindert. ({5}) Der Kohleausstieg kostet uns 150 Milliarden Euro. Auch hier kommen wieder mindestens 40 Milliarden Euro aus dem Steuersäckel. Das ist eine verwahrlosende Politik, die Marktwirtschaft und Alternativen missachtet. Ohne Ideologie, meine Damen und Herren, wäre das alles billiger gewesen. Oder nehmen Sie die 1 Milliarde Euro im sogenannten Kampf gegen rechts. Auch hier offenbart sich, dass die Bundesregierung und die Koalitionsparteien Steuergelder dafür verwenden, die politische Opposition zu bekämpfen. Auch das wäre ein Fall für den Staatsanwalt, meine Damen und Herren. ({6}) Vor diesem Hintergrund fordern wir einmal mehr die Einführung eines separaten Straftatbestandes der Steuergeldverschwendung. An dieser Stelle sei darauf noch mal hingewiesen. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Bernd Rützel von der SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie ist keine Ideologie, sie ist Realität. Man kann sie vergleichen mit einer Wanderung auf einem Grat. Wer in den Bergen schon mal unterwegs war und so eine Wanderung gemacht hat, der weiß, dass man genau balancieren muss, dass man jeden Schritt mit Bedacht wählen muss, dass man aufpassen muss; denn auf beiden Seiten geht es runter. Hier ist es vergleichbar: Auf der einen Seite ist die Vermeidung der Gefährdung der Gesundheit ganz wichtig; auf der anderen Seite sieht man aber auch die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und unser Gemeinwesen. Dieses Gemeinwesen hat bisher sehr, sehr gut funktioniert und tut es immer noch. Der Zusammenhalt ist da, weil wir einen starken Sozialstaat haben. Und wenn wir eines gelernt haben, dann doch, dass wir diesen starken Staat, diesen starken Sozialstaat noch mehr ausbauen, noch mehr stärken, noch mehr für die Zukunft ausrichten müssen; denn so was kann uns immer wieder passieren. ({0}) Wir haben einen Schutzschirm aufgespannt für Arbeitsplätze, für Selbstständige, für Unternehmen, und wir haben Großartiges geleistet. Ich weiß, dass immer wieder Probleme geschildert werden; das ist ja auch gut so, das ist eben diese Gratwanderung, einen Schritt nach dem anderen. Aber Arbeitsminister Hubertus Heil, Finanzminister Olaf Scholz bin ich sehr dankbar für das, was sie die letzten Monate geleistet haben. ({1}) Wir helfen nämlich Unternehmen dabei, liquide zu bleiben, und den Beschäftigten helfen wir, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Durch Kurzarbeit konnten 3 Millionen Jobs, 3 Millionen Arbeitsplätze, gerettet werden. Für über 10 Millionen Menschen wurde Kurzarbeit beantragt. 3 Millionen Menschen mehr wären jetzt in der Arbeitslosigkeit. Was das für diese Menschen, für ihre Familien, für alle bedeuten würde – für die Gemeinden, für die Städte, wo sie wohnen, wo sie leben –, das können und wollen wir uns nicht ausmalen. Deswegen ist Kurzarbeit extrem wichtig. Liebe Susanne Ferschl von den Linken, ich habe Ihnen das schon letzte Woche hier an diesem Pult gesagt: Man kann immer verschiedener Meinung sein, und man muss das auch austragen. Aber Sie stellen sich hierher und sagen: Da ist nie was gelaufen, da ist nie was gemacht worden. – Entschuldigung, wo waren Sie die letzten zwölf Monate? ({2}) Haben Sie nicht mitbekommen, dass das Kurzarbeitergeld vereinfacht worden ist, dass die Regeln dazu verlängert worden sind, dass die Zugangsbedingungen vereinfacht worden sind, dass wir das Kurzarbeitergeld erhöht haben? Natürlich können wir darüber debattieren, ob es reicht oder sonst was. Aber man kann doch das, was wir hier geleistet haben, nicht so hinstellen, als ob nichts gemacht worden sei. Das ist nicht fair, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich will sagen: Das Kurzarbeitergeld ist aber auch eine Versicherungsleistung. Die Beschäftigten, die Unternehmen haben in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Deswegen haben sie ein Anrecht darauf – wenn es dem Betrieb schlechter geht, wenn es notwendig ist –, dass diese Leistung ausgezahlt wird. Natürlich stimme ich zu – da stimmen wir alle zu; das ist heute im „Handelsblatt“ durch unsere Sprecherin noch einmal deutlich geworden –, dass es nicht in Ordnung ist, wenn Boni von Unternehmen gezahlt werden, die viel Unterstützung erhalten haben. Wir müssen auch noch einmal darüber nachdenken, dass diejenigen, die in Kurzarbeit geraten, am Anfang wenig zum Leben haben. Es ist immer ein Balanceakt zwischen bürgernaher, sofortiger und schneller Hilfe auf der einen Seite und einer kontrollierten Auszahlung an die Richtigen auf der anderen Seite. Es wurde sehr schnell und sehr umfangreich geholfen. Die Bundesagentur für Arbeit hatte 790 000 Unternehmen, die für bis zu 10,7 Millionen Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet haben. Da ist schnell und gut reagiert worden. Allen Frauen und Männern, die in der Bundesagentur für Arbeit, auch in den Jobcentern, arbeiten, gilt großer Dank. Sie haben Großes geleistet. Das will ich an dieser Stelle noch einmal ausführen. ({4}) Jetzt beginnt eine Zeit der Kontrollen. Das ist in Ordnung so. Das muss auch so sein. All das, was schnell geleistet worden ist, muss auch überprüft werden. Meine Kollegin Daniela Kolbe geht noch einmal darauf ein. Dann können Sie von den Linken noch einmal hören, was wir alles gemacht haben. Hoffentlich haben Sie das nächste Woche nicht wieder vergessen. Joe Weingarten geht auf die wirtschaftliche Situation ein; denn wir sorgen nicht nur dafür, dass Menschen durch Kurzarbeit nicht arbeitslos werden, sondern wir sorgen dafür, dass sie die Arbeit von morgen machen können: mit Qualifizierung, mit Weiterbildung, mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz. Das ist wichtig. Das ist eine Investition in die Zukunft. ({5}) Da lohnt sich jeder Cent Steuergeld, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort erhält Matthias Nölke von der FDP-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wichtig, über Kurzarbeit und Kurzarbeitergeld zu sprechen, und es ist wichtig, sich zu fragen, wie wir Menschen aus diesen existenziellen Problemen herausbekommen, insbesondere dort, wo Kurzarbeit und niedrige Löhne zusammenkommen. Wir als Freie Demokraten haben das Kurzarbeitergeld von Anfang an unterstützt. Es ist ein erfolgreiches Instrument in der Krise. Bei den Beratungen zur Verlängerung der Kurzarbeit haben wir ausdrücklich darauf hingewiesen: Nicht die Dauer des Bezuges von Kurzarbeitergeld, sondern die Einkommenshöhe muss entscheidend sein. Wer wenig hat, ist mit dem GroKo-Modell, gerade zu Beginn der Kurzarbeit, mit existenziellen Problemen konfrontiert. Die GroKo hat sich aber leider für diesen Weg entschieden. Deshalb müssen wir nun in die Zukunft blicken. Heute ist es wichtig, endlich allen Menschen zu helfen. Noch immer gibt es keine wirkliche Hilfe für Selbstständige, die keine Angestellten haben. ({0}) Wir Freie Demokraten setzen uns von Anfang an dafür ein, auch den Selbstständigen zu helfen. Wir brauchen endlich ein verlässliches und unbürokratisches Hilfsprogramm, das während der Pandemie für eine angemessene Absicherung für Selbstständige sorgt, und zwar jenseits des Arbeitslosengeldes II. ({1}) Dafür setzen wir uns ein. Der Antrag der Linken ist zudem nicht ausgereift. Der Antrag spart wichtige Fragen einfach aus. Was ist zum Beispiel mit Teilzeitbeschäftigten? Ihr Antrag führt zu enormen Ungerechtigkeiten, wenn Teilzeitbeschäftigte mehr Kurzarbeitergeld erhielten als bei regulärer Arbeit oder mehr Geld als ihre arbeitenden Kollegen. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag ab. ({2}) Was wir brauchen, sind Rahmenbedingungen, um die Menschen wieder raus aus der Kurzarbeit zu holen. Wir brauchen Impulse für neues Jobwachstum, wir brauchen steuerliche Entlastung bei Investitionen; denn für unser Land sind Kurzarbeit und Schuldenwirtschaft keine Lösung. ({3}) Und deshalb werden auch die Grünen unserem Anspruch nicht gerecht; denn sie fordern die Bundesregierung auf, einen Stufenplan vorzulegen – die Bundesregierung, die seit Monaten keinen Plan mehr hat. Das ist nicht unser Verständnis von parlamentarischer Verantwortung. Seriöse Oppositionsarbeit wäre es gewesen, einen eigenen Stufenplan vorzulegen. ({4}) So haben wir es gemacht; denn wir meinen es ernst. ({5}) Wir haben einen Sieben-Stufen-Plan mit klaren Wenn-dann-Regeln vorgelegt, der einen Weg aus dem Lockdown und damit auch aus der Kurzarbeit weist. Wir sprechen darüber, wie wir die Kurzarbeit beenden; denn das hilft den Menschen wirklich. ({6}) Wir helfen den Menschen nicht, indem wir nur über das Verteilen reden. Wir helfen ihnen, indem wir ihnen ihre Arbeit zurückgeben. Wir Freie Demokraten wollen eine Perspektive schaffen für alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land; denn unser Land braucht jetzt eine Perspektive, eine Perspektive raus aus der Kurzarbeit. Diese Perspektive gibt es nur mit den Freien Demokraten. Holen wir das Land aus der Kurzarbeit! Das muss das Ziel sein. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Katharina Dröge von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken hat im Kern ein sehr berechtigtes Anliegen. Wenn der Staat große Konzerne in der Krise mit massivem Einsatz von Steuergeld unterstützt und damit so ins Risiko geht, dann muss das auch mit Bedingungen verbunden sein. Wir haben das beispielsweise bei der Beteiligung an der Lufthansa oder bei TUI gefordert. Eine solche Hilfe muss mit Auflagen für den Klimaschutz verbunden sein, aber natürlich auch mit Auflagen zur Beschäftigungssicherung. ({0}) Und selbstverständlich müssen staatliche Hilfen auch daran gebunden sein, dass Unternehmen, die in der Krise Hilfen des Staates in Anspruch nehmen, sich auch selber daran beteiligen. Deswegen ist es total wichtig, dass diese Unternehmen dann auch auf Dividendenzahlungen und hohe Zahlungen von Boni an Manager verzichten. ({1}) Ich kann es absolut verstehen, dass man es unverständlich findet – ich teile diese Kritik –, wenn Konzerne Leistungen wie das Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen und gleichzeitig hohe Dividenden ausschütten. Das alleine ist gesellschaftlich so massiv unsensibel, dass man nur sagen kann: Da sollten Leiter von großen Konzernen auch ihre gesellschaftliche Verantwortung im Blick haben. ({2}) Auf der anderen Seite ist der Antrag der Linken leider so unspezifisch oder vielleicht auch einfach nur bisschen kurz geraten, dass wir uns enthalten müssen, weil Sie leider nicht zwischen großen und kleinen Unternehmen differenzieren. Das wäre schon notwendig gewesen. Wenn Sie die Zahlung des Kurzarbeitergeldes beispielsweise an ein Kündigungsverbot knüpfen und das auch auf Kleinunternehmen beziehen – das haben Sie in dem Antrag leider nicht differenziert –, dann geht das so nicht, weil diese Krise momentan so tief und so hart ist. Manchen Unternehmen steht das Wasser so sehr bis zum Hals, dass es vielleicht sein kann, dass sie nicht auf Kündigungen verzichten können, weil sonst die wirtschaftliche Existenz des gesamten Unternehmens in Gefahr ist. Da müssen wir differenziert hinschauen, und das tun Sie leider nicht. ({3}) Diesen Unternehmen kann man helfen. Das wäre auch unser Job als Bundestag gewesen. Denen kann man helfen, wenn man Wirtschaftshilfen in der Krise macht, die wirklich helfen. Das haben Peter Altmaier und Olaf Scholz im Duett im letzten Jahr komplett versemmelt; so hart muss man das sagen. Wir haben Wirtschaftshilfen gehabt, die so kompliziert waren, dass selbst Steuerberater sie nicht mehr verstanden haben. Wir haben Wirtschaftshilfen, die so sehr vor Missbrauch schützen sollten, dass sie am Ende niemand mehr beantragt hat, weil sie keiner mehr verstanden hat, und sie bei keinem angekommen sind. Es kann nicht Sinn guten staatlichen Handelns sein, dass man sich zu Tode bürokratisiert und am Ende die Unternehmen im Regen stehen lässt. ({4}) Deshalb haben wir jetzt noch einmal Vorschläge gemacht, wie die Überbrückungshilfe III verbessert werden muss. Unternehmen, die seit Monaten 0 Euro Einnahmen haben, können jetzt nicht nur mit Hilfen in Höhe von 90 Prozent der Fixkosten unterstützt werden. Wer keine Einnahmen hat, der kann auch 10 Prozent Fixkosten nicht mehr zahlen. Ich verstehe nicht – wir haben das seit Monaten beantragt –, warum Sie diesen kleinen Schritt nicht noch gehen, der aber für Unternehmen manchmal die wirtschaftliche Existenz bedeuten kann. ({5}) Wenn Sie die Unternehmen mit den Wirtschaftshilfen schon so lange hingehalten haben und Sie es jetzt endlich, Mitte Februar, geschafft haben, die schnellen, vorgezogenen Soforthilfen für Dezember beantragen zu lassen, warum gehen Sie dann in den Abschlagszahlungen nicht wenigstens pragmatisch und unbürokratisch hoch auf 75 Prozent, damit wenigstens mal wieder Geld auf den Konten der Unternehmen ist? Das wäre wirklich krisengerechtes Handeln gewesen. ({6}) Peter Altmaier und Olaf Scholz haben sich sehr toxisch in den letzten Monaten gegenseitig blockiert bei wichtigen und relevanten Hilfsmaßnahmen. Wir haben jetzt ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, mit dem man zuversichtlich in die Zukunft schauen kann, mit dem man wirklich helfen kann. Geben Sie sich einen Ruck: Bessern Sie endlich vernünftig nach! ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort hat Jana Schimke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, nach einem Jahr Corona und mehrfachen Lockdowns sollten wir uns gut überlegen, wofür wir Geld ausgeben, wo wir soziale Unterstützung leisten, und vor allen Dingen, wie wir mit den Beitragsgeldern der Versicherten in diesem Land umgehen. Wenn eines klar ist – das habe ich bereits in der ersten Debatte zum Thema Mindestkurzarbeitergeld hier in dieser Runde deutlich gemacht –, dann das, dass gerade die Coronakrise gezeigt hat, dass unser Sozialstaat funktioniert. Wir haben inzwischen in der letzten Sitzungswoche das dritte Sozialschutzpaket auf den Weg gebracht. Wir haben Bedürftigen, wir haben Menschen, die Hartz-IV-Leistungen beziehen, mehrere Einmalzahlungen zukommen lassen für Kinder, aber auch für Hartz-IV-Empfänger selbst. Wir haben den erleichterten Zugang zu Hartz IV geschaffen, der insbesondere für die vielen Selbstständigen in unserem Land gedacht ist, die zurzeit keine Einkünfte erzielen. Die Geltungsdauer für diesen leichteren Zugang haben wir noch einmal verlängert. Was mir besonders gut gefällt – das ist nicht Gegenstand des Sozialschutzpaketes, aber eine ganz wichtige Maßnahme unserer Bundesagentur für Arbeit –, ist, dass Bedürftigen dort noch einmal 350 Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, um Kindern beispielsweise ein Tablet zu besorgen, um das Homeschooling gewuppt zu bekommen. Also, es ist eine Menge passiert in den letzten Monaten, auch an sozialen Leistungen. Ich glaube, wir haben sehr gut deutlich gemacht, dass wir Sozialpolitik können, meine Damen und Herren. ({0}) Man darf an dieser Stelle auch eines sagen – weil es beim Thema Mindestkurzarbeitergeld um Menschen mit geringem Einkommen geht; ich habe damals schon darauf hingewiesen –: Unser Sozialstaat funktioniert auch hier. Denn jemand, der in die Bedürftigkeit gerät, tut das, was alle anderen Menschen in diesem Land auch tun, die bedürftig sind: Der geht zum Sozialamt und beantragt dort Leistungen. ({1}) Niemand sagt, dass das angenehm ist, niemand sagt, dass das schön ist. Aber in diesem Fall, wo Ihr Vorschlag mit einem Mindestkurzarbeitergeld ansetzen soll, haben wir die klassische Aufstockung. Jeder Mensch, der bedürftig ist, der in diese Situation gerät, kann das in Anspruch nehmen. Wir haben uns bei der Ausgestaltung des Kurzarbeitergeldes etwas gedacht, das in den ersten Monaten auf 60 bzw. 67 Prozent begrenzt ist; später steigt es, zum Anfang hat es aber diese Höhe. Das hat den einfachen Grund, dass sich auch die Leistungen zum Arbeitslosengeld I an derselben Höhe orientieren. Wir haben die Diskussion schon vor einigen Wochen hier im Plenum geführt: Ich halte es für schwierig, dass wir immer wieder mit einem sozialpolitischen Wunschkonzert darauf hinsteuern, dass wir bedürftige Gruppen gegeneinander ausspielen. ({2}) Sie suchen sich jetzt die Gruppe der Beschäftigten und sagen: „Die müssen viel mehr Kurzarbeitergeld bekommen“, ({3}) und letztendlich ist das genauso eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosengeld I; aber ein Arbeitslosengeld-I-Empfänger bekommt eben nur 60 bzw. 67 Prozent. ({4}) Meine Damen und Herren, ich bin dagegen, dass wir ein Zweiklassensozialrecht schaffen. ({5}) Ich verstehe gar nicht, warum Sie alle immer eine solche Angst vor einheitlichen Standards haben. Das ist doch das, was Sozialpolitik erklärbar, logisch und nachvollziehbar macht. Warum sollen wir denn für unterschiedliche Gruppen immer unterschiedliche Messwerte und Größen hier in diesem Hause verabschieden? Das halte ich schlichtweg nicht für nachvollziehbar. ({6}) Damit machen wir uns angreifbar, und das ist auch keine glaubwürdige Sozialpolitik, meine Damen und Herren. ({7}) An letzter Stelle möchte ich noch an eines erinnern: Douglas wird in den nächsten Wochen und Monaten 60 Filialen schließen, der Friseur Klier 315, das Modegeschäft Pimkie: 29 Filialen weniger. DER Reisebüro verabschiedet sich von 40 Filialen, und da ist H&M mit 14 Filialen weniger vielleicht noch das kleine Schlusslicht. Aber was sagt uns das, meine Damen und Herren? Wenn sich die Nebelwolke der Coronaförderpolitik mal verzogen hat aus diesem Land, dann werden wir sehen, wo die Notwendigkeiten der künftigen Monate tatsächlich liegen werden, ({8}) nämlich bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, bei der Unterstützung von Menschen, die tatsächlich in Arbeitslosigkeit geraten. Ich kann nur davor warnen, mit Vorschlägen wie einem Mindestkurzarbeitergeld alles noch komplizierter zu machen, natürlich auch für die Menschen, die das auf den Weg bringen müssen, die das bewilligen müssen. Das Kurzarbeitergeld stammt aus Beitragsgeldern. Das sind Gelder von den Versicherten in diesem Land. Das sind Beitragsgelder von Menschen, die noch in Lohn und Brot stehen. 26 Milliarden Euro der Bundesagentur für Arbeit sind bereits aufgebraucht. Wovon wollen Sie das denn bitte alles bezahlen? Und noch etwas: Ich finde, das Kurzarbeitergeld – das ist doch die Aufgabe vom KuG – soll vor Arbeitslosigkeit schützen und nicht einen Lebensstandard subventionieren. ({9}) Dessen müssen wir uns doch hier in diesem Hause durchaus einmal bewusst sein. Lassen Sie uns das Wesentliche im Blick behalten! Lassen Sie uns die Prioritäten richtig setzen, damit unser Land mit halb so gutem Schwung, wie wir ihn bisher hatten, weitermachen kann, wenn wir das Virus in den Griff bekommen haben. Vielen Dank. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Martin Sichert von der AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Staat verursacht massive Schäden an Unternehmen, und den Linken fällt nichts Besseres ein, als die Entschädigung für Unternehmen an Bedingungen zu knüpfen. Noch gilt das Grundgesetz, ({0}) auch wenn viele von Ihnen versuchen, das unzulässigerweise durch das Infektionsschutzgesetz auszuhebeln. ({1}) Die Bürger haben Grundrechte; dazu gehören auch das Recht auf Eigentum und das Recht auf freie Berufswahl. Diese Grundrechte wurden durch den Lockdown zerstört. ({2}) Anstatt dass die Opposition gemeinsam darauf drängt, dass die Menschen wieder ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Einkommen erwirtschaften können, fällt Grünen und Linken nur ein, über Entschädigungen zu diskutieren. Die hier vorliegenden Anträge machen einmal mehr deutlich, dass Sie sozialistisch-autokratisch denken. Wir als AfD hingegen sind eine freiheitlich-demokratische Partei. ({3}) Egal wie sehr Sie uns attackieren, wir werden die Freiheit und die Demokratie in Deutschland verteidigen. ({4}) Die Fakten aus anderen Ländern beweisen uns, dass es komplett anders geht. Die Schweden, die ihre Bürger nicht gegängelt haben, sondern leben und arbeiten ließen, ({5}) sind nicht schlechter durch den Winter gekommen als wir. Denken wir freiheitlich statt sozialistisch. Geben wir den Menschen ihr Leben wieder, und kümmern wir uns um die Risikogruppen. ({6}) Der Chef des RKI hat verkündet, dass über die Hälfte der Fälle auf den Intensivstationen Muslime sind. ({7}) Es sind nicht Migranten das Problem, sondern die Parallelgesellschaften, die mit der deutschen Sprache und deutschen Tugenden nichts anfangen können. Corona beweist einmal mehr: Multikulti ist krachend gescheitert! ({8}) Das zeigen die Daten des RKI übrigens schon vor dem Lockdown. Im letzten Herbst war bekannt, dass sich in Asylbewerberheimen mehr als doppelt so viele Menschen anstecken wie in Schulen, Gastronomie und Hotellerie zusammen. ({9}) Anstatt dass Sie zielgerichtet vorgehen mit Aufklärungskampagnen und die Asylbewerberheime leeren durch konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, gängeln Sie lieber 83 Millionen Menschen und legen das ganze Land still. ({10}) Das Problem ist – das erleben wir gerade auch wieder, nämlich das Geschrei von links –, dass Sie von der Union und von der SPD vor dem absurden Rassismusvorwurf von ein paar linken Verrückten mehr Angst haben als davor, was passiert, wenn Sie die Augen vor den realen Problemen verschließen. ({11}) Statt echte Ursachen anzugehen, verscheucht der Staat nun friedliche Bürger von Parkbänken, jagt Jugendliche durch Parks und stürmt Kochabende von zwei Freunden. Die Regierung nutzt den Lockdown, um sich den Staat zur Beute zu machen. Dazu konnte es nur kommen, weil das Parlament als Kontrollinstrument versagt hat. Sie von der Union sind keine Demokraten, sondern Karrieristen, die alles abnicken, was von oben vorgegeben wird, weil Sie Angst haben, sonst bei der nächsten Wahl einfach nicht mehr aufgestellt zu werden. Und anstatt die Regierung zu kontrollieren, nutzt Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender die Lockdown-Politik lieber, um sich zu bereichern. Die SPD freut sich, weil Lauterbach, der noch nicht mal im Gesundheitsausschuss sitzt, nun im Fernsehen von Talkshow zu Talkshow tingelt. Die Grünen machen alles mit in der Hoffnung auf eine schwarz-grüne Koalition. Die Linken denken sich: „Genial, noch mehr Sozialismus“ und versuchen, immer noch einen obendrauf zu setzen. Und die FDP? Die hat eine große Klappe; aber immer, wenn es darum geht, wirklich Farbe zu bekennen, dann sind Sie leider unauffindbar. ({12}) Meine Damen und Herren, finden Sie endlich Ihr Gewissen wieder, und kommen wir gemeinsam unserem Auftrag nach, die Regierung zu kontrollieren! Lassen Sie uns den Lockdown beenden! Geben wir den Menschen die Freiheit und ihr Leben zurück! Dann brauchen wir hier gar nicht erst darüber zu diskutieren, wie Entschädigungen ausgestaltet werden sollen. Herzlichen Dank. ({13})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter Sichert, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass, solange keine Beweise für eine Bereicherung eines Abgeordneten vorliegen, noch immer die Unschuldsvermutung gilt. Das möchte ich an dieser Stelle gesagt haben. Bitte lassen Sie solche Bemerkungen in einer Rede in Zukunft sein. ({0}) Ich gebe das Wort an Dr. Joe Weingarten von der SPD-Fraktion. ({1})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns wieder aus den Wolken der Vermutungen und Vorurteile zu den Fakten zurückkommen. ({0}) Die Coronapandemie ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen nach dem Krieg. Sie fordert auch unser Wirtschaftssystem und unsere Wirtschaftsförderung in nie gekanntem Umfang. Wenn wir heute dazu eine Zwischenbilanz ziehen, können wir konstatieren: Es ist natürlich nicht alles richtig gemacht worden. Manches kam zu spät, manches war zu zaghaft, auch aus dem Wirtschaftsministerium. Aber im Kern haben wir gemeinsam die Aufgabe erfüllt. Die deutsche Wirtschaft ist in einigen Bereichen sehr angeschlagen, aber sie hat überlebt. Millionen gefährdeter Arbeitsplätze wurden erhalten, Zehntausende Unternehmen stabilisiert. Das ist ein nicht selbstverständlicher Erfolg. ({1}) Wir reden hier über eine hochkomplexe Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, in der quasi über Nacht Arbeitskräfte, Kunden, ihre nationalen und internationalen Kontakte und Zulieferer durch die Pandemie voneinander isoliert wurden. Politik kann das nicht alles ungeschehen machen. Aber sie kann die größten Lücken schließen, Hilfen geben und Hoffnung vermitteln, und das haben wir getan. ({2}) Die Soforthilfen – Überbrückungshilfen I und II, November- und Dezemberhilfe, Überbrückungshilfe III und jetzt das Neustartprogramm – sind eine große Aufgabe, in der sich unser föderaler Staat bewährt hat – nicht immer strahlend, aber effizient und zielorientiert, vor allen Dingen auch im internationalen Vergleich. Das ist auch das Ergebnis einer stetigen Maßnahmenkritik nach jeder Förderrunde. Zielgruppen wurden präzisiert, Hilfen angepasst, Verfahren vereinfacht und – nicht trivial – das Ganze eingefügt in das komplizierte europäische Beihilferecht. So ist ein differenziertes Fördersystem entstanden, in dem bislang über 110 Milliarden Euro in die Unternehmen und an die Beschäftigten geflossen sind, allein 25 Milliarden Euro über die heute diskutierten Unternehmenshilfen. ({3}) Nicht jede Hilfe kam unmittelbar. Es gab Lernprozesse. Aber es ist eine völlige Überzeichnung, zu behaupten, dass noch heute in großer Zahl Rückstände bestünden. Aus den rund 660 000 Anträgen der November- und Dezemberhilfe sind rund 96 Prozent der Abschlagszahlungen ausgezahlt. Ähnlich bei den Abschlussprüfungen in den Bundesländern: In meinem Bundesland Rheinland-Pfalz liegen die Abschlusszahlungen auch bei einer Quote von deutlich über 90 Prozent. Das kommt vor allen Dingen mittelständischen Unternehmen zugute. ({4}) Wir müssen konstatieren: Dort, wo es klemmt, liegt das Problem zum Teil auch bei unvollständigen Anträgen, bei widersprüchlichen Angaben oder schlicht mangelnder Förderfähigkeit, und da lohnt es sich, jedem einzelnen Antrag nachzugehen und zu helfen. Ich mache das in meinem Wahlkreis auch. Aber: Trotz erfolgreicher Förderung ist für viele Unternehmen aus Gastronomie und Hotellerie, aus dem Einzelhandel, aus dem Kultur- und Veranstaltungsbereich, bei den Schaustellern oder bei den Soloselbstständigen die Not groß. Es stehen Existenzen auf dem Spiel. Deswegen brauchen wir eine Öffnungsstrategie für diese Unternehmen. Wir müssen die Fördermittel für sie natürlich auch weiterentwickeln, und das geschieht ja gerade. Die aktuellen Coronahilfen wurden noch einmal substanziell verbessert, um gerade mittelständischen Unternehmen und Selbstständigen zu helfen. Aber auch mit immer differenzierteren Hilfen lässt sich letztlich nicht jede Branche, nicht jedes Geschäftsmodell gerecht ansprechen. Deswegen ist es wichtig, einen Härtefallfonds von Bund und Ländern zu schaffen. Als sozialdemokratische Bundestagsfraktion achten wir darauf, dass dieser Fonds unbürokratisch und flexibel aufgebaut wird, um schnell und einfach zu helfen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sinnlos wäre es, die bislang beschlossenen Hilfen grundsätzlich zu kritisieren oder pauschal abzulehnen, wie das der Antrag der Grünen tut. Das hilft uns nicht weiter. Lassen Sie uns lieber diskutieren, wie wir in den nächsten Monaten den Übergang in normalere Verhältnisse organisieren, wie wir den Unternehmen helfen, wieder Tritt zu fassen und ihre Geschäftsmodelle neu aufzustellen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Dr. Marcel Klinge von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Monaten diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag in Dauerschleife über die Coronawirtschaftshilfen und kommen dabei nur in Trippelschritten voran. Dabei könnte das Ganze doch so einfach sein: Wer monatelang ganze Wirtschaftszweige lahmlegt – ich denke hier an den Handel, an die Reise- und Veranstaltungswirtschaft, an Schausteller, Hotels, Gastronomie und die dahinterstehende Food-Service-Industrie –, der muss genauso blitzschnell und unkompliziert helfen. ({0}) Doch genau diesen Anspruch erfüllt die Bundesregierung bislang nicht. Schwarz-Rot hangelt sich doch von einer Panne zur nächsten. Zehntausende Betriebe und Selbstständige haben die Novemberhilfen weiterhin nicht auf ihrem Konto. Ich frage Sie: Warum muss das eigentlich alles so kompliziert sein? Warum führen Sie immer neue Kriterien ein, die am Ende überhaupt keiner mehr versteht? ({1}) Zunächst waren es die Fixkosten, dann war es der Umsatz, dann waren es die ungedeckten Fixkosten. Dazu verlangt der Wirtschaftsstabilisierungsfonds auch noch Wucherzinsen. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht doch alles viel einfacher: Wir Freie Demokraten schlagen vor, die Hilfen direkt über die Finanzämter auszuzahlen und den Rückgang des Betriebsergebnisses als Grundlage für alle Unterstützungszahlungen zu nehmen, Stichwort „Kieler Modell“. ({2}) Mit diesem Vorschlag helfen wir nicht nur schnell und unkompliziert – denn jeder Tag zählt für die Betroffenen –, sondern wir verhindern damit auch die Diskriminierung bestimmter Branchen, Rechtsformen und Unternehmensgrößen. Als Sprecher für Tourismus möchte ich heute an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass eine kluge Pandemiehilfe eben nicht immer was mit Geld zu tun haben muss. Folgende zwei Punkte sind ähnlich wichtig: Erstens. Wir brauchen eine verlässliche und klare Öffnungsperspektive, und das bitte für die gesamte Tourismuswirtschaft. Dazu habe ich im Papier der Ministerpräsidentenkonferenz nichts gelesen. Eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen in Deutschland wird von Ihnen konsequent ignoriert. Damit sind wir Freie Demokraten nicht einverstanden. ({3}) Wenn wir möchten, dass das Ostergeschäft in diesem Jahr für die Betroffenen und für viele Familien eben nicht ins Wasser fällt, dann muss diese Woche noch ein ganz klares Signal von Ihnen kommen. Wenn nichts passiert, wird man über Ostern in den Urlaub nach Mallorca fliegen, aber nicht in die Ferienwohnung an der Ostsee fahren können. Das ist kein gutes Krisenmanagement. ({4}) Zweitens. Meine Damen und Herren, pfeifen Sie doch endlich mal den Altmaier und den Söder zurück! Also, was die in den vergangenen Wochen, ohne sich groß einen Kopf zu machen, zum Thema Reisen gesagt haben, hat unglaublich viele Menschen verunsichert und eine ganze Wirtschaftsbranche demoralisiert. ({5}) Dabei, meine Damen und Herren, ist Reisen doch nicht per se das Problem. Am Ende des Tages ist es doch das Verhalten der Menschen. Im letzten Sommer haben wir doch gesehen, dass mehr Urlaub eben nicht bedeutet, dass die Pandemiezahlen insgesamt steigen. Hören Sie also bitte auf, Reisen schlechtzureden. Das ist unfair und nicht in Ordnung. ({6}) Lassen Sie uns endlich nach vorne schauen und darüber sprechen, was in diesem Jahr noch möglich ist! Dazu brauchen wir endlich eine klare Öffnungsperspektive für die Branche. 3 Millionen Beschäftigte im Tourismus warten darauf, dass es endlich wieder losgeht. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurzarbeitergeld und Wirtschaftshilfen werden in dem Antrag der Linken in einem Atemzug genannt; das ist aber nicht das Gleiche. Beim Kurzarbeitergeld muss man außerdem differenzieren; denn es sind Beitragsmittel. Kollege Rützel hat das eben beschrieben: Es dient vor allem dazu, Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das ist in dieser Krise auch gut gelungen. Aber: Nicht nur das Kurzarbeitergeld wird ausgezahlt; vielmehr werden auch die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber in dieser Krise mit ausgezahlt. Das heißt, das Kurzarbeitergeld ist auch eine Unterstützung für die Wirtschaft, und deswegen müssen wir genau prüfen, ob Missbrauch stattfindet. Missbrauch ist an dieser Stelle nicht akzeptabel. ({0}) Es ist nicht akzeptabel, wenn Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten reduzieren, Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen, dann Überstunden machen lassen, sodass die Beschäftigten das Gleiche arbeiten, und das Ganze noch vom Staat subventioniert wird. Das geht nicht! ({1}) Es geht auch nicht, dass zur Arbeitszeitreduzierung Krankentage oder Urlaubstage verwendet werden. Auch das ist klarer Missbrauch; das müssen wir verhindern. Und es geht auch nicht, dass das Kurzarbeitergeld dazu verwendet wird, Boni und Dividenden zu erhöhen, wie das jetzt bei Daimler passiert ist. Auch da müssen wir klar sagen: Das geht so nicht! ({2}) Die Linken haben einen zweiten Antrag zur Einführung eines Mindestkurzarbeitergelds vorgelegt. Den haben wir in der letzten Sitzungswoche in erster Lesung beraten; diese Woche hatten wir dazu eine Anhörung im Ausschuss und haben darüber diskutiert. Ich würde Sie alle dringend bitten, diesem Antrag zuzustimmen; denn er ist wichtig. ({3}) Viele Menschen beziehen in dieser Krise Kurzarbeitergeld. Die Kurzarbeit ist diesmal anders: Es gibt ganz viele Menschen, die gar nicht oder ganz wenig arbeiten. Dann reicht das Kurzarbeitergeld, so wie es jetzt konstruiert ist, nicht aus. Dafür brauchen wir eine Lösung. ({4}) Wenn man wie SPD und Union – wie Frau Schimke eben wieder – auf das Arbeitslosengeld II verweist, dann ist es zwar formal richtig, dass die Kurzarbeitenden darauf Anspruch haben; aber sie beziehen es nicht, da Hartz IV trotz der Zugangserleichterung enorm abschreckend ist. Die bürokratischen Hürden sind immer noch zu hoch. Deswegen müssen wir da andere Lösungen überlegen. ({5}) Das gilt ja nicht nur für die Kurzarbeitenden, sondern auch für die Künstlerinnen und Künstler, für die Soloselbstständigen; auch da versagt die Bundesregierung. Aber bei den Kurzarbeitenden braucht es eine Lösung, damit das Existenzminimum abgesichert ist. Ich habe mich ja gefreut, dass die Expertinnen und Experten in der Ausschussanhörung gesagt haben, dass der grüne Vorschlag, den wir letztes Jahr vorgelegt haben, eigentlich noch besser sei. Das nützt den Menschen jetzt aber auch nicht. Der Vorschlag der Linken, der auf einem Vorschlag von NGG und Verdi beruht, den wir Grünen auch unterstützt haben, ist gut. Stimmen Sie dem zu! Und wenn Sie dem nicht zustimmen, wovon ich leider ausgehen muss, dann sorgen Sie für eine Lösung für die Menschen, die kurzarbeiten und die zu wenig Geld haben, damit das Existenzminimum abgesichert ist. Vielen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren Anträge von Linken und Grünen. Diese Anträge zeigen deutlich den Zustand der beiden Parteien: Die Linke ist rückwärtsgewandt und sozialistisch. Die Grünen wissen zum einen nicht, was sie wollen, und zum anderen kommen sie zu spät. Beides, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann in dieser schwierigen Phase unser Land nicht gebrauchen. Mehr denn je kommt es jetzt auf den Blick in die Zukunft an, auf Perspektiven und auf Verlässlichkeit in der Politik. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie lassen diesen verantwortungsvollen Blick leider schmerzlich vermissen, wie die Anhörung zu Ihrem Vorschlag für ein Mindest-Kurzarbeitergeld in dieser Woche deutlich gemacht hat. Ihr Antrag ist erstens unsozial und ungerecht, ({1}) zeigt zweitens Ihre sozialistischen Umverteilungsutopien und widerspricht drittens dem Äquivalenzprinzip. Das, sehr geehrte Frau Ferschl, trifft auch auf den anderen Antrag, den Sie heute diskutieren wollen, zu. Allein der Titel „Steuergelder gegen Missbrauch durch Konzerne schützen“ verdeutlicht den Populismus, den Sie heute auf die Tagesordnung setzen, und Ihre Rede, Frau Ferschl, toppt das noch. Sie haben BMW angesprochen. ({2}) – Nix „ja, und?“. – Ich bin Wahlkreisabgeordneter. In meinem Wahlkreis arbeiten 10 000 Menschen bei BMW. Im Großraum Regensburg arbeiten über 60 000 in der Automobilindustrie; sie haben gut verdient, auch in dieser Krise. Wenn Sie die Automobilindustrie schlechtreden, dann, glaube ich, zeigt das auch Ihre Sicht auf die Dinge. ({3}) Es geht auch um Unternehmen. Wir sollten gut aufpassen, dass wir mit ihnen nicht so umgehen wie Sie. ({4}) Es geht um Grundprinzipien, auch der sozialen Marktwirtschaft. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, haben diese Grundprinzipien nicht verstanden. Deshalb lehnen wir Ihre beiden Anträge ab. ({5}) Nun zu den Kolleginnen und Kollegen der Grünen. Es ist wirklich schade, dass Sie das wichtige Thema „Mehr Sicherheit für Beschäftigte im Wandel“ von der Tagesordnung genommen haben. Ich habe mich gestern sehr intensiv auf diesen Antrag vorbereitet. Über Nacht kam dann der Antrag zu Wirtschaftshilfen, über den wir jetzt reden. ({6}) – Ja, ich glaube, Sie wissen selber nicht, was Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das ist bezeichnend und zeigt, glaube ich, ein bisschen auch den Zustand der Partei. Sie fordern in Ihren Anträgen Stufenpläne, Transparenz und Verlässlichkeit. Ich glaube, Sie haben nicht gelesen, was gestern Abend beschlossen worden ist. Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten haben sehr sorgfältig einen Plan ausgearbeitet, wie wir aus dieser Krise kommen sollen, und der Öffentlichkeit vorgestellt. In diesen Punkten hat sich Ihr Antrag zu den Wirtschaftshilfen also erledigt. Zu Ihrer Kritik. Ja, es hat nicht alles auf Anhieb geklappt; da haben Sie recht. Das sehen wir auch. Ja, es gibt noch Härten, zum Beispiel im Einzelhandel, und ungelöste Fälle, beispielsweise die Brauereigasthöfe. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegensatz zu Ihnen und zu Ihren Anträgen, die viel zu spät gekommen sind, arbeiten wir seit Monaten Tag für Tag daran, diese schwierigen Situationen abzufedern. Deswegen sind wir in der Regierung und Sie in der Opposition. Wir lehnen Ihren Antrag ab.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Aumer, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage von der Kollegin Dröge, Bündnis 90/Die Grünen?

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin eigentlich schon fertig, aber wenn sie möchte, gerne.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Aumer, Sie sagen, unser Antrag komme so kurzfristig, wir hätten ihn zur Debatte dazugestellt. Das macht man im parlamentarischen Verfahren so. Aber mit der Sache haben Sie sich recht wenig auseinandergesetzt. ({0}) Deswegen würde ich Sie gerne zu den Wirtschaftshilfen und der Debatte in der Vergangenheit fragen: Nehmen Sie wahr, dass wir, die FDP und auch die Linken schon seit dem Sommer Vorschläge machen, wie die Wirtschaftshilfen verbessert werden könnten? Zum Beispiel steht die Ausweitung des Verlustrücktrags in unserem Antrag; dazu haben Sie gar nichts gesagt. Wir fordern seit dem Sommer die Aufstockung der Hilfen auf 100 Prozent; dazu haben Sie gar nichts gesagt. Auch zu der Höhe der Abschlagszahlung haben Sie gar nichts gesagt. Das sind Vorschläge, die wir seit dem Sommer gemacht und zumindest im Wirtschaftsausschuss debattiert haben. Ich finde, wenn man sagt: „Ich bin jemand, der die Wirtschaft vertritt“ – und das haben Sie in Ihrer Rede für sich in Anspruch genommen –, dann müssen Sie auch etwas zu den Wirtschaftshilfen in der Sache sagen können. ({1})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Dröge, ich habe versucht, die Anträge, über die wir zu diesem Tagesordnungspunkt diskutieren, zu beleuchten. Sie haben ursprünglich einen anderen Antrag eingebracht. ({0}) Also, bei mir zumindest stand ein Antrag zum Thema Qualifizierungskurzarbeit auf der Tagesordnung. Ich weiß nicht, ob wir dieselbe Tagesordnung haben. ({1}) Selbstverständlich habe ich zu dem Punkt Wirtschaftshilfen etwas gesagt. Ich habe gesagt: Wir sind in vielen Bereichen nicht ganz optimal aufgestellt gewesen. Aber wir haben nachgebessert, Punkt für Punkt. Ich war in meinem Wahlkreis unterwegs, bei vielen Einzelhändlern, bei Friseuren, bei Demonstrationen von Friseuren, bei fast allen, die in dieser schwierigen Phase betroffen sind. Ich weiß um die Schwierigkeit in dem Bereich. Es ist natürlich einfach, in der Opposition weniger Bürokratie und viele andere Dinge zu fordern. Ich bin gespannt, wie stark Sie uns unterstützen werden, wenn wir in diesem Haus über das Bürokratieabbaugesetz reden. Ich glaube, es gibt viele Dinge, die man besser hätte machen können. Aber wir haben in einer kurzen Zeit schnell reagieren müssen. Wir haben in einer kurzen Zeit ({2}) den Unternehmen, die ihr Geschäft nicht ausführen konnten, helfen müssen. ({3}) Das, denke ich mal, ist vielleicht nicht ganz optimal angelaufen. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer kämpfen heute noch damit, die Hilfen zu bekommen. Aber ich glaube, man muss der Regierung zugestehen: Wir kämpfen – ich habe Ihnen das vorhin schon gesagt – Tag für Tag ({4}) dafür, dass wir aus dieser schwierigen Phase gut rauskommen. Und deswegen sollten wir uns in diesem Hause zumindest bei diesen Themen gemeinschaftlich um einen Konsens bemühen und uns nicht mit dem Klein-Klein von Opposition und Regierung aufhalten. ({5}) – Ja. Deswegen: Helfen Sie mit, arbeiten Sie mit daran, Lösungen zu präsentieren. ({6}) Im Nachgang ist man immer schlauer. Wenn Sie sagen, dass Sie im Sommer Lösungen angeboten haben, dann erinnere ich daran: Wir mussten schon im März entscheiden, wie man den Unternehmen helfen kann, und wir haben das getan. Das ist verantwortungsvolles Regierungshandeln. Die Hilfen sind leider ({7}) in vielen Bereichen zu spät oder noch nicht angekommen. ({8}) Daran arbeiten wir. ({9}) Jetzt ist die große Herausforderung, dass wir den Unternehmen helfen, eine Zukunftsperspektive zu haben. Das muss ein gemeinsamer Auftrag in diesem Hause sein. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Daniela Kolbe von der SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegen Bernd Rützel und Joe Weingarten haben schon jede Menge Aspekte zu den vielen Anträgen angeführt, sodass ich mich jetzt auf das Mindestkurzarbeitergeld konzentrieren darf. Ich will zunächst einmal den Antragstellern für diese wichtige Debatte Danke sagen. Ich habe ja schon in der ersten Lesung prinzipiell Sympathie dafür gezeigt, dass wir uns anschauen, was eigentlich mit denjenigen ist, die gerade mit sehr, sehr wenig Geld auskommen müssen. Auch in der Anhörung ist herausgekommen, dass es mit dieser Wirtschaftskrise etwas Besonderes auf sich hat. Diesmal sind es nämlich nicht die exportorientierten, gut bezahlenden Branchen, die es besonders stark trifft, sondern tatsächlich Branchen im Niedriglohnbereich. Aber ich muss auch sagen: Der konkrete Vorschlag überzeugt uns immer noch nicht, auch und gerade nicht nach der Anhörung. ({0}) Dort ist nämlich noch mal deutlich geworden, dass die Vermischung des Beitragssystems mit dem Sozialsystem es in sich hat und davon eher abzuraten ist. Die BA hat darauf hingewiesen, mit was für einem zusätzlichen Bürokratieaufwand zu rechnen wäre, gerade wenn man das dann – das würde man ja sinnvollerweise machen – rückwirkend einführen würde. Enzo Weber hat auf die vielen Ungerechtigkeiten hingewiesen, die neu entstehen würden. Enzo Weber hat auch gesagt, was für Vorteile das hat. Er hat das, finde ich, sehr klug abgewogen. Schlussendlich hat er gesagt: Das ist abzuwägen. Wir kommen zu der Abwägung, dass uns der konkrete Vorschlag hier nicht überzeugt. Ich will aber hinzufügen, dass uns die konkrete Situation der Beschäftigten im Gastronomiebereich, wo ja nicht nur der Lohn, sondern auch Trinkgelder massiv wegbrechen, in der Kultur, wo das Gleiche gilt, bei Hotels und im Tourismus sehr nahe geht. Wir gucken uns das an. Wir denken das als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit, auch weit über die Pandemie hinaus, indem wir sagen: Wir brauchen da bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Tarifverträge, die allgemeinverbindlich gelten, und auch einen Mindestlohn, der deutlich über dem liegt, den wir jetzt haben. ({1}) Ich finde, die SPD hat auch über die Reform des Kurzarbeitergeldes bewiesen, dass wir an der richtigen Stelle kämpfen. Ich will noch mal sagen: Weder die Verlängerung noch die Vereinfachung noch die bessere Weiterbildung noch die Erhöhung beim Kurzarbeitergeld hätte es ohne die SPD und ohne Hubertus Heil gegeben, dem ich an der Stelle noch mal herzlich danke. ({2}) Manche sagen ja jetzt: „Das ist so toll“, auch beim Koalitionspartner. Ich muss jetzt aber, ehrlich gesagt, ein bisschen an die Geschichte der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes erinnern. Die SPD ist damals hingegangen und hat gesagt: Wir sehen es wie der DGB, wir wollen – das wäre am einfachsten administrierbar – eine befristete Anhebung des Kurzarbeitergeldes. – Danach gab es sehr viel Streit; der Fanklub beim Koalitionspartner war übersichtlich. Schlussendlich haben wir gekämpft wie die Löwen und haben es hinbekommen, dass ab dem vierten Monat 70 bzw. 77 Prozent und ab dem siebten Monat 80 bzw. 87 Prozent des Nettolohns gezahlt werden. Wir wissen, was das für eine Kraft gekostet hat, und ich muss sagen: Wir sind auch stolz darauf, dass wir diese Verbesserungen hinbekommen haben. ({3}) Insofern lassen wir uns gerne vorwerfen, dass das Kurzarbeitergeld nicht perfekt ist. Aber was wir uns sicher nicht vorwerfen lassen möchten – ich bitte aus Fairnessgründen darum, nicht so einen Anschein zu erwecken –, ist, dass nichts passiert wäre oder die SPD nicht an der richtigen Stelle kämpfen würde. Wir kämpfen wie die Löwen. ({4}) Ich will an der Stelle auch den BA-Mitarbeitenden danken. Über die Wirtschaftshilfen kann man an vielen Stellen streiten, was die Schnelligkeit angeht. Bei der BA meckert gerade niemand. ({5}) Die Beschäftigten dort machen einen Megajob und tun, was sie können, damit das Kurzarbeitergeld sofort ausgezahlt wird. Dafür einen Riesendank! Für Verbesserungen sind wir offen – ich glaube, da gibt es bei uns in der Sozialdemokratie einen Denkprozess –; aber Sie verzeihen uns, dass wir den konkreten Vorschlag heute hier ablehnen. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Marco Bülow, fraktionsloser Abgeordneter.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kurzarbeiter- oder Kurzarbeiterinnengeld ist nicht zu unterschätzen. Die Leistung, die dahintersteckt, wurde hier an verschiedensten Stellen gewürdigt. Das möchte ich unterstreichen, auch das, was Daniela Kolbe dazu gesagt hat. Trotzdem muss man natürlich darüber reden, wie es in Zukunft aussieht. Man muss darüber reden, wie viele Menschen das Kurzarbeitergeld schon so lange beziehen und wie sie in der nächsten Zeit über die Runden kommen. Und genau da geht einer dieser Anträge hin, für den ich sehr dankbar bin. Wir müssen auch über den Antrag der Linken reden, in dem sie noch mal deutlich machen, was mit bestimmten Staatsgeldern passiert. Und da sind Belehrungen, was Marktwirtschaft ist, fehl am Platz. Das Prinzip der Marktwirtschaft ist es eben nicht, dass Staatsgelder gezahlt werden und diese Staatsgelder dann genommen werden, um Boni oder Dividenden auszuschütten. Das zumindest ist nicht das Grundprinzip der Marktwirtschaft. ({0}) Deswegen müssen wir genau darüber diskutieren. Und da finde ich manche Kommentare zu den entsprechenden Anträgen und Bestimmungen schon anmaßend. Ich will hier aber einen Punkt in die Debatte einbringen, der eigentlich in der Debatte danach behandelt worden wäre; denn eigentlich war für heute eine Aktuelle Stunde zum Thema Lobbyismus beantragt. Es ist sehr unwürdig, wie dieses Haus wieder mit diesem Thema umgeht. Wir müssen über dieses Thema sprechen. Das wäre der aktuellen Lage angemessen. Wir sprechen hier über einen Minister, wir sprechen hier über einen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, wir sprechen hier über Lobbyismus, wir sprechen hier über Bestechung, und wir sprechen über das Vertrauen in die Politik. Und es kann nicht sein – wie damals schon im Sommer bei der Amthor-Debatte –, dass eine Aktuelle Stunde mal wieder verlegt wird auf eine Zeit, wo die Öffentlichkeit es nicht mitkriegt. Sie müssen es sich schon gefallen lassen, damit konfrontiert zu werden, was im Bereich Lobbyismus passiert, was einige hier anscheinend veranstalten. Genau darüber müssen wir reden. Und da rede ich noch nicht mal darüber – das muss an den Stellen, wo es notwendig ist, wirklich geprüft werden –, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, was verboten ist. Ich spreche vor allen Dingen über das, was hier erlaubt ist und was wir komplett ändern müssen. Nehmen wir doch mal den Fall – ob er jetzt fiktiv ist oder nicht –, dass ein Minister, eine Ministerin oder ein Abgeordneter während der Coronazeit eine Party feiert – schon das ist, wie ich finde, irgendwie ziemlich anmaßend – und dass das von einem ehemaligen Abgeordneten organisiert wird, der jetzt eine Lobby- oder PR-Agentur gegründet hat. Es wird darüber debattiert, was in Zukunft passiert, und dann wird dazu aufgerufen, Spenden in Höhe von 9 000 oder 9 900 Euro abzugeben, weil die ja nicht sofort veröffentlicht werden müssen. All das ist legal, und das darf es nicht sein. Wir brauchen für dieses Haus, für Abgeordnete, für Ministerinnen und Minister, Spielregeln. Wir brauchen einen Kodex, der regelt, was man darf und was man nicht darf, damit so was gar nicht erst in Verruf kommt. Dann müssten wir nämlich nicht darüber diskutieren, dann bräuchten wir keine Aktuelle Stunde, und dann müssten Sie sich das heute auch nicht anhören. Darum sollten wir uns in Zukunft kümmern, und wir sollten solche Debatten nicht wieder an den Rand drängen. Vielen Dank. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Peter Stein von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben auf eine historisch einzigartige Pandemiesituation reagieren müssen; es blieb uns auch nichts anderes übrig. Sehr viele sind sehr dankbar dafür, dass zu Beginn der Pandemie mit dem Prinzip Gießkanne agiert wurde. Das war richtig und wichtig. Jetzt ist es richtig, deutlich gezielter zu arbeiten. Das gelingt in vielen aufgelegten Programmen recht gut. Jetzt gilt es, an den Stellen nachzubessern, wo es nicht gut funktioniert hat. Das wird auch auf allen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – gemacht. Vieles muss wesentlich schneller und unbürokratischer erfolgen, als wir das gewohnt sind. Wir sollten den Kommunen dafür mehr Freiheiten geben. Das sind unsere Profis vor Ort, wenn es ums Detail geht. Wir Abgeordnete hier im Parlament haben gezeigt, wie schnell Demokratie sein kann, wenn es klemmt. Darauf sollten wir immer wieder hinweisen. Wir sollten stolz darauf sein, wie schnell wir agieren konnten. Die aktuellen Konjunkturdaten zeigen uns, dass wir bisher insgesamt gut durch die Krise gekommen sind, auch wegen der Hilfen des Bundes. Das Kurzarbeitergeld ist ein großer Teil dieser Erfolgsgeschichte. Sie von den Linken entwürdigen dies jetzt mit einem Antrag auf nur einer Seite mit im Grunde nur einem Satz. ({0}) Von Ihnen liegt kein Gesetzentwurf vor, und es gibt keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung oder zur genauen Ausgestaltung der Maßnahmen. Sie stellen lediglich die Systemfrage und reden von Konzernen, die natürlich wieder den Staat missbrauchen. Liebe linke Freunde, das sind Vorschläge aus der Mottenkiste und passen überhaupt nicht in eine Krisenlage. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, allein in meinem Wahlkreis habe ich seit dem zweiten Lockdown im November mit mehr als 150 Unternehmerinnen und Unternehmern gesprochen. Ich kenne deren Sorgen, die sehr unterschiedlich sind. Sehr viele sind gut durch die Zeit gekommen. Was die jetzt nicht brauchen, sind ausschließlich pauschale Forderungen nach bürokratischer Entlastung. Bei den gewaltigen Summen, die bereits geflossen sind und noch fließen werden, braucht es ein Mindestmaß an Regeln; das betont auch Ihr wahlkämpfender Ministerpräsident in Baden-Württemberg immer wieder. Wir müssen ganz klar noch genauer hinschauen. Wir brauchen mehr branchenspezifische und regional abgestufte Strategien. Wir brauchen auch Härtefalllösungen für die Bereiche der Wirtschaft, die in 2020 unverschuldet durchs Raster gefallen sind. Damit können auch soziale Härten abgefedert werden. Peter Altmaier hat einen Vorschlag gemacht. Nun sind die Bundesländer gefragt, in denen Sie von der Opposition nahezu überall mitregieren. Als Rostocker Abgeordneter denke ich besonders an die Situation der Werften, der Zulieferer, der Kreuzfahrtbranche und des Tourismussektors insgesamt. Viele Tausende Jobs allein in Mecklenburg-Vorpommern, beinahe alle, konnten dank der Kurzarbeiterregelungen bisher erhalten werden. Darum beneidet uns nahezu die ganze Welt. Das ist ein riesiger Erfolg, der jedoch Grenzen hat, und diese Grenzen sind nahe. Wir brauchen vernünftige und regional abgestufte Strategien für die Öffnung von Tourismus und Einzelhandel. Die Bundesregierung hat dazu gestern einen klugen Perspektivplan aufgestellt. Wir müssen die Menschen wieder in ihre Beschäftigung zurückholen, schnell und sicher. Die Impf- und Teststrategie hat zu Beginn gerumpelt, wie Minister Spahn es nannte; aber jetzt laufen die Maßnahmen stark an, und zunehmend läuft es auch rund. Testmöglichkeiten werden ausgeweitet. Es gibt technische Möglichkeiten, die auch dem Datenschutz gerecht werden. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Regionen hin, die die App Luca testen. Rostock probiert sie aus, und die ersten Rückmeldungen sind positiv. Bei allen Abwägungen, die wir im Zusammenhang mit der Pandemie treffen müssen – und die die Regierungen treffen mussten, an denen Sie von der Opposition, wie gesagt, in den Ländern beteiligt sind –, stelle ich mir heute die Frage, ob wir die Rolle des Datenschutzes gegenüber dem Gesundheitsschutz und gegenüber dem Schutz der Wirtschaft nicht zu sehr unter ein Tabu gestellt haben. Noch ein wichtiger Punkt zum Schluss. Bei der ganzen Debatte um Öffnungsstrategien störe ich mich sehr an den Kategorien „Lockerer“ und „Bremser“. Es geht um Menschenleben, und, ja, es geht auch um das Überleben der Wirtschaft. Niemand zögert etwas aus reinem Selbstzweck hinaus. Es gibt nicht „Lockerer“ und „Bremser“; es gibt „Verantworter“. Dieser Staat, Deutschland, hat nicht versagt, die Gesellschaft hat nicht versagt, das System hat nicht versagt. Nein! Es wurden Fehler gemacht – ganz klar –, aber sehr vieles wurde auch gut und richtig gemacht. Und es wurde gelernt. Es kann niemand ein Versager sein, der sich seiner Aufgabe und Herausforderung gestellt hat und Verantwortung trägt. Es kann niemand ein Versager sein, der aus Fehlern gelernt hat. Fehler und Verantwortung, Lösung und Zukunft haben in Deutschland ein gemeinsames Fundament: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respekt, Würde und Anstand. Ich bin sehr froh, dass es in Deutschland Parlamente gibt, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Ich freue mich, dass die weiterhin übergroße Mehrheit unserer Bevölkerung denjenigen, die heute Verantwortung tragen – im Gesundheitswesen, bei den Sicherheitskräften, in der Bildung, aber auch in Verwaltung und Politik –, Respekt entgegenbringt und wir allein dadurch in Würde und Anstand gemeinsam durch diese schwerste Zeit hindurchkommen werden. Ein Satz zu den Ausführungen des Kollegen Sichert von der AfD sei mir noch gestattet. Ganz offen gesagt: Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft mit der Belegung von Intensivplätzen in einen Zusammenhang zu stellen, ist würdelos, ist ohne Anstand. ({1}) Sie betteln von diesem Pult aus darum, mehr als nur ein Verdachtsfall zu werden. Herzlichen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich schließe die Aussprache.

