Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auslöser dieser Pandemie ist ein Virus, das unsere Gesundheit gefährdet. Eine unserer größten Sicherheiten in dieser Pandemie, in dieser Krise war und ist eine belastbare Gesundheitsversorgung, ein robustes Gesundheitssystem, das – übrigens im Unterschied zu vielen Ländern, durchaus auch Nachbarländern – zu keiner Zeit überlastet war. Es ist stark belastet gewesen – das ist es in Teilen Deutschlands auch immer noch, auch auf den Intensivstationen –, aber wir waren jederzeit in der Lage, jedem Patienten die notwendige Behandlung zukommen zu lassen und – wie übrigens gerade auch wieder gegenüber der tschechischen Regierung angeboten – auch in der Lage, unseren Nachbarländern zu helfen.
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Wir haben in dieser Pandemie in den letzten Monaten immer wieder akute Maßnahmen ergriffen, um das Gesundheitssystem zu unterstützen, um die vielen, vielen Millionen Menschen – im Gesundheitswesen in Deutschland arbeiten über 5 Millionen Menschen, mit viel Leidenschaft, aber vor allem auch viel Expertise – in dieser Pandemie zu unterstützen: Wir unterstützen die Krankenhäuser, auch aktuell, mit Rettungsschirmen, um sie abzusichern. Um das gleich klarzustellen: Da wird dieses Jahr noch mehr folgen müssen, um sie in der Pandemie abzusichern. Wir unterstützen den Öffentlichen Gesundheitsdienst akut in dieser Phase, unter anderem finanziell bei der digitalen Ausstattung, und noch in vielen anderen Bereichen.
Aber es gibt auch unsere kontinuierliche und langfristig angelegte Arbeit, um dieses Gesundheitswesen in seiner Struktur immer noch besser zu machen und auf die 20er-Jahre vorzubereiten. Damit haben wir im Übrigen auch schon vor der Pandemie, vor fast drei Jahren begonnen mit Schwerpunkten bei der Pflege, der Digitalisierung im Gesundheitswesen und einer besseren Versorgung insgesamt. In diese Kategorie, in diese Perspektive der langfristigen Verbesserung der Versorgung ordnet sich dieses Gesetz ein.
Wir sehen in dieser Pandemie sehr gut, was es für eine gute Versorgung in der Region bringen kann, wenn sich Krankenhäuser vernetzen, wenn sie sich zusammentun, wenn sie telemedizinisch zusammenarbeiten. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat gerade mit unserer Unterstützung einen Beschluss zur telemedizinischen Zusammenarbeit der Intensivstationen mit Blick auf Covid-19 gefasst. Das Prinzip gilt es nun natürlich für die Krankenhausversorgung insgesamt weiterzuentwickeln.
Mir ist dabei eines wichtig: Wenn wir Diskussionen über Strukturen bei den Krankenhäusern führen, geht es nicht um Sparen oder Schließen; das sind die Schlagworte, die dann immer wieder genannt werden. Es geht um etwas anderes: Es geht vor allem um Qualität und um eine gute vernetzte Versorgung.
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Es geht darum, dass wir eine Grundversorgung in der Fläche haben. Ich bin Münsterländer, und ich weiß, wie wichtig es ist, dass es gut erreichbare Kliniken und stationäre Angebote gibt, vor allem für die Grund- und Notfallversorgung. Darüber hinaus geht es darum, Schwerpunktversorger zu haben, Maximalversorger, Unikliniken, und zwar in einem Netzwerk miteinander, wo in einer Region nicht jeder alles machen muss. Es muss nicht jede Klinik, jedes Krankenhaus jede Station haben.
Da bin ich beim Thema Qualität. Wenn Sie etwas nur dreimal oder auch nur 30-mal im Jahr machen – das ist nicht mal einmal jede Woche –, dann hat das Auswirkungen auf Qualität, Erfahrung, Strukturen, gerade auch bei komplexen Operationen. Wenn Sie in ein Krankenhaus kommen und die sagen: „So einen Fall wie Sie hatten wir schon lange nicht mehr“, dann fühle ich mich da nicht wohl, wenn es um was Komplexes, Anspruchsvolles geht.
Wir sehen, dass es tatsächlich einen großen Unterschied in der Qualität gibt. Nur für die Herren: Bei einer Prostataoperation gibt es in den Kliniken, die die meisten Operationen in Deutschland in dem Bereich machen, ein bis zu 40, 50 Prozent geringeres Risiko für Impotenz oder Inkontinenz – 40 bis 50 Prozent geringer als im Durchschnitt! Ich würde 1 000 Kilometer fahren, wenn ich wüsste, dass das einen solchen Qualitätsunterschied macht.
Deswegen: Ja, es geht um eine gute Versorgung in der Fläche. Es geht vor allem bei komplexeren, planbaren Eingriffen aber auch um eine gute Qualität für die Patientinnen und Patienten.
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Deswegen wollen wir in diesem Gesetz Folgendes festlegen – Sie müssen dem nach den Beratungen noch zustimmen; dies ist unser Vorschlag –: Wir wollen Mindestmengen für bestimmte Bereiche, die wir auch weiter durch Verfahrensregelungen stärken, Qualitätsverträge als Instrument zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern, die wir für bestimmte Bereiche stärken wollen – wir wollen die Qualität auch durch konkrete einzelne Verträge steigern können –, vor allem aber Transparenz, dass der Versicherte, dass der Patient eben über die Qualitätsunterschiede informiert ist oder noch besser als bisher darüber informiert ist. Es gibt ja durchaus schon Transparenz, aber manchmal sind die Informationen schwer zu finden; dann ist es keine wirkliche Transparenz. Es ist manchmal schwer, die Qualitätsunterschiede zu erkennen, obwohl eigentlich alles veröffentlicht ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch dort einen weiteren Schritt gehen. Das ist ein wichtiger Teil dieses Gesetzes, der Schwerpunkt.
Es werden aber weitere wichtige Themen aufgegriffen. Ich will nur einige nennen. Ein wichtiges Thema ist die Betreuung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Wir wollen die Hospiz- und Palliativnetzwerke stärker finanzieren, vor allem wollen wir auch die ambulante Kinderhospizarbeit stärker als bisher finanzieren. Es gibt weitere wichtige Regelungen, etwa zur Finanzierung der Krebsberatungsstellen, die für viele Bürgerinnen und Bürger sehr wichtig sind, weil sie eine Anlaufstelle sind, die vieles bündelt. Dort geht es nicht nur um medizinische Fragen, sondern da geht es auch um Rentenfragen, um soziale Fragen; diese Anlaufstellen finanzieren wir. Im Gesetzentwurf sehen wir strukturierte Behandlungsprogramme für die Behandlung von Adipositas vor, und auch zu Notfallstrukturen gibt es Verbesserungen.
Das sind viele Punkte. Es sind viele wichtige Punkte für eine langfristig solide Versorgung weit über diese aktuelle Pandemie hinaus.
Daher wünsche ich uns gute Beratungen für dieses Gesetz.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Ich muss mich jetzt mal outen als ein großer Fan von Qualitätsmanagementsystemen. Qualitätsmanagementsysteme verbessern Prozesse, Abläufe und vermeiden Fehler.
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Als ich vor Jahren noch meine Kassenzulassung hatte, war ich der Erste in der Region, der eine ISO-9001-Zertifizierung abgeschlossen hatte, und das war damals nicht verpflichtend, meine Damen und Herren.
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Dies haben wir dann auch erfolgreich in andere Arztpraxen implementiert.
Glauben Sie mir: Aus diesem Wissen heraus kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass es nicht möglich sein wird, QM-Systeme zwischen Krankenhäusern und Arztpraxen wirkungsvoll zu vergleichen, wie es in dem Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das streben Sie aber an, unter anderem mit diesem monströsen und unausgegorenen Gesetzentwurf. Nicht nur das, Sie wollen sogar die Krankenhäuser und Vertragsärzte dazu verpflichten. Das Ergebnis ist ein völlig verzerrtes Bild, das den Patienten nicht hilft, sondern sie eher verwirrt. Die Patientenversorgung wird dadurch nicht wie gewollt verbessert, sondern deutlich verschlechtert. Die Fehler, die Sie mit brachialer Gewalt durch dieses QM-System beheben wollen, sind grundsätzlich systemimmanent und ein Problem des gesamten Gesundheitswesens in Deutschland. Sie machen damit den zweiten Schritt vor dem ersten und führen das Management selbst, das eigentlich die Qualität verbessern soll, ad absurdum.
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen stattdessen dringend, ein Qualitätsmanagement für die Bundesregierung einzuführen, vor allem für das Bundesgesundheitsministerium.
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Wissen Sie auch, warum? Dies würde nicht nur die Transparenz für die Wähler erhöhen, sondern darüber hinaus auch das Chaos im Management der Coronapandemie endlich beenden. Denn hätten Sie, Herr Bundesgesundheitsminister, die drei Hauptwerkzeuge des modernen QM-Systems benutzt, nämlich erstens Problemanalyse, zweitens Entscheidungsfindung und drittens Lösungsfindung, dann wären uns in Deutschland in der Tat dieses Chaos und der Lockdown komplett erspart geblieben.
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Qualität beginnt nämlich damit, zuallererst vor der eigenen Haustür zu kehren, statt woanders Fakten schaffen zu wollen.
Fakten schaffen wollen Sie auch bei den Haftpflichtansprüchen gegenüber Ärzten. Bei Unterschreitung einer gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungssumme soll Ärzten das Ruhen der Zulassung drohen.
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Wieso eigentlich? In § 21 der Berufsordnung für Ärzte ist festgelegt, dass sich Ärzte hinreichend – ich betone noch mal: hinreichend – gegen Haftpflichtansprüche aus der beruflichen Tätigkeit zu versichern haben. Eine einheitliche Mindesthöhe über alle Arztgruppen hinweg ist sowohl fachlich als auch sachlich falsch, da sowohl Schadenshöhe als auch Schadenshäufigkeiten in den verschiedenen Arztgruppen deutlich variieren. Möglicherweise droht hierdurch ein Verlust der Arztzulassung. In Anbetracht des Ärztemangels ist das einfach nur eine Farce und absolut unnötig.
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Herr Kollege Spahn, wollen Sie wirklich, dass noch mehr deutsche Ärzte ins deutschsprachige Ausland oder gar nach Übersee gehen? Viele Kollegen – ich spreche ihnen aus dem Herzen – wollen einfach nur noch weg. Warum wollen Ärzte weggehen? Weil all dies, inklusive Ihres QM-Systems, zu weiteren Bürokratiemonstern führt – was Sie doch gerade nicht wollen. Sie konterkarieren damit selbst Ihren Koalitionsvertrag, in dem Sie sich dem Abbau der Bürokratie verschrieben haben.
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Und es wird mit dem Gesetzentwurf sogar noch bürokratischer und chaotischer: Sie wollen bundesweit ein einheitliches Ersteinschätzungsverfahren für die ambulante Notfallbehandlung einführen. Dabei gibt es ja ein etabliertes und langjährig bewährtes System in den Krankenhäusern. Will man hier Aktionismus vorgaukeln oder einfach nur Eulen nach Athen tragen? Wäre es nicht besser gewesen, wenn man schon was Neues machen will, Sie hätten ein integriertes Notfallsystem erschaffen, in dem ambulante, stationäre, rettungsdienstliche und katastrophendienstliche Versorgungsbereiche als Ganzes abgebildet werden? Daran wäre natürlich auch die Vergütung auszurichten.
Wenn wir schon einmal bei der Vergütung sind, wollen wir auch über Ihre Tarifreform bei der privaten Krankenversicherung reden. Dort wollen Sie den Notlagentarif an den Basistarif angleichen. So weit, so gut. Aber ehrlich: Sollte man sich nicht viel dringender wichtigeren Themen widmen? Dazu zählt erstens, dass Privatversicherte ihre Altersrückstellungen beim Versicherungswechsel bedingungslos mitnehmen können, damit die Versicherten den Beitragserhöhungen der Versicherungskonzerne nicht alternativlos ausgeliefert sind. Zweitens sollten Sie darauf hinwirken, dass die Gebührenordnung der Ärzte sich endlich dynamischer und schneller den aktuellen Gegebenheiten anpassen kann.
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Auch eine Regionalkomponente, wie beispielsweise in unserem PRP-System vorgeschlagen, wäre hier durchaus vorstellbar. Meines Wissens liegt seit 2013 dem Ministerium ein gemeinsamer Vorschlag der Bundesärztekammer und des Verbandes der Privaten Krankenversicherung dazu vor – seit 2013!
Dennoch lässt sich auch etwas Positives vermerken, Herr Spahn. Denn Sie haben es in der Tat geschafft, den Anspruch auf Vorsorgeleistungen in eine Pflichtleistung umzuwandeln. Gerade in Pandemiezeiten zeigt sich, wie wichtig Prävention für unsere Gesundheit, das Gesundheitssystem und insbesondere für unsere Kurortmedizin ist.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen ersten Lesung beginnen wir die parlamentarische Befassung mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, kurz: GVWG. Und auch wenn wir in dieser Legislaturperiode schon viele gute Gesetze auf den Weg gebracht haben, so zeigt der vorliegende Gesetzentwurf, dass uns die Arbeit nicht ausgeht, wenn es darum geht, die Versorgung der Patientinnen und Patienten Stück für Stück weiter zu verbessern.
Der Gesetzentwurf besteht aus einer Vielzahl an Regelungen, die einzeln betrachtet kein geschlossenes Bild ergeben. Aber wie bei einem Puzzle geht es auch hier um die am Ende noch fehlenden Teile. Ohne sie ist die bisher geleistete Arbeit eben unvollständig. Unser Ziel ist es, mit dem Gesetz den Weg für eine lückenlose, bessere Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu ebnen. Ich bin davon überzeugt, dass im parlamentarischen Verfahren noch das eine oder andere Puzzleteil dazukommen wird.
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Meine Damen und Herren, ich komme aus einem Wahlkreis mit fünf Heilbädern – Bad Kissingen, Bad Bocklet, Bad Brückenau, Bad Neustadt, Bad Königshofen –, eines schöner als das andere. Für die Heilbäder und Kurorte ist es von enormer Bedeutung, dass zukünftig ambulante und stationäre Vorsorgeleistungen wieder zur Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenversicherung werden. Denn sowohl als Kreisrätin als auch als praktizierende Ärztin habe ich in den 90er-Jahren erlebt, wie die gesamte Region gelitten hat, als die Seehofer’sche Gesundheitsreform die Vorsorgekuren aus dem Leistungskatalog gestrichen hat. Es hat lange gedauert, bis wir uns nach diesem Kahlschlag wieder berappelt haben, bis wir uns nach einer langen Durststrecke zu einer etablierten Gesundheitsregion weiterentwickelt haben, die heute gut aufgestellt ist und den neuen Herausforderungen entgegenfiebert.
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Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir nun den Zugang zu ambulanten und stationären Vorsorgeleistungen verbessern. Es ist nicht nur für den Versicherten und sein Umfeld wichtig, frühzeitig anzusetzen und damit eine Chronifizierung von Erkrankungen zu verhindern; es macht einfach auch gesamtwirtschaftlich und gesellschaftlich Sinn, Prävention zu fördern und Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen.
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Ein weiteres Puzzleteil sind die Regelungen zur Berufshaftpflichtversicherung. Die SPD hat lange dafür gekämpft, dass Vertragsärzte durch eine Regelung im Sozialgesetzbuch verpflichtet werden, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen und nachzuweisen. Bei einer Mindestversicherungssumme von 3 Millionen Euro pro Versicherungsfall können Patientinnen und Patienten künftig darauf bauen, dass ihre berechtigten Schadensersatzansprüche tatsächlich bedient werden können.
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Das ist im Übrigen auch eine Forderung des Bundesrechnungshofes.
Meine Damen und Herren, wir werden mit dem Gesetz zwei weitere Themen aufgreifen, die uns Sozialdemokraten sehr wichtig sind: zum einen die Einführung eines weiteren strukturierten Behandlungsprogramms, eines DMP Adipositas, und zum anderen den Ausbau des Zweitmeinungsverfahrens. Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind übergewichtig, ein Viertel der Erwachsenen ist sogar stark übergewichtig. Adipositas ist nicht nur selbst eine Krankheit, sie ist auch die Wurzel und der Katalysator für weitere Erkrankungen.
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Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, die Patienten mit einem strukturierten Behandlungsprogramm zu unterstützen.
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Mit der Einführung des DMP Adipositas setzen wir im Übrigen auch eine Forderung aus unserem gemeinsamen Antrag zur Nationalen Diabetes-Strategie um. Aber, sehr geehrter Herr Minister Spahn, der Antrag der Koalitionsfraktionen enthält noch viele weitere wichtige Aspekte, die darauf warten, dass Sie tätig werden.
Darüber hinaus werden wir mit dem vorliegenden Gesetz den Anspruch der Versicherten auf ein unabhängiges ärztliches Zweitmeinungsverfahren ausbauen. Zweitmeinungsverfahren sind ein wichtiges Instrument, um Patientinnen und Patienten bei der Entscheidung zu unterstützen, ob bestimmte planbare Eingriffe wirklich notwendig sind oder ob es Alternativen gibt.
Abschließend, meine Damen und Herren, widmen wir uns in dem Gesetz auch der ambulanten Notfallversorgung der Patienten. Wir werden ein standardisiertes und bundesweit einheitliches Ersteinschätzungsverfahren vorgeben. Ich sage hier ganz offen: Ich hätte mir im Bereich der Notfallversorgung mehr gewünscht. Ich bedauere es wirklich sehr, dass es nicht gelungen ist, mehr Patientensteuerung und mehr Vernetzung zu etablieren. Dass hier keine Vereinbarung und keine Absprache mit den Ländern getroffen werden konnten, bedauere ich auch sehr. Hier haben wir noch Aufgaben für die nächste Legislaturperiode vor uns.
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Meine Damen und Herren, das vorliegende Gesetz ist sicherlich kein großes, zentrales Reformgesetz, an das wir uns auch noch Jahre später erinnern. Aber wir werden mit diesen zahlreichen Puzzleteilen dazu beitragen, dass viele spezielle Bereiche in der ambulanten und stationären Versorgung ein Stück weit besser werden.
Ich freue mich auf die parlamentarische Befassung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Bleiben Sie gesund!
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Jetzt ist das Rednerpult bereit für den Kollegen Dr. Andrew Ullmann, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Spahn’sche Omnibus ist wieder unterwegs: Dieses klassische Omnibusgesetz, das GVWG, enthält mehrere Regelungen zu Qualität und Transparenz in der stationären Versorgung, zu Spezifikationen, zu Qualitätsverträgen, zur Einholung einer Zweitmeinung, zum PKV-Notlagentarif, zum Ersteinschätzungsverfahren für die ambulante Notfallbehandlung in Krankenhäusern, zur Förderung der Koordination in Hospiz- und Palliativnetzwerken und zur Fortführung von akademischen Ausbildungsangeboten in der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie.
Das Ziel ist unschwer zu erkennen: Die Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft ist zu erhalten und die Versorgung qualitativ weiterzuentwickeln. Dieses Bündel unterschiedlichster gesetzlicher Maßnahmen beabsichtigt, die Leistungen sowie die Qualität und Transparenz der Versorgung zu verbessern, Netzwerke zu stärken und strukturelle Verwerfungen zu beseitigen. Dieses Ansinnen, Herr Minister, ist grundsätzlich zu begrüßen. Der Erstaufschlag für mehr Qualität in Krankenhäusern ist wichtig und gut und längst überfällig. Weitere Schritte müssen natürlich spätestens ab September folgen.
Wir reden leider zu häufig über Gesundheit als Kostenfaktor, statt über Versorgungsqualität zu diskutieren und darüber, wie diese verbessert werden kann. Wir wissen alle, welchem Druck Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Krankenhäusern oder auch in den Arztpraxen tagtäglich ausgesetzt sind: die Rechtfertigung, warum welche medizinischen Maßnahmen ergriffen werden, und immer die Sorge mit Blick auf die kaufmännische Direktion, dass nicht kostendeckend gearbeitet wird. Wir müssen diese Spirale endlich durchbrechen; denn kalte Strukturreformen durch Insolvenzen können natürlich nicht die Lösung sein. Wir brauchen eine Strukturreform hin zu mehr Qualität.
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Das bedeutet auch, dass nicht mehr jedes Krankenhaus jeden Eingriff machen darf. Die Krankenhäuser, die sich auf bestimmte Eingriffe spezialisiert haben, können diese aber dafür richtig gut; denn Übung macht den Meister. Wir als FDP wollen gute Medizin: überall, ambulant, stationär und für alle.
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Doch warnen möchte ich vor dem Fehlen von Bürokratieentlastungen.
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– Oder wollen Sie mehr Bürokratie, Herr Weinberg? Offensichtlich ja.
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Eine Entlastung von Bürokratie im nennenswerten Umfang fehlt. Einige beabsichtigte Maßnahmen beinhalten nämlich die Gefahr von neuen bürokratischen Verpflichtungen und möglichen zusätzlichen finanziellen Belastungen. Diese Punkte werden wir in den Anhörungen noch mal genauer prüfen; denn wir wollen medizinische Qualität, aber ohne mehr Bürokratie.
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– Ja, aber manchmal sieht das bei der Gesetzgebung anders aus.
Drei Punkte möchte ich gerne herausgreifen, die ich bemerkenswert finde.
Erster Punkt. Frühzeitige Vorkehrungen, um eine ausreichende Menge an Grippeschutzimpfstoffen für die Wintersaison 2021/2022 zu besorgen, halte ich für den richtigen Weg. Wir müssen uns aber aufgrund der Entwicklung von Covid-19-Mutationen auch darüber Gedanken machen, dass möglicherweise auch eine weitere Impfkampagne stattfinden muss. Dazu bedarf es jetzt der Planung und nicht erst in ein paar Monaten.
Der zweite Punkt ist der Aufbau und die Förderung von regionalen Hospiz- und Palliativnetzwerken. Als einer, der sehr lange in der Krebsmedizin gearbeitet hat, kann ich hier darauf hinweisen, dass wir das als etwas ganz Essenzielles auch brauchen.
Der dritte Punkt – Frau Dittmar hat es ja gerade kurz angesprochen –: Die Diabetesprävention findet sich ein wenig versteckt in dem sogenannten Disease-Management-Programm für Adipositas. Aber das ist ein richtiger und wichtiger Weg. Dabei frage ich mich, inwieweit das vielleicht doch eher zur Selbstverwaltung gehört und nicht gesetzlich festgelegt werden sollte. Aber auch dazu werden wir noch Anhörungen durchführen, um das besser zu verstehen.
Ich freue mich auf den Gesetzgebungsprozess; denn das Gesetz in Richtung mehr Qualität in der medizinischen Versorgung ist der richtige Weg. Fortsetzungen müssen natürlich folgen, Herr Minister. Aber ein Fehler darf sich nicht wiederholen: mehr Bürokratie!
Herzlichen Dank.
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Harald Weinberg, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz: 46 Buchstaben! Wer denkt sich eigentlich bei Ihnen im Ministerium solche Namen aus? Gibt es da eigene Abteilungen oder Referenten, die das machen?
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Alles wird immer weiter, stärker, schöner, besser, Herr Brinkmann.
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Aber man hätte das Gesetz natürlich auch einfach „Spahns Resterampe“ nennen können, weil hier nämlich im Wesentlichen tatsächlich die Restbereiche des Koalitionsvertrages abgearbeitet werden. Das Spektrum reicht von mehr Geld für Obduktionen in Krankenhäusern bis hin zur verpflichtenden Berufshaftpflicht für Vertragsärzte; wir haben es gehört. Mehr als 35 einzelne Regelungen – einiges an Licht, aber auch einiges an Schatten. Im Rahmen meiner Redezeit will ich nur auf ein paar wenige ausgewählte Punkte eingehen.
Zum Vergleich der Krankenhäuser untereinander sollen ein Pflegepersonalquotient und die Zusammensetzung des Pflegepersonals verpflichtend veröffentlicht werden. Klingt erstmal gut; denn es bringt Licht ins Dunkel und kann den bestehenden krassen Pflegenotstand in den Krankenhäusern offenbaren. Das Sichtbarmachen eines Notstands ist allerdings noch lange nicht identisch mit der Beseitigung des Notstands. In einem wettbewerblichen Umfeld, in dem die Krankenhäuser nach dem Willen Ihrer Politik agieren sollen, kann das schnell zu einem weiteren wettbewerblichen Instrument werden. Dafür ist uns die Beseitigung des Pflegenotstands in den Krankenhäusern jedoch zu wichtig.
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Qualitätsvergleiche in der stationären und in der ambulanten Versorgung: Wir hatten es Ihnen ja 2015 bei der Verabschiedung des Krankenhausstrukturgesetzes vorhergesagt, dass Sie mit dem Versuch, die Vergütung der Krankenhäuser an Indikatoren der Ergebnisqualität auszurichten, Schiffbruch erleiden werden. Weil diese Indikatoren nicht rechtssicher ausgestaltet werden können, werden die Qualitätszu- und ‑abschläge, die damals eingeführt worden sind, sang- und klanglos abgeschafft. Immerhin haben wir recht behalten.
Für das damals eigens geschaffene Institut IQTIG sollen jetzt wohl neue Aufgaben geschaffen werden, deshalb nun diese Qualitätsvergleiche. Immerhin sind sie zunächst nicht erlösrelevant – das ist erst mal gut. In dem von Ihnen geschaffenen wettbewerblichen Umfeld werden sie vermutlich dennoch in Zukunft die Gerichte beschäftigen, weil Ärzte und Krankenhäuser, die sich schlecht bewertet fühlen, dagegen klagen werden. Ein Nutzen für die Gesundheitsversorgung der Menschen ist zumindest zweifelhaft.
Kommen wir zu einem Lichtblick. Das ist das Aufrechnungsverbot im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung. Privatversicherte im Notlagentarif haben immer Beitragsschulden, sonst wären sie nicht in diesem Notlagentarif. Müssen sie zum Arzt oder ins Krankenhaus, haben diese gegen die Versicherten einen Zahlungsanspruch. Die private Krankenversicherung müsste die Rechnungssumme an den Versicherten überweisen. Nach geltendem Recht kann sie diese aber mit den bestehenden Beitragsschulden verrechnen. Im Ergebnis ist der mittellose Versicherte dem Leistungserbringenden Geld schuldig, erhält aber von der Versicherung keinen Cent. Das ist schlecht für die Betroffenen, weil sie sich damit logischerweise in einer Schuldenspirale befinden. Aber es ist auch schlecht für die Krankenhäuser und für die Ärzte, weil die halt eben keinen Anreiz haben, solche Versicherte gut und schnell zu behandeln. Die Linke hat auf das Problem schon vor einiger Zeit mit einer Kleinen Anfrage aufmerksam gemacht. Nun wird das durch ein Aufrechnungsverbot und durch Direktabrechnung geändert. Man sieht: Links wirkt!
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Dabei will ich es belassen, um noch einmal zu etwas Grundsätzlichem zu kommen; denn immerhin geht es ja auch um die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Deutschland insgesamt, und da ist ja einiges zu entwickeln; das hat nicht zuletzt die Coronapandemie wie ein Brennglas offenbart.
Was ist denn mit Lessons learned? Welche Vorstellungen gibt es denn zur Weiterentwicklung – auch in diesem Hause?
Auf der Seite der FDP gibt es in diesem Haus den erkennbaren Wunsch, den bisherigen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs- und profitorientierten Kurs in der Gesundheitspolitik nicht nur fortzusetzen, sondern sogar noch zu verschärfen. Dafür gibt es bei der FDP eine klassisch neoliberale Lösung: Privat vor Staat. Marktversagen ist im Zweifel immer besser als Staatsversagen.
Rechts daneben sehen wir die gleiche Denke, versehen mit einer unappetitlichen völkisch-nationalistischen Duftmarke. Eine Politik für reiche Deutsche verbindet sich da mit einer Sehnsucht nach dem Deutschen Reich – auch in der Gesundheitspolitik. Pfui Deibel, kann ich da nur sagen!
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In der Mitte des Hauses finden wir eine eher ordoliberale Ausrichtung in der Gesundheitspolitik. In einem vorgegebenen Ordnungsrahmen soll möglichst viel dem Markt und den Marktakteuren überlassen werden. Die Debatte geht um die Ausgestaltung des Rahmens, um die Höhe und die Farbe der Leitplanken, aber nicht um die grundsätzliche Richtung. Ich sage voraus, dass das die Schrittmenge sein kann, die Schwarz und Grün in der Gesundheitspolitik in Zukunft verbindet; darauf werden sie sich womöglich einigen können.
Die Sozialdemokratie befindet sich in einer doppelten babylonischen Gefangenschaft, nämlich zum einen in einer ungeliebten Großen Koalition, in der sie sich zunehmend unwohl fühlt und mehr und mehr als Opposition in der Koalition versucht – wir haben gestern mit Lars Klingbeil ein wunderbares Beispiel dafür erleben können –,
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zum anderen wird sie die Geister der eigenen Vergangenheit, die Geister der Agenda-Politik, nicht los. Aber immerhin scheint die verschüttet geglaubte Erinnerung an das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes immer mal wieder und immer öfter durch.
Wer aber die zunehmende Privatisierung im Gesundheitswesen nicht hinnehmen will, wer weiter darauf besteht, dass Krankenhäuser nicht dazu da sind, Gewinne zu machen, sondern Menschen gesund zu machen, wer eine solidarische, paritätische und gemeinwohlorientierte Finanzierung des Gesundheitswesens für ein Gebot des Grundgesetzes hält,
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wer den Pflegenotstand in den Krankenhäusern und in der Altenpflege nicht verwalten will oder für gottgeben hält, sondern beseitigen will, der oder die kommt an der Linken nicht vorbei;
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denn sie ist die einzige Partei, die in diesem Haus uneingeschränkt für eine solche Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung steht.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dittmar hat gerade eigentlich den richtigen Ausdruck für diesen Gesetzentwurf gewählt, der heute hier eingebracht wird. Es ist nämlich ein Gesetzentwurf, der mehr einem Puzzle gleicht, als dass er tatsächlich dem Anspruch gerecht wird, eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu bewirken.
Dieser Gesetzentwurf reiht sich ein in eine lange Reihe von Gesetzen, bei denen wir häufig 60, 70 verschiedenste Änderungen haben, zwei Dinge aber nicht erreicht werden, nämlich eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung und gleichzeitig ein Konzept dafür, wie wir tatsächlich mehr Qualität und mehr Nutzen für die Patientinnen und Patienten verankern können. Das ist eines der Probleme.
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Sie können noch so viele Baustellen im Bereich der Qualitätssicherung aufmachen und Qualitätsmanagement- sowie Transparenzvorgaben machen: Wenn Sie es nicht schaffen, diese in grundlegende Reformen einzubinden – sowohl in allen Säulen der Krankenhausversorgung als auch bei der Krankenhausplanung, dem Entgeltsystem und den Investitionskosten –, dann werden Sie es nicht schaffen, tatsächlich eine gute Qualität in der Versorgung sicherzustellen.
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Sie vernachlässigen all das, was nötig wäre, um bei der sektorübergreifenden Versorgung tatsächlich weiterzukommen. Das klingt wie ein Schlagwort, heißt für die Patientinnen und Patienten, für die Versicherten aber: eine strukturierte, koordinierte Versorgung vor Ort, Absprachen zwischen den Leistungserbringern über die Qualität und das, was da eigentlich passieren wird, Vermeiden von Doppeluntersuchungen – am besten gestützt durch digitale und telemedizinische Instrumente. Das wäre der Weg, den wir einschlagen müssten. Wo sehe ich genau das? – Nirgends.
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Sie bringen es fertig, die dringend überfällige Notfallversorgung in diesem Gesetzentwurf in einem einzigen Passus, in dem es darum geht, ein gemeinsames Ersterfassungssystem zu vereinbaren, abzuhandeln. Das kann es nicht sein. Wir brauchen dort eine grundlegende Reform, und Sie hatten ja eigentlich auch anerkannt, dass diese grundlegende Reform nötig ist. Wo bleibt sie? – Auf weiter Strecke nichts zu sehen!
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Wir könnten damit an einigen Stellen weitermachen. Das zeigt: Es darf nicht weiter so gehen, dass wir nur über Puzzleteile arbeiten. Vielmehr müssen wir, koordiniert zwischen den verschiedenen Formen – stationär, ambulant, Pflege, psychosoziale Unterstützung –, ein Gesamtbild von guter ambulanter und stationärer Versorgung in allen Leistungsbereichen ortsnah zugänglich und mit einer hohen Qualität in einem gestuften Versorgungssystem erreichen.
Genau das fehlt; dieses Bild zeichnen Sie nicht. Das ist der Mangel, der Grund, warum jeder dieser einzelnen Ansätze nichts werden kann. Es bleiben einfach zu kleine Stellschrauben. Da müssen wir mit einem Neuaufbruch in der Gesundheitspolitik gegenhalten. Der ist dringend erforderlich.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dietrich Monstadt, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Bundesminister Spahn! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Wir möchten mit diesem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung eine höhere Qualität und Transparenz, bessere Leistungen und eine stärkere Vernetzung in der Versorgung Versicherter erreichen. Mein Dank geht an den Gesundheitsminister Jens Spahn und sein Haus, dass trotz epidemischer Lage auch andere wichtige Dinge weiterentwickelt werden.
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Herr Weinberg, erlauben Sie folgende Bemerkung: Dass Sie unseren geschätzten Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus mit dem Namen eines, wenn auch bekannten, Fernseharztes ansprechen, ist hoffentlich kein Qualitätsindex Ihrer Gesundheitspolitik.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Punkte aus dem Gesetzentwurf hervorheben:
Der Entwurf sieht beispielsweise vor, dass die Vorgaben für die Festlegung von Mindestmengen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss geschärft werden; der Minister ist hierauf schon genauer eingegangen.
Als Berichterstatter für Diabetes und Adipositas liegt mir die Vernetzung der Versorgung gerade in diesem Bereich besonders am Herzen. Die Einführung eines strukturierten Behandlungsprogramms, DMP, zur besseren Behandlung von Menschen mit Adipositas ist vor diesem Hintergrund ein erster wichtiger Schritt.
Um Ihnen zu verdeutlichen, wie wichtig und überfällig ein solches Programm ist, darf ich an dieser Stelle – die Frau Kollegin Dittmar hat auch schon darauf hingewiesen – auf die, wie ich finde, absolut dramatischen Zahlen in diesem Bereich hinweisen: 15,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, fast 6 Prozent adipös, 67 Prozent der Männer sind übergewichtig, 23 Prozent adipös, 53 Prozent der Frauen sind übergewichtig, 24 Prozent adipös – mit einer leider steigenden Tendenz in allen Kohorten, was für die Kinder, wie ich finde, besonders dramatisch ist.
Häufig stehen Menschen, die unter Adipositas leiden, einer medizinischen Unterversorgung gegenüber. Die Krankheit wird zu spät festgestellt und dann nur schleppend behandelt. Die Selbstverwaltung unterstützt eine leitliniengerechte Behandlung nicht immer uneingeschränkt.
Mit dem neuen DMP sorgen wir dafür, dass Haus- und Fachärzte sowie Kliniken besser vernetzt werden. So erhalten die Patientinnen und Patienten die besten medizinischen Angebote aus der ambulanten und stationären Versorgung.
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Dauerhaft ermöglichen wir durch das neue Programm, dass individuelle und bedarfsgerechte Therapien für alle zugänglich werden. Außerdem wird durch das DMP der Anreiz geschaffen, entsprechende Therapien weiterzuentwickeln.
Meine Damen und Herren, am 3. Juli 2020 haben wir in diesem Hohen Haus die Nationale Diabetes-Strategie beschlossen. Die darin enthaltene Forderung nach der Sicherstellung einer individuellen, multimodalen und interdisziplinären Versorgung von Menschen mit Adipositas wird nun im DMP aufgegriffen. Das darf allerdings nicht der letzte Schritt sein.
Ebenso hervorzuheben ist, dass mit diesem Gesetz die Koordination in Hospiz- und Palliativnetzwerken weiter gefördert werden soll. Krankenkassen sollen künftig unter bestimmten Voraussetzungen Zuschüsse zahlen und sich gemeinsam mit kommunalen Trägern der Daseinsvorsorge an dem Aufbau und der Förderung von bedarfsgerechten regionalen Hospiz- und Palliativnetzwerken beteiligen. Das sichert und stärkt diese regionalen Netzwerke.
Genauso wichtig ist, dass in § 65e SGB V die ambulanten Krebsberatungsstellen zukünftig mit einer deutlich höheren Summe durch die Krankenversicherung gefördert werden. So wird das jährliche Fördervolumen um 42 Millionen Euro erhöht. Die Summe der pauschalen Förderung, die weiterhin für jeweils drei Jahre bewilligt wird, führt zu einer verbesserten Planungssicherheit. Sie führt letztlich durch die erleichterte Gewinnung qualifizierten Personals zu einem dauerhaften und zuverlässigen Betrieb in diesen Beratungsstellen.
Meine Damen und Herren, mit der gesetzlichen Regelung wird auch die Arbeit in den überlasteten Notfallambulanzen weiter optimiert. Es wird ein einheitliches Ersteinschätzungsverfahren für die ambulante Notfallbehandlung im Krankenhaus eingeführt. Die Anwendung dieses Verfahrens gilt künftig als Voraussetzung für die Abrechnung ambulanter Notfallleistungen.
Außerdem ist mir wichtig, heute darauf hinzuweisen, dass wir mit der Regelung in § 120 SGB V den Zugang zur Terminvermittlung durch die Terminservicestellen nach Vorstellung in der Notfallambulanz erleichtern. Eine Überweisung ist hier nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung nicht mehr erforderlich.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz packt die Koalition viele wichtige Dinge an. Die Versorgung der Patienten wird weiter verbessert, die gesundheitliche Versorgung wird im eigentlichen Wortsinn weiterentwickelt. Ich werbe daher um Zustimmung und freue mich auf die kommende Beratung.
Vielen Dank.
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Nicole Westig, FDP, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Freie Demokraten begrüßen wir die Neuregelungen zur Palliativversorgung, die dieser Gesetzentwurf vorsieht. Für Kinder und Jugendliche wird endlich eine eigenständige Rahmenvereinbarung in der Versorgung durch ambulante Hospizdienste geschaffen. Das schließt eine seit Langem bestehende Lücke, und das unterstützen wir ausdrücklich. Denn die Bedürfnisse der Familie spielen hier, in dieser extrem herausfordernden Situation, eine ganz wichtige Rolle. Man stelle sich nur die besondere Belastung der Eltern, aber auch der Geschwisterkinder vor, wenn sie Abschied vom eigenen Kind und Geschwisterteil nehmen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es für wichtig, schwerstkranke und sterbende Menschen ganzheitlich in den Blick zu nehmen; denn Menschen am Lebensende leiden nicht nur körperlich. Sie leiden auch an den seelischen Folgen ihrer unheilbaren Krankheit. Ein würdiges Sterben erfordert nicht nur eine gute medizinische und pflegerische Versorgung; es braucht mehr. Es braucht Psychologinnen und Psychologen, die den Sterbenden und seine Angehörigen auf den letzten Metern begleiten. Es braucht Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in einer solchen Ausnahmesituation die krebskranke Mutter unterstützen, die Versorgung ihrer kleinen Kinder zu regeln. Daher ist es wichtig, nicht nur Ärzte und Pflegekräfte in den ambulanten Palliativteams einzusetzen. Wir sollten auch darüber sprechen, wie wir den Anspruch auf ambulante Palliativversorgung um den wichtigen Aspekt der psychosozialen Begleitung erweitern können.
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Lassen Sie mich noch etwas zur Gesundheitspersonalstatistik sagen. Es ist löblich, Transparenz für Patientinnen und Patienten zu schaffen, wenn es um die Frage der Qualität der pflegerischen Versorgung im Krankenhaus geht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der GroKo, Ihre sogenannte Transparenz ist lediglich eine Zustandsbeschreibung und noch lange keine Antwort auf den akuten Personalmangel.
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Liebe Frau Dittmar, da fehlen noch viele Puzzleteile. Wenn Sie diesen wirklich bekämpfen wollen, dann müssen Sie mehr tun, als nur Stellen zu schaffen. Sie müssen diese auch besetzen.
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Ein Schlüssel dafür liegt in der Pflegeausbildung. Die Pandemie fordert hier einen bösen Tribut. Das „Ärzteblatt“ berichtet, dass aktuell immer mehr junge Menschen unter der besonderen Belastung ihre Ausbildung abbrechen. Meine Damen und Herren, das ist ein früher Pflexit, den wir uns gar nicht leisten können.
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Doch wen wundert das, wenn man sieht, dass Minister Spahn Auszubildende auch für die Durchführung der Schnelltests abstellen will,
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und dies zulasten ihrer Ausbildung, die pandemiebedingt oft genug hintenansteht. Sieht so etwa die neue Wertschätzung in der Pflege aus? Das ist Ausdruck einer Pflegepolitik, die erst viel verspricht und dann ganz wenig liefert.
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Dennoch: Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält gute Ansätze, und ich freue mich auf die weitere Beratung.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Mund- und Nasenabdeckung. – Jetzt brauchen Sie sie nicht mehr; aber es schadet auch nichts. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Stamm-Fibich, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Gesundheitssystem muss im Angesicht der bestehenden Herausforderungen immer wieder reformiert und weiterentwickelt werden. Das ist ein wiederkehrender Prozess; denn ein perfektes System gibt es nicht und wird es auch nicht geben.
Die Coronapandemie hat uns alle hier im Haus in einen absoluten Ausnahmezustand versetzt. Das hat dazu geführt, dass so manche gesundheitspolitische Zielsetzung abseits des akuten Krisenmanagements auf der Agenda nach hinten gerutscht ist. Dabei zeigt uns gerade die Pandemie, dass wir die übergeordneten Ziele wie Qualität, Transparenz und eine verbesserte Vernetzung des Gesundheitssystems niemals aus den Augen verlieren dürfen.
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Denn vom Erreichen dieser Ziele hängt ab, wie krisensicher und zukunftsfest unser Gesundheitssystem morgen sein wird.
Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung geben wir dem System noch mal einen echten Schub nach vorne. Dieses Gesetz – man höre und staune – enthält 34 wesentliche Maßnahmen, die gut, sinnvoll und in Teilen auch dringend notwendig sind.
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Aus Zeitgründen kann ich mich an dieser Stelle nur auf drei Maßnahmen beschränken, die ich entweder für besonders wichtig halte oder bei denen ich noch Änderungsbedarf sehe.
Fangen wir mit den Modellklauseln für die Ausbildung in der Ergotherapie, Logotherapie und Physiotherapie an. Es kann nicht sein, dass die Akademisierung bzw. Teilakademisierung weiter auf die lange Bank geschoben wird. Die Verlängerung der Modellklauseln bis 2026 erschwert den Universitäten und Fachschulen völlig ohne Not die Arbeit und trägt leider auch zur Verschärfung des Fachkräftemangels in diesen Gesundheitsfachberufen bei, weil potenzielle Bewerber verunsichert sind. Obendrein wird den Studierenden die akademische Weiterentwicklung verwehrt, und die Finanzierungssituation an den Universitäten bleibt ebenfalls auf Jahre ungeklärt. Klare Perspektiven, Herr Minister, sehen anders aus!
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Wenn man dann noch hört, dass manche Modellprojekte teilweise seit mehr als zehn Jahren laufen und konstant positiv evaluiert werden, kann man nur noch den Kopf schütteln.
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Meine Fraktion fordert deshalb eine Begrenzung der Verlängerung bis maximal 2024 und ein klares Bekenntnis zur Akademisierung in der kommenden Legislaturperiode.
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Eine weitere Maßnahme, die mir sehr am Herzen liegt, ist die Reform des Notlagentarifs in der PKV. Wie viele von Ihnen wissen, bin ich Mitglied des Petitionsausschusses. Bei dem, was ich zu diesem Thema lese, wird es mir wirklich manchmal angst und bange.
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Ich sage: Wenn wir eine solidarische Gesundheitsversicherung für alle hätten, dann müssten wir uns mit solchen Fragen nicht rumschlagen. – Aber noch nicht alle haben den Pfad der Erkenntnis beschritten; deshalb müssen wir uns auf das Lösen dieser Probleme konzentrieren.
Durch die jetzige Reform verankern wir ein Aufrechnungsverbot von Leistungskosten und Beitragsschulden im Notlagentarif der PKV. So bewahren wir die Versicherten im Notlagentarif, die sowieso schon finanziell angeschlagen sind, davor, mit weiteren hohen Kosten konfrontiert zu werden. Das ist auch bitter nötig. Denn die Entwicklung zeigt: Die Privatversicherten, die im Notlagentarif sind, bleiben immer länger dort, weil sie finanziell nicht mehr auf die Beine kommen. Das ist ein Alarmzeichen für uns alle. Dass Behandlungskosten mit den Beitragsschulden verrechnet wurden, hat nicht zur Lösung des Problems beigetragen. Dem schieben wir jetzt endlich einen Riegel vor.