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuss hat in seiner Sitzung vom 24. Februar 2021 einstimmig beschlossen, eine Petition, in der eine verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Werbungskosten und Betriebsausgaben im Zusammenhang mit dem Übungsleiterfreibetrag gefordert wird, an die Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. In der Praxis können Betriebsausgaben und Werbungskosten aus ehrenamtlicher Tätigkeit nur dann geltend gemacht werden, wenn sowohl die Einnahmen als auch die Ausgaben über dem Übungsleiterfreibetrag bzw. der Ehrenamtspauschale liegen. Ein konkretes Beispiel zur Verdeutlichung: Reise- und Übernachtungskosten eines Jugendtrainers von rund 4 000 Euro können bei Einnahmen von 1 500 Euro nicht abgesetzt werden. Hätte er aber Einnahmen von 3 000 Euro, könnte er 1 000 Euro steuerlich geltend machen. Dies ist eine paradoxe Wirkung, die nicht richtig ist. Am 20. November 2018 hat der Bundesfinanzhof bereits in einem Einzelfall entschieden, dass ehrenamtlich Tätige, die steuerfreie Einnahmen auch unterhalb des sogenannten Übungsleiterfreibetrages erzielen, die damit zusammenhängenden Aufwendungen auch in dem Fall abziehen können, wenn diese die Einnahmen übersteigen. Voraussetzung dafür ist eine Einkünfteerzielungsabsicht, also keine Liebhaberei. Diese Einzelfallentscheidung des Bundesfinanzhofes muss in einer entsprechenden Präzisierung der Lohnsteuerrichtlinien nun rasch ihren Niederschlag finden. Wir wollen Klarheit für 31 Millionen Menschen, die sich in ihrer Freizeit für das Gemeinwohl einsetzen und dafür neben ihrer Freizeit oft auch finanzielle Opfer bringen. Wir wollen mit unserem einstimmigen Votum auch unterstreichen, dass wir das Ehrenamt in besonderer Weise schützen und fördern wollen, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft weiter zu stärken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer wissen will, was derzeit in Myanmar passiert, der muss nur in die sozialen Netzwerke gehen. Die Bilder dort sind wirklich erschütternd: Frauen flehen weinend um Hilfe angesichts der Brutalität des Militärs. Kampfjets kreisen über friedlichen Demonstranten, und Menschen verbluten auf offener Straße – erschossen, weil sie für Demokratie protestiert haben. Erst gestern kamen Dutzende Menschen, Dutzende Demonstranten, zu Tode. Noch im November des letzten Jahres waren diese Menschen voller Hoffnung zu den Wahlurnen gegangen. Mitten in der Coronakrise lag die Wahlbeteiligung in Myanmar bei 72 Prozent. Mit überwältigender Mehrheit haben die Wählerinnen und Wähler ihrer De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi erneut das Vertrauen ausgesprochen, und die Militärpartei hat eine deftige Niederlage erlitten. Internationale Wahlbeobachter haben bestätigt, dass die Wahlen grundsätzlich frei und fair gewesen sind. Damit war eigentlich der Weg frei für die Fortsetzung eines sicherlich schwierigen Demokratisierungsprozesses, den Deutschland und die Europäische Union nach besten Kräften unterstützt haben. Doch dann kam der 1. Februar und der Versuch des Militärs, die Uhr noch einmal zurückzudrehen. Die Frage, um die es nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Teilen der Welt geht, ist: Was können wir jetzt tun? Dabei sind nach unserer Auffassung drei Dinge entscheidend. Erstens: Das, was wir hier und heute im Deutschen Bundestag tun, nämlich klar und deutlich zu machen, dass wir einen Putsch nicht und niemals akzeptieren werden. ({0}) Es ist deshalb ein wichtiges Zeichen gewesen, dass der Präsident des Bundestages den gewählten Abgeordneten in Myanmar Anfang der Woche im Namen unseres ganzen Hauses Solidarität und Unterstützung zugesichert hat. ({1}) Die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und eine Rückkehr zu den demokratisch legitimierten Institutionen muss unsere gemeinsame Forderung sein. ({2}) Die Europäische Union und die G 7 haben sich auch auf unsere Initiative hin entsprechend klar geäußert. Aber auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und zwar mit China und Russland, hat unsere zentralen Forderungen unterstützt. Diese internationale Geschlossenheit, die in zurzeit so vielen Krisendossiers nicht mehr vorhanden ist, ist gerade in diesem Fall unser größtes Pfund, wenn es darum geht, die Militärs zum Einlenken zu bringen. Doch auch hier gilt: Worte alleine reichen nicht aus, wenn gleichzeitig in Rangun und in anderen Städten auf unschuldige Zivilisten geschossen wird. Deshalb haben wir – zweitens – im Februar schon beim Außenministerrat der Europäischen Union den Weg für gezielte Sanktionen freigemacht, die wir jetzt zeitnah beschließen können. Dabei zielen wir ganz bewusst auf die Entscheidungsträger des Militärs. Auch weitere Optionen, wie etwa die Listung von Wirtschaftsbetrieben des Militärs, liegen bereits auf dem Tisch und können in Kürze ergriffen werden. Dabei muss uns allen eines ganz besonders wichtig sein: dass es sich nämlich ausschließlich um Maßnahmen handelt, die eben nicht die Bevölkerung treffen, die ohnehin schon unter der gegenwärtigen Lage leidet. Deshalb, meine Damen und Herren, stehen wir – drittens – von Beginn an eng im Austausch mit unseren internationalen, vor allen Dingen auch unseren regionalen Partnern, um die Lage in Myanmar diplomatisch zu entschärfen. Dabei ist es unser Ziel – und nicht nur unseres –, Raum für einen notwendigen Dialog zu schaffen, den es bisher noch nicht gibt. Deshalb suchen wir dabei insbesondere den Schulterschluss mit den USA, mit Kanada, mit Japan und mit Australien. Vor allem aber setzen wir auf ASEAN; denn der Schlüssel zum Dialog und auch zu nachhaltigen Lösungen liegt in der Region. Mit Singapur, Indonesien, dem aktuellen Vorsitz Brunei und anderen stimmen wir uns zurzeit eng über das weitere Vorgehen ab. Dass am Dienstag ein Treffen der ASEAN-Außenminister zu Myanmar stattgefunden hat, an dem auch Vertreter des Militärs teilgenommen haben, war ein wichtiger Schritt. Alle, die sich in der Region etwas auskennen, wissen, dass wegen des Nichteinmischungsgebotes, das ein Grundprinzip von ASEAN ist, dies alles keine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Aber auch den ASEAN-Partnern ist längst klar, dass der Putsch in Myanmar ein Rückschritt für ganz ASEAN ist. Mehr noch: Er birgt eine echte Gefahr für Stabilität und für Wohlstand in einer Region, die wie kaum eine andere im Fokus des amerikanisch-chinesischen Ringens um Einfluss steht. Auch das erklärt, warum sich Länder wie Singapur und Indonesien mit sehr klaren Worten an das myanmarische Militär gewendet haben. Auch das ist alles andere als selbstverständlich in dieser Region. Den Schlüssel zur Diplomatie, der insbesondere in den Händen der UN-Sondergesandten Schraner Burgener liegt, die bereits seit der Rohingya-Krise über Zugänge zu allen Seiten verfügt, müssen wir ebenfalls nutzen. Deshalb unterstützen wir ihr Engagement nachdrücklich. Wir fordern auch dazu auf, dass es endlich möglich sein muss, Gespräche in Myanmar zu führen, einschließlich eines persönlichen Gesprächs mit Aung San Suu Kyi. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, demokratisch gewählte Politiker kann man unter Hausarrest stellen, aber dadurch wird eine Militärdiktatur nicht legitim. Facebook kann man abschalten, doch die Stimmen der Demonstrierenden bringt man damit nicht zum Verstummen. Sie suchen sich einfach andere Plattformen, so wie es die jungen Menschen in Myanmar gerade jetzt mit großem Mut und auch mit großer Kreativität tun. Protestierende kann man wegsperren, aber nie ein ganzes Volk. ({4}) Die Militärs in Myanmar mögen versuchen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, doch die Menschen in Myanmar wollen kein Déjà-vu der überwundenen Militärdiktatur; denn sie haben Frieden und Demokratie schon einmal erlebt. „Das einzig wirkliche Gefängnis ist die Angst“, hat Aung San Suu Kyi bereits vor einigen Jahren geschrieben. Dieses Gefängnis haben die Menschen in Myanmar längst verlassen, und sie sollten uns an ihrer Seite wissen. Vielen Dank. ({5})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt „Frau Präsidentin“! Benehmen Sie sich mal!) – Generisches Maskulinum. ({0}) Es ist alles in Ordnung. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Es heißt „Frau Präsidentin“! Es ist alles deutsche Sprache. Liebe Kollegen, wenn Sie nervös werden, dann merke ich: Irgendwie scheine ich einen Nerv bei Ihnen zu treffen, dass Sie mit deutscher Sprache ein Problem haben. ({1}) Das muss man einmal ganz deutlich feststellen. Die deutsche Sprache bietet viele Möglichkeiten, und ich wähle die richtige. In Myanmar hat sich das Militär zurück an die Macht geputscht. Demonstrationen werden gnadenlos niedergeprügelt, 38 Tote allein heute gemeldet, viele Schwer- und Schwerstverletzte – eine bedrückende Situation für die Menschen in Myanmar, dem früheren Birma. Die große Mehrheit des Volkes unterstützt Aung San Suu Kyi. In Myanmar konnte ich selbst erleben, als ich privat mehrere Wochen dort war, wie das geht. Händler und Handwerker in Rangun, Restaurantpächter und Fischer am Inle-See, Lehrer und Arbeiter in Neu Bagan – ich sprach mit Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Eine beeindruckende Mehrheit unterstützt Suu Kyi. Die meisten haben Bilder von ihr in den Wohnungen, am Arbeitsplatz. Sie ist die legitime Regierungschefin. Ganz deutlich war das zu spüren – bei den Menschen im Land, nicht in einer Parteizentrale, nicht bei einer deutschen Stiftung, nicht bei einer NGO, sondern bei den normalen Menschen in Birma oder Myanmar. Aung San Suu Kyi hat eine starke Stellung im Volk. Sie ist die Tochter des Freiheitshelden Aung San, und sie hat sich einen eigenen Ruf als Freiheitsheldin erworben – jahrelanger Hausarrest, schon damals unter einer linken Militärdiktatur. ({2}) Ihren Friedensnobelpreis, 1991 ausdrücklich für ihren Einsatz für die Menschenrechte verliehen, konnte sie nicht persönlich in Empfang nehmen – Hausarrest, Reiseverbot. Was war sie damals für ein Idol, auch für die Altparteien, und wie ist sie in den letzten Jahren von den Altparteien verlassen worden! Die demokratisch legitimierte Wahlsiegerin in Birma wurde aus dem Ausland mit Erwartungen überfrachtet, die niemand, absolut niemand erfüllen kann. Typisch für Grüne und Linksgrüne: von allen anderen übermenschliche Leistungen erwarten, aber selbst nichts leisten. ({3}) Im Vielvölkerstaat Birma regieren, in erzwungener Kooperation mit dem kommunistischen Militär, das ist hochkompliziert. In Birma regieren ist nicht so einfach wie in Prenzlauer Berg, Berlin-Mitte oder München-Schwabing: bei Latte Macchiato und Prosecco einmal eben kurz die Welt retten. Aber linker Hypermoral ist das ja egal. Die Altparteien und die Bundesregierung verkennen die Realitäten der Welt. Gemeinsam mit anderen linken Regierungen wollten sie Aung San Suu Kyi und ihre Regierung zwingen, einmal eben mehr als 1 Million Bengalen einzubürgern, Menschen, die nicht zum Staatsvolk gehören, Menschen, deren Familien oft nicht aus Birma stammen, die künstlich zu Staatsbürgern gemacht werden sollen. Das dazugehörige diplomatische Sperrfeuer wurde vom islamischen Staatenblock in den Vereinten Nationen eifrig geschürt, und die Bundesregierung hat mitgemacht. Das hat die legitime birmanische Regierung geschwächt. Und nun ist sie da, eine linke Militärdiktatur, eine kommunistische Diktatur unter enger Bindung an die kommunistische Führung in Peking. Die versammelten Altparteien hier im Bundestag müssen sich fragen lassen, wie viel Verantwortung sie an diesem Blutvergießen tragen. ({4}) Eine mögliche Lösung für Myanmar könnte in der Politik der ASEAN-Staaten liegen; da bin ich ausnahmsweise mit Herrn Maas einer Meinung. Die südostasiatischen Staaten versuchen, den Konflikt in Myanmar zu befrieden; denn sie haben ein Interesse daran, dass Myanmar ein starker Partner bleibt ‑gegen den chinesischen Einfluss, also auch gegen das kommunistische Militär. Dort liegt die Lösung, nicht in den grün-linken Ansprüchen, die unrealistisch und unerfüllbar sind. Die AfD ist die einzige Fraktion, die konsequent und trotzdem nicht unkritisch zur Friedensnobelpreisträgerin Suu Kyi steht. Auch Aung San Suu Kyi kann keine Wunder bewirken, aber ihr Staatsvolk erkennt ihre Politik mehrheitlich an. Die linken Regierungen Europas haben diese Frau im Stich gelassen, die Vereinten Nationen haben sie im Stich gelassen, die Bundesregierung hat sie im Stich gelassen. Wäre es anders, hätte sich das Militär nicht getraut, die Hand an das zarte Pflänzchen der Demokratie in Birma zu legen. Aber die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wurde alleingelassen. Sie ist und bleibt die Hoffnung aller Demokraten. Wir, die AfD-Fraktion, stehen an der Seite der friedlichen Demokraten in Myanmar. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Markus Koob für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Rede bräuchte man eigentlich etwas deutlich Härteres als Wasser zum Einstieg in die Rede, ({0}) aber da das nicht zur Verfügung steht, kommen wir vielleicht einmal wieder zum Thema zurück und reden hier nicht über linke Fantasien, sondern über die Lage in Myanmar. ({1}) – Ich bin total nüchtern, keine Sorge. ({2}) Die Bilder, die wir aus Myanmar in den letzten Tagen erleben und sehen, sind zutiefst dramatisch, und sie eskalieren immer weiter. Die Anzahl der Toten steigt, und das Militär geht mit immer größerer und unbarmherzigerer Härte gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vor. Wir haben hier im Bundestag schon öfter zu Myanmar gesprochen, zu kritischen Dingen – das ist auch vorhin schon angesprochen worden –, zur Lage der Rohingyas in Myanmar, woran wir zu Recht sehr stark Kritik geübt haben. Aber nichtsdestotrotz, so muss man sagen, haben wir in Myanmar in den letzten Jahren eine hoffnungsvolle Demokratisierung erlebt. Diese hoffnungsvolle Demokratisierung hat im Februar ein Ende gefunden. Der Militärputsch, den wir jetzt sehen, verursacht bei uns ein trauriges Déjà-vu; denn in Myanmar gab es nicht zum ersten Mal einen Militärputsch, sondern bereits dreimal vorher – 1962, 1988, 1990 – und jetzt eben auch 2021, und das, obwohl Aung San Suu Kyi im Jahr 2016 die Macht mit dem Militär teilte. Es war ein durchaus gewagter, ein interessanter Ansatz, ein kühnes Experiment, eine ethnisch, religiös und geschichtlich so diversifizierte Gesellschaft wie Myanmar in Südostasien zu regieren. Dieses Experiment ist nun leider gescheitert. Das Militär war nicht bereit, die Wahlergebnisse zu akzeptieren, die aus diesen freien und fairen Wahlen hervorgegangen sind. Dieses hybride demokratische Regierungssystem, das wir erlebt haben, wurde zum Unwillen der Bevölkerung geopfert, um den Machterhalt der Militärs weiter zu sichern. Die Argumentation des Militärs, diese Wahlkommission habe versagt, es habe Betrug bei den Wählerlisten gegeben und diese würden den Weg zur Demokratie behindern, ist auch in sich nicht stichhaltig. Schon gar nicht plausibel ist, weshalb Wahlbetrug zu einem Notstand und zum Übertrag aller exekutiven, legislativen und judikativen Befugnisse aller Ebenen auf den Oberbefehlshaber führen sollte. Das ist grotesk. Denn erstens müssten gemäß der Verfassung aus dem Jahr 2008 Wahlangelegenheiten von den zuständigen Behörden behandelt und gelöst werden, und zweitens ermächtigt Artikel 417 der Verfassung nur den Präsidenten, in Absprache mit dem Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrat den Notstand auszurufen. Dieser Rat hat nicht getagt. Aus deutscher Perspektive steht daher für meine Fraktion und mich fest: Wir unterstützen die in Myanmar friedlich demonstrierenden Bürgerinnen und Bürger, die für die Rettung ihrer Demokratie und die Berücksichtigung ihres Wählerwillens auf die Straße gehen. ({3}) Wir fordern den Rückzug des Militärs, die Freilassung der politischen Gefangenen und eine Wiedereinsetzung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen sowie die Anerkennung des Wahlergebnisses. Wir begrüßen die EU-Sanktionen, sind aber auch für eine Ausweitung offen, sollte das Militär nicht einlenken. Eine irgendwie geartete deutsche Zusammenarbeit mit dem Militärregime wird es in Zukunft nicht geben. Ich danke auch an dieser Stelle Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble für seinen offenen Brief an den bisherigen und unter Hausarrest stehenden Sprecher der Volkskammerversammlung. Die dort gefundenen Worte sind klar in der Verurteilung und in der Solidarität, und ich kann mich diesem Appell uneingeschränkt anschließen. ({4}) Aber es ist auch unsere Aufgabe als Parlament und auch im Auswärtigen Ausschuss, über die eigentlichen Grenzen Myanmars hinaus die Rolle Chinas in diesem Konflikt in den Blick zu nehmen. Der Oberbefehlshaber der Militärs in Myanmar und Chinas Außenminister Wang Yi kamen noch drei Wochen vor dem Putsch für intensive Gespräche zusammen. Es gilt zu vermuten, dass Chinas bedrohliche Arme länger werden. Nach Nordkorea und Hongkong erreichen sie auch mithilfe der Abhängigkeitsstrukturen der Belt and Road Initiative mittlerweile einige Staaten Südostasiens. Dass sie auch Myanmar erreichen, ist daher wahrscheinlich. Ob es aus China eine Anweisung zu dem Putsch gab oder auch nur ein Einverständnis, kann China ganz einfach aufklären, indem es den Putsch verurteilt und dazu aufruft, das demokratisch gewählte Parlament umgehend wiedereinzusetzen und zur rechtlichen Ordnung zurückzukehren. Ein solches Signal bleibt Peking bislang aber schuldig. Das Vorgehen in Myanmar und auch die Anzeichen für Chinas Rolle in diesem Konflikt zeigen einmal mehr, wie wichtig es war, dass die Bundesregierung im vergangenen Jahr ihre Indopazifik-Leitlinien vorgelegt hat; denn auch wir haben ein Interesse an einem stabilen und vor allem friedlichen Indopazifik. Es ist grundsätzlich wichtig und richtig, unsere räumliche Distanz zu unseren Freunden aus der Region zu verringern, sie wertzuschätzen, ihnen beizustehen und sie eben nicht mit der wirtschaftlichen Übermacht Chinas alleine zu lassen. Auch deshalb müssen wir endlich dafür sorgen, dass wir auch auf EU-Ebene zu einer einheitlichen und verbindlichen Indopazifik-Strategie gelangen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der brutale und inzwischen blutige Militärputsch vom 1. Februar hat die einen Spalt geöffnete Tür zur Demokratie in Myanmar zugeschlagen. 2008 gab es eine zarte Demokratisierung und damit verbunden Hoffnung für wirtschaftlichen Aufschwung – das alles nach einer dunklen Zeit der 50-jährigen Diktatur. Die Meinungsfreiheit blieb aber auch in dieser Zeit sehr begrenzt. So wurde ein Cartoon über das Militär mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft. Ich konnte das Land zweimal besuchen – der Kollege Grübel war auch dabei –, und wir haben gesehen, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dort Projekte zur Dezentralisierung, aber auch zur Förderung der Demokratisierung und wirtschaftlichen Entwicklung installiert hat. Der spontane und nicht abgestimmte Abbruch der Entwicklungszusammenarbeit durch Minister Müller war aus heutiger Sicht sicherlich ein Fehler, weil bis dahin genau die Projekte der Zivilgesellschaft gestärkt wurden, die jetzt um ihr Überleben kämpfen. Die Menschen in Myanmar waren enttäuscht von einem langsamen Agieren der EU beim Engagement für die Demokratisierung. Dass zu wenige Investitionen aus der EU gekommen sind, war vielleicht auch mit ein Grund dafür, warum die Tür zur Demokratie überhaupt wieder zufallen konnte. Myanmar hatte alles, um aus der Armut herauszukommen und den Beispielen der anderen ASEAN-Staaten zu folgen: vergleichsweise gute Bildung, englische Sprachkenntnisse, fleißige, ehrliche und liebenswerte Menschen. Aber seit dem Militärputsch sind Millionen Menschen an Protesten beteiligt. Ziviler Ungehorsam und Generalstreik legen das öffentliche Leben lahm. Von Teilen der NLD, also der siegreichen Partei, wurde inzwischen eine eigene Regierung benannt. Hunderte, wenn nicht Tausende Demonstranten und Journalisten sind in Gefängnisse gesteckt worden. Viele unserer Kollegen in Myanmar – gewählte Abgeordnete wie Sie und ich – wurden direkt unter Hausarrest gestellt. Die Freien Demokraten bedanken sich an dieser Stelle bei unserem Bundestagspräsidenten Schäuble; denn Herr Schäuble, Sie haben mit Ihrem Brief an den Parlamentssprecher Khun Myatt ein wichtiges Signal gesendet: Gewählte Parlamentarier stehen zusammen. – Herzlichen Dank dafür. ({0}) Das Militär schießt mit scharfer Munition in die Menschenmengen; allein gestern gab es 38 Tote. Es sind junge Frauen und Männer, für die der Traum von Freiheit und Selbstbestimmung brutal mit einem Kopfschuss platzt. Es sind dieselben Militärs, die die Rohingyas im Rakhine State vertrieben haben. Die internationalen Reaktionen auf den Putsch sind eindeutig: Gewalt wird verurteilt, die Freilassung der politischen Gefangenen wird gefordert, und Einzelpersonen werden bereits durch die USA und die EU sanktioniert; deren Vermögen wird eingefroren. Das ist gut so, doch das reicht nicht. Wir müssen mehr machen und dem Militär zeigen: Ihr seid nicht die Zukunft, und ihr seid nicht Myanmar. ({1}) Ein Generalstreik, Herr Maas, lässt sich nicht ewig durchhalten. Deshalb brauchen wir schnelle neue Sanktionen. Als ersten Schritt würde ich vorschlagen, den Militärattaché hier in Berlin zusammen mit der Botschafterin einzubestellen, um die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen den beiden Parteien auszuloten. Es sollte aber auch Klartext gegenüber den Militärs gesprochen werden, und Sie sollten dringend ein UN-Waffenembargo vorantreiben und die ASEAN-Staaten bei der Vermittlung unterstützen. Das hatten Sie ja angedeutet. – Vielen Dank dafür. Der zweite Schritt: Wir sollten konsequent sein und der Militärregierung die Anerkennung auf internationaler Bühne verweigern. Lassen Sie uns die demokratisch gewählte Regierung weiterhin als die einzige Vertretung des Volkes anerkennen! Der dritte Schritt sind Wirtschaftssanktionen, eng abgestimmt mit unseren amerikanischen Freunden; denn viele Firmen im Rohstoffsektor, in der Logistik und mit Finanzdienstleistungen gehören dem Militär und finanzieren es damit. Damit würden wir die Generäle genau dort treffen, wo es ihnen wirklich wehtut, nämlich bei den Finanzen. ({2}) Es ist auch aus einem anderen Grund Eile geboten, Herr Maas oder Herr Borrell: Es gibt 20 bewaffnete ethnische Minderheiten im Land, und sie werden sich bei weiterer Eskalation den Demonstranten anschließen. Das bedeutet Bürgerkrieg und das völlige Abdriften ins Chaos – ja, vielleicht den Untergang des gesamten Staates. Heute, meine Damen und Herren, verneigen wir uns vor den Opfern, die im Kampf für Freiheit gefallen sind. Wir trauern mit dem Volk von Myanmar. People of Myanmar, we’ll stand by you! ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Abgeordnete Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem Militärputsch in Myanmar vor einem Monat sind Dutzende Menschen getötet worden. Deshalb ist es auch an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag von hier aus ein klares Zeichen setzt: Wir verurteilen diese gewaltsame Machtübernahme des Militärs in Myanmar. ({0}) Nach allem, was wir wissen, ist der Grund, den die Militärführung für den Putsch anführt – angebliche Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im November 2020 –, schlicht vorgeschoben. Hintergrund ist offenbar der überwältigende Wahlsieg der Nationalen Liga für Demokratie von Aung San Suu Kyi, durch den die Militärs ihre gemeinsame Herrschaft mit der Nationalen Liga für Demokratie in Myanmar bedroht fühlten. Mehr als 1 300 Menschen sollen seit dem Putsch inhaftiert worden sein, und deshalb fordern wir auch hier die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in Myanmar. ({1}) Und nicht nur das: Wir fordern auch die Ausweisung des Militärattachés von Myanmar aus Deutschland und einen Stopp der Waffenexporte an Myanmar, auch – ich weiß, dass es ein Waffenembargo gibt – über Drittländer und über Tochterfirmen deutscher Waffenschmieden im Ausland. ({2}) Wenn man sich die Recherchen von Greenpeace anschaut, dann sieht man, dass dort nach wie vor Waffen im Einsatz sind, die der deutsche Hersteller Rheinmetall entwickelt hat, Maschinengewehre, die dort auf den Patrouillenbooten benutzt werden. Das zeigt einmal mehr, dass es Ihnen zu denken geben sollte, wenn Waffen an andere Länder geliefert werden. ({3}) Vor zwei Dingen möchte ich hier im Zusammenhang mit dem Putsch allerdings ausdrücklich warnen: Einmal vor einer Neuauflage von Wirtschaftssanktionen, die am Ende allein die Bevölkerung treffen und die nicht gerade rosige Wirtschaftslage in Myanmar dramatisch verschlechtern würden. In diesem Zusammenhang darf auch an den Aufruf der Vereinten Nationen erinnert werden, die sagen, die einseitigen, völkerrechtswidrigen Sanktionen weltweit sollten beendet werden. Ich finde, es kann nicht sein, dass erneut auf dieses verheerende völkerrechtswidrige Instrument zurückgegriffen wird, einfach nur, um Handlungsbereitschaft zu simulieren; denn nichts anderes als Simulation ist es. Zum Zweiten will ich davor warnen, den Konflikt in Myanmar geopolitisch zu einem Kampf des Westens gegen China um Einfluss in diesem Land weiter aufzuladen. Die Einzigen, die dabei verlieren werden, sind die Einwohnerinnen und Einwohner von Myanmar. Deshalb noch mal zur Erinnerung: Kein anderes Land hat Aung San Suu Kyi öfter besucht als China. China hatte mit Myanmar beste Beziehungen. Es waren die Generäle, die die Öffnung des Landes wollten, damit der chinesische Einfluss nicht zu groß werden würde. Und es waren auch die Generäle, die die Minderheiten an der chinesischen Grenze bekämpften und China verdächtigten, als Rückzugsgebiet für die Aufständischen zu fungieren. Sicher – es ist richtig –, China ist Myanmars größter Handelspartner. Aber aus Japan und Südkorea kommen die meisten ausländischen Direktinvestitionen. China hat nicht zuletzt mit Aung San Suu Kyi im letzten Jahr ein großes Investitionspaket im Rahmen der Belt and Road Initiative verabredet. All dies steht jetzt auf der Kippe. ({4}) Deshalb noch einmal: Wir sollten es nicht zulassen, dass der Konflikt in Myanmar geopolitisch aufgeladen wird. Das hilft den Menschen im Land keinen Deut, meine Damen und Herren. ({5}) Ein Wort noch zum Umgang mit Aung San Suu Kyi: Sicher, wir als Linke fordern ihre sofortige Freilassung – wie die der anderen politischen Gefangenen im Land. Aber wir müssen auch sehen, dass sie als Heldenfigur und Projektionsfläche nur wenig taugt. Es sei mir die Bemerkung erlaubt, dass ein sorgsamerer Umgang auch bei anderen gelten sollte, beispielsweise Alexej Nawalny, dem Amnesty International den Status des gewaltlosen politischen Gefangenen aberkannt hat, und zwar mit dem Verweis darauf, er habe in der Vergangenheit Hass gegen Muslime geschürt. Aung San Suu Kyi war es jedenfalls, die gemeinsam mit den Militärs gegen die Rohingya im Süden des Landes vorgegangen ist. Sie trägt eine Mitverantwortung für die Geschehnisse dort. Sie taugt nicht zur demokratischen Heldin, auch wenn wir ihre sofortige Freilassung wie die aller anderen Verhafteten fordern und den Militärputsch in Myanmar klar und deutlich verurteilen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: die Abgeordnete Margarete Bause, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Everything will be OK“ – alles wird gut. Das stand auf dem T-Shirt der 19-jährigen Ma Kyal Sin, die gestern wie Tausende andere in Myanmar auf die Straße ging. Sie protestierte gegen den Putsch des Militärs, für die Anerkennung der Wahlen und für die Freilassung der politischen Gefangenen. Ma Kyal Sin hat den Tag nicht überlebt. Sie wurde mit einer Kugel in den Kopf ermordet. Mindestens 37 weitere Menschen sind allein gestern bei ihren gewaltfreien Protesten getötet worden. Mit allen Mitteln und mit äußerster Brutalität versucht das Militär, die Proteste der myanmarischen Bevölkerung zu unterdrücken: von Internetsperren über Tränengas bis hin zu scharfer Munition und gezielten Schüssen in den Kopf. Soldaten posieren bei TikTok mit Maschinengewehren und prahlen unverhohlen, dass sie mit einer einzigen Magazinladung 30 Menschen auf einmal töten können. Videos zeigen, wie Ersthelfer/-innen brutal verprügelt werden. Dieses Militär, dem die Vereinten Nationen schwerste Menschenrechtsverbrechen gegen die Rohingya bis hin zu Völkermord vorwerfen, versucht, sich als Retter der Verfassung und als legitime Vertretung Myanmars zu präsentieren. Das ist an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbieten, und dem muss sich die internationale Gemeinschaft mit aller Entschiedenheit entgegenstellen. ({0}) Offenbar hat die Militärjunta das Ausmaß des Widerstands in der Bevölkerung massiv unterschätzt. Der gewaltlose Aufstand gegen das Militärregime zeigt sich mit anhaltenden Protesten im ganzen Land, mit Generalstreiks, mit zivilem Ungehorsam. Trotz der massiven Gewalt geben die Menschen nicht auf. Sie protestieren mit Gesängen, mit Sprechchören, mit Mopedkonvois, mit Autoblockaden, mit Plakaten, mit Graffitis, und sie organisieren sich trotz der Internetsperren in den sozialen Netzwerken. In Hongkong, in Thailand und jetzt in Myanmar bieten Millionen vor allem junge Menschen den autoritären Regimen und den übermächtigen Militärs die Stirn. Der Wunsch nach Demokratie, nach Rechtsstaatlichkeit, nach politischer Teilhabe und nach Achtung der Menschenrechte ist omnipräsent. Diese international vernetzten, kreativen und mutigen Demokratiebewegungen zu erleben, macht leise Hoffnung auf langfristige Veränderungen. Und es ist unsere Aufgabe, dass wir uns hier an die Seite dieser mutigen Menschen stellen und sie mit all unseren Möglichkeiten unterstützen. ({1}) Es freut mich – das wurde auch schon mehrfach erwähnt –, dass Bundestagspräsident Dr. Schäuble den Militärputsch gestern so klar verurteilt hat und sich an die Seite der gewählten Parlamentarier/-innen gestellt hat. Angesichts der Eskalation der Gewalt der Militärjunta muss die internationale Gemeinschaft, muss die Europäische Union und müssen auch wir hier das Vorgehen des Militärs aufs Schärfste verurteilen. Der Ausnahmezustand muss umgehend aufgehoben werden. Aung San Suu Kyi und alle anderen Regierungsmitglieder müssen sofort freigelassen werden und ebenso alle politischen Gefangenen. Die EU muss jetzt individuelle Sanktionen gegen die Verantwortlichen des Putsches verhängen. Und von der Bundesregierung erwarte ich da konsequentes Handeln. Jegliche Zusammenarbeit und damit die Anerkennung der Militärjunta muss tabu sein. ({2}) Der Militärattaché und Brigadegeneral von Myanmar muss ausgewiesen werden, und das gilt auch für die sechs anderen Militärangehörigen in Deutschland. Gleichzeitig müssen die Kanäle mit den zivilen und demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertretern Myanmars wieder aufgenommen bzw. aufrechterhalten werden. Und auch deutsche Unternehmen sind in der Verantwortung. Dieser Tage wurde bekannt, dass der Telekommunikationsspezialist ADVA aus München zumindest indirekt das Militär mit Telekommunikationstechnologie unterstützt. Hier verlangen wir umfassende Aufklärung und gegebenenfalls die Beendigung der Geschäftsbeziehungen. ({3}) Eine zentrale Rolle muss jetzt auch ASEAN einnehmen. Wenn die Bundesregierung ihre neuen Indo-Pazifik-Leitlinien ernst nimmt, dann muss sie auf ASEAN einwirken, im Dialog mit allen Konfliktparteien eine friedliche Lösung und einen Übergang zu demokratischen Verhältnissen zu finden. Und dazu müssen auch alle ethnischen Gruppen gleichberechtigt einbezogen werden. Und damit meine ich auch die Hunderttausenden Rohingya, die ins Elend der Flüchtlingslager in Bangladesch vertrieben wurden. ({4}) „Everything will be OK“, das sollte nicht nur eine Hoffnung bleiben. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Abgeordnete Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder und die Nachrichten, die uns in den vergangenen Wochen aus Myanmar erreichten, sind erschütternd. Wir sehen Gewalt gegen friedliche Demonstranten. Wir sehen den Einsatz scharfer Munition durch die Sicherheitskräfte und sogar das Prahlen damit. Es gibt viele Tote und zahlreiche Verletzte unter den friedlichen Demonstranten. Wir sehen Einschüchterungsversuche durch das Militär gegen Journalisten, die über die Proteste berichten wollen. Und wir sehen willkürliche Verhaftungen in großer Zahl. Diese Bilder und Nachrichten führen uns deutlich vor Augen: Der Militärputsch in Myanmar erfolgte gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung. Die Menschen wollen, dass Myanmar zurückkehrt auf einen Demokratisierungskurs, für den die Novemberwahlen standen. Sehr viele Menschen in Myanmar sind bereit, unter Einsatz ihres Lebens für demokratische und rechtsstaatliche Entwicklungen ihres Landes einzutreten. „Wir sind wie Wasser, ihr könnt uns nicht aufhalten“, rufen sie auf den Straßen. Und wir stehen an der Seite dieser mutigen Männer und Frauen, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, tödliche Gewalt gegen friedliche Demonstranten ist durch nichts zu rechtfertigen. Es ist richtig und wichtig, dass die Bundesregierung diese Gewalt durch Sicherheitskräfte sowohl öffentlich wie auch in Gesprächen mit Vertretern Myanmars auf das Schärfste verurteilt hat. Dass sowohl der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrell, der EU-Generalsekretär Guterres als auch die Außenminister der G 7 sich gleichermaßen geäußert haben, zeigt, wie breit diese Position weltweit getragen wird. In Myanmar zeigen sich einmal mehr die Kraft einer Zivilgesellschaft und die Kraft der Idee der Demokratie. Unsere gemeinsame Forderung ist und muss es sein, dass Myanmars Sicherheitskräfte ihre Gewalt gegen Demonstranten sofort beenden, dass Menschenrechte und das Völkerrecht in und von Myanmar geachtet werden müssen. Wir fordern, dass die zahlreichen willkürlich Verhafteten freigelassen werden, dass die festgenommenen Spitzenpolitiker, darunter San Suu Kyi und Staatspräsident Win Myint, umgehend freigelassen werden. Wir fordern, dass rechtsstaatliche Prinzipien in Myanmar wieder respektiert werden und dass die gewählte Zivilregierung wieder eingesetzt wird, damit eine Rückkehr zur demokratischen Ordnung möglich ist. ({1}) Es braucht einen politischen Dialog, der den Boden für die Rückkehr auf den Pfad der Demokratisierung bereitet. Ich begrüße, dass sich im Rahmen der ASEAN die Nachbarstaaten Myanmars für eine Lösung dieser Krise engagieren. Es ist ein Erfolg, dass es am 2. März 2021 zu einem informellen ASEAN-Außenministertreffen gekommen ist, bei dem die Situation in Myanmar Thema war. Das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit angesichts der anderen Dinge, die wir im Zusammenhang mit ASEAN erlebt haben; Bundesaußenminister Heiko Maas hat darauf ausdrücklich und zu Recht hingewiesen. Auch die Rolle der Sondergesandten der Vereinten Nationen für Myanmar, Frau Christine Schraner Burgener, eröffnet Myanmars Militär eine Chance auf einen politischen Ausweg aus der Krise – über den Dialog. Angebote zum Dialog gibt es also durchaus. Richtig ist aber auch, dass die EU sich zugleich darauf vorbereitet, jene Personen durch gezielte Sanktionen zu treffen, die direkt für den Militärputsch und damit für die Verbrechen auf der Straße verantwortlich sind. Wir sind es Myanmars Zivilgesellschaft schuldig, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die das Recht aller Menschen auf freie Meinungsäußerung und demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung niederschießen lassen. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, festzuhalten, dass wir auch in der Vergangenheit, als Myanmar auf Demokratisierungskurs war, manches Mal höhere Erwartungen an Myanmars Regierung hatten, als diese zu erfüllen bereit war. Der Umgang mit der Minderheit der Rohyngia sei in diesem Zusammenhang genannt. ({2}) Bei meinen Besuchen habe ich die Hoffnungslosigkeit der Menschen vor Ort erlebt und werde sie wohl nie wieder in meinem Leben vergessen. Alle Menschen in Myanmar verdienen die Chance, dass die Regierung ihres Landes auf einen Demokratisierungskurs zurückkehrt und so ihren Einfluss auf politische Prozesse ermöglicht. Dass wir nicht zögern, auch eine auf Demokratisierungskurs steuernde Regierung in Naypyidaw an ihre Verpflichtungen, etwa zum Schutz von Minderheiten, zu erinnern, haben wir in der Vergangenheit gezeigt. „Wir sind wie Wasser, ihr könnt uns nicht aufhalten“, sagen die Menschen. In Ostfriesland würde man sagen: Tegen Backobend kannst neet angaapen. -„Es ist unsere Aufgabe, hier zu demonstrieren“, sagen die Menschen. Sie kämpfen um ihr Land, ein Land mit enormen Potenzialen und mit enormen Perspektiven. Sie kämpfen um ein Land in einer Region mit einer großen Zukunft. Die Menschen setzen sich mit friedlichen Mitteln für Frieden und Demokratie ein. Sie haben unsere Hilfe verdient. Nach Naypyidaw muss nun demokratische Offenheit zurückkehren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Abgeordnete Professor Dr. Lothar Maier. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das kann ich mir zum Einstieg nicht verkneifen: Zwei Fraktionen dieses Hauses beantragen für diese Stunde eine Aktuelle Stunde zu der Frage, ob bestimmte politische Entscheidungen in diesem Hause durch Machenschaften beeinflusst worden sind, ob es mutmaßlich Korruption in der zahlenmäßig stärksten Fraktion in diesem Hause gibt oder nicht. Und was macht die Koalition? – Sie verschiebt diese Debatte auf morgen, 18 Uhr, auf Freitagabend, wo garantiert niemand mehr zusieht und wo in diesem Hause nur noch relativ wenige da sein werden, weil sie sonst zu ihren entfernten Wohnorten nicht mehr nach Hause kämen. ({0}) Über Korruption soll hier nicht geredet werden; das ist der eigentliche Skandal, und das ist auch das einzig Aktuelle an dieser Aktuellen Stunde. ({1}) Stattdessen reden wir nun eben über Myanmar; und von dort kommen schlechte Nachrichten. ({2}) Nach einem demokratischen Interregnum hat das Militär dort wieder die Macht übernommen. Eine brutal niedergeschlagene Demonstration in der Hauptstadt hat zu 38 Toten geführt – eine furchtbare Zahl. Das muss verurteilt werden; das steht vollkommen außer Frage. Aber man muss sich auch fragen: Wie ist es dazu gekommen? Dazu braucht man einen Blick in die neuere Geschichte von Myanmar. Es ist ein Vielvölkerstaat, zusammengesetzt aus vielen Völkerschaften. Die Birmanen sehen sich zwar als Staatsvolk, aber sie sind eben nur eines von vielen. Es ist ein schwieriges Erbe der Kolonialzeit, das Myanmar zu tragen hat. Es hat dazu geführt, dass die Briten seinerzeit die Völkerschaften dieses Landes gegeneinander ausgespielt haben. Sie haben die Birmanen unterdrückt, dagegen die Völker des Nordostens, insbesondere die Shan, die Kachin in ihren alten Herrschaften belassen und sie gegen die Birmanen ausgespielt. Nach der Staatsgründung 1958 hat es jahrzehntelange Kämpfe gegen separatistische Bestrebungen gegeben, insbesondere in der Kachin-Region, die ja mehrheitlich christlich strukturiert ist. Daher führte auch die Erklärung des Buddhismus zur Staatsreligion unter der Regierung U Nu schon vor Jahrzehnten zu zusätzlichen Konflikten, nicht nur mit den Kachin, sondern auch mit den muslimischen Rohyngias. Es hat immer wieder – das ist von den Vorrednern auch schon gesagt worden – Interventionen Chinas in die inneren Verhältnisse von Myanmar und in gewissem Umfang auch in die Angelegenheiten von Thailand gegeben. Die Thailänder haben allerdings in der Vergangenheit ihre eigenen Erfahrungen mit den Burmesen machen müssen, die in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder mit ihren Armeen in Thailand eingefallen sind und sich dort furchtbar aufgeführt haben. Deswegen sieht sich das Militär in Burma oder in Myanmar – wie immer man es nennen mag – als Garant der nationalen Einheit. Es sieht sich zum Regieren gewissermaßen legitimiert. Diesen Anspruch hat es im Zuge der Verfassungsänderung von 2008 auch durchsetzen können: 25 Prozent der Sitze im Parlament sind für das Militär reserviert, auch bestimmte einflussreiche Ministerposten. Die führenden Militärs haben sich ziemlich ungeniert persönlich bereichert. Gegen das Militär kann dort praktisch niemand regieren. Das hätte man vielleicht hinnehmen können, wenn das birmanische Militär seine Herrschaft als eine Entwicklungsdiktatur verstanden hätte. Das war es aber nicht. Es war eine Stagnationsdiktatur, und das ist es immer noch. Wenn man den Lebensstandard in Myanmar heute mit dem im benachbarten Thailand vergleicht – es sind zwei sehr ähnlich strukturierte Völker –, dann ist es deprimierend, zu sehen, wie schlecht es den Birmanen, den Völkern von Myanmar, geht. Myanmar hat seit ungefähr 2012 eine politische und wirtschaftliche Öffnungsstrategie erlebt, aber eine Demokratie im europäischen Sinne ist nicht entstanden. Es entstand eine sogenannte disziplinierte Demokratie – ein Ausdruck, auf den wahrscheinlich nur Militärs kommen können. Aber man muss sich auch fragen: Muss eine parlamentarische Demokratie nach dem Vorbild Europas das eigentliche Ziel unserer Intervention sein? Muss überall alles genau nach dem europäischen Muster strukturiert sein? Ich denke, das sollte man nicht einem europäischen Moralkolonialismus überlassen. ({3}) Sanktionen, wie sie von der EU geplant sind, treiben Myanmar noch mehr in die Abhängigkeit von China. Ich meine, unsere Leitlinie muss sein, die demokratischen Kräfte in diesem Land zu stärken und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Das Erste fordert die Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien in Myanmar, das Zweite fordert aber auch die Zusammenarbeit – im entwicklungspolitischen Sinne – mit der Verwaltung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Jürgen Hardt. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mir zwei Vorbemerkungen nicht verkneifen. Es ist gute Tradition dieses Hauses, dass wir wichtige außenpolitische Entwicklungen, insbesondere dann, wenn Menschenrechte in Gefahr sind, wenn gewaltsame Umstürze erfolgen, auch immer zum Gegenstand der Debatten im Deutschen Bundestag machen. Es ist auch gut, dass der Bundesaußenminister die Gelegenheit hat, hier die Position der Bundesregierung zu diesem Thema darzulegen. Ich habe den Eindruck, dass die versammelten interessierten Kolleginnen und Kollegen es als genauso richtig ansehen, dass wir als Koalition die Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt haben und dass wir sie heute durchführen. ({0}) An die Adresse meines Vorredners möchte ich sagen: Ich finde es, offen gesagt, ziemlich absurd, hier über gute und schlechte Diktaturen zu dozieren ({1}) und dann noch in dieser absolut herrschaftlichen, chauvinistischen Attitüde zu sagen: Demokratie ist ja gar nicht was für alle; die in Asien wissen sowieso nicht, wie man das macht. ({2}) Diese Art und Weise des Umgangs mit anderen Völkern und den Rechten – auch den Menschenrechten – anderer Menschen auf der Erde spricht, finde ich, Bände und wirft ein bezeichnendes Licht auf Ihre Partei und Ihre Gesinnung. ({3}) Ich könnte noch hinzufügen: Ich habe das Gefühl, die AfD betrachtet auch in Deutschland nicht jeden als demokratiefähig: Wenn man nicht glaubt, was Sie erzählen, dann ist man auch kein Demokrat. ({4}) Vor ziemlich genau zehn Jahren hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel der damaligen Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi die volle Unterstützung Deutschlands bei der Demokratisierung des Landes zugesagt. Das war ein damals vielbeachteter internationaler Akt der Bundesregierung. Der Deutsche Bundestag hat dann in einer Debatte, die auf Grundlage eines von der damaligen Koalition aus Union und FDP eingebrachten Antrags geführt wurde, festgestellt, dass wir in Myanmar den äußerst seltenen Fall beobachten, dass sich eine Diktatur offenbar aus sich heraus wandelt. Das haben wir damals, 2012, so erhofft und erwartet, und wir hatten in den letzten neun Jahren auch den Eindruck – trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge, die es gegeben hat –, dass dieses Land auf einem guten Weg war. Das, was Anfang Februar in Myanmar geschehen ist, ist ein derber Rückschlag. Es ist ein kompletter Kurswechsel dieses Landes, auch der Militärführung dieses Landes, die selbst vor zehn Jahren dem Demokratisierungsprozess nicht im Wege gestanden hat. Wir fordern erstens, dass man das Wahlergebnis anerkennt, das die letzten Parlamentswahlen ergeben haben. Es gibt keine vernünftigen Zweifel daran, dass dieses Ergebnis gerecht ist. Im Übrigen ist auch die Stimmung im Land so, dass die Niederlage der Militärpartei und der große Erfolg der Partei Aung San Suu Kyis und ihrer Unterstützer entsprechend richtig gewesen ist. Wir fordern ein Ende der Gewalt gegen friedliche Demonstranten. Wir haben große Befürchtungen angesichts der Eskalation der Gewalt, die mittlerweile zu mehreren Dutzend Todesopfern geführt hat und zu der wir leider schreckliche Bilder in den sozialen Netzwerken quasi stündlich beobachten müssen. Ihr muss Einhalt geboten werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass das Land insgesamt noch stärker in Gewalt versinkt, als es bereits jetzt der Fall ist, weil Gewalt im Zweifel Gegengewalt provoziert. Das muss unbedingt vermieden werden. Das Land war 50 Jahre von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Erde abgeschottet. Es ist seit etwa zehn Jahren auf dem Weg der Öffnung gewesen. Das hat dem Land gutgetan. Das Land hat im Übrigen durch seine geografische Lage und seine Bodenschätze auch ziemlich gute Voraussetzungen, zu einem prosperierenden Partner der Weltökonomie und Weltvölkergemeinschaft zu werden. Die geografische Lage mit der langen Küste zum Indischen Ozean, im Nordosten angrenzend an China, ist nicht nur für China und seine Exportbemühungen, sondern auch für alle anderen, die Richtung China exportieren wollen, durchaus eine gute Perspektive, um einen weiten Seeweg durch die Straße von Malakka zu vermeiden. Deswegen wird das, was das Militär jetzt gemacht hat, das Land nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich deutlich zurückwerfen. Ich setze darauf, dass die ASEAN vorankommt. Ich glaube aber, dass auch der G-7-Gipfel im Sommer ein klares Zeichen setzen muss und dass Sanktionen der Europäischen Union und Deutschlands gegen einzelne Personen insbesondere dann eine Wirkung entfalten, wenn sie im Schulterschluss der G-7-Nationen durchgeführt werden. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir diesen Schulterschluss mit den Demokratien dieser Welt suchen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat als Nächstes der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben, dass auch jetzt wahrscheinlich, in diesen Minuten, unschuldige Menschen, die für ihr Recht auf Demokratie auf die Straße gehen, in Myanmar kaltblütig ermordet werden. Dieses Leid nutzen die Vertreter der AfD-Fraktion, um sich in ihrer ideologischen Verblendung an den sogenannten Altparteien abzuarbeiten oder darüber zu schwadronieren, ob vielleicht auch eine Entwicklungsdiktatur hinnehmbar ist. Wie zynisch und menschenverachtend muss man sein, wenn man dieses Leid für diese ideologischen Kampfreden missbraucht? ({0}) Ich möchte aus einigen Nachrichten zitieren, die mich erreicht haben, von Menschen aus Myanmar, die ich kenne. Ein deutscher Touristen-Guide aus Yangon schrieb gestern: Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich bin verzweifelt. Menschen werden auf offener Straße ermordet – von Terroristen in Polizei- und Militäruniform … Keiner ist mehr sicher. Terroristen haben das Land übernommen und töten jeden Widerstand im Keim ab – im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist nicht in Worte zu fassen. Und ein früherer Schulkamerad von mir schrieb mir gestern: Hier geht es um eine kleine Gruppe, macht- und geldhungrig. Keiner, aber auch keiner im Land will diese kleine schmutzige Armeegruppe haben … Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau darum geht es: Eine Clique von mächtigen Männern, Militärs, betrachtet seit Jahrzehnten das Land Myanmar als ihr persönliches Eigentum. Sie beuten das Land aus. Sie bereichern sich selbst, anstatt die verschiedenen Gruppen und Ethnien miteinander zu versöhnen und das Land zum Wohle aller dort lebenden Menschen in eine bessere politische, soziale und wirtschaftliche Zukunft zu führen. Einige dieser Generäle glauben immer noch, dass sie ihre alte Ordnung mit enthemmter Gewalt gegen friedlich demonstrierende Menschen wiederherstellen können, und nicht nur mit Tränengas und Schlägen, sondern auch mit gezielten tödlichen Schüssen in Kopf und Brust. Das ist unerträglich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Doch diese Gewaltorgie wird den Diktatoren nichts nutzen. Denn alles hat seine Zeit, und jetzt ist die Zeit gekommen, dass die Menschen in Myanmar sich nicht mehr einschüchtern lassen. Sie werden sich weiter dem Terrorregime widersetzen. Deshalb sage ich den Herren Generälen hier von diesem Rednerpult des Deutschen Bundestages in aller Klarheit: Stoppen Sie Ihren Terror! Lassen Sie alle politischen Gefangenen frei! Ihre Zeit ist schon lange vorbei. Geben Sie die Macht dahin, wo sie hingehört: in die Hände des Souveräns, und das ist niemand anders als die 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger Myanmars. ({1}) Was in Myanmar passiert, kann uns, die wir in Freiheit und Demokratie leben dürfen, nicht kaltlassen. Wir dürfen nicht nur ohnmächtige und mahnende Beobachter bleiben, sondern müssen schnell und entschlossen handeln. Daher begrüße ich ausdrücklich die klaren Worte unseres Bundesaußenministers und unseres Bundestagspräsidenten zu den Putschisten in Myanmar. Und selbstverständlich begrüßen wir es in der SPD-Bundestagsfraktion, dass die Europäische Union Sanktionen auf den Weg bringen will, die gezielt die Verantwortlichen für diesen Militärputsch und deren wirtschaftliche Interessen treffen sollen. Aber diese Sanktionen müssen jetzt auch kommen. Sie müssen zeitnah kommen, und sie müssen zielsicher angewendet werden. Im engen Schulterschluss mit der neuen US-Regierung müssen die EU und auch die internationale Gemeinschaft den Druck auf die Militärs und ihre Netzwerke spürbar erhöhen. Dazu muss, falls es noch nicht geschehen ist, gerade jetzt auch das Gespräch mit den ASEAN-Staaten, die hier eine besondere Verantwortung tragen, weiter gesucht werden. Die Kollegin Dağdelen hat völlig recht: Es darf keine geopolitische Aufladung dieses Konflikts in dieser Region geben. – Aber das heißt nicht, dass wir tatenlos zusehen, wenn China Myanmar zu seinem Spielball machen möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Was neben dem Druck auf die Putschisten jetzt wichtig ist: Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass wir auf der Seite der friedlichen, mutigen Menschen in Myanmar stehen, die zurzeit jeden Tag ihr Leben für Freiheit und Demokratie riskieren. Diese Akteure der demokratischen Zivilgesellschaft brauchen längerfristig eine klare Strategie und eine breite internationale Unterstützung. Denn es ist doch gerade diese mutige Zivilgesellschaft, so wie wir sie jetzt erleben, die in großer Solidarität zusammensteht, die ja die Zukunftsoption für dieses tolle Land sein kann. Doch jetzt müssen wir erst mal alles tun, um die Gewalt der Herrschenden zu stoppen, damit ein neuer Dialog beginnen kann. Dieses Land braucht dringender denn je einen Dialog zwischen den politischen Lagern, zwischen ethnischen Gruppen. Wir alle wissen: Das wird eine Herkulesaufgabe. Doch wenn der Moment gekommen ist, sollten wir da sein und Hilfe anbieten. Bis es so weit ist, müssen wir jede Gelegenheit nutzen, den Herren Generälen unmissverständlich klarzumachen, dass ihr Terror gegenüber dem eigenen Volk für sie nicht folgenlos bleiben wird. Abschließend möchte ich sagen: Angesichts des großen Leids in Myanmar möchte ich diesen Generälen immer wieder zurufen: Ihr werdet nicht durchkommen. Beendet das Morden, und gebt dem Volk seine Freiheit! Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat als Nächstes der Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorgänge, die Bilder, die uns aus Myanmar erreichen, sind furchtbar, aufs Schärfste zu verurteilen und müssen sofort aufhören. Sich aber heute hierhinzustellen und das Kind zu verurteilen, nachdem es in den Brunnen gefallen ist, ist etwas zu einfach. Denn die Zivilregierung Myanmars hat mehrfach in den vergangenen Jahren die Hand in Richtung Deutschland ausgestreckt und um Hilfe gebeten. Aber Deutschland ging es offensichtlich nie wirklich um ein tieferes Verständnis für dieses kleine Land, das jahrzehntelange Militärherrschaft brechen musste – eine Militärherrschaft, die auch die Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi nicht alleine ohne Hilfe abschütteln konnte. Dass die Militärs an den Schaltstellen sitzen, so wie es heute hier beklagt wird, ist keine Überraschung; es ist ja nicht erst seit heute so. Die Verantwortung dieses Parlamentes hätte darin bestanden, diesem Land zu helfen und genau und objektiv zu prüfen, was vor Ort eigentlich geschieht. Man hätte auch im Rohingya-Konflikt mit der Botschafterin reden müssen, statt sie wie eine Aussätzige zu behandeln. Stattdessen haben sich im Sommer 2018 – das ist mittlerweile fast drei Jahre her – nur Frauke Petry und ich mit ihr getroffen, um uns einmal wirklich auch aus ihrer Sicht schildern zu lassen, wie sich die Verhältnisse im Land darstellen. Ein Außenminister Gabriel hat es damals sogar noch geschafft, die Regierung bei einem ASEAN-Treffen zu düpieren, indem er nur kurz aufsetzte und ohne direkten Kontakt einfach weiterfuhr. Sie haben sich zu keinem Zeitpunkt für die in Arakan aktiven Dschihadisten interessiert, die den fragilen Vielvölkerstaat destabilisierten. Und Sie haben es nicht für nötig gehalten, deren Vorgehen zu ächten. Stattdessen hat man Myanmar geächtet und dann Sanktionen beschlossen, ohne sie mit den offiziellen Vertretern hier im Lande zu besprechen. Man hat der Zivilregierung keine Hilfe angeboten, um den Rückfall in genau dieses autoritäre Regime zu verhindern. Das wäre aber vielleicht der richtige Weg gewesen, um auch die Rohingya-Frage nachhaltig zu lösen, über die hier im Haus augenscheinlich öfter gesprochen wird als über die Uiguren oder die weltweite Christenverfolgung. Kurzsichtige moralische Selbstbeweihräucherung scheint einigen hier wichtiger zu sein als eine objektive Bewertung des Spannungsverhältnisses, in welchem dieses Land steht, nicht nur zu China, und welche geostrategische Bedeutung es dort hat. Denn den Konflikt haben wir längst. Sie messen wieder einmal mit zweierlei Maß, und das prägt Ihr Handeln. Ich fordere Sie daher auf, nicht nur in sich zu gehen und zu überdenken, wie man mit Myanmar in der Vergangenheit umgegangen ist; ich fordere Bundestag und Bundesregierung gleichermaßen dazu auf, sich klar und deutlich hinter die demokratische Zivilregierung zu stellen und mit einer symbolischen Geste das Verhältnis zwischen unseren beiden Ländern wieder zu versöhnen. Daher fordern wir als LKR ein Asylangebot an Aung San Suu Kyi. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Volker Ullrich. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir auf die Bilder aus Myanmar schauen, sind Wut und Trauer unsere Gefühle. Nach UN-Angaben sind allein gestern bei Protesten 38 Menschen ermordet worden. Trotz der schlimmen Vorkommnisse gehen die Proteste weiter, und die Menschen lassen sich nicht entmutigen. Davor haben wir Respekt. Deswegen ist es wichtig, heute zu debattieren und klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen: Wir stehen an der Seite des burmesischen Volkes. ({0}) Wir bringen klar und deutlich folgende Forderungen zum Ausdruck: Die Gewalt muss enden, und die Täter aus der Militärjunta sind konsequent zur Rechenschaft zu ziehen. Die politischen Gefangenen und Inhaftierten sind sofort freizulassen. Der Ausnahmezustand ist aufzuheben. Das burmesische Parlament muss sofort seine Tätigkeit wieder aufnehmen können, um eine demokratisch legitimierte Regierung zu stützen. – Das muss Grundkonsens in diesem Hause sein. Der Umstand, dass ausgerechnet am 1. Februar, am Tag der konstituierenden Sitzung des burmesischen Parlaments, der Militärputsch erfolgte, zeigt die besondere Missachtung auch der Militärjunta für demokratisch legitimierte Volksvertreter. Deswegen brauchen wir in allen Parlamenten der Welt ein deutliches Zeichen der Ächtung der Ereignisse in Myanmar und der Distanzierung davon. ({1}) Am 8. November 2020 hat das Volk gesprochen und mit einer großen Mehrheit der Nationalen Liga für Demokratie unter der Führung von Aung San Suu Kyi die Führung des Landes anvertraut. Obwohl nach der halbautoritären Verfassung Myanmars 25 Prozent der Sitze unabhängig vom Wahlergebnis für das Militär reserviert sind, kam es zu diesem Erdrutschsieg für die Nationale Liga. Das bedeutet, dass hier ein klarer Auftrag für die Führung Myanmars vorliegt. Deswegen ist die Militärjunta aufgerufen, diesen Willen des Volkes zu respektieren und ihn in die Tat umzusetzen. Wir stehen auch an der Seite des burmesischen Volkes, weil wir wissen, dass dieses Volk eine lange Leidensgeschichte hat. Bereits 1988 wurden Proteste sehr blutig niedergeschlagen, damals ohne soziale Medien, ein von der Weltgemeinschaft fast vergessenes Ereignis. Aber heute muss es anders sein. Es muss erfolgreich sein, es muss gewaltlos sein. Die junge Generation lebt diesen Protest und trägt ihn über die sozialen Medien in die Welt hinaus. Deswegen muss deutlich werden, dass sie sich unserer Solidarität sicher sein kann. Sie kämpft für Demokratie, für Freiheit und für den Respekt vor Menschenrechten. Überall dort, wo Menschen für Menschenrechte und Demokratie und Freiheit eintreten, muss auch dieser Bundestag mit Solidarität zur Seite stehen. Deswegen ist es wichtig, heute Mittag diese Debatte zu führen, meine Damen und Herren. ({2}) Wir müssen auch deutlich zum Ausdruck bringen, was wir uns erwarten: eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, gemeinsam mit unseren Freunden in Nordamerika, den Vereinigten Staaten und Kanada, personenbezogene Sanktionen gegen die führenden Köpfe der Militärjunta, ({3}) Einfrierung von Guthaben, um deutlich zu machen, dass es auch ökonomisch Konsequenzen hat, wenn jemand so mit seinem eigenen Volk umgeht. Aber in Myanmar geht es noch um mehr. Myanmar grenzt an Thailand, an Indien und an China. Es ist ein starkes Land im südostasiatischen Raum. In diesem Bereich der Welt kristallisiert sich gerade – das zeigt auch der Blick nach Hongkong – eine große Frage heraus: Was ist stärker, Freiheit und Demokratie oder Unterdrückung und ein autoritäres Regime? Die Antwort, die die Weltgemeinschaft darauf geben muss, ist eindeutig. Die Antwort kann nur sein, dass Menschenrechte, Freiheit und Demokratie am Ende stärker sind. Auch dieser Kampf wird im Augenblick in den Straßen von Myanmar ausgetragen. Deswegen ist noch mal das Signal wichtig: Wir stehen an der Seite des Volkes in Myanmar. Herzlichen Dank. ({4})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Min Aung Hlaing, Soe Win, Myint Swe, Sein Win, Soe Htut, Ye Aung, Mya Tun Oo, Tin Aung San, Ye Win Oo und Aung Lin Dwe. Man könnte auf die Idee kommen, die Namen der Opfer der Ermordeten der letzten Tage und Stunden hier vorzutragen. Das sind sie in dem Falle aber nicht, sondern es sind die Namen der Täterinnen und Täter. Aber das ist auch wichtig, damit man sich die Namen merkt und schaut, wie man damit international umgehen kann. Die USA haben sie bereits auf eine Sanktionsliste gesetzt. Es sind dieselben Vertreterinnen und Vertreter der Militärs, die übrigens in Den Haag schon vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen. Ich will noch mal sagen: Ich glaube, man kann nicht Opfer gegen Opfer aufrechnen. Aber es ist schon infam, Herr Braun, wenn Sie hier die Argumentationsmuster genau der Militärs übernehmen, die von Bengalen reden, die eigentlich gar nicht zu Myanmar gehören würden, wenn Sie über die Rohingya reden und genau diese Argumentationsmuster übernehmen, die die Grundlage und der Hintergrund des Völkermordes, des Genozids, sind, der an Tausenden Menschen verübt wird. Hunderttausende sind vertrieben worden. Das sollten Sie bei aller politischen Auseinandersetzung wirklich unterlassen. ({0}) Der Völkermord an den Rohingya ist dramatisch und schlimm. Deswegen ist es richtig, dass der Deutsche Bundestag diesen verurteilt. ({1}) Es sind dieselben Militärs, die diesen Völkermord verantworten und die jetzt auf unschuldige Menschen schießen lassen, sie gezielt erschießen lassen. Sie sind verantwortlich und müssen dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Lage und Entwicklung Myanmars ist wirklich ein internationales Drama. Myanmar hat mehr Aufmerksamkeit bekommen als viele andere Länder der Welt. Das hat sicherlich etwas zu tun mit dem Charisma von Aung San Suu Kyi. Es hat sich am Ende leider das bewahrheitet, was sie befürchtet hat. Sie hat befürchtet, dass am Ende die Militärs wieder putschen werden. Sie hat sich wahrscheinlich auch deswegen in der Frage der Rohingyas zurückgehalten. Man könnte es aber auch andersherum sagen: Das, was sie versucht hat, nämlich einen Völkermord nicht „Völkermord“ zu nennen, hat sich am Ende für sie nicht ausgezahlt. Es hat trotzdem am Ende diesen Putsch gegeben. Es hat sich auch nicht ausgezahlt – so viel kritische Betrachtung muss schon sein –, dass sie es versäumt hat, ihre Partei, die Nationale Liga, entsprechend neu aufzustellen. Auch ich war in Myanmar und habe Vertreterinnen und Vertreter dieser Nationalen Liga getroffen. Es war eine Riege alter Männer. Die Partei hat es leider nicht geschafft, das, was wir jetzt auf den Straßen an jungen Menschen, an Zukunftshoffnung, an Zukunftsperspektiven sehen können, mit in diesen demokratischen Prozess einzubringen. Am Ende sind auch die Vertreter der Rohingyas, die früher in dieser Partei an führender Stelle waren, zum Teil als stellvertretende Parteivorsitzende, ausgeschlossen worden. Das hat zu großen Enttäuschungseffekten geführt. Jetzt haben wir aber die Situation, dass eine demokratisch legitimierte Führung des Landes geputscht wurde und dass junge Menschen dagegen aufbegehren, eine Zivilgesellschaft, wie man sich das, glaube ich, nicht hätte vorstellen können, wie sich das auch die Militärs nicht hätten vorstellen können. Das macht große Hoffnung. Es stimmt tieftraurig, zu sehen, wie tagtäglich Menschen ermordet werden. Was können wir tun? Wir tun das ja in großer Einigkeit, glaube ich. Wir müssen die Dinge auf den Tisch legen und die Fragen diskutieren, um deutlich zu machen: Niemand kommt ungenannt davon. – Wir müssen alles tun, um Aung San Suu Kyi, ihre Partei und die demokratisch legitimierte Regierung zu unterstützen, dass sie wieder ins Amt kommt. Wir müssen verurteilen, dass diese Gewalt gerade stattfindet, und fordern, dass politische Gefangene freigelassen werden, dass die Verfolgung eingestellt wird. Und wir müssen den EU-Sanktionsmechanismus nutzen, den wir dankenswerterweise mittlerweile haben, auch in Abstimmung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die zum Glück zurück sind auf der Weltbühne. Wir dürfen solche Verbrechen nicht decken, sondern müssen sie entsprechend anprangern. Und wir müssen auch gemeinsam alles tun, um das Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof voranzutreiben. Noch mal: Man trifft sozusagen immer die Richtigen. Es sind dieselben, die den Völkermord an den Rohingya begehen und die gerade unschuldige Menschen erschießen lassen. Lassen Sie uns hoffen, dass mit dem internationalen Protest, aber vor allem mit dem Engagement der jungen Menschen im Land, die Demokratie in Myanmar schnell zurückkehrt. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Abgeordnete Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion. – Bitte schön. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. – Herr Präsident! Herr Minister! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine Stunde lang mit Betroffenheit die Geschehnisse in Myanmar geschildert und aufgenommen. Wir haben sie mit Empathie aufgenommen. Wir haben danach gefragt: Wie ist das zu beurteilen? Und wir haben zusammen versucht, die Frage zu beantworten: Was können wir eigentlich tun? Mich persönlich überfällt immer – das wird manchem in diesem Haus so gehen – eine große Ohnmacht: eine Aktuelle Stunde, wie schon öfters bei solchen Gelegenheiten, und dann war es das wieder und wir gehen zu unseren Tagesgeschäften über. Was sollen wir auch tun? Wie können wir dieses Leid, die Gewalt, das Morden, die Herrschaftssucht von führenden Personen der Weltgeschichte wirklich begrenzen? Als Mitglied des Menschenrechtsausschusses überfällt mich diese Ohnmacht immer wieder. Wir hören Sitzungswoche für Sitzungswoche vom Elend aus allen Teilen der Welt und wissen dann doch nicht so richtig, was wir machen können. Herr Braun, ich möchte Ihnen und auch Herrn Mieruch entgegentreten. Es ist nicht so, dass die deutsche Regierung oder die deutschen Parlamentarier nichts getan hätten. Allein das Schreiben unseres Bundestagspräsidenten an den Sprecher des Parlaments macht deutlich, dass enge Beziehungen gewachsen waren, dass wir im Austausch standen. Es wurde erwähnt, dass die Bundeskanzlerin gleich zu Beginn der Präsidentschaft von Aung San Suu Kyi die Kontakte gesucht hat. In der Entwicklungszusammenarbeit haben wir zusammengearbeitet. Es ist einfach nicht wahr, wenn man das so sagt. Ich denke an die vielen Briefe und Kontakte, die wir als Menschenrechtler geknüpft haben. Aber, Frau Dağdelen, wer kann denn wirklich ermessen, welche Drahtseilwanderung es ist, die die Präsidentin mit dieser Verfassung und den Erbschaften angetreten hat: mit einem hochgradigen Nationalismus im Land, mit einem Hass auf die Rohingyas? Wir kennen ja die Aktionen gegen Flüchtlinge, gegen Fremde in unserem Land. Diese Präsidentin, von der wir so beeindruckt waren, weil sie den Friedensnobelpreis bekommen hat, stand in der Kritik, weil sie versucht hat, auf diesem Drahtseil weiterzugehen. Das ist gerissen. Das ist gerissen, weil die Militärs es nicht mehr ertragen konnten, dass die Entwicklung vielleicht in eine demokratische Richtung geht, die sie so nicht wollen, vielleicht nicht nur, weil ihre Pfründe weniger werden, sondern weil sie auch dem alten Weltbild – und da sind wir ganz nah auch bei unserem Land – verhaftet sind und nicht verstehen, dass eine multikulturelle Gesellschaft wie Myanmar mit der Vielvölkersituation gerade ein Vorbild sein könnte, dass diese multikulturelle Situation die Zukunft der Welt ist. Anders können wir nicht friedlich und gerecht zusammenleben. Ich würde mir wünschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Menschenrechtler in diesem Parlament eine stärkere Stimme bekommen. Ich empfinde uns immer als ein Anhängsel. Ja, wir tun etwas, vielleicht sind wir auch das Feigenblatt des Parlaments, vielleicht sind wir in Einzelfällen dann auch mal erfolgreich. Aber eigentlich müsste unsere Regierung mit uns intensiver zusammenarbeiten. Eigentlich müssten die anderen Ausschüsse intensiver mit uns zusammenarbeiten, sozusagen als Gütekontrolleur: ob das, was wir in unserer Politik und den einzelnen Bestrebungen machen, tatsächlich unseren menschenrechtlichen Vorstellungen entspricht. Denn im Abgleich zwischen wirtschaftlichen und diplomatischen Interessen erlebe ich immer wieder, dass menschenrechtliche Interessen ganz zurücktreten. Das will ich keinem vorwerfen; die sind ja auch wichtig. Aber wenn wir uns so schmücken und wenn wir eine solche Aktuelle Stunde haben, dann müsste uns das mehr beeindrucken und wir müssten sagen: Wir wollen uns dieser Selbstkontrolle auch unterwerfen. – Warum? Weil natürlich alle Menschen und vor allem die jungen Menschen in der Welt uns zum Vorbild nehmen. Sie wollen frei leben. Sie wollen wirtschaftlich erfolgreich leben. Sie wollen in einem allgemeinen Wohlstand leben, wie wir es tun. Und sie schauen, wie wir miteinander umgehen und woher unser Wohlstand und unsere Freiheit resultieren. Ich kann ihnen nur wünschen, dass das Wasser, von dem sie sprechen, überall hinrinnen wird, dass es auch die harten Strukturen und die harten Menschen erreichen und erweichen wird. Denn – ich will das mal ein bisschen relativieren – von Insidern höre ich, dass es gar nicht so eindeutig ist, dass zwar die Mehrheit, insbesondere junge Menschen, aufseiten der Präsidentin steht, aber es auch eine große Gruppe von Nationalisten und Menschen, die totalitären Regimen anhängen, gibt, die dem Militär sehr wohl die Stange halten und die jetzt als Bürgermilizen durch die Straßen gehen und die Bürger kontrollieren, die die Ermächtigung dazu haben, ihnen die Handys wegzunehmen, sie zu verhaften, sie in die Gefängnisse zu bringen. Im Land selber und nicht nur in der Generalität herrscht also eine Stimmung, die vielleicht sogar zum Bürgerkrieg führen könnte. Darauf müssen wir achten. Was können wir tun? Neben dem, was hier schon gesagt wurde, will ich nur noch eins anmahnen. Ich habe es nämlich öfter erlebt, wie schwer es ist, ein Visum für Menschen, die auf der Flucht sind, zu bekommen. Einer meiner Vorredner – ich glaube, Herr Schwabe – hat das gesagt: Wir müssen diesen Menschen Asyl bieten, und zwar ohne große Schwierigkeiten. – Immer wieder erleben wir, wie schwer es ist, aus solchen Situationen heraus in Deutschland eine Zuflucht zu finden. Ich denke an die Botschaft in Prag, als sich die DDR aufgelöst hat. Wie viele Menschen wurden dort aufgenommen! So schlimm muss es nicht kommen. Aber ich habe bei meinen Reisen in Vietnam und auf die Philippinen auch erlebt, wie schwer sich unsere Botschaften tun, –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, auch der letzte Redner hat nur fünf Minuten. Letzter Satz, bitte.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ja – hilfesuchenden Menschen auch konkret Hilfe zu geben. Das will ich nur mitgeben. Und dann will ich noch – Herr Präsident, wenn Sie gestatten – das Patenschaftsprogramm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ erwähnen. Es ist immer schwer, Parlamentarier dafür zu finden. Wir haben viel mehr Parlamentarier, die Schutz suchen, als Kolleginnen und Kollegen, die ihnen helfen wollen. Danke. ({0})

Sarah Ryglewski (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004622

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Fall Wirecard hat gezeigt, dass das bisherige System der Bilanzkontrolle börsennotierter Unternehmen und deren Abschlussprüfung in Deutschland verbessert werden muss. Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Bilanzbetrug und zur Stärkung der Kontrolle über Kapital- und Finanzmärkte hat Bundesminister Olaf Scholz schon im Oktober deutlich gemacht, dass wir entschlossen und schnell Konsequenzen aus dem Fall Wirecard ziehen wollen. Der im Dezember vorgelegte Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität, den wir hier heute beraten, ist ein wesentlicher Schritt, damit sich der Fall Wirecard nicht wiederholt. Worum geht es konkret? Erstens. Wir brauchen eine Neuaufstellung der Bilanzkontrolle. Die Erfahrung mit Wirecard hat gezeigt: Die Bilanzkontrolle muss insgesamt schneller, transparenter und auch effektiver werden. Wo Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten bestehen, müssen wir sofort hoheitlich tätig werden können, und wir müssen auch die Prozesse deutlich beschleunigen. Anlass- und Verdachtsprüfungen sollen daher grundsätzlich in die alleinige Zuständigkeit der BaFin fallen. Wir wollen die Durchgriffsrechte der BaFin insgesamt stärken, sodass sie auch in der Bilanzkontrolle forensisch ermitteln kann. ({0}) Zweiter Punkt. Die Abschlussprüferinnen und Abschlussprüfer tragen in dem System der Kontrolle eine hohe Verantwortung. Dieser – das möchte ich ausdrücklich betonen – werden sie in der absoluten Mehrheit auch gerecht. Dass sie dieser hohen Verantwortung gerecht werden, ist in unserem Aufsichtsregime aber auch zwingend notwendig. Alle Marktakteure bis hin zum Kleinanleger müssen sich auf die geprüften Jahres- und Konzernabschlüsse verlassen können. Dieses Vertrauen – das hat der Fall Wirecard gezeigt – hat gelitten. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir dieses Vertrauen wiederherstellen. ({1}) Mit verschärften Rotationspflichten und einer strikteren Trennung von Prüfung und Beratung wollen wir nicht nur Interessenkonflikte oder auch nur den Anschein von Interessenkonflikten vermeiden, sondern wir wollen auch durch den häufigeren frischen Prüferblick die Qualität der Prüfungen verbessern. Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die Erhöhung der Haftungshöchstgrenzen und die Abschaffung des Haftungsprivilegs bei grober Fahrlässigkeit. ({2}) Damit wollen wir ebenfalls verlorengegangenes Vertrauen wiederherstellen, aber auch zusätzliche Anreize für eine qualitativ hochwertige Prüfung geben. ({3}) In den meisten Fällen wird das nicht notwendig sein; das wissen wir. Die meisten Prüfer prüfen gewissenhaft. Aber wir halten es doch für angemessen, dass in den Fällen, wo tatsächlich – und das ist die Definition von „grober Fahrlässigkeit“ – einfache und offenkundig grundlegende Regeln nicht beachtet wurden und Schaden in Kauf genommen wird, eben auch ein wirtschaftlicher Anreiz besteht, genauer hinzuschauen. Das ist insbesondere auch im Sinne all derer, die einen ordentlichen Job machen. Drittens. Wir wollen neben den Durchgriffsrechten für die BaFin und den Regeln für die Abschlussprüfer auch die internen Kontrollsysteme in den Unternehmen verbessern, zum Beispiel durch einen verpflichtenden Prüfungsausschuss. Wir wollen verhindern, dass sich Einzelne, wie im Fall Wirecard geschehen, mit kriminellem Verhalten ein Unternehmen zur Beute machen. Natürlich bringen wir noch weitere Reformen auf den Weg. Für einen integren und damit attraktiven Finanzplatz Deutschland brauchen wir auch eine gut aufgestellte, moderne und schlagkräftige Finanzaufsicht. Wir schieben den Handelsaktivitäten der einzelnen Mitarbeiter der BaFin einen Riegel vor. Ich glaube, auch das stärkt Vertrauen. Wir stärken die Rolle des Präsidenten, der damit aber natürlich – auch das muss uns allen klar sein – mehr Verantwortung bekommt, und wir möchten das Säulendenken innerhalb der BaFin durchbrechen durch eine abteilungsübergreifende Taskforce und eine stärkere datengetriebene Aufsicht. ({4}) Auch hierzu werden wir weitere Vorschläge unterbreiten, und ich freue mich auch schon auf die weiteren Diskussionen. Ich bin der Union auch sehr dankbar für das Positionspapier, das sie eingebracht hat. Ich nehme das einmal als Signal dafür, dass wir alle zusammen hier gut und angeregt diskutieren wollen, aber auch als Signal dafür, dass wir nicht nur gründlich beraten wollen, sondern dass uns allen auch bewusst ist, dass wir möglichst zügig beraten sollen. Denn der Finanzplatz Deutschland braucht Vertrauen, und das bekommen wir, wenn wir schnell Klarheit schaffen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Abgeordnete Kay Gottschalk. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Verehrte Vorrednerin Frau Ryglewski, der Fall Wirecard fällt nicht vom Himmel, und wir diskutieren schon sehr lange über die BaFin und ihre Disfunktionalität. Ich bin heilfroh, dass es den Untersuchungsausschuss Wirecard gibt, der – da bedanke ich mich bei allen Kollegen – durch seinen Druck und seine Aufklärungsarbeit dazu beigetragen hat, dass die Koalition nun endlich auch handelt. Denn dass bei der BaFin was war, ist seit vier Jahren in den Anhörungen, glaube ich, kenntlich gewesen, meine Damen und Herren. ({0}) Aber es geht nicht nur um die gesetzliche Regelung. Wir haben hier ja einen sehr guten Gesetzentwurf beigestellt. Was vielmehr deutlich geworden ist – das zieht sich durch alle Regierungsmitglieder, das betrifft alle Ministerien, die APAS, das Wirtschaftsministerium und das Finanzministerium –, ist die Corporate Governance und vor allen Dingen die Compliance. In der BaFin wird – Sie haben es gesagt – gezockt, da wird gar kein entsprechender Regelkatalog vorgehalten. Jemand von der APAS – wenn auch unabhängig, aber beim BAFA im Wirtschaftsministerium angesiedelt – hat Aktien der Wirecard AG und soll das alles beaufsichtigen. Meine Damen und Herren, wir müssen ähnlich wie für die Wirtschaftsprüfer auch für Regierungseinrichtungen wie Wirtschaftsministerium und alle anderen nachgelagerten Geschäftsbereichsbehörden eine neue Compliance, eine kritische Grundhaltung einführen. Wenn wir das nicht tun, dann sind viele Gesetze Makulatur und laufen ins Leere. ({1}) Ich höre zum Beispiel in Bezug auf die Geldwäsche – auch da müssen wir ran –, dass es da mal wieder eine Regelungslücke zwischen Niederbayern und der BaFin gab. Auch hier ist es wieder die BaFin. Wenn es eine Regelungslücke in Gesetzen gibt, dann ist immer die Regierung daran schuld, die dieses Gesetz auf den Weg gebracht hat; denn sie hat handwerklich gepfuscht und hat nicht richtig gehandelt bzw. juristisch nicht einwandfrei gearbeitet. Also auch hier muss man der Regierung, die es 2005 bzw. 2006 veranlasst hat – das war damals schon die Regierung Merkel –, – sagen: Leute, da habt ihr handwerklich unsauber gearbeitet. ({2}) Mit dem sogenannten Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz versucht nun Herr Scholz – das muss man eben auch so sagen –, zunächst politisches Vertrauen zurückzugewinnen. Denn das Vertrauen der Anleger, der Märkte und der Menschen, die investieren, wird nicht allein durch einen Gesetzentwurf wiederhergestellt. Wir müssen grundlegend an dieses Problem heran; und daran wird sich die AfD konstruktiv beteiligen. Wir haben dementsprechend einen Gesetzentwurf – wohlbemerkt einen Gesetzentwurf und nicht nur einen Antrag – vorgelegt. Ich möchte einigen Dingen mal vorgreifen. Wir als AfD schütten nicht wie die Regierung in ihrem Entwurf das Kind mit dem Bade aus, sondern wollen die Haftungssumme der Wirtschaftsprüfer – diese ist nach dem HGB auf 4 Millionen Euro begrenzt gewesen – auf 1 Prozent der Bilanzsumme des zu prüfenden Unternehmens, aber mindestens 10 Millionen Euro festsetzen. Die Regierung, insbesondere die SPD, möchte ja schon 20 Millionen Euro, wenn es geht, wahrscheinlich 40 Millionen Euro – ich weiß es nicht –, aber auf jeden Fall ganz, ganz hohe Summen in den Strafkatalogen ansetzen. Ich glaube nicht, dass es zu besseren Prüfungen und Prüfungsergebnissen führt, wenn wir die Strafen hochschrauben. Aber sie müssen merklich sein, und sie sollten daran orientiert sein – das ist immer vernünftig –, welchen Jahresumsatz das zu prüfende Unternehmen eigentlich macht. ({3}) Des Weiteren haben wir einen Vorschlag zur Rotation; ich kann mir schon vorstellen, dass da der eine oder andere stöhnt. Man muss sich das mal vorstellen: Bis zu 24 Jahre hätte EY bei Wirecard maximal prüfen und testieren können. Also dass da nicht vorher schon mal einer darauf gekommen ist, dass das ein bisschen lang ist, erschließt sich mir nicht. Wir sagen hier ganz klar – da gibt es zwar Kritik, aber wenn schon, denn schon –: Nein, jeweils vier Jahre sollen es sein. – Sie wollen jetzt zehn Jahre nehmen. Vier Jahre sind relevant. Ich möchte auch keinen Arzt haben, der sagt, er brauche ein, zwei Jahre, bis er mal eine Herz-OP machen kann oder bis er den Blinddarm rausnehmen kann. Nein, ich glaube, ich kann heute von guten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erwarten, dass sie sofort, wenn sie ein Unternehmen prüfen, ihrem Prüfungsauftrag auch entsprechend nachkommen. Alles in allem begrüßt meine Fraktion aber tatsächlich, dass die Koalition hier sehr schnell auf die Anliegen unseres Untersuchungsausschusses reagiert. Wir werden das kritisch begleiten. Wir werden uns mit einbringen und hoffen, dass sich ein Fall wie Wirecard tatsächlich nicht wieder ereignet – im Interesse der Sparer, der Rentner und vor allen Dingen auch des Finanzplatzes Deutschland und damit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn Wirecard hat auch Arbeitsplätze gekostet. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Abgeordnete Matthias Hauer. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Untersuchungsausschuss Wirecard gehen wir seit fünf Monaten dem Fall Wirecard auf den Grund. Wir finden dabei eine BaFin vor, die nicht den Gesamtkonzern Wirecard beaufsichtigt hat, eine Bilanzkontrolle, die keinen Betrug aufdecken konnte, und eine Geldwäscheaufsicht, die niemand ausgeübt hat. Wir sehen dort eine BaFin, die mit einem Leerverkaufsverbot und Strafanzeigen Partei für Wirecard ergriffen hat, Insiderhandel durch einige Aufseher und Banker sowie Abschlussprüfer, die testiert haben, obwohl Milliardenbeträge nicht existierten. Die Aufklärung dort läuft auf Hochtouren. Ich darf mich für die fraktionsübergreifend sehr gute Zusammenarbeit im Untersuchungsausschuss bedanken. Wir wollen den Skandal gemeinsam lückenlos aufklären. Das sind wir Anlegern, Mitarbeitern und auch allen anderen Akteuren am Finanzmarkt schuldig. ({0}) Wir müssen die richtigen Schlüsse aus dem Fall Wirecard ziehen. Der vorliegende Gesetzentwurf bietet dafür eine gute Grundlage. Er geht in die richtige Richtung. Um jedoch konsequente Lehren aus dem Fall Wirecard zu ziehen, wollen wir als Unionsfraktion den Gesetzentwurf nachschärfen. Wir brauchen eine starke Bilanzkontrolle aus einer Hand, ({1}) klare Kompetenzen bei der Geldwäscheaufsicht, weniger Konzentration auf dem Wirtschaftsprüfermarkt, die Stärkung der Rechte von Aufsichtsräten und auch mehr Transparenz bei Verstößen. Diese Punkte sollten wir im Gesetzgebungsverfahren zwingend ergänzen. Das hat übrigens die gemeinsame Arbeit im Untersuchungsausschuss gezeigt. Ich freue mich auch über die zustimmenden Worte von der Parlamentarischen Staatssekretärin Ryglewski dazu. Ich hätte dazu hier auch gerne zustimmende Worte des Bundesministers vernommen und finde eigentlich, dass bei einer solchen Debatte die Anwesenheit von Herrn Scholz angemessen wäre. ({2}) Das zweistufige Verfahren der Bilanzkontrolle hat bei Wirecard versagt. Die BaFin hat sich bei der Kontrolle auf die privatrechtlich organisierte Prüfstelle verlassen, obwohl beide Seiten, BaFin und DPR, wussten, dass der Prüfstelle die forensischen Werkzeuge fehlen, um Bilanzbetrug aufzudecken. Dennoch hält Herr Scholz am zweistufigen Verfahren mit einer privaten Prüfstelle fest. Wir als Union stehen für einen wirklichen Neuanfang beim Enforcement. Wir wollen nämlich eine Bilanzkontrolle bei der BaFin aus einer Hand mit klaren Zuständigkeiten und mit sachgerechten Kompetenzen. ({3}) Auch bei der Geldwäscheaufsicht brauchen wir eine konsequente Lösung. Derzeit prüfen BaFin und Bundesländer weitgehend unabgestimmt nur die jeweils eigene Zuständigkeit oder eben Unzuständigkeit. Deshalb konnte sich ein Milliardenkonzern wie Wirecard über Jahre nahezu komplett der Geldwäscheaufsicht entziehen. Sobald zu einem Konzern eine Bank gehört, soll sich nach unserer Sicht die BaFin-Aufsicht bei der Geldwäsche künftig nicht nur auf die Bank, sondern auf die gesamte Holding erstrecken. Dennoch findet sich dazu bislang im Gesetzentwurf nichts. Aber es ist ja noch nicht zu spät. Diese Zuständigkeitslücke können wir noch schließen. ({4}) Auf dem Abschlussprüfermarkt brauchen wir mehr Wettbewerb und nicht weniger. Wir als Union wollen deshalb Anreize für Joint Audits prüfen, um durch das Vieraugenprinzip die Prüfungsqualität zu steigern und der Konzentration auf dem Markt entgegenzuwirken. Wir halten eine maßvolle Haftungserweiterung nach dem Proportionalitätsprinzip für geboten. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Haftungsregelung geht deutlich über das Ziel hinaus und würde die Konzentration auf dem Wirtschaftsprüfermarkt sogar noch fördern. Hier gibt es dringenden Änderungsbedarf. Wir wollen noch weitere Verbesserungen am Gesetzentwurf. Wir wollen, dass die Abschlussprüfergesellschaft nach zehn Jahren wechselt; aber wir wollen zusätzlich, dass auch die Prüfungsteams vor Ort regelmäßig wechseln, nämlich spätestens nach fünf Jahren. Wir wollen, dass sich der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrates mindestens einmal im Jahr auch mit den Abschlussprüfern ohne Vorstand zusammensetzt. Wir wollen die präventive Wirkung berufsaufsichtlicher Maßnahmen durch erhöhte Transparenz stärken, und wir wollen Informationen von Whistleblowern besser nachgehen. Wenn also künftig ein Informant bei der BaFin anruft und auspacken will, dann darf es nicht mehr vorkommen, dass die BaFin beim Wort „Wirecard“ plötzlich kein Englisch mehr versteht und den Hörer auflegt. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns. Abschließend sage ich sehr deutlich: Wenn der Parlamentarische Untersuchungsausschuss oder auch die Sachverständigenanhörung noch weitere Dinge zu Tage fördern, werden wir als Union bereitstehen, das ins Gesetzgebungsverfahren noch mit aufzunehmen. Aufklärung und gesetzgeberische Schlussfolgerungen müssen im Fall Wirecard Hand in Hand gehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Matthias Hauer. – Der nächste Redner für die FDP-Fraktion ist der Abgeordnete Dr. Florian Toncar. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger kennen Deutschland als ein gut organisiertes Land, in dem funktionsfähige Behörden und eine gute Regierung dafür sorgen, dass das Recht in der Fläche durchgesetzt wird. Dieses Bild hat in den letzten Monaten gelitten: Andere Länder impfen schneller, sie sind uns bei der Digitalisierung voraus, können Kontakte nachverfolgen und Unterricht digital organisieren. Deutschland 2021 ist ein Land, in dem zwar alles geregelt ist, aber niemand mehr handelt, in dem viele mitdiskutieren, aber niemand entscheidet, geschweige denn für die Ergebnisse der eigenen Entscheidungen noch geradesteht. Deutschland 2021 ist ein Reformfall in vielerlei Hinsicht. ({0}) Ein Beispiel dafür ist auch der Fall Wirecard. Alles, was ich gerade eher im Kontext der Pandemie gesagt habe, kann man eins zu eins auf Wirecard übertragen. Ein beispielloser Betrug vor den Augen unserer Behörden! Nicht nur, dass die Behörden wie in vielen Fällen sonst untätig geblieben wären, nein, es ist den Leuten bei Wirecard sogar gelungen, die Täuschung so weit zu treiben, die Behörden zum Werkzeug ihres Betruges zu machen, Staatsanwälte und die Finanzaufsicht dazu zu bringen, in Form von Leerverkaufsverboten und Strafanzeigen gegenüber Journalisten Partei zu ergreifen und dabei mitzuhelfen, die Märkte noch weiter zu täuschen. Das ist aus qualitativer Hinsicht ein sehr viel gravierenderer Vorgang als viele andere Betrugsfälle in der Vergangenheit. ({1}) Wir haben im Untersuchungsausschuss gesehen, dass die zentralen Behauptungen der Bundesregierung aus dem letzten Sommer widerlegt sind. Behauptung eins: Das war für die Behörden nicht erkennbar aus Zeitungsartikeln. – Wir haben inzwischen eine ganze Fülle an Hinweisen aus seriösen Quellen, auch von anderen Behörden, gefunden, die insbesondere die Finanzaufsicht und die Staatsanwaltschaft zum Handeln bei Wirecard gezwungen hätten. Die zweite widerlegte Behauptung ist, es gebe keine ausreichenden Kompetenzen, weiter in die Muttergesellschaft hineinzugehen. Dass das nicht der Fall ist, haben wir gerade erst in der letzten Woche vom Exekutivdirektor für die Bankenaufsicht, Herrn Röseler, bestätigt bekommen. Ob diese Kompetenzen bestehen, sei sogar geprüft worden, aber man habe sie am Ende nicht ausgeübt. Insofern ist das, was Sie hier vorgelegt haben, aus meiner Sicht erst mal kein Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, sondern ein Schlechtes-Gewissen-Gesetz, meine Damen und Herren von der Bundesregierung. ({2}) Wir werden uns natürlich in den nächsten Wochen über Corporate Governance, die Organisation von Unternehmen unterhalten. Starke Aufsichtsräte heißt starkes Eigentum, und starkes Eigentum muss in der sozialen Marktwirtschaft das Ziel Nummer eins sein. Deswegen wollen auch wir die Aufsichtsräte stärken – über das hinaus, was Sie vorgelegt haben. Zum Thema Abschlussprüfer. Auch das betrifft eine Kernfunktion der sozialen Marktwirtschaft; denn der normale Kleinanleger kann ja nicht nach Singapur reisen und nachschauen, ob dort bei einer örtlichen Bank ein Treuhandguthaben von 1,9 Milliarden Euro vorhanden ist oder nicht. Er ist darauf angewiesen, dass das jemand für ihn macht. Insofern sehen wir auch hier Reformbedarf, ohne aber, wie Sie es machen, die mittelständische Prüferbranche derart mit Kosten und Auflagen zu belasten, dass es am Ende eine stärkere Konzentration auf die Big Four geben wird als vor Wirecard; das wäre nämlich genau die falsche Konsequenz aus diesen Erkenntnissen. ({3}) Und wir werden uns mit Ihnen natürlich über das Aufgabenprofil der Finanzaufsicht unterhalten müssen. Eine Finanzaufsicht, die für alles zuständig ist, was sich auf dem Finanzmarkt abspielt, die Sie noch stärker in neue Aufgaben wie die Überwachung von kleinen Selbstständigen, kleinen Anlageberatern oder in Form von Testkäufen im Kontext Verbraucherschutz einbinden wollen, eine solche Aufsicht wird doch die Aufgaben, die sie heute erledigen muss – Überwachung der Stabilität von Märkten oder Betrugsaufdeckung – nicht besser, sondern weniger gut erfüllen können.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, die Zeit ist abgelaufen.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deshalb ist bei der BaFin das Gebot der Stunde: Fokussierung, Schwerpunktsetzung, ein klares Profil und nicht immer mehr Aufgaben in der Breite. Das werden wir vorschlagen, und in diese Richtung muss das Ganze auch gehen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Toncar.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gesetze decken keine Skandale auf, sondern Menschen. Das ist doch der entscheidende Punkt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland hat eine ganze Serie von Finanzskandalen erlebt: vom Cum/Ex-Skandal über den P&R-Skandal hin zu den Skandalen bei der German Property Group und dieser Tage bei der Greensill Bank in Bremen sowie eben den Wirecard-Skandal. Das hat auch die Reputation der deutschen Finanzaufsicht massiv beschädigt. 20 Milliarden Euro Börsenwert haben sich im Wirecard-Skandal über Nacht in Konfetti aufgelöst, und das hat dramatische Konsequenzen, auch für Kleinanlegerinnen und Kleinanleger. Betroffen ist zum Beispiel ein Seemann, der bereits in Rente war; er muss jetzt wieder zur See fahren, weil er seine Lebensersparnisse verloren hat. Herr Kollege Toncar hat recht: In einem Land, in dem wir zum Beispiel die Taskforce während der Coronakrise ausgerechnet Herrn Scheuer und Herrn Spahn übertragen, schwindet vielleicht auch irgendwann das Vertrauen in andere Institutionen, in die Finanzaufsicht. Wir haben das Versprechen des Finanzministers, die BaFin solle die beste Finanzaufsicht der Welt werden. Aber momentan hat sie eher eine Performance wie Schalke 04. ({0}) Deswegen müssen wir, glaube ich, hier jetzt die richtigen Schlüsse ziehen. Das zweistufige Bilanzkontrollverfahren mit der DPR, der sogenannten Bilanzpolizei, hat sich nicht bewährt; denn die DPR ist eben privatrechtlich organisiert, und sie hat in der Kommunikation mit Wirecard, um nur mal ein Beispiel zu nennen, Wirecard darum gebeten, ihr Argumente zu liefern, weswegen sie Betrugsvorwürfe nicht untersuchten sollte. Der Präsident der DPR, Professor Ernst, hat Aufsichtsratsmandate gesammelt wie andere Leute Briefmarken. Deswegen ist es Zeit, dass wir uns von dem zweistufigen Bilanzkontrollverfahren verabschieden. ({1}) Das wäre ein Stück europäische Normalität; denn in anderen EU-Mitgliedstaaten ist diese Bilanzkontrolle eine hoheitliche Aufgabe. Die BaFin ist dafür bisher aber nicht befähigt. Sie hat nur fünf Mitarbeiter mit Wirtschaftsprüferexamen; und das müssen wir dringend ändern. ({2}) Denn man überträgt auch nicht dem ADAC die Alkoholkontrolle am Ortseingang. Wenn sich jetzt alle Welt über EY aufregt, die die Jahresabschlüsse immer so problemlos testiert haben, muss kritisch angemerkt werden: EY ist immer noch das Beratungsunternehmen, das am meisten Aufträge von der Bundesregierung bekommt, insbesondere von Herrn Spahn beim Management des Maskenchaos. Damit muss endlich Schluss sein! ({3}) Deswegen, sagen wir, braucht es das Vieraugenprinzip in der Wirtschaftsprüfung, Joint Audits. Es braucht häufigere Rotationen; der Bundesrat hat bei Unternehmen von öffentlichem Interesse sechs Jahre als Frist empfohlen. Und wir brauchen eine klare Trennung von Prüfung und Beratung. Wenn es eine Bank im Konzern gibt, brauchen wir auch eine Geldwäscheaufsicht, die bei der ganzen Holding ansetzt, damit wir dieses Aufsichtstennis zwischen Regierungsbezirk Niederbayern und BaFin nie wieder erleben. Zum Schluss ein Problem, über das auch viel gesprochen worden ist, nämlich dass in Aufsichtsbehörden Insiderhandel gemacht wurde, Beschäftigte selber mit Wirecard-Aktien gezockt haben. Hier gibt es eine große Regelungslücke, auch in Ministerien. Und ja, auch in dieser Institution, im Deutschen Bundestag, ist es möglich, dass Abgeordnete Insiderinformationen verwerten. Hier müssen wir dringend nachschärfen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Lisa Paus. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute ein Gesetz vorliegen, das Olaf Scholz sozusagen ein bisschen Luft im Wirecard-Skandal verschaffen soll. ({0}) Es stimmt, in dem Gesetz steht auch was drin; das ist nicht nichts. Es enthält zum Teil Relevantes. ({1}) Allerdings wäre es noch besser, wenn wir, nachdem wir dieses Gesetz jetzt haben, eine neue Führung bei der BaFin einsetzen würden. Das ist völlig klar: Mit diesem Gesetz braucht es auch eine neue Führung bei der BaFin. Aber da Olaf Scholz offenbar Herrn Hufeld noch länger als Schutzschild brauchte, werden wir jetzt zwar ein Gesetz beschließen, aber diese neue BaFin ist bisher führungslos; das wird sich um weitere Wochen und Monate verzögern. Ein echter Neustart bei der BaFin sähe anders aus. Sie hätten es anders machen können. ({2}) Und an entscheidenden Stellen greift dieses Gesetz eben zu kurz, auch wenn richtige Ansätze drin sind. Ein zentraler Punkt wurde schon genannt: Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung hat total versagt; sie hat gesagt, sie sei eine Bilanzpolizei, hatte aber überhaupt nicht die Mittel dazu. – Sie wollen sie mit diesem Gesetz trotzdem weiter bestehen lassen. Sie wollen jetzt Teilkompetenzen an die BaFin übertragen; weiterhin soll es aber diese Prüfstelle geben. Warum? Diese Prüfstelle in der Form braucht kein Mensch! Deswegen: Seien Sie konsequent! Unterstützen Sie das, was schon gesagt wurde: Diese Prüfstelle gehört abgeschafft und die Zuständigkeit für die Bilanzkontrolle vollständig auf die BaFin übertragen, meine Damen und Herren! ({3}) Mit diesem Gesetz stärken Sie tatsächlich auch Bereiche der BaFin; aber nach wie vor ist das Thema Verantwortung unklar. Wir haben es ja im Wirecard-Untersuchungsskandal erlebt – gerade heute haben wir das Thema Leerverkaufsverbot auf der Tagesordnung –: Bisher ist schon völlig klar, dass die BaFin hier fachlich nicht sauber gearbeitet hat. Vielmehr hat sie, obwohl es klare gesetzliche Grundlagen gibt, welche Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, um ein Leerverkaufsverbot zu verhängen, gegen diese Grundlagen verstoßen. Wir brauchten außerdem einen Untersuchungsausschuss, um zu klären, wer genau wie miteinander korrespondiert hat oder nicht. Deswegen sagen wir ganz klar: Die fachliche Verantwortung für solche Entscheidungen sollte allein bei der BaFin liegen; sie muss verantwortlich sein. Dafür braucht sie mehr fachliche Unabhängigkeit und nicht die Fachaufsicht des Bundesfinanzministeriums. Wir sagen: Diese BaFin sollte sich zukünftig auch gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit verantworten. Mehr Unabhängigkeit, mehr fachliche Stärke bei der BaFin – auch hier könnten Sie weiter gehen, meine Damen und Herren. ({4}) Eine völlige Leerstelle in dem Gesetz ist das Thema „Geldwäscheaufsicht bei der BaFin“. Da passiert gar nichts, und das, obwohl ein ganz zentraler Aspekt der ganzen Wirecard-Geschichte das Thema Geldwäscheskandal ist. Dazu findet sich in diesem Gesetz nichts – Fehlanzeige! Auch da gibt es dringenden Nachbesserungsbedarf. Es wurde schon angesprochen: Wir brauchen auf jeden Fall etwas zum Thema Mischkonzern, wir brauchen auch etwas zur klaren Definition von Finanzunternehmen. Auch hier brauchen wir dringend Nachbesserungen. ({5}) Zum Schluss das Thema Wirtschaftsprüfer. Es wurde ja schon darauf hingewiesen: Es gibt große Panik, dass wir auf einmal statt „Big Four“ nur noch „Big Three“ haben. Wie absurd ist das denn? Ganz sicher ist: Die vielen Beraterverträge der Bundesregierung allein werden nicht reichen, um EY das Überleben zu garantieren. Was wir dringend brauchen, ist tatsächlich mehr Wettbewerb. Das geht nicht von heute auf morgen. Deswegen sagen wir: Wir müssen damit anfangen, dass wir Joint Audits ermöglichen, bei denen man dann gemeinsam prüft – Vieraugenprinzip statt Zweiaugenprinzip –, und dass wir, wie Großbritannien, den Weg freimachen für eine klare Trennung von Prüfung und Beratung über einen Zeitraum von fünf oder sechs Jahren. Auch dafür brauchen wir konkrete Anknüpfungspunkte in diesem Gesetz. Dann könnten wir dem auch zustimmen. Vielleicht schaffen wir es ja in der entsprechenden Beratung. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: für die Fraktion der SPD die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall Wirecard hat gravierende Missstände am Wirtschaftsstandort Deutschland offenbart. Ein krimineller Clan hat es mit Märchen und Lügen bis in den DAX hinein geschafft. In der europäischen Geschichte war es ein beispielloser Raubzug – ein Raubzug, dessen Wiederholung wir mit allen Mitteln verhindern müssen. ({0}) Die Ursachen für den Wirecard-Skandal sind vielfältig. Im Mittelpunkt stehen jedoch zum einen das Versagen der Wirtschaftsprüfer und zum anderen ein lückenhaftes Regelwerk für die Aufsicht. Solange Prüfer lieber Blumen verschenken, als kritisch zu sein, und Behörden sich in die Nichtzuständigkeit flüchten, gibt es Handlungsbedarf. An diesen Stellen setzen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch an; ein zweites Wirecard darf es nicht geben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verschärfen die Rotationsfristen; kein Prüfer wird mehr über 20 Jahre mit seinen Prüflingen in den Jacuzzi springen. Kein Prüfer wird mehr aus Gründen fehlender Folgen auf Saldenbestätigungen verzichten. Wir heben die Haftungsgrenzen für grobe Fahrlässigkeit auf. Wir wollen, dass die Big Four keinen Haftungsblankoscheck mehr bekommen. ({2}) Doch das wird nicht reichen. Diese Vorschläge kommen aus dem Sommer, und bis heute gab es keinen einzigen Vorschlag aus der Fraktion der Union. ({3}) Aber seitdem haben wir einiges im Untersuchungsausschuss aufgedeckt. An dieser Stelle noch mal Dank an meine Kollegen, mit denen wir unermüdlich versuchen, den Fall Wirecard aufzuarbeiten! So sind uns umfangreiche Missstände bei der Prüferaufsicht der APAS bekannt geworden: Nicht nur zockt der APAS-Leiter trotz Insiderwissen mit Wirecard-Aktien – nein, über 30 der 50 APAS-Mitarbeiter/-innen sind auch direkt abhängig von den Big Four, sie hängen sozusagen am Tropf der Beaufsichtigten. Und von Wirtschaftsminister Altmaier – ich vermisse ihn heute hier – ({4}) wünsche ich mir ein bisschen mehr Einsatz bei der Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer. Die APAS muss gestärkt und vom Berufsstand unabhängiger werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann nicht einfach wie ein Strauß den Kopf in den Sand stecken und hoffen: Das geht an mir vorbei.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kein Aufruhr! Die Kollegin spricht.