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Zu guter Letzt: Wir sind sehr froh, dass wir endlich Geld in die Hand nehmen und die Möglichkeit zur Vereinbarung von Rahmenverträgen in der ambulanten Hospizversorgung für Kinder und Jugendliche schaffen. Dadurch wird dieser Bereich deutlich gestärkt. Jeder Euro, der in eine gute palliativmedizinische Betreuung sowohl für Erwachsene als auch für Kinder fließt, ist gut investiertes Geld.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Taktzahl der Gesetzesmaschinerie im Hause Spahn ist weiterhin sehr hoch.
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Aber eine Maschine, die viel Energie frisst, laut rumpelt und am Ende leider nur Produkte mit sehr geringer Halbwertszeit ausspuckt, ist nicht geeignet, um die notwendigen Transformationen in unserem Gesundheitssystem wirklich anzugehen.
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Die Unterschiede sind für die meisten Patientinnen und Patienten viel zu wenig spürbar. Im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, dem GVWG, fehlen weiterhin die großen Linien. Die vorgeschlagenen Reformen werden immer kleinteiliger und sind zum Teil wirklich problematisch. Ihre groß angekündigte Neuordnung der Notfallreform wurde auf ein umstrittenes standardisiertes Verfahren zur Ersteinschätzung im Krankenhaus eingedampft, von dem wir noch nicht einmal wissen, ob es nicht vielleicht sogar die Patientensicherheit gefährdet. Dabei ist eine echte sektorübergreifende Notfallreform dringend erforderlich.
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Prävention, Gesundheitsförderung beschränken sich nun im Wesentlichen auf die Unterstützung von Kurorten. Dabei müssen wir endlich die Gesundheitsförderung in den Alltagswelten etablieren. Und die seelische Gesundheit hätte deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient. Wir sehen doch, wie gerade jetzt in der Pandemie viele Menschen, viele Kinder und Jugendliche sehr unter Druck geraten. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen leiden gerade ganz besonders stark. Schaffen Sie doch bitte endlich einen Anspruch auf ambulante Komplexleistungen für schwer psychisch Kranke,
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damit eine abgestimmte Behandlung etwa aus Ergotherapie, ambulanter psychiatrischer Pflege, Soziotherapie auch im ambulanten Setting ermöglicht wird. Der Bedarf ist riesig!
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Schaffen Sie diesen Anspruch auch gesondert für Kinder und Jugendliche; denn wenn Erkrankungen bei Kindern übersehen werden, dann drohen sie im Erwachsenenalter zu chronifizieren. Eine gut abgestimmte frühzeitige multiprofessionelle Versorgung erspart den Betroffenen lange Behandlungswege und Leidenswege.
Gerade die Coronapandemie kann unsere Wahrnehmung für unsere seelische Gesundheit noch einmal schärfen. Aus der Pandemie zu lernen, heißt auch, zu lernen, dass wir den schnellen Zugang zu passgenauer psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung brauchen.
Ich hoffe, dass wir einige dieser Punkte noch durch die Beratungen im Ausschuss aufnehmen können und somit wirklich zu Verbesserungen für Patientinnen und Patienten kommen.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Lothar Riebsamen, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesgesundheitsministerium, der Minister, hat seit einem Jahr alle Hände voll zu tun, um die Coronakrise zu bewältigen. Gleichwohl wird uns heute ein Gesetz vorgelegt, das eine Vielzahl von Themen anspricht, die vor der Coronakrise wichtig waren und die auch nach der Coronakrise wichtig sein werden. Insofern ist dies keine Resterampe, sondern es zeigt, dass auch in der Krise im Maschinenraum des BMG hart gearbeitet wird. Dafür gebührt dem BMG Dank und Anerkennung.
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In diesem Gesetz stehen die Patientinnen und Patienten im Vordergrund: wenn sie ins Krankenhaus müssen, wenn sie zum Arzt
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müssen, oder wenn sie vielleicht am Ende ihres Lebens eine Hospiz- oder Palliativversorgung in Anspruch nehmen müssen. Was tut sich konkret? Aus Sicht der Krankenhäuser geht es um Qualität; es geht um Strukturen, und es geht um Transparenz. Qualitätssicherung nach innen und nach außen ist schon immer Bestandteil des SGB V gewesen. 2016 haben wir mit dem Krankenhausstrukturgesetz das Thema Qualität auch noch einmal deutlich adressiert, mit Qualitätsverträgen, mit Zu- und Abschlägen. Das eine hat sich bewährt, das andere nicht. So ist das bei Versuchen. Nun wird das gestärkt, was sich bewährt hat, nämlich die Qualitätsverträge. Hier werden zusätzliche Möglichkeiten geschaffen, ein Mindestausgabevolumen ist vorgesehen. Mit dieser Dynamik wird Fahrt aufgenommen, und deswegen ist das eine wichtige Sache.
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Ein weiteres wichtiges Instrument sind die Mindestmengen. Es ist doch völlig klar, dass bei einem komplizierten Eingriff Routine vorausgesetzt werden muss: Routine und auch Strukturen personeller und technischer Natur. Genau darin, diese Struktur zu schaffen, besteht die Herausforderung. Bei der Qualität kann es keine Ausnahmen geben, deswegen werden die Ausnahmen an dieser Stelle auch abgeschafft. Diese Herausforderungen betreffen insbesondere den ländlichen Raum. Es kann nicht sein, dass man zwei Stunden in die nächste Uniklinik fahren muss. Hier kommt es darauf an, Strukturen, dort, wo sie nicht vorhanden sind, zu schaffen. Dafür braucht es den Bund mit dem Strukturfonds, dafür braucht es die Länder, und dafür braucht es natürlich auch die Investitionskostenförderung und die Krankenhausbedarfsplanung der Länder.
Frau Klein-Schmeink, wenn ich mir die entsprechende Regelung dazu in Baden-Württemberg anschaue, kann ich nicht erkennen, dass dort großartig Krankenhausbedarfsplanung betrieben wird. Es hat sich vieles zum Positiven verändert, aber nur, weil es die Träger gemacht haben, und nicht, weil sich die Landesregierung besonders ausgezeichnet hätte.
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Das muss ich an dieser Stelle einmal deutlich sagen.
Zu guter Letzt geht es auch um Transparenz. Die Patientinnen und Patienten müssen in der Lage sein, sich ein Bild davon zu machen, was sie im Krankenhaus oder in der Arztpraxis erwartet. Auch an der Stelle kann man weitere Verbesserungen erzielen. Die werden mit diesem Gesetz erreicht, und zwar dadurch, dass die Datenbasis zukünftig auf breitere Beine gestellt wird. Die Grundlage werden digitale Befragungsinstrumente sein, die es bisher schlicht und ergreifend nicht gab. Die werden zukünftig zur Verfügung stehen. Die Patienten müssen in die Lage versetzt werden, zu prüfen, ob sie gut, auch pflegerisch gut, in einem Krankenhaus versorgt werden. Deswegen ist es richtig – das ist in diesem Gesetz so angelegt –, dass der Pflegepersonalquotient öffentlich gemacht wird, sodass jeder Patient sehen kann, bevor er ins Krankenhaus geht: Werde ich in diesem Krankenhaus pflegerisch gut versorgt oder nicht? Auch das ist ein großer Fortschritt.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz wird mehr Qualität, mehr Transparenz geschaffen. Wir werden im Ausschuss diese Fragen eingehend bewerten und diskutieren. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und werbe heute schon dafür, dass wir diesem Gesetz zustimmen. Das ist ein gutes und wichtiges Gesetz für die Patientinnen und Patienten in unserem Land.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier ist heute viel über Puzzles und Puzzleteile geredet worden; Sabine, damit hast du uns was eingebrockt. Ich will das trotzdem aufgreifen, auch weil ich finde, dass einige Bemerkungen zu den Puzzleteilen gezeigt haben, sagen wir mal, dass der Sinn eines Puzzles nicht ganz erfasst wurde. Kein Mensch würde Puzzleteile auflegen, wenn er nicht auch ein Gesamtbild vor Augen hätte, in das er reinpuzzeln möchte.
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Man würde schon gar nicht Puzzleteile verändern oder ergänzen, wenn man nicht wüsste, dass sie in das Bild hineinpassen.
Also macht dieses Gesetz Sinn. Wir sorgen damit dafür, dass das Gesamtbild stimmiger wird. Wir sorgen dafür, dass bestimmte Aspekte aufgegriffen und vielleicht auch kaputte Puzzleteile repariert werden. Die Kollegin Kappert-Gonther hat völlig zu Recht angesprochen – darauf komme ich gleich noch mal –, dass wir die Frage der seelischen Gesundheit an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich betrachten müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der FDP?
Ja, bitte. Ich habe zwar noch gar nicht angefangen, aber bitte.
Herr Kollege Schinnenburg, bitte.
Vielen Dank, Herr Heidenblut, dass Sie die Frage zulassen. – Da Sie das Bild mit den Puzzleteilen weiter vertiefen: Stimmen Sie mir zu, dass es wenig Sinn hat, ein Puzzle anzufangen, wenn viele Puzzleteile fehlen?
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Ehrlich gesagt, kann man durchaus ein Puzzle anfangen, wenn Puzzleteile fehlen, wenn man schon im Kopf hat, wo man sie herbekommen kann und wie man dafür sorgen kann, dass man am Ende, wenn man alle Puzzleteile zusammenhat, auch ein wirklich wunderschönes Gesamtbild hat.
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Genau vor dem Hintergrund stehen wir, und wir sorgen jetzt dafür, dass die Puzzleteile zusammenkommen und es am Ende ein schönes Gesamtbild gibt. Und dann werden Sie, hoffe ich, dem Gesetzentwurf und uns zustimmen. – Vielen Dank, Herr Kollege.
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Jetzt komme ich vom Puzzle ein bisschen weg, sonst wird das hier der falsche Vortrag, glaube ich; das hätte ich vielleicht gar nicht machen sollen. – Also: Ganz wichtig ist, dass wir bei diesem Gesetz auch die seelische Gesundheit in den Blick nehmen. Ja, da gebe ich Ihnen recht: Da gibt es noch eine Menge Teile, bei denen wir dringend etwas tun müssen. Einige sind schon angesprochen worden. Ich will das ergänzen: Ich hatte gehofft und hätte erwartet, dass wir mit diesem Gesetz auch die Expertise, die wir bezogen auf Kinder aus Familien mit Suchtkranken oder mit psychischen Belastungen haben, umsetzen; denn diese Kinder brauchen – da sind wir übrigens auch bei Komplexleistungen – ganz wichtige Leistungen. Es wäre möglich gewesen, hier Puzzleteile aufzugreifen und das Bild zu vervollständigen, damit wir da helfen können.
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Das hätte ich mir gewünscht und vorgestellt. Darüber werden wir vielleicht noch mal reden müssen.
Froh bin ich, dass wir im Bereich der seelischen Gesundheit ein Puzzleteil reparieren. Es ist ja nicht ganz so, dass wir bei den ambulanten Komplexleistungen nichts machen. Da haben wir schon was in Auftrag gegeben.
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Man kann immer darüber streiten, wie groß das ist, aber wir haben etwas in Auftrag gegeben. Wir erkennen die Zielrichtung. Ich gebe zu: Für Kinder und Jugendliche müssen wir das noch mal verschärfen; da muss noch mal Druck hinter. Wir waren uns einig, dass wir an der Stelle die Psychiatrischen Institutsambulanzen mit im Boot sehen wollten. Da haben wir tatsächlich ein Puzzleteil kreiert, das nicht ganz, sagen wir mal, korrekt war, nicht ganz vernünftig funktioniert hat, bei dem vielleicht eine Ecke abgebrochen ist. Schönen Dank, dass dieses Puzzleteil repariert wird und die Psychiatrischen Institutsambulanzen jetzt nicht nur sinnvoll einbezogen werden, sondern auch bei der Finanzierung in richtiger Form berücksichtigt werden: Die neu geschaffene Finanzierung gilt auch für die Psychiatrischen Institutsambulanzen; aber das Gesamtsystem soll nicht verändert werden. Das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Feststellung und Klarstellung.
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Ich würde mir sehr wünschen, dass wir da an vielen Punkten noch weiterkommen, gerade was die Frage der Komplexbehandlung angeht, aber auch, was die Frage des Entlassmanagements angeht. Da haben wir, glaube ich, auch schon eine gute Regelung gefunden, indem nämlich der Weg in die Ambulanz bereits während des Krankenhausaufenthaltes geebnet werden kann und zum Beispiel bereits Erstkontakte mit Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten stattfinden können. Es macht aber keinen Sinn, diese nur in den Kliniken stattfinden zu lassen. Es ist auch wichtig, dafür zu sorgen, dass das auch im ambulanten Bereich stattfinden kann; das wäre wirksam und vernünftig.
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Das Gleiche gilt auch für Menschen, die mit Traumafolgen zu kämpfen haben. Auch da brauchen wir dringend weitere und andere Ansätze. Vielleicht können wir auch da in diesem Gesetz ein wenig weitergucken.
Bei all dem, wo wir noch weitergucken können: Das Gesetz bietet viele gute Ansätze. Die Ansätze, die es im Bereich der Palliativmedizin und Hospizversorgung gibt, sind sehr gut und vernünftig. Ich komme aus einem Bereich, in dem die Koordinierung schon gar nicht so schlecht funktioniert. Ich weiß aber: Es hapert immer an der Finanzierung genau dieser Frage. Dass wir an dieser Stelle anpacken, ist ein wichtiger Schritt.
Insgesamt: ein gutes Gesetz. Ich glaube, wir können – damit komme ich zurück zu den Puzzleteilen – noch ein bisschen was dabeipuzzeln. Dann haben wir ein ganz tolles Bild, und auch der Kollege Schinnenburg wird begeistert sein; davon gehe ich aus. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Danke schön.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich noch sehr gut an die Rede von Jens Spahn zum Bundeshaushalt 2020 hier im Plenum erinnern; das war im November 2019. Damals konnte der Gesundheitsminister mit Stolz verkünden, in den zurückliegenden 20 Monaten 20 Gesetze auf den Weg gebracht zu haben. Mit diesen Gesetzen konnten wir nicht nur den Alltag der Patientinnen und Patienten sowie der Mitarbeiter im Gesundheitswesen spürbar verbessern, wir haben damit auch unser Gesundheitssystem weiterentwickelt und an zahlreichen Stellen nachgebessert.
Heute, meine Damen und Herren, knapp 15 Monate später, ist diese Arbeit natürlich noch nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Wenige Monate nach Verkündung dieses Zwischenziels hat uns die Coronapandemie mit voller Wucht getroffen und unser Land in eine der schwersten Gesundheitskrisen der Neuzeit gestürzt. Trotzdem haben sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament in den vergangenen Monaten gezeigt: Wir sind auch unter den ungewohnten und herausfordernden Bedingungen der weltweiten Pandemie weiterhin voll arbeitsfähig.
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Herr Kollege Pilsinger, der Kollege Dahmen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Kollege Pilsinger. – Sie haben ja gerade die großartige Leistungsbilanz des Bundesgesundheitsministers in den vergangenen Monaten und Jahren gelobt. Sie hatten hier in einer Rede am 12. Oktober 2018, in der es um eine ähnlich komplexe Artikelgesetzgebung ging, angekündigt, dass es eine grundlegende Reform für die Notfallversorgung in Deutschland geben würde. Mich würde interessieren: Ist der vorliegende Gesetzentwurf diese angekündigte grundlegende Notfallreform, oder dürfen wir damit rechnen, dass der ja schon ausgearbeitete Referentenentwurf zu einem ähnlichen Thema noch eingebracht wird?
Herr Kollege Dahmen, mich freut, dass gerade die Frage aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen kommt. Ich muss Sie nämlich darauf hinweisen, dass die Länder die Notfallversorgung massiv eingedampft haben,
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und ich möchte darauf hinweisen, dass die Grünen in den meisten Landesregierungen vertreten sind. Also, wenn Sie das organisieren, dann machen wir das.
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Vor dem Hintergrund der Krise müssen wir deshalb jetzt dafür sorgen, dass unser Gesundheitssystem auch künftig Herausforderungen standhält. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung kommen wir diesem Ziel wieder einen Schritt näher, durch mehr Qualität und Transparenz in der Gesundheitsversorgung und bessere Leistungen für Versicherte. Vieles von dem, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf regeln, wurde von meinen Vorrednern bereits angesprochen. Deshalb möchte ich mich nachfolgend gerne auf drei Punkte konzentrieren.
Der erste Punkt betrifft die Kinder- und Jugendhospizarbeit. Zur Stärkung der ambulanten Kinderhospizdienste muss für diesen Bereich künftig eine gesonderte Rahmenvereinbarung geschlossen werden. Damit können wir den besonderen Belangen der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Zukunft noch besser gerecht werden. Aber das wird in der Summe nicht reichen.
Der Bundesverband Kinderhospiz hat ausgerechnet, dass allein die Arbeit der ambulanten Kinderhospizdienste mit 12 Millionen Euro jährlich unterfinanziert ist. Insofern begrüße ich zwar, dass wir mit dem GVWG die Aufmerksamkeit wieder auf dieses wichtige Thema lenken, ausreichend sind die Maßnahmen aber leider noch nicht. Hier gilt es, in der Zukunft auch finanziell nachzubessern; denn nur so können wir eine wirklich nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität von schwerstkranken Kindern und Jugendlichen erreichen.
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Der nächste Punkt betrifft das Thema Übergewicht und Adipositas. Mit dem GVWG beauftragen wir den Gemeinsamen Bundesausschuss, dazu ein neu strukturiertes Behandlungsprogramm zu entwickeln. Grundsätzlich begrüße ich diesen Vorstoß. Für mich geht ein solches Disease-Management-Programm aber leider noch nicht weit genug. Denn wenn die Patienten erst einmal deutlich übergewichtig sind, ist es ja schon zu spät, also müssen wir eigentlich viel früher ansetzen. Der Fehl- und Überernährung der Bevölkerung kann flächendeckend nur durch eine Kombination aus leitliniengerechter Primärprävention und der gezielten Behandlung von Übergewicht und Adipositas begegnet werden. Die strukturellen Voraussetzungen für solche Behandlungskonzepte haben wir schon, sie müssen aber nun endlich zur GKV-Leistung werden.
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Zuletzt möchte ich noch auf ein Thema eingehen, das mir als Berichterstatter sehr wichtig ist, und zwar auf das Thema Rauchausstieg. Noch immer sterben allein in Deutschland jedes Jahr 127 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Trotzdem sind Arzneimittel zur Rauchentwöhnung weiterhin von der Versorgung durch die GKV ausgeschlossen. Das muss sich ändern.
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Leitliniengerechte Rauchentwöhnungsangebote müssen endlich zur Regelleistung werden. Nur so können wir auch die Menschen erreichen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, aus der Sucht auszusteigen.
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Deshalb werde ich mich im Rahmen der anstehenden Debatten zum GVWG ausdrücklich dafür einsetzen, den Ausschluss der Kostenübernahme für eine Rauchentwöhnung aus dem SGB V zu streichen. In diesem Sinne wünsche ich uns gute Beratung zum Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
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Danke. – Mit diesen Wünschen schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Einführung unseres Grundgesetzes hat unser politisches System eine Entwicklung genommen, für die die Italiener eine sehr treffende Bezeichnung, ein Wortspiel, haben: „Partitocrazia“. Das ist übersetzt: die Herrschaft der Parteien. Die ruht auf drei Säulen.
Erste Säule: die Gewaltenverschränkung, die wir bereits im Grundgesetz angelegt haben. Hauptaufgabe der Regierungskoalitionen ist es, die Regierung, komme, was da wolle, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Die parlamentarische Kontrolle ruht auf den dafür viel zu schmalen Schultern der Opposition.
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Zweite Säule: die Selbstentmachtung des Parlaments, getragen von Partei- und Fraktionsdisziplin, der sich zu widersetzen, möglicherweise unliebsame Konsequenzen für die weitere Karriere- und Lebensplanung haben kann, weshalb man im Zweifel lieber die Füße stillhält.
Dritte Säule: die elende Parteibuchwirtschaft, die sämtliche staatliche Organisationen durchwuchert hat und selbst heute nicht mal mehr vor niedrigeren Rängen haltmacht. Auch diese dient natürlich der Überwindung von Zuständigkeiten und Gewaltenteilung im Sinne der Machtausübung.
Dies hat zu einer Machtkonzentration in der Hand einiger weniger Spitzenfunktionäre geführt, die die berühmten Mütter und Väter unserer Verfassung auf Herrenchiemsee mit Sicherheit verhindern wollten.
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Es ist daher eine Korrektur erforderlich; es ist eine Gegenmacht aufzubauen, die in der Demokratie nur das Volk, der Souverän, selbst darstellen kann.
Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf dem Volk die Mittel geben, diese Macht, die es haben sollte, auch auszuüben. Im Kern unseres Entwurfs steht, dass der geäußerte Wille des Volkes das oberste Gesetz sein muss.
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Hinsichtlich der Instrumente greifen wir auf bewährte Verfahrensweisen aus der schweizerischen Bundesverfassung zurück:
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einmal das obligatorische Referendum, einmal das fakultative Referendum. Obligatorisch, also verpflichtend, sind Volksabstimmungen abzuhalten bei Verfassungsänderungen, bei Änderungen früherer Entscheidungen des Volkes, bei Abtretung von Souveränität, bei Eintritt in supranationale Organisationen. Dazu soll das Volk fakultativ die Möglichkeit bekommen, selbst aus den eigenen Reihen im Wege des Volksbegehrens Sachfragen und Gesetzentwürfe dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Schließlich soll die Bundesregierung die Möglichkeit erhalten, durch Veranstaltung einer Volksbefragung den Volkswillen in Erfahrung zu bringen. Brexit lässt grüßen, wird der eine oder andere sagen. Man kann auch mit diesem Instrument sehr viel bewegen, wie das Beispiel zeigt. Insgesamt wäre bei Verwirklichung dieser Vorstellungen die Macht der Hinterzimmer mindestens deutlich reduziert.
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Jetzt freue ich mich sehr auf die Redner der Fraktionen, die bereits selbst Initiativen zur direkten Demokratie eingebracht haben, nämlich darauf, mit welchen Verrenkungen sie nun darlegen, weshalb man das alles gar nicht braucht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Philipp Amthor, CDU/CSU, hat jetzt das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei einem AfD-Antrag zur direkten Demokratie hatte ich eigentlich fest damit gerechnet, dass wir das so handhaben wie bei den letzten Debatten zur direkten Demokratie, dass nämlich Ihre Allzweckwaffe, Herr Brandner, hier wieder eine fläzige Rede hält; immerhin, er ist noch da. Aber ich gratuliere Ihnen: Seine Auftritte sind wohl mittlerweile selbst Ihnen zu peinlich. Deswegen durfte Herr Reusch heute etwas vermeintlich fundierter vortragen.
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Herr Reusch, Sie haben eine beachtliche Justizkarriere, waren Leitender Oberstaatsanwalt und haben hier auch im sachlichen Ton vorgetragen, aber ich muss dann schon sagen: Dem Anspruch, den Sie vermitteln, wird der Antrag inhaltlich leider nicht gerecht. Aus einem soliden Auftreten folgen aber noch keine guten Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da muss man in die Details schauen.
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Über die direkte Demokratie auf der Bundesebene kann man natürlich diskutieren. Wir machen das hier nicht das erste Mal, sondern wir haben das bereits mehrfach getan; etliche Male. Besonders die Linken sind ja sehr erfahren, ihre Anträge zu recyceln; zweimal pro Legislaturperiode. Zu den Linken komme ich auch noch.
Aber das Spannende ist: Wir haben im Jahr 2019 in einer Anhörung im Innenausschuss über eine Einführung von Volksentscheiden ausführlich debattiert. Herr Reusch, Sie waren damals nicht dabei. Das Problem ist anscheinend, Ihre Referenten haben auch nicht gelesen, was damals diskutiert wurde. Sie widersprechen mit Ihrem Antrag selbst grundlegenden Aussagen Ihrer eigenen Gutachter. Das ist peinlich. Machen Sie Ihre Arbeit besser, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es gibt zwei konkrete Punkte, die man sich dafür anschauen kann. Es geht einmal um die Frage: Was sollte das Mindestbeteiligungsquorum sein, wenn man Volksentscheide durchführen will? Wie viele Bürger sollten dann abstimmen? Die zweite Frage ist: Wie kann man eigentlich die Länder beteiligen, wenn man Volksentscheide auf Bundesebene einführt? Zu diesen Mindestquoren – ich erwähnte es – hat selbst Ihr Gutachter, Herr Vosgerau, ausgeführt: Für eine Vereinbarkeit von Volksentscheiden mit dem Demokratieprinzip sei eine Beteiligungsquote jedenfalls von 50 Prozent für wesentliche Entscheidungen gefordert.
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Was fordern Sie heute in Ihrem Antrag? Sie fordern Volksentscheide, bei denen eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichen soll, und das für wegweisende Entscheidungen wie die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen. Da widersprechen Sie selbst Ihrem eigenen Gutachter.
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Den muss man nicht zum Kronzeugen für Verfassungsrecht machen; aber da hat er mal recht. Und wenn Ihre Gutachter schon mal recht haben, sollten Sie wenigstens auf sie hören, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die nächste Kernfrage, wenn man direkte Demokratie auf der Bundesebene einführen will, lautet: Wie sichert man die Beteiligung der Länder ab? Wir haben vor zwei Jahren in der öffentlichen Anhörung darüber diskutiert. Die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes erfordert die Gliederung unseres Staates in Bund und Länder und die Beteiligung der Länder in ihrer Eigenstaatlichkeit an der Gesetzgebung. Das wollen Sie einfach überwinden, indem Sie sagen: Wir führen einen bundesweiten Volksentscheid durch, und die in einem Land abgegebenen Stimmen werden dann als Bundesratsstimmen gewertet. – Das zeigt, dass Sie nicht nur parlamentarische Demokratie im Bundestag, sondern auch die Arbeit des Bundesrats nicht verstanden haben. Das widerspricht der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das hätten Sie schon seit zwei Jahren in Anhörungsprotokollen nachlesen können.
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Das Spannende ist aber: Sie sind ja nicht die Einzigen, die diesen Fehler machen; die Linken machen das auch jedes Mal. Alle zwei Jahre weisen wir dann darauf hin, dass die Länderbeteiligung auf diese Art und Weise nicht abgesichert werden kann.
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Und das Spannende ist: Die Anträge von Linkspartei und AfD zur direkten Demokratie – Herr Reusch hat darauf hingewiesen – stimmen an vielen Stellen ja sogar inhaltlich überein.
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Und da muss man sich schon wundern: Warum ist das so? Ich glaube, die Frage der Hufeisentheorie – was haben rechte und linke Ränder miteinander gemein? -
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gehört in ein politikwissenschaftliches Seminar. Aber die Inhalte sind ja schon spannend: Sie beide vereint eine unglaubliche Parteienskepsis, und sie vereint die Überzeugung, dass der Volkswille hier im Parlament nicht vertreten sei. Beides ist aber nicht haltbar.
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Zum Thema Parteienskepsis sage ich ganz deutlich: Die Linke glaubt – Zitat –, eine zeitaufwendige Beteiligung der Parteien sei ersetzbar, und die AfD schreibt in ihrem Antrag, in Parteien sei – Zitat – keine sachlich differenzierte Artikulation von Problemen möglich. Ich sage Ihnen: Für Ihre Partei stimmt das wahrscheinlich sogar.
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Wenn Ihre Parteien nicht funktionieren, sollten Sie vielleicht die Probleme bei sich selbst suchen und nicht bei der repräsentativen Demokratie abladen. Denn das ist ja Ihr Kernproblem: Repräsentative Demokratie lebt davon, dass das Volk seinen Willen in Wahlen artikuliert, und Sie sagen, hier im Parlament sei Volkes Wille nicht hinreichend vertreten.
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Ja, Ihr Wille ist hier nicht hinreichend vertreten, weil Sie Gott sei Dank nicht die Mehrheit bei den Wahlen erhalten haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das ist doch der entscheidende Unterschied.
Und dann muss ich schon sagen: Wenn Sie über direkte Demokratie reden wollen, versuchen Sie doch erst mal, wirklich direktdemokratisch vor Ort unterwegs zu sein.
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Statt hier Entparlamentarisierungskritik zu betreiben, gegen Politik und Staat zu hetzen – bei Russia Today, in Telegram-Gruppen und sonst wo –, reden Sie lieber mit den Menschen. Direkte Demokratie findet in den Wahlkreisen statt, so wie sie unsere Fraktion praktiziert.
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Das wäre für Sie doch mal eine sinnvolle Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir wollen das Parlament stärken und daran festhalten und werden deshalb Ihren Antrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sandra Bubendorfer-Licht, FDP.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gute parlamentarische Tradition, dass Fraktionen in diesem Haus Gesetzentwürfe einbringen, um ihre Vorstellungen in Gesetze zu gießen. Dazu ringen wir in Ausschüssen, werben für unsere Ideen und schließen Kompromisse.
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Das machen alle Fraktionen hier in diesem Haus. Alle Fraktionen? Nein.
Wer den Gesetzentwurf der AfD liest, der stellt schnell fest: Es geht, wie so oft bei der AfD, nicht um die Sache.
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Ganz persönlich – und das sei mir erlaubt – sage ich Ihnen, dass es mir trotz aller parlamentarischen Tradition immer um die Zeit sehr leidtut, in der ich mich mit Showanträgen der AfD beschäftigen muss. Jeder Antrag von rechts außen dient der Erstellung möglichst hetzerischer YouTube-Filmchen gegen die Demokratie.
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Aber lassen Sie uns trotzdem in medias res gehen.
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Sie bezeichnen diesen Staat als eine – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – „amputierte Demokratie“. Ich sage Ihnen, dass wir in keiner amputierten Demokratie leben, sondern in einer sehr wehrhaften Demokratie.
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Damit sind wir doch beim eigentlichen Problem, welches Sie mit der Demokratie, der Freiheit und dem Rechtsstaat in unserem Land haben: Sie ist Ihnen zu wehrhaft gegen das Gift, welches Sie täglich in unsere Gesellschaft tröpfeln. Und es geht Ihnen doch nicht um Partizipation, nicht mal um mehr Demokratie, sondern um Hetze, Aufruhr
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und vor allem Verunsicherung.
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Dass Protest auch auf der Straße ausgelebt wird, das versteht sich von selbst. Das Recht, sich zu versammeln und seine Meinung zu äußern, garantiert unsere Verfassung.
Aber – und das blenden Sie ja vollkommen aus – wir sind eine parlamentarische Demokratie, und jeder von uns, der hier sitzt, repräsentiert unsere Bevölkerung. Sie haben ja die Möglichkeit, mit Anfragen, Anträgen, Anhörungen und Überzeugungsarbeit darauf einzuwirken, was nach Ihrer Sicht besser laufen soll, kann oder muss.
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Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren der rechten Seite, das tun Sie eben nicht. Wenn man sich die Leistungsbilanz Ihrer Fraktion anschaut, dann sieht man das deutlich: in den Ausschüssen keine oder wenige Innovationen, keine inhaltlichen Ideen, nein, eher eine inhaltliche und programmatische Bankrotterklärung.
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Um von diesem Defizit mal wieder abzulenken – genau deshalb haben Sie diesen Gesetzentwurf eingebracht.
Sie behaupten, dass die Beteiligung des Staatsvolks nicht vorgesehen sei. Allerdings scheint die AfD wiederum zu verkennen, dass wir in Deutschland in einer parlamentarischen Demokratie leben. Sie können sich ja später mal von Ihren Plätzen erheben, vor den Bundestag treten und nachschauen, welche Inschrift dort zu lesen ist. Dass Sie mit Parlamentarismus nicht viel anfangen können, überrascht nicht. Schon Ihre geistigen Vorväter in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts
({9})
hatten dafür nichts übrig.
({10})
Dabei ist die Geschichte der Inschrift selbst ein Zeichen für Beteiligung:
({11})
Erst nach großer Diskussion konnten sich die Bürger von damals durchsetzen, und die Inschrift „Dem deutschen Volke“ wurde angebracht.
Wer den Parlamentarismus als Schwäche in einer Demokratie sieht, der hat eine moderne Demokratie wirklich nicht verstanden. Die Welt ist eben nicht nur schwarz und weiß, und die drängendsten Fragen der Zukunft kann man nur schwer simplifizieren. Und die Frage auf Ja oder Nein lässt keinen Kompromiss zu. Ja, ich weiß, die AfD lebt genau von diesem Populismus; aber das ist eben keine seriöse Politik. Die Welt mit ihren Herausforderungen ist viel bunter, sie besitzt Schattierungen. Ein einfaches Ja oder Nein gibt keinen Überblick über die Konsequenzen, die aus der Entscheidung folgen.
({12})
Das haben die Briten bitter beim Brexit erfahren müssen.
Ähnliches gilt für den Minderheitenschutz. Bei einem Volksentscheid besteht die Gefahr, dass sich die Mehrheit über die Minderheit hinwegsetzt. Das ist natürlich demokratietheoretisch so gewollt; aber es bedeutet auch, dass diese Minderheiten quasi kein Gehör finden würden.
({13})
– Hören Sie doch auf, zu brüllen und zu schreien. Ihre Aggression ist unerträglich. Unerträglich!
({14})
Vor einigen Wochen durfte ich hier im Deutschen Bundestag auch über die besondere Situation von anerkannten Minderheiten sprechen, und mir liegt es sehr am Herzen, mich für diese einzusetzen. Ihre Bedürfnisse finden nämlich in direkten Abstimmungen kein Gehör
({15})
bzw. lassen sich nur sehr schwer in Kompromissen wiederfinden.
Die Deutschen hatten noch nie so viele Mitwirkungsmöglichkeiten wie jetzt. Auf kommunaler, auf Landesebene, ja, bei jedem Bauprojekt ist Bürgerbeteiligung erwünscht und wird auch sehr rege genutzt. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, wollen an dieser Stelle der Schwarzmalerei der AfD widersprechen: Wir finden die Organisation des Staates nicht perfekt, aber doch sehr gut, und trotzdem heißt das nicht, dass wir uns ausruhen sollten.
Was sind denn die Vorschläge der FDP? Erstens. Für Menschen, die jenseits der Teilnahme an Wahlen Verantwortung übernehmen wollen, muss es einen leichteren Zugang zu Bürger- und Volksentscheiden auf kommunaler und respektive Landesebene geben.
({16})
Das sind nicht nur hohle Phrasen. Das hat beispielsweise die FDP hier in Berlin gezeigt. Sie hat den Volksentscheid zum Erhalt des Flughafens Tegel unterstützt und auch ein positives Votum erhalten.
An diesem Beispiel lässt sich aber auch erkennen, warum Volksentscheide auf Bundesebene eben nicht praktikabel sind. In einer Stadt wie Berlin herrscht die Wohnungsverhinderungsmietendeckelpolitik, während in anderen Regionen Deutschlands die Landflucht droht.
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Das bedeutet, dass ein bundesweiter Volksentscheid gar nicht die unterschiedlichen Lebensverhältnisse darstellen kann.
Zweitens möchte ich für die Möglichkeit des Petitionsverfahrens werben. Die FDP-Fraktion hat öfters angeregt, das Verfahren weiter zu digitalisieren und darüber hinaus die Möglichkeit des Bürgerplenarverfahrens zu schaffen. Es besteht ja für jede Petition, bei der über 100 000 Unterschriften gesammelt werden, die Möglichkeit, an Ort und Stelle im Plenum beraten zu werden.
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Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Aber nein, Ihnen geht es doch nur um die Botschaft, die Sie schon so lange geplant haben: Die „Altparteien“ – welch furchtbarer rechter Sprech – verhindern, dass das Volk gehört wird. – Das wird genau die Botschaft Ihres kleinen YouTube-Filmchens für den heutigen Tag.
Frau Kollegin.
Auf die wehrhafte Demokratie, die dieses wunderschöne Land vor Leuten wie Ihnen schützt!
Herzlichen Dank!
({0})
Mahmut Özdemir, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Pult zu sprechen, ist eine Ehre. Es ist ein Privileg, das Menschen bei Wahlen einem Abgeordneten bzw. einer Abgeordneten verleihen. Aber diese Demokratie besteht nicht nur aus diesem Rednerpult oder diesem Reichstag. Sie besteht aus Menschen, die die Verfassung ehren und sie schützen wollen. Unsere Demokratie ist so stark, dass sie keine Feinde fürchtet, ja sie sogar in dieses Haus hineinlässt. Eine Partei, die zu Recht ins Visier des Bundesamtes für Verfassungsschutz geraten ist – ins Visier des Bundesamtes für Verfassungsschutz geraten ist! –, sollte Demokratie und verfassungsmäßige Ordnung lernen und nicht versuchen, das Volk über seine Macht zu belehren.
({0})
Angesichts meiner Redezeit erspare ich Ihnen jetzt – das habe ich Ihnen hier schon mehrmals vorgelesen –, Artikel 20 der Verfassung zu zitieren. Sie haben alle so schöne Schubladen; da ist die Verfassung drin. Ich würde mir wirklich wünschen, dass Sie, bevor Sie das nächste Mal einen Gesetzentwurf schreiben, diese Verfassung auch einmal lesen.
({1})
Immer wenn ich „AfD“ und „Demokratie“ auf der Tagesordnung lese, denke ich mir: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal – die Verfassung lesen.
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Unser Grundgesetz sieht Parteien und das Parlament in Bund und Ländern als Orte der Veränderung. Unsere Verfassung ist auch dem gesellschaftlichen Wandel zugänglich. Die mündige Bewegung zahlreicher junger Menschen, die sich für Klimaschutz einsetzen, die Debatte über das Wahlalter und Staatsziele sind damit einhergegangen. Die SPD hat diese verfassungsmäßige Ordnung, die Parteiendemokratie und diesen gesellschaftlichen Wandel, den uns die jungen Menschen da draußen auch aufgetragen haben, als Taktgeber für Veränderungen genommen.
Wir versuchten, diese Verfassung und unsere Ordnung durch direkte Demokratie, durch plebiszitäre Elemente zu ersetzen, haben allerdings nie die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht, weder in Regierungszeiten noch in Oppositionszeiten. Das heißt: Uns als Sozialdemokraten kann man nicht vorwerfen, dass wir in der Opposition etwas gefordert haben, was uns gefällig schien, und in der Regierung das nicht umgesetzt haben. 2002, 2006 und 2013 – im Parlament und auch in Koalitionsverhandlungen mit unseren Freunden aufseiten der Union – ist es uns nicht gelungen, eine notwendige Mehrheit für direkte Demokratie zu erzielen.
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Das ist sehr bedauerlich. Da würde ich mir mehr Bewegung auch von der Union wünschen.
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Ich komme zurück zu den Entwürfen von damals, über die ich geredet habe – da war auch ein Entwurf von den Linken von 2010 dabei; im Sinne der Absicht und im Sinne der direkten Demokratie nenne ich den gerne auch –: Sie von der AfD haben all diese Initiativen und Entwürfe so elendig schlecht kopiert und zusammengeklempnert, dass man in diesem Parlament selbst bei bestem Willen und bei edelstem Willen, die direkte Demokratie einzuführen, diesem elendig zusammengeklempnerten Gesetzentwurf nicht zustimmen kann.
({5})
Unsere Demokratie und das Wahlrecht waren oft Gegenstand von Debatten in dieser Wahlperiode. Fragen wie das Wahlalter, die Größe des Bundestages, die Anzahl der Mandate, Parität, aber auch die Arbeitsweise des Parlamentes und wie wir mit Mitwirkung der Menschen draußen im Land umgehen wollen, sind hier zahlreich und gut und, wie ich finde, sehr konstruktiv diskutiert worden.
Wir haben auch eine Kommission verhandelt. Wir haben abschließend mit der Opposition, wie ich finde, auf einer sehr guten Geschäftsgrundlage eine Wahlrechtskommission in Erfüllung des Auftrages des Bundeswahlgesetzes verhandelt. Jetzt sollten die Kollegen von der Union mir zuhören – auch in der ersten Reihe –: Wenn man eine Wahlrechtskommission verhandelt und Prokuristen losschickt, dann sollte man diesen Prokuristen am Ende des Tages auch folgen. Wenn wir eine Wahlrechtskommission hätten, müssten wir uns nicht mit solch billigen Anträgen abgeben, sondern könnten tatsächlich die wichtigen Fragen des Wahlrechtes und unserer Demokratie auch in solchen Kommissionen erörtern.
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Direkte Demokratie und vermeintliche Transparenz oder vermeintliche unanfechtbare Entscheidungen des Volkes brauchen Vertrauen, sie brauchen Akzeptanz, damit sie auch zu Rechtsfrieden führen. So wie es eine Mehrheit und eine Minderheit im Deutschen Bundestag geben kann, so kann es diese auch bei Volksentscheiden oder Volksabstimmungen geben.
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Das heißt, wir verändern und vergrößern nur die Verantwortungsgemeinschaft. Wichtiger ist – unabhängig davon, ob das Parlament oder das Volk eine Entscheidung getroffen hat – das Vertrauen in die Entscheidung und die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung; Vertrauen darin, dass sich alle Beteiligten auch an das Ergebnis gebunden fühlen, und Nachvollziehbarkeit, dass die Mehrheit gegenüber der Minderheit auch die faire Chance eingeräumt bekommt, zur Mehrheit zu werden. Die SPD hat die Entwürfe, die sie ins Parlament eingebracht hat, immer mit dieser Balance versehen.
Ihr Entwurf ist eine schlechte Kopie.
({8})
Aber vom Bundesamt für Verfassungsschutz werden Sie für weitaus mehr auf dem Zettel geführt als nur für elendiges, schlechtes Zusammenklempnern von irgendwelchen Gesetzentwürfen. Das Ergebnis werden wir bald zur Kenntnis nehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Dr. André Hahn, Die Linke, hat als nächster Kollege das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als Linke haben uns schon für direkte Demokratie und die Ermöglichung von Volksentscheiden auf Bundesebene eingesetzt, als es die AfD noch gar nicht gab,
({0})
und wir werden dieses Ansinnen auch dann noch unterstützen, wenn es die AfD nicht mehr geben wird.
({1})
Natürlich hoffe ich sehr, dass beide Dinge sehr schnell gehen, also die Durchsetzung direkter Demokratie ebenso wie das Verschwinden der AfD.
Gleichwohl diskutieren wir heute über eine Gesetzesinitiative von Rechtsaußen, die vorgibt, durch eine Änderung des Grundgesetzes mehr Mitwirkungsrechte für Bürgerinnen und Bürger erreichen zu wollen. In Wirklichkeit geht es der AfD nicht um die Erweiterung von demokratischen Teilhabemöglichkeiten in unserem Land. Angesichts von Hass, Hetze und Polarisierung, die die AfD seit Jahren in den Parlamenten und auf den Straßen betreibt, ist dieses basisdemokratische Gehabe einfach nur zynisch.
({2})
Die AfD will das repräsentative System nicht etwa mit sinnvollen plebiszitären Elementen ergänzen. Sie bringt die direkte Demokratie in eine Frontstellung gegen die parlamentarische Ordnung. Das wollen wir als Linke ausdrücklich nicht.
({3})
Die AfD verachtet den Parlamentarismus; dafür gibt es diverse Belege. Ich nenne nur ein Beispiel: Der AfD-Abgeordnete Enrico Komning, so berichtet der „Spiegel“ im vergangenen Jahr, hat dazu ganz unverblümt erklärt – Zitat –:
... parlamentarischer Staat, oder wie auch immer diese Demokratie heißt, ... die wollen wir ja aber gar nicht. Die wollen wir doch abschaffen.
Von einer Partei, meine Damen und Herren, wie der AfD, die unser Parlament derart verachtet, brauchen wir ganz sicher keine Belehrung in Sachen Demokratie.
({4})
Das ändert im Übrigen nichts an der Tatsache, dass wir hierzulande, was Volksentscheide anbelangt, keineswegs Vorreiter, sondern im europäischen Vergleich eher ein Entwicklungsland sind, sowohl in den Ländern als auch im Bund, wo abgesehen von der Entscheidung über die Fusion von Bundesländern keine Bürgerentscheide vorgesehen sind.
Herr Kollege Dr. Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
({0})
Nein, danke. – Was die fehlende Möglichkeit, Volksentscheide durchzuführen, angeht, sagen wir als Linke: Das darf so nicht bleiben.