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an Ihren Kabinettskollegen: Bei der BaFin wird jeder Stein umgedreht. Die BaFin wird neu aufgestellt. Sie bekommt neue Befugnisse, damit die Bilanzkontrolle Biss bekommt. Wir stellen sicher, dass die DPR kein Rotary Club für Aufsichtsräte mehr ist. ({0}) Und diesen Rotary Club können wir meinetwegen gerne auch auflösen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier fehlt aber eindeutig die APAS; bei ihr etwas zu ändern, ist entscheidend. Da warten wir noch auf konkrete Vorschläge. ({2}) Wir brauchen und wollen – das ist klar – eine Weltklasseaufsicht. Dafür legen wir mit diesem Gesetz den ersten Grundstein. Ich bin gespannt auf Ihre Vorschläge. Danke schön. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Fritz Güntzler hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren an den Fernsehern, die sich diese Debatte heute anhören! Sie ist wirklich so wichtig, dass der Untersuchungsausschuss seine Tätigkeit dafür unterbrochen hat und viele Mitglieder des Untersuchungsausschusses hier heute auch sprechen. Der Untersuchungsausschuss hat deutlich gemacht, dass der Fall Wirecard, aber nicht nur er – es gibt auch andere Fälle, die wir mit der BaFin in Verbindung bringen können, wie Grenke, AvP und jetzt die Greensill Bank –, dazu führt, dass wir handeln müssen. Aber was mir in dieser Debatte bis jetzt fehlt, ist der Hinweis, dass wir natürlich über Aufsicht diskutieren müssen, aber die Betrüger andere sind: Es gibt bei Wirecard im Vorstand Leute, die gezielt betrogen haben. Ich finde, das sollte man heute auch erst mal feststellen. ({0}) Natürlich müssen wir uns Fragen stellen, wenn so ein Betrug vorkommt: Warum erwischen wir die Betrüger nicht? Warum funktioniert das Aufsichtssystem nicht, das wir vielfältig gestaltet haben? Da sind natürlich auch die Abschlussprüfer im Fokus der Debatte – das weiß ich auch als Wirtschaftsprüfer –; aber, Frau Kiziltepe, in diesem Zusammenhang vermisse ich schon die BaFin, die Sie in Ihrer ganzen Rede nicht einmal erwähnt haben. ({1}) Ich bin ja auch gerne dafür, darüber nachzudenken, das Enforcement – also die Überprüfung, die Bilanzkontrolle – bei der BaFin einstufig zu gestalten. Das setzt aber voraus, dass die BaFin in Zukunft anders arbeitet, als sie im Fall Wirecard gearbeitet hat. Sonst funktioniert das nämlich nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Wir müssen uns natürlich auch ansehen, ob wir bei den Abschlussprüfern Reformbedarf haben. Wir müssen aber auch gucken, ob die Maßnahmen, die wir wirklich beschließen, tatsächlich einen Fall Wirecard oder einen ähnlichen Fall in Zukunft ausschließen. Aktionismus alleine hilft nicht. Ich sage schon deutlich, dass wir nicht alle 13 000 Wirtschaftsprüfer in Deutschland – es gibt nahezu 2 400 Wirtschaftsprüfungsgesellschaften –, die ihren Job im Wesentlichen wahrscheinlich gut machen, in Bausch und Bogen verurteilen dürfen. Denn wir haben in Deutschland kein Problem im System der Abschlussprüfung, sondern wir haben hier Abschlussprüfer gehabt, die anscheinend ihren Job nicht ordentlich gemacht haben, und das ist ein feiner Unterschied. ({3}) Natürlich muss man sich die Frage stellen, warum in einer so großen Organisation wie EY das passieren konnte. Aber ich halte es auch für falsch, die gesamte Organisation oder das Gesamtunternehmen EY mit über 11 000 Mitarbeitern einfach auf die Anklagebank zu setzen. Ich finde, das ist kein fairer Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Gesellschaft. ({4}) Der Kollege Hauer hat aufgezählt, was wir alles machen wollen. Ich finde, da sind auch gute Dinge dabei, die wir bei den Abschlussprüfern beachten müssen. Das Entscheidende ist – und das ist eine Bitte von einem Wirtschaftsprüfer, der aus dem Mittelstand kommt, der vor seinem Abgeordnetenmandat diesen Beruf sehr gerne ausgeübt hat, ihn teilweise auch noch ausübt und, auch wenn ich hoffe, dass mich der Wähler wieder wählt, irgendwann weiter ausüben möchte –, dass unser Gesetz nicht dazu führen darf, dass es nur noch große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften gibt, dass wir den ganzen Mittelstand vom Markt fegen. Die Gefahr besteht derzeit, wenn wir die Haftung so regeln, wie sie jetzt im Gesetz steht. Von daher haben wir da Diskussionsbedarf. Wir freuen uns auf die Diskussionen. Uns eint der Wille, etwas Gutes für den Finanzmarkt in Deutschland zu erreichen; denn er ist von zentraler Bedeutung für die deutsche Wirtschaft und damit für unseren gesamten Wohlstand. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt kommen wir zum letzten Redner zu TOP 12: Herr Kollege Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf hat seinen Ursprung im Wirecard-Skandal, dem größten Finanzskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte – eine Insolvenz mit Ansage, ein massiver Schaden für Aktionäre und Gläubiger und für den Ruf unseres Finanzplatzes Deutschland. Wir arbeiten diesen Betrugsfall in einem Untersuchungsausschuss auf. Was wir dort zu hören bekommen, deutet auf schwerwiegende Versäumnisse und Fehler bei der Aufsicht durch Behörden, BaFin und Bundesfinanzministerium hin. Der Betrug wurde einfach zu leicht gemacht. Es hat wohl noch keinen Untersuchungsausschuss gegeben, dessen Ergebnis in den Behörden so rasch so viele personelle Konsequenzen nach sich gezogen hat. Herr Hufeld, der damalige BaFin-Präsident, war das Bauernopfer und musste letztendlich gehen. Meine Damen und Herren, es sind vor allem strukturelle Konsequenzen nötig, um das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland wiederherzustellen. Wir haben als CDU/CSU dazu bereits im Juli 2020 in der Öffentlichkeit Vorschläge unterbreitet. Ich bin erfreut, manches von dem im vorliegenden Gesetzentwurf wiederzufinden. ({0}) Aber manches, das verbesserungsbedürftig ist, fehlt. Ich nenne nur einige Beispiele: Stärkung der Aufsichtsräte, kürzere Rotationszeiten für Abschlussprüfer und mehr Transparenz bei schwerwiegenden berufsrechtlichen Verstößen durch die Abschlussprüfer. Vor allem aber müssen die Ergebnisse des Wirecard-Untersuchungsausschusses Eingang in den Gesetzentwurf finden. Es geht nicht, dass lediglich ein Ablenkungsmanöver stattfindet. Wir brauchen ein durchdachtes Regelwerk. Mit Aktionismus gewinnen wir kein Vertrauen am Finanzplatz zurück. ({1}) Bei Wirecard gab es im BMF, bei der BaFin und in anderen Behörden eine organisierte Verantwortungslosigkeit der handelnden Personen. Jetzt müssen Behörden und Bundesregierung Verantwortung übernehmen. Der Erfolg unserer sozialen Marktwirtschaft beruht auf dem Prinzip der freien wirtschaftlichen Betätigung im Rahmen der politisch gesetzten Leitplanken. Unternehmen wie Wirecard, die diese Leitplanken bewusst missachten, beschädigen das Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung und liefern Vorwände, unser Wirtschaftssystem zu diffamieren. Aber auch der Staat, der die Einhaltung der Leitplanken nicht oder nur unzureichend kontrolliert, beschädigt Vertrauen. Es ist unbestritten: Bei Wirecard hat es schwerwiegendes Aufsichtsversagen gegeben. So etwas, meine Damen und Herren, darf nie wieder geschehen. Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf aus dem Bundesfinanzministerium, nicht aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Nichts gegen Sie, Frau Staatssekretärin Ryglewski, aber wenn der Minister in den Medien groß einen Gesetzentwurf ankündigt, dann darf er, wenn der Gesetzentwurf im Parlament beraten wird, nicht fehlen. Danke schön. ({2})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zur Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts hatte sich der Gesetzgeber entschieden, ab 2005 bis 2040 auf die sogenannte nachgelagerte Besteuerung von Renten umzusteigen. Das Verfassungsgericht hatte eine hohe, aber sehr nachvollziehbare Hürde gestellt, indem es damals anmahnte, dass es in keinem Fall zu einer doppelten Besteuerung kommen darf. Es darf also keine Versteuerung von Renten geben, soweit diese aus Beiträgen stammen, die nicht von der Steuer absetzbar waren. Viele Rentnerinnen und Rentner spüren diese Umstellung seit Jahren. In vielen Fällen führt der steigende Anteil der Versteuerung dazu, dass sie nun erstmals Steuererklärungen abgeben müssen. Für uns steht die Frage im Raume, ob nicht doch viele der Bezieher von jetzt versteuerten Renten Opfer einer zumindest teilweisen doppelten Versteuerung sind. Aber weder die Bundesregierung noch die Koalition sehen hier wohl gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Deshalb beantragen wir heute unter anderem detaillierte Berechnungen für unterschiedliche Personengruppen und mehr Informationen darüber, welche Auswirkungen die Anpassungen verschiedener Parameter aus der Reform von 2005 hätten, wenn es beispielsweise zu einer zeitlichen Streckung käme. ({0}) Wir benötigen auch sehr viel mehr Transparenz. Denn es geht nicht darum, dass Renten nicht versteuert werden – das muss gesagt werden –; aber es geht darum, dass Renten nicht doppelt versteuert werden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dieser offenkundigen Rechtsfrage wiegt ein anderer Aspekt besonders schwer, nämlich der Umgang mit denjenigen, die sich, gestützt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, gegen die aktuelle Versteuerungspraxis wehren. Sie scheitern zurzeit daran, dass es ihnen nahezu unmöglich gemacht wird, ihre Beschwer zu begründen. Man erwartet allen Ernstes, dass jeder Einzelne nachweist, dass es zu einer doppelten Besteuerung kommt. Dabei ist erkennbar, dass wir es hier eher mit einem Massenphänomen zu tun haben als mit diversen Einzelfällen. ({2}) Um diesen Nachweis führen zu können, bedarf es neben großer Detailkenntnis unseres ohnehin viel zu komplexen und komplizierten Steuerrechts im Prinzip aller Steuerbescheide und Rentenversicherungsnachweise der vergangenen 40 Jahre; wer, auch von uns, könnte das jetzt so beibringen. Zu Recht fühlen sich die Betroffenen in dieser Situation deshalb hilflos, und sie treten dann oft tief frustriert den Rückzug an. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Selbstverständnis eines Steuerstaates im Umgang mit seinen Bürgerinnen und Bürger ist zutiefst fragwürdig. ({3}) Deshalb steht die Umkehr der Beweislast im Zentrum unseres Antrags. Zukünftig sollen Rentnerinnen und Rentner einen Anspruch darauf haben, dass auf Antrag festgestellt und nachgewiesen wird, dass es nicht zu einer doppelten Besteuerung kommt. ({4}) Ich bin mir sicher: Wenn wir diese Beweislastumkehr eingeführt haben, wird auch dem Letzten relativ schnell klar werden, dass wir an dem Alterseinkünftegesetz von 2005 werden nachbessern müssen. In diesem Zusammenhang ein paar Worte zum Haushalt: Dieser Sachverhalt zeigt aus meiner Sicht exemplarisch den recht respektlosen Umgang dieser Bundesregierung mit der Verfassung im Steuerrecht, ob es die Rentenbesteuerung ist, ob es der Solidaritätszuschlag ist, ob es ganz aktuell die Beschränkung der Verlustabzugsmöglichkeiten bei den Kapitaleinkünften ist oder ob es die viel zu hohe Verzinsung im Steuerrecht ist. Das alles sind ja auch enorme Haushaltsrisiken, die immer mit getragen werden. ({5}) Wir sind der Auffassung, dass diese Bundesregierung auch an dieser Stelle nicht für solide Haushaltspolitik steht. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Markus Herbrand. – Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Olav Gutting. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, beim Thema Doppelbesteuerung von Renten wird gerade ein ziemlicher Popanz aufgebaut. ({0}) Wir sollten keine Ängste schüren und keine Erwartungen wecken, die am Ende keine Grundlage haben. Gerade bei diesem generationenübergreifenden Thema, das für unsere gesamte Gesellschaft so wichtig ist, sollten wir alles unterlassen, was irgendwie nach Effekthascherei aussieht. Thomas Eigenthaler, der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, hat sich vor Kurzem so geäußert: Zurzeit wird viel heiße Luft über die Rentenbesteuerung verbreitet. Rentnerinnen und Rentner werden verunsichert, und die meisten Kritiker haben fachlich wenig Ahnung. – Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Die nachgelagerte Besteuerung ist für die Bürgerinnen und Bürger in der Regel von Vorteil. Da das Einkommen im Rentenalter regelmäßig geringer ist als während des Erwerbslebens, führt das dazu, dass die Rentenzahlungen aufgrund der Steuerprogression mit einem niedrigeren Steuersatz belastet werden. ({1}) Die Umsetzung des Auftrags des Bundesverfassungsgerichts mit der stufenweisen Einführung der nachgelagerten Besteuerung konnte und kann natürlich nur jahrgangsweise und typisierend erfolgen. Genaue Vorausberechnungen für einen Zeitraum von 50 Jahren oder mehr – das liegt ja alles in der Zukunft – sind seriös einfach nicht möglich. ({2}) Wir haben unterschiedliche Erwerbsbiografien, wir haben Unterschiede beim Eintritt ins Rentenalter, bei den Rentenbezugszeiten, bei der Pauschalierung der Übergangsregelungen, also insgesamt ein komplexes Rentensystem. Deswegen kann es dazu kommen – in einigen wenigen Fällen –, dass heute Rentner Steuern auf Teile ihrer Rente zahlen, obwohl bereits die Beitragszahlungen teilweise der Steuer unterworfen waren. Das haben wir schon 2004 bei der Diskussion über den Entwurf des Alterseinkünftegesetzes erkannt. Diese Einzelfälle wurden schon damals identifiziert. Überall dort, wo es zu tatsächlichen und nicht nur zu gefühlten Doppelbesteuerungen kommen kann, haben wir auf Initiative meiner Fraktion hin die Öffnungsklausel eingeführt, die sich in der Praxis bewährt hat. Damit wird eine Zweifachbesteuerung definitiv ausgeschlossen. ({3}) Wir haben in der Gesamtbetrachtung einen neutralen Steuereffekt. Nun will ich das, was der Kollege Herbrand gesagt hat, ja gar nicht verleugnen. Diese Nachweispflicht für den Steuerpflichtigen – in einzelnen Fällen – ist nicht trivial. Wir können uns gerne alle zusammen die Beweislastverteilung noch einmal genauer anschauen und einer Überprüfung unterziehen. Aber eines ist klar: Wir können nicht zu einer kompletten Beweislastumkehr kommen. Es ist grundsätzlich so, dass derjenige, der etwas in Anspruch nehmen will, das natürlich auch beweisen und vortragen muss. ({4}) Es rechtfertigt aber nicht, dass hier der Eindruck erweckt wird, das sei ein Massenphänomen und es käme in breiten Teilen zu einer Doppelbesteuerung der Renten. ({5}) In der Anhörung des Finanzausschusses zu diesem Thema vor gut einem Jahr, im Januar 2020, herrschte dann ja auch Einigkeit darüber, dass Arbeitnehmern, die demnächst in Rente gehen oder schon in Rente sind, hier überhaupt keine Doppelbesteuerung droht, weil die Hälfte ihrer Rentenbeiträge, die sie eingezahlt haben, bei der Einzahlung nicht der Steuer unterlagen; denn das sind die Arbeitgeberbeiträge, die steuerfrei eingezahlt werden. ({6}) Wir wissen aber, dass es bei freiwillig versicherten Selbstständigen tatsächlich zu einer Doppelbesteuerungssituation kommen kann; denn die hatten bei der Einzahlung keinen Arbeitgeberanteil, der steuerfrei war. Aber für genau diese Fälle haben wir ja die Öffnungsklausel, und die zieht in diesen Fällen auch. ({7}) Kritik ist aber immer willkommen; das finde ich auch gut. An dieser Stelle komme ich auf den Antrag der FDP zurück: Nicht gut finde ich, dass das BMF den zugesagten Bericht zu den Erfahrungen des Rentenbezugsmitteilungsverfahrens – leider – bis heute noch nicht vorgelegt hat. Wir als Fraktion – eigentlich das ganze Haus – müssen das BMF noch mal drängen, diesen Bericht nun endlich vorzulegen. ({8}) Auch bezüglich der Forderung im Antrag der Liberalen, in den Rentenbezugsmitteilungen deutlich zu machen, welcher Teil der Rente oder des Erhöhungsbetrages seit Rentenbeginn steuerpflichtig ist und welcher nicht, bin ich völlig bei Ihnen. Das ist ein richtiger Ansatz. Wir müssen insgesamt die steuerlichen Pflichten für Bezieher von Alterseinkommen vereinfachen. Wir müssen das auf einen neuen Weg bringen. Wir müssen vor allem auch die Fälle berücksichtigen, bei denen es teilweise zu erheblichen Nachzahlungen kommen kann. Wir kennen das ja alle: Das sind Rentnerinnen und Rentner, die über Jahre hinweg keine Steuererklärungen mehr abgegeben haben und auch nicht abgeben mussten und nun plötzlich der Steuerpflicht unterliegen. Das ist völlig korrekt, aber da kann es dann zu erheblichen Nachzahlungen kommen, und das muss verhindert werden. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns diese Punkte zu Herzen nehmen und umsetzen und das Verständnis für die nachgelagerte Besteuerung noch mal stärken, dann haben wir, glaube ich, etwas Gutes getan. Es braucht dabei eine Gesamtbetrachtung und nicht die Verfolgung von Einzelinteressen. Wenn wir das schaffen, dann werden wir die Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner, die in weiten Teilen auch durch Debatten wie diese ausgelöst wird, beseitigen. Das sollte doch unser gemeinsames Ziel sein. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat die Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing für die Fraktion der AfD. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Verehrte Bürger! Zur Doppelbesteuerung der Rente und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2002 ist ja in der Vergangenheit schon sehr viel gesagt worden, auch dazu, dass dieses Gericht in seinem Urteil klar und deutlich ausgeführt hat, dass eine Doppelbesteuerung unbedingt und in jedem Fall zu vermeiden sei. Die daraufhin vom Gesetzgeber geschaffene Übergangslösung mit einem Stufenmodell entspricht aber nicht der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, da sie von einer zu kurzen Übergangsphase ausgeht und es damit eben zu einer Doppelbesteuerung kommt. Klagen dagegen liegen jetzt beim Bundesfinanzhof zur Entscheidung vor. Das zu erwartende Urteil hat einige Brisanz; denn wenn der Kläger hier erfolgreich wäre, hätte der Finanzminister erhebliche Steuerausfälle zu verkraften. Es ist ja nicht so, dass es nicht schon damals, vor Verabschiedung des Gesetzes, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit gegeben hätte. Mit Ach und Krach gelang es der SPD damals, CDU und FDP im Bundesrat zu überzeugen, die sich übrigens genau wegen dieser verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen gesträubt hatten – mit gutem Grund. Sowohl der ehemalige Vorsitzende der Sachverständigenkommission der Bundesregierung, Professor Rürup, als auch der damalige Vorsitzende der Deutschen Rentenversicherung, Herbert Rische, warnten eindringlich, dass das Gesetz „in erheblichem Umfang gegen das Verbot der Zweifachbesteuerung“ verstoße. Professor Kulosa, jetzt Richter am Bundesfinanzhof, sprach von einer evidenten Zweifachbesteuerung, die zu erkennen – ich zitiere – es „keiner komplizierten mathematischen Übung“ bedürfe. ({0}) Dass dieses Gesetz damals trotzdem verabschiedet wurde, ist ein alarmierendes Zeichen für eine bedenkliche Rechtsauffassung und eine eklatante Unfähigkeit zur Gestaltung von Gesetzen. Nicht nur ich, ich glaube, auch unsere Bürger würden es sehr begrüßen, wenn sich die Regierung vorher Gedanken macht, ob ein Gesetz gegen unsere Verfassung verstößt, statt darauf zu hoffen, dass bis zur endgültigen Klärung durch die Gerichte der eine oder andere Euro in die Staatskasse wandert. ({1}) Oder wie es der damals zuständige SPD-Finanzminister Hans Eichel rückblickend so schön sagte: „Wir hatten natürlich auch das Geld nicht mit vollen Händen, wie das dann später der Fall war, sondern wir hatten Defizite.“ Ich bin sehr zuversichtlich, dass der oberste Finanzhof in Kürze hier ob der Eindeutigkeit der Rechtslage eine klare Linie ziehen wird, die auch den Finanzminister wieder auf den Boden der Realität holt. Dieser hat im Haushalt leider keine Rückstellungen für den Fall der wahrscheinlichen Niederlage vor Gericht gebildet. Eine praktikable Lösung, wie dieser Übergang verfassungskonform gestaltet werden kann, haben wir als AfD bereits 2019 mit unserem Antrag „Abschaffung der Renten-Doppelbesteuerung“ vorgelegt. Dafür ist nichts weiter nötig als eine ausreichende Streckung der Übergangszeit auf 30 Jahre. Zu unserem Antrag und zu Anträgen der Grünen und der Linken hat es im letzten Jahr eine Anhörung im Finanzausschuss gegeben. Diese Anhörung beförderte erneut eine klare und simple Erkenntnis zutage: Die Doppelbesteuerung der Renten ist nicht verfassungsgemäß. Es ist schön, dass die FDP dies nun auch so sieht und einen Antrag hinterherschiebt. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass Sie während Ihrer Regierungsbeteiligung von 2009 bis 2013 ausreichend Zeit gehabt hätten, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Aber damals hatten Sie wahrscheinlich Wichtigeres zu tun. Zum Antrag selbst: Sie organisieren hier viel Arbeit für die Rentner und vor allem für die Finanzämter, dort einhergehend mit einem Aufwuchs an Bürokratie. Das ist schon erstaunlich für eine Partei, die sich doch den Abbau der Bürokratie auf die Fahne geschrieben hat. Sie lösen mit Ihrem Antrag keine Probleme, Sie wälzen sie nur bürokratisch aus. Man kann es bedeutend einfacher machen und die Erhöhung des Besteuerungsanteils der Rente zeitlich wesentlich strecken, sodass es zu keiner Doppelbesteuerung kommt. Das wäre dann der Antrag, den wir als AfD-Fraktion eingebracht haben. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der SPD hat das Wort die Kollegin Cansel Kiziltepe. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach der öffentlichen Anhörung im Finanzausschuss zu einer möglichen Doppelbesteuerung bei Renten und nach mehrfacher Ankündigung liegt uns nun endlich der Antrag der FDP vor. Da hat wohl eine Fraktion sechs Monate vor der Bundestagswahl die Rentnerinnen und Rentner für sich entdeckt, Herr Herbrand. Anders kann ich mir Ihren Stimmungswandel nicht erklären, weil Sie sich in der Anhörung genau gegenteilig geäußert haben. ({0}) Wir in der SPD kümmern uns nicht nur in Wahljahren um die Rentnerinnen und Rentner. Für uns ist klar: Es darf keine doppelte Besteuerung von Renten geben! Dies war immer unsere Position, und diese Position wird sich nicht ändern. ({1}) Im Moment stecken wir mitten im Umstellungsprozess bei der Rentenbesteuerung, den der Kollege Gutting beschrieben hat, hin zur nachgelagerten Besteuerung. Diese Umstellung ist auf insgesamt 35 Jahre angelegt. Begonnen hat der Prozess im Jahre 2005. ({2}) Grund für diese Umstellung ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dieses Urteil beinhaltete damals vor allem zwei Punkte: Es darf keine unterschiedliche Behandlung von Renten und Pensionen geben, und es darf keine doppelte Besteuerung geben. – Wir befinden uns aktuell mitten in der Umsetzung der ersten Vorgabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zweite Vorgabe ist grundsätzlicher Natur. Welche Aspekte zu einer Doppelbesteuerung führen, hat Karlsruhe nicht näher definiert. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu, was eine Doppelbesteuerung überhaupt auslösen kann. Die Frage ist bis heute nicht vollständig geklärt. Es gibt zwei anhängige Verfahren beim Bundesfinanzhof, und ein Urteil wird für das zweite Quartal dieses Jahres erwartet. Anders als die FDP behauptet, waren sich bei der Anhörung im letzten Jahr nicht alle Sachverständigen einig, wie genau eine Doppelbesteuerung zu definieren sei. Unsere Auffassung ist bisher: Der Sonderausgabenabzug für die Kranken- und Pflegeversicherung beispielsweise und auch der Grundfreibetrag führen dazu, dass auch der steuerpflichtige Teil der Rente in bestimmtem Umfang steuerunbelastet zufließt. Nach dieser Auffassung käme es eben zu keiner Doppelbesteuerung. Wir als SPD-Fraktion wollen natürlich eine starke gesetzliche Rente. Das Gleiche wollen auch die Linken in ihrem sozialpolitischen Antrag. Der Antrag der Linken ist aber nicht Teil einer finanzpolitischen Debatte, da er sich überwiegend mit sozialpolitischen Fragestellungen beschäftigt. Ich will ihn hier aber trotzdem erwähnen. Wir als SPD-Fraktion haben in den vergangenen Jahren mehrfach die Renten in Deutschland gestärkt: mit dem Rentenpakt zur Stabilisierung des Rentenniveaus, mit der Grundrente und der digitalen Rentenübersicht – um nur einige Erfolge sozialdemokratischer Rentenpolitik zu nennen. ({3}) Das ist gerechte, nachhaltige Politik und keine Show im Wahlkampfjahr. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Theurer, da wir eine Stunde hängen, bin ich gebeten worden, etwas zur Beschleunigung beizutragen, und diesem Wunsch der breiten Massen werde ich nachkommen. Der nächste Redner ist der Kollege Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Kriterien der Europäischen Union lebt ein Single in Deutschland in Armut, wenn er oder sie weniger als 1 174 Euro monatlich zur Verfügung hat. Ganz konkret: Menschen ohne weitere Einkünfte, die 2021 in Rente gehen, müssen auf eine gesetzliche Rente in Höhe von 1 200 Euro brutto circa 2,33 Euro Steuern monatlich zahlen. Bei 1 400 Euro Rente sind es dann schon fast 25 Euro im Monat. Für Unionsabgeordnete mag das nach wenig klingen, aber die Rentnerinnen und Rentner regt das auf. ({0}) Ja, das hat mit der Doppelbesteuerung der Renten nichts zu tun, aber es ist sozial ungerecht! Die Linke sagt: Niedrige Einkommen dürfen nicht besteuert werden, und erst recht nicht die von Rentnerinnen und Rentnern. Frau Staatssekretärin Ryglewski, ich fordere darum Ihr Ministerium auf: Erhöhen Sie den Grundfreibetrag für alle auf 1 200 Euro monatlich! Sorgen Sie dafür, dass Millionenerbinnen und ‑erben ordentlich Erbschaftsteuer zahlen, und wecken Sie die Vermögensteuer aus ihrem Dornröschenschlaf. ({1}) Dann hätten wir mehr Steuergerechtigkeit, und dann müssten Rentnerinnen und Rentner an der Armutsschwelle nicht auch noch Steuern zahlen. So viel dazu. ({2}) Zur doppelten Besteuerung der Altersrenten. Keine Bundesregierung der vergangenen 15 Jahre hat diese offensichtliche Ungerechtigkeit beseitigt. Keine! Union, SPD, Grüne und FDP waren untätig. Die FDP hat das nun erkannt. Vielen herzlichen Dank für Ihren Antrag. In dem Thema ist Musik drin; denn der Bundesfinanzhof wird bald über die Doppelbesteuerung der Renten entscheiden. Dr. Egmont Kulosa, Richter am Bundesfinanzhof, sagte dazu in der „Süddeutschen“ – ich zitiere –: Es bedarf keiner komplizierten mathematischen Übungen, um bei Angehörigen der heute mittleren Generation, die um das Jahr 2040 in den Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung nachzuweisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Worauf warten Sie noch? Handeln Sie endlich im Interesse der Rentnerinnen und Rentner! ({3}) Die Linke fordert: Die Doppelsteuerung der Renten muss vermieden werden. Deshalb haben wir bereits im Mai 2019 einen Antrag mit einem Sieben-PunkteProgramm gegen die Doppelbesteuerung der Renten vorgelegt. Im Januar 2020 gab es eine sehr erhellende öffentliche Anhörung von Sachverständigen und Gewerkschaftsvertretern. Das Fazit: Das Problem der Doppelbesteuerung war bisher klein und wird von Jahr zu Jahr größer. Das sagen fast alle ernstzunehmenden Expertinnen und Experten. Meine Damen und Herren der Koalition, ja, durch die nachgelagerte Besteuerung werden viele der heute jungen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in Zukunft über ein ganzes Leben gesehen weniger Steuern gezahlt haben als ihre Eltern. ({4}) In der Übergangsphase bis zum Jahr 2040 wird es aber oft zu einer Doppelbesteuerung kommen. Deswegen fordert Die Linke Sie auf: Verlängern Sie den Übergangszeitraum bis zur vollen Besteuerung der Renten vom Jahr 2040 bis zum Jahr 2070. Dann wäre definitiv Schluss mit der Doppelbesteuerung. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man dem Kollegen Birkwald zuhört, dann scheint es so, als wäre die Sache auf der einen Seite sehr einfach und sehr klar und auf der anderen Seite ein riesengroßes Problem. Wenn man sich näher damit beschäftigt, stellt man aber fest: Beides ist nicht der Fall. Es ist nämlich eine sehr komplizierte Geschichte; das hat die Anhörung im Ausschuss gezeigt, und das zeigt sich auch, wenn man Hintergrundmaterial dazu liest. Die Frage, ob es sich um eine Doppelbesteuerung handelt, hängt nämlich von sehr vielen Annahmen und von mathematischen Modellen ab. Die meisten Expertinnen und Experten sagen: Es gibt zurzeit keine Doppelbesteuerung. ({0}) Es könnte in der Zukunft aber mal eine Doppelbesteuerung geben, möglicherweise in den 30er-Jahren. Aber selbst das ist noch nicht ganz klar. Ebenso unklar ist, wie viele Fälle das betreffen wird, was das also quantitativ ausmacht. Wie gesagt: Die meisten sind der Meinung, das sei bisher kein oder kein großes Problem. Hinzu kommt, dass sich alle Expertinnen und Experten einig sind, dass die nachgelagerte Besteuerung einen Fortschritt für alle bedeutet. Der Kollege Gutting hat das eben schon erklärt: Da man im Alter üblicherweise ein geringeres Einkommen hat als im Erwerbsleben, ist die nachgelagerte Besteuerung für alle besser. Das heißt, da entsteht überhaupt kein Nachteil. ({1}) Das Ganze ist also ein absolutes Scheinproblem. ({2}) Man fragt sich, warum dieses Scheinproblem in manchen Medien und sogar bis hin zum Bundesfinanzhof immer so große Wellen schlägt. Ich bin gespannt, was da an Urteilen kommt. Aber es ist ein Scheinproblem. Es schlägt meines Erachtens deshalb hohe Wellen, weil es mit echten Problemen zusammentrifft. Die stärkere Besteuerung von Renten führt nämlich durchaus zu Problemen bei den Leuten. Ganz viele Rentnerinnen und Rentner sind überrascht, dass sie auf einmal Steuern zahlen müssen, weil sie das vorher gar nicht wussten. Das heißt, wir brauchen da mehr Transparenz. Das ist ein wesentlicher Punkt. ({3}) Ein zweiter Punkt – das hat der Kollege Gutting eben auch schon angesprochen –: Die Finanzbehörden sind teilweise so langsam, dass für mehrere Jahre Steuern nachgezahlt werden müssen. Das ist für viele Rentnerinnen und Rentner wirklich eine große Belastung. Diese jahrelangen Nachzahlungen muss man verhindern, vor allen Dingen dadurch, dass die Finanzbehörden schneller arbeiten. Wir haben in unserem Antrag, den wir letztes Jahr eingebracht haben und zu dem es auch die Anhörung gab, ein paar Stellschrauben genannt, wie man es technisch hinkriegen könnte, diese hohen Nachzahlungen tatsächlich zu vermeiden. – Das war der zweite wichtige Punkt. Letzter und dritter Punkt, der wichtig ist: Wir müssen versuchen, Wege zu finden, dass wenigstens die Rentnerinnen und Rentner, die nur Rente beziehen, gar keine Steuererklärung machen müssen. ({4}) Im Zusammenhang mit der Digitalisierung sollte das doch möglich sein. – Und ich sehe jetzt hier Applaus durchaus bei mehreren Fraktionen. Ich glaube, dass das ein Punkt ist, an den wir unbedingt ran müssen. Ansonsten müssen wir die Doppelbesteuerung natürlich weiter beobachten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt dazu durchaus Punkte im Antrag der FDP, über die man diskutieren kann. Darüber werden wir im Ausschuss reden. Aber lassen Sie uns bitte über die echten Probleme reden und nicht über Scheinprobleme. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um das Wichtigste gleich mal vorwegzunehmen: Kein Mensch und schon gleich gar nicht wir als CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag wollen eine Doppelbesteuerung von Renten – nicht, dass da ein falscher Eindruck entsteht. ({0}) Ich glaube, das hat die Debatte auch gezeigt. Dass eine Doppelbesteuerung sogar verfassungswidrig wäre und schon allein deswegen in keiner Weise zur Debatte steht, steht nicht einmal im Vordergrund. Ich möchte noch mal auf den Hintergrund der Frage „Wo kommt diese Besteuerung oder dieser Gedanke einer möglichen Doppelbesteuerung her?“ rekurrieren. Das Bundesverfassungsgericht – darüber haben wir ja schon gesprochen – hat im Jahr 2002 dem Gesetzgeber aufgegeben, bei der Rentenbesteuerung mittelfristig auf eine nachgelagerte Besteuerung umzustellen. Statt in der Ansparphase werden Renten dadurch zunehmend in der Auszahlungsphase besteuert – Sie haben vollkommen recht, das ist durchaus günstig für den Steuerbürger –, und die Forderung des Bundesverfassungsgerichts wurde mit der stufenweisen Besteuerung ab dem Jahr 2005 umgesetzt. Dafür kann man natürlich auch immer mehr Sonderausgaben und Rentenbeiträge von der Steuer absetzen und steuerlich berücksichtigen lassen. Der der Besteuerung unterliegende Anteil der Rente bemisst sich nach dem Renteneintritt. Alle, die 2005 in Rente gegangen sind, müssen ihre Rente ein Leben lang zu 50 Prozent der Besteuerung unterwerfen. Das hat jedes Jahr um 2 Prozentpunkte zugenommen, ab diesem Jahr ist es 1 Prozentpunkt. Wer jetzt in Rente geht, hat 81 Prozent seiner Renteneinkünfte der Besteuerung zu unterwerfen. Ab 2040 sind es dann 100 Prozent. Aber natürlich wächst der Sonderausgabenabzug weiter an, sodass man den Steuervorteil, den man zum Zeitpunkt der Einzahlung in die Rentenkasse hat, gegen den Steuervorteil, den man dann zum Zeitpunkt des Rentenbeginns und der Rentenauszahlung hat, gegeneinander aufrechnen muss. Die klare Vorgabe des Gesetzgebers, also von uns, an das Fachressort war, dass es zu keiner Doppelbesteuerung führen darf. Und das ist übrigens heute genauso. Ich weiß nicht, warum, aber es wird immer wieder behauptet, die Gerichte hätten das entschieden. Aber: Alle bisherigen Urteile des Bundesfinanzhofs und des Bundesverfassungsgerichts – wir erwarten natürlich mit Spannung auch das Urteil des Bundesfinanzhofs im zweiten Quartal – konnten keine Doppelbesteuerung von Altersrenten feststellen. Keine! Das muss man auch mal ganz klar feststellen, damit hier keine Legendenbildung passiert. ({1}) Auch einzelne Verlautbarungen, dass Fachgerichte das bereits entschieden haben, sind unzutreffend. Bislang konnte nie festgestellt werden, dass es überhaupt eine Doppelbesteuerung gibt. ({2}) Die Gefahr der Doppelbesteuerung ist in Einzelfällen durchaus gegeben, und zwar bei denjenigen, für die Sie von den Linken übrigens höhere Erbschaftsteuern und höhere Steuersätze beschließen wollen, nämlich bei den Selbstständigen, die vor 2005 die Höchstbeiträge in die Rente gezahlt haben; der Kollege Gutting hat es ausgeführt. Bei den Arbeitnehmern ist ja der steuerfreie Anteil des Arbeitgebers mit zu berechnen, während die Selbstständigen ihre Rentenbeiträge selber – ohne steuerfreien Arbeitgeberanteil – gezahlt haben. Genau für diejenigen besteht sukzessive die Gefahr einer Doppelbesteuerung – jetzt nicht, aber vielleicht in der Zukunft. ({3}) Genau deswegen haben wir aber 2005 eine Öffnungsklausel in § 22 Einkommensteuergesetz aufgenommen – den sollten Sie mit erwähnen –, nach der Selbstständige, die vor 2005 zehn Jahre lang den Höchstbeitrag in die Rentenkasse eingezahlt haben, eben auch die Besteuerung nach dem Ertragsanteil der Rente geltend machen können, so wie es früher war, also die niedrigere Besteuerung, um eben Doppelbesteuerungstatbestände zu vermeiden. Die im Einzelfall mögliche Doppelbesteuerung bei Selbstständigen ist eben durch genau diese Sonderregelung und Öffnungsklausel abgefedert. Insofern kommt es nicht zu einer Doppelbesteuerung. Um ganz sicherzugehen, dass es auch in Zukunft zu keiner Doppelbesteuerung bei Renten kommt, beteiligt sich die Finanzverwaltung übrigens auch aktiv an Musterklagen. Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben völlig recht: Vorhin ist da der Eindruck entstanden, es sei ganz leicht zu berechnen. – Das ist es eben nicht. ({4}) Die Hauptfrage ist ja übrigens: Was ist eine Doppelbesteuerung? Liegt sie schon vor, wenn die Rente in die Bemessungsgrundlage mit einfließt, oder erst dann, wenn überhaupt eine Steuer entsteht? Also, auch das muss man noch mal differenzieren. Wenn nämlich die Rente in die Bemessungsgrundlage einfließt und gar keine Steuer anfällt, dann kann es auch zu keiner Doppelbesteuerung führen. Auch da muss man noch einmal ganz klar differenzieren. ({5}) Ich sage Ihnen: Wir freuen uns auf die Debatte im Finanzausschuss – dorthin wird der Antrag ja überwiesen –, und dann werden wir natürlich weiter in der Sache diskutieren. Sollten anderslautende Gerichtsurteile kommen, müssen wir als Gesetzgeber natürlich sofort reagieren, selbstverständlich. Aber bislang konnte eben keine Doppelbesteuerung festgestellt werden. Und das muss man bei dieser Debatte allen Bürgerinnen und Bürgern auch noch mal sagen, weil die Verunsicherung durch solche Anträge groß ist. Das ist brandgefährlich. Ich würde da lieber auf die Sachdebatte verweisen. ({6}) Wir schauen, wie das Urteil des Bundesfinanzhofs ausfällt, und dann werden wir im Finanzausschuss darüber diskutieren. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden ist schon viel Richtiges gesagt worden. Wodurch kommt das eigentlich? Weil wir alle einer Meinung sind. Keiner von uns will eine doppelte Besteuerung der Rente. Das ist völlig klar. ({0}) Und falls sich herausstellen sollte, dass es eine doppelte Besteuerung der Rente gibt, dann müssen wir etwas machen. Auch das ist Konsens, und das ist auch verabredet. Das ist von Anfang an ganz klar gewesen. Von Cansel Kiziltepe und Olav Gutting ist auch schon gesagt worden, dass das neue System insgesamt für den einzelnen Bürger viel besser ist, dass es besser ist, nachgelagert zu besteuern, weil ich in meiner Rentenphase natürlich ein viel niedrigeres Einkommen habe als in der Phase, in der ich noch arbeite. ({1}) Wenn ich also von einem hohen Einkommen Steuern bezahlen muss, ist das für mich ungünstiger, als wenn ich von einem niedrigeren Einkommen Steuern bezahlen muss. Das Gesamtsystem ist ein Riesenentlastungsprogramm für die einzelnen Rentner, für die einzelnen Bürger, und das ist gut. ({2}) Für die fiskalische Seite ist es von Nachteil, weil die Steuereinnahmen sinken. Der FDP-Antrag greift wirklich etwas auf, was wir alle wollen. Ich muss auch sagen, dass mir etwas gut gefallen hat: Der Antrag beschreibt nämlich den Anlass sehr seriös, nämlich das Bundesverfassungsgerichtsurteil, in dem steht: Wenn die Pensionen besteuert werden müssen, dann müssen auch die Renten besteuert werden. – Die Kläger hatten das zwar anders gedacht, aber jedenfalls ist klar, dass es hier zu einer Einheitlichkeit kommen soll. Das ist gut. Und auch das Verfahren, dass es in Stufen passiert, erklärt der Antrag sehr gut und, wie ich finde, objektiv. Insofern ist der Antrag für mich in Richtung Aufklärung und Transparenz ein guter Antrag. ({3}) Man muss allerdings sagen: Es gibt im Moment keinen Anlass für den Antrag. Das ist sozusagen das Geschmäckle dabei. Er greift etwas auf – Doppelbesteuerung der Rente –, weswegen man denken könnte: Ach, es gibt Anlass zur Panik. – Es gibt aber gar keinen Anlass; denn gäbe es diesen Anlass, würden wir aktiv werden. Im Moment gibt es keinen Anlass, es gibt keinen Fall. Matthias Birkwald hat, fand ich, gut argumentiert; aber der Beginn war ein klein bisschen verräterisch. Er hat nämlich die Angelegenheit der Doppelbesteuerung in den Kontext einer anderen Sache gestellt, nämlich dass es Arme und Reiche gibt. Das stimmt. – Aber dann hast du selber gesagt: Das hat mit Doppelbesteuerung nichts zu tun. – Warum verknüpfst du diese harmlose Sache mit etwas anderem, um das wir uns jetzt schon kümmern müssen? ({4}) – Nein. Da muss man aufpassen. Das ist eine psychologische Konditionierung der Angst, und dagegen bin ich strikt. ({5}) Wolfgang Strengmann-Kuhn hat gesagt, dass es so einfach nicht ist, weil eben sozusagen die Abzugsbedingungen – was darf ich in der aktiven Phase abziehen? – nicht ganz klar definiert sind. Das BMF und auch mancher Verfassungsrichter haben da unterschiedliche Auffassungen. Wir haben eine klare Auffassung; die Definitionen sind alle vorgetragen worden. Ich glaube, wir müssen wirklich aufpassen, dass wir nicht permanent, indem wir „keine Panik“ sagen, Panik verbreiten. Und das ist ein gewisses Problem. Deshalb: Eines ist klar: Sollte die Zeit zwischen 2005 und 2040 zu kurz sein, dann verlängern wir sie doch. ({6}) Aber du brauchst einen Anlass, eine seriöse Rechnung, und so einfach, wie es sich hier gelegentlich gemacht wird, ist die Welt nicht. Wir greifen die komplizierte Welt auf und werden komplizierte Probleme sachgerecht lösen. Schönen Dank. ({7})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 jähren sich dieses Jahr zum zwanzigsten Mal, und wir erinnern uns: In den Trümmern des World Trade Centers und des Pentagons und in den Wracks der Flugzeuge fanden fast 3 000 Menschen den Tod; weitere Tausende wurden verletzt. Die NATO reagierte darauf zum ersten und bisher einzigen Mal in ihrer Geschichte mit der Ausrufung des Bündnisfalles. Damals haben wir gemeinsam den Beschluss gefasst: Von Afghanistan darf nie wieder eine Bedrohung für unsere Sicherheit ausgehen. Seitdem sind wir einen schwierigen Weg gegangen. Auch deutsche Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und Zivilisten haben für unsere Sicherheit in Afghanistan ihr Leben und ihre Gesundheit gelassen. Eines ist nach all dem, was wir in den letzten zwanzig Jahren gesehen haben, auch klar: Eine militärische Lösung für den Konflikt in Afghanistan wird es nicht geben. ({0}) Sie gibt es jetzt nicht, und sie wird es auch in Zukunft nicht geben. ({1}) Daher wollen wir unser militärisches Engagement in Afghanistan auch beenden, aber wir wollen das verantwortungsvoll tun. Das schulden wir den Menschen in Afghanistan, das schulden wir unseren Verbündeten, und das schulden wir vor allen Dingen denen, die für unsere Sicherheit in Afghanistan ihr Leben riskiert und auch verloren haben. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, jahrelang haben wir für innerafghanische Friedensverhandlungen geworben. Seit September des vergangenen Jahres verhandeln nun endlich Vertreter der Republik Afghanistan mit den Taliban. Wir haben diese Gespräche von Anfang an mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt – auch vor Ort mit Kolleginnen und Kollegen des Auswärtigen Amtes und den Expertinnen und Experten der Berghof Foundation. Dass diese Verhandlungen nach Jahrzehnten des Konfliktes nicht in wenigen Wochen oder Tagen abgeschlossen sein werden, wird wohl niemanden überraschen. Dafür liegen die Positionen der jeweiligen Unterhändler auch heute noch sehr weit auseinander. Und doch sind diese Verhandlungen, die ja nun einmal stattfinden, die erste realistische Chance auf Frieden in Afghanistan seit langer Zeit, eine Chance, die nicht vertan werden darf. Und ob es uns gefällt oder nicht, die internationale Truppenpräsenz bleibt dabei einer unserer wichtigsten Hebel. Ohne internationalen Druck werden sich die Taliban nicht ernsthaft auf eine politische Lösung einlassen. Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten überstürzt abziehen, dann droht die ernste Gefahr, dass die Taliban eine Lösung auf dem Schlachtfeld suchen, ({3}) statt weiter zu verhandeln – mit all den dramatischen Folgen für alles, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan mit den Menschen vor Ort – mit der Zivilgesellschaft, mit den politisch Verantwortlichen – aufgebaut haben. Den Preis wollen wir nicht zahlen. ({4}) Schon in den vergangenen Monaten haben Talibankämpfer ihre Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Vertreter von Staat und Zivilgesellschaft intensiviert. Das muss aufhören. Wer Friedensverhandlungen führt, der muss mindestens zu einer Waffenruhe bereit sein. ({5}) In der NATO werben wir deshalb dafür, die Lage in Afghanistan und die Fortschritte im Friedensprozess mit der Frage des Truppenabzuges zu verbinden. Aktuell überprüft die neue amerikanische Regierung das Abkommen mit den Taliban und seine Umsetzung und spricht auch bereits mit denselben darüber. Wir stehen dazu mit dem State Department in einem engen und auch sehr konstruktiven Austausch – ganz anders, als das in den letzten vier Jahren der Fall gewesen ist. Die Amerikaner wissen, dass wir in Deutschland möglichst bald Klarheit über die nächsten Schritte brauchen. Eines ist aber bereits jetzt sicher: Über den Verbleib unserer Truppen in Afghanistan wollen wir in der NATO gemeinsam beschließen. Auch das ist eine wesentliche Veränderung gegenüber der Situation in den letzten Jahren. Wir werden das gemeinsam beschließen, und wir werden dann auch gemeinsam abziehen. ({6}) Dabei ist uns allen ganz besonders bewusst, dass sich die Sicherheitslage für unsere Truppen verschlechtern könnte, wenn sie über den 1. Mai 2021 hinaus in Afghanistan bleiben. ({7}) Das muss hier auch offen ausgesprochen werden, weil das zur Realität gehört. Deshalb haben wir bereits jetzt in der NATO die notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen; denn bei all den schwierigen Entscheidungen, die wir zu treffen haben, hat für uns eines allerhöchste Priorität, und das ist die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist keine einfache Situation – im Übrigen auch nicht für ein Parlament –, eine Entscheidung zu treffen, wenn gleichzeitig Friedensverhandlungen geführt werden, die Prozesse miteinander verkoppelt werden sollen, im Moment aber nicht absehbar ist, wann diese Friedensverhandlungen beendet sein werden. Deshalb liegen gerade jetzt entscheidende Monate vor uns. In dieser Zeit verschafft uns die Verlängerung des Mandats, um die wir Sie heute hier bitten, die notwendige Flexibilität und, ja, auch ein Mehr an Zeit. Zeit, um weiter unserer Bündnisverantwortung gerecht zu werden, Zeit, um den Friedensverhandlungen den nötigen Raum zu geben, und Zeit, um einen geordneten Abzug vorzubereiten, ohne ein gefährliches Vakuum in Afghanistan zu hinterlassen. ({9}) Das ist das Ziel der Mandatsverlängerung, und das hat vor allen Dingen mit einem zu tun: Wir wollen die Errungenschaften der letzten Jahre, die es gibt, gerne erhalten. Bei all den Problemen und Rückschlägen ist in Afghanistan nämlich auch viel erreicht worden: erhebliche Fortschritte bei Bildung, Gesundheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und nicht zuletzt bei den Minderheitenrechten, den Menschenrechten und ganz besonders den Rechten von Frauen und Kindern. Meine Damen und Herren, die letzten 20 Jahre haben uns viel abverlangt, und deshalb gilt mein Dank besonders allen, die daran mitgewirkt haben – allen voran aber unseren Soldatinnen und Soldaten. ({10}) Gemeinsam mit den Menschen in Afghanistan arbeiten sie seit zwei Jahrzehnten hart für die Sicherheit und eine bessere Zukunft dieses Landes. Ihre Leistungen und ihre Opfer sollten deshalb auch uns hier Verpflichtung sein, unser militärisches Engagement in Afghanistan verlässlich und verantwortlich zu beenden, sobald es die Bedingungen erlauben, um so dem Frieden in Afghanistan eine echte Chance zu geben. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Wir waren dreizehntausend Mann, Von Kabul unser Zug begann, Soldaten … Weib und Kind, Erstarrt, erschlagen, verraten sind. Was wie eine realistische Zustandsbeschreibung von Afghanistan 20 Jahre nach der NATO-Intervention klingt, wurde von Theodor Fontane im 19. Jahrhundert verfasst. Damals war gerade die britische Weltmacht am Hindukusch gescheitert, ein paar Jahrzehnte später die sowjetische. Und nun scheitert die US-amerikanische Weltmacht mit Deutschland als Anhängsel ohne eigene Strategie. ({0}) 20 Jahre Afghanistan-Krieg: Zeit, eine Bilanz zu ziehen, eine Bilanz des Schreckens. 59 deutsche Soldaten sind seit 2001 am Hindukusch gefallen, so viele wie in keinem anderen Militäreinsatz der Bundeswehr. Insgesamt 157 000 Menschen fanden den Tod, darunter 43 000 afghanische Zivilisten, alleine letztes Jahr 1 500 Afghanen, 424 humanitäre Helfer, 67 Journalisten. Ihnen allen und ihren Familien gilt unser Beileid. ({1}) Sie alle sind Opfer einer kopf- und strategielosen Politik, die bis 2024 mindestens 20 Milliarden Euro deutsches Steuergeld für einen Krieg verschwendet, der nicht zu gewinnen ist. Was könnte man mit diesen 20 Milliarden Euro alles für unser Land, für unsere Bürger, für die Älteren und für die Bedürftigen tun? Zum Beispiel könnte man, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schon 2019 errechnet hat, das Elterngeld um 44 Prozent anheben oder das Defizit in der Pflegeversicherung – dieses Jahr voraussichtlich bis zu 2,5 Milliarden Euro – für Jahrzehnte ausgleichen, damit unsere Großeltern menschenwürdig gepflegt werden können, ({2}) oder eben die Renten im Osten schneller anheben. Stattdessen wird das hart verdiente Geld des deutschen Steuerzahlers in einen Krieg gepumpt, der längst verloren ist. Mittlerweile kontrollieren die Taliban wieder dieselbe Landesfläche wie 2001. Die Regierung in Kabul ist hochgradig korrupt. In Afghanistan blüht nicht die Demokratie, sondern der Mohn. Blühende Landschaften afghanischer Art! Afghanistan ist im Zuge der US-geführten NATO-Intervention zum Opiumproduzenten Nummer eins aufgestiegen. Tausende sind daran in Deutschland und in der Welt zugrunde gegangen. Die Anzahl der Afghanen in Deutschland, oft Asylbewerber, ist von 2009 bis 2019 von 49 000 auf 263 000 gestiegen. Was wollen Sie eigentlich einer Mutter erzählen, deren Sohn am Hindukusch gefallen ist? Dass sie ihn in einem Zinksarg in Empfang nehmen kann, während Afghanen am Ku’damm Kaffee trinken? ({3}) Die AfD ist die Friedenspartei Deutschlands. ({4}) Wir sagen: Abzug der Bundeswehr sofort einleiten, die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban, der afghanischen Regierung ({5}) sowie den anderen internationalen Akteuren konstruktiv begleiten und zusammen einen internationalen Mechanismus entwickeln, ({6}) der vernünftig verhindert, dass zukünftig von Afghanistan Terrorismus ausgeht. ({7}) Nicht zuletzt muss eine umfassende Evaluierung des Scheiterns und seiner Gründe erfolgen. Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern am Brandenburger Tor. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Friesen. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar dafür, dass die amerikanische Regierung ihre einseitigen Abzugspläne aufgegeben hat. Es wäre ein durch ein bloßes Datum getriebener Abzug ohne Berücksichtigung der wirklichen Verhältnisse in Afghanistan gewesen. Es wäre eine Abkehr von unserer bisherigen Strategie gewesen, die wir gemeinsam in der NATO und mit unseren Partnern in der Koalition vereinbart hatten, dass wir gemeinsam reingehen und gemeinsam rausgehen und dass wir dies „condition-based“, also abhängig von der Entwicklung im Land, gestalten. Es ist in den letzten Jahren sicherlich Zeit verloren gegangen, was den Friedensprozess zwischen den Taliban und der Regierung angeht. Was jetzt in Doha passiert, ist ein zäher, aber durchaus aussichtsreicher Prozess, um zu einem Ergebnis zu kommen, insbesondere dann, wenn wir als RSM-Kräfte unseren Druck aufrechterhalten. Die Taliban haben massiv Gewalt gegen die Regierungskräfte und gegen die Zivilbevölkerung Afghanistans entfaltet. Man redet von 30 bis 50 Toten am Tag unter den Sicherheitskräften Afghanistans. Glücklicherweise richten sich diese Angriffe im Augenblick nicht gegen Kräfte der Koalition, also auch nicht gegen deutsche Kräfte. Aber wenn wir jetzt entscheiden, über den 30. April hinaus dort zu bleiben, müssen wir gewahr sein, dass die Gefährdung für unsere Truppen vielleicht wieder steigt. Deswegen ist es gut, dass die Verteidigungsministerin entschieden hat, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten, die verhindern sollen, dass die Sicherheitslage für unsere Soldaten sich verschärft. Mit dem Afghanistan-Einsatz hatten wir von Anfang an das Ziel, dass von Afghanistan keine internationale terroristische Bedrohung mehr ausgehen soll. Dieses Ziel haben wir durch Präsenz in Afghanistan erreicht. Aber wir haben noch nicht erreicht, dass es in Afghanistan einen nachhaltigen, sich selbst tragenden Stabilisierungsprozess gibt, der das verhindert. Und das muss unser Ziel sein. Zum Schluss meiner kurzen Rede möchte ich noch einige Punkte nennen, die wir darüber hinaus erreicht haben. Es wird ja immer so getan, als sei das alles ein ganz großer Misserfolg. Ich glaube, dass der Afghanistan-Einsatz und auch die zivilen Bemühungen hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, aber dass wir deutlich mehr erreicht haben, als manche glauben. Ich will einige wichtige Aspekte hervorheben: Das Pro-Kopf-Einkommen der afghanischen Bevölkerung hat sich fast verdreifacht. Die Zahl der Kinder, die zur Schule gehen, hat sich fast verzehnfacht. Die Zahl der Frauen, die nach einer Geburt sterben, hat sich mehr als halbiert. Die Lebenserwartung ist im Übrigen um neun Jahre, von 56 auf 65 Jahre, angestiegen. Dieses Land hat unter RSM und unter der afghanischen Regierung Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte wollen wir nicht gefährden, sondern schützen. Ich erwarte, dass die Bundesregierung uns über alle Schritte, die jetzt in der NATO vereinbart werden, kurzfristig auf dem Laufenden hält, dass wir im Bundestag auch beraten und entscheiden können, wie es weitergeht, und dass wir vor dem 31. Januar 2022 in Ruhe entscheiden, wie wir mit dem Einsatz in Afghanistan weiter vorgehen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. ({0}) – Bitte keine Äußerungen über das Aussehen von Kolleginnen und Kollegen, Frau Dr. Strack-Zimmermann! – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war ein Kompliment an den ewig Jugendlichen. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr wird über den April hinaus in Afghanistan bleiben. Für die Freien Demokraten ist es eine Selbstverständlichkeit, der Biden-Administration diese Zeit einzuräumen, um die Situation in Afghanistan neu zu bewerten; erleichtert darüber, wieder einen verlässlichen Partner im Weißen Haus zu wissen. Aber zu befürchten ist, dass die Angriffe der Taliban gegen die Alliierten wieder ausbrechen werden. Das heißt, Frau Ministerin, dass alle sicherheitsrelevanten Vorkehrungen zu treffen sind, um unsere Soldatinnen und Soldaten zu schützen, damit sie ihrem Auftrag auch weiter nachkommen können. Denn der Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan wäre ja unsinnig, wenn sich diese einer Schildkröte gleich ins Camp zurückziehen müsste und die afghanische Armee nur noch per Telefon ausbilden würde. Die Sicherheitslage in großen Teilen des Landes – es wurde gerade gesagt – ist dramatisch schlecht: jeden Tag entgrenzte Gewalt gegen Zivilisten, gegen Journalisten, Studentinnen, Richterinnen. Afghanistan braucht in der Tat eine Zukunftsperspektive. Die Lösung dieser hochkomplexen Situation kann nicht nur eine militärische sein. Sie sollte auch unter Einbeziehung des Nachbarn Pakistan politisch gelöst werden. Deshalb muss die Unterstützung des innerafghanischen Prozesses höchste Priorität haben. Hier sehen wir auch die Bundesregierung in der Verantwortung; denn von dem Ergebnis der Gespräche hängt es ab, in welche Richtung sich das Land am Hindukusch entwickeln wird und ob die Gewalt, die das Land sage und schreibe 40 Jahre beherrscht, Normalität bleibt. Deshalb wäre es so wichtig, wenn in Doha auch die Stimmen von Frauen und Menschenrechtlern gehört werden würden. Wenn wir uns erinnern, mit welchen Zielen wir vor 20 Jahren in den Afghanistan-Einsatz gegangen sind, dann dürfen wir heute neben vielen gesellschaftlichen Fortschritten feststellen: Der internationale Terrorismus, der die westliche Welt am 11. September 2001 in seiner ganzen Brutalität traf – 3 000 Menschen wurden ermordet –, ist seit der Präsenz der NATO nicht mehr von afghanischem Boden ausgegangen. Das ist eine wichtige Erkenntnis, auch und besonders für die Angehörigen der deutschen Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben verloren haben. ({1}) Dieser Einsatz, meine Damen und Herren, war nicht umsonst. Wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, sind den gefallenen Soldaten und ihren Familien in Trauer und allen, die dort ihren Dienst getan haben, in tiefstem Dank verbunden. Aber ja, es gibt auch große Defizite: Korruption, fehlender Staatsaufbau. Deswegen, Herr Minister: Ziehen Sie endlich Bilanz! Evaluieren Sie diesen Einsatz! ({2}) Wir brauchen eine Abzugsperspektive, und wir müssen auch aus den Schwächen dieses Einsatzes lernen; denn die Stabilisierung Afghanistans bleibt ein Ziel – vorerst militärisch, langfristig nur durch Entwicklungshilfe und, ja, auch durch deutsche diplomatische Intervention. Wir sind sehr gespannt auf das Außenministertreffen in Kürze. Wir Freien Demokraten werden diesen Prozess positiv begleiten. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Strack-Zimmermann. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Afghanistan-Krieg ist für die NATO verloren. Seit bald 20 Jahren stehen Soldaten des Militärpakts am Hindukusch. Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie: 51 Prozent des Landes werden von den Taliban kontrolliert, soziales Elend und politische Unterdrückung durch eine korrupte Regierung haben das Land fest im Griff. Und trotzdem setzt die Koalition aus Union und SPD auf ein Weiter-so. Koste es, was es wolle, soll die Bundeswehr so lange in Afghanistan bleiben, wie die USA diesen verlorenen Krieg weiterführen wollen. Das darf nicht so weitergehen. Die deutschen Soldaten müssen sofort aus Afghanistan abgezogen werden! ({0}) Was haben Sie uns hier nicht alles erzählt, um was es bei dem Afghanistan-Krieg gehe: um die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch, ums Brunnenbohren, um die Befreiung der Frau. Das ist doch alles schlicht gelogen!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Um all das ging es nachweislich nicht. Viele Afghanen selbst sagen ja, die geostrategisch wichtige Lage ihres Landes bringe ihnen nichts als Krieg.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Strack-Zimmermann?