({0})
Meine Damen und Herren, einige hier im Haus wissen, dass ich 1990 am Runden Tisch der DDR mitwirken durfte. Ich habe schon wiederholt an den Verfassungsentwurf dieses Gremiums erinnert, der aufgrund des Beitritts zur Bundesrepublik nicht mehr zur Geltung kam. Eine der zentralen Forderungen der Bürgerbewegten war damals die Stärkung der direkten Demokratie und die Einführung von Volksentscheiden. Das fand dann zwar Eingang in die Verfassungen der ostdeutschen Bundesländer, in der Realität kam dies jedoch kaum zur Anwendung. Vor allem gab es viel zu wenig erfolgreiche Initiativen.
Ich war vor meinem Mandat hier in Berlin viele Jahre im Sächsischen Landtag tätig und habe dort erlebt, dass diverse Volksanträge gescheitert sind, weil die Bürgerinnen und Bürger letztlich niemals darüber abstimmen durften. 40 000 Unterschriften in der ersten Stufe waren noch machbar, aber wenn die regierungstragende Mehrheit den Antrag ablehnte, brauchte man 450 000 Unterschriften, was sich fast immer als undurchführbar erwies. In 30 Jahren gab es deshalb lediglich einen einzigen Volksentscheid in Sachsen, und zwar zum Thema „Pro Kommunale Sparkasse“, als die Staatsregierung über eine Holding deren Eigenständigkeit abschaffen wollte. Die erforderlichen Unterschriften kamen letztlich nur dadurch zustande, dass es durch die Hunderten Filialen der Sparkassen im Land ausreichend Anlaufpunkte für die Bürgerinnen und Bürger gab, um ihre Unterschriften für die Durchführung eines Volksentscheides zu leisten. Von daher geht es uns als Linke nicht nur darum, die Zulässigkeit von Volksentscheiden im Grundgesetz zu verankern, vielmehr muss die Umsetzung auch praktisch machbar sein.
({1})
Dass das möglich ist, hat die Absenkung der für einen Volksentscheid erforderlichen Quoren für Unterschriften in Thüringen gezeigt, und auch in Sachsen gab es inzwischen zumindest Bewegungen in die richtige Richtung.
Aber zurück zur Bundesebene. Hier geht es darum, zunächst einmal die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, dass Volksentscheide überhaupt durchgeführt werden können. Dass wir dieses hochsensible Thema natürlich nicht der AfD überlassen können oder wollen, zeigt der Umstand, dass wir als Linke bereits am 24. Oktober 2017 auf Drucksache 19/16, also wenige Tage nach der Konstituierung des neuen Bundestages, den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der direkten Demokratie im Grundgesetz in das Parlament eingebracht haben. Zudem – Mahmut Özdemir hat davon auch gesprochen – verweise ich auf unseren Gesetzentwurf von März 2010, mit dem wir die Einführung der Volksgesetzgebung im Grundgesetz erreichen wollten. Für all das brauchen wir also keine AfD.
({2})
Dem Grundgesetz wohnt der Gedanke inne, dass der Souverän die Bevölkerung ist. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20. In der Praxis beschränkt sich die Ausübung der Staatsgewalt allerdings auf das Wahlrecht. Wahlen allein bieten aber keine ausreichende Möglichkeit, nachhaltig und vor allem stetig die Politik mitzubestimmen. Die Arbeits- und Funktionsweise der Organe der repräsentativen Demokratie auf Bundesebene können weite Teile der Bevölkerung nicht wirklich nachvollziehen und wirksam beeinflussen. Wir als Linke haben dafür großes Verständnis, und deshalb wollen wir aktiv etwas dagegen tun.
({3})
Demokratie, meine Damen und Herren, ist kein fertiger Zustand. Sie muss Tag für Tag von den Bürgerinnen und Bürgern gelebt werden, und sie muss auch gelebt werden können. Dazu gehören aus unserer Sicht auch Volksentscheide. Das unterstützen wir nachdrücklich. Dafür setzen wir uns ein. Ich finde, eigentlich sollten alle parlamentarischen Gremien und auch alle Parteien, die demokratisch gewählt hier in diesem Haus sitzen, gemeinsam darauf hinwirken.
({4})
Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren: Ja, wir wollen mehr direkte Demokratie. Und nein, dafür brauchen wir keinen Antrag und keinen Gesetzentwurf der AfD. Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen.
Herzlichen Dank.
({5})
Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Enrico Komning, AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Hahn, Sie haben mich in Ihrer Rede erwähnt, insbesondere ein Zitat, das in der bundesweiten Berichterstattung gebracht wurde. Sie haben allerdings vergessen, die weitere Berichterstattung, nämlich nach der Richtigstellung des Zitats, zu erwähnen, und das ist parlamentarische Unfairness.
({0})
Das ist das, was Sie auszeichnet, nämlich einzelne Wortfetzen aus dem Zusammenhang heraus hier anzubringen, um mit dem Zeigefinger auf uns zu zeigen.
({1})
Ich darf Ihnen sagen: Ja, in dem Gespräch ging es um die Frage, wie wir demokratische Verhältnisse ausgestalten wollen. In dem Gespräch ging es tatsächlich darum, dass die parlamentarische Demokratie Defizite bei der Abbildung des Volkswillens hat.
({2})
In diesem Gespräch ging es darum, dass wir Elemente der direkten Demokratie ins Grundgesetz einfügen wollen. Deshalb: Es ging nicht um die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, sondern um eine Modifizierung bzw. um eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie,
({3})
wofür wir nach wie vor stehen; denn Sie haben es als Oppositionskraft bisher offensichtlich nicht vermocht, hier auch nur einzelne Elemente der direkten Demokratie einzuführen.
({4})
Herr Kollege Dr. Hahn, Sie können antworten.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, was Sie gesagt haben. Das ändert aber überhaupt nichts daran, dass Ihre Aussage, die im „Spiegel“ war, weder durch ein Gegendarstellungsbegehren angegriffen noch in dieser Form widerrufen worden ist, auch nicht durch Sie. Ihre Aussage bezogen auf die parlamentarische Demokratie lautete: Die wollen wir abschaffen. – Das wollen wir ausdrücklich nicht. Daher bleibe ich dabei, dass wir Ihnen das auch vorwerfen.
({0})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen sind für Demokratie in all ihren wunderschönen Formen und damit auch für die direkte Demokratie. Das kann ich schon einmal vorwegschicken.
({0})
Wir sind nicht nur für die direkte Demokratie. In meinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost wird auf Landesebene heute ein direktdemokratisches Volksbegehren vorgestellt, die Deutsche Wohnen und ähnliche große Wohnungsbaugesellschaften gemäß Artikel 15 des Grundgesetzes zu vergesellschaften.
({1})
Das ist etwas, über das wir natürlich gerne auch auf Bundesebene diskutieren würden. Aber – das muss man auch sagen – neben diesen Instrumenten der Volksentscheide, der Volksbegehren, der direkten Demokratie, ist ein weiteres Instrument auch sehr erprobt – es wird in meinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost demnächst auch praktiziert –, und zwar das des Wahlkreisrats.
({2})
Das heißt, da werden zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger bestimmte Themen, die für sie relevant sind, in ihrer nächsten Nachbarschaft diskutieren. Dort werden Vorschläge erarbeitet. Ich begleite das als Abgeordnete und kann dann diese Vorschläge in meine repräsentative Arbeit für den Wahlkreis einfließen lassen. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Demokratie hat viele schöne Formen.
({3})
Aber – das wurde von vielen gesagt – ich kann mich dem nur anschließen: Dass es jetzt gerade die AfD bräuchte, um die Demokratie in Deutschland zu retten, womöglich gar die direkte Demokratie, das mutet etwas seltsam an. Wenn Herr Reusch sich hier hinstellt und von Parteiendemokratie redet, dann frage ich mich nach dem, was ich über die sächsischen Verhältnisse der AfD gelesen habe, ob er vielleicht das Einparteiensystem im Blick hat. Denn in Sachsen, genau vor einem Jahr, wurde ein Markus Krall eingeladen, der dann gesagt hat, man müsse die Transferempfänger vom Wahlrecht ausschließen. Faktisch bedeutet das: Wer staatliche Leistungen in Anspruch nimmt, darf nicht mehr in die Wahlkabine gehen. – „Meine Damen und Herren von AfD, haben Sie sie eigentlich noch alle?“, kann man da wirklich nur fragen.
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Der Vorsitzende der AfD Sachsen – ich habe sogar den Namen: Jörg Urban – hat dann gesagt, dass für ihn eine Begrenzung des Wahlrechts und der Ausschluss von Leistungsempfängern eine interessante Idee, ein dickes Brett sei und er gerne bereit sei, auch weiter darüber nachzudenken. Man muss sich das einmal klarmachen: 3,3 Millionen Wahlberechtigte gibt es in Sachsen. Davon sind circa 330 000 Empfänger von Sozialleistungen. 10 Prozent der Bevölkerung wollen Sie das Wahlrecht wegnehmen! Da kann ich nur sagen: Liebes Volk, liebe Menschen, passt auf, die AfD will euch das Wahlrecht wegnehmen! – Das wird es mit diesem Bundestag, mit uns und mit den demokratischen Parteien in diesem Bundestag nicht geben, meine Damen und Herren.
({5})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Axel Müller, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sprichwörtlich sind ja aller guten Dinge bekanntlich drei: Nach April 2018, August 2019 hofft die AfD-Fraktion nunmehr im Februar 2021 mit einem weiteren Antrag in Sachen direkte Demokratie auf Applaus oder zumindest auf hohe Zugriffsraten in den eigenen Onlinefilterblasen.
Dabei könnte dem interessierten AfD-Beobachter durchaus auffallen, dass sich im aktuellen Antrag wenig Neues findet, ja, ganze Passagen früherer Antragsbegründungen übernommen worden sind. In der 21er-Edition Ihres Dauerbrenners schweben Ihnen nun zwei Arten von Volksabstimmungen vor, zum einen die fakultativen, bei denen die Bundesregierung Sachfragen zur Ermittlung des Volkswillens vorlegen müsste oder Gesetze und völkerrechtliche Verträge nach Zeitablauf von einem Jahr zur Abstimmung vorlegen müsste, wenn 1 Million Stimmberechtigte es verlangen. Da frage ich mich: Quo vadis, Deutschland? Gilt künftig nicht mehr „Pacta sunt servanda“, halten wir uns nicht mehr an internationale Verträge?
Zum anderen verlangen Sie Volksabstimmungen bei völkerrechtlichen Verträgen, Beitritt zu supranationalen Organisationen und der Übertragung von Hoheitsrechten ohne Abänderung von durch Volksabstimmung zustandegekommenen Gesetzen. Die dürfen nach der verqueren AfD-Logik ja auch nur durch eine Volksabstimmung aufgehoben oder geändert werden.
Warum in Wirklichkeit statt aller guten Dinge hier aller schlechten Dinge drei sind, will ich kurz erläutern. Erstens. Beginnen will ich mit den Leumundszeugen, der Sie sich bei Ihrem Antrag bedienen. Sie verweisen auf Anträge der SPD, der Grünen, der FDP und der Linken aus den Jahren 2002 bis 2013, die sich allesamt auch mit der Einführung direktdemokratischer Elemente im Grundgesetz befasst haben, aber an den demokratischen Mehrheiten in diesem Haus gescheitert sind. Sie gaukeln damit vor, dass die AfD in guter demokratischer Tradition handeln würde. Zumindest den Anträgen von SPD, FDP und Grünen war allerdings gemeinsam, dass sie immer mit den Worten beginnen: Die repräsentative Demokratie in Deutschland hat sich bewährt. – Beim AfD-Antrag vermisse ich so etwas. Das ist sicher kein Versehen, sondern vielmehr entlarvend. Denn die repräsentative Demokratie ist Ihnen doch in Wirklichkeit ein Gräuel; weite Teile der AfD-Fraktion stellen dies regelmäßig durch ihr Verhalten hier in diesem Hohen Haus unter Beweis.
Exemplarisch möchte ich zweitens auch einen erheblichen handwerklichen Mangel hervorheben: Eine obligatorische Volksabstimmung müsse bei jeder Grundgesetzänderung erfolgen. Das würde bedeuten, dass beispielsweise über die in der 18. Wahlperiode erfolgten umfangreichen Änderungen des Grundgesetzes im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich in einer Volksabstimmung hätte entschieden werden müssen. Verschiedenen Interessen mit einem Kompromiss gerecht zu werden, das würde angesichts der naturgemäß unterschiedlich gelagerten Interessen der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesländer zunichtegemacht – ein vollkommen untaugliches Instrument.
({0})
Und künftig soll es dann in Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz einen neuen Satz 3 geben – das ist eigentlich der Hauptmangel –, in dem es heißen soll:
Der geäußerte Wille des Volkes ist oberstes Gesetz; seine Entscheidungen können nur von ihm selbst abgeändert oder aufgehoben werden.
Das heißt doch nicht mehr und nicht weniger, als dass die Antragssteller dem Parlament für weite Bereiche die Gesetzgebungsbefugnis entziehen wollen – was mich wieder zum Anfang meiner Behauptung zurückführt: Sie lehnen die parlamentarische Demokratie ab, Sie verabscheuen sie geradezu, insbesondere wenn es um die für eine repräsentativ Demokratie unverzichtbare Mitwirkung politischer Parteien nach Artikel 21 des Grundgesetzes geht.
Damit ignorieren Sie und verkürzen Sie auch geschichtliche Erfahrungen, welche die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes dazu geführt haben, auf plebiszitäre Elemente weitestgehend zu verzichten. Es war nämlich keineswegs so, wie Sie es in Ihrem Antrag hier schreiben, dass in der Weimarer Republik praktisch ausschließlich die Wahl des Reichspräsidenten direktdemokratisch geregelt gewesen sei. Es gab vielmehr die Möglichkeit, Gesetze einem Volksentscheid zuzuführen. Medienunternehmer wie der deutschnationale Alfred Hugenberg, der bürgerliche Wegbereiter der Nazis, nutzten gerade auch das Umfeld der Plebiszite, um die junge Demokratie zu schwächen. Darum geht es Ihnen in Wahrheit: um Stimmungsmache, um die Aufwiegelung der Bevölkerung gegen das demokratische System, um eine „Prämie für … Demagogen“, wie es Theodor Heuss einmal ausgedrückt hat.
Auch aus diesen Erfahrungen heraus entschied man sich bei Abfassung des Grundgesetzes, weitestgehend auf plebiszitäre Elemente zu verzichten, um genau das zu verhindern, was Sie gerne hätten: dass in einer zeitlich begrenzten, emotional aufgeheizten Stimmung Ergebnisse herbeigeführt werden, die einer Momentaufnahme entstammen – wie Sie es unter Hinweis auf die Flüchtlingssituation des Jahres 2015 ausdrücklich ausführen.
({1})
Im Gegensatz zu Ihnen leite ich daraus allerdings ab, dass die repräsentative Demokratie noch wichtiger geworden ist. Irgendjemand muss am Schluss Entscheidungen treffen und auch dazu stehen. Oder, um mit den Worten – die Zeitüberschreitung nutze ich, um Sie zu zitieren, Herr Präsident – unseres Parlamentspräsidenten zu schließen:
Wir müssen verhindern, dass der Vorwurf, der Bundestag sei eine Quasselbude, wieder an Kraft gewinnt.
Das wollen wir als CDU/CSU ganz besonders. Daher folgen wir Ihrem Antrag nicht.
Vielen Dank.
({2})
Ich lege Wert auf die Feststellung, dass der Kollege Müller die Redezeit auch mit dem Zitat des Präsidenten nicht stärker als immer toleriert überschritten hat.
({0})
Mit dieser Feststellung erteile ich das Wort dem Kollegen Albrecht Glaser, AfD.
({1})
Herzlichen Dank. – Herr Präsident, ich hoffe, Sie lassen mir gegenüber auch die Toleranz so gewähren, wie Sie gerade Herrn Müller gewährt worden ist.
Die Selbststilisierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, als gute oder bessere Demokraten, auch in Abgrenzung zu anderen, denen man die demokratische Einstellung abspricht, gehört in diesem Haus zum politischen Alltag.
({0})
Diese verbalen Übungen stehen allerdings im krassen Gegensatz zur demokratischen Tat. Mit der Tat sind hier nicht nur diejenigen gemeint, die unter der Tarnkappe des Antifaschismus diese Demokratie gerne zusammenschlagen würden und ihre Fähigkeit hierzu bei vielen Anlässen unter Beweis stellen. Gemeint sind auch die, die aus Gründen des Eigennutzes nicht bereit sind, Direktmandate, die mit 25 Prozent der Wahlkreisstimmen errungen werden, und Ausgleichsmandate, hinter denen gar keine Wählerstimmen stehen, abzuschaffen.
({1})
Gemeint sind auch die, welche zulassen, dass die EU als Hybrid eines völkerrechtlichen Vertrages sich selbst ermächtigt – mit allen ihren Rechtssetzungsakten –, auch die Verfassungen der Nationalstaaten außer Kraft zu setzen. Dies erleben wir gerade wieder beim sogenannten Eigenmittelbeschluss der EU, der den Kern der verfassungsrechtlich geschützten Budgethoheit dieses Parlamentes aushöhlt – und Sie werden dem zustimmen. Diese Rechtslage hat der EuGH ohne primärrechtliche Grundlage frei erfunden – das ist übrigens schon lange her, basierte damals auf dem EWG-Gesetz; aber es macht die Sache nicht besser – und zu geltendem Recht erklärt. Das bedeutet: Unser Grundgesetz steht unter dem Vorbehalt der Legislatur der EU-Organe und unter der Judikatur des EuGH.
Bei Jubiläen wird das Grundgesetz als tolle Verfassung gepriesen. Es wird jedoch verschwiegen, dass es sich in Wahrheit in einem progredienten Auflösungsprozess befindet, und dies mit jeder Übertragung von Hoheitsrechten an eine Staatengemeinschaft umso mehr. Viele stellen sich freudig erregt sogar den Exitus des Grundgesetzes vor, damit das Projekt des Weltstaates endlich vorankommt.
Höchste Zeit also, den eigentlichen Souverän, das Staatsvolk, in seine vollen Rechte einzusetzen. Das und das allein wollen wir, die AfD, mit dem Instrument der direkten Demokratie auch tun. Alle anderen Spekulationen über Zweifel am Parlamentarismus sind frei erfunden und so wahr wie die Glaubwürdigkeit derer, die sie hier vortragen.
({2})
Die demokratische Tat ist also gefordert, und nicht das Lippenbekenntnis. Der vorgelegte Gesetzentwurf der AfD will die notleidende Demokratie festigen und dem Grundgesetz endlich Elemente hinzufügen, die offenkundig fehlen: Volksbefragungen, obligatorische und fakultative Volksabstimmungen und Volksbegehren.
Für alle, die sich vor so viel Demokratie fürchten, sei hinzugefügt: Die große Wirkung, so die Schweizer Erfahrung, entfaltet gar nicht die Volksabstimmung selber, etwa über bereits verabschiedete Gesetze, wie in unserem Gesetzentwurf in Artikel 75 Absatz 3 Grundgesetz vorgesehen, sondern die Tatsache, dass es dieses Institut gibt.
({3})
Regierungspolitik wird allein dadurch besonnener und partizipativer, dass die Möglichkeit besteht, eine törichte Gesetzgebung durch Volksabstimmung anzugreifen.
Tun Sie also etwas Gutes für dieses Land, und lassen Sie uns eine offene Diskussion zum Thema „Demokratie braucht Volksabstimmung“ führen!
Herzlichen Dank.
({4})
Herr Glaser, bitte eine Maske! – Sehr schön. – Der nächste Redner: für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Helge Lindh.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Glaser, Sie sprachen eben von Leuten mit der Tarnkappe des Antifaschismus. In Bezug auf Sie muss man feststellen, dass Sie mittlerweile dem Faschismus ohne jede Tarnkappe frönen. Insofern ist das ein Unterschied, den Sie aber selbst formuliert haben, und zwar recht erfolgreich.
Bevor ich mich den beiden Fragestellungen, um die es geht, ausführlich widmen werde – nämlich direkte Demokratie sowie deren Missbrauch und Indienstnahme aus unredlichen Motiven durch die AfD –, habe ich noch zwei Randbemerkungen zur bisherigen Debatte. Es ist manchmal ganz gut, darauf zu achten, was nicht gesagt wird.
Frau Bayram, Sie betonten, dass die Grünen alle Formen der Demokratie unterstützen: direkt, deliberativ, repräsentativ. Sie erwähnten aber nicht das Detail, dass sich die Grünen in ihrem jüngsten Grundsatzprogramm auf Bundesebene von der direkten Demokratie verabschiedet haben.
({0})
Das ist eine spezifische Form grüner Dialektik von mehr Demokratie, die ja auch vernichtend kommentiert wurde.
({1})
Herr Amthor, Sie nannten viele, viele Gründe dafür, warum Bedenken in Bezug auf die direkte Demokratie bestünden, aber Sie warfen nicht einmal die Frage auf, ob der politische Wille dazu vorhanden ist. Das ist sicher eine Frage, die wir auch diskutieren sollten. Innenminister Seehofer hat in seiner legendären Deutlichkeit auf eine Frage von mir hier im Parlament in Bezug auf direkte Demokratie und die Demokratie-Kommission gesagt, dass das nicht auf die Freude seiner Umgebung stoßen würde.
Das heißt, wenn die Union etwas mehr Begeisterung für Fragestellungen der direkten Demokratie zeigen würde, dann hätten wir womöglich diese lang gewünschte und im Koalitionsvertrag eigentlich vorgesehene Demokratie-Kommission. Dann könnten wir auch über so sinnvolle Fragen wie Bürgerräte und Beteiligungsräte diskutieren, für die sich dankenswerterweise Parlamentspräsident Schäuble so sehr eingesetzt hat, was ich ausdrücklich unterstütze.
({2})
Mir kommt aber in dieser ganzen Debatte eines viel zu kurz. Wir reden hier ziemlich technisch. Wir halten belehrende Vorträge – richtigerweise –, was an dem Gesetzentwurf technisch schlecht ist, aber wir sollten, glaube ich, auch mal über Grundfragen und Grundprobleme der Demokratie diskutieren. Wenn wir eines gelernt und begriffen haben, auch aus dieser fundamentalen Coronakrise, dann ist es der Einbruch der Wirklichkeit in unsere Gegenwart.
Zu dieser Gegenwart gehört eben auch, dass diejenigen, die besonders betroffen sind – durch die Pandemie, aber auch durch Armut und Benachteiligung –, oft auch diejenigen sind, die auffallend seltener an Wahlen teilnehmen, die auch nicht an Veranstaltungen politischer Bildung der SPD oder anderer Parteien teilnehmen, und die den Eindruck haben, dass ihre Stimme, ihre Überzeugung und ihre Haltung nicht zählen könnten. Deshalb ist die Frage der Weiterentwicklung der Demokratie – ich muss heute im Plenum offensichtlich der Vorkämpfer des Sozialismus sein – eine immens soziale Frage, die hier auch mal klarer und härter gestellt werden muss. Wir können uns doch nicht ernsthaft damit abfinden.
Das muss der Maßstab sein für jeden Ausbau von direktdemokratischen Elementen, für jede Frage deliberativer Demokratie, für jede Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie. Wie bringen wir es fertig, dass diejenigen, die dauerhaft Zuschauer des politischen Prozesses sind, endlich Beteiligte werden? Wie kommen wir dahin, dass wir in diesem Parlament endlich einigermaßen repräsentativ sind für die Bevölkerung außerhalb des Parlaments? Denn das sind wir nicht, und wenn wir behaupten, wir wären es, lügen wir uns in die Tasche.
({3})
Wir müssen auch darauf achten, dass diejenigen, die nicht teilhaben, künftig viel stärker am Wahlprozess teilnehmen und dass sie über Formen wie Beteiligungsräte und im Einzelfall direkte Demokratie, dann aber kombiniert mit deliberativen Elementen, auch durch Beratung, Bürgerräte und Beteiligungsräte endlich ihre Stimme formulieren können.
Das ist der Maßstab: Wir wollen nicht aus äußerlichen Gründen Demokratie entwickeln oder deshalb, weil wir uns darin besser gefallen oder die gut Beteiligten noch besser beteiligen wollen, sondern weil wir die verdammte Pflicht und Schuldigkeit haben, für mehr Demokratie zu sorgen, in der die Ausgeschlossenen und Zuschauer zu Beteiligten werden. Das ist der Maßstab, und das ist die soziale und elementare Aufgabe, nichts anderes.
({4})
Nicht die Repräsentation – wie die AfD den Eindruck zu erwecken versucht – ist das Problem, –
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
– sondern, dass die Repräsentation nicht mehr die Bevölkerung unseres Landes in ihrer Vielfalt abbildet, weder die Frauen noch die –
Lieber Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
– Menschen mit diversem Hintergrund.
Vielen Dank.
({0})
Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Dr. Anna Christmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich selbst habe sechs Jahre in der Schweiz gelebt und dort zum Thema „direkte Demokratie“ promoviert. Ich kann Ihnen sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf der AfD hat nichts mit der direkten Demokratie in der Schweiz zu tun. Hören Sie endlich auf, sich auf das Schweizer System zu berufen! Das ist so einfach nicht richtig.
({0})
Sie versuchen, die Demokratie zu schwächen, statt sie zu stärken,
und dem stellen wir uns entgegen.
({1})
Selbst in der Schweiz wehrt man sich dagegen. Ehemalige Nationalräte wie Andreas Gross nennen Ihren Vorschlag „autoritär“ und explizit „unschweizerisch“. Reden Sie doch mal mit den Herrschaften! Dann werden Sie vielleicht noch viel dazulernen.
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Sie schlagen Regelungen vor, die es in der Schweiz überhaupt nicht gibt. Zum Beispiel sollen 10 Prozent des Parlaments Volksentscheide beantragen können. Damit wollen Sie einfach nur den Bundestag aus sich selbst heraus ausbooten. Das wäre eine Schwächung des Parlaments statt einer Stärkung der repräsentativen Demokratie durch direkte Demokratie. Das ist nicht unser Weg.
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Zu dem wichtigen Anliegen, für eine lebendigere Demokratie zu sorgen – und das ist ein wichtiges Anliegen –, haben Sie überhaupt nichts beizutragen. Im schlimmsten Fall beschädigen Sie es noch. Aber das lassen wir nicht zu; denn wir setzen uns für lebendige Demokratie ein.
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Das findet sich übrigens auch im neuesten Grundsatzprogramm, Herr Kollege Lindh. Dort steht ganz explizit drin: „Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die repräsentative Demokratie.“ – Dafür stehen wir Grünen seit Jahrzehnten, und dafür streiten wir selbstverständlich auch weiter.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glaser?
Nein, danke. – Es gibt ja auch ein paar positive Ansätze, was ich sehr begrüße – allerdings nicht dank der Großen Koalition –, im Hinblick auf eine Stärkung direkter Beteiligungsmöglichkeiten. Wir haben jetzt schon den zweiten Bürger/-innenrat auf Bundesebene. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Ich möchte hier sehr stark dafür werben: Das darf nicht der letzte Bürger/-innenrat gewesen sein, sondern wir müssen das auf Bundesebene institutionalisieren.
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Die GroKo hat dazu nichts geliefert.
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Es war eine Expertenkommission für mehr Bürgerbeteiligung im Koalitionsvertrag angemeldet; die ist einfach nicht umgesetzt worden.
Es reicht nicht, immer nur zu sagen, Sie finden die Meinung der Bürgerinnen und Bürger ganz wichtig, aber ihnen dann an der Stelle keine weiteren Beteiligungsmöglichkeiten zu geben. Da werbe ich sehr für die Linie des Bundestagspräsidenten, der den ersten Bürger/-innenrat auf Bundesebene mit seiner Schirmherrschaft jetzt auch unterstützt, und dafür, diesen Weg jetzt wirklich weiterzugehen.
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Als Grüne zeigen wir auch in den Ländern, dass wir für direkte Demokratie und direkte Beteiligung stehen.
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In Baden-Württemberg haben wir sehr erfolgreich eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. Dieses Modell sollten wir auch auf Bundesebene prüfen; denn das führt zu echter Beteiligung, zu mehr Transparenz, zu mehr Demokratie. Das ist dringend notwendig.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Glaser. Die Betonung liegt auf „kurz“.
Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die Freundlichkeit. Ich werde es auch ganz kurz machen. – Zwei Bemerkungen, Frau Christmann.
Erstens. Ihre Behauptung, in dem Entwurf stünde, dass 10 Prozent der Abgeordneten eine Volksabstimmung in Gang setzen können, ist einfach falsch. Das steht nicht drin. Das haben Sie frei erfunden oder vielleicht im Archiv gefunden.
Zweite Bemerkung. Was die Schweiz angeht, können Sie davon ausgehen, dass viele von uns – ich gehöre auch dazu – sich schon Jahrzehnte vertieft mit der Schweizer Demokratie befassen,
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dass sie Exponenten sein können, dass ich neulich an der ETH Zürich eine wissenschaftliche Veranstaltung zu diesem Thema gehabt habe. Und ich darf Ihnen versichern, dass die Kernelemente dessen, was Sie hier haben, sehr wohl mit dem, was die Schweiz macht, übereinstimmen. Alle anderen Aussagen sind falsch.
Wollen Sie dazu Ausführungen machen? – Bitte schön.
Herr Kollege Glaser, ich kann Ihnen versichern, dass ich das direktdemokratische System der Schweiz ganz gut kenne. Es gibt dort obligatorische Referenden und fakultative Referenden. Es gibt dort keine Abstimmungen über Einzelsachfragen, die Bürgerinnen und Bürger einbringen könnten,
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sondern es braucht Gesetzesvorlagen, gegen die ein Referendum erhoben werden kann.
Es gibt im Übrigen auch weitere Schwächen in Ihrem Gesetzentwurf, auf die ich mal hinweisen möchte. Sie behandeln überhaupt keine Rechtsfragen zum Schutz von Minderheiten. Sie haben keine rechtsstaatlichen Prüfaufträge dort vorgesehen. Also, Ihr Gesetzentwurf entspricht zum einen überhaupt nicht dem Prinzip der konsensorientierten schweizerischen Direktdemokratie,
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und er hat darüber hinaus viele Schwächen hinsichtlich der Frage, wie er überhaupt in das deutsche System mit einem starken Grundgesetz hineinpasst, dessen Rechtmäßigkeit man natürlich auch bei direkter Demokratie prüfen muss.
Insofern kann ich nur feststellen, dass Ihr Gesetzentwurf eher zu einem Schaden der Demokratie beiträgt, als dass er wirklich zu einer Stärkung direkter Demokratie beitragen würde. Und das bedaure ich sehr; denn ich bin sehr für eine differenzierte Diskussion darüber, welche direkten Beteiligungsinstrumente uns hier in Deutschland helfen. Wir müssen da mutiger werden. Aber solche Gesetzentwürfe wie der von Ihnen vorgelegte schaden dieser Debatte leider mehr, als dass sie ihr nutzen.
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Nachdem sich die Schweiz-Experten ausgetauscht haben, hat das Wort der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr aufmerksam den Worten der grünen Rednerinnen gefolgt: Frau Bayram und Frau Christmann. Und da musste ich an einen inzwischen berühmt gewordenen Bezirksamtsleiter aus Hamburg-Nord denken, der nicht nur den Bau von Einfamilienhäusern verboten und damit ein klares Signal an Familien in Hamburg gesetzt hat;
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jetzt hat er auch noch mit Tricks dafür gesorgt, dass die gesetzlich verbrieften Bürgerrechte, nämlich Bürgerentscheide durchzuführen, bei diesem Verfahren ausgehebelt werden, damit keine Einfamilienhäuser gebaut werden.
Wer so was macht, der sollte sich mal die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit stellen, was direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung anbelangt. Ich weiß nicht, ob Sie da die besten Kronzeugen sind.
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Denn das ist Bürgerbeteiligung nach Gutsherrenart. – Heute hat sich übrigens noch herausgestellt, dass er selber Eigenheimbesitzer ist; aber das nur als Bemerkung am Rande.
Nun aber zum Thema „direkte Demokratie“. Das ist ja hier ein Evergreen; das kennen wir von der AfD, von der Linken genauso. Ich möchte dazu gerne fünf Thesen aufstellen, und ich bin auch ein überzeugter Vertreter unserer repräsentativen Demokratie.
Meine erste These ist: Direkte Demokratie nützt vor allen Dingen Populisten. Um dies zu verstehen, kann man einfach mal den Blick zurück auf den Brexit werfen und rekapitulieren, welch eine Lügenkampagne der knappen Entscheidung für den Brexit voranging. Keines der Versprechen hat sich bewahrheitet.
Und ein anderes Beispiel, hier direkt aus Berlin – Sie kennen das auch –: die Bebauung des Tempelhofer Flughafens. Dieselben Menschen, die damals ein Verbot gefordert und dafür geworben haben und damit den Bau von Zehntausenden Wohnungen verhindert haben, stellen sich heute hin und beklagen Wohnungsnot und steigende Mieten und wollen jetzt Eigentümer enteignen. Meine Damen und Herren, das ist Populismus pur,
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und das sollte uns ein warnendes Beispiel sein.
Das führt mich zur zweiten These. Direktdemokratische Entscheidungen sind kaum reversibel. Wenn solche Entscheidungen erst mal gefällt worden sind, tun sich Parlamente schwer damit, den Willen der Bürger zu übergehen, selbst wenn sie wissen, dass das erheblichen Schaden für ihr Land zur Folge hat. Auch hier ist der Brexit das Paradebeispiel.
Aber wir wissen es alle: Parlamentarisches Handeln ist nicht frei von Fehlern, politisches Handeln generell nicht. Und deswegen ist es auch fundamental für eine funktionierende Demokratie, dass Fehlentscheidungen korrigiert werden. Sie aber wollen es hin zur Irreversibilität auf die Spitze treiben, indem jede Änderung eines Gesetzes, das vom Volk beschlossen wurde, auch nur durch erneute Zustimmung wieder geändert werden kann. Da sage ich Ihnen ganz klar: Das lehnen wir ab, meine Damen und Herren.
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Dritte These. Die Entscheidungen der direkten Demokratie tragen zur Spaltung unserer Gesellschaft bei. Direktdemokratische Entscheidungen sind in der Regel immer zugespitzte Entscheidungen. Sie reduzieren komplexe Sachverhalte auf ein Ja oder Nein.
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Auch Minderheitenrechte passen schlecht zu direkter Demokratie. In der Regel bleiben sie auf der Strecke, genauso wie der politische Kompromiss. Aber ich finde, unsere parlamentarische Demokratie lebt von der Bereitschaft aller Beteiligten zum Kompromiss. Sie lebt davon, dass Einzelinteressen nicht über dem Gemeinwohl stehen, und sie lebt auch davon, dass es nicht nur Sieger und Verlierer gibt. Ich finde, das ist ein hohes Gut, das wir uns bewahren sollten, meine Damen und Herren.
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Vierte These. Die repräsentative Demokratie ist aus meiner Sicht demokratischer als die direkte Demokratie.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten von Storch?
Nein, ich würde gerne zu Ende ausführen. – Eine parlamentarische Entscheidung bedeutet, dass nach einem langen, komplexen Prozess der Gesetzgebung – mit Anhörungen, mit Länderbeteiligung, mit parlamentarischen Verfahren – eine Entscheidung getroffen wird, wobei die unterschiedlichsten Interessen bewertet und auch berücksichtigt werden, und die Gesetze werden von gewählten Volksvertretern gemacht. Wenn wir uns nur die Situation jetzt mal anschauen: Wir vertreten hier im Bundestag drei Viertel der Bevölkerung, die wahlberechtigt sind. Das ist eine Beteiligung, die Volksentscheide niemals erreichen, und deswegen haben sie auch keine höhere Legitimation, meine Damen und Herren.
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Und was möchten Sie jetzt mit Ihrem Gesetzentwurf? Ihr Gesetzentwurf sieht überhaupt keine Beteiligungsquoren vor. Damit könnten Kleinstgruppen in Deutschland künftig unser Grundgesetz und unsere Verfassung ändern. Da sage ich Ihnen ganz im Ernst, meine Damen und Herren: Wer so etwas fordert, der will doch nicht mehr Demokratie; der will Chaos in unserem Land, und der will unsere Demokratie zerstören. Aber nicht mit uns!
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Ich komme zur letzten These. Herr Müller hat es schon gesagt: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus gutem Grund ein starkes Parlament mit wenigen direktdemokratischen Elementen geschaffen. Ich glaube, wir sind in einer Zeit der Spaltung der Gesellschaft, und wir brauchen eher mehr Parlament, mehr Kompromiss und mehr Zusammenhalt in unserem Land als zugespitzte Entscheidungen, die eine Gruppe Menschen frustriert zurücklassen.
Ihre Motivation ist doch klar: Sie fordern das, weil Sie immer wieder hier im Parlament an der Stabilität unserer parlamentarischen Demokratie scheitern. Das sollen Sie auch weiterhin tun. Wir wollen Ihnen aus diesem Dilemma nicht heraushelfen. Wir schätzen die repräsentative Demokratie, und wir sollten sie auch nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Kollege Dr. Lars Castellucci.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Demokratie ist unsere Staatsform. Sie ist auch unsere Lebensform, und sie beruht darauf, dass wir uns als Menschen, als gleichwürdige Menschen, begegnen. Und Fraktionen, die hier regelmäßig mit Hassreden und mit Abwertung von Menschen und Gruppen auffallen, sollten sich Anträge zum Thema Demokratie einfach sparen.
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Es ist gesagt worden, dass außer der Union jede Fraktion hier in diesem Hohen Haus bereits Anträge zum Thema „direkte Demokratie“ eingebracht hat. Aber die Stimmen sind kritischer geworden.
Frau Christmann, das muss ich Ihnen jetzt schon sagen – ich habe das gerade noch mal nachgelesen –: Der Begriff der Volksbegehre, der Volksentscheide ist aus dem grünen Grundsatzprogramm rausgeflogen.
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Sie haben das mit Mehrheit abgelehnt und stattdessen eine weiche Formulierung gefunden, dass Sie allgemein für Beteiligungsmöglichkeiten sind. Das ist sehr wohl ein Unterschied.
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Aber ich will Ihnen auch sagen, dass die Stimmen natürlich auch über die Fraktion der Grünen hinaus kritischer werden. Das hängt damit zusammen, dass wir alle den Brexit irgendwie in den Knochen haben und dass es Sorgen um ein Anwachsen des Populismus gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, dass die Vertrauensbeziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern durch Populisten und durch Rechtsextremisten gestört wird.
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Kollege Castellucci, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Christmann zu?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass sie meine Zwischenfrage zulassen. – Sie haben mich direkt angesprochen. Es geht um das Grundsatzprogramm der Grünen, in dem der von mir vorhin schon zitierte Satz steht, dass direkte Beteiligungsmöglichkeiten die repräsentative Demokratie bereichern. Wir bekennen uns dort auch sehr umfassend mit einer sehr ausführlichen Darstellung verschiedener Möglichkeiten dazu, dass wir verschiedenste Instrumente dafür für notwendig halten.
Ich finde, das ist immer ein bisschen die Schwäche der Debatte, wenn wir nur sagen: Volksentscheide sind ein wichtiges Mittel. Dazu stehen wir, aber es gibt natürlich noch viel mehr Mittel. Bürger/-innenräte habe ich schon genannt. Mehr Transparenz – wir alle warten seit Ewigkeiten auf ein Lobbyregister. All das sind wichtige Elemente für eine lebendige Demokratie, für die in dieser Legislatur nichts passiert ist.
Ich möchte Sie zum Abschluss fragen, ob Ihnen denn bekannt ist, was ich vorhin erwähnt habe, nämlich dass im Koalitionsvertrag die Einsetzung einer Expertenkommission für mehr Beteiligung vorgesehen war, dass diese Expertenkommission in dieser Legislatur aber nicht eingesetzt worden ist. Deswegen frage ich mich, wie Sie dazu kommen, uns da zu kritisieren, wenn es doch die GroKo war, die in dieser Legislatur nichts für eine lebendige Demokratie getan hat. Oder irre ich mich da? Habe ich etwas verpasst?
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Vielen Dank, Frau Christmann. – Da irren Sie sich. Sie sind ja eine Partei, die sehr stolz ist auf die zivilgesellschaftlichen Grundlagen, die Ihre Partei hervorgebracht haben. Ich rate Ihnen: Lesen Sie mal die Stellungnahmen des Vereins Mehr Demokratie! Ich sage nur: bittere Enttäuschung über die wachsweiche Formulierung, die Sie in Ihrem Grundsatzprogramm gefunden haben.
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Sie haben insbesondere in dem Kapitel, in dem es um die bundesweiten Beteiligungsmöglichkeiten geht, eben keine Hinweise mehr auf bundesweite Volksentscheide. Jeder kann öffentlich im Internet nachvollziehen, wie die Debatten waren. Es waren harte Debatten. Sie sollten jetzt hier dazu stehen, zu welchen Entscheidungen Sie auf ihrem Bundesparteitag gekommen sind. Ich glaube, das wäre ein Beitrag zu Transparenz und Ehrlichkeit. – Vielen Dank.
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Sie haben auch die weiteren Beteiligungsmöglichkeiten angesprochen. Da muss ich Ihnen sagen: Wir sind sehr dafür, insbesondere für die Bürger/-innenräte, von denen Sie gesprochen haben. Aber klar ist auch: Beteiligungsformen informeller Art sind erstens kein Ersatz für diese Parlamente, und sie sind zweitens auch kein Ersatz für direktdemokratische Verfahren. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Energie, die sie da einbringen, sinnvoll und effektiv einbringen können. Es hat zuletzt einen Bürger/-innenrat zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ gegeben. Dieser Bürger/-innenrat war ein Experiment; das wird evaluiert. Ich schätze das wert, aber er war in keiner Weise vernetzt oder verknüpft mit irgendeinem weiteren Vorgang oder Prozess, den wir hier politisch haben.
Ich sage Ihnen mal, was eine gute Idee gewesen wäre: die Pandemiepolitik durch einen Bürger/-innenrat begleiten zu lassen. Das hätte zu einer Bildung von Vertrauen in unsere Politik beigetragen. Stattdessen lässt man irgendwelche abseitigen Diskussionen führen, bei denen nichts herauskommt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dem Gesetzentwurf wird im Begründungsteil Willy Brandt erwähnt. Willy Brandt prangte schon auf Plakaten der AfD in Brandenburg. Sie haben versucht, mit ihm Wahlkampf zu machen. Ich finde das infam, und ich weise diese Vereinnahmung auf das Schärfste zurück.
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Willy Brandt ging es 1969 in seiner Regierungserklärung um „mehr Demokratie wagen“, um die Menschen zur Mitverantwortung zu gewinnen. Es ging um ein Miteinander. Sie hingegen wollen diese Instrumente zur Aufhetzung. Das lehnen wir mit allem Nachdruck ab.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage, ob unser Grundgesetz um Elemente der direkten Demokratie, also Volksentscheide und Volksbegehren, ergänzt werden soll, ist eine verfassungspolitische. Ausgangslage ist die Wertentscheidung des Grundgesetzes für eine repräsentative Demokratie. Das kommt nicht nur in Artikel 20 zum Ausdruck, sondern auch in Artikel 38, der besagt, dass die gewählten Abgeordneten weder an Weisungen noch an Aufträge gebunden sind. Das Grundgesetz hat deutlich gemacht, dass für komplexe Probleme die Frage von Ja und Nein bzw. die Zuspitzung in einer simplen Frage oftmals nicht der geeignete Weg ist.
Gleichwohl gibt es erfreuliche Vorkommnisse direkter Demokratie, gerade auf kommunaler und auf Länderebene. Aber ich meine, dass wir die Frage von Volksentscheiden und Volksbegehren auf Bundesebene vor dem Hintergrund auch historischer Erfahrungen und der Wertentscheidung unseres Grundgesetzes differenziert diskutieren sollten.
Was allerdings nicht geht, ist der Gesetzentwurf der AfD mit den darin geäußerten Zielen und Haltungen. Sie wollen in Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz folgende Vorschrift in das Grundgesetz einfügen – ich zitiere –: „Der geäußerte Wille des Volkes ist oberstes Gesetz“. In Artikel 62a Ihres Entwurfes wollen Sie noch mal vom Volkswillen sprechen. Ich finde diese Volkswillenrhetorik sehr befremdlich. Der Volkswille ist eben nicht die höchste Orientierung in unserem Staat, sondern das ist die Menschenwürde. Sie ist unverletzlich, unveräußerlich, und sie ist dem Mehrheitswillen nach unserer Verfassungsordnung nicht zugänglich.
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Unser Staat gründet sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, festgelegt in der Ewigkeitsklausel. Deswegen ist Ihre Interpretation von Artikel 20 Grundgesetz und Ihre Haltung zum Thema Volkssouveränität einfach verfassungsrechtlich falsch. Das Volk ist Legitimationsquelle und Träger der Staatsgewalt. Aber der Volkswille nimmt selbst keine staatsleitende Funktion wahr. Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung, die Sie bewusst oder unbewusst nicht kennen.
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Ich sage Ihnen: Die Erhebung des Volkswillens zur Richtschnur politischen Handelns befindet sich in einem am Ende des Tages antiliberalen, antidemokratischen Gedankengebäude, und das sind Sie von der AfD.
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Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten Madeleine Albright zitieren, die ehemalige US-Außenministerin, die geschrieben hat – Zitat –:
Eine illiberale Demokratie orientiert sich vornehmlich an den vermeintlichen Bedürfnissen der Gemeinschaft und nicht an den unveräußerlichen Rechten des Einzelnen.
Das ist ein Zitat aus dem Buch „Faschismus: Eine Warnung“.
Was ist denn das Zeichen autoritärer, antiliberaler und antidemokratischer Kräfte? Es dreht sich im Kern immer um die Erzählung, dass der angebliche Volkswille nicht beachtet würde. Der Volksbegriff wird als Ausgrenzungskriterium genannt. Er dient dazu, Menschen zu definieren, die nicht dazugehören: Migranten, Medien, Menschen anderer Religionen, anderer Hautfarbe, Minderheiten. Es geht um die Ablehnung von Vernunft, von Wissenschaft und die Ablehnung und Diskreditierung von Institutionen. Das durchzieht Ihren Gesetzentwurf und Ihre Volkswillenrhetorik. Deswegen entlarven Sie sich mit diesem Gesetzentwurf am Ende des Tages selbst.
Es geht Ihnen darum, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf deutlich machen, dass Sie von dem repräsentativen Charakter des Grundgesetzes und seiner demokratischen Ordnung abrücken wollen hin zu einer agitatorischen, antiliberalen Demokratie oder sogar einem antiliberalen autoritären Staat.
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Das ist der Kern Ihres politischen Handelns. Sie stehen damit – das ist heute schon angesprochen worden – in der Tradition der Deutschnationalen Volkspartei der Weimarer Zeit. Das hat nichts mit liberaler repräsentativer Demokratie zu tun. Deswegen werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute beraten wir abschließend das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Wir ergänzen die ursprüngliche Vorlage aus der letzten Sitzungswoche im Bereich des Verlustrücktrages; ich komme gleich noch darauf zurück. Nach der ersten Beratung in der letzten Sitzungswoche findet das Gesetzgebungsverfahren heute relativ schnell seinen Abschluss. Wir haben eine zügige Gesetzgebung, damit den Betroffenen schnell geholfen werden kann.
Nach einer relativ harmonischen ersten Lesung – ich habe das bei Steuergesetzgebungen auch schon anders erlebt – und nach einer relativ harmonischen Anhörung, in der die Sachverständigen der Opposition uns gesagt haben: „Ihr macht nichts falsch, aber es könnte überall ein bisschen mehr sein“ – um es mal vereinfacht zu sagen: höher, schneller, weiter –, kommen wir heute zum Abschluss. Wir machen nicht die von den Sachverständigen der Oppositionsfraktionen in ihren Stellungnahmen angeregte Unternehmensteuerreform, wir machen auch kein Jahressteuergesetz, wir machen keine Mehrwertsteuerreform, und wir ändern heute auch nicht grundlegend das Unterhaltsrecht. Das war alles angeregt worden; aber das haben wir in dieser einen Woche nicht geschafft.
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Allein die Mehrwertsteuerreform ist ein Jahrhundertwerk, auch wenn sie dringend notwendig wäre.
Jetzt zum Einzelnen. Ergänzend zum Ursprungsgesetzentwurf werden wir den Verlustrücktrag ausweiten. Es gab – man mag es kaum glauben – auch letztes Jahr noch Unternehmen, die Gewinne gemacht haben. Nicht nur in Heinsberg, auch im restlichen NRW wurde Karneval gefeiert; das ist nur ein Beispiel, das mir spontan einfällt. Diese damals gemachten Gewinne können jetzt verrechnet werden
({1})
mit Verlusten aus dem Jahr 2021. Ich finde, das ist ein guter Vorschlag. Der Vorschlag der Grünen – es wurde gerade reingerufen – geht natürlich extrem weit und hätte dazu geführt, dass sehr viele Steuersachen wieder aufgemacht werden müssen.
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Das wollten wir auch im Sinne der Mitarbeiter der Steuerfinanzverwaltung vermeiden.
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Diese Maßnahme, die sich so nach nichts anhört, wird trotzdem circa 70 Millionen Euro Mindereinnahmen bedeuten. Es ist also auch nicht nichts.
Nicht verändert haben wir die Verlängerung der Mehrwertsteuersenkung für Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen in Gastronomiebetrieben. Wir haben darüber in der letzten Sitzungswoche schon geredet: Es gibt da eine besondere Situation; denn hier kann Konsum nicht nachgeholt werden, hier können auch saisonale Angebote nicht im Frühjahr oder im Sommer nachkonsumiert werden. Deswegen macht es Sinn, hier eine Verlängerung zu beschließen.
Ich fand in der Anhörung relativ überzeugend, was die DEHOGA-Vertreterin gesagt hat: Es ist nicht einzusehen, dass industriell gefertigte Gerichte, die man mal schnell in den Ofen schiebt, mit dem halben Mehrwertsteuersatz belastet werden, während liebevoll zurechtgemachtes und mit viel Dienstleistung im Restaurant serviertes Essen in Zukunft mit dem vollen Mehrwertsteuersatz belegt wird. Das stimmt. Aber hier brauchen wir, wie gesagt, eine massive Mehrwertsteuerreform, und das haben wir in der Kürze der Zeit – ich bin seit 1999 hier; so viel Zeit ist seitdem verstrichen – leider bisher nicht geschafft. Aber wir nehmen uns, denke ich, spätestens für die nächste Legislaturperiode vor, eine Mehrwertsteuerreform zu machen.
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Es bleibt auch beim geplanten Kinderbonus von 150 Euro; der wurde von allen als positiv betrachtet. Alle haben allerdings gesagt, es wäre wünschenswert, ihn noch stärker anzuheben. Ja, wahrscheinlich sollte man das tun. Aber hier müssen wir auch im Sinne der nächsten Generationen verantwortungsvoll und nachhaltig handeln. Aber ich denke, er kommt mit Blick auf den Konsum an und ist deswegen sinnvoll.
Wir haben nebenbei für Alleinerziehende noch andere Dinge getan. Das heißt, auch Alleinerziehende, die nach Unterhaltsrecht vielleicht nicht die vollen 150 Euro bekommen, werden an anderer Stelle entlastet.
Grundsätzlich haben wir untergesetzlich auch andere Dinge eingeführt, ich sage nur: Abschreibung digitaler Wirtschaftsgüter und von Saisonware. Es gibt noch einiges, was wir tun werden. So werden wir auch in der nachfolgenden Debatte Hilfsmaßnahmen beschließen.
Wir haben ein gutes Gesetz vorgelegt. Ich freue mich, dass wir es so schnell beschließen können und dass so viele zustimmen können.
Herr Präsident, ich sehe, dass die Uhr am Rednerpult blinkt. Deswegen: Bleiben Sie gesund!
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die AfD der Abgeordnete Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Arndt-Brauer, das war in der Tat die Aufzählung dessen, was nicht geschehen ist. Die hätte man noch länger machen können; denn es ist eigentlich gar nichts geschehen. Wir haben in der zweiten und dritten Lesung zum Dritten Corona-Steuerhilfegesetz im Grunde wieder keinen Inhalt. Sie haben nach einem Jahr – wir haben im April 2020 die Erweiterung des Verlustrücktrags gefordert; damals haben Sie das verweigert; Sie haben es auch beim Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz noch verweigert –, nachdem in der Zwischenzeit jeder Sachverständige in dieser Republik – –
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– Gemach, gemach, gemach!
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– Stellen Sie eine Zwischenfrage. Das wäre wunderbar. Dann können wir das wunderbar diskutieren, lieber Herr Güntzler. Ich lasse sie schon jetzt zu, die Zwischenfrage.
Das würde bedeuten, dass tatsächlich eigentlich nichts gemacht wurde. Die Verlängerung der Umsatzsteuerermäßigung in der Gastronomie – aber nur für Speisen – ist ein Zukunftsprojekt. Diese Verlängerung wird wirksam werden, wenn die Gastronomiebetriebe wieder offen sind, und dann wird sie nicht für Getränke gelten, obwohl 30 bis 40 Prozent der Umsätze Getränkeumsätze sind. Es gibt auch Gastronomiebetriebe, die nur von Getränken leben; die sind alle überhaupt nicht betroffen. Also: Das war eigentlich gar nichts.
Dann haben Sie noch eine ironische Nummer gebracht; die haben Sie gerade gelobt. Sie haben gesagt: Die Verluste aus 2021 sollen nach 2020 rückgetragen werden. – Meine Damen und Herren, das ist Fastnacht! 2020 ist ein Krisenjahr, also sind typischerweise keine Gewinne entstanden. Wenn Sie jetzt in 2021, wo es hoffentlich besser läuft, die Verluste rücktragbar machen in ein Jahr, in dem gar keine Gewinne entstanden sind, erzielen Sie gar keine Ausgleichseffekte. Das ist eine Lachnummer.
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Meine Damen und Herren, der Finanzminister will halt nicht. Er will Steuern erhöhen, er will Schulden machen – das ist seine Leidenschaft; die vertritt er auf nationaler und übernationaler Ebene –, aber er will nicht den Leuten helfen, die heute in diesem Land ein Unternehmen haben und die im Rahmen dieser ganzen Maßnahmen aus der eigenen Substanz, mit einer schon existierenden, gut funktionierenden Instanz des Staates, nämlich dem Finanzamt, diese Dinge machen können. Da brauchen wir keine KfW, da brauchen wir keine Fremdmittel, da brauchen wir keine Darlehenszinsen. Die übernehmen die eigene Unternehmensgeschichte, und wenn sie erfolgreich war, kann man nach hinten noch mit den Beträgen von früher saldieren. Jeder vernünftige Mensch weiß das.
Notwendig wäre, meine Damen und Herren – das haben wir seit April 2020 beantragt –, den Verlustrücktrag unbegrenzt auszugestalten. Er muss mehrere Jahre umfassen; das sagt jeder Sachverständige. Selbst die Grünen schlagen eine Ausweitung bis 2017 vor; das ist also ein Lichtstrahl der Erkenntnis in dieser Partei.
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Meine Damen und Herren, die Unternehmen haben 15 Prozent Körperschaftsteuer und 15 Prozent Gewerbesteuer zu zahlen. Warum nicht den Verlustrücktrag bei der Gewerbeertragsteuer einführen? Das muss sein; das sagt jeder, der bei diesen Sachverständigenanhörungen war und der in der Ökonomie und vom Sachverstand her eine Hausnummer ist.
Das sagt übrigens auch der Wissenschaftliche Beirat. Apropos Wissenschaft: Wo ist bitte die Orientierung der Politik an der Wissenschaft? Der Wissenschaftliche Beirat sagt: So muss es gemacht werden: Verlustvortrag ohne Mindeststeuer. – Meine Damen und Herren, angenommen, Sie haben 2020 100 Verlust, Sie haben 2021 100 Gewinn. Das heißt, Sie haben zwar in der Summe aus beiden Jahren überhaupt nichts verdient, zahlen aber aus dem Gewinn von 2020 eine Mindeststeuer – obwohl Sie in den zwei Jahren nichts verdient haben. Das ist Mindestbesteuerung. Diese muss weg! Jeder Sachverständige sagt das; jeder, der ein bisschen Lebensklugheit hat, sagt das. Machen Sie es doch einfach!
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Das sagt auch der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums. Man könnte doch einmal im Leben in dieser Coronazeit auf die Wissenschaft hören! Das hätte doch was.
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Dann kommt die Zinsschranke. Das Gleiche: Wir legen über die KfW Ausleihprogramme auf. Dadurch gehen die Zinsbelastungen der Unternehmen hoch. Die Zinsschranke kappt aber die Zinsaufwendungen. Sie dürfen nicht als Betriebsausgaben abgezogen werden. Das muss weg. Auch das sagen alle Sachverständigen.
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Ein Letztes. All das, was ich gerade gesagt habe, was wir seit April 2020 versuchen durchzusetzen, kostet den Staat nichts, wie man so schön sagt. Das heißt, das führt nicht zu dauerhaften Einnahmeausfällen, weil das über die Zeitachse nur gestundet wird und etwas später gezahlt wird. Das heißt, im Unterschied zu den 20 Milliarden Euro, die dem Staat durch die Absenkung des Mehrwertsteuersatzes tatsächlich verloren gegangen sind, ohne dass dies eine Hilfe war, weil diese Maßnahme keinen Nachfrageboom entfaltet hat, wird das, was keine Staatsmittel kosten würde, nicht gemacht.
Herr Kollege, die Redezeit ist um.
Es bleibt beim Dilettantismus. Es muss daran liegen, dass in diesem ganzen Bundeskabinett der Nation mit der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt nicht ein einziger Ökonom sitzt.
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Es ist sensationell, dass Sie das hinbekommen.
Herr Kollege, die Redezeit ist zu Ende.
Aber die Frucht dieser Personalentscheidung ist wohl das, was wir heute hier erleben.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat als Nächstes der Abgeordnete Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Glaser hat in seiner Rede gerade gesagt: Wir haben eigentlich nichts gemacht. – Ich weiß nicht, ob er das auf die AfD bezieht. Aber wir haben was gemacht: Wir beschließen heute – damit bringen wir es auf den Weg – das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz mit drei wesentlichen Maßnahmen. – Und das ist gut so.
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Gegenstand dieses Gesetzes sind eben diese drei wesentlichen Punkte. Erstens: die Ermöglichung und die Erhöhung des steuerlichen Verlustrücktrages auf 10 Millionen Euro bzw. 20 Millionen Euro bei Zusammenveranlagung. Hier haben wir als CDU/CSU-Fraktion seit Beginn der Pandemie den Koalitionspartner gebeten, dies zu machen, um den Unternehmen schnell Liquidität zu geben, damit sie aus eigener Kraft auf die Beine kommen. Der Bundesfinanzminister hat sich da immer ein bisschen gesträubt. Jetzt haben wir es durchgebracht. Übrigens haben wir im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz mit dem vorläufigen Verlustrücktrag den ersten Schritt gemacht; jetzt kommt der zweite Schritt.
Dieser Verlustrücktrag – ich will es auch noch mal sagen – ist wirklich Ausdruck der steuerlichen Leistungsfähigkeit. Jeder, der viel Geld verdient, zahlt mehr Steuern. Aber wenn er dann Verluste erleidet, muss er das doch auch mit den Gewinnen verrechnen können. Aus unserer Sicht wäre es durchaus möglich, noch einen längeren Zeitraum zu nehmen. Wir haben jetzt den Zeitraum von zwei Jahren genommen.
Ihre Analyse stimmt übrigens nicht. Es gibt durchaus Unternehmen, die im Jahr 2020 noch Gewinne gemacht haben und aus dem Jahr 2021 jetzt Verluste zurücktragen. Also, wenn Sie ökonomischen Sachverstand einfordern, dann schauen Sie auch in die Realität. Diesen Fall gibt es nämlich.
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Aber es wäre durchaus möglich, noch zwei weitere Jahre zurückzutragen; aber diesen Kompromiss haben wir jetzt einfach in der Diskussion mit dem Koalitionspartner nicht geschafft. Deswegen ist diese Maßnahme, die Erhöhung beim Verlustrücktrag auf 10 Millionen Euro bzw. 20 Millionen Euro, ein erster Schritt. Das ist ein guter und wichtiger Schritt für die Wirtschaft.
Der zweite Punkt – mein Kollege Johannes Steiniger wird darauf noch rekurrieren, weil er dafür zuständig ist – ist der Kinderbonus in Höhe von 150 Euro pro Kind. Auch das ist eine wichtige Maßnahme, weil wir eben mit diesen 150 Euro die Mehrbelastungen gerade für Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen ausgleichen, die sie in der Pandemie vielleicht haben. Im letzten Jahr haben wir schon zweimal eine Sonderzahlung in Form des Kinderbonus ausgegeben. Das ist auch in diesem Jahr eine gute Maßnahme.
Die dritte Maßnahme ist die Absenkung des Umsatzsteuersatzes auf Speisen in der Gastronomie von 19 auf 7 Prozent bis zum 31. Dezember 2022. Ich erinnere mich noch an die Zeit von vor ungefähr 10 Jahren oder 15 Jahren, als diese Debatte begonnen hat. Auch hier zeigt sich, was passieren kann, wenn man hartnäckig bleibt, wenn man an einem Thema dranbleibt. Ich war damals schon ein Fan davon, den Umsatzsteuersatz auf Speisen im Restaurant auf 7 Prozent zu senken, weil die bisherige Regelung auch in der Praxis bei Betriebsprüfungen oder anderen Dingen immer dazu führt, dass es Abgrenzungsschwierigkeiten gibt, dass es für die Gastronomie mehr Bürokratie gibt. Deswegen ist auch dieser Schritt mit einer Frist bis zum 31. Dezember 2022 richtig. Ob wir es schaffen, diese Maßnahme dauerhaft aufrechtzuerhalten, bleibt zu hoffen. Aber natürlich muss die Gastronomie erst mal öffnen können – das ist klar –, sonst gibt es auch keinen Effekt.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir brauchen, glaube ich, kurzfristig für unsere Unternehmer eine gesicherte Öffnungsstrategie, eine klare Kommunikation, unter welchen Bedingungen wir aufmachen, sodass die Entscheidungen, die wir treffen, für diese klar nachvollziehbar sind.
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Aber was auch notwendig ist – das ist die mittel- und langfristige Perspektive –, ist, dass wir jetzt natürlich alle Dinge umsetzen, die machbar sind, dass wir übrigens ebenso alle Fehler beseitigen, die im Rahmen eines solchen Prozesses entstehen, zum Beispiel bei einer verspäteten Auszahlung von Überbrückungshilfen oder anderen Dingen. Da müssen wir ran. Da müssen wir uns auch mit Sonderfragen beschäftigen. Aber wir setzen dann die Maßnahmen um, und wir haben sie auch schon umgesetzt. Die Überbrückungshilfe III funktioniert jetzt reibungslos. Die vielen komplexen kleinen Fragestellungen, die wir immer wieder diskutieren – ob es um Brauereigasthöfe, Gärtnereien oder anderes geht –, nehmen wir auch wirklich sehr, sehr ernst, und wir versuchen, die Antworten darauf in unsere tägliche Arbeit mit aufzunehmen und umzusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber wir brauchen auch eine mittel- und langfristige Perspektive. Hier hilft es nichts, lieber Bundesminister Scholz, wenn wir weitere Belastungen für die Unternehmen fordern, zum Beispiel eine Vermögensteuer oder eine höhere Belastung mit Blick auf Ertragsteuern. Hier hilft es übrigens auch nichts, wenn von den Grünen die Forderung erhoben wird, Einfamilienhäuser zu verbieten.
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– Na ja, es ist halt so. Sie müssen das schon anerkennen. Wenn Sie es fordern, dann muss man es einfach auch mal so hinnehmen.
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Wir brauchen eine Perspektive, und diese Perspektive heißt Vertrauen in unseren Mittelstand, Vertrauen in unsere wirtschaftlichen Akteure. Wir brauchen eben Wachstum und Investitionen. Das wollen wir ermöglichen. Dazu liegen weitreichende Vorschläge vor. Nur mit Wachstum und Investitionssteigerung schaffen wir den Weg aus der Pandemie. Dafür werden wir uns auch weiterhin hartnäckig einsetzen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
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Der nächste Redner: für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Markus Herbrand.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei allem Respekt: Ein großer Wurf ist dieses Dritte Corona-Steuerhilfegesetz natürlich nicht.
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– Genau, danke schön. – Aber weil im Gesetz auch nichts wirklich Falsches steht, unterstützen wir es diesmal.
Den Kinderbonus, der vor allem Beziehern eines geringen und mittleren Einkommens zugutekommt, und die Umsatzsteuerreduzierung für das Gastgewerbe, wobei wir da wirklich mit ordnungspolitischen Schwierigkeiten kämpfen – ich habe das im Ausschuss erläutert –, tragen wir mit. Dabei haben Sie uns diese Unterstützung diesmal wirklich nicht leicht gemacht; denn wir brauchen einfach mehr, und wir Freien Demokraten wollen auch mehr. Das gilt vor allen Dingen beim Verlustrücktrag.
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Für uns war von Beginn an die Liquiditätsversorgung der notleidenden Unternehmen über die Finanzämter, also eine verbesserte Verlustverrechnung mit den Gewinnen der Vergangenheit, das zentrale Krisenbekämpfungsinstrument im Steuerrecht. Gerade in diesem Punkt besticht das Gesetz durch die bekannte Ambitionslosigkeit und bleibt auf halber Strecke stehen. Das ist schlecht; denn so wird die maximal effektive und zielgenaueste, am wenigsten bürokratische und erkennbar preiswerteste Lösung für den Staatshaushalt verhindert.
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Es ist deshalb auch nicht mehr nachvollziehbar – das kann auch nur noch mit Kopfschütteln und Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden –, dass wir beim Verlustrücktrag immer nur in kleinen Schritten weiterkommen. Wir fragen uns: Wie viele Corona-Steuerhilfegesetze brauchen wir noch, um zu einem sachgerechten Ergebnis zu kommen? Unser Antrag lautet also mehr Verlustrücktrag – sowohl im Betrag als auch im Rücktragszeitraum. Auch die Mindestbesteuerung muss ausgesetzt werden, und die Schwellenwerte dazu müssen herabgesetzt werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben selbstverständlich auch wieder eine Vielzahl von Änderungsanträgen gestellt, von denen ich Ihnen insbesondere drei zur besonderen Aufmerksamkeit empfehlen möchte.
Erstens beantragen wir, dass Deutschland endlich auch von der Möglichkeit Gebrauch macht, die uns die EU schon seit Monaten einräumt, nämlich temporär auf die Umsatzsteuer auf Impfstoffe und Tests zu verzichten.
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Eigentlich, Herr Finanzminister, ist diese Bundesregierung ja Expertin für temporäre Umsatzsteuerreduzierungen. Man fragt sich: Warum nicht in diesem Fall? Warum hier so zögerlich? – Die Bundesregierung macht, obwohl es anders möglich wäre, Impfstoffe und Tests unnötig teuer. Beenden Sie hier bitte Ihre Blockadehaltung!
Zweitens fordern wir in Bezug auf den Investitionsabzugsbetrag, den Investitionszeitraum etwas zu verlängern und endlich auch die immateriellen Wirtschaftsgüter in diese Begünstigungsvorschrift mit aufzunehmen. Das wäre wichtig für kleinere Betriebe.
Drittens wollen wir, dass die Coronajahre im Zusammenhang mit der Lohnsummenregelung und auch bei der Bestimmung des Verwaltungsvermögens im Erbschaftsteuergesetz ausgenommen bleiben.
Das alles fehlt in dem Gesetz, und wir würden uns natürlich über Ihre Unterstützung freuen.
Fazit: Wenig ist besser als nichts, deshalb Zustimmung der FDP zu einem wenig überzeugenden Gesetz.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Abgeordnete Jörg Cezanne.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht alles falsch – das stimmt –, aber zu wenig, zu ungenau und an den wirklich Betroffenen vorbei! Das ist nicht genug in der derzeitigen Krisensituation.
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Selbstverständlich ist es gut und richtig, wenn die Bundesregierung einen einmaligen Kinderbonus von 150 Euro zahlen will, der auch Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern zugutekommt. Das ist gut, aber eben zu wenig, weil er nicht mal die zusätzlichen Kosten deckt, die durch Hygienemaßnahmen, Masken oder den zusätzlichen Aufwand für den heimischen Fernunterricht der Kinder entstehen. Die Sozialverbände fordern 100 Euro – aber monatlich.
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Und wirklich konsequent wäre es, den Regelbedarf in der Grundsicherung, wie ihn nicht nur Die Linke berechnet hat, auf mindestens 658 Euro im Monat zu erhöhen.
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Die Mehrwertsteuer auf Speisen in Gaststätten weiterhin auf 7 Prozent zu verringern, statt 19 Prozent zu erheben – das kam schon zur Sprache –, nutzt im Moment niemandem. Wo kein Umsatz, gibt es auch keine niedrigere Umsatzsteuer. Noch schwerwiegender ist, dass Kneipen, Bars, Cafés und Klubs, die ausschließlich oder überwiegend Getränke anbieten, von einer Steuerentlastung für Speisen sowieso nichts haben. Direkte, zielgenaue Hilfen wären hier sehr viel besser und sind weiterhin dringend notwendig.
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Im Gesetzentwurf wird erneut die Summe erhöht – sie wird sogar verdoppelt –, bis zu der Unternehmen Verluste mit Vorjahresgewinnen steuerlich verrechnen können. Diese erneute Erhöhung beim sogenannten Verlustrücktrag auf 10 bzw. 20 Millionen Euro nutzt aber nur großen Unternehmen und Konzernen. Nur diese erzielen überhaupt Gewinne in dieser Größenordnung. Selbstständige und kleine Unternehmen werden von der Maßnahme nicht erreicht.
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Auch hier wären Direkthilfen der bessere Weg.
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„Zu wenig und zu ungenau“ wird vor dem Hintergrund früherer Versäumnisse zu einem Gesamtbild unzureichenden Handelns der Regierung in der Pandemie. Von 190 000 Mitgliedern der Künstlersozialkasse haben inzwischen über 10 000 Mahnbescheide wegen ausbleibender Beitragszahlungen gegen sich laufen. Seit März 2020 haben Kulturschaffende – zumindest viele Freiberufler – praktisch gar keine Einnahmen mehr erzielt
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und dafür völlig unzureichende Ausgleiche erhalten. Ein Unternehmerlohn für Soloselbstständige und vor allen Dingen für Künstlerinnen und Künstler ist nach wie vor eine sinnvolle Forderung, an der wir festhalten.
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Insgesamt zeigen sich in den Maßnahmen eine soziale und eine politische Schlagseite zulasten der Menschen mit den geringsten Einkommen, zulasten der abhängig Beschäftigten und zulasten von Soloselbstständigen, Kleinunternehmern und vor allen Dingen von Kulturschaffenden. Da wird Die Linke weiterhin dranbleiben und deutliche Verbesserungen fordern.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Abgeordnete Stefan Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern Morgen rief die Kita an. Mehrere Erzieherinnen waren krank, unser Sohn konnte nicht in die Notbetreuung. Das bedeutete, schnell mal wieder umzuplanen – Stress für die Eltern, fehlende Routine fürs Kind. Das ist sehr belastend. Wie muss diese Situation erst für Familien ohne Notbetreuung, ohne sicheren Job, ohne ausreichendes Einkommen sein?!
Ein Stück Anerkennung, ein Stück Entgegenkommen soll der Kinderbonus sein, aber er ist nur halb so hoch wie 2020. Dabei haben die 300 Euro im letzten Jahr die Konjunktur doch sogar immens belebt. Warum knausert die Bundesregierung an dieser Stelle? Geiz ist gerade im Hinblick auf die Familien in dieser Krise alles andere als angebracht.
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Auch Unternehmen brauchen weitere Hilfen, um sie vor der Coronapleite zu bewahren – vor allem die kleinen und mittelständischen. Die Hilfen müssen einfach, zielgenau, umfassend sein, und genau das leistet der Gesetzentwurf nicht. Beide Maßnahmen, die in diesem Gesetzentwurf im Wesentlichen benannt sind, verfehlen ihren Zweck.
Warum? Einerseits gilt die reduzierte Mehrwertsteuer – das wurde schon mehrfach angesprochen – nur für die Teilbranche der Speisegastronomie. Das hilft der Breite der Unternehmen nicht – nicht einmal den Restaurants; sie sind derzeit geschlossen. Mit Krisenbewältigung hat das alles rein gar nichts zu tun.
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Auch die zweite Maßnahme, die Anhebung des steuerlichen Verlustrücktrags – der Betrag wird für dieses und letztes Jahr von 5 bzw. 10 Millionen Euro auf 10 bzw. 20 Millionen Euro erhöht –, verfehlt ihren Zweck. Wenigen größeren Unternehmen wird das helfen, der großen Masse der Betriebe aber eben nicht. Gerade den kleinen und mittelständischen bringt das keinen einzigen Cent mehr. Herr Brehm, Sie haben es angesprochen, aber leider nicht durchgesetzt.
Es geht nicht nur um die rücktragbare Höhe, sondern insbesondere um die Dauer, den Zeitraum, für den rückübertragen werden kann. Da wünschen wir uns deutlich mehr. Vier Jahre, das würde den Unternehmen wirklich was bringen. Das wäre eine effektive Maßnahme, um besonders den kleinen und mittelständischen Unternehmen zu helfen, und das wäre auch eine sehr günstige Maßnahme für den Haushalt.
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Die Anhörung am Montag hat das ja sehr deutlich gemacht. Dafür, dass sich die Koalition dazu nicht durchringen konnte, habe ich wenig Verständnis. Dieses Gezanke innerhalb der Koalition nervt, und, ja, es gefährdet die Existenz von Betrieben.
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Der Gesetzentwurf bedeutet weder für Familien noch für die Unternehmen eine große Unterstützung. Nur einfache, zielgenaue, umfassende Hilfen bringen die Wirtschaft und die Gesellschaft durch diese Krise und machen sie auch fit für die Zukunft. Dazu muss der Kinderbonus erhöht werden – auch für geduldete Menschen; die kriegen nämlich nichts –, dazu müssen die unternehmerischen Verluste länger rücktragbar gemacht werden, dazu müssen die Direktzahlungen an die Unternehmen erhöht werden, entbürokratisiert werden, beschleunigt werden, und dazu müssen auch die Abschreibungsmöglichkeiten für die digitale und die ökologische Modernisierung verbessert werden.
Da hätten Sie viel mehr tun können. Sie können unserem Entschließungsantrag zustimmen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung bringt da leider zu wenig.
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Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über einem Jahr sind wir jetzt in dieser historischen Krise, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde. Was wir als Wahlkreisabgeordnete jeden Tag erleben, sind Existenzsorgen, Ärger, Wut, aber eben auch Leid und Trauer derjenigen, die erkrankt sind. Wir als Koalition arbeiten von morgens bis abends mit voller Kraft, um die Folgen dieser Pandemie möglichst gut abzufedern – sei es gesundheitlich, gesellschaftlich oder, wie wir es im Finanzausschuss versucht haben, insbesondere auch im wirtschaftlichen Bereich.
Dieses Corona-Steuerhilfegesetz ist ein weiterer Baustein. Man muss ja sehr genau aufpassen, welche Instrumente man wählt. Die Instrumente, die man wählt, müssen unbürokratisch sein, sie müssen effizient sein, zielgenau, aber am besten mit möglichst wenig Einsatz einen großen Hebel, einen hohen Effekt haben. Ich denke, dass wir in diesem Gesetzentwurf eine kluge Abwägung bezüglich der Instrumente geschafft haben.
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Der erste Punkt – es wurde erwähnt – ist der Kinderbonus, der einen doppelten Effekt hat: Auf der einen Seite unterstützen wir die Familien, die besonders betroffen sind von der Pandemie. Ich nenne die Themen „Homeoffice“ und „Fernunterricht“, erwähne aber auch die vielen jungen Menschen, die Angst und Sorge haben um die Chancen für ihr weiteres Leben. Deswegen gibt es hier 150 Euro, die im Mai ausbezahlt werden. Auf der anderen Seite hat es einen konjunkturellen Effekt, weil das Geld natürlich wieder ausgegeben wird. Wir haben im Jahr 2020 erlebt, wie gut dieser Kinderbonus gewirkt hat.
Jetzt habe ich darauf gewartet, dass von verschiedenen Seiten kommt: Ihr müsst da eigentlich noch mehr machen.
({1})
Darauf sage ich: Wir als Haushaltsgesetzgeber haben auf der einen Seite eine Verantwortung, diese Krise zu bewältigen. Wir haben auf der anderen Seite aber eben auch eine Verantwortung für die zukünftigen Generationen und können hier nicht immer noch mehr Geld rausballern.
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Deswegen ist die Schuldenbremse wichtig, sehr geehrter Herr Finanzminister, und wir als Unionsfraktion stehen auch dazu.
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Das zweite Thema – Gastroumsatzsteuer – wurde erwähnt. Insbesondere jemand, der von der Deutschen Weinstraße kommt, sagt: Jawohl, Gastronomie ist Teil unserer Kultur. – Wir helfen damit der Gastronomie beim Nachholen im Sommer.
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Das dritte Instrument wird wahrscheinlich das sein, über das heute Abend in der „Tagesschau“ nicht berichtet wird, weil es technisch ist, weil es vergleichsweise kompliziert ist: der steuerliche Verlustrücktrag.
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Dabei ist dieses dritte Instrument eigentlich das beste Instrument, weil es zielgenau ist, weil es die Unternehmen betrifft, die schon Gewinne hatten.
Sehr geehrter Herr Minister, wenn uns in einer Anhörung sechs von sieben Experten sagen: „Es ist gut, was ihr macht: Betrag hochsetzen, ihn verzehnfachen“, aber auch: „Ihr müsst was am Zeitraum machen“, dann muss das doch möglich sein. Ich sage mal so: Wir beschließen heute das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Ich würde mal um eine Kiste guten Pfälzer Riesling wetten, dass wir in dieser Legislaturperiode auch noch ein Viertes Corona-Steuerhilfegesetz machen werden, um diese Lücke zu schließen. Denn das müssen wir, glaube ich, auf jeden Fall tun.
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Wenn wir sagen: „Das ist eine historische Krise“, dann müssen wir auch wirklich mit voller Kraft dagegen kämpfen.
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Herzlichen Dank.
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Mit wem wollen Sie wetten, Herr Kollege?
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– Der scheint damit nicht einverstanden zu sein.
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Der nächste Redner für die SPD-Fraktion ist der Abgeordnete Lothar Binding.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ingrid Arndt-Brauer hat schon darauf hingewiesen, dass wir heute einen Baustein beschließen; mein Vorredner hat das auch gesagt. Es ist nur ein kleiner Teil, der aus sich selbst heraus gar nicht verständlich ist, sondern er muss eingebettet werden in alles, was schon passiert ist.
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Und passiert ist schon unendlich viel, und zwar im Mehrere-Hundert-Milliarden-Bereich. Also, wer jetzt sagt: „Es passiert nichts“, der braucht nur mal ein bisschen genauer hinzugucken: Bei Familien ist viel passiert, bei ökologischen Investitionen, bei der Sicherheit und dem Respekt fürs Alter, bei Hilfen für Unternehmen, beim Kindergeld, beim Gute-KiTa-Gesetz, beim Ausgleich der kalten Progression, beim DigitalPakt Schule usw. Es gibt Überbrückungshilfen: Ü I, Ü II, Ü III. Und heute geht es um die Umsatzsteuer für die Gastronomie, um den Kinderbonus und um den Verlustrücktrag. Es gibt natürlich den Verlustrücktrag, auch schon für 2019, für 2020. Sogar der vorläufige für 2021 für diejenigen, die 2020 Gewinne gemacht haben, kann genutzt werden. Es ist ganz viel passiert. 99,5 Prozent aller Unternehmen werden schon erreicht.
Jetzt sagen manche – und das stimmt übrigens; es ist ja nie genug –: Der Verlustrücktrag ist zwar verfünffacht worden; aber es nicht noch nicht genug. – Dafür habe ich Verständnis. Aber man muss auch schauen: Diese eine Maßnahme ist ja auch wieder einzubetten in die Kombination aller anderen Hilfen: Stundungen, degressive AfA, Forschungsförderung, digitale AfA für digitale Wirtschaftsgüter, die Kommunen haben die Hälfte der Gewerbesteuerausfälle erstattet bekommen. – Es ist ganz viel passiert.
Und ich vertrete die These: Den Unternehmen fehlt es nicht an Geld. – Das will ich auch zeigen. Die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie wollen über eine GmbH Einfluss nehmen auf die veröffentlichte Meinung. Das machen sie wie folgt: Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft schaltet Anzeigen. Man stelle sich vor, man ist Redakteur einer Zeitung
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und bekommt eine ganzseitige Anzeige, ungefähr in der Größenordnung von 100 000 Euro. Übrigens ist die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – die antisozialste Veranstaltung, die es überhaupt gibt –
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die Tochter des Instituts der deutschen Wirtschaft, also eines arbeitgebernahen Forschungsinstituts.
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat jetzt eine Anzeige geschaltet – ganz ordinär, aggressiv gegen Olaf Scholz, ohne zu sagen, was er macht. Nein, sie zitiert den Söder. Das ist der, der immer kraftvoll, schnell, stark, konsequent, aber falsch entscheidet,
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der sogar die Verabredungen, die er hier trifft, auf dem Heimweg schon wieder vergisst, um was anderes zu machen.
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In der Anzeige heißt es: „Sie versprechen Hilfsgelder, die bei den Betroffenen nicht ankommen.“ Da meine ich, liebe INSM: Wahrheit geht anders.
In der Anzeige wird auch der Professor Bofinger zitiert. Als er gesehen hat, dass ich mich in einer Mail darüber beschwere, sagte er, er wurde gar nicht gefragt; sein Name wurde missbraucht. Ich zitiere:
Starkes Stück, dass ich
– Professor Bofinger –
… für eine Anzeigenkampagne … missbraucht wurde …
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Die Bundesregierung hat auf die Krise schnell, umfassend und gut dosiert reagiert, auch wenn im Detail (Verlustrücktrag) noch nachgelegt werden kann.
Er bestätigt der Regierung gute Arbeit und sagt: An einem kleinen Detail könnte man noch was machen. – Das wäre korrekte Wahrheitsinformation dieser komischen Initiative,
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die mit einer großen Unverschämtheit manipulativ unterwegs ist.
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Es macht sich bereit der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt, der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute – man konnte gerade nicht unbedingt den Eindruck haben – das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Ich finde – das darf man auch ruhig mal sagen –: Es bestätigt die Handlungsfähigkeit dieses Parlamentes.
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Wir werden zu oft zu Unrecht kritisiert, dass wir nicht handlungsfähig wären. Dieses Gesetz ist am Freitag der letzten Sitzungswoche eingebracht worden. Wir haben eine Anhörung dazu durchgeführt. Wir haben Berichterstattergespräche dazu durchgeführt, und die Koalition hat Änderungsanträge dazu eingebracht. Darüber beschließen wir heute. Ich finde, das ist ein Beispiel dafür, dass dieses Parlament auch in schwierigen Situationen handlungsfähig ist.
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Über die Maßnahmen können wir im Detail diskutieren. Ein bisschen mehr kann es immer sein; da bin ich bei Ihnen. Wir haben – daraus will ich auch kein Geheimnis machen – mit der SPD und insbesondere mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz um gute Lösungen gerungen. Dass wir uns in gewissen Situationen auch andere Dinge hätten vorstellen können, ein wenig mehr hätten vorstellen können, ist ja auch nicht geheim geblieben.
Ich möchte aber kurz etwas zur Mehrwertsteuer in der Gastronomie sagen. Das schlechteste Argumente, das hier teilweise vorgetragen wird, ist: Das bringt ja im Moment gar nichts. – Das ist uns auch völlig klar.
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Es geht ja jetzt nicht um diesen Moment, sondern es geht darum, dass wir alles dafür tun, dass die Gastronomie wieder öffnet und dass die Gastronomen dann Liquiditätsvorteile haben.
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Dann können sie die 12 Prozentpunkte für sich nutzen und haben einen Ausgleich dafür, dass sie monatelang ihrem Geschäft leider nicht nachgehen konnten.
Dass wir die Getränke nicht einbezogen haben, ist kein böser Wille, sondern das liegt daran, dass wir auch die Getränke im Einzelhandel mit dem normalen Steuersatz – sprich: 19 Prozent – besteuern. Dann müssten wir den Steuersatz auch im Einzelhandel ändern. Ansonsten müsste man jedem Gastronomen raten, Einzelhändler zu werden und in der Kneipe auch die Getränke außer Haus zu verkaufen. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.
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Der zweite Punkt, der hier mehrfach angesprochen worden ist, ist der Verlustrücktrag. Ja, da hätten wir uns mehr erwünscht. In der Anhörung hat einer der Sachverständigen gesagt: Wenn Sie einen Nagel in die Wand bekommen wollen, brauchen Sie Hammer und Nagel. – Das heißt in diesem Moment: Wir brauchen eine vernünftige Höhe des Verlustrücktrages und des Verlustvortrages – meine persönliche Meinung ist: es könnte sogar unbegrenzt sein, limitiert durch die Gewinne, die das Unternehmen mal gemacht hat; da können wir über jeden Betrag streiten –; aber wir brauchen auch den Zeitraum nach hinten, gerade für die kleineren Unternehmen, eine Ausweitung auf mindestens zwei Jahre. Das müsste meines Erachtens jetzt auch kommen.
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Wir haben eine Sachverständigenanhörung durchgeführt; der Kollege Herbrand hat es, glaube ich, angesprochen. Es ist kein inhaltliches Argument gegen die Ausweitung dieses Zeitraumes angeführt worden. Es wurde nur das Argument der Bürokratie und der Verwaltung vorgebracht. Meine Damen und Herren, in dieser Zeit ist die Bürokratie das schlechteste Argument, wenn wir Unternehmen helfen wollen. Von daher sollten wir da was tun.
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Ein letzter Punkt. Die FDP hat in einem Antrag gefordert, dass wir die Möglichkeit, die uns die Kommission einräumt, der Umsatzsteuerbefreiung für Impfstoffe, für Tests und für Dienstleistungen, die in diesem Zusammenhang stehen, auch nutzen. Seit Dezember ist es möglich, das mit einem Null-Prozent-Steuersatz von zu versehen. Wir bitten die Bundesregierung, sich jetzt zügig mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wir dürfen gerade diese Dinge nicht unnötig verteuern. Von daher warten wir gespannt auf den Vorschlag der Bundesregierung. Ansonsten müssen die Koalitionsfraktionen handeln; das tun wir dann auch gerne.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute verabschieden wir das Sozialschutz-Paket III. Es ist ein wichtiger und notwendiger Beitrag für soziale Sicherheit in unsicheren Zeiten und stärkt damit den Zusammenhalt in diesem Land.
({0})
Das hat großen Wert für uns alle. Die Pandemie ist leider noch nicht vorbei. Mit ihren Folgen kämpfen wir alle Tag für Tag. Insgesamt ist es uns aber in dieser Pandemie bisher gelungen, den Sozialstaat zu stärken. Das ist keine Selbstverständlichkeit, und deshalb, finde ich, muss man das klar herausstellen. Wir sichern zum Beispiel mit dem Kurzarbeitergeld 3 Millionen Jobs. Das ist: Schutz und Chancen im Wandel. Mit der Einführung der Grundrente honorieren wir die Lebensleistung von Menschen, die lange gearbeitet und Beiträge in die Versicherung eingezahlt haben. Mit dem Kinderbonus, den wir soeben erneut beschlossen haben, unterstützen wir gerade jetzt in der Pandemie Familien.
({1})
Heute gehen wir diesen Weg mit vielen Instrumenten konsequent weiter:
Erstens. Wir verlängern den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung bis Ende des Jahres. Wir von der SPD könnten uns diese Regelung auch gerne dauerhaft vorstellen. Das würde unserem Konzept für einen modernen Sozialstaat, dem Sozialstaat als Partner, folgen.
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Zweitens. Wir sorgen heute aber auch dafür, dass erwachsene Grundsicherungsempfänger und ‑empfängerinnen einen Coronazuschuss von 150 Euro erhalten. Kinder, wie gerade verabschiedet, erhalten erneut einen entsprechenden Kinderbonus. Und wir können uns gut vorstellen – wir sind mit unserem Koalitionspartner darüber weiter in Gesprächen –, auch Wohngeldempfänger und ‑empfängerinnen sowie Empfänger des Kinderzuschlags mit zu berücksichtigen.
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Drittens. Wir sorgen außerdem dafür, dass Kulturschaffende auch bei ausbleibendem Einkommen nicht die Absicherung in der Künstlersozialkasse verlieren. Auch das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Punkt, wenn es um soziale Sicherheit geht.