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie mir diese kurze Zwischenfrage erlauben. – Gehe ich recht in der Annahme, nachdem ich Ihnen jetzt gerade zugehört habe, dass Sie das Ansinnen des ehemaligen US-Präsidenten Trump, kopfüber das Land zu verlassen, gut gefunden hätten? Wollen Sie damit sagen, dass Sie eigentlich insgeheim ein großer Fan der Politik von Donald Trump waren? ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Also, im Gegensatz zu Ihnen sind wir ja kein Fan der NATO und haben uns eigentlich auch immer kritisch zu dieser Form von transatlantischen Beziehungen geäußert – ganz im Gegensatz zu Ihnen. Die Linke ist seit 20 Jahren gegen diesen Afghanistan-Einsatz, weil wir von Anbeginn gesagt haben: Wir können die Situation mit Militär nicht lösen. – Das hören wir ja auch von Außenminister Heiko Maas. Es gibt keine militärische Lösung für die Situation in Afghanistan, und trotzdem wird dieser Einsatz jedes Jahr verlängert. Wir sind völlig dagegen. Wir setzen uns dafür ein, dass endlich wirklich politische Lösungen in diesem Land gefördert werden. ({0}) Geostrategisch geht es um viel. Das sagen die Afghanen selbst. Jetzt werden hier neue Pirouetten gedreht, um den Einsatz weiterhin zu rechtfertigen – aber nicht nur von der Koalition; mit dabei sind auch die Grünen. Sie fordern eine umfassende Bilanz des Krieges – ja –, aber letztendlich verstecken Sie mit der Kritik an einzelnen Dingen Ihre nach wie vor erteilte Zustimmung zum Kriegseinsatz in Afghanistan. ({1}) Sie zeigen, dass für Sie „regierungsfähig“ eben „kriegsbereit“ heißt, und im Bundestag stimmen dann jedes Mal etliche von Ihnen für den Bundeswehreinsatz. Andere stimmen zwar dagegen oder enthalten sich, aber man muss festhalten: Der Afghanistan-Krieg geht auch mit Ihren Stimmen weiter. ({2}) Deshalb noch einmal an SPD und Grüne, die diesen Kriegseinsatz ja begonnen haben: Im Afghanistan-Krieg wurden nicht nur zu viele Fehler gemacht, wie Sie es jetzt gerne vortragen und weswegen Sie eine Bilanz fordern. Nein, der Krieg selbst war der Fehler. Und genau aus diesem Grund haben wir von Anfang gegen diesen Krieg gestimmt. ({3}) Er hat laut Iraq Body Count nämlich bis zu 180 000 Menschen das Leben gekostet. Mehr als 10 Milliarden Euro wurden nur für den Bundeswehreinsatz verschlungen. Der Einsatz in Afghanistan – das hat das Bombardement von Kunduz 2009 gezeigt, bei dem bis zu 140 Zivilisten getötet wurden –, das ist auch Massenmord im deutschen Namen. ({4}) Der verantwortliche Bundeswehroberst Klein wurde auch noch befördert! ({5}) Eine Entschuldigung der Bundesregierung, geschweige denn Entschädigungszahlungen gibt es bis heute nicht. Es ist höchste Zeit, zu sagen: Schluss damit! ({6}) Es gibt keine Alternative zu einer politischen Lösung für dieses geschundene Land. Die Linke hat immer gegen diesen NATO-Krieg Position bezogen. Das gilt natürlich auch bezüglich einer Regierungsbeteiligung: An einer Regierung, die den NATO-Krieg weiterführen will, werden wir uns nicht beteiligen. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 20 Jahre Einsatz in Afghanistan – das ist auch eine lange Geschichte verpasster Chancen. Die Sicherheitslage ist mittlerweile katastrophal. Die Taliban verüben heftige Anschläge auf die Regierungskräfte und machen ganz bewusst auch Richter und Journalisten zum Ziel ihrer brutalen Attacken. Rückblickblickend muss man wohl sagen: Die Momente, in denen eine Chance für eine Wende zum Besseren da war, wurden nicht oder nur unzureichend genutzt. Daraus müssen wir für die Zukunft lernen. Dass die Bundesregierung sich einer selbstkritischen, unabhängigen Evaluation der Auslandseinsätze verweigert, ist ein großes Versäumnis. ({0}) Es gab viele verpasste Chancen in Afghanistan in den ersten Jahren, als mehr für den zivilen Wiederaufbau hätte getan werden müssen, oder auch nach den Präsidentschaftswahlen 2014, als auf Mut und Hoffnung der Menschen wieder einmal nur Korruption und Klientelwirtschaft der politischen Eliten folgten. Unabhängig ob für oder gegen den Einsatz, in einem Punkt herrscht Einigkeit: Militärisch sind die Taliban nicht zu bezwingen. Die Chance auf eine friedlichere Zukunft läge in ihrer politischen Einbindung, die aber rote Linien nicht überschreiten darf. Dass diese vielleicht wichtigste Chance scheitern könnte, hat vor allem Donald Trump zu verantworten. Er hat weder die afghanische Regierung noch die Zivilgesellschaft, geschweige denn Frauen oder marginalisierte Gruppen in die Gespräche mit den Taliban einbezogen und hat ihnen den baldigen Abzug der internationalen Truppen quasi für nichts rübergereicht. Viele Expertinnen und Experten sehen deshalb kaum Interesse mehr bei den Taliban, sich auf einen echten innerafghanischen Friedensprozess mit der afghanischen Regierung und der Gesellschaft einzulassen. Donald Trump hat die wichtige Verhandlungslösung massiv gefährdet. Nicht nur wegen seiner verheerenden Afghanistan-Politik kann man nur sagen: Endlich ist das Unwesen, das dieser bösartige Chaot auf internationaler Ebene getrieben hat, vorbei! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der neue US-Präsident hat bisher zwei Entscheidungen getroffen: Das Abzugsdatum April 2021 ist vom Tisch, und es gibt einen Review-Prozess zum weiteren Vorgehen. Die Taliban drohen deshalb nun mit Anschlägen gegen die internationalen Truppen. In dieser unklaren Situation hat die Bundesregierung ein Mandat vorgelegt, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Sehen Sie noch eine Chance, mit der Ausbildung von Sicherheitskräften etwas zu erreichen? Und wie lange soll die Bundeswehr in Afghanistan bleiben? An diesem Punkt ist das Mandat höchst widersprüchlich. Sie sprechen in der Begründung von einem geordneten Abzug. Gleichzeitig sagen Sie, Sie wollen nur lageabhängig raus. Aber was sind dafür die Konditionen, insbesondere wenn die Lage sich verschlechtern sollte? Welche realistischen Erfolgsaussichten sehen Sie überhaupt? Für welches Szenario setzen Sie sich bei der NATO ein? Wer Soldatinnen und Soldaten in einen so gefährlichen Einsatz entsendet, braucht darauf überzeugende Antworten. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von der Frage des Verbleibs der Bundeswehr dürfen wir jetzt trotzdem international nichts unversucht lassen, um das Ruder bei den Verhandlungen rumzureißen. Ja, die Chancen dafür sind nicht groß; aber wir müssen in ein paar Jahren im Rückblick sagen können: Wir haben alles Menschenmögliche versucht –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und haben nicht einmal mehr eine der wenigen und schwierigen Chancen für die Menschen in Afghanistan verstreichen lassen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Brugger. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Frau Bundesministerin der Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist immer etwas Besonderes, wenn wir im Bundestag über Afghanistan reden; denn bei keinem Einsatz wird mir, wird Ihnen sicherlich so bewusst, wie groß die Gefahren sind, in die wir unsere Soldatinnen und Soldaten schicken, und dass in Afghanistan Soldaten ihr Leben gelassen haben – auch für das, was wir uns nach 9/11 vorgenommen haben: dass nämlich von Afghanistan kein staatlich unterstützter internationaler islamistischer Terror mehr ausgehen darf. Seit zwanzig Jahren geht das in Erfüllung. Das ist das Verdienst, das wir alle dort erzielt haben. Das ist auch das Verdienst der afghanischen Armee, der afghanischen Sicherheitskräfte, und sie konnten dieses Verdienst nur deshalb erreichen, weil sie von uns auch unterstützt worden sind, bis zum heutigen Tag. All diejenigen, die jetzt sagen, es war ein Fehler, damals gemeinsam – auf der Grundlage einer UN-Resolution und mit der NATO – nach Afghanistan zu gehen, hätten damit in Kauf genommen, dass die Taliban bis heute ununterbrochen regiert hätten, dass wir nicht den Ansatz von Frauen in Bildung, in Ämtern gehabt hätten, ({0}) dass wir nicht den Ansatz einer weiterentwickelten Armee gehabt hätten; auch das gehört zur Bilanz von Afghanistan dazu. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden und wir müssen über die Bilanz von Afghanistan reden; das sind wir insbesondere den gefallenen Soldaten schuldig. Aber heute reden wir vor allen Dingen über die nächsten Monate, wir reden darüber, dass wir gemeinsam mit dem Bündnis Zeit brauchen, damit die Friedensverhandlungen, die ja auch einmal mit einem Petersberger Dialog begonnen haben, zu Ende geführt werden können, damit wir weiter dafür sorgen – auch in der Ausbildung, in der Unterstützung –, dass wir die afghanischen Sicherheitskräfte nicht unkontrolliert von heute auf morgen alleinlassen. Dazu dienen die nächsten Monate. Wie schnell wir zu einem Ergebnis kommen, das ist etwas, was wir gemeinsam im Bündnis besprechen müssen, natürlich unter einer besonderen Verantwortung der Amerikaner, aber nicht nur, auch von uns. Wir sind im Norden Afghanistans die Anlehnnation für 16 andere Nationen; das sind über 500 Soldatinnen und Soldaten, die in Masar-i-Scharif gemeinsam mit uns Seite an Seite kämpfen. Auch für die tragen wir Verantwortung, und ich frage Sie: Wenn wir dieses Mandat nicht verlängern, welches Signal setzen wir dann an diejenigen, die auch für uns ihren Kopf in Afghanistan hinhalten? ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will es ganz deutlich machen: Die vor uns liegende Zeit ist gefährlich; sie ist insbesondere gefährlich für unsere Soldatinnen und Soldaten, für die internationalen Truppen. Die Taliban haben bisher gesagt, sie fühlen sich an das Abkommen mit den USA gebunden. Dieses Abkommen hat beinhaltet, dass wir zum 30. April abziehen. Ja, ich hätte mich gefreut, wir hätten in der Verteidigungsministersitzung der NATO schon eine Entscheidung treffen können, und ich hoffe sehr, dass möglicherweise in der Außenministersitzung im März eine Entscheidung getroffen wird. Aber wenn die Taliban sagen, wenn dieses Abkommen nicht umgesetzt wird, dann greifen sie uns auch wieder an, dann nehme ich diese Drohung ernst, und zwar sehr ernst. Das sind mehr als nur leere Worte. Deswegen war ich letzten Freitag in Afghanistan; deswegen habe ich mir vor Ort mit dem Kommandeur, mit General Meyer zusammen angeschaut, wie wir insbesondere in Masar-i-Scharif aufgestellt sind; deswegen verkürzen wir die Verlegebereitschaft unserer Verstärkungskräfte auf sieben Tage; deswegen sehen wir vor, dass die vorgesehene Infanteriekompanie um einen Mörserzug verstärkt wird, wenn es geht in Kooperation mit den Niederlanden; deswegen werden Material und Fahrzeuge dafür vorab in Afghanistan stationiert; deswegen bereiten wir auch über diese Maßnahmen hinaus weitergehende Bedrohungsszenarien vor – Geisellagen oder anderes –, für die wir auch Spezialkräfte brauchen. Und wir verfügen über diese Spezialkräfte, ({2}) und sie sind einsatzbereit, und deswegen halten wir sie auch in der Vorhand. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Ich bin sehr dankbar, dass doch die Mehrheit in diesem Haus bereit ist, dieses Mandat für die Übergangszeit zu gewährleisten. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, haben nach wie vor gesagt, sie finden ihren Einsatz sinnvoll; sie finden ihn wichtig; sie sehen, welche Fortschritte die afghanische Armee macht; sie erleben, wie unter einem hohen Blutzoll die afghanischen Soldaten dafür kämpfen, dass die Taliban nicht das ganze Land übernehmen; sie sehen, dass wir die Zeit brauchen, um eine politische Lösung der Konfliktparteien in Afghanistan zu finden, und deswegen wünschen sie sich den Rückhalt des Deutschen Bundestages. Wenn Sie uns mit dem Übergangsmandat diesen Rückhalt geben, dann darf ich mich auch im Namen der Soldatinnen und Soldaten dafür bedanken. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Ich möchte am Anfang Ihnen, Frau Bundesministerin, sehr herzlich danken, dass Sie dargestellt haben, wie wir vorbereitet sind auf die Situation, auf die Gefahren, weil wir in der Tat hier eine große Entscheidung treffen müssen, große Verantwortung haben. Da ist es für uns gut, zu wissen, dass unsere Soldaten gut vorbereitet, gut ausgerüstet sind. Meine Damen und Herren, in den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob wir die wichtigen Erfolge am Hindukusch sichern können, ob wir ein Afghanistan zurücklassen werden, von dem kein Terror für uns ausgeht. Ich möchte hier ganz klar sagen: Lassen Sie uns in diesem Endspurt alles unternehmen, damit wir diese Ziele erreichen, Erfolge sichern und Terror verhindern. Ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen können. Dazu muss Deutschland, dazu müssen wir hier im Deutschen Bundestag durch das Verlängern unseres Bundeswehreinsatzes diesen direkten Beitrag leisten. Das ist jetzt wichtig, weil es einen Abzug nur dann geben kann, wenn wir eine konkrete Aussicht auf ein politisches Abkommen zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul haben. Diese Perspektive gibt es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Meine Damen und Herren, natürlich hat sich Afghanistan nicht so entwickelt, wie wir uns das 2001 vorgestellt haben. Die Regierung in Kabul muss Korruption und Misswirtschaft deutlich besser in den Griff bekommen. Aber wir haben Entscheidendes erreicht: Erstens. Seit Beginn des Einsatzes 2001 ist von Afghanistan kein Terror gegen westliche Ziele ausgegangen. Zweitens wurde eine afghanische Armee aufgebaut – das ist ja jetzt auch der Schwerpunkt unseres Einsatzes –, die heute 95 Prozent der gefährlichen Einsätze gegen die Taliban selbstständig durchführt. Das ist doch eine wichtige Voraussetzung für einen funktionierenden Staat. Drittens haben wir viele positive gesellschaftliche Entwicklungen: eine vielfältige Medienlandschaft, in den Städten eine lebendige Zivilgesellschaft, wesentlich mehr Kinder, mehr Mädchen in der Schule, deutlich höhere Lebenserwartung. Das alles, meine Damen und Herren, sind keine politischen Träumereien, sondern das hat mir vergangene Woche erst eine junge Afghanin geschildert, deren Volksgruppe, die Hazara – eine Minderheit –, enorm von diesen positiven Entwicklungen profitiert hat und die jetzt große Sorge hat, dass das alles zusammenbricht, wenn wir überstürzt abziehen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir reden viel über größere Verantwortung, die Deutschland in der Welt übernehmen soll. Afghanistan ist nun genau so ein Ort, wo wir große Verantwortung übernommen haben und weiterhin große Verantwortung haben. Verantwortung heißt übrigens auch – das an die Adresse der SPD und Olaf Scholz –, dass wir unsere Soldaten natürlich mit bestmöglichem technischen Schutz in den Einsatz schicken, und dazu gehören bewaffnete Drohnen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sollte endlich klar sein. ({0}) Parteitaktik und Ideologie können nie wichtiger sein als die Sicherheit unserer Soldaten! Kolleginnen und Kollegen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss. Sie haben jetzt noch einen Satz, sonst muss ich Ihnen das Wort entziehen.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– wir sollten unsere Erfolge nicht aufs Spiel setzen und deswegen das Mandat verlängern. Herzlichen Dank. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte, eines hervorragenden Instituts, eines Instituts – das muss man, glaube ich, mal so sagen, weil es vielleicht nicht jeder in Deutschland weiß – mit Weltruf, von hoher Anerkennung weltweit, egal wo man hinguckt. Das deutsche Menschenrechtsinstitut macht Berichte in Deutschland, aber es moderiert auch eine ganze Reihe internationaler Prozesse. Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist guter Ratgeber für uns hier in dem, was wir miteinander diskutieren und beschließen. Es hat zum Beispiel Wesentliches zum Thema Lieferkettengesetz beigetragen. Das Ganze hat ja nicht erst bei der Debatte um das Lieferkettengesetz angefangen, sondern es gab den Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat uns sozusagen beraten und am Ende auch darin bestärkt, zu einem Lieferkettengesetz zu kommen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist Monitoringstelle. Es ist verantwortlich für die Prozesse, die uns durch internationale Abkommen auferlegt sind, beispielsweise bei den Kinderrechten, zu den Menschen mit Behinderungen und auch bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention, des Übereinkommens des Europarats gegen die Gewalt gegen Frauen. Ich bin übrigens ganz stolz darauf, dass der Kreis Recklinghausen, bei mir vor Ort, jetzt auch eine solche Monitoringstelle einrichtet. Vielleicht eine gute Anregung für alle Kolleginnen und Kollegen, bei denen das noch nicht geschehen ist: Gucken Sie doch mal, ob so was vor Ort da ist oder nicht noch eingerichtet werden könnte! ({0}) Heute debattieren wir den aktuellen Bericht. Das Interessante daran ist, dass er ein Ergebnis einer ehemaligen menschenrechtspolitischen Sprecherin der Union ist, deren Namen ich hier gar nicht mehr erwähnen möchte und die heute für andere Fraktionen tätig ist. ({1}) Ihr war es besonders wichtig, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte, als es eine gesetzliche Grundlage bekommen hat, jährlich einen Bericht vorlegen muss. Das tut das Deutsche Institut für Menschenrechte. Deswegen haben wir dankenswerterweise die Gelegenheit, uns heute mit diesem Bericht auseinanderzusetzen. Der aktuelle Bericht behandelt zwei Hauptthemen: Das eine ist die Frage des Umgangs mit Menschen, die in Deutschland Asyl begehren wollen, aber am Ende kein Asyl bekommen und deshalb wieder abgeschoben werden, und die Frage, wie man die Menschenrechte auch bei der Abschiebung – sie verlieren ja dadurch, dass sie abgeschoben werden, nicht die Menschenrechte – wahren kann. Das zweite Thema ist die Frage, wie wir eigentlich mit jungen Menschen umgehen, die eine Behinderung haben, und wie wir sie inklusiv in unser Wirtschafts-, Gesellschafts- und Bildungssystem integrieren. Wir sind bei dem Thema der Inklusion in der Schulbildung ganz gut vorangeschritten. Es gibt aber eine Hürde von der Schulbildung hin zur Ausbildung. Das Ergebnis der Untersuchungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist, dass 90 Prozent der jungen Menschen mit Behinderung am Ende immer noch in eine Sonderausbildung gehen und es nur bei 10 Prozent dieser Menschen gelingt, sie inklusiv in das Ausbildungssystem zu integrieren. Da gibt es also noch etwas, das umzusetzen wichtig ist. Da brauchen wir noch ganz auf der körperlichen Ebene so etwas wie barrierefreie Zugänge, müssen aber eben auch Förderungen und Beratung vorantreiben, etwas, was der zuständige Ausschuss des Deutschen Bundestages sicherlich in der Debatte aufnehmen wird. Das andere Thema – ich habe es gerade angedeutet – betrifft die Frage, wie wir mit den Menschen umgehen, die nicht in Deutschland bleiben können, die hier Asyl haben wollten und dann abgeschoben werden. Vielleicht erinnern sich noch einige von uns an die Debatten zurück, die wir geführt haben und wo wir gesagt haben: Wir wollen noch mal bei den Menschen, die krank sind, genauer hingucken und uns fragen, ob nicht möglicherweise das Reklamieren von Krankheit in einer menschlich nachvollziehbaren Art und Weise benutzt werden könnte, um Abschiebungen abzuwenden. – Darüber gab es eine intensive Diskussion. Wie auch immer man damals zu dieser Frage gestanden hat – ich habe das damals durchaus schon kritisch gesehen –, das Deutsche Institut für Menschenrechte stellt jedenfalls fest, dass wir möglicherweise über das Ziel hinausgeschossen sind. Es macht verfassungsrechtliche Bedenken geltend – ich glaube, mit denen sollten wir uns ernsthaft auseinandersetzen – und weist darauf hin, dass wir an manchen Stellen mittlerweile dazu kommen, das wir Menschen auch in Krankheitssituationen abschieben, wo man es eigentlich nicht tun dürfte. Das Deutsche Institut für Menschenrechte guckt besonders hin zum Beispiel bei der Frage der Abschiebungen aus stationären Einrichtungen. Es gibt Abschiebungen aus Krankenhäusern oder Psychiatrien, sozusagen aus der stationären Einrichtung heraus. Wir haben eben oftmals die Situation, dass die Abzuschiebenden wirklich nicht genau wissen, wie gerade ihre Situation ist, wie ihre rechtliche Situation ist und welche Möglichkeiten sie haben, entsprechenden medizinischen Beistand zu bekommen, sodass selbst diejenigen, die sagen: „Wir müssen vielleicht restriktiver mit Flüchtlingsfragen umgehen“, doch sehen müssen, dass wir auf gar keinen Fall bei einer solchen Abschiebung Menschenrechtsverletzungen begehen dürfen und dass wir jedenfalls alles tun müssen, um das zu verhindern. Deswegen empfehle ich uns sehr, uns diesen Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte an dieser Stelle noch mal genau anzugucken. ({2}) Wenn ich gerade beim Thema Geflüchtete bin, will ich zumindest die Gelegenheit noch mal nutzen und sicherlich auch im Sinne des Deutschen Instituts für Menschenrechte sagen: Wir sind in diesem Jahr im 70. Jahr des Bestehens der Genfer Flüchtlingskonvention. Es geht wirklich darum, zu gucken: Wie entwickeln wir eigentlich die Genfer Flüchtlingskonvention weiter, und hält sie noch für die nächsten Jahre und Jahrzehnte? Da habe ich jedenfalls große Sorge, dass das, was ja als Lehre aus den schwärzesten Zeiten deutscher Geschichte, europäischer Geschichte eine Errungenschaft war, doch sehr gefährdet ist. Wir diskutieren zunehmend über die Frage von Pushbacks. Mich jedenfalls macht sehr besorgt, dass der Frontex-Chef hier im Deutschen Bundestag, Herr Leggeri, so etwa gesagt hat – ich hoffe, ich bekomme das einigermaßen hin –, er wisse eigentlich auch nicht so genau, wo der Unterschied zwischen Pushbacks ist, also illegalen Pushbacks – das konzediert jeder –, und einer Art von sozusagen legalem Abfangen. Das macht mich jedenfalls sehr besorgt. Ich glaube, das ist etwas, worum wir uns bemühen müssen: gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in diesem 70. Jahr des Bestehens der Genfer Flüchtlingskonvention genau hinzugucken. Wir haben bei den Menschen auch zu trennen, indem wir sagen: Ja, nicht jeder bekommt das Asylrecht in Deutschland. Dafür gibt es gute Begründungen, und die müssen auch dargelegt werden. Wenn es sie nicht gibt, kann man das Recht auch nicht verwirklicht sehen. – Aber die Menschen müssen ja überhaupt das Recht bekommen, zu appellieren und deutlich zu machen: Was ist der Anlass für das Begehr, Asyl zu bekommen? Das darf nicht verhindert werden. Deswegen sind Pushbacks illegal. Ich finde, es muss auch die gemeinsame Aufgabe des Deutschen Bundestages sein, das deutlich zu machen. Ansonsten noch mal herzlichen Dank an das Deutsche Institut für Menschenrechte für die hervorragende Arbeit. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schwabe. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Jürgen Braun, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das Coronajahr 2020: Noch nie sind in der Bundesrepublik Deutschland Grundrechte so massiv und flächendeckend eingeschränkt worden. Im Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte steht für 2020 nichts über Lockdowns, nichts über Kontaktverbote für Millionen gesunder Menschen. Ist eigentlich vorstellbar, dass ein Bericht über Menschenrechte in Deutschland 2020 noch ignoranter ist als dieser Bericht des angeblichen Instituts für Menschenrechte? ({0}) Der verfassungswidrige Staatsrat aus Kanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten nimmt fleißigen Mittelständlern ihr Eigentum, enteignet Handel und Gastronomie faktisch. Die Verletzung des Menschenrechts auf Eigentum interessiert dieses sozialistische Institut für Menschenrechte kein bisschen. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier warnt bereits im Mai eindringlich – Zitat –: Wir haben in den letzten Monaten eine Einschränkung unserer Grundrechte erlebt, wie wir es uns wohl nie vorstellen konnten. ({1}) Papier weiter – Zitat –: Der Staat darf nicht in der allgemeinen legitimen Absicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, jedweden Grundrechtseingriff von beliebiger Schwere vornehmen. Zitat Ende. Auch den Inzidenzwert, den ach so heiligen Inzidenzwert, sieht er kritisch. Zitat: Ein formales Zahlenverhältnis von 35 oder 50 pro 100 000 reicht jedenfalls allein nicht, um schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen zu begründen. Schwerwiegende Einschränkungen der Meinungsfreiheit müssen die Menschen in Deutschland bei der Nutzung von Internetdiensten in Kauf nehmen. Das Institut interessiert es nicht. Facebook und Twitter zensieren unbequeme Meinungen weg. Die Wissenschaftsfreiheit ist bedroht, missliebige Wissenschaftler werden bedrängt – kein Wort dazu, was an deutschen Universitäten mittlerweile Alltag ist. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch das NetzDG hierzulande ist für das Institut seit Jahren kein Thema. Die bedrohte Meinungsfreiheit hierzulande wird ignoriert. Straftaten gegen Christen werden ebenfalls ignoriert. Von Christenverfolgung in deutschen Asylbewerberunterkünften lesen wir nichts. Im ganzen Bericht für 2020 kommt das Wort „Christen“ nicht ein einziges Mal vor. Die angeblich christliche Bundesregierung scheint es auch nicht zu stören; Frau Merkel und ihre Administration ganz in der unseligen Tradition der DDR. ({2}) Und dann? Ja, und dann natürlich wieder der böse Klimawandel. Zitat: Die Auswirkungen des Klimawandels – so steht es im Bericht – sind ein menschenrechtliches Schlüsselthema der kommenden Jahrzehnte. Zitat Ende. – Genauso sinnvoll wäre es, zu sagen: Der tägliche Aufgang der Sonne und ihr Niedergang ist ein menschenrechtliches Schlüsselthema der kommenden Jahrzehnte. Also, irrer geht’s kaum noch. ({3}) Das Klimathema hat mit Menschenrechten nichts, aber auch gar nichts zu tun. Sie machen mit dem Klimathema, mit dem Klimagelaber, die Menschenrechte lächerlich. Dafür lesen wir von einem eingebildeten Rassismus. Das ist eine der Modekrankheiten. Der islamische Antisemitismus wird dagegen ausgeblendet. Stattdessen angeblicher Rassismus bei der Polizei. Das ist eine typisch linke Propaganda, die bis zur Unterstützung der hauseigenen Terrorgruppe, der Antifa, reicht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte – kurz gefasst –: ein Institut zur Verhöhnung der Menschenrechte; leider. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident! – Meine Damen und Herren! Hannah Arendt hat in einem ihrer wichtigsten Aufsätze das Recht, Rechte zu haben, als einziges, als wichtiges Menschenrecht bezeichnet. Sie schrieb dies vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass Menschen als Staatsangehörige ausgebürgert wurden und mit nichts zurückblieben als dem nackten Leben. Die alte Idee des Menschen als politischem Wesen, das einer Polis angehört und dadurch Rechte geltend machen kann, war damit aufgehoben und in gewisser Weise auch die Grundidee der Aufklärung, es sei der Staat, der die Menschenrechte garantiere. Die Idee universeller Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtet die Menschheit: Nie wieder soll es passieren, dass das Recht, Rechte zu haben, negiert wird. Der Mensch – das ist die Botschaft – ist wichtiger als der Staat. Das ist eine revolutionäre Botschaft; denn sie stellt das wichtigste Strukturprinzip des internationalen Systems seit dem Westfälischen Frieden infrage: die staatliche Souveränität. Nein, Souveränität heißt nicht, dass der Staat tun kann, was er will. Souveränität ist auch nicht mehr, wie über lange Zeit, mit dem Prinzip der Nichtintervention verknüpft. Menschenrechte gelten universell; sie sind Ausdruck dessen, was Hans Jonas einmal die „Ethik der Fernverantwortung“ genannt hat. Deswegen erheben wir unsere Stimme und klagen Menschenrechtsverletzungen an. Wir sind dankbar, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte an unserer Seite ist. Wir sagen es an China: Die Verletzung der Rechte der Uiguren ist unerträglich. Wir sagen es an Russland: Willkürliche Inhaftierungen und die Tötung von Journalisten sind eine Verletzung der Menschenrechte. Wir sagen es an Saudi-Arabien, an Venezuela, der Türkei und vielen anderen: Menschenrechte sind unteilbar. Wir tun dies auch, wo es nicht leichtfällt, etwa wenn es darum geht, unseren amerikanischen Freunden zu sagen: Die leuchtende Stadt auf der Anhöhe, die Amanda Gorman so feierlich bei der Amtseinführung von Joe Biden beschworen hat, sie ist nicht zu sehen hinter dem Nebel von Guantánamo. Wir klagen an, wenn Menschenrechte verletzt werden: vor dem Weltgerichtshof als Weltgewissen, aber auch ganz konkret, etwa wenn Menschenrechte in Lieferketten verletzt werden oder wenn wir der Folterknechte dieser Welt habhaft werden. Und: Wir helfen den Opfern der Menschenrechtsverletzungen, auch mit den Mitteln des politischen Asyls. Wir haben einen kritischen Blick auf die Menschenrechtssituation in Deutschland. Dabei hilft uns das Deutsche Institut für Menschenrechte als Monitoringstelle mit Blick auf die Behindertenrechtskonvention, die Kinderkonvention, aber auch mit Stellungnahmen zu grundsätzlichen Fragen des Menschenrechtsschutzes. Der Kollege Schwabe hat einiges dazu ausgeführt. Deshalb – diese Stellungnahmen sind nicht immer angenehm, aber doch notwendig – gilt mein Dank heute Beate Rudolf und ihrem Team vom Institut für ihre engagierte, manchmal mutige, aber immer kompetente Arbeit. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, wir tun mehr. Wir dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. Wir benennen die Folterknechte dieser Welt, die Unterdrücker der Rechte, die Verächter der Idee, dass der Mensch wichtiger ist als der Staat oder eine Ideologie. Ich wünsche mir gleichwohl mehr: mehr Aufklärung über die Menschenrechte – eine noble Aufgabe für das Deutsche Institut für Menschenrechte –, mehr Diskussion darüber, dass die Menschenrechte der Hebel sind, die Welt der Nationalstaaten zu überwinden, mehr Debatte vielleicht auch darüber, dass wir, wie es die katholische Kirche formuliert und bei liberalen Denkern wie Otfried Höffe widerhallt, eine föderale, subsidiäre Weltpolitik brauchen, auch als Ausdruck der politischen Verfasstheit der Menschheit, die Träger der Menschenrechte ist. Wie sagte Hans Jonas? Ich zitiere: In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft … werden zuallererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen. Worauf könnten die Prinzipien beruhen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– wenn nicht auf den Menschenrechten? Wäre es nicht Pflicht, mit dem Deutschen Institut zusammen, sich auf diese Pflichten vorzubereiten und sie argumentativ stark zu machen? Ich meine, ja. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Zimmer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte, den wir heute debattieren, trägt den Titel „Bericht über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland im Zeitraum Juli 2019 bis Juni 2020“. Zwischen diesen beiden Daten liegt eine Pandemie. Und zwischen diesen beiden Daten liegen massive Grundrechtseingriffe, wie es die meisten von uns so noch nie erlebt haben. Wir haben im vergangenen Jahr diskutiert über Verhältnismäßigkeit, über das Gleichheitsgebot, über das Diskriminierungsverbot. Corona hat uns dazu gezwungen, die manchmal abstrakten Grundrechte in unsere Lebenswirklichkeit zu übersetzen und sie gegeneinander abzuwägen. Leider hat die Bundesregierung diese Diskussion, diese Abwägungen, viel zu oft hinter verschlossenen Türen geführt. Wenn wir Freie Demokraten, teilweise mit Grünen und Linken, öffentliche Debatten gefordert haben, hat die Bundesregierung diese Forderungen regelmäßig abgeschmettert. Ich möchte hier zwei Sätze mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Bericht zitieren, in der Hoffnung, dass die Bundesregierung vielleicht den Expertinnen und Experten des DIMR zuhört. Die parlamentarische Befassung – das ist das Zitat – mit der Einschränkung von Grund- und Menschenrechten ermöglicht eine öffentliche Debatte über Ziele, Wirksamkeit und Auswirkungen geplanter Maßnahmen sowie über Alternativen hierzu. Sie stellt damit in besserer Weise sicher, dass Grund- und Menschenrechte nicht in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden … Zitat Ende. Der aktuelle Vorschlag allerdings für die Gründung eines Coronagremiums beispielsweise zeigt leider klar, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung, dass Sie es nicht verstanden haben. Entscheidend ist hier nicht nur, dass das Parlament über Vorhaben und Maßnahmen nachträglich benachrichtigt wird, sondern entscheidend ist auch, dass das Parlament sichtbar und wahrnehmbar eingebunden ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat in den letzten Monaten nicht nur zu häufig hinter verschlossenen Türen debattiert und diskutiert, sondern, wie im Bericht auch veranschaulicht, über manche Dinge viel zu selten: über Menschen, die in Pflegeheimen und auf Krankenstationen unwürdig vereinsamten, über Opfer häuslicher Gewalt, die ihren Peinigern kaum noch entkommen konnten, oder über Kinder, die sich nicht mehr frei entfalten konnten. Die Coronapandemie hat uns gezeigt, wo unsere menschenrechtlichen Schwachstellen liegen. Entscheidend ist deswegen jetzt, dass wir diese Schwachstellen nicht nur stabilisieren, sondern tatsächlich auch die zugrunde liegenden Probleme lösen. Von uns Freien Demokraten liegen dazu vielzählige Vorschläge auf dem Tisch. Liebe Bundesregierung, wir würden uns freuen, wenn Sie sie einfach abschreiben würden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Montag ist nicht nur der Weltfrauentag, sondern am Montag feiert auch das Deutsche Institut für Menschenrechte sein 20-jähriges Bestehen. Seit 20 Jahren wacht das DIMR nun über den Schutz der Grund- und Menschenrechte hier in Deutschland. Seine Bedeutung zeigt es übrigens auch damit, dass es in der alles dominierenden Pandemie drängende menschenrechtliche Defizite nicht nur nicht aus dem Blick verloren hat, sondern sie auch anspricht. Auch in der diesjährigen Unterrichtung finden sich Schwerpunktthemen – Frank Schwabe hat eines davon genauer ausgeführt, nämlich die Menschenrechtsverstöße in Abschiebeprozessen –, wichtige Impulse für die Regierung, aber auch für uns als Opposition. Deswegen herzlichen Dank an Professor Rudolf und das gesamte Team vom Deutschen Institut für Menschenrechte. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Nächste Rednerin ist die Kollegen Zaklin Nastic, Fraktion Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Deutsche Institut für Menschenrechte beleuchtet die Situation hierzulande, aber auch die deutsche Verantwortung im Ausland. Zitat: Hochproblematisch ist es, dass einzelne Menschenrechte zeitweise völlig ausgesetzt waren, insbesondere die Versammlungsfreiheit und Religionsausübungsfreiheit. Die Religionsgemeinschaften befürworteten die Einschränkungen; dies führte auch zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz. Aber was das Recht auf Versammlungsfreiheit anbelangt, bedurfte es hier gerichtlicher Wiederherstellung. Das Menschenrechtsinstitut stellt fest, was die Linke hier seit fast einem Jahr fordert: Solche fundamentalen Eingriffe in Grundrechte müssen in einer demokratischen Gesellschaft öffentlich in den Parlamenten entschieden werden. ({0}) Die Coronapandemie „wirkt wie ein Brennglas. Das gilt auch aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive“, stellt das Institut fest. Corona trifft Menschen in prekären Lebenssituationen am härtesten. Das zeigt sich unter anderem an den deutlich gestiegenen Fällen von häuslicher Gewalt – in meiner Heimatstadt Hamburg sind die Zahlen so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr –, aber auch an der angemessenen Unterbringung von wohnungslosen Menschen. Dies hat sich in diesem Coronawinter als besonders tödlich erwiesen: In Hamburg sind auf den Straßen 13 Menschen seit Beginn des Jahres gestorben, während die Landesregierung sich weiterhin weigert, leerstehende Hotels anzumieten. Dies ist ein Skandal! ({1}) Meine Damen und Herren, wer von Würde für Menschen durch einen Friseurbesuch spricht, der muss auch für die Würde der Menschen kämpfen, die wirklich nichts mehr haben. ({2}) Die jahrelange Sparpolitik durch die Schuldenbremse im Bereich der Inklusion, der Frauenberatungsstellen, der Kinder- und Jugendhilfe, des sozialen Wohnungsbaus und bei den Gesundheitsämtern zeigt: Sie von der Regierung haben kontinuierlich das Menschenrecht auf soziale Sicherheit abgebaut. ({3}) Wir Linken fordern das Menschenrecht auf soziale Sicherheit! Dies ist nämlich auch ein Teil des Kampfes gegen das Virus. ({4}) Aber auch was die Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Bereich der Rüstungsexportpolitik Deutschlands anbelangt, wird die Regierung hier erneut gerügt. Am Montag bei der Geldgeberkonferenz appellierte Heiko Maas, der Außenminister, noch an alle Konfliktparteien, das Leid in Jemen sei von Menschen gemacht. Ja, da darf Herr Maas sich die eigenen Hände nicht in Unschuld waschen: Die saudi-arabische Militärkoalition wird weiterhin mit Mordwerkzeug made in Germany ausgerüstet, allein im vergangenen Jahr im Wert von 830 Millionen Euro. – Auch das Expertengremium der Vereinten Nationen bezeichnet das als Beihilfe zu Kriegsverbrechen. Wir als Linke fordern: Stoppen Sie den Krieg in Jemen und die Beteiligung an diesen Kriegsverbrechen, wenn Ihnen Menschenrechte auch in Jemen wirklich wichtig sind! Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Nastic. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Margarete Bause, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich der schöne Satz: Wir werden „die Menschenrechtsarchitektur in Deutschland stärken“. Anlässlich der heutigen Debatte möchte ich mal genauer hinschauen, ob dieses Versprechen eingelöst wurde. Eine zentrale Säule dieser Architektur ist das Deutsche Institut für Menschenrechte. Seit 20 Jahren liefert es hervorragende Expertise zu hochaktuellen Themen, und dafür gebührt seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unser aller Dank. ({0}) Das Menschenrechtsinstitut legt den Finger in die Wunde und weist darauf hin, wo auch wir hier in Deutschland Handlungsbedarf haben, wenn es um die Einhaltung und die Umsetzung der Menschenrechte geht. Im jüngsten Jahresbericht etwa erneuert das Institut seine Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung; Kollege Schwabe hat schon darauf hingewiesen. Zitat aus dem Bericht: Erkrankte Menschen dürfen in Deutschland nicht abgeschoben werden, wenn sich dadurch ihr Gesundheitszustand gravierend verschlechtert oder gar ihr Leben gefährdet ist. Das heißt, der Staat muss auch in Flüchtlingsunterkünften und auch bei Abschiebungen sicherstellen, dass die Grund- und Menschenrechte gewahrt bleiben. Schöne Grüße an das Bundesinnenministerium! ({1}) Oder die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Berufsausbildung. Das Institut rügt deutlich, dass das derzeitige System der Berufsberatung und der Berufsausbildung nach wie vor nicht inklusiv ist; das ist – Zitat – „mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar“. Kolleginnen und Kollegen, wir sind gut beraten, diese fundierte Kritik und auch die konkreten Verbesserungsvorschläge ernst zu nehmen und umzusetzen und eben nicht hier in der Debatte den Dank auszusprechen, die Berichte dann aber in der Schublade verschwinden zu lassen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte und auch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter sind wichtige Korrektive unserer Menschenrechtspolitik. Ihre Empfehlungen umzusetzen, dient der Glaubwürdigkeit Deutschlands weltweit. ({2}) Das Deutsche Institut für Menschenrechte leistet herausragende Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Die Themenpalette ist breit, aber das Budget ist schmal. In einem Gutachten hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt – ich zitiere –: Dem Institut wurden seit seiner Gründung mehr und mehr Aufgaben übertragen, während die institutionelle Grundfinanzierung … mit dem Zuwachs an Kompetenzen nicht Schritt hielt. Kolleginnen und Kollegen, wir hier im Parlament sind aufgefordert, bessere Arbeitsbedingungen für unser Menschenrechtsinstitut zu schaffen und den Schatz, den es uns zur Verfügung stellt, besser zu nutzen. ({3}) Warum werden bei Anhörungen zu Gesetzentwürfen mit Menschenrechtsbezug nicht automatisch die Expertinnen des Instituts einbezogen? Warum bekommt es nicht das Recht, bestimmte Themen in Bundestagsausschüssen aufzusetzen oder Musterklagen oder Untersuchungen einzuleiten? Binden wir unser Menschenrechtsinstitut stärker ein in die Arbeit von Parlament und Regierung! Machen wir es sichtbarer! Stärken wir es und damit unsere Menschenrechtspolitik! Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bause. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Menschenrechten denken wir – und das zu Recht – an Gefängnisse in Teheran, an Mädchen in Afghanistan, an Kindersoldaten im Kongo. Das sind Bilder, die sich über Jahre in unsere Köpfe eingebrannt haben. Gegen diese Schrecken müssen wir weltweit weiterkämpfen. Das befreit uns aber nicht davon, vor der eigenen Haustür zu kehren – ganz im Gegenteil. Einer der Seismographen für menschenrechtliche Erschütterungen in unserem Land ist das Deutsche Institut für Menschenrechte. In unserem Land muss sich zwar niemand vor dem Staat und seinen Behörden fürchten, niemand muss Angst haben, dass die Polizei grundlos nachts die Tür aufsprengt, auch wenn das die Opposition in diesem Hause manchmal so darstellt. Aber auch in unserem Land sind nicht alle Menschen sicher vor Menschenrechtsverletzungen, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihres sozialen Status oder ihrer Herkunft. Erst vor Kurzem gedachten wir in meinem Wahlkreis in Hanau an die Opfer des rechtsterroristischen Amoklaufs des letzten Jahres. Neun junge Menschen wurden von einem Rechtsextremisten sinnlos aus dem Leben gerissen. Ich erinnere auch an den islamistisch-homophoben Messeranschlag auf zwei Männer in Dresden, der einen Mann vor den Augen seines Partners das Leben kostete. So hat die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Frau Professorin Rudolf, recht, wenn sie im Bericht schreibt: „Wachsamkeit ist angezeigt.“ Diese Wachsamkeit kann das Deutsche Institut für Menschenrechte nicht alleine leisten. Es ist aber ein wichtiger Bestandteil davon. Dass das Deutsche Institut für Menschenrechte dabei unbequem ist, liegt in der Natur der Sache. Ein gefälliges nationales Menschenrechtsinstitut braucht keiner. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist es auch richtig, dass sich das Deutsche Institut für Menschenrechte verstärkt dem Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ widmet. Ich zähle dabei vor allem auf die wissenschaftliche Begleitung des Lieferkettengesetzes. Ja, es ist gut, wenn wir hier vorankommen und der Handel fairer wird. Ich begrüße es auch ganz ausdrücklich, dass in dem Bericht auch aktuelle politische Vorhaben wie der Schutz von Prostituierten und die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz genannt werden. Das sind für mich wichtige Themen. Diese komplexen menschenrechtlichen Fragestellungen brauchen eine unabhängige wissenschaftliche Begleitung. Anders als es die AfD sieht und eben dargestellt hat, ist es gut, dass sich das Deutsche Institut für Menschenrechte auch für menschenrechtliche Fragen bei den Themen Datenschutz und Naturschutz interessiert. Man muss da nicht immer alles teilen – manches ist auch arg von unserem westlichen Wohlstandsniveau aus gedacht –, aber es ist gut, sich damit auseinanderzusetzen. Aber gerade im Bereich der politischen Bildung leistet das Deutsche Institut für Menschenrechte mit seinem offenen diskursiven Ansatz wertvolle und gute Arbeit an vielen Schulen unseres Landes, und für diese Arbeit ist ihm auch sehr zu danken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten dem Deutschen Institut für Menschenrechte ins Stammbuch schreiben, in seiner politischen Bildungsarbeit noch mehr in Milieus reinzugehen, in denen es wehtut, und vielleicht schaut das Deutsche Institut für Menschenrechte dann auch mal bei Ihnen in der Fraktion vorbei, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte ein Erfolgsmodell bleibt und die Menschen in unserem Land, egal wie sie aussehen, wer sie sind oder woher sie kommen, sicher sind und bleiben. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Leikert. – Der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 11. März 2011 kam es zur Dreifachkatastrophe in Japan: Erdbeben, Tsunami und in der Folge ein atomarer GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Der Tsunami tötete 20 000 Menschen. Ihrer wird in Japan in diesen Tagen gedacht, und zu Beginn unserer Debatte heute möchte ich mein Mitgefühl nach Japan senden und meine Verbundenheit mit den Menschen dort ausdrücken. ({0}) 20 000 Tote durch den Tsunami, 470 000 Menschen, die verstrahlte Gebiete verlassen mussten: Ich glaube, in übergroßer Mehrheit sind wir uns hier im Bundestag einig, dass wir Dimensionen von Leid nicht abwägen. Japan ist ein äußerst technikaffines Land. Das Versagen seiner Atomtechnik war eine nationale Kränkung, weshalb die japanische Regierung die Atomkraft immer noch als Teil der Energieversorgung will. Das gilt aber nicht für die getroffene Präfektur Fukushima. Die hat den Atomausstieg beschlossen. Auch Nachbarkommunen der Atomkraftwerke verhindern mit ihrem Mitspracherecht den gewünschten Atomstromanteil. Für das japanische Energieministerium funktioniert die Rechnung auch nur, weil es die Hunderte Milliarden Folgekosten für den GAU konsequent von den Kosten des Atomstroms abspaltet. Zehn Jahre nach dem GAU von Fukushima gibt es immer noch Menschen, Parteien und Länder, die dem Atomlobbyismus erliegen. ({1}) Der verlorene Glanz soll mit der Suggestion einer billigen, klimaschützenden, sauberen Energie wieder aufpoliert werden. Der Realität halten solche Behauptungen nicht stand. ({2}) Ein AKW-Neubau mit angemessenen Sicherheitsstandards ist unter 10 Milliarden Euro nicht zu haben. Die Kilowattstunde Strom kostet über 10 Cent. Eine heute installierte Photovoltaikanlage liefert Strom für unter 5 Cent. ({3}) Auf der Suche nach neuen Förderquellen für Atomkraft fanden die Lobbyisten die Taxonomie und den Wasserstoff, Atomenergie als nachhaltige Geldanlage und Gelben Wasserstoff dem Grünen an die Seite gestellt. Tricky gedacht, aber auf Fake fußend. Nachhaltig an der Atomkraft ist vor allem ihr Müll, der uns über 1 Million Jahre in die Pflicht nimmt. Und die gern bemühte CO2-Armut des Atomstroms entlarvt sich schnell, wenn wir die Kette von Uranabbau bis zur Endlagerung in den Blick nehmen. Den Vergleich mit erneuerbarem Strom hält Atomstrom nicht nur bei den Kosten, sondern auch beim CO2-Fußabdruck nicht aus. ({4}) Wer Klimaschutz will, braucht Erneuerbare, und wer Erneuerbare nicht als Nische will, muss sich von Grundlastkraftwerken verabschieden, von Kohle und Atom. ({5}) Trotzdem wird mancher nicht müde, eine Renaissance der Atomkraft herbeizureden. Was sagt die Realität? Nicht einmal die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten will Atomstrom in der Zukunft. Schauen wir in die Welt, stellen wir fest, dass 50 Neubauplänen 190 Abschaltungen gegenüberstehen. Die Zahl in Betrieb befindlicher Atomkraftwerke verringert sich beständig. Das heißt, in dieser Frage ist die Welt viel vernünftiger, als es manchen gefällt. Atomstrom wird sich in diesem Jahrhundert erledigt haben. Wo es nicht die Einsicht in das Risiko ist oder in die letztliche Unlösbarkeit des Atommüllproblems, wird es die ökonomische Vernunft sein. „Zu teuer“ ist ein Argument, und Bill Gates kann irren. Aber auch wenn das Herbeireden einer Renaissance der Atomkraft am Ende nicht erfolgreich sein wird, richtet es Schaden an. Es verzögert die globale Energiewende und damit erfolgreichen Klimaschutz. Es verschlingt Ressourcen und verlängert das Risiko. Deshalb zum Schluss meine Bitte an die Bundesregierung: Kehren Sie zurück zu der kraftvollen Haltung von 2011, als Deutschland parteiübergreifend den Atomausstieg beschloss. Vervollständigen Sie ihn mit der Schließung der Atomfabriken bei uns, die das globale Atomkarussell antreiben. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine letzte Bitte an die Bundesregierung, Herr Präsident: Werden Sie Nachbarländern gegenüber deutlich bei Laufzeitverlängerungen und Neubauplänen, und schweigen Sie nicht in der EU, wenn es um neue Förderquellen für Atomkraft geht. Das sind Sie und wir alle dem 11. März 2011 schuldig. Vielen Dank. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren hat ein Erdbeben einen Tsunami in Japan ausgelöst, der eine große Katastrophe mit vielen Tausend Toten zur Folge hatte. Wir gedenken dieser Toten heute; Frau Kotting-Uhl hat es gesagt. Aber wir gedenken ihrer nicht wegen der Größe dieses Tsunamis; denn dann müssten wir auch der Toten des viel größeren Unglücks 2004 gedenken. Gegen Naturgewalten ist niemand gefeit. Aber dieses Ereignis hatte eine andere Katastrophe zur Folge, die nichts mit einer Naturgewalt zu tun hat, sondern die auf menschliches Versagen zurückgeht: die Zerstörung mehrerer Kernkraftwerksblöcke in Fukushima. Sie hatte zwar nicht Tausende von Toten zur Folge, aber Hunderttausende von Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und bis heute in provisorischen Unterkünften leben, ohne Aussicht darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dieses Ereignis kam nicht überraschend; es hatte eine lange Vorgeschichte von vielen anderen Unglücken. Ich erinnere an die Teilkernschmelze in Harrisburg im Jahr 1979, an Tschernobyl im Jahr 1986, ein noch viel größeres Unglück, und dann Fukushima im Jahr 2011. In allen Fällen war menschliches Versagen die Ursache. Was an Fukushima so besonders war, ist die Tatsache, dass es in einem Hochtechnologieland, das eine Ingenieurskunst beherrscht, die unserer gleichgestellt ist, zu einem solchen Unglück kam. Hinterher fragt man sich: Wieso rechnet man nicht damit, dass so etwas passieren kann, wenn man ein Kernkraftwerk an der Küste baut? – Das ist unser Problem. Wir sind offensichtlich nicht in der Lage, alle Varianten zu durchdenken und auszuschließen, dass wir eine Technologie, die tatsächlich ein hohes Risiko birgt, mit hinreichender Sicherheit kontrollieren können. Welche Schlussfolgerungen hat die Welt, haben wir aus diesem Ereignis gezogen? Die Welt hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Sicherheitsansprüche an Kernreaktoren immer höher geschraubt wurden, was zur Folge hatte, dass sie immer teurer wurden. Ob die Rechnung von Frau Kotting-Uhl jetzt genau stimmt oder ungefähr, ({0}) spielt gar keine Rolle. Die Größenordnung der Stromerzeugungskosten durch Kernkraft hat eine Dimension erreicht, die nicht konkurrenzfähig ist, vor allen Dingen nicht, wenn man den Lebenszyklus einer solchen Anlage vor Augen hat. Wir haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, aus der Stromerzeugung durch Kernenergie auszusteigen. Am Ende dieses Jahres werden wir diesen Ausstieg vollendet haben; denn dann wird das letzte Kernkraftwerk in Deutschland abgeschaltet. ({1}) Aus diesem Anlass legen die Grünen hier einen Antrag vor. Ich will auf die Ziele, die Forderungen im Einzelnen nicht eingehen. Aber was in den Überlegungen dazu zu Papier gebracht worden ist, hat mich wirklich erschüttert. ({2}) In dem Antrag wird ein bestimmter Typus von Mensch angesprochen, der offensichtlich empfänglich dafür ist, mit Kernkraft Strom zu erzeugen, und die Verbindung hergestellt, dass dieser Typus von Mensch Macht und Unabhängigkeit hochstellt, die er glaubt durch Atomenergie zu erwerben. Eine andere Stelle: Lobbyisten und Länder, die sich von diesen haben einfangen lassen, versuchen, die Atomenergie weiterzuschreiben. Liebe Kollegen von den Grünen, solche psychologischen Überlegungen mögen richtig oder falsch sein. ({3}) Aber ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie damit unsere Nachbarländer für doof erklären, ({4}) weil sie die Argumente, mit denen wir in Deutschland unsere Politik begründen, nicht auch nutzen? Unsere Nachbarn und Freunde in Frankreich, in England, in Holland, in Polen, in den USA sind doch nicht so blöd; die haben doch einen Grund und bewerten anders als wir. Wir sind doch nicht die Besserwisser der Welt. ({5}) Wir müssen die Welt nicht mit dem, was wir machen, beglücken. ({6}) Wir können doch nicht verlangen, dass andere das genauso machen müssen, damit wir zufrieden sind. Wir sind souveräne Länder und können uns gegenseitig beeinflussen – das ist richtig –, aber mit Rücksichtnahme. Diesen missionarischen Ansatz, andere nahezu zu zwingen, unsere Politik nachzumachen, halte ich unter Freunden für unvertretbar. ({7}) Wir haben genug Baustellen, die wir noch bearbeiten müssen: die Endlagerung, die Finanzierung über den KENFO, der eine gute Arbeit macht und mit dem angelegten Geld gute Ergebnisse erzielt. Ich will auch darauf hinweisen: Wir haben in der 16. Atomgesetznovelle Ansprüche von Firmen geregelt, die auf die Produktion von Strom verzichten müssen. Wir haben dieses Gesetz damals mit großen Bauchschmerzen beschlossen – ich erinnere an die Debatte, die wir hier geführt haben –, und das Verfassungsgericht hat dieses Gesetz für nicht existent erklärt. ({8}) Ich erwarte vom Umweltministerium, dass es diese Fragen beantwortet, bevor dieses Jahr zu Ende geht. Ich wünsche dem BMU dabei viel Glück, mehr Glück, als es beim letzten Mal hatte, als ich gemeint habe: „Das Problem wird nicht gelöst“, und es wurde nicht gelöst. Jetzt ist es an der Zeit. ({9}) Ich wünsche Frau Ministerin Schulze viel Glück dabei – vielleicht sagt ihr das jemand –, dieses Problem zu lösen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danke, Herr Kollege Möring. – Frau Künast, Sie haben erkannt, dass es manchmal von Nachteil, vielleicht auch von Vorteil ist, wenn man den Zwischenruf wegen der Maske nicht verstehen kann. Sie haben bei den letzten beiden Zwischenrufen die Maske dankenswerterweise abgenommen, sodass die Schriftführerinnen und Schriftführer die Zwischenrufe haben notieren können. ({0}) – Frau Kollegin Lötzsch hat mit einer kräftigen Stimme, wie es bei den Linken typisch ist, darauf hingewiesen, dass man auch weiter vorne sitzen kann. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion. ({1})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! „Und jährlich grüßt das Murmeltier“, könnte man sagen. Wie jedes Jahr instrumentalisiert die grüne Fraktion die 20 000 Todesopfer des Tohoku-Erdbebens. Und auf Antrag der Grünenvorsitzenden – wir haben sie gerade gehört – war gestern im Umweltausschuss eigentlich eine öffentliche Anhörung zum Thema Fukushima geplant. Erneut also hätten die Opfer des Erdbebens und der Tsunami-Flutwelle ausgeblendet werden sollen; aber dazu kam es nicht. Der Grund ist beschämend; denn eine fachliche Expertise einer geladenen Expertin hat der Ausschussvorsitzenden und den anderen Obleuten nicht gepasst. ({0}) Vorgeschlagen war Geraldine Thomas. Professor Thomas hat bahnbrechende Arbeiten zu Strahlungsschäden am menschlichen Gewebe vorzuweisen. Sie hält einen Lehrstuhl für molekulare Pathologie an der Medizinischen Fakultät des Imperial College in London. Sie hat häufig und oft Tschernobyl und Fukushima besucht und maßgeblich am Aufbau der Tschernobyl-Gewebedatenbank mitgewirkt. Und vor zwei Wochen wurde Professor Thomas als „Officer of the Most Excellent Order of the British Empire“ ausgezeichnet. Meine Damen und Herren, wir reden hier also von einer echten Expertin, im Gegensatz zu diversen bezahlten NGO-Stimmungsmachern, die üblicherweise von den linken Fraktionen geladen werden. ({1}) Dass eine Ausschussvorsitzende im Deutschen Bundestag mit den übrigen Obleuten eine öffentliche Anhörung absagt, weil eine fachliche Expertise nicht passt, ist ein Skandal. ({2}) Überraschend ist das allerdings nicht. Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass man sich hier mit Stichwortgebern und Jasagern umgibt. Es ist gerade einmal drei Wochen her, dass wir hier im Deutschen Bundestag, hier von diesem Pult aus, über den unsäglichen Einfluss der Politik auf die Wissenschaft geredet haben. „Nichts deutet derzeit auf eine Abhängigkeit der Wissenschaftler von der Politik hin“, so sprach damals die Rednerin der Unionsfraktion, Frau Mannes. Und selten ist eine Rednerin so dermaßen vorgeführt worden; denn genau zeitgleich zu ihrer Rede hat der bayerische Ministerpräsident Söder ein Mitglied des Bayerischen Ethikrates hinausgeworfen, weil ihm dessen fachliche Meinung zu Corona nicht gepasst hat. ({3}) In den folgenden drei Wochen gab es weitere Fälle. Der Göttinger Polizeipräsident wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Grund: Er hatte sich kritisch gegenüber den Coronamaßnahmen der Niedersächsischen Landesregierung geäußert. Und Professor Feld wird nicht erneut in den Rat der Wirtschaftsweisen berufen, weil der SPD und Vizekanzler Scholz seine fachliche Expertise zur Schuldenbremse nicht gefällt. Der Redner der SPD, Kollege Röspel – bleiben wir dabei –, sagte damals, in der Diskussion vor drei Wochen: ({4}) „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“: Dieses in Artikel 5 des Grundgesetzes beschriebene Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen ist auch Ausdruck der Erfahrung aus der Nazizeit. Welche Schlüsse wurden denn aus der Erfahrung gezogen, wenn der niedersächsische Innenminister Pistorius und Vizekanzler Scholz Experten rauswerfen, weil ihnen ihre fachliche Meinung nicht gefällt? ({5}) Der Gipfel der Heuchelei kommt wie immer von Ihnen, der Grünenfraktion.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, wir reden hier tatsächlich über zehn Jahre Fukushima und die Kernenergie ({0}) und nicht über das, was Sie aus Ihrer Sicht zu Recht anprangern; ({1}) aber das ist ein anderes Thema. Würden Sie freundlicherweise zur Sache kommen? ({2})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident, wir reden auch über die gestrige Anhörung zum Thema Fukushima, die durch die Aktion der Vorsitzenden abgesagt worden ist. Aber gut! „Politik darf Wissenschaft nicht instrumentalisieren“, sagte Ihr Kollege Gehring in der Diskussion vor drei Wochen. Aber Sie, die Grünen, haben mit der Absage einer Fukushima-Diskussion genau das getan. Sie instrumentalisieren Wissenschaft und Forschung grundsätzlich. Sie laden grundsätzlich nur genehme selbsternannte Experten aus der grünen Blase ein, die jenseits aller Fakten Horrorszenarien an die Wand malen, um Angst zu schüren und Panik zu verbreiten. Als Folge und mit der Unterstützung Ihrer Abgeordneten stürmt dann eine Meute von Kohlegegnern den Bundestag. Fassen wir zusammen: Jeder Ihrer Anträge der vergangenen zehn Jahre, der sich mit Fukushima beschäftigt hat, ({0}) hat die verheerenden Folgen des Tohoku-Erdbebens und des Tsunamis völlig ignoriert. Die Opfer dieser Katastrophe – 20 000 Menschenleben – werden von Ihnen, den Grünen, Jahr für Jahr in ekelerregender, widerwärtiger Art und Weise instrumentalisiert, und dafür sollten Sie sich schämen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kraft. – Die Kollegin Kotting-Uhl möchte auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Kurzintervention machen. Ich lasse das zu. – Frau Kollegin Kotting-Uhl, bitte.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. Ich weiß, wie schwierig es ist, wenn in diesen späten Abendstunden immer noch mal was Zusätzliches kommt. Ich möchte aber die anderen informieren, was der Grund für die Absage war. In der Tat wollten wir anlässlich von zehn Jahren Fukushima einen Blick nach Japan werfen, um zu sehen, wie die Situation dort ist, und hatten uns auf ein Tableau gemeinsamer Sachverständiger geeinigt. Die AfD wollte eine eigene Sachverständige ernennen, nämlich Frau Thomas, von der Herr Kraft berichtet hat. Was er nicht ausgeführt hat: Diese Dame ist der Meinung, dass sich aus ihren wissenschaftlichen Forschungen ergibt, dass bei den Menschen, die von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen waren, infolge der Strahlenexposition keine Schäden festzustellen sind, dass also ein atomarer GAU sozusagen sozial- und gesellschaftsverträglich ist. Und diese Botschaft wollte ich an einem Jahrestag von Fukushima aus dem Deutschen Bundestag heraus nicht senden. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Kraft, Sie haben jetzt das Recht zur Erwiderung – auch zwei Minuten.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Kotting-Uhl, Sie haben es schon wieder getan. Schon wieder instrumentalisieren Sie hier Opfer. Und Ihre Ausführungen sind komplett falsch. Wenn Sie die Arbeiten von Frau Professor Thomas verfolgt hätten, dann wüssten Sie: Sie hat selbstverständlich auch Langzeitfolgen von Tschernobyl festgestellt. – Das heißt, Sie sind mit den Arbeiten von Frau Thomas überhaupt nicht vertraut. ({0}) Wenn wir auf die Titel und die Inhalte Ihrer Anträge zu sprechen kommen, muss ich feststellen: Dort steht immer „Fukushima“. Der Titel der Anhörung gestern wäre „Fukushima“ gewesen. Niemals hat sich einer Ihrer Anträge mit dem Tohoku-Erdbeben auseinandergesetzt, niemals hat sich einer mit der Verbesserung von Küstenschutz oder mit Frühwarnsystemen für Erdbeben beschäftigt. Sie haben immer aus ideologischen Gründen ausschließlich auf Fukushima Bezug genommen. Sie haben die 20 000 Opfer immer instrumentalisiert. Ihre Bundestagsvizepräsidentin hat das des Öfteren schon mal leichtfertig durcheinandergebracht. Sie werden auch im „Ostfriesischen Kurier“ zitiert, dass Sie einmal gesagt haben, dass in Fukushima 16 000 Menschen ums Leben gekommen sind. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Kraft. Ich will noch mitteilen: Es gibt nicht „Ihre Bundestagsvizepräsidentin“; denn die Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten sind die Präsidenten des gesamten Bundestages. ({0}) – Das habe ich jetzt phonetisch nicht verstanden. Das lag wahrscheinlich an Ihrem Dialekt. ({1}) – Gut. Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Nina Scheer, SPD-Fraktion. ({2})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn jetzt hier im Raum steht, dass die Erwähnung des atomaren GAU, des Unfalls von Fukushima, und die Fokussierung darauf eine Verharmlosung gegenüber den anderen Schäden darstellt, gegenüber den Menschenopfern und den Tsunamischäden, die zu verzeichnen sind, dann muss ich sagen: Das ist einfach falsch. Diese Behauptung ist unwürdig gegenüber all den Opfern der Komplettkatastrophe. ({0}) Damit wollen Sie wieder nur vertuschen und die Folgeschäden der Atomenergie verharmlosen. ({1}) Wer vor ein paar Tagen den sehr aufschlussreichen Bericht im Ersten Deutschen Fernsehen gesehen hat, der noch mal daran erinnerte, was vor zehn Jahren passiert ist, der hat gesehen, dass dort auch der „Tagesthemen“-Reporter wiedergegeben wurde, der damals aus Tokio berichtet hat. Man hat ja zuerst auf die Folgen des Tsunamis geschaut. Aber in dem Moment, in dem klar war, was das mit den Atomreaktoren macht, lag der Fokus angesichts dieser Dramatik tatsächlich auf dieser Situation. Deswegen: Uns hier im Haus insgesamt zu unterstellen, dass man den Opfern nicht gerecht wird, ist einfach zynisch, und es lenkt wieder nur ab von den Fragen, die heute zu zehn Jahren Fukushima in der Tat anstehen. ({2}) Es ist schon anderweitig erwähnt worden: Es gibt viele Opfer, sowohl tsunamibedingt als auch aufgrund der Reaktorkatastrophe. Es gibt – – ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Dr. Scheer, im Deutschen Bundestag ist es üblich, dass man auch Zwischenrufe macht. Wenn Sie das stört – –

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Man hat nur irgendwie das Gefühl, dass man noch nicht mal Luft holen kann, ohne Widerworte zu kriegen. – Also gut, ich versuche es noch mal.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, das Schicksal teilen Sie mit vielen Abgeordneten der AfD.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay, das stimmt. Das ist das Schicksal der Gemeinschaft hier. ({0}) Ich wollte auf die Situation im Zusammenhang mit den Krebsraten zurückkommen, die massiv steigen. Da gibt es auch jüngste Berichte von Ärzten vor Ort, denen Sie ja vielleicht mal Glauben schenken können, die davon sprechen, dass die Krebsrate von Kindern, die unter Schilddrüsenkrebs leiden, um das 20- bis 50-Fache nach oben gegangen ist. ({1}) Ich habe jetzt keine Zeit, weiter darüber zu sprechen, weil ich noch viele andere Punkte anführen möchte. Aber allein schon aus Respekt vor den Opfern gebührt es sich doch, dass Sie nicht ständig durch Zwischenrufe diese schreckliche Dramatik relativieren. ({2}) Ich will als zweiten Punkt aber auf die Atomenergiesituation weltweit eingehen. Es muss Sie doch aufrütteln, dass die Gesamtinvestitionen in Atomenergie in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen sind, weil man einfach erkannt hat: Das ist mit Blick auf die Risiken, mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Kosten einfach nicht mehr zu rechtfertigen; es ist nicht mehr opportun. – Zurzeit werden weltweit Investitionen in Atomenergie im Umfang von 31 Milliarden US-Dollar getätigt. Dem stehen aber Investitionen von 138 Milliarden US-Dollar in Windenergie und 131 Milliarden US-Dollar in Solarenergie gegenüber. Ich sage das einfach nur, um mal die Größenordnungen in den Raum zu stellen. ({3}) Die Anteile bei den Forschungsausgaben spiegeln das aber nicht unbedingt wider, und das muss uns zu denken geben. Weltweit entfallen immer noch 22 Prozent der Forschungsausgaben auf die Atomenergie, aber nur 15 Prozent auf erneuerbare Energien und 8 Prozent auf fossile Energien. Auch wir in Deutschland geben angesichts der Verflechtung mit ITER und anderem immer noch jährlich 138 Millionen Euro in diesen Bereich. Man muss sehen, dass die Beteiligung an ITER und weiteren Atomprojekten die Hälfte aller Forschungsausgaben der Europäischen Union ausmacht. ({4}) Das ist etwas, was heutzutage nicht mehr hinnehmbar ist. ({5}) Es spiegelt auch nicht den Anteil an den Investitionen wider, die weltweit getätigt werden. Hier muss eine Wende einsetzen. Hier muss auch eine Überarbeitung des Euratom-Vertrages her, weil das nicht mehr zeitgemäß ist und eine falsche Ausstrahlung auf Investitionen und die Forschung hat. ({6}) Im Übrigen kann auch nicht weiter verharmlost werden, welch dramatisches Bedrohungspotenzial für terroristische Angriffe vom Umgang mit Atomkraftwerken ausgeht. Es muss uns auch zu denken geben, dass die Laufzeit von Atomkraftwerken, weil es unwirtschaftlich ist, in neue zu investieren, immer länger wird und inzwischen schon bei durchschnittlich 35 Jahren liegt. Je älter die Atomkraftwerke werden, desto anfälliger sind sie, und desto größer ist die Bedrohung, die von ihnen ausgeht. Insoweit ist es richtig, dass wir es uns in der Koalition zur Aufgabe gemacht haben, sich in einer der noch mindestens zwei in dieser Legislaturperiode anstehenden Atomgesetznovellen der Frage zu widmen, wie es um den Schutz vor terroristischen Angriffen bestellt ist. Als letzten Punkt – ich habe noch eine halbe Minute – möchte ich auf die Verflechtung hinweisen, die zwischen Atomenergienutzung und Atomwaffen besteht. ({7}) Sie besteht definitiv, und das wird viel zu selten thematisiert. Der Ausgangspunkt ist: Zur Entwicklung der Atombombe wurden während des Zweiten Weltkriegs unter Eisenhower im Zuge des Manhattan-Projekts umgerechnet 50 Milliarden US-Dollar investiert. ({8}) Mehr als 100 000 Menschen waren damals beschäftigt. Das war die Stunde null der Atomenergienutzung; das zu verleugnen, wäre falsch. Das bedeutet auch, dass die damals angelegte Verflechtung uns heute vor die Aufgabe stellt, immer beides zu denken: Ohne Atomenergiebeendigung wird es keine Beendigung der Atomwaffennutzung geben, und ohne Ausstieg aus den Atomwaffen wird es keinen gelingenden Atomenergieausstieg geben. ({9}) Dieser letzte Punkt in dieser Debatte soll verdeutlichen, welch weitreichende Aufgabe das für uns darstellt. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kotting-Uhl, Sie haben heute hier und im Ausschuss etwas richtiger gemacht als in Ihrem Antrag. Sie haben nämlich das Reaktorunglück von Fukushima als Dreifachkatastrophe eingeordnet. Im Ausschuss haben Sie es noch ein bisschen präziser formuliert. Sie haben gesagt, das ist eine Dreifachkatastrophe, von der ein Teil eine Naturkatastrophe ist, aber das Reaktorunglück etwas ist, aus dem wir lernen können. Dieser Teil fehlt in den schriftlichen Ausführungen Ihres Antrages vollständig, und das macht Ihren Antrag, menschlich gesehen, leider nicht so gut, wie er hätte sein können. ({0}) Noch mehr hat mich aber tatsächlich Ihre Argumentation gegenüber den Kernkraftbefürwortern verwundert. Ich kann mich meinem Vorredner von der CDU nur anschließen: Die einzigen Gründe für die Befürwortung von Kernkraft, die Sie sich vorstellen können, sind Machtgier, Naivität und Bestechlichkeit. Wenn man sich vor Augen führt, über wen Sie da sprechen: Da sind Demokratien dabei, befreundete Staaten. Sie reden über Japan und Frankreich. Sie können doch nicht davon ausgehen, dass die einzige Krönung der Intelligenz die Grünenfraktion im Deutschen Bundestag ist! ({1}) Ganz ehrlich: Auch andere Nationen haben kluge Menschen. Das, was Sie hier formulieren, ist schlicht und ergreifend arrogant. Ihr Antrag ist damit keine Handreichung für jene, die Kernenergie befürworten und vielleicht eine Handreichung brauchen, andere Energieerzeugungsformen für besser zu befinden. Er ist ein Faustschlag ins Gesicht derer und dazu geeignet, jeglicher Diskussion, Argumentation und Kommunikation ein Ende zu setzen, und das ist das Letzte, was wir im Bereich der Kernenergie und im Bereich der Sicherheit brauchen. ({2}) Ein Beispiel haben Sie selber genannt, nämlich das Wassereinlassen in den Pazifik. Wir sehen, es gibt technische Lösungen, aber die technischen Lösungen sind aufgrund der Menge des Wassers nicht einfach umzusetzen. Bei diesen technischen Lösungen können wir vielleicht Hilfestellung leisten. Aber würden Sie jemanden um Hilfe, um Kooperation und um Zusammenarbeit bitten, der Sie für naiv, bestechlich und machtgierig hält? ({3}) Wir brauchen ein partnerschaftliches Miteinander, um die Sicherheit auf der Welt zu erhöhen. Der vorliegende Antrag ist mit Sicherheit kein Beitrag dazu. ({4}) Ihr Antrag hat gute und schlechte Seiten, aber die Inhalte treten leider völlig in den Hintergrund; denn der arrogante Ton und die Überheblichkeit, die sich widerspiegelt, stehen leider Gottes im Vordergrund, und deswegen werden die guten Argumente von den richtigen Personen nicht gehört werden. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Am 11. März 2011 ereignete sich eine verheerende Katastrophe in Japan. Ein extremes Erdbeben der Stärke 9 traf die Ostküste. Der dadurch ausgelöste Tsunami, der stärkste seit 400 Jahren, überspülte weite Küstenbereiche. Über 20 000 Menschen verloren ihr Leben, Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Zu dem menschlichen Leid und zu den Zerstörungen kam dann noch die radioaktive Verseuchung durch den Super-GAU des Atomkraftwerkes Fukushima Daiichi. Über 450 000 Menschen mussten evakuiert werden. Bis heute können viele Menschen trotz Entseuchungsmaßnahmen nicht in ihre Heimat zurückkehren. Die Menschen der Region leben seitdem mit der Furcht vor zukünftigen Krebserkrankungen. Schon heute steigt die Zahl der Fehlgeburten und Missbildungen bei Neugeborenen. Millionen Kubikmeter kontaminierter Böden müssen dauerhaft sicher verwahrt werden. Unmengen versuchten Wassers traten in die Umwelt aus oder lagern in Tanks. Bitter ist: Die menschengemachte radioaktive Verseuchung hätte vermieden werden können, wenn der Betreiber die japanischen Vorgaben eingehalten hätte, nach denen das Atomkraftwerk auf Erdbebenstärke 8 ausgelegt sein sollte. Der Betreiber Tepco hatte die Reaktoren nur auf Erdbebenstärke 7 ausgelegt. Historische Aufzeichnungen belegen, dass es in der Region Fukushima bereits Tsunamis von 15 Metern Höhe gegeben hatte. In den Verhandlungen mit den Aufsichtsbehörden war es Tepco gelungen, die Tsunamischutzanlagen nur für 5-Meter-Tsunamis auszulegen. Dieser verheerende Tsunami hatte im Bereich des Atomkraftwerkes eine Höhe von 14 Metern. Ein benachbartes Atomkraftwerk, ausgelegt und gebaut für Erdbebenstärke 8, mit einer Schutzmauer gegen 15-Meter-Tsunamis, überstand Erdbeben und Tsunami. ({0}) Es war das Profitstreben, das zur Katastrophe führte. Umgerechnet 160 Milliarden Euro wird der Rückbau des havarierten Atomkraftwerkes kosten. Über 60 Milliarden Euro an Entschädigungen wurden bereits gezahlt. Hinzu kommen Milliardenkosten für Dekontamination und für das sichere Verwahren des radioaktiv verseuchten Materials und des radioaktiv verseuchten Wassers. Und dies alles wird nicht von Unternehmen, sondern vom Steuerzahler bezahlt. Es wird immer Naturkatastrophen geben, die niemand erwartete oder die stärker ausfallen als berechnet. Aber es gibt eine Möglichkeit, das Leid und die Kosten durch Atomkatastrophen zukünftig zu vermeiden: den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergienutzung und das Beenden des Euratom-Vertrages. ({1}) Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen des 17. Deutschen Bundestages, die im Angesicht von Fukushima, in Erinnerung an Tschernobyl den deutschen Atomausstieg beschlossen haben. Es war ein richtiger Schritt für mehr Sicherheit. Vor menschlichem und technischem Versagen können wir nicht geschützt werden. Unnötige Risiken sollte man vermeiden, wenn man klug ist. Vielen Dank. ({2})

Sarah Ryglewski (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004622

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute gemeinsam diskutierten drei Gesetzentwürfe dienen dem Ziel, den Finanzstandort Deutschland fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu machen. Der Entwurf des Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren dient der Modernisierung des deutschen Wertpapierrechts und des dazugehörigen Aufsichtsrechts. Zentraler Bestandteil ist die Einführung von Wertpapieren in elektronischer Form. Mit der Etablierung digitaler Wertpapiere wird einer der zentralen Bausteine der Blockchain-Strategie der Bundesregierung umgesetzt. Wir schaffen damit einen rechtssicheren Rahmen, in dem technologische Innovationen im Wertpapierbereich zur Anwendung kommen können. ({0}) Wir leisten damit nicht nur einen praxisnahen Beitrag zur Digitalisierung und zum Fortschritt im Finanzsektor, sondern wir bauen damit auch auf der Blockchain-Strategie der Bundesregierung auf. ({1}) Nach aktueller Rechtslage ist es nämlich zwingend so, dass Wertpapiere mit einer Papierurkunde zu verbriefen sind. Künftig wird es möglich sein, diese Papierurkunde durch die Eintragung von Wertpapieren in ein elektronisches Register zu verbriefen. Das mag für manche Nostalgikerinnen und Nostalgiker traurig sein. Viele Deutsche haben ja noch ihre erste Aktie zu Hause im Bilderrahmen; bei vielen ist es die Disney-Aktie. ({2}) – Das ist doch eine schöne Erinnerung, ein guter Einstieg in das Thema Aktien; wir wollen ja auch die Aktienkultur fördern. – Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass wir nicht vergleichbare Diskussionen führen werden wie beim Thema „bargeldloses Zahlen“. ({3}) Ganz wichtig: Der Gesetzentwurf ist technologieoffen gestaltet, weil wir gerade in diesem Bereich sehr dynamische Entwicklungen sehen. Wir sagen: Der Gesetzentwurf muss so offen sein, dass auch neue Technologien bei der elektronischen Verbriefung möglich sind. ({4}) Der zweite Gesetzentwurf, über den wir hier heute reden, dient der Umsetzung der Richtlinie zu gedeckten Schuldverschreibungen. In Deutschland betrifft dies vor allem den Pfandbrief als wichtigste gedeckte Schuldverschreibung. Wir wissen, Wohnimmobilienkredite von der Bank werden vielfach über Pfandbriefe refinanziert. Der Pfandbrief ist für alle vor allem im Wohnungsbau von enormer Bedeutung. Der Pfandbrief ist ein bewährtes Instrument. Seit 250 Jahren existiert er, und wir wollen, dass er weiter besteht. Aber wir wollen dafür sorgen, dass er fit für die Zukunft ist, indem wir ihn auch für internationale Investoren als europäisches Produkt sichtbar machen und hier auch noch einmal attraktiver machen. Dazu führen wir die europaweit einheitliche Bezeichnung „Europäische gedeckte Schuldverschreibung“ ein und lassen sie schützen. Die europäische Harmonisierung orientiert sich dabei ganz wesentlich an dem bewährten deutschen Pfandbriefrecht; denn, wie schon dargestellt, das ist eine gute Tradition, und damit haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht. Zur Umsetzung der Richtlinie sind daher nur punktuelle Anpassungen im Pfandbriefgesetz notwendig. An dem anerkannten hohen Sicherheitsniveau des Pfandbriefs – das möchte ich noch einmal betonen – ändert sich nichts. Der dritte und letzte Gesetzentwurf, den wir hier heute beraten, ist der Entwurf eines Wertpapierinstitutsgesetzes. Auch hier setzen wir europäische Vorgaben in nationales Recht um. Wir gewährleisten damit eine Solvenzaufsicht von Wertpapierinstituten, die an den für ihre Kunden und die Finanzstabilität bestehenden Risiken ausgerichtet ist. Der Gesetzentwurf führt proportional zu Größe und Bedeutung der Wertpapierinstitute im Wesentlichen Anforderungen an das Anfangskapital, die Geschäftsorganisation und bestimmte Anzeigepflichten sowie die interne Unternehmensführung ein. Darüber hinaus werden Aufsichtsbefugnisse geschaffen, insbesondere im Hinblick auf die Solvenz der Wertpapierinstitute sowie die Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen. Der Entwurf legt außerdem Maßstäbe zur Beurteilung der Angemessenheit der internen Kapitalanforderungen fest und enthält Regelungen zur Vergütungspolitik. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. ({5}) – Entschuldigung, hier vorne steht nur „Präsident“. Das müsste vielleicht auch gegendert werden. Verzeihen Sie bitte. ({6}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, mit den heute diskutierten Gesetzentwürfen sorgen wir für mehr Proportionalität und machen wir den Finanzmarkt in Deutschland moderner, wettbewerbsfähiger und transparenter. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen! Wir beraten heute drei Gesetzentwürfe der Bundesregierung und einen beigestellten Antrag der FDP-Bundestagsfraktion. Worum geht es? Es geht erstens um die Einführung elektronischer Wertpapiere, zweitens um die Neuregelung der Aufsicht über Wertpapierhandelsinstitute und drittens um die Umsetzung einer EU-Richtlinie in nationales Recht; es geht um Covered Bonds, also um Pfandbriefe. Zu erstens. Heute ist es so, dass Globalurkunden beim Zentralverwahrer hinterlegt werden und dann Anteile daran im Effektengiroverkehr elektronisch gebucht werden und den Depots gutgeschrieben werden. Das ist ein bewährtes System. Man hat tatsächlich noch eine verbriefte Urkunde. Ich wüsste nicht, was man daran ändern sollte, Frau Staatssekretärin. Wie gesagt, das ist ein bewährtes System. Jetzt sollen elektronische Wertpapiere hinzukommen, die auch elektronisch geboren werden sollen. Es gibt also de facto gar keine Urkunde mehr und auch gar keine Möglichkeit, sich solche Papiere ausliefern zu lassen. Die Bundesregierung will eine zentrale Registerstelle, die FDP möchte dies dezentral organisieren. Gut, darauf braucht man nicht weiter einzugehen, das machen Sie wahrscheinlich gleich selber. Vorrangig sollen Schuldverschreibungen emittiert werden und in einem kleineren Umfang Fonds. Das Ganze wirft Fragen über Fragen auf: Warum soll das passieren? Welchen Zusatznutzen hat man davon? Wann erfolgt die Ausdehnung auf andere Aktien und auf andere Wertpapierarten? Frau Staatssekretärin, da sind Sie uns bisher leider auch im Ausschuss Antworten schuldig geblieben. Und welcher bürokratischen und organisatorischen Zusatzaufwendungen bedarf das Ganze? Außerdem möchten wir warnen – wir als AfD-Bundestagsfraktion haben es hier schon häufiger gesagt –: Der Staat muss nicht alles wissen. – Dies ist die Abschaffung des Tafelgeschäftes durch die Hintertür. Der Anleger hat gar nicht mehr die Möglichkeit, sich seine Papiere ausliefern zu lassen, sie zu Hause aufzubewahren und somit dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Außerdem sind so Tür und Tor für künftige Kapitalschnitte geöffnet: Der deutsche Staat und auch Europa verschulden sich gerade in ungeheurem Maße. Wenn das Ganze nicht mehr bezahlt werden kann, wird es wahrscheinlich zu Kapitalschnitten kommen. Und das ist natürlich viel einfacher, wenn es überhaupt gar keine Urkunden gibt, sondern einfach nur einen Eintrag in einem digitalen Register. ({0}) Zu zweitens: Neuregelung der Aufsicht. Dies betrifft etwa 750 Wertpapierhandelsunternehmen in Deutschland, also Finanzdienstleister, die keine Einlagen hereinnehmen dürfen. Man nutzt hier die Umsetzung einer EU-Richtlinie, um die Aufsicht über diese Unternehmen dem KWG, also dem Kreditwesengesetz, zu entziehen, diese herauszulösen. Das kann man so machen. Dem stehen wir erst einmal emotionslos gegenüber. Wir möchten aber darauf hinweisen, dass hier EU-Richtlinien in Deutschland als gegeben angesehen werden und diese einfach nur noch in nationales Recht umgesetzt werden sollen. Da fragen wir uns: Wie kommen diese Richtlinien zustande? Welche deutschen Interessen sind hier tangiert? Wer vertritt diese deutschen Interessen? Demokratie braucht Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit sehen wir hier nicht immer; dies fehlt uns. Brüssel beschließt intransparent, unbeobachtet und oftmals hinter verschlossenen Türen. ({1}) Zu drittens: zur Änderung des Pfandbriefgesetzes. Deutsche Pfandbriefe sind eine internationale Marke. Man könnte sagen: Oft kopiert, nie erreicht. Insbesondere unter Refinanzierungsgesichtspunkten ist der deutsche Pfandbrief erstklassig, nicht erreicht und vor allen Dingen eine mündelsichere Anlage. ({2}) Jetzt kommt wieder eine EU-Richtlinie, zur Ausweitung des Bezeichnungsschutzes. „Europäisch gedeckte Schuldverschreibung“ soll das Kind jetzt heißen. Deutsche Pfandbriefe dürfen sich aber immerhin „Premium“ nennen. Das ist ein schleichender Prozess: die Opferung deutscher Werte und Unterordnung unter eine vermeintlich europäische Idee. Dem treten wir als AfD-Bundestagsfraktion entschieden entgegen. Wir freuen uns auf die Expertenanhörung im Finanzausschuss. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Steiniger das Wort. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben, wenn wir im Wahlkreis unterwegs sind – nicht nur in Coronazeiten –, durchaus Frust über die Digitalisierung in Deutschland, sei es im Hinblick auf die Digitalisierung der Verwaltung, die Digitalisierung der Bildung oder auch die Digitalisierung des Gesundheitssystems, wenn es montags mal wieder heißt: Die Infektionszahlen können wir Ihnen nicht genau darstellen, weil nicht alle Gesundheitsämter am Wochenende melden. Wir sehen also: Digitalisierung ist ein ganz wichtiger Standortfaktor. Das ist auch ein wichtiger Standortfaktor für den Finanz- und Rechtsstandort in Deutschland. Herr Keuter, nachdem ich mir diese ahnungslose Rede angehört habe, die Sie gerade gehalten haben, die zeigt, dass Sie offensichtlich keine Ahnung von Blockchain, Dezentralitäten und anderem haben, bin ich froh, dass Sie keine Verantwortung in Deutschland haben und dass Sie nie Verantwortung für dieses Land haben werden. ({0}) Wir machen hier einen ersten Schritt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Einführung von elektronischen Wertpapieren. Damit schaffen wir ein neues Stammgesetz. Jetzt könnte der eine oder andere, der genau zuhört, vielleicht denken: Elektronische Wertpapiere, was soll das denn jetzt schon wieder sein? Ein elektronisches Papier, das gibt es doch eigentlich gar nicht. Tatsächlich ist es so: Im Begriff „Wertpapier“ steckt das Wort „Papier“ schon drin. Wenn ich eine Forderung oder ein Recht habe, dann kann ich das nicht anfassen; deswegen wurden die Forderung bzw. das Recht in der Vergangenheit immer als Urkunde verbrieft. Eine Urkunde ist eindeutig, ist klar festgelegt und wird, wie es eben auch dargestellt worden ist, im Zweifel in einem Tresor eingeschlossen. Dann ist das klar. Was jetzt passiert, ist Folgendes: Wir holen die Möglichkeit der Verbriefung als Urkunde, als Papier, nun mit neuen technologischen Möglichkeiten ins 21. Jahrhundert. Stichwort ist die sogenannte Blockchain-Technologie, die es ermöglicht, Transaktionen dezentral auf verschiedenen Rechnern eindeutig verschlüsselt abzusichern. So haben wir genau das, was wir vorher als Papier hatten, jetzt über die Blockchain-Technologie als digitales Medium. Es ist also völlig falsch, Herr Keuter, was Sie gerade zu dieser Technologie gesagt haben. ({1}) Wir haben jetzt also die Möglichkeit, Besitzverhältnisse papierlos und digital rechtssicher abzubilden. Blockchain ist sozusagen der Ersatz für das Papier. Was den Gesetzentwurf betrifft, könnte man natürlich sagen: Das kommt alles vielleicht etwas spät. In der Schweiz beispielsweise gibt es entsprechende Regelungen schon, ebenso in Luxemburg.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Steiniger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Keuter?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Bevor er eine Intervention macht.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben mich gerade angesprochen und mir Unkenntnis vorgeworfen. Ich finde es schon relativ vermessen von einem Juristen, einem Banker erklären zu wollen, wie das Wertpapiergeschäft funktioniert. Das war damals übrigens mein Spezialgebiet, und ich habe das Geschäft von der Pike auf, also von der Effektenkasse her, gelernt. Sie als Jurist müssten doch eigentlich wissen, was die Verbriefung, was eine Urkunde bedeutet. Da kann man nicht sagen: Das liegt plötzlich digital vor. Sie haben mir außerdem gerade Unkenntnis über die Blockchain-Technologie vorgeworfen. Sie haben offensichtlich Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht gelesen, worin explizit gesagt wird, dass Sie sich nicht auf eine Technologie festlegen wollen. Deshalb habe ich in meiner Rede dieses ganze Technologiethema ausgespart. Sie haben offensichtlich Ihre Rede geschrieben, ohne zu wissen, was ich sagen werde. Sie wussten, dass Sie auf mich erwidern müssen; dann hätten Sie aber bitte dieses Thema aussparen können. Das Thema Blockchain habe ich überhaupt gar nicht erwähnt. Wie kommen Sie darauf? Vielleicht nehmen Sie, wenn Sie schon die Technologie ansprechen, auch einmal Bezug auf Ihren eigenen Gesetzentwurf, wo es nämlich ganz explizit darum geht, dass keine Technologiefestlegung erfolgen soll. Vielen Dank. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Keuter, herzlichen Dank für Ihre Frage, die mir die Gelegenheit gibt, Sie zuerst darauf hinzuweisen, dass Sie das nächste Mal besser googeln müssen. Ich bin kein Jurist, sondern Mathematiker, und kenne deshalb die kryptografischen Verfahren, die hinter der Distributed-Ledger-Technologie – das ist der Oberbegriff von Blockchain-Technologien – stecken, sehr genau. Was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, hat offenbart, dass Sie überhaupt nicht verstehen, welche Chancen diese Technologie bietet, nämlich dass wir das, was wir früher in Papierform gemacht haben, heute genauso sicher, fälschungssicher und eindeutig im digitalen Bereich abbilden können. Herzlichen Dank für die Offenbarung dieser Ahnungslosigkeit! ({0}) Ich war gerade dabei, auszuführen: Es wäre natürlich schöner gewesen, wenn wir diesen Gesetzentwurf schon etwas früher gehabt hätten. Wir als Unionsfraktion haben schon im Jahr 2018 ein Eckpunktepapier gemacht. Ich sehe Thomas Heilmann, der damals als Kollege unserer Fraktion maßgeblich daran mitgearbeitet hat, ebenso Heribert Hirte und andere. Im März 2019 gab es dann das Eckpunktepapier von BMF und BMJV. Es ist dringend notwendig, dass jetzt endlich etwas passiert. Ich sage auch: Das ist jetzt ein erster Schritt in dieser Legislatur, und es ist im Grunde genommen ein in Text gegossener Arbeitsauftrag für die nächsten Jahre. Wenn wir uns mit dem Gesetzentwurf beschäftigen, werden wir noch über ein paar Punkte sprechen müssen, zum Beispiel über die Frage, wie wir mit Fondsanteilen umgehen. Derzeit ist die dezentrale Abbildung nur für Schuldverschreibungen möglich. Wir können uns durchaus vorstellen, hier auch Fondsanteile zu übernehmen. Wir müssen über die Fragen von Abtretung und Übertragung sprechen. Ich finde auch, eine Evaluation eines solchen Gesetzes erst nach fünf Jahren ist viel zu spät. Wenn wir schon sagen, dass wir hier einen ersten Schritt machen, dann sollten wir auch relativ schnell in eine Evaluation gehen. Alles in allem: Es ist ein gutes Gesetz, das zwar ein bisschen langweilig daherkommt, aber es macht etwas für die Attraktivität unseres Finanzstandortes. Wir wollen, dass die Unternehmen in Deutschland bleiben. Wir wollen, dass die Blockchain-Start-ups in Deutschland gegründet werden. Und wir wollen auch, dass die Infrastruktur in Deutschland weiterentwickelt wird. Das hier ist ein guter erster Schritt in Gesetzesform. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Frank Schäffler. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das ist jetzt der große Wurf dieser Koalition, was die Blockchain-Technologie betrifft. ({0}) Da lachen, ehrlich gesagt, die Hühner. Das hat mit Blockchain eigentlich nichts zu tun. ({1}) Das ist ein Blockchain-Verhinderungsgesetz, was Sie hier vorlegen. Denn Blockchain hat per Definition keine dritte Aufsicht, keine dezentrale Aufsicht, die von irgendeinem Unternehmen gesteuert wird oder die vom Staat beaufsichtigt wird. Bei der Blockchain wollen sich die Marktteilnehmer vielmehr gegenseitig kontrollieren. Das ist der Grundgedanke. Nachdem Sie hier vor zwei Jahren eine Blockchain-Strategie angekündigt haben und dies das Ergebnis dieser Blockchain-Strategie ist, ist das wirklich ziemlich lächerlich und ziemlich bescheiden, was Sie hier vorlegen. ({2}) Was Sie hier machen, ist im Grunde das, was in Europa vielfach schon längst existiert: In Luxemburg und in Frankreich gibt es bereits elektronische Wertpapiere. Sie beziehen das auf eine ganz kleine Nische, indem Sie sich nur auf die Schuldverschreibungen und auf Teile von Fonds konzentrieren, und damit glauben Sie, Sie könnten hier den großen Standortvorteil ausspielen. Das wird aus meiner Sicht nicht gelingen. Im Gegenteil: Sie werden dafür sorgen, dass die heutigen Monopolisten im Markt, Clearstream, ihr Monopol behalten werden; denn das, was Sie hier anlegen, führt dazu, dass das einzige Unternehmen, das hiervon profitiert, Clearstream selbst ist, und deshalb ist das eben das Gegenteil dessen, was Sie uns suggeriert haben. Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen, weil Sie ja noch andere Gesetzgebungsvorhaben vorgelegt haben und das ja eigentlich der letzte große Wurf in dieser Legislaturperiode sein soll, um die Wertpapierkultur in Deutschland tatsächlich voranzubringen. Dieser Wurf ist nun wirklich lächerlich; denn Sie setzen letztendlich nur EU-Richtlinien um, fast schon eins zu eins, und Sie machen eigentlich nichts, um die Wertpapierkultur in Deutschland wirklich voranzubringen. ({3}) Wo ist denn die Reform der Riester-Rente? Wo ist denn die Reform der Aktienkultur in Deutschland, die der Besteuerung? Stattdessen machen Sie jetzt eine Finanztransaktionsteuer. Das ist eigentlich das, woran Sie weiter arbeiten. Aber tatsächlich machen Sie eigentlich für die Aktienkultur, für die Sparkultur, für all das, was jetzt in der Null- und Negativzinsperiode eigentlich notwendig wäre, nichts. Und das muss man Ihnen ins Stammbuch schreiben. Damit versündigen Sie sich im Kern an Millionen von Sparern in diesem Land. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei den vorliegenden Gesetzentwürfen geht es um die Möglichkeit, Wertpapiere nicht auf Papier, sondern in elektronischer Form auszugeben. Weiterhin sollen Vergütungen, die Institute erhalten, die mit Wertpapieren sowie Pfandbriefen und ähnlichen Papieren handeln, EU-weit einheitlich geregelt werden. Gegen eine Vereinfachung von Verfahren durch Digitalisierung ist nichts einzuwenden; sie ist zeitgemäß. Sie muss allerdings sicher sein und darf keine neuen Schlupflöcher zur Umgehung von bestehenden Regulierungen öffnen. Dass dies bei den vorliegenden Gesetzen vollständig gegeben ist, darauf werden wir als Linke in den kommenden Beratungen ein besonderes Augenmerk legen. ({0}) Und weiter: Wenn durch eine Finanzinnovation, die auf der Blockchain- oder vielleicht auch auf einer weniger energieintensiven Distributed-Ledger-Technologie beruht, Banken als Zwischenhändler oder Abwicklungsstellen von Finanzgeschäften verzichtbar werden, so darf dies nicht zu einem Verlust an der notwendigen öffentlichen Kontrolle führen. ({1}) Der Banken- und Wertpapierhandelssektor unterliegt – bisher jedenfalls – einer wenngleich noch zu schwachen Regulierung. Wenn Umsätze von diesen bisher kontrollierten Akteuren weggehen, muss die Aufsicht zumindest auf gleichem Niveau gewahrt bleiben. Elektronischer Handel erlaubt auch eine schnellere elektronische Aufsicht. Es muss also sichergestellt werden, dass diese neuen Möglichkeiten genutzt werden, um Geldwäsche, Terrorfinanzierung oder Steuerhinterziehung in Zukunft besser als heute im Auge behalten zu können. ({2}) Ob die Bundesregierung bei der Gewährleistung der staatlichen Aufsicht die nötige Entschlossenheit an den Tag legt, wage ich zu bezweifeln. Mit dem Gesetz über die Beaufsichtigung von Wertpapierinstituten werden Aufsichtsregeln, die bisher im Kreditwesengesetz klar geregelt sind, aus diesem herausgelöst. Damit einher geht eher eine Aufweichung der Regulierung und der Reichweite staatlicher Finanzaufsicht. Das lehnen wir ab. ({3}) Und insgesamt ist es ja nicht gerade so, dass die Finanzmärkte an zu geringer Geschwindigkeit, zu niedrigen Umsätzen oder zu wenigen Finanzprodukten leiden. ({4}) Das Gegenteil ist der Fall: ({5}) Zu viele rein spekulative Produkte ohne echten Wert für die wirtschaftliche Entwicklung werden gehandelt und bergen oft ein großes Risiko. Eine Finanztransaktionsteuer, die alle Finanzgeschäfte mit einer geringen Steuer belegt, wäre neben einer stringenten Regulierung ein Mittel, diese Risiken gering zu halten. Um Finanzumsätze zu entschleunigen, die Orientierung auf die Realwirtschaft zu stärken und Spekulationen zu verteuern, ist sie weiterhin dringend nötig. ({6}) Es wäre deshalb gut, wenn die deutsche Regierung die portugiesische Ratspräsidentschaft bei ihrer neuen Initiative in diesem Bereich unterstützen würde. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Gesetze der Finanzmarktregulierung in drei Minuten: Es geht zweimal um die Umsetzung von europäischem Recht, und es geht einmal um ein neues deutsches Gesetz. Ich kann schon vorab sagen: Wir begrüßen grundsätzlich, dass diese Gesetze jetzt vorliegen, weil sie eine sinnvolle Antwort auf die Veränderungen auf dem Finanzmarkt sind und tatsächlich dafür sorgen, dass unsere Finanzmarktregulierung zeitgemäß bleibt. Von daher: Gut, dass diese Gesetze heute vorliegen. ({0}) Bei einem der Gesetze zur Umsetzung von der europäischen auf die deutsche Ebene geht es um die Aufsicht über Wertpapierfirmen. Da gibt es jetzt neue europäische Regeln statt eines nationalen Flickenteppichs, und das ist auch wirklich wichtig, Herr Keuter; denn die Bedeutung von solchen Wertpapierfirmen wie BlackRock & Co ist eben seit 2010 deutlich gestiegen. Deswegen brauchen wir da einen entsprechenden europäischen Rahmen. ({1}) Außerdem begrüßen wir sehr, dass diese größeren Wertpapierfirmen jetzt ökologische, soziale und Governance-Risiken offenlegen müssen – ein klarer grüner Erfolg, den wir im Europäischen Parlament hereinverhandelt haben. Auch deswegen begrüßen wir dieses Gesetz. ({2}) Im zweiten EU-Umsetzungsgesetz geht es tatsächlich um – ich benutze den englischen Ausdruck – Covered Bonds; in Deutschland kennen wir solche Anleihen als Pfandbriefe. Das Gute an diesem Gesetz ist, dass sich hohe deutsche Standards auf der europäischen Ebene weitgehend durchgesetzt haben. Auch von daher begrüßen wir dieses Gesetz in der deutschen Umsetzung. Wir werden es in der Anhörung wahrscheinlich noch genauer anschauen. Der deutsche Pfandbrief ist ja sehr sicher. Der ist ja sogar sicher, wenn die Pfandbriefbank pleitegeht. Allerdings wollen wir uns im Rahmen der Anhörung noch einmal genauer anschauen, wie die Pfandbriefbanken in Deutschland insgesamt aufgestellt sind; wir erinnern uns, dass es zumindest mal ein Problem mit der HRE gegeben hat. Auch das ist, glaube ich, einen Blick wert. ({3}) Beim dritten Gesetz ist noch nicht so viel Lob angebracht; denn das Beste, was man über dieses Gesetz sagen kann, ist, dass es vorliegt, mit anderthalb Jahren Verspätung – das ist ja schon bei den verschiedenen Akteuren hier jetzt deutlich geworden –, und dass man jetzt mit dem Thema E-Wertpapiere anfängt. Aber mit diesem Gesetz schaffen wir es maximal, an einige europäische Länder heranzureichen. Wir sind weit davon entfernt, in irgendeiner Art und Weise Vorreiter in diesem Bereich zu sein. Sie fangen jetzt mit einem Bereich an – das ist auch schon genannt worden –: Schuldverschreibungen und Fondsanteilsscheine. Die Frage ist: Warum soll das noch nicht für Aktien gelten? Beispielsweise führen wir jetzt Registerführer ein. Das ist erst mal grundsätzlich eine gute Sache. Da wundert man sich aber, warum jetzt das Eigenkapital dafür auf 730 000 Euro präzisiert worden ist. Da wollen wir auch noch einmal wissen: Was hat das für Konsequenzen für die Markteinführung? Es gibt weitere Fragen. Was ist zum Beispiel mit Kryptoverwahrern? All diese Fragen sind nicht geklärt. Wir werden in der Anhörung sicherlich einen ersten weiteren Schritt machen. Aber da ist völlig klar: Das kann in diesem Bereich nur der Anfang sein. ({4}) Von daher: Lassen Sie uns unsere Arbeit tun, diese Gesetze hier vernünftig beraten und dann auch verabschieden. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johannes Schraps für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung drei Gesetzentwürfe der Bundesregierung; das ist schon genannt worden. Und aus der Debatte ist, glaube ich, auch schon deutlich geworden, dass das in einigen Bereichen ehrlicherweise sehr technisch ist. Wir setzen damit maßgebliche Teile der europäischen Finanzmarktrichtlinien in nationales Recht um. Was aber alle drei Gesetzentwürfe eint – das hat Staatssekretärin Ryglewski auch gerade schon deutlich gemacht –, ist, dass sie alle drei einen wichtigen Beitrag zu einem modernen, wettbewerbsfähigeren und transparenteren Finanzmarkt in Deutschland leisten, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Alle drei sind genannt worden. Mit dem Wertpapierinstitutsgesetz wollen wir ein spezifisches Aufsichtssystem für Wertpapierfirmen etablieren. Das stärkt den Verbraucherschutz und ebenso die Finanzstabilität. Beim CBD-Umsetzungsgesetz mögen manche beim Blick auf die Tagesordnung vielleicht auch an Cannabis oder CBD-Öle gedacht haben, und bei der einen oder anderen Wortmeldung hier vorne mag man auch daran denken, dass davon Gebrauch gemacht wurde. Darum geht es bei dem Gesetz aber nicht – jetzt habe ich wahrscheinlich die Aufmerksamkeit –; es dient nämlich vielmehr der Umsetzung der europäischen Covered-Bonds-Richtlinie. Diese Richtlinie sieht eine Mindestharmonisierung für sogenannte gedeckte Schuldverschreibungen vor; das ist genannt worden. Viele dieser Produkte, wie bei uns eben der Pfandbrief, verfügen über eine sehr lange Tradition; aber sie sind in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten eben auch sehr unterschiedlich ausgestaltet. Insofern geht es dabei um Schuldverschreibungen, die durch Deckungswerte, wie zum Beispiel Grundpfandrechte oder eben auch öffentliche Anleihen, besichert sind. Insbesondere für den Immobilienmarkt erfüllen diese eine ganz wichtige Finanzierungsfunktion. Um einen funktionierenden Markt auf europäischer Ebene zu gewährleisten, ist es ganz wichtig, dass wir nun europaweit diese einheitliche Bezeichnung „Europäische gedeckte Schuldverschreibung“ einführen. Schließlich wird mit dem Gesetz zur Einführung elektronischer Wertpapiere das deutsche Recht für elektronische Wertpapiere geöffnet. Das ist nicht nur ein zentraler Baustein dieses Gesetzespakets – das ist deutlich geworden –, sondern das ist eben auch Teil der Blockchain-Strategie der Bundesregierung. Die derzeit zwingende urkundliche Verkörperung von Wertpapieren in Papierform wird um die Möglichkeit elektronischer Wertpapiere erweitert. Die Eintragung dieser elektronischen Wertpapiere kann auf zwei Arten erfolgen, und zwar entweder in einem zentralen Register oder in dezentralen Kryptowertpapierregistern, Kollege Schäffler, die auf dieser Blockchain-Strategie basieren. Damit erweitert der Gesetzentwurf ganz klar das innovative Potenzial dieser Technologie für unseren deutschen Finanzplatz. ({1}) Wenn sogar die „FAZ“, nachdem im letzten Jahr der Referentenentwurf veröffentlicht wurde, schreibt, dass kaum ein Gesetzentwurf im letzten Jahr so positiv von den Stakeholdern kommentiert wurde, dann muss auch was dran sein und dann kann der so falsch nicht sein. ({2}) Olaf Scholz hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass möglicherweise manchen aus nostalgischen Gründen die Papierurkunde weiterhin lieb und teuer sein wird, dass aber der elektronischen Variante die Zukunft gehören wird. Ich denke, da hat er auch vollkommen recht. ({3}) Wir haben hier in der Debatte gemerkt, dass an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch Diskussionsbedarf besteht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schraps.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin. – In den öffentlichen Anhörungen wird sicherlich noch genug Zeit und Raum für Diskussionen sein. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss, und da werden wir sicherlich auch noch mal darüber sprechen können, Kollege Schäffler, dass diejenigen, die hier am lautesten schreien, dass nicht über die EU-Regulierung hinausgegangen wird, immer die sind, die auch im Ausschuss am lautesten schreien, wenn über EU-Regulierungen hinausgegangen wird.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege, das müssen Sie jetzt wirklich in die Ausschussberatungen verlagern.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Maske bitte aufsetzen! – Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sepp Müller das Wort.

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der jetzigen Debatte unterhalten wir uns über die Umsetzung von zwei EU-Richtlinien sowie über den Gesetzentwurf zur Einführung von elektronischen Wertpapieren. Mein Kollege Johannes Steiniger hat schon einiges zu den elektronischen Wertpapieren gesagt. Lassen Sie mich hier also die Möglichkeit nutzen, um auf die Umsetzung der beiden Richtlinien zu sprechen zu kommen. Es ist wichtig, dass wir europäische Richtlinien eins zu eins umsetzen, weil das Ziel ist, dass wir eine Kapitalmarktunion schaffen. Was heißt das? Es darf nicht sein, dass innerhalb Europas unterschiedliche Aufsichtsregularien in Bezug auf Wertpapierinstitute gelten, sondern wir brauchen ein gleiches Spielfeld, das sogenannte Level Playing Field. Das gehen wir mit der Umsetzung der beiden Richtlinien – sowohl bei den Pfandbriefen als auch bei den Wertpapierinstituten – an. Was für mich in der jetzigen Debatte sehr bezeichnend war, ist, dass von rechts außen, wo man ja immer die deutschen Interessen hochhält, gerade auf das Pfandbriefgesetz geschimpft wurde. Wir werden mit dem Pfandbriefgesetz den guten alten deutschen Pfandbrief zu einer Premiummarke machen. Dass gerade Sie das kritisieren, zeigt doch, wie zwiegespalten Sie in Bezug auf das Verhältnis EU–Deutschland sind. Wir sind diejenigen, die sagen: „Was Europa nützt, ist gut für Deutschland“, und deswegen setzen wir uns für die Umsetzung der EU-Richtlinie ein. ({0}) Interessant war, Herr Cezanne von den Linken, dass Sie hinsichtlich der Wertpapieraufsicht davon sprachen, dass es schwieriger wird, die Wertpapierinstitute zu beaufsichtigen. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Mit der Herausnahme aus dem Kreditwesengesetz werden wir die Möglichkeit schaffen – Kollegin Paus von den Grünen hat das bereits gesagt –, internationale Wertpapierfirmen viel zielgenauer zu beaufsichtigen. Wir werden mit diesem Gesetz – auch hier: danke für die Eins-zu-eins-Umsetzung – der BaFin ein Ziehungsrecht geben, sodass sie die Möglichkeit hat, große Unternehmen explizit zu beaufsichtigen. Also, genau das Gegenteil ist der Fall. Mit diesem Gesetz werden wir zielgenauer Wertpapierunternehmen beaufsichtigen können. ({1}) Herr Schäffler, Sie haben ja den Vogel abgeschossen, indem Sie gesagt haben, wir als Große Koalition hätten für die Mitarbeiter und die Aktionäre nichts getan. ({2}) Ich möchte an den geschätzten mittlerweile stellvertretenden Parteivorsitzenden unseres Koalitionspartners Kevin Kühnert erinnern, der 2019 gesagt hat, wir müssten Unternehmen kollektivieren, unter anderem BMW. Zu was hat das geführt? 2020 hatten wir in Deutschland über 600 000 zusätzliche Aktionäre, also mehr Menschen, die sich am Produktivkapital beteiligen. Das müsste die SPD freuen. Vor allem uns freut das; denn mittlerweile gibt es in Deutschland mehr Menschen, die mit Aktien ausgestattet sind, als Menschen, die SPD wählen, und das ist ein gutes Zeichen. In dem Sinne freue ich mich auf die weitere Debatte. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurde ja schon mehrfach angesprochen: Wir beraten heute drei Gesetzgebungsinitiativen. Ich konzentriere mich auf das Thema „digitale Wertpapiere“ und möchte zum Abschluss der Debatte nur ganz kurz zwei wichtige Punkte ansprechen, warum wir das brauchen: Der erste Punkt. Deutschland nimmt an der Digitalisierung teil – insbesondere im Bereich der Finanzdienstleistungen. Die Entwicklungen sind hier sehr rasant. Der zweite Punkt. Es geht um den Finanzstandort Deutschland im europäischen Kontext. Die Digitalisierung schreitet voran. „Blockchain“ ist ein Schlagwort, „Kryptowährung“ ist ein Schlagwort. Das kann man nur begleiten, indem man hier rechtliche Vorgaben dafür macht, dass eine solche Entwicklung in Deutschland stattfinden kann. Eine andere Fraktion hier im Haus träumt regelmäßig davon, Zahlungen per Kreditkarte und das Internetbanking zu verbieten. Das würde nur einen Abstieg Deutschlands bedeuten. Deutschland würde in diesem Bereich nicht mehr stattfinden. ({0}) Digitale Wertpapiere sind hier jetzt ein erster Schritt, und ich muss mit Blick auf das BMF auch sagen: Ich hätte mir einen mutigeren und schnelleren Entwurf gewünscht. ({1}) Nichtsdestotrotz müssen wir hier jetzt entsprechend anfangen, daran zu arbeiten. Wenn wir schon beim Thema Verbriefung sind: Die deutschen Sachenrechtler werden hier natürlich Bauchweh haben und ihre entsprechenden Probleme herantragen, warum bestimmte Sachen nicht gehen. Wichtig ist ein Level Playing Field zwischen Marktteilnehmern, die bereits in diesem Bereich tätig sind, und Start-ups, um ihnen die Teilnahme zu ermöglichen. Dazu gehören natürlich auch Technologieneutralität und ebenfalls, dass entsprechende Zugänge zum Markt vorhanden sind. Daneben ist genauso wichtig, dass wir auf den Standort Deutschland schauen. Wir haben im Februar zum ersten Mal nach dem Brexit erlebt, dass der größte Handel innerhalb Europas – nicht innerhalb der Europäischen Union – nicht mehr in London, sondern in Amsterdam stattgefunden hat. Wenn man sich anschaut, welche Digitalisierungsmaßnahmen in Amsterdam, in der Schweiz und in Luxemburg erfolgt sind, dann weiß man, dass es überfällig ist, dass wir entsprechend Gas geben, um den Standort Deutschland gerade nach der Neuverteilung des Marktes nach dem Brexit attraktiv zu halten. ({2}) Darum ist das, Frau Staatssekretärin, ein erster Schritt, ein wichtiger Schritt, aber es muss weitergehen, und ich würde mir auch wünschen, dass wir die Initiative ergreifen, hier einen europäischen Rahmen zu setzen. Ein europäischer Rahmen ist für einen europäischen Kapitalmarkt notwendig. Sonst haben wir wieder das Problem der Fragmentierung der Märkte, und am Schluss müssen wir das wieder zusammenführen. Ein europäischer Ansatz ist notwendig, und ich würde mir auch wünschen, dass der deutsche Finanzminister dieses auf europäischer Ebene entsprechend zur Sprache bringt. Besten Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Für das Leben – Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung sichern, reproduktive Gerechtigkeit ermöglichen“, so der Titel des Antrags, den wir einbringen. Wir wollen viel damit, zugegeben. Aber es ist auch höchste Zeit. Körperliche und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensplanung. ({0}) Deshalb muss eine Entscheidung gegen eine Schwangerschaft frei von Zwängen möglich sein. Gleichzeitig ist unser politisches Ziel, dass Menschen sich ebenfalls frei für eine Schwangerschaft und für ein Leben mit Kindern entscheiden können. ({1}) Leider sind wir hierzulande von diesem Zustand „reproduktiver Gerechtigkeit“ noch weit entfernt. Das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch gibt es nicht. ({2}) Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht über diese medizinische Leistung informieren und sollen mit dem § 219a StGB eingeschüchtert werden. Geburtsstationen schließen, der Hebammenberuf ist immer noch nicht ausreichend gesichert, und sichere Verhütung ist für viele eine Frage des Geldes. Wir haben unseren Antrag vorab mit Juristinnen und Juristen, mit Ärztinnen und Ärzten, Akteurinnen und Akteuren aus Bündnissen und Beratungsstellen diskutiert und ihre wichtigen Impulse aufgenommen. Wir alle sind uns einig: Es steht schlecht um die Versorgungslage, und es muss sich fundamental etwas ändern. ({3}) Wenn wir also „Für das Leben“ sagen, dann meinen wir damit: Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen gut und sicher leben können. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Kinder willkommen sind, ganz unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Eigenschaften; willkommen in einer Gesellschaft, in der dafür gesorgt wird, dass sie nicht in Armut und frei von Angst leben können. Das ist genau der Unterschied zu denen, die zwar laut für das Leben krakeelen, denen es aber komplett egal ist, dass hierzulande 2,8 Millionen Kinder in Armut leben, denen es komplett egal ist, wenn Kinder in europäischen Lagern ihren Lebensmut verlieren und unter unwürdigen Bedingungen leben müssen, denen es egal ist, dass immer noch Zigtausende Frauen bei illegalen Abbrüchen ums Leben kommen. Diesen selbsternannten Lebensschützern geht es nämlich vor allem um eins: um den Zugriff auf Frauen und die Kontrolle über deren Körper. – Ich finde, es ist an der Zeit, das hier auch so deutlich auszusprechen. ({4}) Damit Frauen sich für oder gegen Kinder entscheiden können, braucht es den Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln, und zwar unabhängig vom Geldbeutel, und das Recht, eine Schwangerschaft abbrechen zu können. Und natürlich darf niemand gegen seinen Willen zwangssterilisiert werden. ({5}) Die Wahlfreiheit für ein Leben mit oder ohne Kinder ist aber auch eine Frage der sozialen Absicherung und weiterer Rahmenbedingungen. Solange prekäre Arbeitsverhältnisse, fehlende öffentliche Infrastruktur, beengte Wohnverhältnisse und auch zeitliche Unvereinbarkeiten die Entscheidung für Kinder zur Abwägungsfrage machen, ist keine Wahlfreiheit gegeben. ({6}) Die Linke will reproduktive Gerechtigkeit für alle. Es geht uns also um weit mehr als um die Durchsetzung individueller Interessen. Wir wollen, dass die reproduktive Gerechtigkeit als politisches Ziel verankert wird und politisches Handeln sich damit an dem folgenden Dreiklang orientiert: erstens dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aller Menschen, zweitens dem Recht, dass jede Person selbst entscheiden kann, ob sie ein Kind bekommt oder nicht, und drittens dem Recht auf ein gutes Leben mit Kindern, also auf ein materiell abgesichertes Leben in Würde und Sicherheit mit Kindern, die der Gesellschaft willkommen sind. ({7}) Ich freue mich sehr auf sicherlich sehr anregende und auch turbulente Beratungen. Vielen Dank. ({8})

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linkspartei ruft heute mit ihrem Antrag wieder das Them1a Schwangerschaftsabbrüche auf den Plan, nicht etwa das, worüber Sie hier gerade philosophiert haben. Ihre Politik ist auch in diesem Bereich von skandalisierenden und undifferenzierten Anträgen geprägt. ({0}) Im Februar 2018 brachte Die Linke einen Gesetzentwurf ein, mit dem das Werbeverbot für Abtreibungen aufgehoben werden sollte und in dem die Streichung von § 219a Strafgesetzbuch gefordert wurde. ({1}) – Ich habe Ihnen eben zugehört. Tun Sie das doch auch einfach! Dann folgte im April 2020 ein Antrag der Linkspartei, der Schwangerschaftskonfliktberatungen während der Coronapandemie gesetzlich aussetzen und damit überflüssig machen wollte. Die Linke forderte dann die vollständige Streichung des § 218 – § 218a, b und c – und die Streichung von § 219 – § 219a und b – Strafgesetzbuch. ({2}) Für die CDU/CSU steht aber ganz klar fest: Ungeborenes Leben hat wie alle Menschen einen Anspruch auf Schutz. Das Recht auf Leben steht für uns zu keiner Zeit zur Disposition. ({3}) Deshalb haben wir auch die Abschaffung des § 219a Strafgesetzbuch im Koalitionsvertrag mit der SPD nicht vereinbart. Das war und ist mit uns auch in Zukunft nicht zu machen. ({4}) Ungeborenes Leben, ungeborene Kinder sind durch das Grundgesetz – direkt zu Beginn – in Artikel 1 und 2 geschützt. Das Grundgesetz untersagt dem Staat erstens unmittelbare Eingriffe in das menschliche Leben. Zweitens wird der Staat dazu verpflichtet, sich schützend und fördernd vor jedes menschliche Leben zu stellen. Jeder ungeborene Mensch ist bereits Träger von Grundrechten. Eine Verletzung seiner Menschenwürde aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz kann verfassungsrechtlich mit uns nicht gemacht werden. ({5}) Die Linkspartei stellt sich mit ihrem heutigen Antrag wieder einmal gegen unsere Verfassungsordnung und kündigt die Fristenlösung auf. Sie fordert einen völlig deregulierten Abtreibungsmarkt, diesmal unter dem Etikett „körperliche und sexuelle Selbstbestimmung“. Selbstbestimmung ist kein bloßes Recht zur Durchsetzung von Eigeninteressen, sondern Selbstbestimmung findet ihre Grenzen dort, wo das vermeintliche Recht des einen die Würde des anderen verletzt. Die Achtung der Menschenwürde des anderen gehört zu den grundlegenden Werten unseres Menschenbildes und ganz grundlegend zu unserer liberalen Rechtskultur. Die Linkspartei aber will Schwangerschaftsabbrüche verharmlosend wie jede andere medizinische Leistung behandeln und anbieten. Dabei verkennen Sie vollkommen, was hinter einer so weitreichenden und tiefgreifenden Entscheidung steht. Sie verkennen die Sorgen und Nöte der Frauen und den Druck, den mitunter und nicht selten Eltern oder Partner auf die Frauen ausüben. Gerade in dieser schwierigen familiären und persönlichen Ausnahmesituation hilft die Schwangerschaftskonfliktberatung. Hier werden schwangere Frauen in ihren persönlichen Entscheidungsfindungen unterstützt – ohne Druck in die eine oder andere Richtung. Alle Fragen, ob zu Gesundheit, Arbeitssituation, Familie, oder auch persönlichen Problemen können hier besprochen und erklärt werden. So können Frauen ihre persönlichen Entscheidungen überlegt für sich und ihr Kind treffen. ({6}) In Deutschland gibt es offiziell derzeit jährlich etwa 100 000 Schwangerschaftsabbrüche. Im Jahr 2001 gab es noch einen Höchststand von 135 000 Abbrüchen. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche hat sich damit in den letzten 20 Jahren kontinuierlich um rund 30 000 reduziert. Besonders stark ist der Rückgang bei den jüngeren Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Es ist auch so, dass die Kosten für Verhütungsmittel bis zum vollendeten 22. Lebensjahr der Frauen von der Kasse übernommen werden. Hartz-IV-Empfänger müssen Verhütungsmittel, wenn sie sie verordnet bekommen, nicht bezahlen. 40 Prozent der Frauen, die abtreiben, sind verheiratet, und über die Hälfte aller Frauen, die abtreiben, haben schon ein Kind. Wir haben in dieser Legislatur die familienpolitischen Leistungen für Familien und Alleinerziehende stark verbessert. Wir sollten weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, dass gesellschaftliche und finanzielle Nachteile keine Gründe für eine Abtreibung darstellen. ({7}) Nach langen Diskussionen in der Gesellschaft gab es den Kompromiss: Ein Schwangerschaftsabbruch ist nicht strafbar, wenn die betroffene Frau dem § 218a StGB folgt und die Beratung gemäß § 219 annimmt. Es ist deshalb richtig, dass der Beratungsnachweis nach § 219 Absatz 2 eine zwingende Voraussetzung für den straffreien Schwangerschaftsabbruch darstellt. ({8}) Ich möchte Ihnen deshalb zum Abschluss noch den Wortlaut des § 219 Absatz 1 StGB in Erinnerung rufen, den Sie ohne Not abschaffen wollen: Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Meine Damen und Herren, damit ist zusammengefasst, was uns in dieser Frage leitet: Der Schwangerschaftsabbruch darf nicht zu einem leichtfertigen Entschluss werden, der dann als ein zusätzliches Instrument der Schwangerschaftsverhütung gesehen werden kann. Unsere Gesetze orientieren sich an der Menschenwürde, dem Schutz des ungeborenen Lebens oder eben auch des ungeborenen Kindes und der Selbstbestimmung der Frau und nicht an dem Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit durch radikal lebensfeindliche Forderungen, die auch noch das Grundgesetz infrage stellen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke führt nicht nur einen Kampf gegen den Klassenfeind und nach den Vorstandsneuwahlen jetzt ganz offiziell auch gegen die FdGO und unser Wirtschaftssystem; sie kämpft mit diesem Antrag nun auch noch gegen die Realität, hier insbesondere gegen die Biologie und gegen die Menschenwürde. In Ihrem Antrag reden Sie doch tatsächlich über – Zitat – „Menschen, die schwanger werden können, in der überwiegenden Mehrzahl Frauen“ ({0}) oder über – Zitat – „gebärfähige Körper, in der überwiegenden Mehrzahl Frauenkörper“. ({1}) Sie bezeichnen tatsächlich werdende Mütter als „gebärfähige Körper“. Sie sollten mal zum Bundestagspsychologen gehen. ({2}) Wer so was schreibt, hat schwerwiegende Probleme und braucht Hilfe. ({3}) Wie müssen Sie Ihre eigenen Mütter hassen, um sie so zu entmenschlichen! Aber wahrscheinlich ist das auch schon das Ergebnis einer bindungslosen Erziehung, ({4}) die Sie jetzt für das ganze Land einführen wollen. Sie wollen das Leitbild der heterosexuellen Elternschaft abschaffen. Vater und Mutter existieren für Sie nicht mehr, sondern nur noch – Zitat – „Erwachsene, die … Verantwortung übernehmen … jenseits der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Norm“. ({5}) Die Eltern sollen besser nicht die biologischen Eltern sein, weil die natürlich – Zitat – „immer mehr an Bedeutung“ verlieren. Das müssen ausdrücklich auch nicht zwei Personen sein, wie Sie schreiben; das kann irgendjemand sein, wenn er denn einen Kühlschrank hat. Das können ganz viele Personen oder auch wechselnde Personen sein. Was Sie schreiben, ist einfach nur irre. Anders ist es nicht zu bezeichnen. ({6}) Eines in Ihrem Antrag ist aber konsequent – und konsequent richtig –, nämlich dass Sie das Wort „Kindeswohl“ nicht ein einziges Mal benutzen. Das Kindeswohl, das Bedürfnis des Kindes nach Vater und Mutter, nach Geborgenheit, nach Verlässlichkeit, nach Bindung, das existiert in Ihrer kranken, kaputten Welt gar nicht mehr. ({7}) Für Sie sind Kinder eine Katalogware für kulturlose Großstadtneurotiker, die nach Kiffen, LSD und Darkroom ihre innere Leere nun auch mal mit einem Kind kompensieren wollen. ({8}) Sie wollen eine Gesellschaft ohne Bindung, ohne Ehe, ohne Familie, ({9}) ohne Verwandtschaft, ohne Herkunft, ohne Wurzeln, ohne Identität, kurz: Die Linke steht für die moralische Verkommenheit als Staatsprinzip. ({10}) Folgerichtig fordern Sie natürlich auch den Anspruch auf Spendersamen für alle Menschen und, klar, auf Staatskosten. Jeder muss sich ein Kind herstellen können – alleine, zu dritt, ganz egal. ({11}) Geschlecht ist für Sie wählbar, Kinder sind bestellbar und dafür auch herstellbar. Und wenn das Kind dann nicht mehr gewollt ist, dann wird es entsorgt. Sie wollen Abtreibungen ohne Einschränkungen legalisieren – keine Beratung, keine Indikation, keine Fristenlösung –, also Abtreibungen bis fünf Minuten vor der Geburt; das wollten die Jusos auch schon. Ein Kind im neunten Monat fünf Minuten vor der Geburt zu töten, das ist Mord. Und das wollen Sie erlauben! ({12}) Die Linke ist nicht die Partei der arbeitenden Bevölkerung. Sie sind die Partei von bindungsgestörten, wohlstandsverwahrlosten Egomanen. Und Sie sind nicht die Partei für die Arbeiterklasse, sondern für verhaltensgestörte Akademiker, Langzeitstudenten, Studienabbrecher und Berufsversager. ({13}) Liebe Linke, Ihr gesamter Antrag ist nicht Ausdruck von Barbarei. Es ist viel schlimmer als Barbarei. Barbaren ehren ihre Eltern und lieben ihre Kinder. ({14}) Eine so verkommene, rücksichtslose und kaputte Gesellschaft, wie die Linkspartei sie schaffen will, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. ({15}) Die AfD wird mit ganzer Kraft dafür kämpfen, dass das auch niemals kommen wird. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich nutze die Zeit, in der das Pult hergerichtet wird, und bitte darum, sich einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen und insbesondere – – ({0}) – Im Übrigen: Sie schweben jetzt in höchster Gefahr! ({1}) Die amtierende Präsidentin in irgendeiner Weise zu bewerten bzw. dazu Äußerungen zu machen, steht Ihnen nicht zu mit diesem Zwischenruf. ({2}) Das war das Erste. Das Zweite. Ich werde überhaupt nicht den Inhalt der Rede bewerten, aber wir haben uns hier vor Kurzem gerade mit der dunkelsten und schlimmsten Zeit in unserem Land, in Europa und auf der Welt beschäftigt, und deswegen finde ich, dass sich das Wort „entsorgen“ im Zusammenhang mit menschlichem Leben einfach verbietet. ({3}) Jetzt komme ich zum dritten Punkt, zu dem ich insbesondere angeregt wurde, da aus den Reihen der AfD-Fraktion offensichtlich eben fotografiert wurde. Ich erinnere schlicht an unsere Verabredung und unsere Regeln und behalte mir vor, sollten Fotos aus ebendieser Debatte im Netz auftauchen, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. – So viel dazu. Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Yüksel für die SPD-Fraktion. ({4})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren vor den Bildschirmen! Familie ist dort, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und füreinander einstehen. ({0}) Familien sind bunt, Familien sind verschieden, und das ist auch gut so! ({1}) Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen frei entscheiden, wie sie Familie leben wollen – ohne Diskriminierung, ohne Benachteiligung. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen frei über ihren Körper und ihre Sexualität bestimmen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen eine kinderfreundliche Gesellschaft, eine Gesellschaft, die Familien und Frauen in ihren individuellen Entscheidungen unterstützt. ({2}) Der vorliegende Antrag hält fest, dass fehlende finanzielle Möglichkeiten eine selbstbestimmte Familienplanung einschränken können. Ja, dieses Problem wollen wir überwinden. Deshalb verfolgen wir als SPD weiter das Ziel, für Frauen mit niedrigem Einkommen den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und die kostenfreie Vergabe der Pille danach zu gewährleisten. Denn Familienplanung darf nicht vom Geldbeutel abhängen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) In gleichem Maße müssen wir diejenigen unterstützen, die sich für ein Kind entschieden haben, aber ungewollt kinderlos sind. Laut einer aktuellen Studie des Familienministeriums empfindet rund jeder zweite Befragte das Thema „ungewollte Kinderlosigkeit“ in unserer Gesellschaft immer noch als ein Tabuthema. Ich möchte deshalb auch an dieser Stelle den betroffenen Paaren Mut machen: Sprechen Sie darüber! Suchen Sie Beratung! Sie sind nicht allein. – Wenn wir gemeinsam darüber reden, können wir das Thema entstigmatisieren. Denn entscheidend ist nicht ein Trauschein, sondern die Entscheidung, Verantwortung für ein Kind übernehmen zu wollen. Es ist deshalb gut, dass die Bundesinitiative des Familienministeriums „Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit“ auch nichtverheiratete Paare bei ihrer Familiengründung fördert. Erfreulicherweise schließen sich immer mehr Bundesländer der Initiative an. Seit Montag ist das Bundesland Rheinland-Pfalz der Bundesinitiative beigetreten. Was mich besonders freut: Rheinland-Pfalz möchte erstmals auch gleichgeschlechtlichen Frauenpaaren eine finanzielle Förderung gewähren. Ich finde, das sind gute Neuigkeiten. ({4}) Ende dieser Legislatur werden voraussichtlich zwölf Länder die Initiative mittragen. Ich kann an die restlichen Bundesländer nur ausdrücklich appellieren, sich hier anzuschließen. Eine Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit darf nicht von der Postleitzahl oder dem Familienstand abhängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auch die Menschen unterstützen, die Sorge haben, dass sie sich ein Kind nicht leisten können; denn auch die Entscheidung für ein Kind darf nicht vom Geldbeutel abhängen! Hier bieten wir bereits etliche Unterstützungsangebote an, nicht nur finanzielle; auch die vielen Beratungsstellen und ‑netzwerke, wie zum Beispiel die Frühen Hilfen, stehen den Familien zur Seite. Das sind gute Unterstützungsleistungen für Frauen und Familien, die sich für ein Kind entscheiden und auch Hilfe brauchen. So wichtig diese Hilfen sind, so entscheidend ist aber auch eine familienfreundliche Gesellschaft und vor allem eine familienfreundlichere Arbeitswelt, damit Menschen sich für Kinder entscheiden; auch das ist ein Teil der Selbstbestimmung, und dafür kämpfen wir. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso müssen wir aber auch an der Seite der Frauen stehen, die sich für den Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden. Die Entscheidung gegen eine Schwangerschaft muss frei sein von Zwängen; da stimme ich dem Linkenantrag voll und ganz zu. Frauen brauchen einen gesicherten Zugang zum Schwangerschaftsabbruch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({6}) und zwar frei von Belästigung und Stigmatisierung. ({7}) Ärztinnen und Ärzte brauchen Rechtssicherheit, ebenfalls frei von Belästigung und Stigmatisierung. ({8}) – Vielleicht halten Sie einfach mal Ihren Mund und hören zu – ich glaube, das müssen wir Ihnen nicht jedes Mal sagen –; dann würde das alles viel besser laufen. ({9}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass die neue §-219a-Regelung ein Kompromiss mit unserem Koalitionspartner war und dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns eine andere Lösung gewünscht hätten. Ich denke, dass die aktuelle ganz klar zeigt, dass eine Verbesserung der rechtlichen Situation weiterhin dringend nötig ist, auch wenn Sie, liebe Kollegin, Frau Pantel, das anders sehen; wir haben ja diesbezüglich schon öfters gesprochen. ({10}) Aber: Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafrecht. ({11}) Dafür steht die SPD, ({12}) und dafür werden wir auch weiterhin kämpfen. Sehr geehrte Damen und Herren, wir stehen sowohl an der Seite der Frauen, die sich für eine Schwangerschaft entscheiden, als auch an der Seite der Frauen, die sich gegen eine Schwangerschaft entscheiden; denn wir wollen, dass alle Menschen diskriminierungsfrei, ohne Bevormundung und unabhängig von ihrer sozialen oder ökonomischen Situation über ihre Familienplanung und ihr Sexualleben selbst entscheiden können. Dafür werden wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten weiterhin einsetzen. Ich freue mich auf die Beratungen, auch wenn sie hitzig werden, Frau Kollegin. Ich danke Ihnen ganz herzlich fürs Zuhören. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katrin Helling-Plahr das Wort. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, was machen Sie nur mit uns? Jeder, der die Arbeit meiner Fraktion und auch meine Arbeit verfolgt, weiß, dass uns Freien Demokraten und auch mir persönlich starke, individuelle Selbstbestimmung ein Herzensanliegen ist, dass wir uns immer an die Seite der Menschen stellen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen. Wir sind eingetreten etwa für die vollständige Kostenübernahme für Kinderwunschbehandlungen für wirklich jedermann, für die Kostenübernahme für die Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen bei Krebspatienten mit Kinderwunsch, für die Kostenübernahme bei Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik; denn die Möglichkeiten, medizinische Methoden in Anspruch zu nehmen, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen, dürfen nicht vom Geldbeutel abhängen. ({0}) Und wir haben uns für die Legalisierung von Eizell-, Embryonenspenden und Leihmutterschaft aus Nächstenliebe eingesetzt, damit wir in Deutschland nicht weiter mit einem überalterten Rechtsrahmen Betroffene, die nicht das Geld haben, diese Möglichkeiten im Ausland in Anspruch zu nehmen, im Regen stehen lassen. ({1}) Aber reproduktive Gerechtigkeit, wie Sie fordern, wird es leider nie geben können. Es ist nicht gerecht, dass manche Menschen keine Kinder bekommen können, dass manche Frauen immer wieder Fehlgeburten erleiden. Wir sollten aber unbedingt davon Abstand nehmen, die Frage nach dem eigenen Kind zur Gerechtigkeitsfrage zu machen. Der Begriff „reproduktive Gerechtigkeit“ stammt ja auch aus einem ganz anderen Kontext. Er entstand, weil 1994 rund um die UN-Entwicklungskonferenz in Kairo schwarze Frauen explizit in Abgrenzung zu der weiß dominierten Pro-Choice-Bewegung ausdrücken wollten, dass es auch ein Recht geben muss, sich für Kinder zu entscheiden. Sie standen unter dem Eindruck westlicher Entwicklungspolitik, die zur Folge hatte, dass sich Frauen zu Empfängnisverhütung und Sterilisation gedrängt sahen. Sie schreiben zwar im Titel Ihres Antrages „Für das Leben“, wollen aber in Wahrheit mit Ihrem Antrag Abtreibungen bis zum letzten Tag, ohne medizinische Begründung, ohne Wenn und Aber. ({2}) Ich erspare Ihnen und mir Beispiele dafür, was das bedeuten würde. Das ist offenkundig verfassungswidrig und ethisch wie politisch untragbar. ({3}) Wir brauchen eine Regelung, die sowohl den Schutz des ungeborenen Lebens als auch das Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt, die beide Rechtsgüter gegeneinander abwägt, austariert. Wir haben, vom Regelungsbedarf in § 219a StGB abgesehen, mit unserer derzeitigen gesetzlichen Regelung einen breit getragenen gesellschaftlichen Konsens. Den müssen und sollten wir nicht infrage stellen! Extreme Positionen bringen uns auch hier nicht weiter. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir über wirkliche Gleichberechtigung von Frauen reden, können wir die Freiheit, das Recht auf Selbstbestimmung und sichere Gesundheitsversorgung von Frauen in allen Lebensbereichen nicht außen vor lassen. Darum danke ich der Kollegin Conny Möhring für den guten Antrag und Auftakt zu dieser wichtigen Debatte. ({0}) Eine entscheidende Frage ist: Wem wird bei uns die körperliche und reproduktive Selbstbestimmung zugestanden und wem nicht? Frauen wird die Entscheidung, über ihren Körper und ihr Leben uneingeschränkt selbst zu entscheiden, nicht zugestanden. ({1}) Durch § 219a werden Frauen Informationen über ungewollte Schwangerschaften, wie die WHO es empfiehlt, nach wie vor versagt, Ärztinnen und Ärzte werden weiter verklagt. Das haben Frau Giffey, Herr Spahn und Sie von der Union vor allem zu verantworten. Dieses Versagen geht auf Ihre Kappe! ({2}) Und: Frauen wird die Entscheidung im Falle einer ungewollten Schwangerschaft nicht selbst überlassen. Der Schwangerschaftsabbruch steht im Strafgesetzbuch unter § 218; er ist verboten unter Androhung einer Freiheits- oder Geldstrafe. Meine Damen und Herren, wenn Sie das jüngeren Leuten erzählen, sind die fassungslos. Den allermeisten ist nicht mehr bewusst, dass Schwangerschaftsabbrüche eigentlich kriminalisiert sind. ({3}) Wir Grünen haben das immer kritisiert. Was aber jetzt passiert, ist besorgniserregend. Wir sehen zunehmend eine Versorgungslücke für Frauen; denn die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, geht seit Jahren zurück. ({4}) Es gibt bereits Regionen und Landkreise, in denen Frauen sehr weite Wege, zum Teil sogar in andere Bundesländer fahren müssen, ({5}) um den Zugang zu einem medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbruch zu bekommen. Sie alle wissen, dass die Länder verpflichtet sind, die Versorgung sicherzustellen. Das geht aber nur, wenn auch genügend Mediziner/-innen ausgebildet werden, mit dem nötigen Know-how über alle Methoden eines Abbruchs. Das geht mit dem Strafgesetzbuch nicht überein. ({6}) Darum muss jetzt etwas passieren. Davor können Sie alle sich nicht wegducken. Wir wollen das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben als Teil einer guten öffentlichen Gesundheitsversorgung sehen. ({7}) Dazu zählt ein selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch, der nicht im Strafgesetzbuch geregelt wird und dessen Kosten grundsätzlich übernommen werden. ({8}) Ebenso zählen dazu eine plurale Familienplanung und gut abgesicherte Beratungsstellen. Für uns sind die Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und ‑gegnern – ({9}) da schaue ich in diese Richtung – nicht hinnehmbar. ({10}) Hier müssen wir für besseren Schutz für die Frauen und für alle Mitarbeiterinnen sorgen. Wir als Grüne wollen eine breite, eine sachliche, eine zielorientierte Debatte, und zwar über Lösungen, die tatsächlich rechtlich gehen und die nicht die Verfassung infrage stellen. Wer hier die ganze Zeit davon redet, dass es darum gehe, bis zur 39. Woche eine Abtreibung zu erlauben, hat den Text dieses Antrags einfach nicht verstanden. ({11}) Ich komme zum Schluss. Es ist unsere Aufgabe, für eine gute Gesundheitsversorgung und Selbstbestimmung von Frauen zu sorgen. Lassen Sie uns dafür Verantwortung übernehmen! Liberale und katholische Länder wie Irland, Argentinien und Neuseeland haben es uns vorgemacht. Da geht was. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Pilsinger das Wort. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Linken reiht sich ein in die systematische Bekämpfung des ungeborenen Lebens durch diese Partei. Mit wohlfeilen Worten wird in Ihrem Antrag einem angeblichen Humanismus das Wort geredet. Aber Ihr Antrag ist das Gegenteil: Er ist die Verkehrung der humanistischen Werte, die unsere Kultur prägen sollten. ({0}) Schauen wir uns Ihren Antrag mal konkret an. Es wurde ja heute schon über vieles allgemein geredet und wenig konkret über diesen Antrag. Deswegen möchte ich dies an dieser Stelle tun. In Ihrem Antrag schreiben Sie: Der Deutsche Bundestag – also Die Linke – fordert die Bundesregierung auf, … einen Gesetzentwurf für ein „Gesetz zur Sicherung reproduktiver Rechte“ vorzulegen, mit dem Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden, indem die §§ 218 sowie 218a, b und c, sowie §§ 219 und 219a und b Strafgesetzbuch gestrichen werden, sowie das Schwangerschaftskonfliktgesetz … ersetzt wird … ({1}) Des Weiteren soll nach Ihrem Willen der Bundestag feststellen – ich zitiere wiederum –: Eine solche angenommene Austragungspflicht macht gebärfähige Körper, in der überwiegenden Mehrzahl Frauenkörper, zum Objekt dieser Austragungspflicht. Nur zum Verständnis, liebe Linkspartei: Wir sprechen hier von einer Schwangerschaft, von der Entstehung neuen menschlichen Lebens, und nicht von der Herstellung eines Produkts. ({2}) Aber es wird noch verstörender – ich zitiere weiter –: Während niemand dazu gezwungen werden darf, den eigenen Körper, Körperflüssigkeiten oder Körperteile gegen den eigenen Willen anderen zur Verfügung zu stellen, gilt dies für ungewollt Schwangere nicht. Sie werden verpflichtet, den eigenen Körper für mindestens neun Monate zur Verfügung zu stellen. ({3}) Jetzt frage ich mich: Welches verabscheuungswürdige Menschenbild leben Sie hier eigentlich aus? ({4}) Unabhängig davon, dass es nicht nur in der Mehrzahl Frauenkörper sind, sondern meines Wissens biologisch ausschließlich Frauenkörper sind, die einen Menschen austragen, um in Ihrer Sprache zu bleiben, strotzt Ihr Antrag von Menschenfeindlichkeit. ({5}) Sie sehen ganz offensichtlich den Menschen in seiner Gesamtheit als Summe seiner Teile, nämlich als bestehend aus seinen Körperflüssigkeiten und Körperteilen. Damit objektivieren Sie den Menschen und degradieren ihn zu einem austauschbaren Produkt. Mit Ihrem Menschenbild entmenschlichen Sie das menschliche Lebewesen und entwürdigen es damit. Aber ein verobjektiviertes Wesen ist der Gemeinschaft schutzlos ausgeliefert; denn gegenüber einem im Kern entmenschlichten Wesen verlieren auch die Menschenrechte mit der Zeit ihre Wirkkraft. Es ist daher nur folgerichtig, dass Sie die ersatzlose Streichung des § 218 fordern und damit künftig Abtreibung ohne jede Einschränkung bis zur Geburt ermöglichen wollen. Der vollständige Wegfall der gesetzlichen Regelung würde unweigerlich dazu führen, dass künftig das Leben jedes ungeborenen Kindes bis zur Geburt zur Disposition steht. Schon heute wird ein Großteil der ungeborenen Kinder, bei denen ein Downsyndrom festgestellt wird, abgetrieben. Ihr Gesetzentwurf würde diese Entwicklung noch einmal verstärken ({6}) und die Akzeptanz von Menschen mit einer Behinderung weiter schwächen. Deshalb frage ich Sie: Ist ein Mensch mit Behinderung für Sie weniger wert? ({7}) Ich finde diesen Ansatz wirklich verabscheuungswürdig. Mit Ihrem Gesetzentwurf würde der Staat die ihm obliegende Schutzfunktion gegenüber dem ungeborenen Leben aufgeben, der sich aus Artikel 1 unseres Grundgesetzes herleitet und der besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieser Antrag demaskiert Sie und bringt Ihre wahre Gesinnung ans Licht. Ich fordere Sie daher auf: Akzeptieren Sie endlich unsere Verfassung! Akzeptieren Sie Artikel 1 des Grundgesetzes, und überdenken Sie Ihr inhumanes Menschenbild! Jedes Leben ist wertvoll – davon sind wir als Union überzeugt –, und deshalb werden wir Ihren Antrag selbstverständlich ablehnen. Vielen Dank. ({8})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Debatte heute hätten wir uns sicherlich gerne erspart. Stattdessen hätten wir uns lieber inhaltlich mit Dingen beschäftigt, die unser Land voranbringen. Doch heute müssen wir das Parlament durch Einführung eines Ordnungsgeldes quasi vor seinen Abgeordneten schützen. Wir müssen sicherstellen, dass auch wir Abgeordnete unsere eigene Hausordnung achten. Es ist beschämend, dass wir das tun müssen. Aber es hat Vorfälle gegeben, die uns veranlassen, dass wir auch gegen Abgeordnete bei Verstoß gegen die Hausordnung Sanktionen vorsehen müssen. Warum? Wir haben im letzten Jahr wiederholt erlebt, wie der Bundestag zur Kulisse und Plattform für politische Agitation wurde, im November dann mit einer ganz neuen Qualität, mit offen bedrohender und einschüchternder Intention. Wir haben im November erlebt, wie Abgeordnete auf dem Weg zur Abstimmung fast körperlich bedrängt, bedroht und beleidigt wurden. Wir haben im Sommer aber auch erlebt, wie sogenannte Aktivisten rund um Abstimmungen den Bereich des Plenarsaals, innen oder außen, für Inszenierungen missbraucht haben. Das alles hätte es ohne die Mitwirkung von Abgeordneten nicht geben können. Möglich wurde das in dem einen Fall, weil Abgeordnete von ihrem Besucherprivileg Gebrauch gemacht haben und Störer in den Bundestag geholt haben. Möglich wurde das in dem anderen Fall, weil Abgeordnete diese Störer teilweise aktiv unterstützt und verbotene Gegenstände eingeschleust haben. Man muss auch klar aussprechen, wer hier im Hause solche Aktionen unterstützt hat: Es waren Abgeordnete aus dem linken und vor allem aus dem ganz rechten Spektrum. Deshalb wundert es auch nicht, dass weder die Linken noch die AfD dem Gesetzentwurf heute zustimmen werden. Sie werden ihn beide ablehnen. Schon im Ausschuss standen sie bei dem Vorhaben inhaltlich dicht beieinander. Dabei kann doch keiner gutheißen, was wir zuletzt erlebt haben. Seit November wissen wir, dass die AfD mit allen Möglichkeiten, die sich ihr bieten, den demokratischen Prozess in Deutschland sabotieren will. Sie möchte die Demokratie von innen aushöhlen und sie verächtlich machen. ({0}) Sie haben sich die Maske vom Gesicht gerissen. Sie haben Ihre Handlanger dafür, ganz offen Abgeordnete zu bedrängen, zu bedrohen und zu beleidigen. ({1}) Und die AfD hat keine Skrupel, diesen Handlangern die Tür in den Bundestag zu öffnen. Wir werden, weil wir ein freies und offenes Parlament bleiben wollen, weil wir das nicht akzeptieren, weil wir zeigen wollen: „So geht das geht!“, deshalb Sanktionen vorsehen und Ordnungsgelder im Abgeordnetengesetz installieren. Wir führen ein Ordnungsgeld von 1 000 Euro bei einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Hausordnung durch Abgeordnete ein, und im Wiederholungsfall wird sich dieses Ordnungsgeld auf 2 000 Euro verdoppeln. Wir halten das für eine angemessene und spürbare Sanktion. Sie ist auch hinreichend bestimmt. Wir haben ja parallele Regelungen, vor allem für das, was hier im Plenarsaal gilt. Wenn hier gegen Regeln in nicht nur geringfügiger Weise verstoßen wird, können Ordnungsgelder in ähnlicher Höhe oder in genau dieser Höhe verhängt werden. Wir haben auch die Höhe der Ordnungsgelder auf eindeutige Beträge festgeschrieben, ({2}) sodass wir keinen Streit darüber bekommen, wie hoch im Einzelfall ein Ordnungsgeld ausfallen soll. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es hat sich bei den vielen Beratungen der jüngsten Vorgänge leider erwiesen, dass mittlerweile auch gegenüber den Mitgliedern des Bundestages wirksame Sanktionen zur Durchsetzung der Hausordnung erforderlich sind. Das hat es früher so nicht gegeben. Ich sage es noch einmal: Das ist eine beschämende Erkenntnis. Aber ich bitte dennoch um Zustimmung. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann folgt daraus, dass es unbedingt notwendig ist, kein Gesetz zu erlassen. ({0}) Die hier geplante Änderung des Abgeordnetengesetzes ist nicht nur nicht unbedingt notwendig, sie ist nicht einmal notwendig. Sie ist völlig überflüssig, und deshalb sollte sie unterbleiben. Richtig ist, dass es im November 2020 Störungen des Parlamentsbetriebs gegeben hat. Richtig ist, dass die Störer über zwei Abgeordnete der AfD ins Haus gelangt sind. Das ist der Sachverhalt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es schon zu ähnlichen Störungen in der Vergangenheit über Abgeordnete der Linkspartei gekommen ist. Damals sah man aber offenbar keinen Handlungsbedarf. Nun aber will man die Gelegenheit nutzen, um auf populistische Weise AfD-Beschimpfung betreiben zu können. ({1}) Das stand ja hier vorhin im Mittelpunkt; das haben wir ja gehört. Schließlich stehen Wahlen an. Es sollen sich hier einmal alle fragen, ob der Preis für diese populistische Aktion nicht unangemessen hoch ist. Jeder hier im Raum unterliegt nämlich in weiterer Folge plötzlich einem Regime, bei dem auf der Tatbestandsseite gar nicht klar ist, wann man Sanktionen zu befürchten hat, weil die Norm viel zu unbestimmt ist. Ich zitiere aus dem Entwurf: § 44e Ordnungsmaßnahmen gegen Mitglieder (1) Wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages bei dessen Sitzungen kann der Präsident gegen ein Mitglied des Bundestages ein Ordnungsgeld in Höhe von 1 000 Euro festsetzen. Im Wiederholungsfall erhöht sich das Ordnungsgeld auf 2 000 Euro. Absatz 2, Satz 1: Wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Hausordnung des Bundestages kann der Präsident gegen ein Mitglied des Bundestages ein Ordnungsgeld in Höhe von 1 000 Euro festsetzen. ({2}) „Würde des Bundestages“, „Hausordnung“, „nicht nur geringfügig“ – das alles sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die dem Bestimmtheitsgebot in ihrer Gesamtheit nicht genügen. Es wird auch nicht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschieden. Offenbar ist da alles egal. ({3}) Klar ist nur der Sanktionsrahmen: 1 000 Euro bei der ersten Tat, 2 000 Euro bei der Wiederholungshandlung. Ja, für viele da draußen sind 1 000 Euro viel Geld. Das dürfte aber wohl nicht für die Mitglieder der Regierungsparteien gelten, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Nüßlein nach den Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft München im Verdacht steht, sich durch Missbrauch seines Mandats ein Zubrot in Höhe von 600 000 Euro an der Steuer vorbei verdient zu haben. Da würde ich sagen: Der Mann kann es hier in diesem Hohen Hause einmal richtig krachen lassen, ({4}) für den sind 1 000 Euro Peanuts. Da kann man einmal über die Stränge schlagen. Herr Amthor, der junge Mann aus MeckPomm, ist noch nicht so weit. Er muss da noch etwas üben. Mit seinen Optionen kommt er an die 600 000 Euro noch nicht heran. Aber ich bin sicher, er wird es auch einmal zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU-Fraktion schaffen. ({5}) Damit ist auch klargestellt, gegen wen sich der Sanktionskatalog richten soll, nämlich gegen die – in Anführungsstrichen – „Geringverdiener“ hier. Das sind die, die aus idealistischen Motiven in diesem Hohen Hause ihre Pflicht tun: Die meint man unter Kontrolle halten zu müssen. Gemäß dem neuen § 44e Absatz 3 Abgeordnetengesetz soll übrigens das Bundesverfassungsgericht für die rechtliche Überprüfung der Sanktionen zuständig sein. Als wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichts nichts Besseres zu tun hätten, als sich um Sachverhalte und Sanktionen zu scheren, ({6}) die normalerweise am Amtsgericht in einer Zehn-Minuten-Verhandlung behandelt werden! Die Verfassungsrichter werden sich bedanken für diese Arbeit. ({7}) Insgesamt kann man diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Er ist völlig daneben. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ordnungsmaßnahmen des Sitzungspräsidiums gegenüber Parlamentariern sind so alt wie der Parlamentarismus selber. Manchmal sind Ordnungsmaßnahmen so, dass sie regelrechte Staatskrisen auslösen. 1949 in einer der ersten Sitzungen des Bundestages bezeichnete Kurt Schumacher Konrad Adenauer als „Kanzler der Alliierten“. Dafür wurde er für 20 Sitzungstage ausgeschlossen. Manchmal sind die Anlässe für Ordnungsmaßnahmen aber auch durchaus lustig. So gibt es ein ganzes Buch über Herbert Wehner, das den Titel trägt „Ordnungsrufe“. Den Inhalt können Sie sich lebhaft vorstellen. Da ist zum Beispiel zu lesen, dass er in einer Rede die Hälfte der Anwesenden als Trottel bezeichnete. Dafür kassierte er natürlich sofort einen Ordnungsruf. Darauf entschuldigte er sich und sagte: Ich nehme das zurück. Die Hälfte der hier Anwesenden sind keine Trottel. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele lustige Begebenheiten, die der Parlamentsbetrieb zuweilen mit sich bringt. Der Anlass für unseren heutigen Gesetzentwurf zum Ordnungsrecht im Bundestag – Herr Schnieder hat es gesagt – ist leider überhaupt nicht lustig. Wenn man sich den Katalog der Ordnungsmaßnahmen in der Geschäftsordnung und im Abgeordnetengesetz anschaut, so stellt man fest, dass sich alle auf den Plenarbetrieb beziehen. Das ist so seit Anbeginn der Republik. Niemand konnte sich in den letzten 70 Jahren vorstellen, dass es einmal notwendig werden würde, außerhalb der Plenarsitzungen Ordnungsmaßnahmen gegen Abgeordnete verhängen zu müssen. ({1}) Niemand konnte sich früher auch vorstellen, dass eine Partei wie die AfD wieder ins Parlament einziehen würde. Hintergrund des Gesetzentwurfes sind natürlich die Ergebnisse rund um die Debatte zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz am 18. November. AfD-Abgeordnete dieses Parlamentes haben wissentlich und willentlich Randalierer in das Hohe Haus gelassen. Ein Abgeordneter rief die Demonstranten per Video dazu auf, sich Abgeordnete – Zitat – „zu krallen“. Glücklicherweise ist niemand zu Schaden gekommen. Was rechter Mob anrichten kann, das wissen wir in Deutschland ganz genau. Und ganz sicher wissen wir das nicht erst, seitdem Donald Trump den rechten Mob zum tödlichen Sturm auf das Kapitol aufrief. Dass viele der AfD-Anhänger von so etwas wie diesem Sturm träumen, dürfte leider die traurige Wahrheit sein. ({2}) Die Gefahr, dass Abgeordnete zu einem solchen Sturm auch auf den Bundestag beitragen, ist seit dem 18. November leider ziemlich real. Deshalb schlagen wir die vorliegende Ergänzung des Abgeordnetengesetzes vor. Künftig soll das Bundestagspräsidium Ordnungsmaßnahmen auch außerhalb von Sitzungen verhängen dürfen. Herr Maier, Sie bemängeln, dass die Formulierung „Wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung“ im neuen § 44e Absatz 2 in unserem Gesetzentwurf zu unbestimmt sei. Die Formulierung ist aber exakt übernommen aus § 44a des Abgeordnetengesetzes, der die Ordnungsgelder bei Plenardebatten regelt. Seit Bestehen des § 44a hat noch nie jemand Anstoß an dieser Formulierung genommen. Aber jetzt ganz plötzlich? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist völlig offensichtlich: Diese Kritik ist vorgeschoben. ({3}) Dass eine solche Kritik von Ihnen, von der AfD, kommt, ist ja wahrlich nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich ist es aber schon, dass die Linke ganz offenbar ins gleiche Horn stößt. Liebe Linke, der AfD-Beifall ist Ihnen sicher. Ich finde das ziemlich befremdlich. ({4}) Aber die gute Nachricht zum Schluss: Seit gestern ist die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. ({5}) Die FUNKE Mediengruppe schrieb dazu heute Morgen: Die AfD hat sich die Einstufung als „Verdachtsfall“ redlich verdient. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann jeder hier im Haus bezeugen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf macht eines deutlich: Wir haben nicht nur ein wehrhaftes Grundgesetz, wir haben auch ein wehrhaftes Parlament! – Ich bitte um Zustimmung. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! – Schande! Es war eine Schande, was hier am 18. November 2020 im Parlament passiert ist. Dass Mitglieder dieses Hauses und Mitglieder der Bundesregierung im Gebäude des Reichstags belästigt, bedrängt und beschimpft worden sind, ist eine Schande, und es gibt kein besseres Wort dafür. ({0}) Denn Schande bedeutet jede Tat, die die Ehrlosigkeit des Täters zeigt oder die die Ehre der Opfer verletzt. Die AfD-Abgeordneten Udo Hemmelgarn und Petr Bystron haben die Störer hier ins Haus gelassen, die Mitglieder dieses Hauses bedrängt, beschimpft und beleidigt haben. Wer wollte ernsthaft in Zweifel ziehen, dass es ehrlos ist, solche Leute hier ins Haus zu lassen? Wer wollte ernsthaft hier in Zweifel ziehen, dass es die Mitglieder der Bundesregierung und die Mitglieder dieses Hauses, die betroffen waren, in ihrer Ehre verletzt hat? Und wer – was das Schlimmste ist – wollte ernsthaft in Zweifel ziehen, dass das die Würde des demokratisch gewählten Parlaments verletzt hat? Kurz: Es ist eine Schande! ({1}) Jetzt wird so getan, als ob das irgendwie eine spontane Nachlässigkeit gewesen sei. Es sei ja alles gar nicht so schlimm gewesen. ({2}) Wer soll Ihnen das eigentlich glauben? Wer soll Ihnen das eigentlich glauben an Tag eins, nachdem der Verfassungsschutz die AfD bundesweit zum rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft hat? ({3}) Hemmelgarn und Bystron haben doch eine uralte rechtsextremistische Taktik verfolgt, und diese uralte Taktik hat der große Dichter Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen wie folgt beschrieben, ({4}) und ich zitiere: … immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille ({5}) und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen … Wissen Sie, was die eigentliche Botschaft dieses Gesetzentwurfes ist? Wir haben genug bittere Pillen Ihres schändlichen Verhaltens geschluckt. ({6}) Die Dosis Ihres schändlichen Verhaltens ist uns jetzt schon zu stark. ({7}) Die Botschaft dieses Gesetzentwurfes ist, dass wir eine Grenze ziehen ({8}) und sie mit Sanktionen bewehren; denn unsere Demokratie ist wehrhaft. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir gerade beraten, hat einen äußerst ernsten Hintergrund. Im letzten Jahr wurde Berlin regelmäßig von Protesten gegen die Coronamaßnahmen heimgesucht, denen rechtsradikale Kräfte zunehmend ihren Stempel aufdrückten. Nachdem es diesen im August gelang, symbolträchtig die Treppe zum Reichstagsgebäude zu stürmen und dort die Fahnen des zu unser aller Glück untergegangenen Kaiserreichs zu schwenken, ({0}) sollte es im November noch schlimmer kommen. Am Tag der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz versuchten Teilnehmer dieser Proteste, den Bundestag zu blockieren, allerdings weitgehend ohne Erfolg. Darüber müssten wir jetzt aber nicht diskutieren, wenn nicht Mitglieder der AfD Teilnehmerinnen und Teilnehmer in das Gebäude des Bundestages geschleust hätten, die in der Folge Mitglieder des Bundestags und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter massiv bedrängten und versuchten, diese einzuschüchtern. Aus den Reihen der AfD wurde geäußert, Angehörigen ihrer Fraktion sei da etwas entglitten. Aber davon dürfen wir uns nicht täuschen lassen: Diese Truppe macht das sehr bewusst. ({1}) Nun zum Inhalt des vorliegenden Entwurfs. Zunächst möchte ich festhalten, dass der Bundestag ein offenes Haus der Demokratie bleiben muss. ({2}) Um dies zu gewährleisten, müssen wir sicherstellen, dass das Verhalten von gewählten Abgeordneten die Funktionsfähigkeit des Bundestages nicht beschränkt. Das Ziel ist folglich richtig, aber der Weg falsch. Vor der Einführung neuer Sanktionstatbestände, vor allem für Abgeordnete, muss zunächst die bessere Durchsetzung der vorhandenen Regeln, etwa auch der Hausordnung zur Begleitung der Gäste, stehen. Dafür braucht man kein Ordnungsgeld, sondern Personal. ({3}) Denkbar wären auch Nachjustierungen der Hausordnung wie die Beschränkung auf sechs Besucher, also die Sechs-Personen-Regel. Dazu wären wir bereit. Selbst eine Sanktionsmöglichkeit für Abgeordnete als letzter Schritt wäre für uns denkbar – nicht aber mit einem so weiten, unbestimmten Tatbestand, sondern nur für schwerwiegende und ausdrücklich bestimmte Hausordnungsverletzungen. So, wie Sie es nun regeln wollen, ist nicht hinreichend vorhersehbar, welches Verhalten zu einer Sanktion führen kann. Das ist aber notwendig, allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen. ({4}) Dazu kommt, dass wir bei der starren Höhe des Ordnungsgeldes Verstöße unterschiedlicher Qualität nicht differenziert werden behandeln können. Auch das ist für mich ein schwerwiegender Mangel. Insofern – folgerichtig – stellen Sie die Verhängung des Ordnungsgeldes in das Ermessen des Bundestagspräsidenten oder der Bundestagspräsidentin. Das wird, so fürchte ich, zu Diskussionen über die Einzelfälle führen, die diese rechte Truppe absehbar produzieren wird und die sie dann mit Schmutzkampagnen gegen den Präsidenten oder die Präsidentin begleiten wird. Das Ziel Ihres Gesetzentwurfes teilen wir ohne Abstriche. Deshalb finde ich es sehr schade, dass wir nicht zu einer gemeinsamen Lösung gekommen sind. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Britta Haßelmann das Wort. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, jede und jeder von uns hätte sich gerne, glaube ich, die Änderung des Abgeordnetengesetzes an dieser Stelle erspart. Es ist aber so, dass wir jetzt, zum Ende der Legislaturperiode hin, dreieinhalb Jahre Erfahrungen mit dieser Fraktion am rechten Rand in diesem Parlament gemacht haben. Und, meine Damen und Herren, wir haben hinreichend Erfahrungen gesammelt. Niemand hier im Haus wird die Vorgänge vom 18. November 2020 vergessen, meine Damen und Herren. ({0}) – Sie sicher auch nicht, Frau von Storch; denn Sie waren ja mittendrin. – Niemand wird diese Vorgänge vergessen. ({1}) Ich kann nur sagen: Die Geschehnisse am 18. November 2020 im Bundestag waren gravierend. Die von der AfD eingeschleusten Personen wollten offensichtlich die freie Mandatsausübung der Abgeordneten und die Funktionsfähigkeit unseres Parlamentes stören. Das ist ein schwerwiegender Vorgang, meine Damen und Herren, und jede und jeder von Ihnen muss wissen: ({2}) Wer Abgeordnete versucht einzuschüchtern, greift diese Demokratie an, meine Damen und Herren, ({3}) und das müssen wir deutlich sagen. Die gemeinsame Antwort am 18. November – und darüber, meine Damen und Herren, war ich sehr froh – war die: Bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache, bei allem harten Streit im Parlament und dem Ringen um viele Fragen haben wir an der Stelle zusammengestanden und wussten genau, was es bedeutet, an der Stelle klarzumachen: Bis hierhin und nicht weiter! ({4}) Das ist wichtig – ganz wichtig. Genau diese Art, das Parlament mit destruktiven und antiparlamentarischen Angriffen zu überziehen, hat doch Methode, meine Damen und Herren bei der AfD. Wir erleben Sitzungswoche für Sitzungswoche die Verächtlichmachung demokratischer Institutionen. Zersetzung hat Methode bei Ihnen. Deshalb sehen wir uns veranlasst, in der Hausordnung jetzt Veränderungen vorzunehmen – die werden wir noch diskutieren –, aber vor allen Dingen jetzt erst mal im Abgeordnetengesetz die Möglichkeit eines Ordnungsgeldes auch für Abgeordnete vorzusehen bei nicht nur geringfügigen Verstößen. Meine Damen und Herren, da verstehe ich jetzt die Kolleginnen und Kollegen der Linken nicht; denn bisher hatten sie kein Problem mit dem § 44a des Abgeordnetengesetzes. Wir haben das auch im § 44a geregelt, und zwar genauso. ({5}) Natürlich weiß jeder, dass wir das nicht bei jeder kleinen Lappalie machen, sondern ganz klar geregelt und mit Maßstab, meine Damen und Herren. Ich finde es bedauerlich, dass wir das überhaupt machen müssen. Aber es scheint doch ganz offenkundig notwendig zu sein. Für diejenigen, die es schon vergessen haben: Wir haben auch schon andere Dinge machen müssen durch die Erfahrungen mit Ihnen. Nicht umsonst haben wir im Juni 2020 die Hausordnung dahin gehend geändert, meine Damen und Herren, dass wir plötzlich das Mitbringen von Waffen ausdrücklich verbieten mussten. Da ist dieses Parlament in seiner ganzen Geschichte nicht draufgekommen, ({6}) zumindest in unserer gemeinsamen demokratischen Geschichte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das hatte einen Anlass, und das wissen Sie. Wir haben die Hausordnung im Hinblick auf die Frage des Mitbringens von Waffen geändert, weil klar ist, dass es ein Gefährdungspotenzial gibt; und das geht von Ihnen aus. ({0}) Da muss man klar einen Riegel vorschieben. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den sachlichen bzw. substanziellen Inhalt des Zwischenrufes von Frau von Storch kann ich im Moment hier nicht überprüfen, aber ich nehme erst mal zur Kenntnis, dass hier Behauptungen in den Raum gestellt werden, die wahrscheinlich auch noch zu weiteren Debatten in den dafür vorgesehenen Gremien Anlass geben werden. Das Wort hat nun Dr. Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hat es in allen Legislaturperioden vorher noch nicht gegeben, dass es ein Ordnungsgeld geben muss für Verstöße von Abgeordneten gegen die Hausordnung außerhalb dieses Plenarsaals. Jetzt ist das leider so. Die Vorgänge, die wir im November, aber auch im Sommer erlebt haben, zwingen uns dazu, auch über diese Regelung zu diskutieren und sie einzuführen. Deswegen ist das, was wir hier heute vorschlagen und beschließen werden – hoffentlich mit breiter Mehrheit – auch der richtige Weg; denn dieses Parlament soll handlungsfähig sein. Das Parlament ist ein Ort für die Auseinandersetzung mit Worten, mit Argumenten, im Diskurs auch streitig, aber nicht durch Bedrängen von Kolleginnen und Kollegen, durch Nötigen, durch Filmen, was dazu führt, dass man irgendwann in diesem Haus eine Stimmung, ein Klima der Angst hat. Das kann nicht das Ziel sein. ({0}) Ich wundere mich schon sehr – bei der AfD nicht so –, dass Sie, lieber Kollege Straetmanns – ich schätze Sie wirklich – sagen, der Ausdruck „nicht nur geringfügig“ sei ein unbestimmter Rechtsbegriff und das sei nicht richtig. Frau Kollegin Haßelmann und andere Vorredner haben schon auf das Abgeordnetengesetz hingewiesen. Aber wenn Sie einfach nur mal „unbestimmter Rechtsbegriff“ und „nicht nur geringfügig“ googeln, dann kriegen Sie seitenweise Gesetze, wo dieser unbestimmte Rechtsbegriff geregelt ist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Sensburg?