Und viertens. Wir verlängern darüber hinaus den Schutz von sozialen Einrichtungen, von sozialer Infrastruktur für die Dauer der pandemischen Lage. Das hört sich ziemlich abstrakt an, ist es aber überhaupt nicht. Ich weiß zum Beispiel aus meinem Wahlkreis Pforzheim, warum diese Regelung so wichtig ist. Ich war in den letzten Wochen in engem Kontakt mit dem dortigen Frauenhaus; das ist vielleicht eine Einrichtung, an die man nicht zuerst denkt, wenn man über das SodEG spricht. Auch sie haben Schwierigkeiten in der Krise und profitieren, so wie andere Einrichtungen auch, eben genau von dieser Regelung, die wir heute auch pandemiebedingt verlängern.
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Mit dem Sozialschutz-Paket heute geht es darum, die klugen Ansätze, die wir in der Legislatur schon auf den Weg gebracht haben – das Starke-Familien-Gesetz, das Gute-KiTa-Gesetz, die Förderung von Ausbildungsplätzen und vieles mehr –, pandemiebedingt zu ergänzen. Mit all diesen Maßnahmen stärken wir die Gesellschaft. Wir haben alle im Blick und schaffen Sicherheit und Schutz in dieser Krise. Wir stärken den Sozialstaat für alle, die ihn jetzt oder in Zukunft brauchen. Und wir tun dies in dem Wissen, dass das unser Land heute und morgen zusammenhält. Dafür den Koalitionsfraktionen herzlichen Dank und natürlich auch unserem Bundesarbeitsminister und dem ganzen Haus, das dazu beigetragen hat, dass wir das hinbekommen!
Vielen Dank.
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Es macht sich auf den Weg der Abgeordnete Uwe Witt von der AfD-Fraktion. – Sie haben das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Herr Präsident, Sie gestatten mir, etwas weiter auszuholen,
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damit man Zusammenhänge besser versteht. – Als ich diese Rede geschrieben habe, musste ich darüber nachdenken, warum bislang alle Gesetzentwürfe und Gesetzesänderungsanträge, die wir ins Hohe Haus eingebracht haben, von Ihnen einvernehmlich abgelehnt wurden
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und warum das auch jetzt wieder mit dem vorliegenden Antrag so passieren wird; wobei sich der Eindruck manifestiert hat, meine Damen und Herren: Sie sind es, die unsere Gesellschaft tief spalten
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und politische Grabenkämpfe wieder aufleben lassen, wie sie vor hundert Jahren in Deutschland gang und gäbe waren.
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Sie sind es, die nicht in der Lage sind, eine tatsächlich abweichende Meinung zu akzeptieren. Alles, was nicht Ihrer Denkungsart entspricht, ist böse und gehört verboten.
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Das geht dann so weit, dass linke Sturmtruppen, „Antifa“ genannt, einen Wahlstand am vergangenen Samstag in Baden-Württemberg überfallen und mit 20 Personen einen Landtagskandidaten unserer Partei krankenhausreif geprügelt haben.
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Da wird der Chef des Bundesverfassungsschutzes ausgetauscht, oder Ministerpräsidentenwahlen werden wiederholt, weil Ihnen das Ergebnis nicht gefällt.
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All dies hinterlässt einen schalen Beigeschmack und wirft ein fragwürdiges Licht auf Ihr Demokratieverständnis.
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Womit wir wieder beim Thema sind. Wir Alternativen haben bereits zu Beginn der ersten Lockdown-Maßnahmen 2020 Hilfsprogramme für Soloselbstständige, Obdachlose und andere Personengruppen gefordert. Aber wie setzen Sie sich mit unserer Politik auseinander? Gar nicht! An die Mitglieder der CDU/CSU, die gerade so empört geschrien haben: Da Sie sich im Rahmen der allgemeinen politischen Linkswanderung von Ihren angestammten Positionen abgewandt haben, müssen Sie ja die politischen Werte, für die Sie selber vor nicht einmal 20 Jahren standen, jetzt als rechtsextrem stigmatisieren.
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Sie alle lehnen jeden unserer Anträge hier ab und verbreiten dazu noch unglaubliche Fake News:
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Die AfD sorgt für die Ausbreitung von Corona; die AfD sorgt dafür, dass Frauenrechte missachtet werden;
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die AfD ist für den Judenhass in Deutschland verantwortlich; und die AfD ist natürlich verantwortlich für den Mord an Walter Lübcke. – Meine Damen und Herren, Sie tragen hier die echte, offene Meinungsfreiheit und die Demokratie zu Grabe. Daher appelliere ich an Sie im Namen der Väter unseres Grundgesetzes: Lassen Sie andere Meinungen zu,
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setzen Sie sich mit unseren guten Ideen auseinander, und lehnen Sie diese nicht kategorisch ab, nur weil sie von der AfD sind.
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Daher hoffe ich, dass Sie innehalten mit Ihren für die Bevölkerung fatalen Gesetzesanträgen und vermeintlichen Hilfsmaßnahmen, die lediglich Placebos zulasten unserer Bevölkerung in den von Ihnen angeordneten Lockdown-Maßnahmen sind. Sie schaden nicht nur Soloselbstständigen, Künstlern, klein- und mittelständischen Einzelhändlern, Dienstleistern, Hotel- und Gastronomiebetrieben. Nein, Sie vernichten dauerhaft und nachhaltig Millionen von Arbeitsplätzen, Millionen von Existenzen, die Träume von Hunderttausenden Menschen von ein bisschen Glück und Freiheit in Wohlstand.
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Gerade Soloselbstständige, die Sie durch ein permanentes Arbeitsverbot in den Ruin treiben, lassen Sie mit leeren Versprechungen am ausgestreckten Arm verhungern.
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Und das meine ich leider nicht nur bildlich. Die bisherigen – wie Sie es nennen – Hilfsprogramme sind alles, aber keine echten Hilfen für Soloselbstständige. Im Endeffekt blamiert sich die Regierung mit November-, Dezember-, Januar-, Februar-, Märzhilfen, wenn die doch gar nicht bei den Betroffenen ankommen. Die „Bild“-Zeitung berichtete am letzten Samstag von einer Köchin, die hier in Berlin eine Dezemberhilfe in Höhe von sage und schreibe 6 Euro bekommen hat.
Unser Antrag „Unterstützung für Solo-Selbstständige – Hilfe, die ankommt“ beinhaltet genau das, was diese Regierung seit einem Jahr versäumt hat: eine direkte Hilfe für die Selbstständigen, die seit einem Jahr unverschuldet durch die Regierung zur Untätigkeit verdammt und auf Almosen des Jobcenters angewiesen sind, um sich und ihre Familien vor dem Hungertod zu bewahren. Allein im Jahr 2020 mussten knapp 100 000 Soloselbstständige Hartz IV beantragen.
Ich spreche hier von Menschen, die sich durch ihrer eigenen Hände Arbeit ihr Leben lang selbst versorgen konnten und nie auf staatliche Alimentierung angewiesen waren, Menschen, die arbeitsam und fleißig ihre Familien ernähren konnten, Menschen, die durch ihre Steuern ihren Beitrag zum Sozialstaat geleistet haben. Jetzt stehen diese Menschen vor dem endgültigen Aus ihrer Existenz.
Die in Ihrem Sozialschutz-Paket III enthaltenden Regelungen führen keinesfalls zu einer Verbesserung der Lage dieser Menschen. Stattdessen bereiten sie für Millionen Soloselbstständige den Weg in den dauerhaften Verbleib in der Grundsicherung und damit in der Langzeitarbeitslosigkeit. Wenn man sich einmal die Definition der Leistungen nach SGB II anschaut, so stößt man sofort auf die Paradoxität Ihres Sozialschutz-Pakets. Es heißt „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, nicht „Grundsicherung für Soloselbstständige“, denen Sie das Arbeiten durch sinnbefreite Coronamaßnahmen verboten haben.
Soloselbstständige brauchen direkte Hilfe, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können, und keinen vereinfachten Zugang zu einem System, welches, wenn man erst einmal in dessen Fänge geraten ist, niemanden so schnell wieder freigibt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Peter Weiß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein starker Sozialstaat, ja, der Sozialstaat schlechthin erweist seine Leistungsfähigkeit nicht, wenn die Sonne scheint und alles gut ist. Er erweist seine Leistungsfähigkeit, wenn er in einer Krise, wie wir sie derzeit erleben, tatsächlich den Schwächsten in unserer Gesellschaft hilft. Genau das ist der Inhalt unseres Sozialschutz-Pakets III. Wir zeigen: Der Sozialstaat wirkt.
({0})
Der Sozialstaat in unserem Land gewährleistet auch, dass wir eine wirklich bemerkenswerte Zahl leistungsfähiger, differenzierter Dienste und Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens haben. Deshalb ist es Aufgabe des Sozialstaates, dafür zu sorgen, dass diese leistungsfähigen, differenzierten Systeme der sozialen Sicherheit, der sozialen Dienste und Einrichtungen in einer Krise wie dieser nicht in die Knie gehen. Da können wir sagen: Ja, wir haben geholfen, dass diese soziale Infrastruktur nicht kaputtgeht, sondern lebendig bleibt; auch das ist ein großer Erfolg.
({1})
Deshalb ist die Verlängerung der Regelung des vereinfachten Zugangs zum Arbeitslosengeld II für all diejenigen, denen das Einkommen weggebrochen ist, eine wichtige und auch nachhaltige Hilfe.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das System „Arbeitslosengeld II“ ist keines, das jemanden gefangen nimmt. Wir haben der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern sogar extra aufgegeben, die Selbstständigen, die diese Hilfe jetzt beantragen, so zu beraten, dass sie möglichst schnell, wenn es wieder bergauf geht, in ihre selbstständige Tätigkeit zurückkehren und Geld verdienen können. Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe und nicht das Gegenteil.
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Ein Zweites ist, dass wir diese Einmalleistung von 150 Euro für die erwachsenen Grundsicherungsempfänger in dieses Gesetz geschrieben haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Interessante ist aber das Gesamtkonzept. Man kann aus der Debatte immer Einzelpunkte herausnehmen, aber Sie müssen das Gesamtkonzept anschauen: Wir zahlen den Erwachsenen 150 Euro. Gerade eben haben wir den Kinderbonus für die Kinder beschlossen. Wir haben geregelt, dass es für Grundsicherungsempfänger einen kostenfreien Zugang zu notwendigen Masken gibt. Wir haben geregelt – das ist mir besonders wichtig –, dass es in einer Zeit, in der Digitalunterricht stattfinden muss und es um die Frage geht, ob ich über digitale Endgeräte verfüge oder nicht, nicht zu einer neuen Diskriminierung gerade von Kindern aus einkommensschwachen Familien kommt. Deshalb haben wir geregelt, dass mithilfe des Bundes allen Kindern aus einkommensschwachen Haushalten digitale Endgeräte als Leihgeräte zur Verfügung gestellt werden können. Gerade sie dürfen in der Zeit der Krise, in der Digitalunterricht notwendig ist, nicht die Benachteiligten sein, sondern sie müssen Zugang zu Bildung haben, so wie wir uns das wünschen, damit Bildung auch die Grundlage für sozialen Aufstieg und für Erfolg wird.
({3})
Zu Recht bereiten uns in dieser Krise die vielen Kulturschaffenden besondere Sorge, die als freie Künstler derzeit nicht auftreten können. Im sozialen Bereich ist da vor allem die Künstlersozialkasse wichtig, die eine großartige Einrichtung ist, die eine großartige Leistung erbringt. Deswegen regeln wir in diesem Gesetz auch, dass auch bei einbrechenden Einkommen die freien Künstler Mitglied der Künstlersozialkasse bleiben. Wir wollen, dass auch in Zukunft die Künstlersozialkasse eine starke soziale Sicherheit für die Künstlerinnen und Künstler in unserem Land bietet.
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Bei der Frage: „Wie verlängern wir Regelungen, die wir coronabedingt als Sonderregelungen eingeführt haben?“, beschreiten wir einen neuen Weg, indem wir eine ganze Reihe von Regelungen an ein Gesetz binden, über das wir in der nächsten Woche im Deutschen Bundestag beraten werden, nämlich das Infektionsschutzgesetz. Immer dann, wenn der Bundestag feststellt, dass wir eine epidemische Lage von nationaler Tragweite haben, werden Regelungen des Sozialschutz-Paketes weiter verlängert; sie müssen nicht noch einmal extra beraten und beschlossen werden. Auch das halte ich für eine sinnvolle Regelung, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Wir treffen mit diesem Gesetz auch Vorsorge für künftige Fälle und zeigen, dass wir mit den Regelungen, die dem Sozialschutz zugrunde liegen, auch eine vorausschauende Krisenbewältigungspolitik betreiben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Sozialschutz-Paket III ist ein Zeichen eines starken Sozialstaates, ein Zeichen an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass sie sich darauf verlassen können, dass wir den sozialen Schutz für sie persönlich, aber auch die Dienste und Einrichtungen unseres Sozialstaates, gerade in dieser Krise, unterstützen, festigen und bekräftigen. Sehr geehrte Damen und Herren, es zeigt: Auf den Sozialstaat Deutschland ist Verlass. Wir, der Deutsche Bundestag, schaffen Verlässlichkeit. Das ist das Wichtigste, um den Menschen in unserem Land in dieser Krise Zukunft und Hoffnung zu geben.
Vielen Dank.
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Für die FDP hat das Wort der Abgeordnete Pascal Kober.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Katja Mast, es ist gut, dass das Frauenhaus in Pforzheim nun eine Perspektive hat. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Regierungsentwurf vorgesehen hatte, diese Hilfe auf das erste Halbjahr zu begrenzen, und es ist gut, dass Sie jetzt auf die Kritik der FDP reagiert haben
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und diese Hilfe zumindest bis zum Ende des Jahres fortgeschrieben haben. Das zumindest ist bemerkenswert und gut.
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Als Zweites ist zu Ihrem Gesetzentwurf zu sagen: Viele Millionen Menschen bleiben bei Ihnen ohne Hilfe. Da sind zunächst einmal zu erwähnen die Kulturschaffenden, die Freelancer, die Freiberufler, die Gründer, die Soloselbstständigen, denen Sie immer noch keine angemessene eigenständige Hilfeleistung zur Verfügung stellen, sondern sie nach wie vor völlig sachfremd ins Hartz-IV-System verweisen. Das ist falsch, das ist ungerecht.
Sie haben es außerdem versäumt, hier einen ordentlichen Unternehmerlohn vorzulegen, ein System, das für diese Personengruppen auch angemessen wäre.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, neun von zehn Selbstständigen, Freiberuflern, nehmen diese Hilfe nicht in Anspruch, weil sie einfach nicht passt. So leben sie von ihren Ersparnissen, lösen ihre Rücklagen auf, die als Vorsorge für das Alter oder für die Ausbildung der Kinder gedacht waren. Das ist nicht richtig. Hier hätten wir von der Bundesregierung mehr Verantwortung für diese Menschen erwartet. Lieber Herr Bundesminister, das Menschsein in diesem Staat fängt nicht mit der DGB-Mitgliedschaft an, es gibt auch noch andere Erwerbsformen, die auch Respekt und Anerkennung verdient hätten.
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Ein Weiteres. Die 150 Euro kommen schlichtweg zu spät. Unabhängig davon, dass die Leistung in der Höhe natürlich viel zu gering ist, kommt sie zu spät. Schon im März vergangenen Jahres habe ich den Bundesminister in einem Schreiben darauf aufmerksam gemacht. Das Bundesverfassungsgericht weist den Gesetzgeber explizit darauf hin, dass er, wenn die Gefahr einer Unterdeckung besteht, sofort reagieren muss. Das haben Sie nicht getan. Sie sind von der FDP dazu aufgefordert worden. Das muss man sich einmal vorstellen! Es ist der erste Sozialminister der SPD, der von der FDP zur sozialpolitischen Verantwortung gerufen werden muss.
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Sie haben nicht reagiert auf die Einwürfe der Grünen, Sie haben nicht reagiert auf die Kritik der Sozialverbände. Jetzt kommen die 150 Euro im Mai, wenn die Pandemie hoffentlich doch weitestgehend zum Stillstand gekommen ist und die Menschen wieder aufatmen können. Jetzt brauchen sie die Hilfe, und hier versagen Sie auf ganzer Linie, Herr Minister.
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Sie haben aber immer noch die Möglichkeit, ein unbürokratisches, rasches Antragsverfahren auf den Weg zu bringen, damit jetzt die Hilfen bei den Menschen ankommen, die sie jetzt brauchen. Denn jetzt sind die Preise höher, jetzt ist der Lockdown, jetzt ist die Schulschließung, jetzt ist Wechselunterricht. Das sind die Nöte der Menschen. Nehmen Sie einmal die Nöte der Menschen auch tatsächlich wahr! Orientieren Sie sich an der Lebenswirklichkeit der sozial Benachteiligten und geben Sie sich einen Ruck! Lösen Sie dieses Problem schneller als bis zum Mai. Jetzt ist die Zeit!
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Vielen Dank, Kollege Kober. – Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Abgeordnete Susanne Ferschl. Bitte schön.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ein soziales Schutzpaket, das den Namen wirklich verdient, muss Beschäftigtenrechte und soziale Sicherheit stärken.
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Das vorliegende ist besser als nichts, aber es ist ein sehr, sehr kleines „Paketchen“. Es fehlen wesentliche Maßnahmen. Drei Beispiele dafür:
Erstens. Ein Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro. Im Sozialschutz-Paket II wurde noch das Kurzarbeitergeld nachgebessert, aber für die Kolleginnen und Kollegen in Gastronomie, Hotel und Dienstleistung reicht das einfach nicht. Niedriglöhne sind dort an der Tagesordnung, weil die Tarifbindung so niedrig ist und der Mindestlohn zu gering. Und 60, 70 oder auch 80 Prozent von wenig ist zu wenig. Deswegen ist dieses Kriseninstrument dringend notwendig.
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Zweitens. Die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auch in 2021. Warum lassen Sie denn diese sinnvolle Regelung auslaufen? Mehrere Hunderttausende Beschäftigte, die letztes Jahr durch die Krise ihren Job verloren haben, schickt die Bundesregierung in diesem Jahr jetzt direkt in Hartz IV. Die Menschen brauchen aber eine soziale Brücke über die Pandemie. Deswegen muss das Arbeitslosengeld länger gezahlt werden.
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Drittens. Bei Hartz IV einen ehrlich gerechneten Regelsatz von 658 Euro plus einen monatlichen Pandemiezuschlag von 100 Euro, so wie es auch 41 Sozialverbände und Gewerkschaften fordern.
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Es ist gut, dass der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung verlängert wird. Aber einmalig 150 Euro für mittlerweile zwölf Monate Pandemie auf einen Regelsatz, der nicht einmal das Existenzminimum absichert? Dafür sollte sich die Bundesregierung schämen.
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790 Millionen Euro für die Ärmsten in dieser Gesellschaft und 9 Milliarden Euro alleine für die Lufthansa – ja, da muss Ihnen doch selber auffallen, dass irgendwas nicht mehr stimmt.
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Ihre Krisenpolitik ist sozial unausgewogen und befördert weiter eine Umverteilung von unten nach oben. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Zwölf DAX-Konzerne haben letztes Jahr Kurzarbeit in Anspruch genommen, elf davon haben Dividenden in Höhe von insgesamt 13 Milliarden Euro an die Aktionäre ausgeschüttet. Staatliches Geld ist so direkt in die Taschen von Multimillionären wie Dieter Schwarz oder Susanne Klatten gewandert. Wir sagen: Damit muss Schluss sein.
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Das Geld muss da ankommen, wo es am nötigsten gebraucht wird, und Superreiche und Großkonzerne müssen endlich zur Finanzierung der Krisenkosten herangezogen werden.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Sven Lehmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Redezeit nutzen, um einer Berufsgruppe besondere Anerkennung und Respekt zu zollen, nämlich den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in diesem Land.
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In der letzten Woche habe ich bei einer digitalen Veranstaltung mit knapp 200 Menschen aus der sozialen Arbeit diskutiert. Katja Mast hat es auch schon richtig beschrieben: Trotz widriger Umstände stehen sie in dieser Pandemie Menschen in schwierigen Lebenslagen zur Seite. Sie bewahren Menschen davor, Kontakt und Anschluss zu verlieren. Streetworker helfen Obdachlosen, die nicht wissen, ob die Kälte in der Nacht oder eine Coronainfektion in einer Notunterkunft die größere Gefahr ist. Familienhelfer sorgen dafür, dass viele Kinder in dieser Pandemie überhaupt mal vor die Tür kommen. Sozialpädagoginnen bieten Frauen in Frauenhäusern Schutz vor Gewalt. Jugendsozialarbeiterinnen halten den Kontakt zu jungen Menschen, die nicht mehr ins Jugendzentrum oder in den Sportverein gehen können.
Für unsere Gesellschaft ist diese Arbeit unverzichtbar. Deswegen begrüßen wir Grüne ausdrücklich, dass der Schutzschirm für die sozialen Dienste bis Ende des Jahres aufgespannt bleibt. Denn diese Arbeit braucht politische Unterstützung, übrigens auch über die Pandemie hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber bei aller Unterstützung für diese Verlängerung des SodEG, die wir ausdrücklich begrüßen, muss ich leider auch sagen: Die geplante Einmalzahlung von 150 Euro für einen erwachsenen Menschen über einen Zeitraum von knapp anderthalb Jahren ist keine Hilfe, sondern eine Nullrunde. Und eine Nullrunde ist in dieser Krise einfach definitiv zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Was das konkret heißt, haben wir in der Anhörung am Montag nämlich gehört: Die Coronakrise verschärft unter anderem auch das Problem von Ernährungsarmut. Ich zitiere mal einen Satz:
Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren.
Das steht so in einem aktuellen Gutachten im Auftrag des Ministeriums von Julia Klöckner. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union – ich spreche Sie mal sehr konkret an –: Wenn Sie schon nicht auf die Sozialverbände oder auf die Gewerkschaften oder auf die Familienverbände oder auf Grüne und Linke hören, dann hören Sie doch wenigstens auf Gutachten aus Ihren eigenen Ministerien. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.
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Schon in normalen Zeiten sind sehr viele Menschen – Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung, Alleinerziehende – auf die Tafeln angewiesen, um überhaupt über den Monat zu kommen. Und wenn diese Angebote, wie jetzt, wegfallen bzw. wegbrechen, dann bedeutet das existenzielle Notlagen. Doch armutsbedingte Mangelernährung können und dürfen wir uns in diesem reichen Land nicht leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Menschen brauchen in dieser Krise mehr soziale Sicherheit und echte Hilfe, auf die sie sich auch verlassen können. Deswegen: Stimmen Sie unseren Änderungsanträgen zu – für einen monatlichen Krisenaufschlag auf die Grundsicherung und für eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Sven Lehmann. – Für die SPD hat jetzt das Wort die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren an den Bildschirmen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute gute Dinge. Vieles dazu ist schon gesagt, und drei dieser guten Dinge möchte ich noch einmal besonders herausheben.
Das Erste ist: Wir verlängern den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung. Niemand muss Angst haben, seine Wohnung zu verlieren. Niemand muss Angst haben, sein Erspartes zu verlieren. Und die Pandemie hat gezeigt: Wir haben einen starken Sozialstaat, auch bei unserer Basishilfe in der Grundsicherung.
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Es hat sich aber auch gezeigt, dass er durch die eben genannten Veränderungen besser geworden ist. Unser Ziel ist es, ihn noch besser zu machen. Hubertus Heil hat dazu erste Vorschläge gemacht.
Die Änderungen wieder zurückzudrehen und nicht an einer Modernisierung weiterzuarbeiten, hieße, eine große Chance zu vergeben; denn nicht nur in der Pandemie geraten die Menschen unverschuldet in Not. Die großen Aufgaben, die neben der Bekämpfung der Folgen der Pandemie auf uns warten – die Transformation in Richtung einer klimaneutralen Industrie, Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz –, werden die Wirtschaft, werden die Unternehmen, werden die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer vor große Herausforderungen stellen. Deswegen ist es richtig, eine starke und gute Arbeitslosenversicherung zu haben, die schon unterstützt, bevor man arbeitslos wird, wie wir es mit Kurzarbeitergeld und mit Qualifizierung tun. Deswegen ist es aber auch wichtig, ein starkes soziales Netz zu haben, das nicht Angst macht vor Wohnungsverlust oder vor dem Verlust des Erarbeiteten, sondern das Zeit gibt und bei Jobsuche und Qualifizierung unterstützt.
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Zweitens. Wir setzen das Mindesteinkommen für die Künstlersozialversicherung auch für dieses Jahr aus. Das ist richtig und gut und sichert Krankenversicherung und Rentenversicherung für Künstlerinnen und Künstler in den, wie beschrieben, für sie besonders harten Zeiten.
Nicht nur in Zeiten der Pandemie stellt sich aber neben der Krankenversicherung und der Rentenversicherung auch die Frage der solidarischen Absicherung von Arbeitslosigkeit und eines Einkommensausfalls: für die, die bisher nicht solidarisch versichert sind, genauso wie für die, die – wie viele Schauspielerinnen oder Synchronsprecher – zwar einzahlen, aber aufgrund der Art und Weise ihrer Arbeitsverträge keinen oder selten Anspruch erlangen. Deswegen lohnt es sich auch hier, sich über den Tag hinaus grundsätzlich Gedanken zu machen über die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung – als gerechte und solidarische Versicherung, die eben auf alle Erwerbsformen passt.
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Und drittens: die Einmalzahlung von 150 Euro an alle Grundsicherungsempfängerinnen und ‑empfänger. Man kann immer mehr fordern, erst recht wenn man in der Opposition ist. Aber die 150 Euro sind eben reales Geld, für eine Familie mit zwei Kindern 600 Euro, und das hilft.
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Gerne hätten wir das auch für die Wohngeldempfängerinnen und ‑empfänger und diejenigen im Bezug des Kinderzuschlags gehabt. Vielleicht haben wir ja noch die Chance, das umzusetzen.
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An die Parteien, die hier in der Opposition sind, aber durchaus Verantwortung in den Ländern tragen: Kein Bundesland ist daran gehindert, auch einen eigenen Beitrag zu leisten, wie es Hamburg bereits gemacht hat.
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Es ist ein gutes Gesetz, das hilft, und es lohnt sich, ihm zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
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Grüß Gott, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Familien und Menschen mit geringen Einkommen sind durch die Pandemie besonders belastet. Sie bedürfen deshalb unserer Unterstützung und unserer Hilfe, gerade in dieser schwierigen Zeit. Und genau da setzen wir mit unserem Sozialschutz-Paket an.
Wir verlängern den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung, damit langzeitarbeitslose Menschen und plötzlich in Not geratene Selbstständige schnell und einfacher die notwendige finanzielle Unterstützung erhalten. Deswegen verlängern wir auch die Regelung bis Ende 2021. Damit verhindern wir, dass beispielsweise kleinere Vermögen aufgebraucht werden müssen oder ein Auszug aus der eigenen Wohnung ansteht. Das ist in der Pandemie richtig und wichtig. Aber ich darf an der Stelle auch sagen: Das ist kein Prinzip, das wir nach der Pandemie fortführen und verstetigen wollen. Für uns ist klar: Dann gilt auch in diesem Bereich wieder der Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit.
Wir verlieren auch die Soloselbstständigen nicht aus dem Blick. Wir wissen, sie sind in besonderer Art und Weise vor Herausforderungen gestellt. Und wir haben jetzt mit der Neustarthilfe eine Unterstützung auf den Weg gebracht, die immerhin einmalig bis zu 7 500 Euro beträgt und insbesondere auch einen Zugang für Schauspieler und Künstler eröffnet, die bislang aufgrund von kurzfristig befristeten Beschäftigungsverhältnissen von Hilfen ausgeschlossen waren. Das zeigt: Wir haben den Blick auf diejenigen, die in dieser Pandemie vor besonderen Herausforderungen stehen, und wir sorgen auch dafür, dass durch die Verlängerung der Mitgliedschaft bei der Künstlersozialversicherung Schutz besteht, indem die Mindesteinkommensgrenze keine Beachtung findet. Ich finde, das ist insgesamt ein stimmiges Gesamtpaket, das wir hier als Große Koalition auf den Weg bringen.
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Darüber hinaus erhalten Grundsicherungsempfänger im Mai eine einmalige Sonderzahlung von 150 Euro. Familien wird zusätzlich pro Kind ein einmaliger Kinderbonus von 150 Euro auf das Kindergeld gewährt. Der Kinderbonus war schon im letzten Jahr eine gute Sache. Das greifen wir jetzt auf, und so erhalten beispielsweise Familien mit zwei Kindern, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, insgesamt 600 Euro. Das macht einen ganz entscheidenden Unterschied für Haushalte mit geringen Einkommen aus. Wir erkennen also den Handlungs- und Unterstützungsbedarf an und haben jetzt ein stimmiges Gesamtkonzept aus Geld- und Sachleistungen geschnürt, und zwar mit den Einmalzahlungen, mit dem Kinderbonus und mit dem kostenfreien Zurverfügungstellen von FFP2-Masken. Ich finde, das ist insgesamt ein gutes Paket, das wir hier machen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stellen sicher, dass Kinder und Schüler, die auf existenzsichernde Leistungen angewiesen sind, ein warmes Mittagessen erhalten, auch wenn beispielsweise Schulen oder Kitas pandemiebedingt geschlossen sein sollten.
Wir sorgen auch dafür, dass Kinder und Jugendliche die Kosten für digitale Endgeräte bis zu 350 Euro ersetzt bekommen, damit auch sie am Onlineunterricht entsprechend teilnehmen können. Das ist ganz wichtig für Teilhabe gerade im Bildungsbereich. Wir sorgen zusammen mit der Bundesarbeitsagentur dafür und haben dies auch entsprechend sichergestellt.
Und wir verlängern den bestehenden Schutzschild für unsere soziale Infrastruktur auch bis Ende dieses Jahres und greifen damit die Wünsche aus der Sachverständigenanhörung auf, in der vor allem auf Verlässlichkeit der Regelungen Bezug genommen wurde.
Dies zeigt insgesamt: Dieses Sozialschutz-Paket ist ein gutes. Wir handeln als Koalition schnell und entschlossen, um die Menschen in dieser Pandemie zu unterstützen. Vor zwei Wochen haben wir den Gesetzentwurf im Bundestag eingebracht. Heute beschließen wir ihn. Das ist verantwortliche und solidarische Politik. Das ist die gemeinsame Politik von Union und SPD.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei mir zu Hause nennt man Menschen, die immer etwas zu nörgeln haben, „Quarkbüdels“. Diesen Ausdruck finde ich in Anbetracht des Antrages der Linken zu den Wirtschaftshilfen durchaus passend.
Gern erkläre ich Ihnen auch, warum: Seit März des letzten Jahres befinden wir uns in Deutschland coronabedingt in einer beispiellosen Wirtschaftskrise. Die deutsche Wirtschaft leidet in einer tiefen Rezession. Die Wirtschaftsleistung schrumpft deutlich, der Staatshaushalt rutscht ins Minus. Die Coronapandemie hat tiefe Spuren in Europas größter Volkswirtschaft hinterlassen. Deshalb hat die Bundesregierung zusammen mit den Ländern weitreichende Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die wirtschaftlichen Folgen für Beschäftigte und Unternehmen abzufedern, und das nicht zu knapp. Kein Land in der EU hat seine Wirtschaft in der Coronakrise so stark geschützt wie Deutschland.
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Das vergisst die Opposition ganz gern, und deshalb möchte ich Ihrem Gedächtnis an dieser Stelle auch gern auf die Sprünge helfen: Im ersten Lockdown im Frühjahr letzten Jahres haben wir für Mittelständler und Großunternehmen einen 600 Milliarden Euro schweren Wirtschaftsstabilisierungsfonds aufgelegt. Außerdem wurden zahlreiche Liquiditätshilfen durch die KfW in Form von Krediten in Höhe von derzeit knapp 50 Milliarden Euro bewilligt. Für kleine Unternehmer standen Soforthilfen in Höhe von bis zu 50 Milliarden Euro für die Monate März bis Mai zum Abruf bereit. Nicht zu vergessen sind die Überbrückungshilfen I und II für kleine und mittelständische Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb aufgrund der Coronakrise ganz oder teilweise einstellen mussten. Fast 25 Milliarden Euro standen hierfür im Förderzeitraum Juni bis Dezember zur Verfügung.
Mit dem zweiten Lockdown im letzten Jahr haben wir die außerordentlichen Wirtschaftshilfen für November und Dezember aufgelegt. Von den beantragten 10 Milliarden Euro wurden, Stand 23. Februar, etwa 6,9 Milliarden Euro ausgezahlt. Dazu kommt das Kurzarbeitergeld im Umfang von rund 23 Milliarden Euro seit Beginn der Krise. Zusätzlich haben wir ab November die Überbrückungshilfe III aufgelegt. Mit dieser können von der Pandemie betroffene Unternehmen bis Ende Juni dieses Jahres monatlich staatliche Unterstützung in Höhe von bis zu 1,5 Millionen Euro erhalten. Im Bundeshaushalt 2021 sind hierfür 40 Milliarden Euro eingeplant.
Meine Damen und Herren, hätte ich mir die Ausgestaltung der letzten Coronahilfen unbürokratischer gewünscht und die Auszahlung schneller? Ja, keine Frage. Allerdings werden die Ursachen hierfür von den Kritikern gern ausgeblendet. Die Bundesländer haben sich, anders als noch im Frühjahr, nicht in der Lage gesehen, die November- und Dezemberhilfen zu administrieren. Deshalb musste kurzfristig eine missbrauchssichere Onlineplattform geschaffen werden. Zudem musste der Bundeswirtschaftsminister bei der EU-Kommission lange dafür kämpfen, mehr Spielraum für höhere Hilfszahlungen zu erhalten. Hier gab es erheblichen Widerstand seitens der EU-Kommission und einiger EU-Staaten, da sie Wettbewerbsvorteile für deutsche Unternehmen befürchteten.
Und zur Wahrheit gehört auch: Leider musste unser Wirtschaftsminister Altmaier noch bis vor Kurzem mit dem Finanzminister über die Bedingungen der Auszahlung der Überbrückungshilfe ab Januar streiten. Sie alle können sich wohl denken, wer in diesen Verhandlungen die Rolle des Fürsprechers für unsere Wirtschaft eingenommen hat.
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– Da ist wohl eher der Wunsch Vater des Gedanken, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren von den Linken, Sie fragen sich sicher, was das alles mit Ihrem Antrag zu tun hat. Ich verrate es Ihnen gern: Sie wollen die Wirtschaftshilfen an ein Kündigungsverbot koppeln. Ich sage: Unsere Coronahilfen sind bereits ein effektiver Kündigungsschutz.
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Denn hätten wir in der Krise nicht so konsequent mit den umfangreichen Hilfsprogrammen gegengesteuert, wären viele Unternehmen bereits insolvent und müssten ihren Beschäftigten kündigen. Im Übrigen ist Corona kein Kündigungsgrund. Sie von den Linken sollten das eigentlich besser wissen. Jede Kündigung in Deutschland muss auch in Zeiten einer Pandemie im Einzelfall nach dem Kündigungsschutzgesetz begründet werden. Kein Arbeitnehmer, keine Arbeitnehmerin ist aufgrund von Corona in seinen bzw. ihren Rechten beschränkt.
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Ganz kurz zum Antrag der FDP „Wertschätzung für Selbstständige – Sofort verlässliche und unbürokratische Corona-Hilfen schaffen“: Die November- und Dezemberhilfen sowie die Überbrückungshilfe III stehen natürlich allen von Ihnen genannten Selbstständigen offen. Zudem umfasst die Überbrückungshilfe III auch die sogenannte Neustarthilfe für Soloselbstständige. Mit dieser wollen wir Soloselbstständigen helfen, die häufig nur geringe Fixkosten vorzuweisen haben. Selbstständige können nun einmalig bis zu 7 500 Euro Neustarthilfe erhalten. Sie werden sehen: Das ist gegenüber dem ursprünglichen Betrag eine Steigerung von 50 Prozent. Insofern glaube ich, dass sich der erste Punkt Ihres Antrages hiermit erledigt hat.
Weil gerade Kunst und Kultur in der Coronapandemie besonders leiden, haben wir im letzten Jahr das Hilfspaket „Neustart Kultur“ mit einem Volumen von 1 Milliarde Euro aufgelegt. Dieses Hilfsprogramm wurde Anfang Februar um eine weitere Milliarde aufgestockt. Zusätzlich dazu planen wir, für die notleidende Kultur- und Veranstaltungsbranche eine Unterstützung in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zu schaffen. Hier warten wir leider immer noch auf ein konkretes Umsetzungskonzept. Aber ich bin guter Dinge, dass wir, wenn wir ein besseres Gefühl haben, wie es mit der Coronapandemie weitergeht, auch zeitnah aus dem Bundesfinanzministerium ein entsprechendes Umsetzungskonzept erwarten dürfen.
Sehr verehrte Damen und Herren, die Union steht für die Stärkung der Wirtschaft und den Erhalt von Arbeitsplätzen. Das war so, das ist so, und das wird immer so bleiben. Deshalb bleiben wir bei unserem Kurs und lehnen Ihre Anträge ab.
Herzlichen Dank. Bleiben Sie gesund!
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Vielen Dank, Herr Kollege Helfrich. – Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kotré, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder reden wir heute über Anträge zum Gewerbeverbot, zu den Berufsverboten, kurzgenannt: Lockdown. Warum haben wir eigentlich diesen pauschalen Lockdown noch? Selbst die Weltgesundheitsorganisation rät davon ab, meine Damen und Herren. Es droht eine riesengroße Insolvenzwelle. Allein 60 Prozent der innerstädtischen Einzelhändler sind in akuter Insolvenzgefahr. Eine Viertelmillion Arbeitnehmer hängen mit dran. Am Ende wird uns der Lockdown über den Daumen gepeilt 1 Billion, 1,4 Billionen Euro gekostet haben. Der Lockdown schadet und hilft nicht. Es gibt keine wissenschaftlich belegte Studie, die die Bundesregierung nennen kann, um diese Gewerbeverbote zu rechtfertigen, meine Damen und Herren.
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Ich sehe auch keine breite Expertendiskussion zu diesem Thema. Die kann ich beileibe nicht erkennen. Die Regierung behauptet ja, sie handelt wissenschaftlich fundiert. Aber tut sie das wirklich? – Nein. Die Bundesregierung beruft sich auf Wissenschaftler, die das sagen, was die Regierung hören möchte. Wir haben keinen Expertenrat, dafür eine Kungelrunde mit den Länderchefs. Wir haben keinen ausreichenden Schutz der Risikogruppen, stattdessen Freiheitsbeschränkungen für alle. Wir haben Desinformation und Hysterie, aber eben keine Aufklärung, meine Damen und Herren. Das ist leider der Befund, den wir ausstellen müssen.
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Dazu kommen die Anachronismen. Gartenmärkte dürfen öffnen, Baumärkte mit ihrer Gartensparte aber nicht. Discounter sind geöffnet und dürfen Kleidung und Elektrogeräte verkaufen, Bekleidungs- und Elektrogeschäfte aber müssen geschlossen bleiben. Kulturbetriebe haben ihre Hausarbeiten gemacht und haben Hygienekonzepte erstellt und müssen geschlossen bleiben. Das ist schädlicher Unsinn, meine Damen und Herren.
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Das Virus an sich ist auf dem Rückmarsch. Es handelt sich um den ganz normalen Verlauf einer Virusausbreitung. Unabhängig von den Gewerbeverboten hat er seinen Höhepunkt überschritten und klingt nun ab. Deshalb ist es eben sehr bedenklich, dass Merkel diese epidemische Lage nationaler Tragweite ausdehnen möchte und die Gewerbefreiheit und die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht wiederherstellen will. Das ist Willkür, meine Damen und Herren.
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Sehr bedenklich ist auch, wenn versucht wird, Experten mundtot zu machen, nur weil sie ihre Meinung sagen. Christoph Lütge wurde aus dem Bayerischen Ethikrat entfernt, nachdem er die Coronapolitik kritisiert hat. Auch der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Lars Feld, wird abgesetzt, gerade jetzt, wo unabhängige Beratung wichtiger denn je ist. Herr Feld ist ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte,
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ein streitbarer Mann, noch dazu ein Freund direkter Demokratie. Hier deutet sich eine Unkultur an, eine Unkultur der Säuberung, die wir bekämpfen müssen.
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Wir müssen auch die Falschnachrichten bekämpfen, die im Umlauf sind.
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Da behauptete der Virologe Professor Drosten eben mal, dass Kinder Virenschleudern seien.
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Aber Gott sei Dank gibt es noch seriöse, unabhängige Wissenschaftler, die dann diese Sache auch korrigiert haben.
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Dann wurde hysteriebedingt behauptet, dass es im letzten Jahr eine Übersterblichkeit gegeben hätte; das Gegenteil ist der Fall. Auch die WHO hat gesagt, es gab sie nicht. Oder es wurde behauptet, dass wir schwerwiegende Engpässe bei der Belegung von Intensivbetten hätten und dass wir auf eine Katastrophe zusteuern würden. Auch das ist ja nicht passiert. Die Behauptung war falsch. Auch wenn die individuellen Schicksale hier schwer wiegen: Die große gesamtgesellschaftliche Katastrophe ist ausgeblieben.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Nun muss die Bundesregierung endlich zugeben, dass sie falschgelegen hat.
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Sie muss den Lockdown endlich aufheben. Das tut jetzt not: die vollständige Öffnung aller Lebensbereiche, aller wirtschaftlichen Bereiche und die Wiederherstellung unserer Freiheit – nicht mehr und nicht weniger, meine Damen und Herren.
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele Katzmarek, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihrem Antrag, pandemiebedingte Wirtschaftshilfen an ein Verbot betriebsbedingter Kündigungen zu koppeln, habe ich auf der Überschriftenebene erst einmal Sympathie entgegengebracht, weil ich gedacht habe: Na, vielleicht könnte es ja ein guter Weg sein.
Aber Sympathie alleine reicht natürlich nicht für eine Entscheidung aus – das wäre zu einfach –, sondern dafür muss man in die Tiefe gehen und die Situation, die wir in Deutschland haben, in der Tiefe betrachten und auch hinterfragen: Reichen diese Wirtschaftshilfen – die wir ja in großem Maße aufgelegt haben –, um unser Ziel zu erreichen?
Zunächst will ich noch einmal erinnern: Was ist denn unser Ziel? Das Ziel unserer Hilfen, die wir in gigantischem Maße aufgelegt haben, ist doch, Wirtschaftsstrukturen in Deutschland zu erhalten in ihrer gesamten Breite: für Weltkonzerne auf der einen Seite bis hin zum kleinsten Mittelständler und bis hin zu Soloselbstständigen. Das ist kein Selbstzweck, sondern es geht darum, Arbeitsplätze für die Menschen in diesem Lande zu erhalten und zu sichern.
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Genau da muss man hinterfragen: „Hilft Ihr Vorschlag? Stehen wir vielleicht so schlecht da, dass er hilfreich ist?“, und zwar nicht nur mit Blick auf heute, sondern selbstverständlich auch auf die Nach-Corona-Zeit; so will ich es mal nennen.
Wir müssen bei Maßnahmen immer wieder überprüfen, ob sie dem Ziel gerecht werden. Das ist für mich gar keine Frage. Wir müssen dort nachsteuern – was wir ja auch immer wieder getan haben, insbesondere bei den Wirtschaftshilfen.
Ich erlaube mir heute hier, zu sagen: Wir sind gut aufgestellt; ja, mit dem, was wir getan haben, sind wir in Deutschland gut aufgestellt. Ich will ein Beispiel nennen: die Kurzarbeit. Von Kurzarbeit waren letztes Jahr in der Spitze 6 Millionen Menschen betroffen. Im Januar wurde für 745 000 Menschen Antrag auf Kurzarbeit gestellt. Was heißt das übersetzt? Übersetzt heißt das, dass wir diese Menschen in den Betrieben gehalten haben durch Kurzarbeit. Das ist doch der richtige Weg. Das ist doch genau das, was wir wollen. Da unterscheiden wir uns von anderen Ländern, denen es nicht gelungen ist, mit solchen Instrumenten den Menschen auch zu helfen. Das als Erstes. Von daher muss man hinterfragen: Hilft das, was Sie wollen?
Ein zweiter Punkt ist die Arbeitslosenquote. Das ist ja auch so ein Maßstab, bei dem man fragen kann: Haben wir dort Nachsteuerungsbedarf? Die Arbeitslosenquote in Deutschland ist nicht exorbitant angestiegen, sondern wir hatten im Januar sogar ein Sinken der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen: 41 000 weniger Arbeitslose sind im Januar gemeldet worden. Das muss man einfach einmal zur Kenntnis nehmen!