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Straetmanns?

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebend gern. Ich diskutiere gerne über unbestimmte Rechtsbegriffe und darüber, was sie bedeuten. Das habe ich in meinem vorherigen Beruf stundenlang gemacht. – Herr Kollege.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Sie haben mich jetzt gerade direkt angesprochen, darum habe ich mich bemüßigt gefühlt, ein paar Anmerkungen zu machen: Erstens habe ich, glaube ich, in meiner Rede deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir das Ziel teilen, aber den Weg für falsch halten. Das ist ein großer Unterschied zu dem, wie sich der Redner der AfD hier präsentiert hat. Das bitte ich nur fürs Protokoll festzuhalten. ({0}) Zweiter Punkt – der ist uns sehr wichtig –: Wir haben hier eine grundsätzliche Rechtsänderung; über die unbestimmten Rechtsprüfungen wollen wir jetzt keine juristische Diskussion führen. Bei der alten Fassung des Abgeordnetengesetzes ging es um das Verhalten direkt in der Sitzung, das quasi auf der offenen Bühne nachvollziehbar beanstandet wird. Bei dem Verstoß gegen die Hausordnung haben wir quasi eine räumliche Verlagerung in einen Bereich, wo eben keine Sitzungsaufsicht und keine Kontrolle stattfinden. Das ist der wesentliche Unterschied, und deshalb haben wir Bedenken, ob es zielführend ist, wenn man aus der Ferne einen Sachverhalt beurteilen will. Der letzte Punkt – das zieht sich durch unsere Kritik an allen Strafrechtsverschärfungen –: Wir warten immer darauf, dass einmal ausprobiert und evaluiert wird, was am Ende überhaupt zu verändern notwendig ist. Wir hätten uns hier statt einer übertriebenen Eile gewünscht, erst mal abzuwarten, wie die eingeleiteten Ordnungswidrigkeitsverfahren ausgehen. Danach wären wir auch immer bereit, weiter zu diskutieren. ({1})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Straetmanns, ich schätze Sie, und ich merke, wie schwer es Ihnen fällt, zu argumentieren, dass Sie hier gemeinsam mit der AfD stimmen. ({0}) Aber Argumente haben Sie ja jetzt gar nicht gebracht. Es geht nicht um eine Verschärfung, es geht um eine Neuregelung einer Lücke, nämlich der Lücke, die durch das Verhalten insbesondere der AfD, aber auch im Sommer – das muss man ehrlich sagen – durch Vertreter Ihrer Fraktion entstanden ist, ({1}) dass nämlich Abgeordnete es zugelassen haben, dass außerhalb des Plenarsaals, aber in diesem Gebäude drastische Verstöße gegen die Hausordnung stattgefunden haben und der parlamentarische Ablauf – der Austausch von Argumenten, der Diskurs, diese Freiheit des politischen Diskurses – beschränkt, bedrängt und nicht mehr möglich gemacht wurde. Das müssen wir jetzt regeln. Um Strafverschärfungen geht es gar nicht. Es geht übrigens um Ordnungswidrigkeiten; das ist juristisch sowieso ganz was anderes. Von daher: Ich verstehe, dass Sie sich jetzt hier winden. Ich hätte mich aber über Ihre Zustimmung gefreut, insbesondere nach dem, was im November passiert ist, was, glaube ich, noch eine deutliche Stufe drastischer gewesen ist, als wir in allen vorherigen Legislaturperioden erlebt haben. Entschuldigung, Herr Straetmanns, dass ich bei der Antwort an Sie ganz kurz noch auf das Zeichen von Frau von Storch eingehe: Da, als ich erzählte, was hier passiert ist, zu gähnen – das haben Sie gerade gemacht –, ist nicht okay. ({2}) Sie sollten sich hier angesichts der Würde dieses Hauses, die wir hier gerade schützen wollen, nicht so despektierlich verhalten. ({3}) Sie verhalten sich so, als wäre Ihnen dieses Haus nichts wert. Und wenn ich dem Kollegen Straetmanns gerade etwas sage, dann könnten auch Sie zuhören; das ist nicht schlimm, Frau Kollegin. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ihre Antwort ist gegeben – guten Abend! –, jetzt reden Sie mal weiter, Herr Sensburg.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Präsidentin. Ich wusste gar nicht, dass ich so lange geredet habe, dass schon die Präsidentin gewechselt hat. Ich habe aber noch zwei Minuten. ({0}) Ich möchte auch hervorheben, dass dieses Gesetz gut formuliert ist. Diesen unbestimmten Rechtsbegriff „nicht nur geringfügig“ ist sehr bekannt und wird von vielen Gesetzen genutzt. Er wird durch Gerichte ausgelegt. Wir haben eine klare Regelung zum Ordnungsgeld, und es besteht auch die Notwendigkeit, diese Regelung zu treffen. Ich freue mich, dass eine breite Mehrheit hier gesagt hat: Wir brauchen Wehrhaftigkeit, wir brauchen ein Parlament der Argumente, kein Parlament des Bedrängens, damit das freie Wort, das die Demokratie ausmacht, nicht durch das Hereinlassen entsprechender Personen oder andere Aktionen beschädigt werden kann. Ich freue mich, dass eine breite Mehrheit dieses Gesetz unterstützt. Dazu, dass Sie dann auch noch auf der anderen Seite sagen, das sei gar nicht genug an Ordnungsgeld, muss ich abschließend sagen: Wir können es ganz einfach machen: Verhalten Sie sich demokratisch wie Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Dann brauchen wir darüber gar nicht lange zu reden. Stimmen Sie doch einfach zu! Danke schön. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Sensburg. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier ist ja was los! – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dirk Wiese. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag führen, die wir auch in der letzten Legislaturperiode geführt haben – auch davor, auch mit Verweisen auf Herbert Wehner aus früheren Zeiten –, waren hart in der Sache, sie waren teilweise auch heftig; aber sie waren trotz aller Streitigkeiten, die es durchaus am Rednerpult bei den unterschiedlichsten Argumenten gegeben hat – Frau Haßelmann, wir beide streiten uns auch manchmal, weil Sie vergessen, dass Sie in elf Landesregierungen mit regieren –, ({0}) von Respekt und Anerkennung geprägt. Es zeugt auch von Respekt, anzuerkennen, wenn jemand in der Auseinandersetzung ein besseres Argument hat und man bei der einen oder anderen Debatte vielleicht auch mal das Nachsehen hat. Das ist ein Umgang unter Demokraten, die wissen, was es bedeutet, Mitglied dieses Parlamentes, des Deutschen Bundestages, zu sein. Aber das, was wir erlebt haben – die bekannten Daten sind genannt worden –, war ein Angriff auf die parlamentarische Demokratie. Das war ein Angriff auf die Funktionsfähigkeit dieses Parlaments. Und wer nicht mehr das Argument gelten lässt, nicht mehr den Streit am Rednerpult gelten lässt, sondern wer zulässt und dafür verantwortlich ist, dass Abgeordnete auf dem Weg in den Plenarsaal zu einer Debatte, zu einer Abstimmung eingeschüchtert, bedrängt werden, in ihren eigenen Büros aufgesucht werden, der steht nicht mehr auf dem Boden der Demokratie. Das gilt für Ihre Fraktion, und das haben Mitglieder Ihrer Fraktion gezeigt. ({1}) Seit gestern wissen wir auch, dass Sie ein Verdachtsfall sind. Sie sind ein Verdachtsfall, weil Sie offen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung dieses Landes, gegen den Konsens dessen, was in unserem Grundgesetz niedergeschrieben steht, agieren. Sie können sich nicht mehr hinter einer Fassade verstecken. Nein, Sie sind – das hat sich jetzt an vielen Stellen offen gezeigt – der Wolf im Schafspelz; das tritt immer deutlicher hervor. Dagegen müssen wir antreten, weil aus Worten Taten werden können. Wir haben leider im letzten Jahr gesehen, was Hass und Hetze bewirken können, was diese Verschiebung des Diskurses auch letztendlich bewirken kann. Darum ist es so wichtig, dass diese Demokratie wehrhaft ist, dass wir neben dieser heutigen wichtigen Gesetzesänderung auch bei einem wehrhaften Demokratiegesetz vorankommen, dass wir auch ein klares Zeichen setzen gegen die Anfänge, dass wir gegen Hass und Hetze im Netz vorgehen. Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende. Und ich plädiere trotz aller Vorkommnisse auch dafür, dass wir gemeinsam weiter dafür streiten, dass dieser Deutsche Bundestag ein offener Ort bleibt, dass er sich nicht abschottet mit Mauern, mit Zäunen, wie wir es am Kapitol sehen. ({2}) Wenn ich Frau von Storch in erster Reihe als Vorsitzende des Donald-Trump-Fanclubs sehe, dann muss ich klar sagen: Ich möchte ein offenes Parlament, und ich möchte nicht solche Bilder sehen, wie wir sie im Kapitol gesehen haben. Das wäre der falsche Weg. Nach allem, was ich ausgeführt habe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, sollten Sie noch mal Ihr Abstimmungsverhalten überlegen und über Ihren Schatten springen. Ich glaube, es wäre ein Zeichen, wenn auch Sie heute Abend hier zustimmen würden. Herr Straetmanns, ich weiß, dass Sie und vielleicht der eine oder andere Kollege gerne zustimmen würden. Überlegen Sie noch mal, denken Sie nach. Es wäre ein Zeichen für unsere Demokratie, wenn wir das gemeinsam heute Abend auf den Weg bringen würden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dirk Wiese. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorkommnisse waren ein neuer Tiefpunkt in unserer parlamentarischen Geschichte, in dieser Legislatur; ich hoffe, einer der letzten, zumindest in absehbarer Zeit. Es war aber auch erwartbar. Verletzungen von Regeln als Vorsatz folgen immer demselben Ablauf: zuerst der Tabubruch, dann Aufrufe, Abgeordnete mal richtig zu bedrängen und einzuschüchtern, hinterher die Verkleinerung, das Verniedlichen, die halbseidene Entschuldigung. Es ist immer derselbe Ablauf. Wir werden mit Appellen an die Würde dieses Hauses, die Würde des Souveräns und derjenigen, die in freier Wahl gewählt wurden, nichts ausrichten. ({0}) Wenn doch die Absicht genau darin besteht, diese Würde dem Parlament nicht zukommen zu lassen, weil man damit die Demokratie unterminieren will, sind unsere Appelle wohl etwas fehlgeleitet. Letztendlich muss man schon deutlich sagen: Dieser Angriff auf den Einzelnen unter uns ist ein Angriff auf das ganze Haus, ein Angriff auf die freie Rede, auf das freie Mandat. Auf diesem Boden haben Menschen ihr Leben gelassen, um dieses freie Mandat, die freie Rede, den freien Staat zu verteidigen. ({1}) Das in Abrede zu stellen, ist das eigentliche Drama. Deshalb sage ich: Mit Appellen kommt man, glaube ich, nicht weiter. Wo der Verstand aufhört und die Vernunft nicht ausreicht, helfen nur Sanktionen. ({2}) In die andere Richtung gefragt: Ehrlich, das soll Ihre Argumentation sein, der unbestimmte Rechtsbegriff? – Wie hilflos ist das! Egal welche Seite dieses Hauses: Ich bin mir sicher, Sie werden durch Einzelfälle schon dafür sorgen, dass die Juristerei in diesem Land genug Möglichkeiten hat, diese unbestimmten Rechtsbegriffe auszufüllen. Darüber mache ich mir keinerlei Sorgen, glauben Sie mir. ({3}) Wehrhafte Demokratie setzt voraus, dass sie gerade in Tiefpunkten standhaft ist, dass sie irgendwann entsprechende Maßnahmen, von denen man nie gedacht hätte, dass man sie einmal braucht, auch hervorholt, um die Zielrichtung deutlich zu machen. Darum geht es am Ende des Tages. Es geht nicht nur darum, zu sagen: „Wir müssen dieses Haus verteidigen“; vielmehr müssen wir deutlich sagen: Hier steht mehr auf dem Spiel als die Frage des unbeeinträchtigten Gelangens von A nach B im Parlament. Hier geht es darum, dass wir deutlich machen, dass das Mandat frei ist, die Rede und der Streit auch. Deshalb müssen wir uns entsprechend schützen. Überlegt es euch noch mal. Stimmt besser zu! Vielen Dank. ({4})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand, der jedenfalls demokratisch auf festem Boden steht, will, dass Extremisten im Besitz von Waffen sind oder in den Besitz von Waffen kommen. Das wollen erst recht nicht die vielen Vereine und Verbände, die im Bereich des Schießsportes unterwegs sind. Ich habe jetzt auch einige Gespräche mit diesen geführt, weil ich finde, dass es sich gehört, mit Betroffenen und Beteiligten aller Seiten zu sprechen. Es ist schon beeindruckend, wie viele Gedanken man sich auch da macht, wie man Extremisten von den eigenen Reihen fernhalten kann. Es geht nicht nur um den Nachweis von Übungsstunden, sondern man guckt sich auch sehr genau an, wer da kommt. Natürlich ist es eine Aussage, die stimmt, wenn man sagt: Wir haben in Deutschland vielleicht das schärfste Waffenrecht weltweit. – Aber es macht natürlich nachdenklich – das ist richtig –, wenn wir sehen, dass es in Fällen wie zum Beispiel Hanau immer wieder Unstimmigkeiten und hier und da auch Behördenversagen gibt. Deswegen war es richtig, das Waffenrecht noch mal auf den Prüfstand zu stellen. So haben wir mit dem Dritten Waffenrechtsänderungsgesetz verschiedene Nachjustierungen vorgenommen. Ich nenne beispielsweise die Pflicht zum Erscheinen, wenn die Behörde der Meinung ist, dass es Zweifel an der Zuverlässigkeit, an der Eignung gibt, oder auch den Bedürfnisnachweis, den wir nachjustiert haben. Wir wollen gerade nicht, dass sich ein psychisch Kranker aus dem Trainingsbetrieb zurückzieht und sich mit seinen Waffen zu Hause einigelt. Das Ganze ist im letzten Jahr wirksam geworden, scharfgestellt worden, und die letzten Regelungen des Dritten Waffenrechtsänderungsgesetzes sind erst im September wirksam geworden, inklusive des NWR II, sozusagen der Fortschreibung des Nationalen Waffenregisters. Und trotz der Tatsache, dass wir gerade erst mit dem neuen Recht arbeiten, haben die Grünen hier nicht die Evaluierung abgewartet, um zu sehen, ob das neue Gesetz wirkt, sondern man treibt eine ziemlich bekannte Wahlkampfsau durchs Dorf ({0}) und begleitet das mit einer Kleinen Anfrage, die auch nicht gerade so wirkt, als hätte man sich mit der Materie des deutschen, recht scharfen Waffenrechtes intensiver auseinandergesetzt. ({1}) Da geht es beispielsweise um Fragen des NWR und der Speicherung von Qualifizierungen mit Blick auf Waffenverbote, die da gar nicht hingehören und sich erübrigen. Aber meine Lieblingsfrage dieser Kleinen Anfrage ist, wie viele Schussabgaben es im Jahre 2020 gegeben habe und in wie vielen Fällen davon die Waffe geladen gewesen sei. ({2}) Wie man mit einer nicht geladenen Waffe eine Schussabgabe vornehmen möchte, bleibt das Geheimnis der Grünen. ({3}) Ich finde es schade, dass das BMI, das sich um die Sicherheit in diesem Bereich intensiv kümmert, sich auch mit solchen Fragen auseinandersetzen muss. ({4}) Aber auch faktenfreie und hier und da mit den Gegebenheiten des deutschen Waffenrechts vielleicht nicht ganz vertraute Vorstöße können ja zum Erkenntnisgewinn beitragen. Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, dann hätten Sie sich die Beratungen in Brüssel zur Feuerwaffenrichtlinie angeschaut, und dann hätten Sie mitbekommen, dass die Frage einer psychischen Eignungsprüfung damals gestellt worden ist. Diese ist vom österreichischen Sachverständigen der Kommission abgelehnt worden, weil man sagt: Eine psychische Überprüfung kann immer nur eine Momentaufnahme sein, die keine Sicherheit bietet. Ich habe Ihren Vorstoß aber trotzdem zum Anlass genommen, mal mit Forensikern zu sprechen, mit gerichtlichen Gutachtern, die genau das machen, die anlassbezogen psychologische Eignungsgutachten erstellen. Und sie sagen mir genau das: Wir können nicht sagen, wie sich die Geisteshaltung beispielsweise eines Sportschützen in Zukunft entwickelt, ({5}) wir haben keine Sicherheit. – Was sie auch sagen, ist: Es gibt keine Paralleltests. – Es ist wie eine MPU beim Führerschein: Wenn man sie dreimal macht, kennt man die Fragen. Ein Test bietet also keine Gewähr dafür, dass der Proband wirklich nicht psychisch auffällig ist, weil er einfach die Fragen kennt. Deswegen gibt es nur eine Lösung, hier zu Verbesserungen und auch zu mehr Sicherheit zu kommen: Das ist die Verbesserung der Kommunikation der Behörden untereinander. ({6}) Da darf ich feststellen, dass Sie von den Grünen hier häufig der Behördenkommunikation, gerade was Sicherheitsbehörden angeht, sehr im Weg stehen und manchmal ein überzogenes Datenschutzverständnis an den Tag legen. ({7}) Ich glaube, da machen wir es doch besser so wie das BMI, das auf der Innenministerkonferenz konkrete Vorschläge vorlegt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an die Redezeit.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das schafft mehr Sicherheit und nicht Misstrauen gegenüber Sportschützen, ({0}) die statistisch völlig unauffällig sind. Wir schaffen Sicherheit, Sie schaffen Unsicherheit – das unterscheidet uns. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir damit ab. Danke. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich einfach noch mal darauf hinweisen: Wenn es da vorne blinkt – schauen Sie, da steht „Präsident“; das müssten wir jetzt mal gendern, ganz zur Freude von Herrn Brandner –, dann heißt das, dass die Redezeit deutlich zu Ende ist. ({0}) Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Hess. ({1})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Die Grünen thematisieren in ihrem Antrag die persönliche Eignung von Waffenbesitzern. Natürlich ist auch unsere Fraktion dafür, gefährlichen Psychopathen wie dem Amokläufer von Hanau eine Waffenerlaubnis sofort zu entziehen. Aber gerade das Verbrechen von Hanau hat doch gezeigt, dass das Hauptproblem massive Defizite beim Austausch relevanter Informationen zwischen den Behörden ist. Hanau hätte verhindert werden können, wenn der Generalbundesanwalt die zuständige Waffenbehörde vom wirren Pamphlet des Tobias R. in Kenntnis gesetzt hätte. Deshalb brauchen wir einen besseren Informationsaustausch zwischen den Behörden, wenn es um offensichtlich psychisch gestörte Personen geht. Aber was wir sicher nicht brauchen, ist eine weitere Verschärfung des Waffenrechts. ({0}) Aber den Grünen geht es doch auch gar nicht um die persönliche Eignung und Zuverlässigkeit von Sportschützen. Ihnen geht es doch darum, unseren Schützen den persönlichen Waffenbesitz ganz und gar zu verbieten. Dieses Ziel sprechen Sie in Ihrem Grundsatzprogramm ganz offen und klar aus. Da steht: Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Dies ernst zu nehmen bedeutet ein Ende des privaten Besitzes von tödlichen Schusswaffen … Liebe Grüne, auch ein Luftgewehr kann bei falscher Handhabung tödlich wirken. Und das belegt eindeutig: Sie führen einen Krieg gegen Jäger und Sportschützen, und vor allem wollen Sie die jahrhundertealte Sportschützentradition in unserem Land zerstören. ({1}) Hören Sie auf mit Ihren irrwitzigen Verbotsfantasien. Die AfD wird niemals zulassen, dass Sie Millionen Menschen das Hobby wegnehmen. Aber bei diesen Ausführungen haben Sie in einem Punkt recht: Das Gewaltmonopol liegt zweifelsfrei beim Staat, und zwar nur beim Staat. Das sollten Sie dann aber auch Ihrem Berliner Vorstandsmitglied Jeff Klein mitteilen, der in einer Rede bei einer Demonstration am 31. Mai 2020 folgende Aussage tätigte: … es ist wichtig, dass wir uns nicht auf den Staat verlassen, sondern verbindliche und robuste Community-Strukturen aufbauen, um nicht mehr die Polizei rufen zu müssen, wenn wir Hilfe brauchen. Denn starke Communitys brauchen keine Polizei, denn die Polizei ist nicht für uns da, sie ist für die Gewalt in unserem Leben verantwortlich. ({2}) Dass diese Person immer noch Mitglied Ihrer Partei ist und sogar ein Vorstandsamt bekleidet, ist ein Skandal. ({3}) Sie haben sich bis heute nicht klar und eindeutig von dieser staatsfeindlichen Aussage distanziert. Also tun Sie hier nicht so, als würden Sie das staatliche Gewaltmonopol verteidigen. Sie unterstellen unseren Polizisten pauschal Rassismus, stellen sie unter Generalverdacht und geben sie den Angriffen durch Linksextremisten preis. Sie unterstützen staatsfeindliche Extremisten der Antifa, führen aber einen Kreuzzug gegen gesetzestreue Legalwaffenbesitzer und gegen die bürgerliche Mitte. So wie Sie den Familien das Einfamilienhaus verbieten wollen, so wollen Sie jetzt den Sportschützen das Kleinkalibergewehr wegnehmen. Sie sind und bleiben eine Verbotspartei, und wer die Freiheit liebt, der darf den Grünen niemals seine Stimme geben. ({4}) Noch ein Wort zur FDP: Sie sind in Ihrem Antrag zwar gegen die Regelabfrage bei den Verfassungsschutzbehörden, Sie fordern aber eine proaktive Beteiligung des Verfassungsschutzes. ({5}) Da fragt man sich zwangsläufig: Wie soll diese denn aussehen? Wollen Sie auch in diesem Bereich den Verfassungsschutz instrumentalisieren? Wollen auch Sie, dass wer konservative oder bürgerliche Meinungen äußert, künftig um seine Waffenbesitzkarte fürchten muss? Vieles spricht zumindest dafür; denn auch Ihre Partei diffamiert alles als Hass und Hetze, was dem Mainstream und der links-grünen Political Correctness widerspricht. Deshalb können wir auch Ihrem Antrag nicht zustimmen. ({6}) Die AfD-Fraktion tritt dafür ein, den Informationsaustausch zwischen den Behörden zu verbessern, gerade auch was gewaltbereite Extremisten angeht. Aber wir verteidigen gesetzestreue Legalwaffenbesitzer gegen jede weitere Verschärfung des Waffenrechts. Hände weg von unseren Jägern und Sportschützen! ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hess, nicht nur ein Luftgewehr kann bei einem Einsatz tödlich wirken, auch jeder rassistische, rechtsextremistische Satz in diesem Parlament kann im Endeffekt tödlich wirken; das nur als Hinweis meinerseits an Sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist wichtig, dass wir jenseits ideologischer Grundsatzdiskussionen über das Waffenrecht reden. Angesichts der heute vorliegenden Anträge, über die wir diskutieren, möchte ich feststellen: Hanau ist der Maßstab, und das meine ich sehr ernst. Das meine ich umso ernster, nachdem ich heute eineinhalb Stunden mit Armin Kurtovic, dem Vater eines der Opfer von Hanau, gesprochen habe. Er stellt wichtige Fragen, denen wir nicht ausweichen können. Er fragt, was gewesen wäre, wenn es nach entsprechender Abschaffung bzw. Veränderung der Verwaltungsvorschrift 2012 doch noch möglich gewesen wäre, dass in Hessen das Gesundheitsamt eine Stellungnahme zum Täter abgibt. Er fragt zu Recht, wie es sein kann, dass angesichts von Ermittlungen zur nachgewiesenen Einfuhr von Betäubungsmitteln – auf Deutsch: Drogenhandel, Drogeneinfuhr – der Täter trotzdem eine weitere Waffenbesitzkarte erhielt. Er fragt zu Recht, wie es sein kann, dass die hessische Waffenbehörde nicht die Münchener Behörden über die Situation des Täters informierte. Er fragt zu Recht, wie es sein kann, dass der Täter in der Slowakei Schützentrainingseinheiten absolvierte. Und er fragt zu Recht, wie es sein kann, dass dieser Täter waffenrechtliche Erlaubnisse hatte, obgleich er doch, wie sein Vater, mehrfach durch eindeutige Schreiben an die Generalbundesanwaltschaft und an mehrere Polizeistellen auffiel. Diesen Fragen können wir nicht ausweichen. Über sie müssen wir sprechen, wenn wir heute über Waffenrecht reden. Ich sage das als jemand, der sich bei den Verhandlungen zum Waffenrecht bewusst für pragmatische Lösungen eingesetzt hat, der sich dafür eingesetzt hat, dass wir bei der Bedürfnisprüfung den Sportschützinnen und Sportschützen im Sinne einer Alltagstauglichkeit entgegenkommen. Ich sage an dieser Stelle klar: Nach Hanau reicht es nicht mehr, nur deutlich zu machen, dass wir Schützinnen und Schützen nicht unter Generalverdacht stellen wollen; das will, glaube ich, niemand hier. Aber die Frage, die sich uns stellen muss, ist: Ist es der Fall, dass der Vater eines Opfers hier dieselbe Lobby hat wie diejenigen, die Schießsport ausüben? Die Antwort lautet Nein. Wenn von künftigen Generationen gefragt wird: „Haben wir im Vorfeld der Tat insgesamt genug getan, um einen solchen Massenmord zu verhindern?“, dann muss die Antwort lauten: Nein. Wenn von künftigen Generationen gefragt wird: „Haben wir im unmittelbaren Umfeld direkt nach der Tat insgesamt als Gesellschaft, wir alle, genügend getan, um diese Tat aufzuarbeiten?“, dann lautet die Antwort Nein. Wir werden uns auch die Frage gefallen lassen müssen, ob wir in Zukunft, in den nächsten Monaten und Jahren, bei einer kritischen Gesamtüberprüfung des Waffenrechts und vieler anderer Fragen genügend tun. Wenn wir das nicht tun, dann muss die Antwort auch Nein lauten. Ich erinnere an dieser Stelle daran, was der Kreistag des Main-Kinzig-Kreises getan hat; übrigens alle demokratischen Fraktionen: CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke, Freie Wähler. Sie haben – man muss diese Einschätzung nicht teilen, aber man muss sich mit ihr auseinandersetzen – unter dem Eindruck des Geschehens uns aufgefordert, das Waffenrecht genau zu prüfen – nicht aktionistisch, aber es geht um eine genaue Prüfung –, und zwar hinsichtlich Bedürfnis, der Stellungnahme der Gesundheitsämter, der Organisation von Information, der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit, hinsichtlich all dieser Dinge. Dazu müssen wir uns verhalten. Wir können nicht ausweichen. Die Grünen haben aus meiner Sicht einen gegenüber der Regierungskoalition extrem fairen Antrag vorgelegt, fast schon staatstragend, regierungstragend, mit ganz vorsichtigen Andeutungen in Richtung einer regelhaften psychologischen Überprüfung. Die FDP hat eine Position formuliert, die ich in Bezug auf die Erfolgsgeschichte des deutschen Waffenrechtes nicht so euphorisch beurteilen würde. Sie fragt danach, ob wir illegale und legale Waffen hinreichend erfassen, und beantwortet das zu Recht mit Nein. ({0}) Neben dem Aspekt der Illegalität und der psychologischen Eignung spricht sie die Organisation von Informationen an. Das ist absolut richtig. Eine Antwort, die ich darauf geben wollen würde – das wäre ein Vorschlag, damit umzugehen –, ist eine andere: Warum schaffen wir es nicht für den Fall, dass diverse Behörden von evident psychisch auffälligen Tätern, von Tätern, die verschwörungstheoretisch und rechtsextremistisch auffallend sind, Kenntnis haben, ein Instrument zu entwickeln, wodurch bekannt wird, ob diese Personen über waffenrechtliche Erlaubnisse verfügen? Ein Weg, der pragmatisch, datensparsam, grundrechtsschonend und vor allem bürokratiearm und praktikabel ist, wäre folgender: Wenn solche Schreiben verschiedene Behörden erreichen, dann informieren wir über diesen Umstand einfach das Nationale Waffenregister beim Bundesverwaltungsamt, das natürlich mit den entsprechenden personellen Kräften ausgestattet ist. Dann prüft das Bundesverwaltungsamt: Liegt eine waffenrechtliche Erlaubnis vor, ja oder nein? Und wenn das der Fall ist – das ist eine einfache binäre Frage –, dann geht die Information an die Waffenbehörde, und die leitet entsprechende Maßnahmen ein. Das wäre ein praktikabler Weg, gerade um uns nicht vorwerfen zu lassen, dass wir bei psychisch auffälligen, aber auch bei rechtsextremistisch auffälligen Personen nicht genug getan haben. Das wäre auch eine Entlastung der Waffenbehörden, denen wir all diese Untersuchungen nicht aufbürden können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Letztes noch – wenn Sie mir erlauben, das zu sagen –, weil wir mit unserer Gesetzgebung oft Forderungen an die Waffenbehörden stellen: Wir müssen auch dem Umstand Genüge tun, dass in der Realität oft nicht ausreichend Personal vorhanden ist oder dass die Stellen oft nur Teilzeitstellen sind. Wenn wir hier groß über die Möglichkeiten des Waffenrechts debattieren, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regeln auch tatsächlich vor Ort in der Kommune umgesetzt werden können, sonst sind wir nämlich scheinheilig. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute Abend über das deutsche Waffenrecht, und wir tun das anlässlich des Anschlags in Hanau im vergangenen Jahr. Ich glaube, es ist ganz wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal herauszustellen: Schusswaffen haben in den Händen von Menschen mit psychischer Erkrankung nichts zu suchen, und Schusswaffen haben in den Händen von Rechtsextremisten, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung überwinden wollen, nichts zu suchen. ({0}) Und wir müssen besser darin werden, diese Grundsätze durchzusetzen. Jetzt ist aber die Frage: Ist der Antrag der Grünen ein Beitrag dazu, diese Grundsätze durchzusetzen? Ich befürchte, das ist nicht der Fall. Denn wenn wir heute ins Waffenrecht hineinschauen, dann stellen wir fest: Es ist schon jetzt so, dass Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, nicht die persönliche Eignung mitbringen, um Besitzer von Schusswaffen zu sein. – Wir müssen endlich beim Austausch der Informationen, die die Behörden haben, besser werden, damit das Recht auch durchgesetzt werden kann. Ich fühle mich bei dieser Frage so ein bisschen daran erinnert, wie die Union, wie die Konservativen normalerweise nach Straftaten, nach Terroranschlägen vorgehen: Da wird zuerst eine Verschärfung des Rechts gefordert, und erst dann kümmert man sich um die Durchsetzung des bestehenden Rechts. Umgekehrt wäre es besser: erst das bestehende Recht durchsetzen und dann über eine Verschärfung diskutieren. Das ist der richtige Weg, den wir Ihnen heute in einem begleitenden Antrag vorschlagen wollen, meine Damen und Herren. ({1}) Übrigens ist das auch bei anderen Gruppen so. Das ist auch bei Rechtsextremisten so, lieber Kollege Henrichmann. Nachdem die Große Koalition die Regelabfrage beim Verfassungsschutz eingeführt hat, ist die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten mit Waffen in Deutschland sogar noch gestiegen. Der Informationsaustausch zwischen den Behörden funktioniert nicht. Das ist eine Frage der Durchsetzung und der Umsetzung und keine Frage eines strengeren Waffenrechts. ({2}) Deswegen sollten wir hier dringend daran arbeiten, dass die Kommunikation zwischen den Behörden besser wird. Der Vorschlag, dass der Verfassungsschutz proaktiv auf die Waffenbehörden zugeht, der ist in der Anhörung zur letzten Waffenrechtsnovelle im Deutschen Bundestag gemacht worden. Das war ein hervorragender Vorschlag. Den Weg sollten wir gehen. Dieser Antrag der Grünen zeigt leider noch eine andere Tendenz. Das ist die Tendenz, das Problem bei den Besitzerinnen und Besitzern von Legalwaffen zu sehen und nicht beim illegalen Waffenbesitz. Wir können auf die letzten Jahre zurückblicken: Ob das die Anschläge in Frankreich 2015 sind, ob das der Anschlag in Wien 2020 ist, ob das der rechtsextreme Waffenhändlerring mit Verbindung bis in die AfD ist, auch im Jahr 2020: Immer wieder sind es illegale Waffen vom Balkan, die den Weg zu uns finden. Deswegen muss die Bundesregierung bei der Bekämpfung des illegalen Waffenhandels besser werden. Und wir dürfen Sportschützen und Jäger nicht weiter gängeln und hier eine Verschärfung vornehmen, die nichts, aber auch gar nichts mit der reellen Sicherheitssituation in Deutschland zu tun hat. ({3}) Es wäre ehrlicher gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie hätten Ihre Haltung aus dem Grundsatzprogramm hier zur Abstimmung gestellt. Die Grünen wollen ja den privaten Waffenbesitz in Deutschland weitgehend verbieten. So haben Sie es in Ihrem Grundsatzprogramm beschlossen. Das hat nichts mit einer Verbesserung der Sicherheitslage in Deutschland zu tun, sondern mit Ihrer ideologischen Ablehnung von Sportschützen und Jägern. Darüber können wir hier gerne diskutieren. Dann werden wir dagegenstimmen. Aber mit dieser Haltung hier eine Debatte vom Zaun zu brechen, die mit der konkreten Situation nichts zu tun hat, das hat mit einer evidenzbasierten Waffenpolitik nichts zu tun. Dafür stehen die Freien Demokraten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Konstantin Kuhle. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Martina Renner. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir als Linke bleiben dabei: Öffentliche Sicherheit bedeutet weniger Waffen und strikte Regeln. Die vorgelegten Anträge fordern einen kritischen Blick auf das Waffenrecht und dessen Durchsetzung. Da gehen wir mit. Aber wir sagen auch: Wir sehen das Problem weniger in fehlenden Normen als vielmehr in einem inkonsequenten Vollzug des geltenden Waffenrechts. Um es noch mal deutlicher zu sagen: Weder der am Mord von Walter Lübcke beteiligte Neonazi Markus Hartmann noch der Attentäter von Hanau hätten jemals eine waffenrechtliche Erlaubnis haben dürfen. ({0}) Denn § 5 – Zuverlässigkeit – und § 6 – Persönliche Eignung – des Waffengesetzes sagen deutlich: Personen, bei denen berechtigte Annahmen bestehen, dass sie Waffen und Munition missbräuchlich oder leichtfertig verwenden, bekommen keine Erlaubnis. Also, um wen geht es in den beiden Fällen? Ein verurteilter Neonazi und ein von Rassismus und Antisemitismus Getriebener mit Wahn- und Vernichtungsvorstellungen hätten niemals legal Waffen besitzen dürfen. ({1}) Jetzt fragen vielleicht einige: Woher hätten das die Ämter wissen können? Ich sage: Das ist ganz einfach; beide Täter waren den Behörden bekannt und agierten öffentlich. Deswegen bin ich überzeugt: Wir müssen einen anderen Blick auf die Problematik werfen. Auffälliges Verhalten macht sich meiner Meinung nach auch im Vereinsleben deutlich. Wer ist eigentlich aus sportlichen Gründen dort und wer eben nicht? Wenn jemand zum Schießen mit Sturmgewehren nach Tschechien oder in die Slowakei fährt, wenn jemand dynamisches Schießen übt, wenn jemand einen Schalldämpfer beschafft, dann müssen doch die Alarmglocken läuten. ({2}) Hier müssen die Ämter mit den Vereinen und umgekehrt die Vereine mit den Ämtern viel besser kooperieren. ({3}) Das beste Gesetz nützt nichts – damit will ich ein weiteres Problem ansprechen –, wenn Vereine oder Institutionen wie zum Beispiel der Reservistenverband Personen das Bedürfnis, eine Waffe zu besitzen, bescheinigen, die offensiv gegen Minderheiten oder die Demokratie hetzen. Auch hier, bei der Bedürfniserteilung, muss sich etwas ändern. Dazu kommt noch ein weiteres Problem: Auch in den Waffenbehörden sitzen Mitarbeiter, die rechte Akteure schützen. Ich nenne die Stichworte „Nordkreuz“ und „Gruppe S.“ – der Mitarbeiter der Waffenbehörde in Ludwigslust und der Mitarbeiter der Polizei in Hamm –; Sie wissen, auf was ich abstelle. Nicht zuletzt hoffe ich, dass die Verbände mehr Verantwortung übernehmen. Ich will ein positives Beispiel nennen: So eine Initiative wie die der Hotels und der Gaststätten – sie haben die Nazis vor die Tür gesetzt –, so eine Initiative brauchen wir auch von den Jagdverbänden und den Schützenvereinen. ({4}) Wir brauchen gute Gesetze, richtig. Aber wir brauchen noch viel mehr Menschen, die sich in ihrem Alltag dort gerademachen, wo es nötig ist. Und diese Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass geltendes Recht auch durchgesetzt wird. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Martina Renner. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Vor knapp zwei Wochen haben wir der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau gedacht. Zehn Menschen wurden erschossen, und das mit Waffen, die der Attentäter legal besaß. Oder denken wir noch mal an den sechsfachen Mord von Rot am See, wenige Wochen vor dem Anschlag in Hanau. Und trotzdem war die Bundesregierung bei der letzten Waffenrechtsnovelle, kurz nach diesen Ereignissen, nicht bereit, das Waffenrecht an entscheidender Stelle nachzuschärfen. Der Hinweis auf den Vollzug ist richtig, Martina Renner. Auch im Vollzug des bestehenden Waffenrechts muss sich noch eine ganze Menge verbessern; da sind wir uns völlig einig. Aber wir müssen doch auch die Sicherheitslücken, die sich im Waffenrecht immer noch auftun, endlich konsequent schließen, meine Damen und Herren. ({0}) Dabei ist völlig klar: Die allermeisten Legalwaffenbesitzer sind sehr verantwortungsbewusst. Das stellt hier auch niemand infrage. Aber die wenigen, die es nicht sind, sind ein Problem. Selbstverständlich kann man niemandem in den Kopf gucken; aber wir müssen doch alles tun, um die persönliche Eignung von Waffenbesitzern umfassender und häufiger zu prüfen. Der Mörder von Rot am See hat seine Tat sehr, sehr lange geplant. Er ist einem Schützenverein beigetreten, um an eine Waffe zu kommen, nicht um Sport zu treiben. Bei ihm wurde später, nach der Tat, eine schizoide Persönlichkeitsstörung festgestellt. Diese hätte man womöglich bei einer wiederholten Eignungsprüfung feststellen können. Noch eklatanter ist es beim Attentäter von Hanau gewesen. Obwohl polizeiliche Erkenntnisse vorlagen und obwohl er psychisch auffällig war, bekam er eine waffenrechtliche Erlaubnis, und zwar auch – davon bin ich überzeugt –, weil er aufgrund seines Alters eben kein psychologisches Gutachten brauchte; denn aktuell müssen nach § 6 Absatz 3 Waffengesetz nur Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, einmalig ein fachpsychologisches Zeugnis vorlegen. Wir sagen: Das ist eindeutig zu wenig. ({1}) Wir wollen, dass alle, die eine waffenrechtliche Erlaubnis anstreben, ihre psychische Eignung nachweisen müssen, egal ob sie 18 oder 75 Jahre alt sind. Das kann doch nicht vom Alter abhängen! Solche Eignungsprüfungen müssen häufiger wiederholt werden, um Veränderungen rechtzeitig feststellen zu können. Unser Anspruch muss es doch sein, Personen, die eindeutig nicht geeignet sind, Waffen zu besitzen, besser zu erkennen. ({2}) Kurz nach dem Anschlag von Hanau hat der Bundesinnenminister sich übrigens auch für regelmäßige psychologische Überprüfungen ausgesprochen. So kennt man es aber leider von Horst Seehofer, und das ist schon ein bisschen ein Stilmittel: gerade nach solchen Ereignissen erst wortreich das Richtige fordern, um es danach aktiv wieder zu vergessen. Gegen dieses aktive Vergessen legen wir ihm heute unseren Antrag vor; denn wir haben seitdem nichts Konkretes mehr von ihm gehört. Als wir unseren Antrag im Innenausschuss beraten haben, war ich übrigens positiv überrascht, dass auch die Bundesregierung in Aussicht gestellt bzw. angekündigt hat, das Ganze vielleicht doch noch mal prüfen zu wollen, und so etwas wie eine Bereitschaft signalisiert hat, bei der persönlichen Eignung vielleicht doch noch mal gesetzlich nachzuschärfen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn es Ihnen damit ernst ist und wenn Sie wirklich dazu bereit sind, dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, das hier auch zu zeigen. Deswegen bitte ich Sie herzlich, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Christoph Bernstiel. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier zur späten Stunde einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die gerne das Waffenrecht weiter verschärfen möchte. ({0}) Anlass ist der dramatische Anschlag in Hanau. Wir alle sind uns, glaube ich, darüber einig, dass niemand von uns Waffen in Händen von Extremisten oder psychisch Kranken wissen möchte. ({1}) Da ist Konsens. Aber wir müssen aufpassen, dass wir Maß und Mitte halten. ({2}) Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert jedes Jahr ungefähr 5,4 Millionen Straftaten. Davon machen gerade mal 0,2 Prozent Straftaten mit Schusswaffen aus. Es ist nicht mal ein halbes Jahr her – das hat mein Kollege Henrichmann schon erwähnt –, dass wir das Waffenrecht im Rahmen der Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie in nationales Recht verschärft haben. Ich finde, Deutschland hat an manchen Stellen sogar zu stark verschärft. ({3}) Tatsache ist, dass wir in Deutschland bereits das schärfste und restriktivste Waffenrecht der Welt haben. ({4}) Es ist auch nicht so, dass die Bundesregierung und die einzelnen Landesbehörden untätig wären, wenn es darum geht, Extremisten oder Reichsbürgern die waffenrechtliche Erlaubnis zu entziehen. Seit 2016 wurden bereits 790 waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Wir sind in diesem Bereich tätig. Auch die psychologische Überprüfung war bereits Teil der neuen Waffenrechtsnovelle. Das schreiben Sie selber in Ihrem Antrag. Dennoch möchten die Grünen heute das Waffenrecht verschärfen. Ich finde das bemerkenswert, und ich finde es auch ärgerlich. Bemerkenswert finde ich es deshalb, weil Sie 1,6 Millionen legalen Waffenbesitzern damit eine neue Hürde auferlegen und sie – man muss es leider so sagen – wieder einmal unter Generalverdacht stellen, weil Sie sagen: Jeder von denen muss regelmäßig überprüft werden. Das heißt: 1,6 Millionen legale Waffenbesitzer sind für Sie potenziell verdächtig. Das finde ich einfach nicht in Ordnung, und das muss man an dieser Stelle auch mal so sagen. ({5}) Dann geht es weiter: Was finde ich ärgerlich? Wobei „ärgerlich“ vielleicht nicht das richtige Wort ist. Es ist eher ein bisschen verantwortungslos; denn so erweckt man den Eindruck, wir könnten solche Straftaten mit immer schärferen Gesetzen verhindern. ({6}) Es ist richtig, dass es Kommunikationsprobleme gab – das hat der Kollege Kuhle ja auch gesagt –, und an dieser Baustelle müssen wir arbeiten, da sind wir uns einig. Wir können aber gegenüber der Bevölkerung – so dramatisch das Ganze ist – nicht den Eindruck erwecken, dass wir unsere Gesetze so bombendicht machen könnten, dass nie wieder mit legalen oder illegalen Waffen eine Straftat begangen wird. ({7}) Wo fängt das an, und wo hört das auf? Dann möchte ich Ihnen noch etwas sagen: Sie wissen, ich komme aus Halle. Der Täter dort – dieser Anschlag ist uns noch gut in Erinnerung – hat illegale Waffen benutzt. Er hat sich die Waffen selber gebaut. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Da können wir mit guten Gesetzen viel mehr bewegen, als wenn wir das bereits gute Waffengesetz noch weiter verschärfen wollten. Wir haben 35 Millionen illegale Waffen in der Europäischen Union. Wir haben das Darknet, das wir nur sehr schwer kontrollieren können, unter anderem auch wegen der Widerstände in den rot-grün regierten Ländern, wenn es darum geht, diese Plattform stillzulegen oder auch zu durchsuchen, um diesen Tätern auf die Schliche zu kommen. Da könnten Sie uns wirklich unterstützen. ({8}) Kollege Kuhle – da komme ich jetzt nicht drum herum –, Sie haben gesagt, das sei ein bisschen reflexartig bei den Konservativen, dass wir immer dann, wenn etwas Schlimmes passiert, die Gesetze verschärfen wollten. ({9}) Wissen Sie, dass wir verschärfen wollen, das ist kein Reflex. Es geht einfach nur um das Moment der Erkenntnis bei unserem Koalitionspartner, das benötigt wird, um vorhandene Sicherheitslücken zu schließen. Und dann kommen wir natürlich als Union und sagen: Jetzt haben wir eine Chance, unsere Gesetze zu verbessern. – Genau deshalb machen wir das in diesem Zusammenhang. Zum Thema Waffenrecht muss ich Ihnen sagen: Ich sehe aktuell keinen Handlungsbedarf und auch keine Notwendigkeit, dies noch weiter zu verschärfen. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Ich bitte Sie, beim nächsten Mal besser darüber nachzudenken, ob es vielleicht einen anderen Weg gibt, als unsere Sportschützen und unsere Jäger weiter zu drangsalieren. Herzlichen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christoph Bernstiel. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Kuffer. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was neu ist, lieber Konstantin, hat die Präsidentin schon gesagt, indem Sie von der CSU/CDU-Fraktion gesprochen hat. ({0}) Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt, wo ich am Pult angekommen bin, geht mir Ihre Bemerkung gegenüber dem Kollegen Henrichmann bezüglich unserer Leuchtanzeige hier vorne nicht mehr aus dem Kopf. Wir haben von Ihnen gelernt, dass die doch tatsächlich dazu da ist, um lehrreiche Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen hier vorne zu unterbrechen oder gar abzukürzen. Aber jetzt haben Sie auch noch vorgeschlagen, die zu gendern. ({1}) Ich wollte Sie nur ganz kurz fragen: Müsste jetzt dann da stehen: Präsident*in oder Präsidierende? Können Sie mir das erklären?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das kann ich Ihnen, wenn es wieder Bier gibt, gerne mal erklären. Das werden Sie dann nicht mehr vergessen, wenn ich Ihnen das erkläre. Das verspreche ich. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme darauf zurück.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, Sie können noch mal richtig anfangen.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Legale Schusswaffen, egal ob zur Ausübung von Sport, Jagd oder Tradition, gehören ausschließlich in verantwortungsvolle Hände. Genau für diese Verantwortung steht der absolute Großteil der Jäger und Schützen in unserem Land, und wir als CDU/CSU-Fraktion stehen deshalb hinter diesen legalen Waffenbesitzern und lehnen eine pauschale Verurteilung dieser Bürgerinnen und Bürger ab. ({0}) Es ist schon mehrfach in der Debatte gesagt worden, dass unser Waffenrecht eines der strengsten auf der Welt ist und sich über viele Jahre im Wesentlichen bewährt hat. Dabei zählt natürlich die Prüfung der persönlichen Eignung nach § 6 zu einem der zentralen Instrumente. Gemeinsam mit den Jagd- und Schießsportverbänden ist parallel zu den erfolgten Änderungen am Waffengesetz viel dafür getan worden, um die Sensibilisierung zu schärfen und das rechtzeitige Erkennen und Einschreiten bei verhaltensauffälligen Personen sicherzustellen und zu verbessern. Diese Anstrengungen werden fortgesetzt und natürlich von allen Verantwortlichen mit großer Sorgfalt betrieben. Ungeachtet dessen handelt es sich bei den Gewalttaten und zuletzt bei dem abscheulichen Anschlag von Hanau – mehrfach ist diese Tat heute angesprochen worden –, der sich vor einigen Tagen zum ersten Mal jährte, um nichts anderes als widerwärtige und verabscheuungswürdige Verbrechen. Der Besitz von Waffen, das bleibt richtig, muss daher streng reglementiert bleiben. Schusswaffen dürfen nicht frei verfügbar sein, weder auf dem Markt noch auf dem Schwarzmarkt, und sie dürfen nicht in die Hände von Personen geraten, bei denen auch nur der geringste Zweifel besteht, dass sie damit Unheil anrichten oder – sei es vorsätzlich oder fahrlässig – andere in die Lage versetzen, genau das zu tun. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es auch keine zwei Meinungen, weder in diesem Hause noch bei den Jägern, Schützen und ihren Verbänden. Die Frage ist, ob man dem, was Sie vorschlagen, eines Tages nähertreten kann oder nicht. Ich würde jetzt einfach mal vorschlagen, dass wir das, was im Vollzug noch zu tun bleibt – und das ist heute mehrfach angesprochen worden –, regeln: den schnellen Austausch von Informationen und vorhandenem Behördenwissens zwischen den beteiligten Akteuren. Ich würde die Frage des Vollzugs an die erste Stelle setzen, und dann, würde ich sagen, können wir sehen, ob weitere gesetzliche Schritte notwendig sind. Sie wissen, dass Sie uns immer an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, dort nachzujustieren, wo es sinnvoll ist. Aber wir sollten den zweiten Schritt nicht vor dem ersten gehen. Vielen Dank. ({1})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Förderinstrument Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, kurz GRW, unterstützt der Bund gemeinsam mit den Ländern strukturschwache Regionen bei der Ansiedlung von Unternehmen und bei der Schaffung von dauerhaften Arbeitsplätzen. Dies ist und war ein erfolgreiches Förderprogramm für die strukturschwachen Gebiete unseres Landes. Bisher hat der Ausschluss der Förderung von Infrastrukturmaßnahmen des Bundes und der Länder im Bereich des Straßenbaus oft zu unbefriedigenden Lösungen bei der Erschließung von Gewerbegebieten geführt. Der Bau oder Ausbau von Straßen in Landes- oder Bundesverwaltung, der für die Erschließung der Gewerbegebiete notwendig war, war grundsätzlich über die GRW nicht förderfähig. Dies hat häufig zu Problemen geführt, weil die zuständigen Gemeinden die teuren Ausbaumaßnahmen an Bundes- und Landesstraßen nicht finanzieren konnten. So konnten sinnvolle Gewerbegebietserschließungen nicht umgesetzt werden, oder Gewerbegebiete konnten nicht ausreichend erschlossen werden. Dieses Problem, meine Damen und Herren, wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf im Sinne der Kommunen lösen. Vorgesehen ist im Gesetzentwurf, die Förderung auf die notwendigen straßenbaulichen Maßnahmen zum Ausbau und zur Revitalisierung von Industrie- und Gewerbegebieten auszudehnen. Konkret heißt das: Kommunen können die notwendige Infrastruktur mitfördern lassen, beispielsweise Kreuzungserweiterungen, Brückenbauten oder Ampelanlagen. Damit können Projekte, deren Realisierung bisher an der Finanzierung scheiterte, jetzt umgesetzt werden. Mit der Änderung unterstützen wir künftig Kommunen in strukturschwachen Regionen, oder noch besser: Wir sorgen dafür, dass dort Investitionen in Gewerbegebietserschließungen umgesetzt werden können, die bisher möglicherweise nicht umgesetzt werden konnten. Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, ist eine sinnvolle Erweiterung der staatlichen Strukturförderung, die man nur begrüßen kann. Wir wollen auch in Zukunft durch die GRW wirtschaftliche Nachteile in schwächer entwickelten Gebieten ausgleichen und so gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland schaffen. Meine Damen und Herren, die aktuelle GRW-Förderperiode läuft am 31. Dezember 2021, also Ende dieses Jahres, aus. Ich bin dankbar, dass es im letzten Jahr gelungen ist, die Förderung wenigstens um ein Jahr zu verlängern. Sowohl die Länder als auch die Regionen haben diese Kontinuität gerade in der aktuellen Krise dringend gebraucht. Ab 2022, also ab nächstem Jahr, soll eine neue Förderperiode beginnen. Die Fördergebiete werden neu ausgewiesen. Bereits jetzt ist aber absehbar, dass aufgrund des Austrittes von Großbritannien und durch Entscheidungen der Europäischen Union das Fördergebiet in Deutschland kleiner werden wird. Nach jetzigem Stand kann bis zu einem Drittel des bisherigen Gebietes aus der Förderung fallen. Das wäre ein starker Einschnitt für die regionale Wirtschaftsförderung unseres Landes. Anfang Mai, also in ein paar Monaten, sollen die Verhandlungen mit den Bundesländern zur künftigen Förderkulisse abgeschlossen sein. Für die Auswahl der künftigen Fördergebiete werden vier Hauptkriterien gelten: erstens die Produktivität, zweitens die Unterbeschäftigung, drittens die Zahl der Erwerbstätigen und viertens die vorhandene Infrastruktur in der Region. Eine Forderung, meine Damen und Herren, muss aber auch lauten: Das Fördergefälle in Grenzregionen zu Höchstfördergebieten muss bei der künftigen GRW-Förderung eine Rolle spielen. Es geht hierbei um die Grenze zu Tschechien und zu Polen, wo sicherlich Landesteile dieser beiden Länder als Höchstfördergebiete eingestuft werden. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es dazu – ich zitiere –: Wir werden ein gesamtdeutsches Fördersystem für strukturschwache Regionen entwickeln, das allen Bundesländern gerecht wird und – ich betone – das Fördergefälle zu Nachbarstaaten Deutschlands berücksichtigt. In diesem Sinne hoffe ich auf eine ausgeglichene und gerechte Ausweitung der künftigen GRW-Fördergebiete. Wichtig ist, dass wir weiterhin den wirtschaftlich schwächeren Regionen unseres Landes unter die Arme greifen, Potenziale nutzbar machen und so regionalökonomische Unterschiede reduzieren. Mit dem vorliegenden Gesetz zu Änderung des GRW-Gesetzes tragen wir dazu bei. Die GRW-Förderung hat einen großen Anteil an der positiven Entwicklung von strukturschwachen Gebieten unseres Landes. Setzen wir dieses starke Instrument auch künftig klug ein! Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl Holmeier. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte noch einmal um Entschuldigung bitten, dass ich jetzt hier ohne Maske gelaufen bin. – Das kommt nicht mehr vor, Frau Präsidentin. Entschuldigung, bitte. Also, zur Sache: Viel versprochen, nichts gemacht. Das soll er nun also sein, der große Wurf, das allumfassende, allseligmachende gesamtdeutsche Fördersystem, so wie Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen haben, eine Novelle des GRW-Gesetzes. Die einzige wirkliche Änderung ist nun die Förderfähigkeit von Verkehrsanbindungen bereits geförderter Gewerbegebiete an das überregionale Straßennetz. Eine wirklich tolle Leistung! Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch: Diese Anpassung ist richtig und im Übrigen auch überfällig. Deswegen werden wir der Beschlussempfehlung auch zustimmen. ({0}) Im Grunde ist dieses Änderungsgesetz aber ein Witz. Es ist das einzige in dieser Legislaturperiode zum GRW-Gesetz und sogar das einzige seit 2015. Das hat mit Engagement für gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({1}) Ihre Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, in dieser Legislaturperiode mit viel Tamtam angekündigt und pressewirksam beendet, war reines Blendwerk; das war pure Wählertäuschung. Wir haben das vorher gesagt, und nun haben die Menschen da draußen es schwarz auf weiß. ({2}) Meine Damen und Herren, den strukturschwachen Gebieten, den Kleinstädten in den ländlichen Räumen steht nicht erst seit dem Lockdown – aber seitdem besonders – das Wasser bis zum Hals. Der Eigenkapitalschwund beim Mittelstand ist dramatisch, Umsätze brechen ein, an Investitionen und Beschäftigungsaufbau denkt kaum jemand, an Geschäftsaufgabe und Entlassungen denken dafür umso mehr. Der Lockdown verunsichert nicht nur die Menschen, sondern eben auch die Unternehmen. Das Regierungschaos macht seriöses Planen praktisch unmöglich. Wir von der AfD wollen gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland; denn Leben auf dem Land bedeutet Freiheit, Freiheit von sozialistischen Blütenträumen wie linkem Mietendeckel oder grünem Eigenheimverbot, Freiheit von Rundumüberwachung und Gängelung. ({3}) Daher müssen wir gegensteuern – aktiv und nicht erst, wenn jemand danach fragt. Wir müssen strukturell und grundsätzlich an unsere Förderkulisse ran, und das bedingt als Erstes eine strikte Anwendung des Subsidiaritätsgedankens. Über eine Förderung muss im Land entschieden werden, und das erfordert eine weitgehende Renationalisierung von Strukturförderung und eine Trockenlegung des Brüsseler Sumpfes. Unsere Steuergelder müssen zunächst einmal hier, in Deutschland, die Missstände beseitigen. ({4}) Außerdem muss die Förderung nachfrageunabhängiger werden. Wir haben nicht nur bei der GRW das Problem, dass häufig Mittel gar nicht abgerufen werden. Strukturförderung hat auch die Aufgabe, eine solche Nachfrage zu schaffen. Wir haben Vorschläge dazu gemacht, und zwar mit einem Konzept, das anhand von intelligenten Algorithmen den Förderbedarf automatisch feststellt, den Fördererfolg prüft und Anpassungen vornimmt. Natürlich braucht das mutige Entscheidungen. Kompetenzen müssen neu verteilt werden, liebgewonnene Besitzstände müssen aufgelöst werden. Genau dies hätte eine Regierungskommission leisten können – nein, leisten müssen. Herausgekommen ist das vorliegende Miniänderungsgesetz. Und damit wollen Sie ländliche Räume retten? – Herzlichen Glückwunsch! Die Wähler werden es Ihnen nicht danken. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Enrico Komning. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Frank Junge. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Komning, Ihre Rede hat mir zwei Dinge gezeigt: Das Erste. Es scheint Ihnen entgangen zu sein, dass wir seit dem 1. Januar 2020 das gesamtdeutsche Fördersystem haben und nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen, sondern nach Bedürftigkeit fördern. ({0}) Das Zweite. Sie scheinen auch keine Ahnung von der Situation vor Ort, in den Kommunen, zu haben. ({1}) Denn dort ist die GRW das wichtigste Instrument für die Wirtschaftsförderung – vor allen Dingen in strukturschwachen Regionen. ({2}) Der Bund gibt jährlich 600 Millionen Euro, dazu kommt der Anteil der Länder. Das macht für die Jahre 2007 bis 2013 zusammen etwa 53 Milliarden Euro – einfach deshalb, weil aus einem GRW-Euro am Ende das Dreieinhalbfache geworden ist. Dieses Investitionskapital fließt vor allen Dingen ins produzierende Gewerbe, in den Handel und in die Gastronomie. Dort wird es ganz dringend benötigt, und vor allen Dingen im Osten hat es dort auch unglaublich viel bewirkt, gerade nach 1991, als es darum ging – und das wird bis heute fortgeführt –, die Lebensverhältnisse anzugleichen. ({3}) Auch während der Coronapandemie hat die GRW – neben dem großen Konjunkturpaket, das die Große Koalition auf den Weg gebracht hat – erfolgreiche Dienste geleistet, und ich begrüße ausdrücklich, dass die GRW aus diesem Konjunkturpaket noch mal um einen Bundesanteil in Höhe von 500 Millionen Euro aufgestockt worden ist; denn beide Maßnahmen haben am Ende mit dazu beigetragen, dass der Wirtschaft geholfen werden konnte und verhindert wurde, dass Prognosen, die noch im Sommer 2020 gegolten haben – das BIP würde um über 10 Prozent einbrechen –, Realität wurden. Am Ende sind wir dort bei minus 4,9 Prozent gelandet. Das sind für mich klare Indizien dafür, dass diese Wirtschaftsförderinstrumente funktionieren – vor allen Dingen auch in strukturschwachen Regionen. ({4}) Wir stehen jetzt vor der großen Aufgabe, den Neustart der Wirtschaft voranzubringen und die Wirtschaft nach der Coronapandemie wieder auf Kurs zu bringen, sodass sie möglichst schnell wieder auf dem Vorcoronaniveau ankommen wird. Auch dafür bietet die GRW hervorragende Möglichkeiten. Wir haben natürlich die Ziele, Wirtschaftskreisläufe zu stärken, Investitionen voranzubringen und den Transformationsprozess der Wirtschaft entsprechend anzukurbeln. Dafür sind die investiven Mittel hervorragend geeignet. ({5}) Wenn ich hier noch mal vor Augen führe, was mein Vorredner, Herr Holmeier, schon dargestellt hat, nämlich das, was wir mit Blick auf diese Gesetzesänderung, die ich für sehr sinnvoll und sehr praxistauglich halte, vorhaben, dann wird klar, dass wir damit nicht nur Straßenanbindungen für die Fördergebiete bzw. GRW-Gebiete auf den Weg bringen können – wir können sie also an das Straßennetz anschließen –, sondern wir haben damit auch die Möglichkeit, eine Effizienzsteigerung von 20 Prozent herbeizuführen, nämlich genau in den Bereichen, in denen in der Vergangenheit GRW-Förderungen gar nicht wirklich umgesetzt werden konnten, weil die zugehörige Straßeninfrastruktur am Ende einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Diese Gesetzesänderung gibt uns jetzt die Möglichkeit, genau das zu tun. Vor dem Hintergrund kann ich Sie nur bitten, dieser Gesetzesvorlage zuzustimmen. Die GRW war eine Erfolgsgeschichte, sie ist eine, und sie wird nach dieser Änderung noch lange eine bleiben. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Junge. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „GRW“ ist das Kürzel für einen ziemlich sperrigen Begriff. Sie ist aber eine der wichtigsten Aufgaben, die wir in unserem Flächenland haben. Aufgabe ist es, Orte und Lebensräume attraktiver zu machen und sie so zu vernetzen und anzubinden, dass man sich wirtschaftlich weiterentwickeln kann. Insofern ist es gut und richtig, dass wir hier heute die Novelle der GRW abschließend im Bundestag beraten. Wir Freien Demokraten begrüßen sie und werden ihr deshalb auch zustimmen. – Das schon mal vorab. Es ist nur schade, liebe Bundesregierung, dass es erst einer Krise und des Wahlkampfes bedarf, um die Mittel dementsprechend aufzustocken. Das hätte viel früher und schneller kommen müssen. Aber starten wir mal beim Positiven: Gut ist, dass die GRW insbesondere kleine und mittlere Betriebe fördert; denn heute kann auch ein E-Commerce-Unternehmen sehr gut den europäischen Binnenmarkt beliefern – aus Kaiserslautern heraus, aus Birkenfeld heraus; es muss nicht immer Berlin oder München sein. Die Novelle behebt einen bisherigen Mangel; denn wer nicht angebunden ist, kann sich nicht entwickeln. So werden wir nun erstmals Verkehrsanbindungen von Gewerbegebieten ans überregionale Straßennetz ermöglichen – und das mit einer Förderung der Kosten in Höhe von 90 Prozent. ({0}) Diese Chance sollten sich die Länder, die Landkreise und die Gemeinden auch nicht entgehen lassen, sondern jetzt nutzen. Ruft diese Mittel ab! Eine funktionierende Infrastruktur ist der Standortvorteil im ländlichen Raum. ({1}) Den Machern und Mutigen in diesem Land rufe ich zu: Wenn Sie ein Unternehmen gründen wollen, dann kommen Sie in mein Heimatland, nach Rheinland-Pfalz. ({2}) Wir liegen im Herzen von Europa und verstehen etwas von guter und ehrlicher Arbeit, und wir haben auch den Raum, um sich entsprechend weiterentwickeln zu können. ({3}) BioNTech lässt grüßen, lieber Herr Willsch! An dieser Stelle müssen wir aber auch kritisch fragen, wo es noch hakt. Ein Unternehmen braucht nämlich mehr als nur Fläche und eine gute Straßenanbindung; es braucht – das ist genauso wichtig – auch eine digitale Infrastruktur. Dass wir bei der Versorgung mit schnellem Internet immer noch so weit hinten hängen, liegt an Ihrem Versagen, liebe Bundesregierung. Dafür tragen Sie die alleinige Verantwortung. Wir müssen der Realität ins Auge blicken: Digitale Spitzenreiter sind andere Länder. Deutschland ist in Europa und weltweit manchmal gerade noch Mittelmaß und liegt meistens abgeschlagen am hinteren Ende. Liebe Bundesregierung, Deutschland stand mal für Effizienz und für funktionierende Strukturen. Mittlerweile haben wir die absurdesten Dinge bis ins Kleinste geregelt, und bei den großen Vorhaben scheitern wir. ({4}) Wir brauchen nicht nur Straßen, sondern wir brauchen auch mehr Glasfaser, flächendeckend mindestens 4 G und eine Regierung, die Zukunftsfähigkeit versteht und lebt. Die Menschen wollen nicht länger warten – und wir auch nicht. Deswegen: Packen Sie es endlich an! Einen schönen guten Abend. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein spannendes Thema der Kommunalpolitik ist jetzt mal wieder zur besten Fernsehsendezeit auf der Tagesordnung. ({0}) Nur, leider schauen nach 22 Uhr auch die wackersten Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker unserer Debatte nicht mehr zu. Wertschätzung für diese meist ehrenamtliche Arbeit sieht anders aus. Heute geht es unter anderem um die Frage, ob bei neuen Gewerbegebieten die dazugehörigen Straßeninfrastrukturen schneller realisiert und durch den Bund finanziert werden können. Ja, das sollte man machen, und deshalb wird meine Fraktion dieser Gesetzesinitiative auch zustimmen. ({1}) Ich habe jetzt zwei meiner drei Minuten Redezeit noch übrig, und deswegen müssen Sie sich noch zwei Punkte anhören, die ich interessant finde. Stichwort ist, wie gesagt, die Infrastruktur. Sagt Ihnen zum Beispiel der Begriff „MORA C“ noch etwas? Anfang der 90er-Jahre kam die Bahn auf die glorreiche Idee, ziemlich alle Güterverkehrsanschlüsse – genauer: Ladestellen – zuzumachen. Für Bahnmitarbeiterinnen und Bahnmitarbeiter gab es sogar Prämien, wenn sie Vorschläge einreichten, wo man Gleise und Weichen herausreißen konnte. Heute, in Zeiten von Klimaschutzdebatten, fehlen uns diese Bahnanschlüsse, und viele Unternehmen würden ihre Lieferketten auch wegen des dazugehörigen Öko-Images gerne wieder über die Bahn abwickeln. Wenn wir heute also die gesetzlichen Grundlagen dafür legen, Gewerbegebiete besser mit Straßen zu erschließen, dann sollten wir spätestens morgen dafür Sorge tragen, dass Gewerbegebiete und Industrieanlagen auch wieder Bahnanschlüsse bekommen. In der Regel sind die auch nicht teurer. ({2}) Auch bei den Straßen muss man sich für meine Begriffe gut anschauen, was tatsächlich mit öffentlichen Mitteln gefördert wird. Der Trend, dass die Lkw just in time mit ihrer Ladung am Werktor vorfahren, klingt ja erst mal ganz gut. Die Realität sieht aber so aus, dass die Brummifahrerinnen und ‑fahrer diese Zufahrtsstraßen genau genommen nutzen, um dort herumzustehen, bis sie ihren Liefertermin hinter dem Werktor haben. Diese Lagerflächen sollten nicht im öffentlichen Verkehrsraum sein, sondern sich auf dem Betriebsgelände befinden und auch nicht steuerfinanziert werden. Vielen Dank. – Einen schönen Abend noch und ein herzliches Glückauf! ({3})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn in Verhandlungen und Anhörungen zu einem Gesetzentwurf einer der größten Aufreger „unbestimmte Rechtsbegriffe“ sind, dann merkt man: Dieser Gesetzentwurf ist einerseits gut gemacht und war andererseits auch nicht sehr umstritten. Vielmehr war es ein Gesetzentwurf, den wir, glaube ich, heute mit breiter Mehrheit beschließen können. Letztlich machen wir Folgendes: Wir setzen EU-Richtlinien um. Ich erwähne jetzt nur mal einige wenige; mein Kollege Herr Brehm wird wahrscheinlich noch andere Beispiele nennen. Wir setzen die Systemrichtlinie um. Da werden wir zum Beispiel die Digitalisierung des Beförderungs- und Kontrollsystems verbrauchsteuerpflichtiger Waren regeln bzw. hier umsetzen. Wir werden hier auch die Alkoholstrukturrichtlinie umsetzen. Das heißt, für Kleinproduzenten alkoholischer Getränke in EU-Staaten gilt dann ein einheitliches Zertifizierungssystem. Diese können dann auch Steuerermäßigungen in anderen Ländern beantragen. Wir haben noch andere Dinge, die wichtig waren, in diesen Gesetzentwurf mit reingenommen, um sie schnell zu regeln. Zum Beispiel werden wir die Ehrenamtspauschale von 720 Euro auf 840 Euro erhöhen. Wir müssen jetzt die §§ 31a und 31b BGB etwas anpassen. Die Haftungsbeschränkungen für ehrenamtlich Tätige werden auf die entsprechende Höhe der Vergütung angepasst, damit wir das auch für unsere Ehrenamtlichen regeln. Das war dringend notwendig. Ganz wichtig für uns und für die Bundesregierung: Wir wollen effektive Geldwäschebekämpfung. Dafür gibt es bei der FIU, die dafür zuständig ist, einen Stellenaufwuchs, aber sie hat als zentrale Meldestelle zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung auch insgesamt an Bedeutung gewonnen. Das führt dazu, dass sie zu einer eigenen Direktion umgewandelt wird. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass wir dieses Thema nicht nur ernst nehmen, sondern dass wir das in der Generalzolldirektion durch diese Umwandlung auch zum Ausdruck bringen. Die FIU ist eben jetzt eine eigenständige Direktion, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Vielleicht haben einige von Ihnen zu dieser Uhrzeit vor der Debatte noch einen Kaffee getrunken, um frisch und munter zu sein. Um Kaffee ging es auch in unserem Gesetzentwurf und in der Debatte darüber. Wir haben in der Anhörung gehört, dass Kaffee gesund ist; ({1}) ich glaube, da waren wir alle einer Meinung. Man sieht das auch an unserem Sprecher Lothar Binding. Für ihn ist der Kaffee ein Jungbrunnen. Man sieht ihm ja an, wie topfit er ist. So viel Kaffee, wie er trinkt: Da kommen wir alle nicht mit. Kaffee ist also gesund. Für die FDP ist der Kaffee heute aber auch ein kleiner Aufreger. ({2}) Zu viel Aufregung ist aber nicht gesund, also diskutieren wir das ganz souverän. Sie wollen, so steht es in Ihrem Entschließungsantrag, die Zuwendung verkehrsfähigen, aber nicht mehr absetzbaren Kaffees bzw. kaffeehaltiger Waren an gemeinnützige Organisationen zukünftig von der Kaffeesteuer befreien, damit es da zur Entlastung kommt. ({3}) Im Ausschuss habe ich ja schon gesagt: Die FDP ist bisher nicht damit aufgefallen, dass sie nun wirklich mit Nachdruck Gerechtigkeitsfragen durchsetzen will. Im Gegenteil: An Themen wie Mindestlohn oder Soli, den Sie auch für Besserverdienende abschaffen wollen, gehen Sie oftmals mit der Blutgrätsche ran. ({4}) Oder wenn wir sagen: „Wir wollen die oberen 5 Prozent der Einkommensbezieher stärker belasten“, dann sagen Sie, das sei die Mitte der Gesellschaft. – Sie merken schon: 5 Prozent ist nicht die Mitte der Gesellschaft. Also, bei solchen Themen fallen Sie nicht auf. Hier sagen Sie, Sie wollen eine kleine Gerechtigkeitsfrage angehen. – Wir haben uns in diesem Gesetzentwurf dazu entschlossen, dieses Thema nicht anzugehen; ({5}) Herr Brehm wird dazu vielleicht auch noch mal was sagen. ({6}) Ich könnte an dieser Stelle jetzt mit der Steuersystematik kommen; das tue ich gar nicht. Ich glaube, es sind schon noch ein paar Fragen offen. ({7}) Diese können wir an anderer Stelle auch besprechen. Beispielsweise schreiben Sie: Kaffee ist lange verkehrsfähig. – Ja, aber er wäre auch länger absetzbar, als das bisher der Fall ist. Muss Kaffee wirklich vernichtet werden? ({8}) Kann man da beim Mindesthaltbarkeitsdatum nicht etwas machen? ({9}) Gibt es zum Beispiel nicht die Möglichkeit einer verbilligten Abgabe? All das müssen wir diskutieren, bevor wir weiter darüber reden. Das können wir gerne tun, aber nicht in diesem Gesetzentwurf. Da mag die FDP jetzt ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, aber da müssen Sie durch und trotzdem zustimmen: Es ist ein guter Gesetzentwurf. Danke schön. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Schrodi. Jetzt haben Sie uns echt Lust gemacht: Wir hier oben hätten gerne Kaffee. ({0}) Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Franziska Gminder. ({1})