Sie führen Österreich als Vorbild an. Wir, sage ich mal, frohlocken nicht, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass in Österreich 2 Prozent der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verloren haben. Aber da scheint ja etwas nicht zu stimmen, wenn Sie gleichzeitig sagen: Österreich ist ein gutes Vorbild. – Das will ich Ihnen gerne noch mal zurufen.
Kurzarbeit ist für die Betroffenen sicherlich nicht einfach; denn sie ist immer mit Einkommensverlusten behaftet. Dass die Arbeitslosenzahlen in Österreich exorbitant angestiegen sind, ist für uns kein Grund, sich zurückzulehnen und zu sagen: In Deutschland ist alles besser. – Denn überall dort, wo ein Arbeitsplatz verloren geht, hängen menschliche Schicksale dran. Deshalb müssen wir alles daransetzen, dieses zu verhindern, hier, aber auch anderswo.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will jetzt nicht auf die österreichischen Hilfen eingehen; die Zeit bleibt mir nicht. Aber man muss auch bei der Wahrheit bleiben: In Österreich sind größere Hürden gegen Entlassungen eingebaut worden, ja, bei bestimmten Hilfen. Aber auch dort ist es nicht so, dass die Menschen nicht entlassen werden können. Ich sage Ihnen: Ich will nicht mehr bürokratische Hürden, sondern ich will schnelle Hilfen.
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Das ist für uns der entscheidende Punkt: Hilfen, die ankommen, und da haben wir sicherlich auch noch einiges zu tun.
Als zweiten Punkt – der Präsident mahnt mich schon, zum Ende zu kommen – will ich noch einmal sagen: Das A und O, das Entscheidende ist doch: Wann finden wir einen Weg zurück in die Normalität? Daran müssen wir alles setzen. Impfstrategien, Teststrategien, Öffnungsstrategien: Das ist unser Weg zurück in eine Normalität. Nicht ankündigen – handeln. Es helfen auch keine Schaufensterreden.
Frau Kollegin.
Wir müssen schnell und gut aus der Krise kommen, und daran werden wir alles setzen.
Herr Präsident, ich danke Ihnen, dass Sie mir ein paar Sekunden geschenkt haben.
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Frau Kollegin Katzmarek, wenn Sie das jetzt nicht verraten hätten, wäre es nicht ganz so problematisch geworden – jetzt kommen alle und sagen, sie wollen Geschenke dieser Art haben,
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wegen der Gerechtigkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ist die Varieté-Performerin, die seit über einem Jahr keinen Auftritt mehr hat. Weil ihr Partner ein Einkommen hat, hat sie aber keinerlei Anspruch auf Grundsicherung. Um über die Runden zu kommen, hat sie jetzt einen Bürojob angenommen und nimmt lange Anfahrtswege in Kauf.
Da ist die Touristenführerin und Historikerin, die nur einen kleinen Teil ihrer Arbeit von zu Hause, im Homeoffice erledigen kann; der Rest ist weggebrochen. Sie muss die Altersvorsorge aufbrauchen – das Erbe ihres Großvaters auch –, um über die Runden zu kommen, und ihre Ausgaben radikal runterfahren; wahrscheinlich wird sie ihre Selbstständigkeit aufgeben müssen.
Da ist der Veranstaltungsmanager, der nach 30 Jahren Selbstständigkeit jetzt komplett ohne Einnahmen dasteht. Er hat mittlerweile seine Rücklagen aufgebraucht und sich zwischenzeitlich als Kurierfahrer etwas dazuverdient. Um seine Familie über Wasser zu halten, hat er jetzt eine Beschäftigung annehmen müssen – seine Selbstständigkeit nach 30 Jahren ade.
Und da ist die Gründungscoachin, deren Kundschaft durch die Krisensituation abgeschreckt ist und schrumpft. Sie schafft es gerade eben, sich mit Onlineseminaren über Wasser zu halten. Aber die Sorge um die Zukunft ist groß.
Vier ganz reale Beispiele – von echten Menschen –, die deutlich machen, was Hunderttausende von Selbstständigen in unserem Land seit einigen Monaten ertragen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Branche hat die Bundesregierung jetzt erhört: Die Friseure dürfen wieder öffnen. Die anderen warten immer noch auf verlässliche Perspektiven und vor allem auf wirksame Hilfen. Das kann so nicht weitergehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition!
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Die Menschen, die unsere Gesellschaft bereichern, die unseren Alltag schön machen, die mit ihrer unternehmerischen Haltung unsere Innovationsfähigkeit steigern, sind diejenigen, die in dieser Krise oft am stärksten im Regen stehen gelassen worden sind und denen Sie jetzt ein Cocktailschirmchen in die Hand drücken. Lieber Kollege Helfrich, liebe Kollegin Katzmarek, dass Sie sich für die Neustarthilfe ernsthaft hier auf die Schulter klopfen, das grenzt geradezu an einen Treppenwitz.
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Schauen wir mal genauer rein: Erst wurde die Neustarthilfe für Selbstständige schon im November für Anfang des Jahres angekündigt. Es dauerte bis Ende Februar, bis sie beantragt werden konnte. – Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, dass zwei Monate in dieser Pandemie für die Menschen jeden Tag Existenzängste bedeuten. Dann haben Sie jetzt 7 500 Euro als Maximalbetrag für die Lebenshaltungskosten vorgesehen. Nachdem neun Monate vorher bei den Lebenshaltungskosten gar nichts passiert ist, sind es jetzt 7 500 Euro bis nächsten Juni, also für insgesamt 15 Monate Pandemie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Klartext heißt das Folgendes: Für ganz viele Selbstständige in diesem Land reicht die Neustarthilfe nicht. Am Ende haben Sie sie doch wieder auf die Grundsicherung verwiesen. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Sie können nicht Selbstständigen das Geschäft verbieten und gleichzeitig sagen: „Sollen sie doch Hartz IV beantragen!“, während Sie gleichzeitig alle Anstrengungen unternehmen, dass Sie bei Angestellten genau das vermeiden, zum Beispiel, indem Sie das Kurzarbeitergeld in der Krise extra anpassen. Letzteres ist richtig. Aber Ersteres müssten Sie eben auch für die Selbstständigen in Form von wirksamen Hilfen leisten, die die Natur von Selbstständigkeit berücksichtigen.
Die Wahrheit ist doch: Wirtschaftsminister Peter Altmaier bringt die Hilfen für die kleinen Unternehmen nicht rechtzeitig auf die Straße, und Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil blockieren wirksame Hilfen für Selbstständige, weil sie ihnen übel nehmen, dass sie keine Angestellten sind. Und das ist ein fatales Signal für die Kultur der Selbstständigkeit in diesem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Wahrheit ist: Wir signalisieren Selbstständigen in dieser Coronakrise, dass sie in Wahrheit mit ihrem Geschäftsmodell und ihrer Lebensrealität in diesem Land weder verstanden werden noch möglicherweise gar gewollt werden. Das sollten wir ändern. Das können Sie ganz einfach tun, indem Sie unserem Antrag für wirksame Hilfen nach dem Vorbild von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg – es geht ja; es kann gehen – zustimmen. Wir fordern Sie auf, das zu tun. Es wäre das Richtige in dieser Krise.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Meiser, Fraktion die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Versagen der Bundesregierung bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie ist eklatant. Aktuell warten Unternehmen noch in über 170 000 Fällen auf November- und Dezemberhilfen in Höhe von insgesamt 4,5 Milliarden Euro. Auch die neue Überbrückungshilfe III ist viel zu spät und stotternd ans Netz gebracht worden.
Dass es im Rahmen des aktuellen Lockdowns fast drei Monate dauerte, bis das Bundeswirtschaftsministerium das Chaos halbwegs im Griff hatte, ist und bleibt Regierungsversagen erster Güte.
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Immer mehr meist kleine Unternehmen, gerade im Einzelhandel oder in der Gastronomie, stehen durch dieses Regierungsversagen inzwischen am Abgrund. Ich sage Ihnen: Das darf so nicht länger weitergehen.
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„Die Bürgerinnen und Bürger brauchen keinen Wirtschaftsminister, der sich für selbstverschuldete Verzögerungen entschuldigt, sondern einen, der sich selbst darum kümmert, dass es endlich schneller läuft.“ Das hat der Kollege Post von der SPD kürzlich gesagt. Recht hat er, meine Damen und Herren.
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Doch das Versagen der Bundesregierung geht auch dort weiter, wo tatsächlich Hilfen fließen. Dort erwarten die Beschäftigten völlig zu Recht, dass ihnen nicht die Kündigung droht, wenn ihr Unternehmen mit Steuermitteln unterstützt wird. Hier können sich auch die SPD und Arbeitsminister Heil nicht länger einen schlanken Fuß machen. So erreichen uns immer wieder Berichte, dass Unternehmen Entlassungen vornehmen, obwohl sie Wirtschaftshilfen erhalten haben, oder dass Unternehmen, die Hilfen erhalten haben, Betriebsräten mitten in dieser Pandemie mit Entlassungen drohen, wenn diese nicht an einer anderen Stelle Zugeständnisse machen.
Frau Katzmarek, mit Blick auf diese Zahlen können Sie sich doch hier nicht hinstellen und sagen, wir hätten bei der Arbeitslosigkeit kein Problem. Innerhalb des letzten Jahres ist auch bei uns in Deutschland die gemeldete Arbeitslosigkeit um fast 20 Prozent gestiegen. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
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Eigentlich müssten doch bei der Bundesregierung alle Alarmglocken klingeln. Doch weit gefehlt! Warum, verdammt noch mal, sind Sie hier so zögerlich? Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD, sorgen Sie nicht dafür, dass staatliche Wirtschaftshilfen an ein Verbot betriebsbedingter Kündigung gekoppelt werden?
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Natürlich – und das sage ich immer wieder gern hier – gibt es auch viele Unternehmer, die in dieser Krise ein hohes Maß an Verantwortung zeigen. Aber dort, wo das nicht der Fall ist – und sei es bei einer Minderheit –, muss der Staat klare Regeln aufstellen, meine Damen und Herren.
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Auch wenn Sie gerne darüber hinweggehen: Dass es geht, zeigt ein Blick über die Grenzen. Ich habe es schon in der ersten Lesung hier gesagt. In Italien hat die Regierung bereits zu Beginn der Pandemie ein weitgehendes Kündigungsverbot ausgesprochen, das im Herbst verlängert wurde. Auch in Österreich wurde – das sage ich mit Blick auf den Umsatzersatz in den Novemberhilfen, so wie es in unserem Antrag auch steht – den betreffenden Unternehmen explizit untersagt, Kündigungen auszusprechen. Ich verstehe bis heute nicht, warum Sie das nicht auch in Deutschland so gemacht haben.
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Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat sich das kürzlich noch mal auf unsere Bitte hin angeschaut und bestätigt, dass die Bundesregierung das alles durch eine einfache Verwaltungsanweisung auf den Weg bringen könnte. Das Einzige, was es dazu bräuchte, ist der politische Wille, wirklich alles dafür zu tun, dass so wenige Menschen wie möglich in dieser Pandemie ihren Job verlieren. Da muss die Bundesregierung endlich liefern.
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Ich komme zum Schluss. Sorgen Sie nicht nur dafür, dass die Wirtschaftshilfen endlich schnell und unkompliziert bei den betroffenen Unternehmen ankommen! Stimmen Sie hier und heute unserem Antrag zu, und sorgen Sie so gemeinsam mit uns dafür, dass diese Hilfen an ein Verbot betriebsbedingter Kündigungen gekoppelt werden und somit staatliche Wirtschaftshilfen in dieser Krise immer auch an den Schutz der Beschäftigten gekoppelt sind!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Meiser. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Es fühlt sich langsam an wie ein wöchentliches Ritual. Aufgrund einer Initiative der drei demokratischen Oppositionsfraktionen sprechen wir hier über das Coronahilfenchaos, und das zu Recht; denn leider versteht die Bundesregierung weiterhin nicht, in welcher Lage sich vor allem kleine Unternehmen und insbesondere ihre Inhaberinnen befinden, in welch prekärer, für einige scheinbar hoffnungsloser Situation viele Soloselbstständige sind. Jede Ankündigung auf schnelle, unbürokratische Hilfe weckte bisher neue Hoffnungen, um dann bitterlich enttäuscht zu werden. Deswegen ist es wichtig und richtig, dass wir hier darüber reden.
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Noch wichtiger wäre aber, dass die zuständigen Minister Scholz und Altmaier, der ja immerhin anwesend ist, auch ernsthaft zuhören und dann entsprechend handeln. Aber an diesem Punkt scheinen wir ein Jahr nach Beginn der Pandemie leider immer noch nicht zu sein; denn weiterhin hat die Bundesregierung vor allen Dingen die großen Konzerne im Blick. Verstehen Sie mich nicht falsch! Natürlich sollen alle Hilfe erhalten, die sie durch Corona nötig haben, aber eben alle und nicht nur die Großen und die besonders Lauten.
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Werfen wir einen Blick auf die derzeitigen Programme. Auch bei der Hilfe für vollständig geschlossene Unternehmen bestehen Sie darauf, dass 10 Prozent der Fixkosten von den Unternehmen selbst getragen werden, und verstecken sich hinter dem EU-Beihilferecht. Doch das ist tatsächlich nicht richtig; denn für Beträge bis zu 2 Millionen Euro wäre auch eine 100-prozentige Hilfe möglich. Sie ist auch dringend notwendig; denn vollständig geschlossene Unternehmen, die seit Monaten keine Einkünfte und auch keine Reserven mehr haben, können selbst diese 10 Prozent nicht aufbringen.
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Wovon soll denn die selbstständige Veranstaltungstechnikerin, die nun schon seit fast zwölf Monaten keine Einnahmen mehr hat, diese 10 Prozent aufbringen? 90 Prozent ist in diesem Fall zum Leben zu wenig.
Gucken wir uns die Neustarthilfe für Selbstständige an. Kollege Vogel hat sie bereits angesprochen. Es ist gut, dass der maximale Auszahlungsbetrag angehoben wurde, und es ist auch gut, dass es sich um eine Pauschale handelt. Aber es ist eben eine Fixkostenpauschale. Deswegen haben Sie gesagt, dass die Mittel der Grundsicherung nicht darauf angerechnet werden. Das begrüßen wir; das ist gut. Aber leider gilt das nur für die Grundsicherung. Andere Formen der Mittel für den Lebensunterhalt werden angerechnet, zum Beispiel auch das ALG I, Elterngeld oder wenn ich über andere Möglichkeiten für meinen Lebensunterhalt gesorgt habe. Diese Mittel werden in der Endabrechnung angerechnet und sorgen somit für eine Benachteiligung all derjenigen, die nicht in der Grundsicherung sind.
Wenn zum Beispiel eine Soloselbstständige ALG I bezieht, weil sie freiwillig eingezahlt hat – sie bekommt übrigens nur ALG I, wenn sie sich komplett arbeitslos meldet, was ein Hemmnis ist, wenn sie später wieder eine Tätigkeit aufnehmen will –, bekommt sie eben keine vergleichbare Leistung wie das Kurzarbeitergeld. Wenn sie jetzt die Neustarthilfe beantragt, wird das in der Endabrechnung mitberücksichtigt, ob sie antragsberechtigt war oder nicht. Das ist doch eine absolute Ungerechtigkeit im Vergleich zu den unterschiedlichen Sozialleistungen.
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Oder nehmen wir die junge Unternehmerin im Lebensmittelbereich, die momentan ihre Produkte nicht vertreiben kann, weil ihre Hauptabnehmer Restaurants sind. Sie ist nicht antragsberechtigt, weil sie einen ganz kleinen Nebenjob als Dozentin an der lokalen Hochschule hat. Deswegen kann sie keine Neustarthilfe bekommen. Das ist nicht gerecht. Ich fordere Sie auf, an dieser Stelle nachzubessern. Das ist doch das Gegenteil dessen, was wir wollen. Das gibt keinen Anreiz zur Selbstständigkeit und dazu, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, sondern Sie setzen damit leider genau den gegenteiligen Anreiz.
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Das zeigt wieder einmal, wie wenig Sie die Realität der modernen Arbeitswelt verstanden haben.
Meine Fraktion fordert seit Monaten – ich glaube, demnächst können wir sagen: seit Jahren – endlich Unterstützung für diese besonders betroffenen Gruppen. Die wichtigste Unterstützung wäre – und das auch rückwirkend – ein Unternehmerinnenlohn, wie es einige Bundesländer, und zwar unabhängig von der Farbe, schon machen.
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Ebenfalls hilfreich wäre die Anerkennung der Krankenkassenbeiträge für den Betreffenden selbst als Betriebsausgabe. Auch das ist ja momentan an dieser Stelle nicht gedeckt, auch das sorgt bei vielen Betroffenen für eine große Verunsicherung.
Wir haben während der Pandemie an diesen Stellen immer wieder Vorschläge unterbreitet. Ich weigere mich, hier aufzugeben, weil viele Betroffene inzwischen an dem Punkt sind – ich erlebe wirklich sehr viele demoralisierte Menschen –, nicht mehr zu glauben, dass Politik ihnen helfen will, nicht mehr zu glauben, dass wir ihnen zuhören und ihre Nöte und Ängste sehen.
Kommen wir zum Schluss zu dem neuesten Hilfsprogramm, dem Härtefallfonds: Ausgestaltung unklar, möglicherweise auch zwischen den Bundesländern uneinheitlich. Und ganz ehrlich: Dieser Fonds ist doch ein Eingeständnis, dass Sie bei Ihren Hilfen zu viele Leerstellen gelassen haben, dass diese bei den Betroffenen nicht ankommen.
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Daran, ob dieser jetzige Fonds dies dann ausgleichen wird, habe ich nach den Erfahrungen, die wir mit den Hilfen bis jetzt haben, erhebliche Zweifel.
Wir stehen Ihnen gerne für sachdienliche Hinweise zur Verfügung, was man machen kann. Aber die großen Lücken, wie sie zum Beispiel – wie im Ausschuss gesagt wurde – für Mischbetriebe bestehen, sind doch kein Fall für eine Härtefallregelung. Sie haben hier große Lücken, die Sie eigentlich über die regulären Programme abdecken müssen und nicht über einen Härtefallfonds.
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Ganz kurz zu den beiden Anträgen von Linken und FDP. Wir werden uns bei beiden enthalten. Wir haben viel Sympathie dafür; sie enthalten aber zum Teil Ausgestaltungen, denen wir nicht komplett folgen können. Aber ich will eines deutlich machen: Uns drei eint doch, dass wir in der Vergangenheit, im letzten Jahr, immer wieder konstruktive Vorschläge gemacht haben, wie man diese Hilfen besser ausgestalten kann. Wir haben das Thema immer wieder in den Bundestag geholt.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Und da gehört es auch hin.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute Anträge, die die Mehrheit im Hohen Hause im Dezember abgelehnt hat. Die Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses, über die wir ja nachher abstimmen, ist auch eindeutig. Ob die Wiederholung von bereits bekannten Argumenten Ausweis einer klugen Oppositionsarbeit ist, das darf man bezweifeln.
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Wir als CDU/CSU haben mit der heutigen Debatte auch die Möglichkeit, die jüngsten Ausweitungen der Coronahilfen für Unternehmen und Beschäftigte hier noch mal entsprechend darzustellen.
Meine Damen und Herren, bei aller in Teilen auch berechtigten Kritik an der schleppenden Auszahlung der Mittel aus den Hilfsmaßnahmen in den letzten Wochen will ich doch auf einige Tatsachen eingehen.
Das Konjunkturpaket vom Sommer 2020 hat für ein Wachstum von 1,3 Prozent gesorgt. Die Finanzhilfen in Form von Soforthilfen, als Überbrückung oder auch als Darlehen bringen Liquidität in die Unternehmen. 34 Milliarden Euro stehen in diesem Jahr bereit. Weitere 40 Milliarden Euro sind für das Paket der Überbrückungshilfen III geplant. Zudem haben wir den Zugang in die Systeme der Grundsicherung erleichtert, und das wurde bis Ende dieses Jahres verlängert. Wir haben die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt und dies ebenfalls bis April dieses Jahres verlängert, und die Neustarthilfe für Soloselbstständige ist zumindest auf den Weg gebracht worden.
Ja, meine Damen und Herren, all dies zeigt doch: Wir als CDU/CSU stehen an der Seite der Unternehmerinnen und Unternehmer mit ihren Fachkräften in Deutschland.
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Deswegen finden wir es auch richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister das Gespräch mit der Wirtschaft Anfang März fortführt und hier auch eine Perspektive für eine Öffnung in den nächsten Wochen und Monaten aufzeigen wird.
Der Opposition rufe ich zu: Tun Sie nicht so, als würde nichts oder zu wenig passieren.
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Meine Damen und Herren, der Staat ist leistungsfähig, und zwar deshalb, weil die Bundesregierung in der Vergangenheit eine solide Haushaltspolitik gemacht hat.
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Wolfgang Schäuble hat doch als Bundesfinanzminister dafür den Grundstein gelegt. Die schwarze Null war ja nie ein Selbstzweck, sondern sie war die Voraussetzung dafür, dass der heutige Bundesfinanzminister zusammen mit unserem Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Nothilfen in dieser historischen Dimension überhaupt erst leisten konnte.
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Die Grundlagen dafür sind doch die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Konkreter Ausdruck dieser Prinzipien ist zum Beispiel eine funktionierende Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Meine Damen und Herren, Die Linke macht in ihrem Antrag deutlich: Die Sozialpartnerschaft soll ausgehöhlt werden.
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Tarifliche und betriebliche Eigenverantwortung lehnen Sie ab. Sie wollen stattdessen das Unternehmertum beaufsichtigen. Das ist für uns aber kein Unternehmertum mehr, das ist schlichtweg Planwirtschaft. Nein, Die Linke leistet weder für die Beschäftigten noch für die Unternehmen einen Beitrag. Die Linke hat kein Rezept gegen die Krise, kein Rezept für neue Chancen auf Wachstum und Beschäftigung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die CDU/CSU ist eines klar: Kurzarbeitergeld und Kündigungsverbot passen nicht zusammen. Wir haben – und das hat die Kollegin Katzmarek vorhin richtig ausgeführt – 2,6 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Viele Unternehmen nutzen ja gerade das Instrument des Kurzarbeitergeldes, um ihre Fachkräfte entsprechend an den Betrieb zu binden. Und wir ergänzen hier in diesem Zusammenhang, dass wir die Weiterbildung ausbauen wollen und den jungen Menschen auch eine Ausbildungsgarantie geben wollen.
Es ist richtig, dass man in der Krise auch Flexibilität braucht. Unternehmen müssen in der Lage sein, schnell die Produktion wieder anzufahren, rasch zu investieren, um dabei zu sein, wenn es an den Märkten wieder losgeht.
Meine Damen und Herren, ein kurzes Wort zum Antrag der AfD. Wissen Sie, Sie kommen daher und erwecken den Eindruck, Sie wollten Schaustellern und Zirkussen etwas Gutes tun, ganz nach dem Motto „Wer kann schon dagegen sein?“. Ihr wahres Gesicht zeigen Sie dann in der Begründung des Antrages. Darin leugnen Sie im Grunde die Existenz von Corona. Ihr Kollege hat beim vorherigen Tagesordnungspunkt von „sinnbefreiten Coronamaßnahmen“ gesprochen. Sie lehnen diese Maßnahmen und damit die Eindämmung der Coronapandemie ab.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, den Begriff „Unternehmerlohn“ in Ihrem Antrag halte ich für unglücklich gewählt. Er ist auch missverständlich, weil er weder den Status der Selbstständigkeit noch die Risikogebundenheit des Unternehmertums abbildet. Allerdings gestehe ich Ihnen Folgendes gerne zu: Unternehmer erhalten keinen Lohn. Sie sind keine Lohnarbeiter, müssen aber dennoch von etwas leben, wenn der Staat ihnen den Laden dichtmachen muss. Und ich bin auch als Wirtschaftspolitiker dabei, dass der Verweis auf Grundsicherung und das Arbeitslosengeld II für Unternehmerinnen und Unternehmer nicht hilfreich ist. Es braucht also eine Lösung, und dies auch schnell.
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Ich plädiere da für einen anderen Ansatz. Das habe ich mir auch erlaubt Peter Altmaier als zuständigem Minister zur Prüfung vorzulegen. Mir geht es darum, dass wir Unternehmern ein existenzsicherndes Minimum garantieren,
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keine staatliche Stütze, sondern einen Kredit, der über die KfW abgesichert würde. Jeder Kleinunternehmer, Selbstständige und Künstler, der 2018 und 2019 Einkommensteuer gezahlt hat, hätte Anspruch darauf. Das wären bis zu 2 000 Euro pro Monat – schauen Sie mal nach NRW, wie viel da tatsächlich ausgezahlt wird – für den Zeitraum, in dem sein Gewerbe und auch das Unternehmen eingeschränkt wird. Die Rückzahlung könnte über das Finanzamt durch einen Aufschlag auf die Einkommensteuer entsprechend gesteuert werden.
Dies, meine ich, wäre wirklich ein Weg, wie wir den Unternehmern und Selbstständigen einerseits helfen können, sie aber gleichzeitig in ihrem unternehmerischen Selbstverständnis stärken. Die Brückenhilfe – so will ich sie mal bezeichnen – wäre zudem ohne viel Bürokratieaufwand umzusetzen und würde durch die Bindung an die Einkommensteuer zuverlässig auf Jahre getilgt werden können.
Dem Anliegen der FDP zur Schaffung eines verlässlichen und unbürokratischen Hilfsprogramms für Selbstständige, Kulturschaffende und Freiberufler stimme ich inhaltlich gerne zu. Im Übrigen verweise ich jetzt auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Knoerig. – Nächster Redner ist der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion.
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Moin, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Die Lockdown-Krise mit ihren Einschränkungen trifft alle Bürger, aber viele eben härter als andere. Die Entscheider sind Politiker, Beamte, Angestellte im öffentlichen Dienst, die in der Regel kaum wirtschaftliche Einbußen haben. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Denn angesichts der Hilflosigkeit der Lockdown-Politik und ihrer furchtbaren Nebenwirkungen muss man den Eindruck gewinnen, dass die Regierung keine Ahnung hat von der Realität, von den Auswirkungen auf die Menschen in unserem Land.
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Mit unserem Antrag wollen wir von den vielen hart betroffenen Gruppen eine weitere unterstützen, die mir und auch meiner Kollegin Nicole Höchst besonders am Herzen liegt. Es geht um die Schausteller, die Markt- und Messebeschicker, aber auch um ihre Hersteller und Lieferanten. Schon seit dem vorletzten Weihnachten haben viele von ihnen keine Geschäftsgrundlage mehr, da alle Veranstaltungen lockdownbedingt ausfallen, und ein wirkliches Ende ist nicht in Sicht. Kein noch so gesundes Unternehmen kann einen jahrelangen, oft 100-prozentigen Wegfall seiner Einnahmen überstehen.
Besonders schlimm betrifft es eine Branche, die oft Existenzgrundlage ganzer Familien ist, oft seit vielen Generationen. Für viele von ihnen ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf. Viele berichten mir, dass sie ihre Rücklagen aufgebraucht haben, ihre private Altersvorsorge auflösen mussten, berichten von Überschuldung oder gar von der Unternehmensaufgabe. Ich kriege Briefe von verzweifelten Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und jetzt unverschuldet mit dem Ruin konfrontiert sind, mit der Aufgabe ihres stolzen Gewerbes. Auch der Suizid als letzter vermeintlicher Ausweg wurde mir schon angedeutet. Die Menschen, die mit Stolz ihrem Beruf nachgegangen sind, wandern ab, und mit ihnen ihr Know-how. Sie suchen sich andere Jobs, weil sie ja irgendwie über die Runden kommen müssen.
Um diese Branche, die Familien mit ihren Unternehmen, ihren Mitarbeitern, ihrer Tradition zu retten und dafür zu sorgen, dass wir nach einem hoffentlich baldigen Ende des Lockdowns auf Jahrmärkten und Volksfesten, auf Messen und Märkten wieder gemeinsam feiern und lachen können, fordern wir die Regierung auf: Schaffen Sie endlich Rahmenbedingungen, damit die tüchtigen Menschen in Deutschland wieder wirtschaften und von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können!
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Liefern Sie endlich eine belastbare Perspektive, endlich einen Plan, wann Veranstaltungen unter entsprechenden Voraussetzungen wieder möglich sein werden!
Bis dahin müssen wir aber auch diejenigen erhalten, die solche Veranstaltungen für uns erst möglich machen. In unserem Antrag finden Sie dazu konkrete Vorschläge. Bitte folgen Sie diesen auch! Mit Ihrem Abstimmungsverhalten können Sie zeigen, dass Sie den Menschen wirklich helfen wollen und nicht nur wohlfeile Worte verlieren wie zum Beispiel auf der großen Schaustellerdemo hier vor dem Brandenburger Tor.
Ich würde den Kollegen gerne gute Geschäfte wünschen oder eine gute Reise, aber beides dürfen sie ja nicht machen. Also wünsche ich ihnen und allen Bürgern unseres Landes, dass die Regierung endlich von ihrer mangelhaften Lockdown-Politik abrückt, die unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft so schlimme Schäden zufügt, und die Regierung uns allen, nachdem sie so lange die Zeit nicht genutzt hat, endlich eine Perspektive für die Rückkehr zur Normalität bietet, soweit es sie dann überhaupt noch geben wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es ja bei mir nicht üblich, dass ich auf die AfD eingehe. Aber, Herr Kotré, eine Sache geht nicht: Sich hierhinzustellen und eine Nichtwiederberufung eines Wirtschaftsweisen als Säuberungsaktion zu bezeichnen, hier in einer Demokratie eine stalinistische Vorgehensweise zu unterstellen, das ist selbst für die AfD zu peinlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Eine ungeheure Entgleisung, für die Sie sich gefälligst zu entschuldigen haben. Aber so viel Anstand besitzen Sie ja nicht.
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Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass ich froh bin, dass in der größten Krise, die wir haben, in der Coronapandemie, Sozialdemokraten mit Verantwortung tragen, weil – wir haben das gerade bei den letzten beiden Tagesordnungspunkten gesehen – sowohl Olaf Scholz als Finanzminister als auch Hubertus Heil als unser Arbeits- und Sozialminister richtig was angepackt haben. Das Sozialschutz-Paket III haben wir vorher als Tagesordnungspunkt besprochen. Wir haben das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz als vorvorletzten Tagesordnungspunkt besprochen. Da sieht man, dass Sozialdemokratie wirkt und die Menschen in einer schweren Krise unterstützt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ja, das Duo Peter Altmaier und Olaf Scholz tut auch vieles für die Wirtschaft, und zwar wird ständig angepasst. Es ist ja nicht so, dass wir am Beginn der Krise ein Paket geschnürt, es sozusagen in das Fenster gestellt und gesagt haben: „Bedient euch, das sind jetzt die Hilfen“, sondern sie wurden immer angepasst, immer nachgearbeitet. Ich nenne die KfW-Kredite, die Soforthilfen. Wir haben die Überbrückungshilfen I, II und III, Novemberhilfen, Dezemberhilfen. Wir haben Neustarthilfen. Wir haben „Neustart Kultur“ I und II. Wir haben Ausfallbürgschaften. Wir haben jetzt einen Härtefallfonds. Es wird ständig angepasst. Das sehen Sie auch an einer anderen tollen Leistung – ich weiß jetzt nicht, Herr Altmaier, wer dafür verantwortlich war; aber ich habe Sie politisch ja auch oftmals etwas härter angepackt –: an der Idee der Push-up-Nachrichten für die FAQs bezüglich der Corona-Überbrückungshilfen III. Die finde ich richtig gut.
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Sie können jetzt auf Ihrem Handy einstellen, dass es Ihnen anzeigt, wenn es eine neue Nachricht gibt. Die FAQs sind sozusagen konkrete Hilfen, weil darin beschrieben wird, was sich verändert hat, wo man auch im Sinne der Unternehmen, die sich an einen wenden, nachgebessert hat. Es ist nichts in Stein gemeißelt. Die Hilfen werden angepasst. Bei ihnen wird nachgesteuert, wo es geht. Das ist insgesamt ein sehr gutes Programm, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ja, auch ich bekomme in meinem Wahlkreis unterschiedliche Rückmeldungen. Meistens melden sich aber die zurück, bei denen es nicht läuft. Ich war sehr froh, als sich letzte Woche bei mir ein Klubbetreiber gemeldet hat, der gesagt hat: Herr Gremmels, ich will mal Danke sagen, weil ich jetzt dank der Überbrückungshilfen eine Lüftungsanlage in meinen Klub einbauen kann, die mir auch in der Zeit nach der Pandemie hilft; ich bin sehr dankbar, dass das mit den Überbrückungshilfen möglich ist. – Auch das müssen wir hier mal sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: dass die Politik wirkt. Das soll nicht das kleiner machen, was es natürlich auch bei mir im Wahlkreis gibt, wo es eben nicht funktioniert und wo wir dann auch nachfragen als Abgeordnete und wo wir auch gucken, dass Dinge angepasst werden.
Ich will noch mal was zu den Anträgen sagen. Wir als SPD haben durchgesetzt, dass es bei der Auszahlung von staatlichen Mitteln und wenn Firmen unter dem Rettungsschirm sind, keine Dividenden, keine Boni bei Aktienpaketen gibt. Das haben Sozialdemokraten durchgesetzt. Ich kann an dieser Stelle auch nur den Unternehmen sagen, die doch eine Dividende an Aktionäre ausschütten, dass ich erwarte, dass wir Sozialdemokraten erwarten: Wer eine Dividende an Aktionäre ausschütten kann, der kann auch einen Bonus an die Beschäftigten ausschütten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das sage ich hier an dieser Stelle auch ganz klar und deutlich.
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Lassen Sie uns aber bitte in die Zukunft gucken. Wir müssen jetzt die Konjunkturprogramme, die wir als Große Koalition auch schon auf den Weg gebracht haben, so ausrichten, dass sie nachhaltig sind, dass sie Arbeitsplätze schaffen, und zwar in Zukunftsbranchen, in der Automobilindustrie, wenn sie erneuerbare Antriebe auf den Weg bringt, bei der energetischen Gebäudesanierung, beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das sind die Punkte, um die wir uns jetzt kümmern müssen.
Ich sage Ihnen – zum Schluss, Herr Präsident –: Sozialökologisch aus der Krise, das geht nur mit der SPD. In diesem Sinne alles Gute und Glück auf!
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Vielen Dank, Herr Kollege Gremmels. – Nächster Redner ist der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister! Wieder ist eine Woche vergangen, in der sich viele Selbstständige sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter große Sorgen um ihre Existenz und Zukunft machten: zum einen, weil sie nicht wissen, wann sie endlich wieder die Chance bekommen, ihr eigenes Geld zu verdienen; zum anderen, weil sie nicht wissen, wie hoch der Schuldenberg denn noch werden muss, bevor die Bundesregierung sie unterstützt.
Herr Wirtschaftsminister Altmaier führte einen großen Wirtschaftsgipfel durch, bei dem er sich längst bekannte Probleme noch mal hat erklären lassen. Ein SPD-Kollege machte einen Friseurgipfel, bei dem er sich längst bekannte Probleme noch einmal hat erklären lassen. Dann wird gesagt: „Wir haben verstanden“, und gleich hier in der Abstimmung wird genau das Gegenteil getan.
Dabei kennen wir doch alle seit Wochen die Probleme durch Berichte vor Ort: vom Busunternehmer, dem die Schulbus- und Reisebusfahrten fehlen und der auf einem riesigen Investitionsstau sitzt, von der Nagelstudiobesitzerin, die sich leider nur nebenberuflich um Senioren und Seniorinnen in ihrem Viertel kümmert und auf absolut allen Kosten sitzen bleibt, von den Bekleidungsgeschäften, die nicht wissen, ob sie jetzt die Frühjahrskollektion bestellen sollen, geschweige denn auch bezahlen können, von den Gastronomen, die jetzt schon besonders lange ihr Erspartes und ihre Altersvorsorge aufbrauchen müssen und von deren Servicepersonal, das weder Kurzarbeitergeld bekommt noch Trinkgeld.
Man sagt, dem Handwerk gehe es gut. Ich habe heute mit Handwerkern gesprochen, die jetzt auch von der Krise betroffen sind. Weitere werden folgen, und wir haben sie noch nicht mal auf dem Schirm.
Wie katastrophal das Antragsverfahren ist, haben Sie sich letzte Woche von der Steuerberaterkammer noch einmal öffentlich ins Stammbuch schreiben lassen müssen: Die IT funktioniert nicht schnell genug, die Regeln sind unklar, die dazugehörige Hotline ist – Zitat – „eine Katastrophe“, die Auszahlung ist durch Doppelprüfungen zu langsam usw. usw. Und sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten das nicht schon hundertmal gehört!
Verehrte Kollegen und Kolleginnen von der Großen Koalition, wir sehen leider an vielen Stellen, dass sich Ihre Minister – der Finanz- und der Arbeitsminister auf der einen Seite, der Wirtschafts- und der Gesundheitsminister auf der anderen Seite – im übertragenen Sinne nicht grün sind; ja, da gönnt der eine dem anderen nichts. Man wünschte sich in dem Zusammenhang Superminister wie Karl Schiller oder Wolfgang Clement, die nicht lange fackeln, sondern nach dem Motto „Problem erkannt, Problem gebannt“ verfahren
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oder gemeinsam mit einer konstruktiven Opposition in diesem Hause – die gibt es ja – etwas auf die Beine stellen. So aber fragt man sich: Wer hat nach diesem Desaster eigentlich noch Lust auf Selbstständigkeit?
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Also, liebe Regierung, lieber Herr Minister, sorgen Sie endlich für einen Stufenplan mit Perspektiven für finanzielle Unterstützung, die bei den Bedürftigen rechtzeitig ankommt!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Todtenhausen. – Jetzt Klaus Ernst, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Helfrich, ich schätze Sie sehr, aber ich komme nicht umhin, etwas klarzustellen. Sie sagen: Niemand wird wegen Corona entlassen. – Da können Sie auch sagen: Niemand stirbt, wenn er im 10. Stock aus dem Fenster springt;
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der stirbt erst, wenn er unten ankommt. – Genau so ist es mit Corona. Da steht in der Kündigung nicht: Ich entlasse Sie wegen Corona. – Da wird man zum Beispiel entlassen trotz wirtschaftlicher Hilfen, die wir geben. Da wird jemand entlassen, obwohl das Unternehmen staatliche Hilfen in Anspruch nimmt und damit seinen Gewinn sogar noch staatlich finanziert bekommt. Insofern war diese Bemerkung meines Erachtens ein bisschen daneben.
Im Übrigen: Sie haben sich wenigstens mit unserem Antrag beschäftigt; andere haben das gar nicht gemacht. Herr Vogel, ich werte die Tatsache, dass Sie kein Wort über unseren Antrag verloren haben, schlichtweg als Zustimmung. Herzlichen Dank!
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Meine Damen und Herren, worum geht es? Es geht eigentlich um eine Kernfrage – sie wurde gestern im „Handelsblatt“ aufgeworfen: „Eine Frage der Moral“. Ist es eigentlich moralisch, dass von unserem – auch Ihrem – Steuergeld Milliarden ausgegeben werden, zum Beispiel für die Lufthansa, zum Beispiel für Kurzarbeit bei Daimler oder bei anderen Unternehmen? Es sind ja nun tatsächlich Mittel abgeflossen; es ist ja nicht so, dass nichts passiert wäre. Ist es moralisch, dass ungeachtet dessen, dass wir das alles finanzieren, die Unternehmen Standorte verlagern und Beschäftigte entlassen, obwohl Kurzarbeitergeld gezahlt wird, obwohl wir sie wirtschaftlich stützen?
Der Autor des Beitrags, Dieter Fockenbrock, kommt zu einem Ergebnis und schreibt:
Es weckt aber Zweifel an Beteuerungen des Führungspersonals, ihre Unternehmen in der Mitte der Gesellschaft zu verankern statt allein im Portemonnaie der Investoren.
Das ist das Problem. Allein schon aus diesen moralischen Gründen und mit Blick auf Ihre Verantwortung beim Umgang mit Geld – das ist ja unser Geld – könnten wir den Unternehmen doch mal sagen: Wenn ihr Geld von uns wollt, dann lasst das in der Zeit, in der ihr es kriegt, mal mit den Entlassungen sein!
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Das ist doch nicht unredlich. Oder wir könnten sagen: Solange ihr Geld von uns kriegt, seid ein bisschen vorsichtig mit den Dividenden. – Bei Daimler wurden Dividenden von über 1 Milliarde Euro ausgeschüttet, und wir bezahlen für Daimler 700 Millionen Euro Kurzarbeitergeld! Tut mir leid, aber moralisch ist das nicht mehr.
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Da habe ich echt meine Zweifel.
Wissen Sie, ich glaube eigentlich auch nicht, dass Sie so darüber hinwegsehen sehen können; denn Sie gehen doch sonst auch nicht so leichtfertig mit dem Geld um. Sie schauen doch auch: Was passiert eigentlich mit dem, dem ich Geld gebe? Jetzt geben wir der Lufthansa Geld in Milliardenhöhe, und wir reden nicht mal mit! Wir müssen klarstellen: Solange wir zahlen, seid bitte schön ein bisschen vorsichtig und schmeißt wenigstens nicht die Flugschüler raus. – Denn selbst die sind bei der Lufthansa negativ betroffen, weil die Schule geschlossen wurde.
Darüber bitte ich Sie nachzudenken.
Danke fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. – Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Krise wird von uns keine ideologische Diskussion über das Ende autonomer unternehmerischer Entscheidungen erwartet, wie dies Die Linke offenbar gerne hätte. Wir sollten auch nicht Selbstständige in ihrer sehr schwierigen Situation gegen Beschäftigte, die Kurzarbeitergeld beziehen, in Stellung bringen, wie dies die FDP leider in ihrem Antrag tut. Die Menschen in unserem Land erwarten Hilfe und keinen populistischen Wettlauf. Wenn Herr Lindner in der „Bild“-Zeitung am 24. Januar sagt: „Es handelt sich hier um Regierungsversagen – und das sogar mit einem gewissen Vorsatz“, dann sollte die FDP schon ein bisschen in sich gehen und sich fragen, ob das wirklich die richtige Tonlage ist.
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Seit Beginn der Pandemie wurden Gelder in Höhe von mehr als 80 Milliarden Euro bewilligt und ausgezahlt: Kredite, Bürgschaften, Zuschüsse. Die November- und Dezemberhilfen kommen jetzt an. Die Überbrückungshilfe III stabilisiert die deutsche Wirtschaft. Seit 10. Februar sind 17 000 Anträge gestellt worden; fast 1 Milliarde Euro an Abschlägen sind ausgezahlt.
Die Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen gehen bis an die Schmerzgrenze der finanziellen Belastbarkeit unseres Landes und – ich sage dies als Unternehmer – ordnungspolitisch sogar darüber hinaus. Aber es muss sein. Das ist eine enorme Leistung, die ihresgleichen sucht. Und sie zeigt auch Wirkung: nur 5 Prozent Wachstumseinbruch in 2020, im vierten Quartal sogar ein Plus von 0,3 Prozent.
Zunächst galt es doch, rasch Hilfen auf breiter Basis zu gewähren, auch bei einem erhöhten Betrugsrisiko. Es gibt immerhin über 25 000 Verdachtsfälle bei den Soforthilfen. Dann galt es, zielgerichtet und nachprüfbar zu unterstützen. Dass sich die Überbrückungshilfen I, II und III sowie die November- und Dezemberhilfen unterscheiden, liegt doch an den Hinweisen aus Wirtschaft, Verbänden und von Sozialpartnern und nicht an der Regierung. Beispielsweise sind die November- und Dezemberhilfen wie die Überbrückungshilfe III auch für die Schau- und Weihnachtsaussteller eine große finanzielle Entlastung, die hilft.
Zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Klaus Ernst hat sich ja gerade beschwert, dass sie nicht so erwähnt wurde: In der Coronakrise ist der größte Schutz vor Arbeitslosigkeit die Kurzarbeit. Nicht staatliche Kündigungsverbote, sondern Entlastungen der Unternehmen halten die Beschäftigten im Arbeitsverhältnis.
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Es ist doch völliger Unsinn, zu sagen, dass es für Unternehmer lukrativer ist, Mitarbeiter zu entlassen, als diese in Kurzarbeit zu schicken. Nach der Krise kommt der Aufschwung sicherlich umso schneller, wenn man mit dem eigenen qualifizierten Personal die Produktion ganz schnell wieder hochfährt.