Franziska Gminder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004728, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Richtlinie des Rates vom Dezember 2019 und zur Richtlinie vom Juli 2020 liegt nunmehr für die Verbrauchsteuern vor. Deutschland ist verpflichtet, diese Struktur- und Systemrichtlinien umzusetzen. Daraus erfolgen weitreichende Änderungen und die Verkomplizierung des Verbrauchsteuerrechts. Mit erheblichem finanziellen Mehraufwand für Wirtschaft und Verwaltung, besonders für den Zoll, ist zu rechnen. Leider ist wieder einmal kein Bürokratieabbau von dieser Bundesregierung zu erwarten. Gepriesen seien die Briten, die sich diesem ganzen Wust entzogen haben! ({0}) Die Digitalisierung der Zollerklärung ist positiv, weniger Zettelwirtschaft für die Unternehmen. Auch die Vereinheitlichung der bisherigen IT-Systeme wie Stromboli, Biber und Tiger bieten Vorteile. Allerdings ergibt sich eine Mehrarbeit für den Zoll ohne entsprechende digitale Ausstattung und Personalaufwuchs im EP 08. Die Zollverwaltung besteht aus der Generalzolldirektion mit Hauptsitz in Bonn, 42 Hauptzollämtern und 252 Zollämtern sowie 8 Zollfahndungsämtern. Rund 39 000 Mitarbeiter sind beim Zoll beschäftigt. Wie viele zusätzliche Stellen müssen wohl geschaffen werden, um die neuen Aufgaben zu bewältigen? Welche Minderausgaben und Verbesserungen werden durch die geplante Digitalisierung der Verbrauchsteuererfassung erzielt? Wie werden die digitalen Vorgänge gesichert? Welchen Schutz gibt es vor Hackerangriffen? Was geschieht bei einem Blackout? Die AfD möchte jedoch grundsätzlich den Steuerzahler entlasten. Ein neues Steuersystem analog den Vorschlägen Professor Kirchhofs von 2011 – lang, lang ist’s her – wäre wünschenswert. ({1}) Leider ist davon nur zu träumen. Wenn die Bundesregierung schon nicht gewillt ist, eine große Steuerreform durchzuführen und die 36 Steuerarten auf wenige zu reduzieren, wäre ein erster positiver Schritt die Abschaffung der Bagatellsteuern. ({2}) Zu diesen gehören die Schaumweinsteuer mit einem Aufkommen von 377 Millionen Euro, eingeführt zu Kaiserzeiten zur Finanzierung der Flotte, die Alkopopsteuer mit 1 Million Euro, die Zwischenerzeugnissteuer mit 17 Millionen Euro, die Luftverkehrsabgabe als Lenkungssteuer, 2018 eingeführt, mit 1,2 Milliarden Euro und besonders die Kaffeesteuer, eingeführt im Juli 1953, mit einem Aufkommen von 1 Milliarde Euro. Kaffee ist schon lange kein Luxusprodukt mehr wie im 18. Jahrhundert, sondern zählt heute als gängiges Nahrungsmittel; das haben Sie selber auch gesagt. Die Kaffeesteuer kennt sogar zwei Steuersätze, für Röstkaffee und löslichen Kaffee, und wird zusätzlich der Umsatzsteuer unterworfen, eine unzulässige Steuer auf Steuer. ({3}) In Europa erheben nur noch Deutschland, Belgien, Dänemark, Litauen, Norwegen und die Schweiz diese Steuer. Es wird höchste Zeit, dass diese Steuer, deren Erhebung teurer ist als das, was sie bringt, abgeschafft wird. Es gab in der Vergangenheit die Abschaffung verschiedenster Verbrauchsteuern: die Speiseeissteuer – wer erinnert sich noch? –: 1972, Essigsäuresteuer: 1980, Zündwaren- und Spielkartensteuer: 1981, Leuchtmittelsteuer: 1993, Teesteuer: 1993, Salzsteuer: 1993 - ({4}) – eben –, auch abgeschafft. Bei Steuern und Abgaben ist Deutschland Spitzenreiter und hat laut OECD selbst Belgien vom Spitzenplatz verdrängt. Ich komme zum Schluss. Also, liebe Bundesregierung: Tun Sie endlich einmal etwas für den Steuerzahler. Auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist: Es entlastet den Bürger. Er wird immer noch viel zu sehr geschröpft. Mit Mut voran! Wir enthalten uns bei diesem Gesetz. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Franziska Gminder. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man mit Mut vorangeht, dann müsste man den Gesetzentwurf ablehnen. Also, mit Mut voran und dann Enthaltung: Das verstehe ich jetzt nicht ganz. ({0}) Heute beschließen wir – wir kommen mal wieder zurück zum Thema – ein umfangreiches Gesetzespaket, nämlich das Siebte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen. Nahezu alle Verbrauchsteuern sind in Deutschland EU-harmonisiert: Energiesteuer, Stromsteuer, Tabaksteuer, Biersteuer, Alkoholsteuer und Schaumweinsteuer. Gegenstand der Besteuerung ist immer der Verbrauch; das ist dann nachher beim Kaffee wichtig. Es ist so, wie es der Name sagt, zum Beispiel beim Bier. Wenn man einen Kasten Bier mit einem normalen Stammwürzegehalt kauft, dann sind im Preis ungefähr 94 Cent Biersteuer enthalten. Beim Kaffee ist es anders: Bei 1 Kilogramm Kaffee macht die Steuer 2,19 Euro für Röstkaffee und 4,78 Euro bei löslichem Kaffee aus. Im Zusammenhang mit der Tabaksteuer – darüber reden wir ja noch mal an anderer Stelle – gibt es auch unterschiedliche Produkte, die unterschiedlich besteuert werden. Die EU-Harmonisierung macht es auch immer wieder notwendig, dass EU-weit abgestimmte Änderungen vorgenommen werden, die dann in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Das tun wir heute: Wir setzen die EU-Verbrauchsteuersystemrichtlinie, die Richtlinie zur Änderung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, und die Richtlinie zur Änderung der Alkoholstrukturrichtlinie in nationales Recht um. Wider Erwarten – Frau Gminder, ich weiß nicht, ob Sie es gelesen haben – ist es diesmal, obwohl es von der EU kommt, eine Bürokratieerleichterung; denn wir schaffen den ganzen Papierkram ab. Wir schaffen nämlich ein neues EDV-gestütztes Beförderungs- und Kontrollsystem für die verbrauchsteuerpflichtigen Waren, was eine enorme Erleichterung im täglichen Warenverkehr ist und übrigens auch Missbrauch verhindern wird. ({1}) Ein wichtiger Punkt ist ein verbindliches Zertifizierungssystem, über das man EU-harmonisiert den ermäßigten Steuersatz in Anspruch nehmen kann. Zudem wird auch der Steuerbefreiungstatbestand auf wissenschaftliche Versuche und Untersuchungen erweitert. Das gilt aber nicht, wenn man für einen Selbstversuch eine Tasse Kaffee trinkt. So etwas ist nicht steuerbefreit, sondern wirklich nur die echten wissenschaftlichen Versuche und Untersuchungen. Jetzt komme ich noch mal auf die Kaffeesteuer. Im Rahmen der Anhörungen kam die Frage auf: Was ist denn, wenn Kaffee, gerade in der Pandemie, gespendet wird? Es geht um Kaffee, dessen Haltbarkeitsdatum abläuft, der im normalen Handel dann nicht mehr verkaufbar ist, aber selbstverständlich noch trinkbar ist. Da ist es doch sinnvoll, diesen zu spenden, zum Beispiel an die Tafel. Da immer der Verbrauch besteuert wird, ist Kaffee als Sachspende erstens derzeit noch umsatzsteuerpflichtig und zweitens verbrauchsteuerpflichtig durch die Kaffeesteuer. Wenn ein Unternehmer den Kaffee also wegschmeißt, dann muss er keine Umsatzsteuer und auch keine Kaffeesteuer zahlen. Insofern ist es doch eigentlich richtig, dass man darüber nachdenkt, solche Spenden zu ermöglichen. ({2}) Im Bereich der Umsatzsteuer sind wir auf einem guten Weg. Da wird es eine Lösung geben, um Sachspenden umsatzsteuerfrei zu machen. Hierzu sind wir in Gesprächen. Beim Kaffee meine ich ehrlicherweise auch: Wenn man zum Beispiel 1 Kilo Filterkaffee verschenken will und auch noch 4,78 Euro dafür bezahlen müsste, dass man ihn spendet, dann, glaube ich, wäre das falsch. ({3}) Deswegen: Lassen Sie uns da noch mal miteinander ins Gespräch kommen, allerdings nicht im Rahmen dieses umfangreichen Gesetzentwurfs. Den muss man jetzt einfach verabschieden, weil es um wichtige Dinge geht; aber ich glaube, gerade bei Spenden von solch wichtigen Lebensmitteln wie Kaffee – jetzt habe ich auch langsam Durst auf einen Kaffee – wäre es wichtig, dass wir noch mal miteinander ins Gespräch kommen. Also: Vielleicht kriegen wir da noch eine Lösung hin. ({4}) Wir haben noch zwei andere wichtige Themen adressiert. Erstens – der Kollege Schrodi hat es angesprochen –: Mit dem Jahressteuergesetz 2020 haben wir die Ehrenamtspauschale in § 3 Nummer 26a EStG auf 840 Euro angehoben. Normalerweise müsste man dann auch die entsprechenden Regelungen zur Haftung von Vereinsvorständen – das sind die §§ 31a und 31b des Bürgerlichen Gesetzbuchs – anpassen. Das war damals aufgrund der Schnelligkeit der Erhöhung der Ehrenamtspauschale im Rahmen des Jahressteuergesetzes nicht möglich. Deswegen holen wir das jetzt mit dem vorliegenden Gesetz nach und heben die Haftungsgrenze für Vergütungen bis 840 Euro an, schaffen also eine gleichlautende Regelung zur Ehrenamtspauschale. Das zweite Thema – das ist auch ein wichtiges Thema – ist die Aufwertung der FIU, unserer Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen, also für Geldwäsche. Die Arbeit in diesem Bereich ist ja leider nicht weniger geworden. Deswegen brauchen wir auch mehr Personal, um Geldwäsche in Deutschland zu verhindern. Wenn wir die FIU aufwerten wollen, dann brauchen wir eine eigene Direktion innerhalb der Generalzolldirektion mit den zugehörigen Maßnahmen und Personalaufwuchs durch die Schaffung entsprechender Stellen. Insofern kann man sagen: Das ist ein wichtiger Schritt. Lassen Sie uns deswegen heute gemeinsam dieses Gesetzespaket verabschieden. Und über den Kaffee sprechen wir noch mal an anderer Stelle, vielleicht zu später Stunde hier im Parlament. ({5}) Wenn wir einen Kaffee spendiert bekommen, dann können wir vielleicht noch mal darüber reden. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut, das ist jetzt ausgemacht; da freue ich mich. Vielen herzlichen Dank, Sebastian Brehm. – Till Mansmann gibt seine Rede zu Protokoll. ({0}) Jörg Cezanne gibt seine Rede zu Protokoll. ({1}) Der nächste Redner: Stefan Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 50 Milliarden Euro: In dieser Größenordnung subventioniert Deutschland umweltschädliches Verhalten – jedes Jahr. Was wir bei den Verbrauchsteuern also vor allem brauchen, ist eine große Reform. Wir müssen endlich damit aufhören, Verhalten zu belohnen, das Umwelt und Klima schadet. Aber die Bundesregierung beschränkt sich hier wieder mal auf technisches Klein-Klein. Da widerspreche ich Herrn Brehm: Ich finde, das ist zu wenig. ({0}) Aber erst mal zum konkreten Gesetzentwurf. Ja, es ist wichtig, die Struktur der Verbrauchsteuern zu vereinheitlichen. Und ja, es ist notwendig, den Handel mit Tabak, Alkohol oder Strom innerhalb der EU zu vereinfachen. Deswegen finden wir den Gesetzentwurf grundsätzlich richtig. Aber Union und SPD haben nicht zu Ende gedacht; denn die Änderungen bedeuten auch deutlich mehr und neuen Arbeitsaufwand in den Zollämtern, beispielsweise um kleineren Alkoholproduzenten Zertifikate für Steuerermäßigungen im EU-Ausland auszustellen. Mehr Arbeitsaufwand erfordert aber auch mehr Personal, und das hat die Bundesregierung in diesem Gesetzentwurf nicht genügend berücksichtigt. Die Arbeitsbelastung wird beim Zollpersonal deutlich zunehmen. Das befürchten nicht nur wir Grüne, sondern auch die Experten in der Sachverständigenanhörung. Wie soll Betrug, wie soll Steuergestaltung verhindert werden, wenn es nicht ausreichend Personal für vernünftige Kontrollen gibt? Der Zoll braucht endlich eine vernünftige Personalausstattung, und das schon sehr lange. ({1}) Und ja, es ist auch ein richtiger Schritt, die Financial Intelligence Unit als eigene Direktion innerhalb der Generalzolldirektion aufzuwerten. Aber auch hier haben Union und SPD nicht zu Ende gedacht. Denn die FIU wird nur organisatorisch aufgewertet; neue Aufgaben und neue Befugnisse bekommt sie nicht. Nein, sie kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler künftig einfach nur mehr Geld. Das Chaos bei der Antigeldwäschebehörde wird aber nicht allein mit mehr Geld und neuen Visitenkarten gelöst. Es braucht vor allem die richtigen Leute mit Fachexpertise und kriminalistischer Ausbildung, es braucht eine moderne IT-Ausstattung. Das wird langfristig nur funktionieren, wenn die FIU unabhängiger vom Zoll und endlich eine eigenständige Behörde wird. ({2}) Zustimmen können wir dem Gesetzentwurf also nicht. Zum Schluss möchte ich noch mal auf die dringenden Probleme hinweisen und damit auf den Anfang meiner Rede zurückkommen. Wenn es um die Verbrauchsteuern geht, müssen wir endlich an die großen Baustellen ran. Wann beginnt die Bundesregierung endlich damit, eine Kerosinsteuer einzuführen, die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge zu streichen oder das Dienstwagenprivileg abzuschaffen? Die Pariser Klimaschutzziele können wir nur einhalten, wenn wir unseren CO2-Ausstoß drastisch reduzieren, und das sofort. Hören wir also auf, umweltschädliches Verhalten weiter zu belohnen! Fangen wir endlich damit an, umweltschädliche Subventionen abzubauen! Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dorothee Martin. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir entscheiden heute über das Siebte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen. Was das konkret ist und was es bedeutet, erschließt sich vielen Bürgerinnen und Bürgern – vielleicht schauen zu Hause ja sogar noch einige zu – sicher nicht sofort. Mir ist es aber wichtig, dass immer deutlich wird, warum wir Gesetze und deren Inhalte verabschieden und wie die Bürgerinnen und Bürger davon profitieren können. Daher möchte ich hier noch mal zwei ganz unterschiedliche Ziele hervorheben, die meiner Fraktion und mir besonders wichtig sind und die wir mit diesem Gesetz ebenfalls auf den Weg bringen: Das ist erstens, wie eben schon erwähnt, die Stärkung von Strafermittlungsbehörden im Kampf gegen Geldwäsche. Damit stärken wir vor allem auch das Vertrauen in den Rechtsstaat; auch das ist ein Ziel. ({0}) Bei Geldwäsche denkt man vielleicht gemeinhin an diesen kleinen Ganoven, der aus krummen Geschäften erhaltenes Geld über kreative Kanäle in reguläres Einkommen überführt, damit den Behörden seine illegalen Verdienste nicht auffallen. Aber dieses ja fast schon romantische Bild vom kleinen Gauner aus alten Hollywoodfilmen ist längst hinfällig. Denn wir wissen: Geldwäsche hat eine große, eine internationale Dimension, in die alle möglichen kriminellen Vereinigungen verstrickt sind, die zugleich Täter und Profiteure sind. Um ebendiesen Machenschaften und vor allem auch Terrorismusfinanzierung noch besser und noch stärker entgegenzutreten, wandeln wir die FIU mit diesem Gesetz in eine eigene Direktion beim Zoll um und werten sie damit ganz klar auf. Aufgrund weiterer Aufgaben ist übrigens auch eine personelle Verstärkung der FIU im Haushalt geplant. Stand heute sind circa 360 Planstellen dauerhaft besetzt, und für die nächsten beiden Jahre sind bereits 300 weitere Stellen in Planung. Und natürlich braucht es in Zeiten, wo Kriminelle vor allem digital unterwegs sind, auch Ermittler/-innen, die digital schlagkräftig antworten können. Deswegen unterstützen wir die FIU beim Einsatz von künstlicher Intelligenz und auch bei der Einstellung von KI-Spezialistinnen und ‑Spezialisten, meine Damen und Herren. ({1}) Zweitens. Wir stärken – das ist uns wirklich wichtig – den so vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die Vorstände in ehrenamtlichen Vereinen sind, den Rücken, indem wir den schon angesprochenen Haftungsrahmen des BGB an die erhöhte Ehrenamtspauschale anpassen. Ein Wort dazu von mir als Hamburgerin: Wir haben damals als Hamburgische Bürgerschaft, der ich bis Mai letzten Jahres angehörte, die Initiative zur Erhöhung der Ehrenamts- und der Übungsleiterpauschale vorangetrieben. Dass wir das geschafft haben, hat mich besonders gefreut; denn ich glaube, uns allen ist klar, dass gerade jetzt auch die Ehrenamtlichen einen ganz wichtigen Beitrag leisten, um die sozialen Folgen der Pandemie abzufedern, indem sie mit enormen Kraftanstrengungen das Vereinsleben digital aufrechterhalten. Deswegen ist es so gut, dass wir diesen Haftungsrahmen jetzt anpassen, dass wir damit Rechtssicherheit schaffen und dass wir uns noch mal ganz klar hinter die Ehrenamtlichen stellen; denn das haben sie wirklich verdient, meine Damen und Herren. ({2}) Also, noch mal: Aus unserer Sicht gibt es zwei ganz zentrale Regelungen in diesem Gesetz: die Verstärkung des Kampfes gegen Geldwäsche und die weitere Unterstützung von Ehrenamtlichen. Das sind zwei ganz wichtige Ziele. Da machen wir mit diesem Gesetz einen ganz großen Schritt nach vorn. Und jetzt können wir alle einen Kaffee trinken gehen. Vielen Dank. ({3})

Rita Hagl-Kehl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004287

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der eingebrachte Entwurf ändert seinem Namen nach nicht nur den Verbraucherschutz im Verbraucherdarlehensrecht, er stärkt ihn auch. Zum einen gestaltet er die Musterwiderrufsinformation ausführlicher. Damit wird sie für Darlehensnehmerinnen und Darlehensnehmer verbraucherfreundlicher. Zum anderen weitet er den Umfang der Kosten, die Verbraucherinnen und Verbrauchern von ihrer Bank im Falle einer vorzeitigen Rückzahlung zu erstatten sind, aus. Beide Änderungen gehen auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zurück. Diese setzen wir mit dem Entwurf um. Schon bisher besteht in Deutschland ein hoher Verbraucherschutzstandard beim Abschluss von Verbraucherdarlehen, auch dank der europäischen Verbraucherkreditrichtlinie. Verbraucherinnen und Verbraucher haben, wenn sie einen Darlehensvertrag abschließen, ein Widerrufsrecht. Damit die 14-tägige Widerrufsfrist zu laufen beginnt, muss der Darlehensgeber seinem Kunden Informationen erteilen, die für das Vertragsverhältnis relevant sind. Damit soll sichergestellt werden, dass Verbraucherinnen und Verbraucher den Vertrag wohlinformiert abschließen. Bisher haben viele Darlehensgeber ihrer Informationspflicht Genüge getan, indem sie lediglich auf die gesetzlichen Regelungen hingewiesen haben. Der Europäische Gerichtshof hat nun entschieden, dass aus der Widerrufsbelehrung selbst erkennbar sein muss, welche Informationen für den Fristbeginn des Widerrufsrechts notwendig sind. Vor diesem Hintergrund ist die gesetzliche Musterwiderrufsinformation in Anlage 7 EGBGB erheblich auszuweiten. ({0}) Mit dem neuen Muster erhalten Verbraucherinnen und Verbraucher künftig eine Widerrufsbelehrung, die alle für den Fristbeginn maßgeblichen Informationen im Einzelnen auflistet. ({1}) Ein zusätzlicher Blick ins Gesetz ist dann nicht mehr notwendig. Mit der Umgestaltung wird die Widerrufsbelehrung zwar umfangreicher; dies entspricht allerdings den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes. Der vorgelegte Entwurf fasst die Widerrufsbelehrung gleichwohl klar und verständlich für Verbraucherinnen und Verbraucher zusammen. Zugleich werden die Darlehensgeber mit Gestaltungshinweisen bei der Abfassung der Belehrung unterstützt. Damit soll für beide Seiten Rechtssicherheit geschaffen werden. Zudem betrifft der Gesetzentwurf die vorzeitige Rückzahlung von Darlehen. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass im Fall der vorzeitigen Rückzahlung dem Darlehensnehmer auch laufzeitunabhängige Kosten zu erstatten sind. Die Auswirkungen dieses Urteils sind hierzulande zwar begrenzt. Gleichwohl passen wir das deutsche Recht selbstverständlich an die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes an. Wir stellen klar, welche Kosten Verbraucherinnen und Verbrauchern bei der vorzeitigen Rückzahlung des Darlehens vom Darlehensgeber zu erstatten sind. Sehr geehrte Damen und Herren, das Verbraucherschutzrecht in Europa entwickelt sich dank der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes weiter. ({2}) Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Verbraucherdarlehensrechts setzt diese Weiterentwicklung in nationales Recht um. Damit bringt er Verbraucherinnen und Verbrauchern greifbare und spürbare Verbesserungen. Ich danke Ihnen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Rita Hagl-Kehl. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Tobias Matthias Peterka. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Richtlinien aus Brüssel stehen wir allgemein erst einmal skeptisch gegenüber. ({0}) Das ist inzwischen einfach ein Erfahrungswert. ({1}) Dass diese als Vorgabe weniger einschneidend sind als Verordnungen der EU, bringt uns in Deutschland in der Regel herzlich wenig; denn durch das sogenannte Gold-Plating, also das Übererfüllen von Vorgaben, schränken wir uns in der Regel gerne selber über Gebühr ein. Bei der bisherigen Umsetzung der hier im Fokus stehenden Verbraucherkreditrichtlinie jedoch wollte sich der Gesetzgeber wohl ausnahmsweise einmal ein wenig Arbeit sparen, vielleicht auch dem Verbraucher. Informationen können nämlich gerade bei Verbraucherdarlehen in der Tat einen Umfang annehmen, der von den Darlehensnehmern bestenfalls abgeheftet wird, aber kaum durchgelesen. Der sogenannte Kaskadenverweis in Gesetzen sollte da wohl Papier bzw. Text sparen. Er ist laut EuGH-Entscheid aus dem März vergangenen Jahres unzulässig. Die Informationsklarheit spricht meiner Meinung nach auch dafür. Nicht jeder Bürger liest abends bei einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee gerne Schachtelverweise von EU-durchsetzter Rechtsgestaltung. Daher ist der ersten Urteilsumsetzung, so lange der EuGH für uns maßgeblich ist, freilich zuzustimmen. Die Tradition der mustergültigen Informationen rund um das Verbraucherrecht, also diese Anhänge mit Mustern, ist hingegen ausdrücklich zu begrüßen, eine europarechtlich mögliche Streichung daher abzulehnen. ({2}) Die Fragen der Staatshaftung bzw. eines neuen Restitutionsgrundes nach ZPO werden zwar von der Bundesregierung hier nicht aufgegriffen. Dies ist aber allemal vertretbar: Jeder Kotau vor dem EuGH, der nicht gemacht wird, ist eine gute Übung zur Stärkung des Rückgrats. ({3}) Weiter soll, wie bekannt, noch ein Urteil aus 2019 umgesetzt werden, mithin § 501 BGB explizit auf sonstige laufzeitunabhängige Kosten ausgedehnt werden – zugunsten des Verbrauchers, bei vorheriger Tilgung zumindest. Freilich schießen Banken und deren Verbände gegen diese Regelung; sie wollen eine Beschränkung auf sogenannte direkt mit der Erteilung des Darlehens zusammenhängende Kosten haben. Zumindest interessant finde ich auch, dass das Ministerium gar nicht alle Stellungnahmen dazu auf seine Homepage gepackt hat. Da nämlich führen Banken und Sparkassen das Beispiel an, dass eine Gebäudeversicherung des Darlehensnehmers bei einem Dritten dann als vertragliche Pflicht von der Bank erstattet werden müsste, also ums Eck, gegebenenfalls anteilig. Zugegebenermaßen wäre dies fragwürdig. Der Versicherungsschutz ist ja eine ganz andere Leistungsebene und hat für den Darlehensnehmer einen objektiven Nutzen bereits erbracht. Eine anderweitige Formulierung von § 501 BGB wäre meiner Meinung nach klarer gewesen; die Bundesregierung hat sich bei dem Sachverhalt zur Widerrufsbelehrung gerade auf Klarheit zurückgezogen. Aber Konsequenz ist vielleicht zu viel verlangt bei der Umsetzung von gleich zwei Urteilen auf einmal. Immerhin kann man sich auf eine differenzierte Rechtsfortbildung beim Umgang mit einem neuen § 501 BGB dann wohl verlassen. Das können deutsche Gerichte nämlich deutlich besser als der EuGH. Absolut unlogische Kosten, die Quasiverträge, also verbundene Verträge, fingieren würden – wie vorgenanntes Beispiel –, dürften dann durch die Rechtsprechung zurückgewiesen werden. Klarheit als Serviceleistung: Das tut anscheinend not. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Hoffmann. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der hier eingebrachte Gesetzentwurf besteht im Wesentlichen aus zwei großen Bausteinen, möchte ich einmal sagen. Baustein Nummer eins beschäftigt sich vor allem mit der Umsetzung der sogenannten Lexitor-Entscheidung des EuGH vom 11. September 2019, einer Entscheidung, die bei uns im Verbraucherdarlehensrecht durchaus für Beachtung gesorgt hat. Es ist schon angeklungen: Bereits heute ist es so, dass ein Darlehensnehmer die Möglichkeit hat, vorzeitig die gesamte Verbindlichkeit zurückzuzahlen. Der Verbraucher hat dabei – auch das gibt schon eine EU-Richtlinie vor – ein Recht auf die Ermäßigung der Gesamtkosten, nämlich – so steht es schon jetzt in § 501 BGB – auf Ermäßigung der Zinsen und auch auf Ermäßigung der sonstigen laufzeitgebundenen Kosten. Die Lexitor-Entscheidung macht jetzt deutlich, dass nach der Verbraucherkreditrichtlinie der Verbraucher ein Recht auf Ermäßigung der Gesamtkosten hat, und im Rahmen dieser Gesamtkosten sind neben den Zinsen und den sonstigen laufzeitgebundenen Kosten auch die laufzeitunabhängigen Kosten mit zu erfassen. Dieser Anforderung wird § 501 BGB in seiner aktuellen Fassung nicht gerecht. Bei den laufzeitunabhängigen Kosten – um ein Gefühl dafür zu bekommen – geht es tatsächlich um Maklerprovisionen oder Bearbeitungsgebühren oder eben auch, in bestimmten Konstellationen, um Versicherungsprämien. Beim zweiten Baustein – auch das ist schon dargestellt worden – geht es vor allem um die Widerrufsbelehrung, ein Instrument, durch das der Verbraucher vor allem über seine Rechte informiert wird. Die EuGH-Entscheidung vom 26. März 2020 in diesem Kontext kann eigentlich keine Überraschung sein; sie beinhaltet nämlich vor allem die Vorgabe, dass Verbraucher in – so wird es formuliert – „klarer, prägnanter Form“ die Informationen über die Modalitäten der Berechnung der Widerrufsfrist erhalten müssen. Deswegen soll ganz konkret der sogenannte Kaskadenverweis ausgeschlossen sein, der, wenn er gut gemacht ist, am Ende des Tages so funktioniert, dass nicht einmal mehr ein Jurist sich auskennt. Was ist ein Kaskadenverweis? Zum Beispiel: Die Widerrufsinformation verweist auf Vorschriften des nationalen Rechts, und wenn man dort dann nachschlägt, stößt man auf den nächsten Verweis auf andere Vorschriften des nationalen Rechts. Letztendlich, um es herunterzubrechen: Am Schluss ist es so, dass die Fristberechnung auch einem Verbraucher möglich sein muss, nur durch Lektüre der Widerrufsbelehrung, ohne Hinzunahme und ohne Nachschlagen von anderen Gesetzeswerken, also aus sich heraus verständlich und nachvollziehbar. Auch das soll an der Stelle angegangen werden. Ich glaube, das ist eine Zielrichtung, die uns im Sinne des optimierten Verbraucherschutzes hier alle einen muss. Ich will vielleicht noch einen Punkt ansprechen, mit dem wir uns etwas breiter beschäftigen sollten: Das ist natürlich die Frage der Rechtssicherheit. In den Stellungnahmen ist bisweilen zu lesen, dass auch viele Bankinstitute sich Sorgen machen und dort eine praxisgerechte Übergangsfrist fordern, die am Ende des Tages, wenn sie gut gemacht ist, ja auch dem Verbraucher Rechtssicherheit geben muss und erkennbar machen muss: Welche Regelung gilt ab wann? Wir haben mit Sicherheit im parlamentarischen Verfahren die Möglichkeit, darüber zu reden. Darauf freue ich mich. In Anbetracht der Uhrzeit schenke ich Ihnen die letzte Minute der Redezeit. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dafür danken wir Ihnen ganz besonders. Vielen Dank, Alexander Hoffmann. ({0}) – Der Herr Brehm war großzügiger, der hat uns Kaffee versprochen. Nächste Rednerin: Katharina Willkomm für die FDP-Fraktion. ({1})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche wurde ich noch gefragt, warum wir über dieses Thema debattieren müssen. Auch wenn die Anpassung der Musterwiderrufsbelehrung wenig streitig ist, ist es wichtig und richtig, darüber zu sprechen. Die Anpassung ist nötig, weil wieder einmal komplexe europäische Vorgaben in ebenso komplexe deutsche Normen umgesetzt wurden und der EuGH diese Normen später kippte. Die Verbraucherkreditrichtlinie gibt vor: Die Banken müssen über das Widerrufsrecht „in klarer, prägnanter Form“ belehren. Die Richtlinie wird dann aber selbst etwas unprägnant; denn sie fordert, die Verbraucher im Vertrag über – ich zitiere – „das Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechts sowie die Frist und die anderen Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts, einschließlich der Angaben zu der Verpflichtung des Verbrauchers, das in Anspruch genommene Kapital zurückzuzahlen, den Zinsen gemäß Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe b und der Höhe der Zinsen pro Tag“ zu informieren, und das neben 19 weiteren Punkten, über die ebenso prägnant informiert werden muss – ein Wust an Informationen, ähnlich einprägsam wie das Telefonbuch. ({0}) Vier Seiten Text für eine eigentlich ganz simple Botschaft: Nach Erhalt aller Unterlagen kann der Vertrag durch Widerruf binnen 14 Tagen rückabgewickelt werden, auch angelaufene Zinsen sind zurückzuzahlen. – Punkt. ({1}) Die Musterwiderrufsbelehrung ist dabei nur ein Symptom eines tiefsitzenden Problems: Die Regulierung der EU ist zu detailverliebt. Hier muss sich die Bundesregierung, am besten im Schulterschluss mit Frankreich, stärker frühzeitig einbringen ({2}) und auf klare und verständliche EU-Rechtsakte hinwirken. ({3}) Wenn diese nämlich einfach sind, kann man sich später die ellenlangen Erklärungen sparen. Information Overload hilft niemandem, am wenigsten den Verbrauchern, die im Alltag schon genug um die Ohren haben. Wo lange Ausführungen unumgänglich sind, sollten die wichtigsten Punkte als Onepager komprimiert werden oder als Just-in-time-Information genau dann auftauchen, wenn der Verbraucher etwas tun soll. ({4}) Als FDP-Fraktion haben wir daher bereits letzte Woche einen Antrag eingebracht, mit dem ein kurzer Hinweis auf das Widerrufsrecht neben dem Bestellbutton und gleich zu Beginn eines Vertrages aufgeführt werden sollen. Nur kurze Informationen bleiben den Menschen im Alltagsgedächtnis hängen. Helfen Sie uns dabei, EU-Vorgaben zu verschlanken, damit Verbraucher es im Rechtsverkehr wieder einfacher haben. Vielen Dank. ({5})