Ich halte es für richtig, dass in einer existenziellen wirtschaftlichen Krise der Staat privaten Unternehmen aktiv zur Seite steht. Ich halte aber gar nichts von einer Einschränkung der unternehmerischen Freiheiten, quasi einer Verstaatlichung durch die Hintertür. Auch in einer Krise müssen Unternehmensneuausrichtungen und Produktionsveränderungen mit Personalveränderungen möglich sein. Bei einem Kündigungsverbot würde doch nur eine Bugwelle künftiger Entlassungen entstehen, oder Unternehmen, die staatliche Hilfe bräuchten, würden zögern, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Solche Unternehmen müssten dann erst recht Mitarbeiter in der aktuellen Krise entlassen. Daher nochmals ein klares Nein zu solchen Eingriffen. Wir wollen keine Planwirtschaft. Das mag der Traum der Linken sein. Es wäre sicherlich mein Albtraum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir alle sehen natürlich die Probleme der Selbstständigen und der Soloselbstständigen, vor allem im Kulturbereich. Eines der Probleme ist die große Vielfalt der Selbstständigkeit und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Fallgruppen. Mit der „Neustart“-Hilfe, die seit dem 16. Februar 2021 beantragt werden konnte, ist ein entscheidender Schritt getan. 42 000 Anträge und bereits 210 Millionen Euro Auszahlungen bis Anfang dieser Woche: ein erfolgreiches, aber auch ein dringend notwendiges Signal!
Wir reden von einer maximalen Betriebskostenpauschale in Höhe von 7 500 Euro. Für die Verwendung gibt es keine Vorgaben. Sie wird nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Das sind bis Mitte 2021 pro Monat mehr als 1 200 Euro. Hinzu kommen Länderprogramme, auch ein Kulturfonds über 2,5 Milliarden Euro ist beschlossen. Zusätzlich werden für sechs Monate über die erweiterten Leistungen aus dem SGB II Miete und Heizkosten in unbegrenzter Höhe bezahlt.
Es ist natürlich eine hochemotionale Frage, SGB II zu beantragen. Aber ist es nicht eine ebenso hochemotionale Frage, sich einen staatlichen Unternehmerlohn zahlen zu lassen, wie das von Linken, aber jetzt auch, wie ich gehört habe, von der Kollegin Müller gefordert wurde? Was wäre denn da angemessen? Sind für jeden Soloselbstständigen 1 200 Euro angemessen – für freischaffende Opernsänger die gleiche Summe wie für Stadtführer oder kleine Minicafébetreiber, egal ob in München oder in Brandenburg an der Havel? Wir nähern uns da schon der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Nein, das hat nach meinem Verständnis nichts mehr mit Selbstständigkeit zu tun. Ist das etwa die neue Richtung der FDP?
Noch eines zur FDP. Sie spielen in Ihrem Antrag die Selbstständigen gegen die Bezieher von Kurzarbeitergeld aus. Sie sprechen von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung. Vergessen Sie bitte nicht, dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Sozialabgaben von ihrem Lohn leisten.
Nun noch ganz kurz zur AfD: Haben Sie sich denn eigentlich schon entschieden: Ist Corona jetzt eine leichte Grippe, oder ist es eher eine schwere Epidemie mit einem angeblichen Impfversagen der Bundesregierung? Ihre Fraktionsvorsitzende Alice Weidel diffamierte genau hier am 11. Februar 2021 die Bund-Länder-Gespräche als „Kungelrunde“, die im Hinterzimmer beschließe. Weiter heißt es wörtlich: „Was für eine peinliche Inszenierung“. Sie fordern jetzt die Bundesregierung auf, –
Kommen Sie zum Schluss bitte.
– darauf hinzuwirken, dass die Bundesländer einheitlich handeln. Ja wie bitte jetzt? Doch Bund-Länder-Gespräche? Was für eine Inszenierung an AfD-Doppelmoral!
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Diese Bundesregierung handelt in der Krise. Sie von der Linken, der FDP und der AfD reden nur davon.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Loos. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mitte März dieses Jahres ist es in der Tat fast zwölf Monate, fast ein Jahr, her, dass der erste Lockdown beschlossen wurde. An dem Freitag davor haben wir hier in dieser Runde das erste Mal über Wirtschaftshilfen debattiert. Man muss fast am Ende dieses Coronajahres mit Blick auf einige hier in der AfD ja sagen: Bei einigen liegt der Verstand echt blank. Bei anderen – das gilt natürlich vor allem für viele in diesem Land, die von den Maßnahmen betroffen sind – liegen natürlich die Nerven bzw. bei vielen eben auch die finanzielle Existenz blank. Das ist in der Tat, nachdem wir uns fast ein Jahr mit dem Coronavirus auseinandersetzen, die Realität, der wir uns stellen müssen.
Meine Damen und Herren, das Kurzarbeitergeld war im letzten Jahr für viele Millionen Beschäftigte der allerbeste Kündigungsschutz.
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Denn die immer wieder erfolgte Verlängerung des Kurzarbeitergeldes hat in der Spitze wirklich fast 10 Millionen Menschen aufgefangen, die sonst in die Arbeitslosigkeit gerutscht wären.
Meine Damen und Herren, wenn man sich jetzt die Zahlen anschaut, auch die der letzten Überbrückungshilfeprogramme oder der „Neustart“-Hilfe, dann muss man sagen, dass alleine von den Novemberhilfen bis heute ungefähr 8 Milliarden Euro an Hilfen ausgezahlt wurden. Wenn man sich die Zahlen genauer anguckt, dann sieht man: Ja, von den Novemberhilfen wurden ungefähr 80 Prozent der Hilfen ausgezahlt. Von den beantragten Geldern der Dezemberhilfen sind gut 63 Prozent ausgezahlt worden. Bei den Überbrückungshilfen sind es mit knapp 30 Prozent schon deutlich weniger, und bei den „Neustart“-Hilfen für die Soloselbstständigen sind um die 90 Prozent ausgezahlt worden.
Was zeigt das? Auf der einen Seite macht das deutlich, dass wir natürlich nicht zufrieden sein können, wenn bei der Auszahlung der Novemberhilfe noch nicht annähernd 100 Prozent stehen. Das kann uns, meine Damen und Herren, nicht zufriedenstellen.
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Ich sage mal wirklich diplomatisch: Meine Geduld, aber vor allem die Geduld und das Verständnis von vielen, die auf diese Hilfe wirklich dringend warten, sind schon – na ja, diplomatisch formuliert – sehr arg strapaziert. Das ist etwas, wofür wir uns – ich habe das an anderer Stelle gesagt, ich sage das auch hier – wirklich entschuldigen müssen.
Meine Damen und Herren, bei den Wirtschaftshilfen wird von manchen von Chaos geredet. Es kann aber zum Beispiel bei den „Neustart“-Hilfen für die Soloselbstständigen, die erst seit Kurzem beantragt werden können und bei denen bereits 90 Prozent ausgezahlt sind, von Chaos seriös keine Rede sein, meine Damen und Herren.
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Ich finde, dass in dieser Zeit, in der die Verzweiflung von vielen wirklich mit Händen zu greifen ist, eine wirklich unseriöse Panikmache durch Anträge, durch Überschriften, durch Debatten, durch Wortbeiträge betrieben wird. Bei manchen sind wir es gewohnt; mit denen auf der rechten Seite finden wir uns ab. Dass bei vielem anderen, etwa da, wo wir nachbessern müssen, nachgebessert haben und auch weiter besser werden müssen, Panik verbreitet wird, ist auch nicht seriös.
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Deswegen, meine Damen und Herren, haben wir natürlich, auch wenn wir jetzt nach vorne auf die nächste Woche schauen, für die Runde der Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen mit der Bundesregierung die klare Erwartung, dass es eben Perspektiven und Stufenpläne gibt, dass es darum gehen muss, nicht nach einem bestimmtem Datum, aber nach Daten, nach der Entwicklung der Pandemie hier vorzulegen, wie eine Öffnungsperspektive, ein Weg zur Normalität aussehen kann.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Mohrs, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe nur einen kleinen Punkt. Sie haben ja gerade indirekt auch mir, der ich von Chaos bei der Umsetzung der Wirtschaftshilfen gesprochen habe, Panikmache unterstellt. Ich möchte Ihnen jetzt gerne etwas vorlesen. Ich zitiere:
Dass es fast drei Monate gedauert hat, bis das Bundeswirtschaftsministerium das Chaos einigermaßen im Griff hatte, ist Verwaltungsversagen erster Güte.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? Ihr Kollege, Herr Sören Bartol. Er ist, glaube ich, Fraktionsvize. Wissen Sie, wo er es gesagt hat? Im „Vorwärts“. Das ist, glaube ich, Ihr Parteiblatt. Würden Sie dann auch Ihrer Partei an dieser Stelle Panikmache vorwerfen? Da bitte ich doch um etwas mehr Redlichkeit im Umgang mit unseren Argumenten, statt hier solche Sachen in die Luft zu blasen. – Vielen Dank.
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Lieber Pascal Meiser, ich halte Sie ja für einen durchaus vernünftigen Kollegen, was ich auch noch mal unterstreiche, weil Sie den „Vorwärts“ lesen. Insofern: Herzlichen Glückwunsch auch dazu!
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Aber gucken Sie sich mal genau an, was ich eben gesagt habe. Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es zwei Seiten gibt. Es gibt diejenigen, die wirklich verzweifelt darauf warten, und zwar aus meiner Sicht eine viel zu lange Zeit, dass die Hilfen endlich ausgezahlt werden. Und ja, meine Damen und Herren, es ist doch völlig klar, gerade für die Betroffenen, dass das Verfahren für sie an vielen Stellen völlig intransparent und chaotisch gelaufen ist. Ich glaube, daraus hat hier keiner einen Hehl gemacht.
Das war schwierig. Das ist mit 16 Bundesländern komplex. Wenn man sich allein die Länge der FAQ anguckt, sieht man, wie komplex die Hilfsprogramme sind. Aber ich finde, es gehört eben auch dazu, deutlich zu machen, wo die Herausforderungen sind, und nicht nur hier so zu tun, als ob gar nichts funktionieren oder nichts ankommen würde. Denn das wäre nicht redlich, meine Damen und Herren.
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Genau darauf war mein Bezug und auch auf das,
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was Sören Bartol gesagt hat. Insofern, glaube ich, ist hier die Redlichkeit hoffentlich wieder hergestellt und für alle transparent, meine Damen und Herren.
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Wenn wir also jetzt mit der Erwartung in die nächste Woche gehen, dass wir Perspektiven haben, die klar und verlässlich sind, die gerade auch den vielen betroffenen Unternehmen – wie gesagt, nicht nach einem bestimmten Datum, aber nach der Entwicklung des Infektionsgeschehens – wieder Perspektiven eröffnen, dann ist das der Weg, den wir wirklich brauchen, begleitet von Tests, begleitet von Impfen, begleitet von Transparenz, möglichst auch begleitet durch Apps auf den Handys, die eben deutlich machen: „Wer ist hier eigentlich negativ getestet? Wer ist geimpft?“, um wieder einen Schritt zurück in die Normalität zu gehen. Also, Geschwindigkeit, Perspektiven, Klarheit und Redlichkeit: Das, glaube ich, ist das Gebot der Stunde.
Dabei alles Gute für uns alle! Bleiben Sie gesund!
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verbraucherinnen und Verbraucher werden in diesem Land immer noch viel zu häufig abgezockt. Betrügerische Geschäftsmodelle, unklare Vertragsstrukturen, Kostenfallen: Sie sind immer noch an der Tagesordnung. – Mit diesem Gesetz für faire Verbraucherverträge wollen wir diesem Gebaren einen Riegel vorschieben.
Lassen Sie mich das an drei Beispielen verdeutlichen:
Erstes Beispiel. Sie alle kennen – das ist sehr unangenehm und wird als belästigend und aufdringlich empfunden – die unaufgeforderte Telefonwerbung ohne vorherige Einwilligung. Bereits heute darf sie eigentlich überhaupt nicht stattfinden, sondern erst nach der entsprechenden Einwilligung des möglichen Kunden. Das wird aber nicht entsprechend berücksichtigt, sondern viele Verbraucherinnen und Verbraucher berichten darüber, dass sie in dieser Form belästigt werden. Damit das in Zukunft nicht mehr der Fall ist, müssen die Unternehmen diese Einwilligung in Zukunft eben auch dokumentieren und aufbewahren; es muss also nachvollzogen werden können, dass der Verbraucher tatsächlich eingewilligt hat.
Das ist kein stumpfes Schwert. Da reicht es nicht, dass man irgendwo auf einem Formular ein Kreuzchen macht, nach dem Motto „Der Verbraucher hat eingewilligt“, nein, man muss das tatsächlich dokumentieren, sprich: Wenn die Einwilligung mündlich erfolgt ist, dann muss sie auch aufgezeichnet werden, und die Bundesnetzagentur kann die Aufzeichnung jederzeit anfordern, wenn es darum geht, solche Vorwürfe aufzuklären. – Das ist also, wie gesagt, kein stumpfes Schwert, und wer gegen die Regeln verstößt, muss mit einem Bußgeld in einer Größenordnung von 50 000 Euro rechnen, damit Schluss ist mit unaufgeforderter Telefonwerbung.
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Das zweite Beispiel ist ebenfalls ein großes Ärgernis. Strom- und Gaslieferverträge, also Energielieferverträge, werden oftmals am Telefon geschlossen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind sich zum Teil gar nicht bewusst, dass sie gerade einen Vertrag abschließen, und wollen das eigentlich auch gar nicht. Das Problem ist nur: Irgendwann bekommen sie einen Vertrag zugeschickt, auf dem steht: „Herzlich willkommen als neuer Kunde; wir freuen uns, dass wir Sie gewonnen haben“, obwohl sie das nie wollten. Dann wird es schwierig, zu beweisen, dass man als Verbraucher niemals einen solchen Vertrag geschlossen hat.
Damit das in Zukunft anders geregelt ist, werden solche wesentlichen Verträge nur noch in Textform geschlossen werden können, das heißt, man hat als Verbraucher das Recht, erst mal zu prüfen, ob man tatsächlich diesen Vertrag bzw. überhaupt einen Vertrag schließen will. Ein geführtes Telefonat kann bei solchen Verträgen in Zukunft also nicht mehr zu einem Vertragsabschluss führen. Das führt zu weitaus mehr Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
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Lassen Sie mich noch ein drittes Beispiel ansprechen, nämlich die langen Vertragslaufzeiten, die über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen geregelt sind. Ich rede hier also nicht über den Mietvertrag, der über ein paar Jahre geschlossen wird; das ist damit nicht gemeint, sondern gemeint sind die Verträge, die unter Geltung der AGBs geschlossen werden.
Da erleben wir oft, dass überlange Vertragslaufzeiten für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu einer Beschränkung der Wahlfreiheit führen. Wenn es andere, attraktivere Angebote, für sie passgenaue Angebote, gibt, dann können sie sich nicht für einen Wechsel entscheiden, weil sie durch solche Verträge mit sehr langen Laufzeiten eben gebunden sind. Deswegen wird es in Zukunft so geregelt sein, dass immer dann, wenn ein Vertrag mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr vorgesehen ist, auch ein Vertrag für höchstens ein Jahr vorgelegt werden muss. Dann kann der Verbraucher entscheiden, welcher Vertrag für ihn der passgenaue ist.
Ich mache das mal an einem Beispiel deutlich: Es wurde in dieser Diskussion immer ins Feld geführt, dass zum Beispiel Handyverträge oftmals mit dem Angebot verbunden sind, ein Handy zu kaufen. Es kann aber sein, dass man als Verbraucher schon längst ein Handy hat, mit dem man zufrieden ist. Dann ist dieser Zweijahresvertrag, bei dem man ein zusätzliches Handy bekommt, nicht interessant, während der Einjahresvertrag, bei dem man auch die Möglichkeit hat, viel früher zu wechseln, sehr wohl interessant ist. Deswegen bleibt es dann dem Verbraucher überlassen, sich für den Einjahresvertrag oder einen Vertrag mit einer längeren Laufzeit zu entscheiden.
Ich hätte mir vorstellen können – das muss ich offen sagen –, dass wir nur noch Einjahresverträge für zulässig erachten. Wir haben uns jetzt auf diese Wahlmöglichkeit verständigt, aber ich finde es ganz spannend und interessant, dass gerade aus dem Bundesrat – aus Nordrhein-Westfalen, also aus der schwarz-gelben Landesregierung – der Vorschlag kommt, in Zukunft nur noch Einjahresverträge möglich zu machen. Ich finde das einen attraktiven Vorschlag, und wir sollten diesen Vorschlag, wenn er denn schon von CDU und FDP kommt, in den parlamentarischen Beratungen aufgreifen,
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genauso wie den Punkt, einen entsprechenden Kündigungsbutton einzuführen, sodass man den Vertrag so kündigen kann, wie man ihn auch geschlossen hat.
Sie sehen, es gibt noch viel Beratungsbedarf. Es werden spannende und gute parlamentarische Beratungen. Ich freue mich darauf. Lassen Sie uns was im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher hinbekommen! Wenn die zufrieden sind und Vertrauen in die Vertragsgestaltung haben, dann konsumieren sie auch, und das ist dann auch im Interesse der Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Ministerin, für die Ausführungen. – Herr Kollege Dr. Brunner, Ihre Redezeit hat sich bedauerlicherweise auf zwei Minuten verkürzt.
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– Das ist nicht gut; ich sehe das sein. Das ist aber bedauerlicherweise die Folge der Geschäftsordnung. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr. Lothar Maier, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung unternimmt hier den Versuch, einige gravierende Lücken im Verbraucherschutz zu schließen, die durch halbherzige Maßnahmen bei vorausgegangenen Novellierungen des BGB und des UWG entstanden sind, die wiederum auf die EU-Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zurückgingen. – Ich liebe solche Substantivkoppelungen, wie Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, Produktsicherheitsnotfallausschuss und was es da an Wortschöpfungen sonst noch gibt.
Im Vordergrund steht hier das Elend der Werbung für Kaufabschlüsse durch unverlangte Telefonanrufe. Niemand in diesem Saal wird bisher davon verschont geblieben sein. Es spricht Bände, dass jährlich ungefähr 60 000 Verbraucher davon so genervt sind, dass sie sich die Mühe machen, Beschwerden oder Klagen einzureichen. Seit 2010 gibt es nun die rechtliche Vorgabe, dass für solche Anrufe eine Einwilligung des Angerufenen erforderlich ist. Sie hat sich aber als weitgehend unwirksam erwiesen. Bei Ermittlungen heißt es dann vonseiten der Anrufer: „Die Einwilligung wurde schon vor längerer Zeit erteilt; wir haben sie jetzt nicht mehr gespeichert“ oder: „Sie wurde aus Datenschutzgründen gelöscht“ oder: „Es hat ja schon einen Kontakt gegeben; dann ist es auch nicht mehr nötig“. So plump solche Ausreden sind, so schwer sind sie zu widerlegen, wenn es zu Ermittlungen kommt.
Der vorgelegte Gesetzentwurf bringt nun eine klare Verbesserung durch das Erfordernis der überprüfbaren Speicherung der Einwilligung, die allerdings kaum je vorliegen dürfte, sowie insbesondere durch das Erfordernis der Textform des Vertragsabschlusses. Wer nach dem Telefonat nichts gesondert schriftlich bestätigt hat, der braucht auch nichts zu bezahlen.
Aber es gibt einen dramatischen Hauptmangel dieses Gesetzentwurfs: Er gilt nämlich nur für telefonisch geschlossene Verträge zur Energielieferung, nicht aber für Telekommunikation und Finanzdienstleistungen. – Telekommunikation macht aber nach Erkenntnis der Verbraucherzentralen mit rund 60 Prozent die Masse der Werbeanrufe aus. Telekommunikation und Finanzdienstleistungen müssen unbedingt einbezogen werden, wenn das Gesetz nicht erneut Stückwerk werden soll und nicht schon bald wieder nachbessert werden muss. Dasselbe gilt für Abonnements von Zeitungen und Zeitschriften.
Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen zeigen auch: Wird ein Bereich der Telefonwerbung schärfer kontrolliert, dann verlagert sich die Tätigkeit der Werber in andere Geschäftsbereiche. Darauf sollte nicht gewartet werden, sondern es sollte präventiv gehandelt werden.
Eine Verbesserung des Verbraucherschutzes auf einem Gebiet, das viele Branchen betrifft, nur für eine davon gelten zu lassen und noch nicht einmal für die am meisten betroffene, und in den anderen Branchen die gleiche Schweinerei einfach weiterlaufen zu lassen, ist ein Schildbürgerstreich allererster Ordnung. Das machen wir nicht mit.
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Da fragt man sich schon, wie das Spiel zwischen den Lobbyisten und den aktiven Beamten des BMJV wohl ausgesehen haben mag.
Immerhin: Positiv ist die Verkürzung der Vertragslaufzeiten für Dauerschuldverträge von zwei Jahren auf ein Jahr zu bewerten; aber leider nur unter bestimmten Voraussetzungen, sodass zwei Jahre weiter möglich bleiben. Angesichts der raschen Entwicklungen im Telekommunikationsbereich ist das zu lang.
Zustimmen können wir selbstverständlich auch der Regelung, dass in Kaufverträgen das Abtretungsrecht der Verbraucher nicht mehr ausgeschlossen werden darf, also die Möglichkeit, dass Verbraucher ihre Rechte gegenüber Firmen an Dienstleister abtreten, die gegen eine Provision den Rechtsstreit für sie führen und sie damit von den belastenden Prozeduren auf dem für sie ungewohnten Gebiet befreien.
Alles in allem ist in diesem Gesetzentwurf eine Menge Licht enthalten. Es sind aber auch viele gravierende Schlagschatten enthalten, die noch beseitigt werden müssen. Wir erhoffen uns von den Anhörungen, die geplant sind, einigen Aufschluss und einige Verbesserungen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Herr Kollege, denken Sie freundlicherweise an Ihre Maske. – Gut, da ich das bei Herrn Ernst schon habe durchgehen lassen, lasse ich das hier auch durchgehen; alles gut. Aber denken Sie freundlicherweise daran, dass wir auch im Fernsehen übertragen werden und dass das ein gutes Beispiel abgeben könnte.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über faire Verbraucherverträge. Wir wollen Verbraucher vor überlangen Kündigungsfristen und vor unangemessenen Vertragsverlängerungen schützen, beispielsweise wenn es um Handyverträge, Fitnessstudioverträge und anderes geht.
Aber, ich glaube, wir müssen schon genau hinschauen. Die Ministerin hat gerade gesagt, dass wir vor allen Dingen Verbraucher vor überlangen Vertragslaufzeiten schützen wollen. Sie hat als Beispiel genannt, dass alles das, was über ein Jahr geht, aus ihrer Sicht überlang ist, dass es nicht fair ist.
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Ich will dahinter ein Fragezeichen machen. Ich kann jedenfalls für mich sagen – das wird wahrscheinlich sehr vielen Kollegen hier im Hause auch so gehen –, dass es natürlich auch Verträge gibt, die länger als ein Jahr laufen, bei denen man sich nicht übervorteilt fühlt, bei denen man nicht das Gefühl hat, man wird über den Tisch gezogen, sondern die möglicherweise auch Vorteile für einen bringen.
Gerade das Beispiel von Handyverträgen ist ein ganz gutes. Dort ist es häufig so, dass man damit gleichzeitig auch ein Handy erwirbt, das über diese zwei Jahre der Vertragslaufzeit in kleinen Beträgen abbezahlt wird, sodass man sich das dann eben auch leisten kann. Es ist möglich, dass die Handys am Ende auch ein bisschen günstiger sind, sie von den Anbietern subventioniert werden, weil ein solcher Vertrag auf der Seite der Unternehmen auch ein Stück weit Planungs- und Investitionssicherheit gibt, was sich dann in einem Preisvorteil bei den Verbrauchern niederschlagen kann. Deswegen, glaube ich, müssen wir aufpassen, dass wir nicht diese einfache Gleichung aufmachen: Faire Verbraucherverträge sind immer nur die kurzen Verbraucherverträge. – Das ist in dieser Allgemeinheit jedenfalls nicht zutreffend.
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Ich glaube, da müssen wir sehr genau hinschauen. Es ist jetzt ein Kompromiss vorgeschlagen worden, bei dem man gesagt hat: Ein Zweijahresvertrag ist dann zulässig, wenn man auch einen Einjahresvertrag anbietet. Der darf aber höchstens 25 Prozent teurer sein, und das auch nur im Monatsdurchschnitt. – Sie merken schon: Da fängt man dann an zu rechnen. 25 Prozent von was? Was ist eigentlich der Monatsdurchschnitt? Das scheint mir alles außerordentlich kompliziert zu sein und ist dort nicht richtig. Denn – das gehört zur Fairness der Rechtsordnung auch dazu – wir brauchen klare und transparente Regeln. Ich glaube, das müssen wir uns im parlamentarischen Verfahren sehr genau anschauen. Das scheint mir nicht vernünftig zu sein.
Ich glaube vielmehr, wir müssen Wahlfreiheit für die Verbraucher haben; das haben Sie, Frau Ministerin, ja zu Recht gesagt. Wir brauchen Wahlfreiheit. Aber es gibt auch heute schon – der Telekommunikationsbereich ist ein gutes Beispiel dafür – eine Breite von Vertragsangeboten: angefangen vom Prepaid über kurze Vertragslaufzeiten bis hin zu längeren Vertragslaufzeiten. Ich sehe nicht, wieso wir Verbraucher an dieser Stelle bevormunden sollten. Das sollten wir uns sehr genau anschauen.
Beim zweiten Punkt, den ich ansprechen möchte, geht es um die Kündigungsfristen. Ich glaube, es wird vielen von uns schon mal so gegangen sein, dass man einen Vertrag geschlossen und die Kündigungsfrist, weil man viel Arbeit auf dem Schreibtisch hatte, verpasst hat. Die Folge ist dann, dass sich der Vertrag verlängert, und zwar möglicherweise auch sehr lange verlängert, um bis zu einem Jahr. Ich glaube, daran müssen wir tatsächlich arbeiten; das ist zu lange. Das ist wirklich eine Übervorteilung von Verbrauchern.
Ich bin dafür, dass wir da eine sehr klare Regelung haben: Die maximale Vertragsverlängerung, wenn man die Kündigungsfrist verpasst hat, sollte drei Monate betragen. Alles das, was jetzt an Ausnahmen dort geregelt ist, überfordert viele und ist mit viel Bürokratie und Aufwand verbunden. Deswegen auch an dieser Stelle eine klare Maßgabe: maximal drei Monate Vertragsverlängerung – das ist ein Beitrag zu echtem Verbraucherschutz, meine Damen und Herren.
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Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte – darauf wird mein Kollege Steineke gleich noch eingehen –, betrifft die Frage: Wie gehen wir mit Verträgen um, die im Internet geschlossen wurden? Wir kennen das alle; das geht manchmal sehr schnell, zum Beispiel bei Amazon Prime. Da brauche ich nur einmal zu klicken, und schon bin ich Amazon-Prime-Kunde; wunderbar, alles toll. Ich kriege alles schnell und kostenlos geliefert und kann auch noch Videos schauen. Aber wenn ich mich davon jetzt wieder lösen möchte, dann muss ich auf der Amazon-Seite erst mal suchen, wo ich mich von diesem Vertrag lösen kann. Dann werde ich noch fünfmal gefragt, ob ich nicht doch bleiben will. Bei Amazon nicht, aber an anderer Stelle muss ich dann möglicherweise noch ein Fax schreiben, um mich wirklich vom Vertrag zu lösen. Das wollen wir ändern.
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Wenn man Verträge einfach mit einem Klick schließen kann, dann muss man sie auch ganz einfach mit einem Klick kündigen können. Deswegen schlagen wir einen Kündigungsbutton vor, damit echter Verbraucherschutz auch bei der Kündigung zukünftig möglich ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Luczak. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Willkomm, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle großen Künstler haben ihre Schaffensphasen, genau wie die GroKo. Aus ihrem Zyklus „Framing für Anfänger“ bekommen wir nach Klassikern wie dem Gute-KiTa-Gesetz und dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz heute mit dem Faire-Verbraucherverträge-Gesetz abermals ein Bündel neuer Regulierungen vorgesetzt. Obwohl der positive Titel schon vorwegnimmt, wie toll das Gesetz sein müsste, wagen wir trotzdem mal einen Blick auf dieses Spätwerk der Regierung.
Tatsächlich findet sich gleich etwas Gutes: Abtretungsverbote in AGB werden für unwirksam erklärt. Wir Freie Demokraten hatten dazu auch schon einen Antrag eingebracht. Schön, dass Sie endlich nachziehen.
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Für Legal-Tech-Anbieter und die Verbraucher, die diese nutzen, um Mietminderungen und Verspätungsentschädigungen durchzusetzen, schafft das mehr Rechtssicherheit.
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Unnötig, weil redundant, ist hingegen das Erfordernis einer vorherigen Einwilligung in Telefonwerbung und deren Dokumentation. Die EU ist Ihnen mit der Datenschutz-Grundverordnung drei Jahre zuvorgekommen, und Kaltakquise ist ohnehin schon verboten.
Das Problem sind nicht die Gesetze, sondern die mangelhafte Ausstattung der Verfolgungsbehörden. Das müssen wir ändern – bessere Ausstattung, mehr Personal, mehr Digitalisierung –, damit die Bundesnetzagentur nicht nur immer die großen Fische erwischt und die vielen kleinen mit viel krimineller Energie durchs Netz gehen.
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Wenden wir uns nun dem Highlight Ihrer Normencollage zu, der Begrenzung der Vertragslaufzeiten. Da hat Frau Ministerin Lambrecht im Referentenentwurf noch einen breiten Pinsel geschwungen und wollte Zweijahresverträge ganz verbieten. Zum Glück für Verbraucher und Wirtschaft haben Sie sich eines Besseren belehren lassen. Häufig sind es langfristige Verträge, die finanziell schwächeren Verbrauchern ermöglichen, ohne Kredit und ohne Dispo an höherwertige Technik zu kommen. Weil die Anbieter langfristig planen können, können die Monatspreise sinken.
Demgegenüber sind bei Diensten, die keine Hardware nebenbei verkaufen, zum Beispiel Streaming, Carsharing oder Fitness, monatlich kündbare Verträge sogar häufig schon der Standard. Die Verbraucher brauchen deshalb keine gesetzliche Bevormundung, sondern transparente Informationen für eine selbstbestimmte Kaufentscheidung.
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Daher fordern wir als FDP auch die Pflichtangabe der monatlichen Durchschnittspreise eines Vertrages.
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Der entsprechende Antrag wartet schon im Rechtsausschuss auf Ihre Zustimmung.
Das ergänzen wir heute um einen Antrag, mit dem Verbraucher mit einem kurzen Satz auf ihr Widerrufsrecht vorab hingewiesen werden sollen, und zwar in dem Moment, wo sie „bestellen“ anklicken, und am Anfang eines Vertrages, den sie unterschreiben sollen. Damit können sich Widerrufsbelehrungen nicht mehr in Versandbestätigungen oder im Kleingedruckten verstecken. Nur wenn Verbraucher ihre Rechte kennen, können sie diese auch rechtzeitig nutzen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Vertragsfreiheit; doch echte Vertragsfreiheit kann es nur unter Gleichen geben. Im Rechtsverkehr stehen sich mit Verbrauchern auf der einen Seite und Unternehmern auf der anderen Seite keine gleichen Vertragspartner gegenüber. Dem versucht das Verbraucherschutzrecht entgegenzuwirken; das klappt aber oft nicht, was auch mit dem Markt zu tun hat. So haben wir im Mobilfunkbereich gerade mal drei große Anbieter, zwischen denen man wählen kann: Telekom, Vodafone und Telefónica. Diese drei bestimmen die Vertragsbedingungen; der Privatkunde hat nichts zu verhandeln. Aber es sind nicht nur Mobilfunkanbieter, die Vertragsbedingungen diktieren können. Große Konzerne etwa in der Versicherungsbranche oder im Strom- und Gasversorgungsbereich haben ebenfalls erhebliche Marktmacht.
Die Bundesregierung hat heute einen Gesetzentwurf eingebracht, der versucht, ein klein wenig an der beschriebenen Sachlage etwas positiv zu verändern. Aber was Sie vorgelegt haben, ist leider mutlos und wird in vielen Fällen den Verbrauchern nicht helfen.
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Ursprünglich wollten Sie, Frau Lambrecht, dass Verträge auf ein Jahr gedeckelt werden; keine Zweijahresverträge wie etwa bisher im Telefonbereich. So stand es im Referentenentwurf vom Januar 2020, also vor 13 Monaten – 13 Monate, in denen einiges passiert ist. Es gab etwa 50 Stellungnahmen, die allermeisten von Konzernen. Sie haben alle gebrüllt, dass ein Jahr zu kurz ist, dass sie Verbraucher weiter mit Zweijahresverträgen knebeln wollen. Und was haben Sie gemacht, Frau Lambrecht? Sie haben den Konzernen gegenüber nachgegeben. Die geplante Verkürzung der Vertragslaufzeiten von 24 auf zwölf Monate kommt jetzt nur noch in optionaler Form. Die Telefonanbieter müssen zwar auch Zwölfmonatsvarianten anbieten, die dürfen dann aber 25 Prozent teurer als die Zweijahresvarianten sein. Das ist keine Politik für Verbraucher, sondern für Telekom, Vodafone und Telefónica.
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Dass es anders geht, kann man in Belgien und Dänemark sehen. Dort gelten maximale Laufzeiten von sechs Monaten. So geht gute Politik für Verbraucher!
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Die Telefonanbieter behaupten, dass sie bei kürzeren Laufzeiten keine vergünstigten Preise für Smartphones und Tablets mehr ermöglichen können. Auch hier zeigen Belgien und Dänemark, dass das Problem lösbar ist; denn das Abbezahlen des Smartphones kann unabhängig von der Laufzeit des Telefonvertrages weiterlaufen. Zudem beleben verkürzte Laufzeiten den Wettbewerb. Die Unternehmen müssen sich mehr um Kunden bemühen; sie müssen besseren Service anbieten.
Wir fordern außerdem als Linke die Verkürzung von automatischen Vertragsverlängerungen auf maximal einen Monat, und wir fordern, dass man Verträge mit einem Klick kündigen kann, also so kündigen kann, wie man sie abgeschlossen hat.
Meine Damen und Herren, Verbraucherschutzrecht muss Verbraucher schützen, nicht die Interessen der Konzerne in den Blick nehmen. Dieser Entwurf gehört deshalb überarbeitet.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Movassat. – Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Berg kreißte und gebar einen Wurm. Angesichts der Fanfaren, mit denen das Bundesministerium für Verbraucherschutz seit zwei Jahren ankündigt, wie durchschlagend Ihr Gesetz für faire Verbraucherverträge werde, hätten wir eher ein Einhorn erwarten. Sie versprachen einen verbesserten Schutz vor Kostenfallen und Abzocke am Telefon sowie deutlich kürzere Vertragslaufzeiten. Davon ist wenig übrig geblieben. Nach dem ganzen Ankündigungspopanz hätten die Menschen mehr Fairness erwarten können.
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Statt Einjahresverträge werden Zweijahresverträge wohl die Regel bleiben. Stillschweigende Vertragsverlängerungen um ein ganzes Jahr sind weiter möglich. Die großen Telekommunikationsriesen behaupten ja, die Verbraucher/-innen wollten unbedingt die teuren Handys zum Vertrag, und das rechne sich eben nur mit Zweijahresverträgen. Abgesehen davon, dass dieses Geschäftsmodell die Umwelt stark belastet und Geräte ohne Vertrag oft günstiger sind, ist es doch erstaunlich, dass Vodafone dieselben Serviceleistungen, die bei uns hier so teuer sind, in Belgien deutlich günstiger anbietet. Sowohl Belgien als auch Dänemark haben lange Vertragszeiten abgeschafft, und – oh Wunder! – die Telekommunikationsunternehmen sind nicht zugrunde gegangen. Der Wettbewerb wurde gestärkt, die Verbraucher/-innen bekommen günstigere und flexiblere Vertragsangebote. Warum soll das denn bei uns nicht möglich sein?
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Unerlaubte Telefonwerbung bleibt ein ungelöstes Problem. Vergangenes Jahr gingen bei der Bundesnetzagentur über 63 000 Beschwerden ein – ein trauriger Höchststand. Und der steht für das Versagen Ihrer Verbraucherpolitik.
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Wie lange diskutieren wir schon über Bestätigungslösungen bei untergeschobenen Verträgen? Aber die soll es jetzt nur für den Energiesektor geben. Wir wissen doch, dass eine solche Branchenlösung zu einer Verschiebung unseriöser Praktiken auf andere Branchen führt. Damit kann den Verbraucher/-innen weiter unnötiger Quatsch untergeschoben werden; ein Missstand, den Sie endlich abstellen müssen.
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Vor einem Jahr habe ich hier unseren Vorschlag für einen elektronischen Kündigungsbutton vorgestellt, und es gab fraktionsübergreifend viel Zustimmung; Sie haben schon angekündigt, dass Sie das wollen. Verbraucher/-innen könnten damit einen Vertrag online genauso einfach mit einem Klick kündigen, wie sie ihn abgeschlossen haben. Unsere Studie hat gezeigt, wie schwierig es ist, Verträge online zu kündigen. 90 Prozent der Verbraucher/-innen wünschen sich dies aber. Mittlerweile unterstützt SPD-Kollege Fechner den grünen Kündigungsbutton, und auch die Unionsfraktion will ihn
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und tut gerade so, als sei es ihre eigene Idee. Aber warum hat es diese Lösung dann nicht in den Gesetzentwurf geschafft?
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Gerade jetzt, in der Coronakrise, wäre es dringender denn je, Verbraucher/-innen richtig zu entlasten. Wir Grünen bieten konkrete Lösungsvorschläge an. Nutzen Sie diese, statt Mogelpackungen weiter zu verkaufen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Als Nächstes mit einem Kurzbeitrag: der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sie haben mitbekommen, dass meine Redezeit kürzer geworden ist. – Wer von uns kennt es nicht: Man ist kurz vor der „Tagesschau“ zu Hause – jetzt, in Coronazeiten, haben wir die Zeit dazu –, das Telefon klingelt, am anderen Ende der Leitung ist eine nette Stimme, die sagt: Ach, Herr/Frau XY, schön, dass ich Sie erreiche. – Als gebildete Verbraucherinnen und Verbraucher wissen Sie sofort, dass dies nur ein ungebetener, unerlaubter Telefonanruf war. Dann überlegen Sie sich, warum es in Deutschland möglich ist, über einen ungebetenen, unerlaubten Telefonanruf jederzeit Verträge abzuschließen, ohne zu erfahren, wie Sie den Vertrag wieder loswerden. Heerscharen von Juristinnen und Juristen in den Rechtsabteilungen sind damit beschäftigt, Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land – ich sage es ganz deutlich – an der Nase herumzuführen und ihnen Verträge aufzuschwatzen, die sie nicht haben müssen, die sie nicht brauchen, die sie nur belasten und die letztendlich im Wirtschaftsverkehr nichts verloren haben.
Deshalb einen herzlichen Dank an die Bundesministerin der Justiz – ich sehe es auch nach, dass man mir Redezeit genommen hat – für die mühevollen dreijährigen Verhandlungen, die es gebraucht hat, um jetzt zumindest einen guten Einstieg mit dem Gesetz für faire Verbraucherverträge zu finden. Er ist nicht das Optimale; das werden wir vielleicht im parlamentarischen Verfahren erreichen. Die Ministerin hat schon einiges dazu angekündigt.
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Aber: Wir haben endlich einen Einstieg, um Verbraucherinnen und Verbraucher und die anderen Teilnehmer in unserem Wirtschaftssystem auf Augenhöhe zu bringen.
Das soll zum einen dadurch geschehen, dass die Telefonwerbung der Textform bedarf, dass der Vertragsabschluss nicht durch die Hintertür erfolgen darf. Zum anderen werden die Vertragslaufzeiten auf ein Jahr reduziert; das Signal, das aus NRW kommt, stimmt mich positiv und hoffnungsvoll. Zudem bekommen wir einen Kündigungshinweis und last, but not least einen Kündigungsbutton; denn, wie es der Kollege Luczak angesprochen hat: Was man bei Amazon oder sonst wo auf der Welt mit einem Button kaufen kann, das muss man mit einem Button auch wieder abbestellen können.
Das ist Verbraucherpolitik auf Augenhöhe. Dafür wollen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eintreten. Dafür werden wir das parlamentarische Verfahren nutzen.
Vielen Dank und ein schönes Wochenende.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Ich wusste, dass Sie zu den Abgeordneten gehören, die auch mit wenigen Worten Wesentliches transportieren können.
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Davon gibt es nicht so sehr viele. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen.
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Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Sebastian Steineke, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Kollege Brunner kriegt das immer gut und in Kürze hin. Das hat er heute wieder gezeigt.
Wir freuen uns natürlich, dass die SPD sich unserem Vorschlag zu einem Kündigungsbutton angeschlossen hat.
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Das haben wir der Ministerin ja vorgeschlagen. Dass die SPD da jetzt mitmacht, ist umso schöner. Dass die Grünen da schon mal vorgelegt haben, hat es natürlich noch erleichtert.
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Verbraucherinnen und Verbraucher müssen vor unfairen Verträgen geschützt werden; ich glaube, in dem Punkt sind wir uns alle einig. Deswegen ist es gut, dass heute ein Entwurf vorliegt, der viele Regelungen enthält, die vor Kostenfallen schützen. Weil ich gerade die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium sehe: Ich freue mich, dass das Wirtschaftsministerium da entscheidend mitgewirkt hat und gute Vorschläge eingebracht hat.
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Über die zunächst vorgesehene Verkürzung der Vertragslaufzeiten haben wir lange diskutiert; darüber haben wir schon viel gehört. Dazu gibt es andere Vorschläge, über die wir im parlamentarischen Verfahren reden werden. Ich glaube, auch an dieser Stelle ist es ganz gut, dass das Wirtschaftsministerium mitgemacht hat und das Justizministerium ein bisschen beigedreht hat. Deswegen denke ich, dass wir auch weitere gute Regelungen, die wir ja alle wollen, jetzt gemeinsam umsetzen können.
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, über den viele hier gesprochen haben. Wir reden nicht nur über das Thema Laufzeit. Wir reden vor allen Dingen über die Möglichkeit, wie Verbraucherinnen und Verbraucher Verträge, die sie abgeschlossen haben, einfach wieder kündigen können. Alle Umfragen zeigen, dass das Thema Vertragslaufzeiten eine Rolle spielt, aber nicht das wesentliche Thema ist. Die Leute wollen aus ihren Verträgen auch wieder vernünftig rauskommen; das ist das Entscheidende. Die jüngste Umfrage der Verbraucherzentrale – anlässlich des Verbrauchertages im letzten Jahr – hat den Bedarf gezeigt: 19 Prozent haben ungewünschte Verträge, 24 Prozent haben ungewünschte Verlängerungen, und über 62 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher haben dadurch einen finanziellen Nachteil. Das sind alarmierende Zahlen. Deswegen müssen wir da ran. Da ist der Kündigungsbutton, glaube ich, ganz wichtig; denn genauso, wie man einen Vertrag abschließen kann, muss man auch kündigen können. Ich glaube, das ist eine Selbstverständlichkeit.
Es gibt natürlich, wie immer, Kritik; wir haben sie auch schon gehört. Die Kritik dreht sich im Wesentlichen darum, dass der Aufwand und die Kosten zu hoch seien. Ich glaube, man sollte noch mal klarstellen: Wir wollen hier keinen neuen materiellen Rechtsanspruch einführen, sondern wir wollen nur, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher das Recht, das ihnen bereits jetzt zusteht, vernünftig umsetzen können. Darum geht es. Das ist keine weitere Belastung, sondern eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
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Am Ende ist das eine Frage der Digitalisierung. Es kann nicht ernsthaft sein, dass wir zwar online einfach abschließen können, aber, um kündigen zu können, erst mal über 15 Unterseiten geleitet werden, dann eine Seite ausdrucken müssen, die wir faxen oder per Post zurücksenden müssen, und das vielleicht auch noch telefonisch bestätigen müssen; alles schon gesehen. Ich glaube, da müssen wir ran. Am Ende reden wir aber nicht nur über die schwarzen Schafe. Viele große Unternehmen bieten schon die Möglichkeit, und auch für die vielen kleinen Unternehmen sollte das kein Problem sein.
Über den geplanten Ausschluss von Abtretungsverboten wurde schon gesprochen. Das war übrigens explizit ein Wunsch der Union, den wir auch in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt haben. Mit diesem Verbot greifen wir eine wesentliche Forderung auf, weil einige Fluggesellschaften die Abtretung der Ansprüche von Fluggästen an Dritte – das Fluggastrechteportal Flightright ist hier als Beispiel zu nennen – in ihren AGBs unterbunden haben, sodass Forderungen nicht beigetrieben werden konnten. Wir haben Hinweise aus der Kreditwirtschaft, aber auch von den Schuldnerverbänden bekommen, die wir uns im Verfahren noch einmal sehr genau angucken werden.
Schließlich geht es noch um das Thema Telefonwerbung; auch darüber ist gesprochen worden, da müssen wir ran. Das Textformerfordernis wird hier sicherlich helfen; das ist ein wesentlicher Punkt. Gerade der Bereich der Energielieferverträge bietet da zurzeit eine Menge Stoff. Wir wissen, dass das auf Glücksspielverträge zurückgeht, jetzt sind wir bei Energielieferverträgen. Dort werden wir jetzt eingreifen.
Ich glaube, das ist eine gute Ausgangslage für die Beratungen in den nächsten Wochen und für die Anhörung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Steineke. – Das letzte Wort in dieser Debatte hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei fairen Verbraucherverträgen geht es um die Regulierung von Marktmacht. Es geht um die Herstellung der Augenhöhe zwischen den Verbraucherinnen und Verbrauchern und den Unternehmen.
Vor dem Hintergrund nehmen wir uns des Themas der Vertragslaufzeiten an. Künftig soll die Vertragslaufzeit grundsätzlich ein Jahr betragen. Eine Vertragslaufzeit von zwei Jahren soll nur dann angeboten werden können, wenn der Vertrag mit einjähriger Laufzeit nicht mehr als 25 Prozent teurer ist als der mit zweijähriger Laufzeit. Das ist eine komplizierte Regelung, die sich aber vielleicht durchaus als eine verbraucherschützende Norm erweisen kann.
Viel entscheidender wird aber in der Praxis sein, aus einem geschlossenen Vertrag wieder rauszukommen. Wenn Sie sich mit Verbraucherschützerinnen und ‑schützern unterhalten, geht es vor allen Dingen darum: Wie kann ich den Vertrag kündigen? Wie kann ich aus einem längeren Vertragsverhältnis herauskommen? – Deswegen, meine ich, sollten wir überlegen, ob die automatische Verlängerung von Verträgen um ein Jahr nicht zu viel ist und ob wir nicht auf drei oder sechs Monate gehen.
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Wichtig ist auch, dass wir über den Kündigungsbutton reden. Das schlagen wir als Union schon seit Langem vor:
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Verträge im Internet müssen so gekündigt werden können, wie sie geschlossen werden können. Es kann nicht sein, dass mit dem Klick auf einen Button ein Vertrag entsteht, man dann aber ein Fax oder gar mehrere Klicks im Internet braucht, um den Vertrag zu kündigen. Hier wollen wir Augenhöhe zwischen den Unternehmen und den Verbrauchern herstellen, meine Damen und Herren.
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Bei der Frage von telefonisch abgeschlossenen Verträgen ist auch aus meiner Sicht die Bestätigungslösung richtig. Sie gilt nach dem Gesetzentwurf für Energielieferverträge. Man kann durchaus überlegen, das auf andere Branchen zu erweitern. Denn die Situation bleibt überall die gleiche: Man wird am Telefon überrascht, schließt einen Vertrag ab und hat dann Schwierigkeiten, aus dem Vertrag rauszukommen. Deswegen müssen wir uns auch das noch mal ganz genau ansehen.
Worüber wir auch sprechen müssen – und das ist perspektivisch –, ist aus meiner Sicht die Frage, wie denn Vertragsleistungen erstattet werden, bei denen Unmöglichkeit vorliegt: wenn ein Flug ausfällt oder die Bahn nicht fährt. Ich meine, die Frage der automatischen Erstattung muss endlich angegangen werden.
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Die großen Unternehmen, Bahn oder Lufthansa, haben doch die Kreditkartendaten. Über diese sind ganz automatisch die Kosten abgebucht worden. Und wenn dann das Flugzeug nicht fliegt oder die Bahn nicht fährt, muss man einfach automatisch das Geld zurücküberweisen. Das wäre effektiver Verbraucherschutz, meine Damen und Herren.
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Letzter Punkt. Wir müssen uns auch überlegen, ob wir die Frage der Vertragsanbahnung – also Vergleichsplattformen, aber auch sogenannte Schattenwebsites – mal in den Blick nehmen. Letztlich geht es um die Frage: Wie kommen Verträge zustande? Auch hier brauchen wir Augenhöhe zwischen Unternehmen und der Verbraucherschaft. Lassen Sie uns über diese Themen intensiv diskutieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In unbekannten Situationen wie einer Pandemie Fehler zu machen, ist menschlich. Nur: Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erwarten auch, dass die Regierung aus Fehlern lernt.
Was sich die Bundesregierung beim Thema Grenzkontrollen im vergangenen Jahr geleistet hat, ist aus verschiedenen Perspektiven bemerkenswert. Im Frühjahr 2020 haben Sie die Grenzen zu vielen Nachbarländern Deutschlands de facto geschlossen. Das hat zu unbilligen Härten geführt: Unternehmen, die nur mit Mühe und Not ihren Betrieb aufrechterhalten konnten, binationale Paare, die sich über Monate entweder gar nicht oder, wie beispielsweise in Konstanz, nur durch einen Bauzaun an der Grenze überhaupt sehen konnten. Man hätte eigentlich denken können, das wäre ein heilsamer Schock für die Bundesregierung gewesen. Nicht ohne Grund haben wir Freie Demokraten Sie im Innenausschuss im Juni 2020 aufgefordert, jetzt das Gespräch zu suchen, um eine europaweite Strategie zu erarbeiten, wie wir mit grenzüberschreitenden Hotspots ohne Grenzkontrollen umgehen. Passiert ist nichts. Sie haben die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eben nicht für solche Gespräche genutzt.
Als Ende Dezember 2020 wegen einer britischen Virusmutation kilometerlange Lkw-Staus in Dover, in Großbritannien, entstanden sind, hat diese Bundesregierung nichts gemacht. Als im Januar 2021 die Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident Söder gesagt haben, sie schließen wegen der Virusmutation Grenzkontrollen nicht aus, hat diese Bundesregierung nichts gemacht. Am 10. Februar 2021 hat Ihr Staatssekretär Mayer im Innenausschuss gesagt, dass Grenzkontrollen zu Tschechien nicht zur Debatte stünden. Zwei Tage später hat Innenminister Horst Seehofer Grenzkontrollen zu Tschechien und zu Tirol veranlasst. Das zeigt die ganze Planlosigkeit dieser Bundesregierung.
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Sie regieren eben nicht, sondern Sie reagieren. Sie lassen sich von dieser Pandemie treiben und richten sich in einem Dauer-Lockdown ein, anstatt mal Alternativen und vor allem eine Perspektive zu entwickeln.
Bemerkenswert finde ich auch den Umgang mit unseren europäischen Nachbarn. Staatssekretär Mayer hat im Innenausschuss vor zwei Tagen gesagt, es sei doch alles abgestimmt und es sei überhaupt kein isoliertes Vorgehen gewesen. Schauen wir mal, was die österreichischen Nachbarn dazu sagen. Der eigentlich für seine Diplomatie bekannte österreichische Außenminister Alexander Schallenberg sprach von – Zitat – „überschießenden Schritten, die mehr schaden als nützen“. Noch deutlicher wurde der österreichische Innenminister Karl Nehammer, mit dem laut Staatssekretär Mayer alles ganz eng von Herrn Innenminister Seehofer abgestimmt worden ist. Er bezeichnete die Grenzkontrollen als – Zitat – „inakzeptabel. Diese Maßnahme von Bayern ist unausgegoren und löst nur Chaos aus.“
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Sieht für Sie so eine professionelle Abstimmung und eine gute Nachbarschaft aus? Für uns ist das definitiv nicht der Fall. Was wir ausdrücklich begrüßen, ist das, was Sie jetzt mit Frankreich machen: die gemeinsame Taskforce, um trotz einer hohen Inzidenzzahl auf französischer Seite Grenzkontrollen zu vermeiden. Aber, Herr Staatssekretär, mit den einen eine Arbeitsgruppe zu machen und bei den anderen ohne Ankündigung einfach den Schlagbaum herunterzumachen, das ist eine Zweiklassengesellschaft von Partnern.
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So geht man mit Nachbarn einfach nicht um.
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Wir erwarten jetzt Taten von dieser Bundesregierung. Wir erwarten eine erweiterte Teststrategie für Pendler und die Logistik. Wir erwarten, dass binationale Paare nicht erneut monatelang im Regen stehen gelassen werden, sondern dass sie die Grenze unbürokratisch überqueren können. Und wir erwarten vor allem keine monatelangen Grenzkontrollen, sondern dass Sie endlich eine europaweite Strategie auf den Weg bringen und diese Grenzkontrollen schleunigst beenden. Sie sind jetzt am Zug, endlich etwas zu tun.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Keine Frage, die Schließung der Grenzen zu Tschechien und Tirol ist für die betroffenen Unternehmen eine große Belastung. Sie ist eine noch größere Belastung für die betroffenen Mitarbeiter, die zu uns nach Deutschland einpendeln, und es ist eine Zumutung für uns alle, denen ein vereintes Europa am Herzen liegt.
Die Entscheidung zur Grenzschließung war hart, aber notwendig. Warum? Ich komme aus dem Erzgebirge, dort ist mein Wahlkreis. Gleich in der Nachbarschaft ist der Landkreis Karlsbad. Er hat derzeit eine 14-Tage-Inzidenz von 2 220. 2 220 Inzidenz! Am Dienstag war der Tag in Tschechien, an dem es so viele Neuinfektionen gab wie vorher in fünf Monaten der ersten Welle der Pandemie. Tschechien, das direkt an uns grenzt, ist derzeit das Land auf der Welt mit der höchsten Infektionsrate.
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In Tschechien wird derzeit diskutiert, ob man die Industrie nicht herunterfahren sollte, damit man das Infektionsgeschehen in den Griff bekommt. Teile des Landes sind schon jetzt abgeriegelt, zum Beispiel das Grenzgebiet, woher ich komme, das an uns grenzt. Tschechien hat das selber abgegrenzt. Sie sagen: Wir wollen die Bewegungsfreiheit dort eingrenzen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. – Dieses Land hat den Notstand ausgerufen. Dieses Land steuert derzeit in die vierte Welle hinein, die den Bürgerinnen und Bürgern dort wahnsinnig Angst macht. Das ist die Realität.
Tschechien hat zu Beginn der Pandemie wahnsinnig viel richtig gemacht, unter anderem die Grenze zu Deutschland geschlossen. Damit hatten die Tschechen die Pandemie relativ gut im Griff. Sie haben seit dem Sommer vieles falsch gemacht. Sie haben zum Beispiel das gemacht, was uns die FDP im Sommer auch vorgeschlagen hat, nämlich die Pandemie für beendet erklärt. Ein fataler Fehler, der sich bitter gerächt hat.
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Aus dem Negativbeispiel Tschechien kann man sehr gut lernen, was man nicht tun sollte, zum Beispiel die Pandemie für beendet zu erklären.
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Das hat einen Jo-Jo-Effekt ausgelöst: immer mal schließen, wieder aufmachen. Im Dezember hat man dann gesagt: Jetzt machen wir die Skigebiete auf. – Also, man hat eine wunderschöne Schaukelbewegung reingekriegt mit einem immer weiteren Ansteigen der Infektionszahlen. Und man hat es leider geschafft, dass die britische Mutation aus Tschechien zu uns eingewandert ist. Das sind auch keine Einzelfälle; das gehört zur Wahrheit dazu. Wenn man sich die zehn Landkreise in Deutschland mit der höchsten Inzidenz anschaut, dann muss man sich doch fragen, wieso sechs davon an der tschechischen Grenze liegen. Da muss es doch wohl einen Zusammenhang geben, der nicht aus der Luft gegriffen sein kann. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Die Beschränkung der Einreise schmerzt uns alle. Aber sie ist unvermeidlich und notwendig. Tschechien muss von sich aus die Lage in den Griff bekommen. Wir dürfen uns nicht von Tschechien oder Tirol anstecken lassen; das ist im Interesse unserer Bürger. Es ist im Übrigen auch im Interesse unserer Unternehmer; denn ohne die Grenzschließung wäre die Ladenöffnung bei uns in unerreichbare Ferne gerückt.
Ich möchte noch eine Bitte der Bundesregierung mit auf den Weg geben. Wir haben viele – in dem Fall tschechische – Arbeitnehmer, die eigentlich in Kurzarbeit sein müssten. Wir müssen für diese Beschäftigten Regelungen finden, damit sie in dieser Pandemie ein Auskommen haben. Das liegt mir am Herzen. Da muss man beim Thema Kurzarbeit noch einmal nachsteuern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt gilt: Tschechien und Tirol sind am Zug, Herr Kollege Strasser, nicht die Bundesregierung. Diese Länder müssen die Pandemie in den Griff bekommen. Wir können jetzt nicht leichtfertig die Erfolge verspielen, die wir uns in den letzten Wochen mühsam erarbeitet haben. Die Grenzkontrollen sind nur so lange nötig, wie die Lage nicht im Griff ist.
Ich freue mich über jeden Tag, an dem es keine Grenzkontrollen gibt. Aber jetzt haben es Tschechien und Tirol in der Hand, wie lange die Grenzschließungen dauern werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Krauß. – Wie erwartet hat die FDP-Fraktion eine Kurzintervention für den Kollegen Kuhle beantragt, der ich stattgebe. – Herr Kollege Kuhle, Sie haben das Wort.
Lieber Kollege Krauß, Sie haben gerade ausgeführt, die FDP habe im vergangenen Jahr hier beantragt, die Pandemie für beendet zu erklären. Wenn wir uns hier über Grenzkontrollen und über parlamentarische Kontrolle in der Coronakrise und insgesamt über diese ganze Geschichte unterhalten, dann muss man fachlich schon im Thema sein; sonst reden wir hier permanent aneinander vorbei.
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Die FDP hat weder hier noch irgendwo anders irgendwann einen so absurden Antrag gestellt, die Pandemie für beendet zu erklären; das kann man überhaupt nicht beantragen oder erklären. Die FDP hat lediglich hier im Deutschen Bundestag darauf gedrungen, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite beendet wird, als die Voraussetzungen nicht mehr vorlagen. Die Voraussetzungen der epidemischen Lage lagen im Frühjahr 2020 vor, sie liegen jetzt vor; aber sie lagen in den Sommermonaten – im August, im Juli, im Juni – nicht vor.
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Wir müssen verhindern, dass es bei der Übertragung besonderer Rechte von diesem Parlament auf die Regierung zu einem Gewöhnungseffekt kommt. Genau das haben wir erlebt, nämlich dass im Gesundheitsausschuss und hier im Plenum die Parteien der Großen Koalition unter großem Applaus der Grünen gesagt haben: Nein, wer weiß, vielleicht brauchen wir diese epidemische Lage noch. – Genau dieser Gewöhnungseffekt darf sich im Sinne eines Schutzes der parlamentarischen Rechte nicht einstellen.
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Die epidemische Lage kann für zwei Monate erklärt werden, sie kann für drei Monate erklärt werden, sie kann befristet erklärt werden. Aber hören Sie auf, hier ausgerechnet als Parlamentarier solche Unwahrheiten zu verbreiten.
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Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen! Danke schön, Herr Kuhle. Sie können gerne stehen bleiben. – Jetzt kommen Sie, Herr Krauß, wenn Sie wollen.
Mich wundert, Herr Kollege, wie schwach das Gedächtnis bei der FDP im Hinblick darauf ausgeprägt ist, was Sie hier im Sommer beantragt haben.
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Aber das Ganze hat ja zum Glück auch eine Drucksachennummer, um es einmal ganz deutlich zu sagen.
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Wenn Sie die epidemische Lage von nationaler Tragweite für beendet erklären wollen, dann heißt das: Sie sind der Ansicht, dass die Pandemie vorbei ist.
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Diesen fatalen Fehler haben wir zum Glück nicht gemacht.
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Schauen Sie sich bitte an: Die Tschechen haben genau den Fehler gemacht, den Sie vorgeschlagen haben; sie haben es für beendet erklärt, sie sind leichtfertig geworden. Damit ist das Infektionsniveau gestiegen.
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Das, was Sie vorgeschlagen haben, hat Tschechien gemacht, und dort ist man damit bitter auf die Schnauze gefallen.
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Vielen herzlichen Dank. – Als nächster Redner für die AfD-Fraktion hat das Wort Martin Hess.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Am 7. Oktober 2015 sagte die Bundeskanzlerin bei „Anne Will“: „Sie können die Grenze nicht schließen.“ So begründete sie, dass ein Aufhalten von Millionen sogenannter Flüchtlinge an unseren Grenzen nicht möglich sei.
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Die Bundespolizei hat durch die derzeit an der Grenze zu Tschechien, der Slowakei und Österreich durchgeführten Kontrollen zweifelsfrei bewiesen, was jeder mit gesundem Menschenverstand sowieso schon immer wusste und auch die FDP in ihrem Antrag einräumt: dass nämlich effektiver Grenzschutz sehr wohl möglich ist.
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Die Bundeskanzlerin hat den Bürgern damit nachweislich die Unwahrheit gesagt, und die AfD hatte 2015 recht: Unsere Grenze kann und muss auch geschützt werden.
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Die Bundesregierung schützt die Grenzen aber offenbar nur, wenn es in ihre eigene Agenda passt, etwa um die Ausbreitung eines Virus einzudämmen. Wenn es jedoch darum geht, die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung vor Schwerkriminellen, Gewaltverbrechern und Terroristen zu schützen,
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die ohne oder mit gefälschten Papieren über sichere EU-Staaten als Asylsuchende illegal hier einreisen, dann soll der Grenzschutz plötzlich unmöglich sein? Schluss mit diesen Lügen! Schützen Sie endlich die Bürger vor illegaler Migration und den verheerenden Folgen für unser Land!
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Zwischen 2015 und 2019 haben Asylzuwanderer über 1,3 Millionen Straftaten begangen, darunter 317 000 Rohheitsdelikte, 80 000 schwere und gefährliche Körperverletzungen, 22 000 Sexualstraftaten und 1 872 Tötungsdelikte. All diese Straftaten hätten nie begangen werden können, wenn die Bundesregierung die Grenzen effektiv geschützt und illegale Migranten konsequent zurückgewiesen hätte. Man muss es immer wieder mit aller Deutlichkeit sagen: Für all die Opfer dieser Taten trägt die Bundesregierung durch die Politik der offenen Grenzen die Verantwortung.
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Es gab in unserem Land bisher 13 islamistische Terroranschläge. 50 Prozent der Täter waren Asylzuwanderer. 13 weitere islamistische Anschläge haben unsere Sicherheitsbehörden in den letzten fünf Jahren verhindert. Die Anzahl islamistischer Gefährder ist seit 2014 um 268 Prozent gestiegen.
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Ein einziger tunesischer Terrorist hätte mit seiner Rizinbombe 13 500 Menschen ermorden können. Hören Sie also endlich auf, die Sicherheitsinteressen der deutschen Bevölkerung zu missachten! Grenzen dicht für solche terroristischen Massenmörder!
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Sogar jetzt noch, wo der Grenzübertritt für EU-Bürger monatelang verboten ist, wo Lieferanten abgewiesen und sogar Paare am Wiedersehen gehindert werden,
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können illegale Migranten mit dem Zauberwort „Asyl“ hier einreisen. Die eigenen Bürger sperrt man ein, aber Armutsmigranten ohne Asylanspruch lässt man durch ganz Europa reisen. Mit dieser irrwitzigen Grenzpolitik verhöhnt die Bundesregierung unsere Bürger. Dafür sollten Sie sich schämen.
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Über 100 000 Asylerstanträge wurden 2020 bei uns gestellt, mehr als die Hälfte ohne gültige Identitätspapiere. Dem gegenüber stehen nur 10 000 Abschiebungen. 17 000 Abschiebungen wurden vor dem Vollzug abgebrochen. Wer abgeschoben wird, kann aber sowieso wieder sofort zurück, weil Asylsuchende ja ohne Papiere über die Grenze gelassen werden. Mit Ihrer Politik der offenen Grenzen laufen alle Abschiebebemühungen direkt ins Leere. Beenden Sie endlich diesen sicherheitspolitischen Irrsinn!
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Was für den Schutz vor einem Virus möglich ist, muss erst recht für den Schutz vor Terroristen, Extremisten und Gewaltverbrechern gelten. Wir wissen ja jetzt: Die Horrorszenarien, die Sie an die Wand malten, als wir 2017 umfassende Grenzkontrollen forderten, waren bloße Schauermärchen. Effektiver Grenzschutz ist machbar, ohne dass der Handel oder die Wirtschaft zusammenbricht. Deshalb müssten wir jetzt genau das Gegenteil von dem tun, was die FDP in ihrem Antrag fordert: Wir müssen die Grenzkontrollen, inklusive konsequenter Zurückweisung illegaler Migranten, dauerhaft einführen und ausweiten; denn die Sicherheit unserer Bürger muss auch und gerade beim Schutz vor Terroristen und Gewaltverbrechern an allererster Stelle stehen.
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– Das war kein „Hass“, das waren Fakten, verehrte Kollegin.
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Die Wahrheit tut weh.
Ihre Redezeit ist zu Ende. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Susanne Mittag.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen einmal ganz einfach wieder zum Thema zurück.
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– Ruhe dahinten!
Zu Beginn: Die deutsche Sozialdemokratie steht zu offenen Grenzen in Europa. Wir alle haben lang genug dafür gekämpft, gestritten und gerungen, und wir werden das auch nie und nimmer aufgeben.
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Gerade Deutschland, im Herzen Europas gelegen – es ist der Staat mit den meisten Nachbarländern; das gibt es sonst nirgendwo in Europa –, hat ein ganz besonderes Verhältnis zu seinen Grenzgebieten, ein ausgeprägtes Interesse an offenen Grenzen, so wie die meisten, denke ich, hier im Plenum. Dies hat nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern ist auch ein Teil unseres tagtäglichen Lebens – in Grenzregionen und im ganzen Land. Gerade die Kolleginnen und Kollegen aus grenznahen Gebieten wissen, was ich damit meine: Da ist man, so wie ich, zum Beispiel schneller in Groningen als in Berlin oder München.
Im Jahr 2021 – wie auch schon im letzten Jahr und einige Jahre zuvor – ist es zum Glück ganz normal, dass die Arbeitskollegen, Freunde oder Familienangehörige jeweils auf der anderen Seite von nationalstaatlichen Grenzen leben. Was vor Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wäre, ist heute Lebensrealität von Tausenden von Menschen in unserem Land. Ausnahmslos in jedem Grenzgebiet in unserem Land sind Ortschaften, an denen eine Staatsgrenze zu normalen Zeiten überhaupt nicht mehr wahrnehmbar ist, wo man gemeinsam Tür an Tür lebt, eine Gemeinschaft ist – gerade aus unserer historischen Verantwortung heraus eine echte Errungenschaft, die wir nie wieder aufgeben werden.
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Umso bitterer und schmerzhafter sind die jetzigen temporären und lokal begrenzten Grenzkontrollen. Wir schauen der Realität ins Auge, und wir leben nicht in normalen Zeiten, aber wir wollen natürlich möglichst schnell wieder zurück dorthin.
Die einzelnen und breiten Maßnahmenbündel zur Bekämpfung der Pandemie – und ein Weg daraus – sind in der Vergangenheit und auch in dieser Sitzungswoche mehrfach hier debattiert, diskutiert, angesprochen und beschlossen worden. Zu diesen Maßnahmen – länderseitig, nicht vonseiten des Bundes – gehören nun einmal auch die vorübergehenden Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Österreich. Hintergrund ist die von den hochansteckenden Mutanten des Coronavirus ausgehende Gefahr.
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Wir müssen verhindern, dass die verschiedenen Varianten sich noch schneller und massiver in Deutschland ausbreiten. Das Bundesland Tirol ist schon seit dem vergangenen Spätsommer Risikogebiet, und jetzt ist es auch noch Virusvariantengebiet. Ähnlich in Tschechien: erst Risikogebiet, dann im Januar Hochinzidenzgebiet und jetzt dazu auch noch Virusvariantengebiet. Im Übrigen: Tschechien, wie erwähnt, hat es im Sommer andersherum genauso gemacht. Das ist eine brandgefährliche Lage und eine Gefahr, die wir einfach nicht ignorieren dürfen.
Die FDP spricht in ihrem Antrag nun von „Willkür“. Politische Willkür wären fehlende sachliche Gründe. Liebe Kollegen, Inzidenzwerte von fast 700 wie in Tschechien in Verbindung mit dem Wissen, dass die Virusmutante in dem Land weit verbreitet ist, ist ein sachlicher Grund und keine Willkür.
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An anderer Stelle kritisieren Sie, dass die Kontrollen keine konkret definierten Zeiträume umfassen. Das trifft so nicht zu. Das Innenministerium hat Start- und Zeitpunkte der lokal begrenzten Kontrollen genannt. Auch mit der jetzigen Verlängerung um eine Woche kommt das Innenministerium der erforderlichen zeitlichen Begrenzung nach. Alle Maßnahmen, auch hier im Parlament, unterliegen einer zeitlichen Begrenzung, und es braucht immer wieder eine Neubewertung von konkreten einzelnen Infektionsherden, Ursachen und die Abwägung von Maßnahmen auf ihre Geeignetheit, und das gilt eben auch für Grenzkontrollen.
Vollkommen klar ist uns natürlich, dass die Beschränkungen des Grenzverkehrs nie das erste Mittel sein sollten. Das ist es hier auch nicht. Auch in den konkreten Fällen an der österreichischen und tschechischen Grenze waren sie es nicht. Die oberste Priorität dabei ist immer noch ein zwischen den Ländern abgestimmtes Verfahren. Als Beispiel sehen wir das auf der anderen Seite zurzeit mit Frankreich. Es soll an keiner Grenze zu harten Grenzschließungen kommen, sondern zielgerichtete Konzepte geben mit dem über allem stehenden Ziel, Lokalisierung und Ursachen von Infektionsherden zu analysieren und die Ausbreitung des Virus zu stoppen, zumindest zu verlangsamen; denn übers Stoppen sind wir schon hinaus. Deutschland beschließt hierbei keine Maßnahmen in anderen Ländern, weder in Tirol noch in Tschechien, genauso wenig wie die bei uns Maßnahmen beschließen.
Die zweifelsfreie Identifikation als Mutationsgebiet haben Bayern und Sachsen dazu veranlasst, um temporäre stationäre Grenzkontrollen zu bitten. Um Grenzschließungen handelt es sich nicht, wie übrigens oft erzählt wird. Es sind Einschränkungen. Es sind Kontrollen mit klar definierten Ausnahmen. Diese reichen von familiären über wirtschaftliche bis zu medizinischen Aspekten. Bei mehr als 120 000 Kontrollen gab es um die 20 000 Zurückweisungen. Das wird schon einen Grund gehabt haben. Das befürchtete und im Antrag der FDP beschriebene große tagelange Verkehrschaos mit kilometerweiten Staus ist ausgeblieben. Das ist auch ein Verdienst der Bundespolizei,
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die an den stationären Grenzkontrollen hervorragende Arbeit macht.
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Das ist ein Anlass für uns, sich für die kräftezehrende und teils immer noch gefährliche Arbeit der Beamtinnen und Beamten vor Ort zu bedanken.
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Diese unterschiedlichen Einsätze der Polizei aus Anlass dieser weltweiten Pandemie ist ja mittlerweile zum Alltagsgeschäft geworden: Demonstrationen ohne Abstand – zurzeit ein bisschen weniger –, uneinsichtige und oft gewalttätige Zeitgenossen oder eben Grenzkontrollen in oder im Umfeld von Hochinzidenzgebieten. Herzlichen Dank dafür! Ich sehe große Zustimmung.
Aber wenn wir dann schon bei der Anerkennung – jetzt schaue ich einmal in Richtung Regierungsbank – von Arbeit und Gefahren sind, wäre es doch das Mindeste, wenn der Beamte bei einer Covid-Erkrankung nicht mehr nachweisen müsste, welcher Mitbürger anlässlich dieses Einsatzes diese Erkrankung bei Demos oder unübersichtlichen Lagen verursacht hat. Hier ist es die Verantwortung des Innenministeriums, im Sinne der Beamten zu handeln, und das nennt man laut Beamtenrecht Fürsorgepflicht.
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Frau Kollegin, Sie haben auch eine Verantwortung.
Ja. – Wir warten auf eine dienstrechtlich sichere und praktikable Lösung und kein pauschales „Geht nicht“. Und wie Sie es vermutlich schon geahnt haben: Wir lehnen den Antrag der FDP ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Ulla Jelpke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP will sicherstellen lassen, dass es keine langfristigen Grenzkontrollen in der EU gibt. Wir sagen: Es soll auch keine kurzfristigen Kontrollen geben.
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Es heißt, wir bräuchten diese Kontrollen dringend, um die Virusmutation aufzuhalten. Diese Mutation ist aber erstmals vor vier Monaten festgestellt worden. Kollegin Sonntag,
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man hätte also Zeit genug gehabt, sich darauf einzustellen. Man hätte Zeit gehabt für Absprachen im Rahmen der EU und für die Entwicklung einer Teststrategie. Aber nichts dergleichen hat die Bundesregierung getan. Sie hat einfach nur abgewartet und dann plötzlich Hals über Kopf die Grenzen zu Tirol und Tschechien dichtgemacht, ohne Absprache mit der EU und offensichtlich auch ohne Absprache mit den Nachbarstaaten.
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Wieder einmal erleben wir das Versagen der Bundesregierung, dessen Konsequenzen die Bürger und Bürgerinnen auszubaden haben. Wieso sind denn nicht schon längst andere Möglichkeiten erwogen worden, zum Beispiel Massentests von Pendlern bei ihren Arbeitgebern oder Teststationen an den Grenzen? Denn viel besser, als 20 000 Menschen an der Grenze zurückzuweisen – so viele waren es bisher –, ist es doch, 20 000 Schnelltests anzubieten.
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Aber damit ist diese Regierung völlig überfordert.
Natürlich geben Schnelltests keine hundertprozentige Sicherheit. Aber ich sage Ihnen: Grenzbarrieren bieten noch viel weniger Sicherheit, und sie haben auch einen viel höheren Preis; denn mit diesem konzeptlosen, hektischen Aktionismus verärgern Sie nicht nur die EU und die Nachbarstaaten, Sie unterminieren nicht nur die Freizügigkeit, sondern Sie verwechseln den Schutz der Bevölkerung mit Ihrer sinnlosen Reglementierung.
Zehntausende Pendler wurden fast über Nacht ausgesperrt, Hunderte von Betrieben lahmgelegt. Nicht weniger schlimm ist, dass jetzt schon wieder binationale Familien sich nicht besuchen oder auch Liebende, mit oder ohne Trauschein, nicht zusammenkommen dürfen. Das ist doch echt ein Skandal.
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Und all das, obwohl es bis heute keinen Beweis dafür gibt, dass Grenzschließungen im letzten Frühjahr überhaupt irgendetwas gebracht haben.
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Ich habe jedenfalls keine Evaluierung gesehen.
Ihre Politik hilft den Menschen nicht, sondern sie frustriert sie. Ja, wir brauchen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie. Das ist aber nicht mit der Schließung der Grenzen zu machen. Wir brauchen ausreichend Schnelltests, und dass sie nicht da sind, ist wirklich ein Armutszeugnis der Bundesregierung.
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Vielen Dank, Ulla Jelpke. Sie haben, glaube ich, Frau Mittag angesprochen und nicht Frau Sonntag.
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Ich will es nur fürs Protokoll haben.
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– Na ja, wer sehnt sich denn nicht nach Sonntag?
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– Danke schön, Herr Wendt. Hach!
Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! In der Pandemie müssen Grenzkontrollen, Eingriffe in die Freizügigkeit durch den Infektionsschutz begründet, epidemiologisch sinnvoll und vor allem gut koordiniert sein. „Ja, was auch sonst“, könnte man sich da fragen.
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Aber genau deswegen ist die Begründung der Bundesregierung für das, was sich aktuell an den Grenzen zu Österreich und Tschechien abspielt, ja auch so interessant; denn die Lage in diesen beiden Ländern ist nicht wesentlich anders als zum Beispiel in Frankreich an den Grenzen zu Rheinland-Pfalz und dem Saarland.
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Und doch gibt es zu Frankreich keine Grenzkontrollen, was die Bundeskanzlerin gestern beim EU-Gipfel auch ausdrücklich ausgeschlossen hat, zu Österreich und Tschechien aber schon.
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Den Grund dafür hat sie auch gleich genannt: Denn anders als Rheinland-Pfalz und Saarland, hätten Bayern und Sachsen ausdrücklich um Grenzkontrollen gebeten.
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Meine Damen und Herren, ich finde das unerhört! Pandemiebekämpfung ist doch kein Wünsch-dir-was einzelner Staatskanzleien,
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sondern muss sich daran orientieren, was im Sinne des Infektionsschutzes, Herr Wendt, wichtig ist und was auch nach Abwägung der Rechtsgüter möglich ist. Also entweder ist es angesichts der Situation in diesen Ländern sinnvoll, oder es ist nicht sinnvoll. Aber dann darf man auch nicht mit zweierlei Maß messen.
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Man kann doch mit der europäischen Freizügigkeit nicht umgehen, wie es einem gerade passt. Da ist es auch kein Wunder, dass die Europäische Kommission die Bundesregierung dafür kritisiert hat. Dabei hätte die Bundesregierung nach rund einem Jahr Pandemie und dem ständigen Ringen um die richtigen Konzepte da viel weiter sein können. Genau das ist das Problem. Seit rund einem Jahr liegt das Bundesinnenministerium im Tiefschlaf und verfällt in Aktionismus, wenn es daraus irgendwann einmal aufwacht.
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Das ist aber nicht der Weg, die Pandemie zu bekämpfen. Wir brauchen dringend mehr Problembewusstsein, Verlässlichkeit, langfristige Planungen, eine gute Koordination und vor allen Dingen keine nationalen Alleingänge.
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Wir Grüne haben bereits vor fast einem Jahr hier im Haus einen Antrag vorgelegt, mit dem wir ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Pandemie einfordern und konkrete Vorschläge machen, wie wir zusammen mit unseren Nachbarn wirksamere Maßnahmen ergreifen können. Das wäre übrigens einmal eine Aufgabe für die EU-Ratspräsidentschaft gewesen.
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Ein wirklich wichtiger Punkt, der auch schon angesprochen wurde, ist die Reisefreiheit von Familien und von unverheirateten binationalen Paaren. „Love is not tourism“, meine Damen und Herren. Es ist nicht zu verstehen, dass die mühsam errungenen Verbesserungen, die es im Januar schon gab, mit einem Schlag wieder über den Haufen geworfen wurden. Die Einreisemöglichkeit aus Drittstaaten darf nicht vom Trauschein abhängen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen stets problembewusst sein, um die Ausbreitung des Virus wirksam zu verhindern. Das sage ich auch in Richtung der FDP. Wir brauchen weiterhin wirksame Maßnahmen. Aber ohne eine bessere internationale Zusammenarbeit wird es nicht funktionieren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Der nächste Redner: der freundliche Marian Wendt.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin, aber Debatten sind doch fast lebhafter und freudiger, wenn man auf ein solches Blumenrevers wie das Ihre schaut.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir – leider – zum Ernst der Debatte zurück. Frau Mihalic,
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ich kann es ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, dass man sachlich und fachlich gut begründete Einreisebeschränkungen, die wir als Freistaat gefordert haben, so drastisch zurückweist. Wir haben mit dem Nachbarstaat Tschechien eine Region mit dem höchsten Inzidenz- und Infektionsgeschehen weltweit. Solche Einreisebeschränkungen und die Forderungen danach sind kein Wunschkonzert; vielmehr sind sie eine praktische Notwendigkeit. Es ist gut, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern gehandelt hat.
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Die Inzidenzen liegen im vierstelligen Bereich. In den Städten an der tschechisch-bayerischen Grenze wird die Triage durchgeführt. Das System ist überlastet. Deswegen ist es richtig, dass wir Einreisebeschränkungen – wir schließen keine Grenzen, wir führen Einreisebeschränkungen durch – an den EU-Binnengrenzen durchführen. Das ist notwendig, angemessen und verhältnismäßig.
Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch das ist eine Ausnahmesituation. Die Unionsfraktion, die Union insgesamt und Helmut Kohl als größter Europäer, wir stehen für offene Grenzen. Wir wollen ein freies Europa, aber es muss dort, wo notwendig, kontrolliert werden. Die Maßnahmen, die wir aufgrund des Pandemiegeschehens vornehmen, müssen auch effizient vollzogen werden. Deswegen sind wir bei Ihnen: keine dauerhafte Einrichtung, aber Kontrolle dort, wo sie notwendig ist.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Brantner?
Gerne.
Herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade die Situation in Tschechien beschrieben. Selbst wenn man nach einer Analyse zu dem Ergebnis kommt, dass man stärkere Einreisebeschränkungen braucht: Warum macht man sie nicht in Absprache mit den betroffenen Ländern? Warum macht man das nicht mit Tschechien und Österreich zusammen? Warum macht man es im nationalen Alleingang?
Eine zweite Frage. Sie haben gesagt: Es gibt nur Beschränkungen. – Die sind ja noch härter als im Frühjahr. Meine Kollegin hat es gerade gesagt: Unverheiratete Paare dürfen aus Mutationsgebieten gar nicht mehr einreisen, bei den verheirateten Paaren ist es so, dass sie nur gemeinsam einreisen dürfen. Das heißt, die tschechische Partnerin, verheiratet, darf nicht einmal alleine einreisen. Da gehen jetzt die Partner nach Tschechien, um gemeinsam einreisen zu können.
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Das ist verrückt. Das macht mit Blick auf das Infektionsgeschehen gar keinen Sinn. Können Sie mir vielleicht erklären, wie das infektionsgeschehensmäßig begründet sein soll, dass die nur gemeinsam Hand in Hand über die Grenze reisen dürfen, selbst Ehepartner, selbst Verheiratete? Wie begründen Sie das?
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Herr Wendt, bitte.
Zu Ihrer ersten Frage, Frau Brantner. Wir haben vor knapp zwei Wochen, es war ein Samstag, um null Uhr, die Kontrollen an der tschechischen Grenze in Kraft gesetzt. Bereits fünf Tage vorher hatte die Bundesregierung Gespräche mit den tschechischen Behörden darüber geführt, dass es passieren kann, dass solche Maßnahmen greifen.
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Es gab dazu entsprechende Vorbereitungen auf bundespolizeilicher Ebene. Darüber hinaus haben wir das Thema hier im Bundestag angesprochen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher besteht keine Notwendigkeit, einen diplomatischen Affront herbeizurufen. Darüber hinaus darf ich darauf hinweisen, dass wir mit dem Staat Österreich bereits länger Grenzkontrollen durchführen. Österreich selber führt bereits seit Monaten Einreisekontrollen durch, unten an der A 8 zum Beispiel und auch an der A 93 in Kufstein. Das ist also nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Wer das behauptet, trägt falsche Tatsachen vor.
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Zu Ihrer zweiten Frage. Es geht uns um ein berechtigtes Interesse, einreisen zu dürfen. Ich stand selber vor einer Woche in Breitenau an der Grenze und habe mir angeschaut, wie das Ganze vollzogen wird. Wer dort ein berechtigtes Interesse hat – dazu zählen Familienzusammenführungen und Familienbesuche –, wird hereingelassen, wenn er die notwendigen Voraussetzungen mit sich bringt. Das hakt an der einen oder anderen Stelle noch, weil die Bescheinigungen fehlen. Es gibt aber eine Übergangsfrist, und die Bundespolizei ist sehr großzügig. Es kann dort einzelne Probleme geben, aber wenn es zu Tausenden Fälle gäbe, dass deutsch-tschechische Paare nicht zueinanderfinden könnten, dann hätten wir das schon längst gehört.
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Es geht um die Verhältnismäßigkeit. Wir müssen uns fragen: Wie viele Menschen sind davon betroffen, und wie viele schütze ich mit diesen Maßnahmen? Diese Verhältnismäßigkeit ist gegeben. Die Maßnahmen werden durchgeführt. Und natürlich haben auch wir nach dem Motto „Love is not tourism“ gehandelt und werden das auch weiterhin tun. Die Probleme werden im Alltag konkret gelöst. Da können Sie sich auf uns als Unionsfraktion verlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Jetzt geht es in der Rede weiter.
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Doch. Es geht ja auch nicht um einen schnellen Klatscheffekt, sondern um Tatsachen und darum, dass Dinge ordentlich vonstattengehen.
Es ist gut – das soll an dieser Stelle erwähnt werden –, dass die Bundespolizei gemeinsam mit dem Technischen Hilfswerk vor Ort die Grenzen effektiv und zügig kontrolliert, dass die Maßnahmen so gesteuert werden, dass sie zu wenig Verkehrsbelastungen führen und dass vor allem das Ehren- und das Hauptamt von THW und die Bundespolizei Hand in Hand arbeiten. Das möchte ich als Präsident der THW Bundesvereinigung hier ausdrücklich betonen und allen Helferinnen und Helfern und allen eingesetzten Beamten vor Ort für ihren Einsatz danken.
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Es ist nämlich so, dass die Maßnahmen an einem Tag in Kraft gesetzt wurden, an dem bis zu minus 18 Grad herrschten. Der Verkehr hatte sich kurzfristig angestaut, aber den Menschen, den Familien wurde geholfen. Hier wird ordentlich kontrolliert. Ich glaube, das tut der Sicherheitslage im Land richtig gut, dass die Sicherheitsbehörden gut miteinander funktionieren.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der die Grenzpendler, die Fachkräfte und auch die Saisonarbeiter betrifft. Dass die Maßnahmen unumgänglich sind, ist klar. Es stellt sich auch die Frage der Systemrelevanz. Ich möchte dahin gehend appellieren, dass wir uns in den nächsten Wochen – so lange müssen wir davon ausgehen, dass die Lage an der Grenze zu Tschechien bestehen bleibt – noch enger zwischen den Freistaaten Bayern und Sachsen und der Bundesregierung abstimmen, um einheitliche Ausnahmegenehmigungen zu bekommen, um einheitliche Standards zu erreichen, sodass keine großen Systemunterschiede bestehen. Denn das Schlimmste wäre, wenn durch großzügige Ausnahmen in dem einen Bundesland die Maßnahmen in dem anderen ausgehöhlt werden. Dazu darf es nicht kommen. Deswegen wäre es wichtig und hilfreich, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen gemeinsame Standards beschließen und die Frage der Systemrelevanz klären, damit eine Einreisemöglichkeit besteht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage ist schwierig. Das haben wir heute erörtert. Wir als Unionsfraktion werden dafür arbeiten – das auch in Kooperation mit unseren Nachbarstaaten, wir helfen als Bundesrepublik bereits unseren Freunden in Tschechien –, dass wir die pandemische Lage schnellstens für beendet erklären können, dass die Situation stabiler wird und dass wir alle in Europa so bald wie möglich frei reisen können. Ich glaube, wir alle freuen uns auf ein schönes Bier in Prag oder ein schönes Schnitzel in Wien. Ich tue das auf jeden Fall. Wenn es so weit ist, reisen wir gemeinsam dorthin.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Vielen Dank, Marian Wendt. – Ja, das war eine Einladung – das habe ich auch so empfunden – zum Schnitzel und Bier. Gut, bitte im Protokoll festhalten: Marian Wendt hat uns eingeladen.
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Ja, davon kommen Sie jetzt nicht mehr weg. Dumm gelaufen!
Letzte Rednerin in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Emmi Zeulner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja keine Innenpolitikerin, sondern Gesundheitspolitikerin; aber es wundert mich schon, wenn der Kollege von der AfD davon spricht, dass er dauerhaft tatsächlich die Grenzen schließen möchte.
(Martin Hess [AfD]: Ich habe von Kontrollen gesprochen, nicht von Schließungen!
– Doch, dauerhaft; davon haben Sie gesprochen.
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– Kontrollen sind keine Schließungen, ganz genau, vollkommen richtig.
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Ich würde Ihnen gerne empfehlen, sich mal bei den Unternehmen vor Ort umzuhören; die sind nämlich ganz massiv betroffen von jeglicher Einschränkung. Deswegen müssen wir darüber diskutieren.
Die Maßnahmen müssen auch immer verhältnismäßig sein. In Oberfranken beispielsweise sind Unternehmen, die tschechische Mitarbeiter haben, und zwar rund 4 500; für die würden dauerhafte Grenzkontrollen, wie Sie sie fordern, tatsächlich massive Einschnitte bedeuten. Deswegen finde ich es schon sehr, sehr schwierig, wenn Sie da pauschal Dinge miteinander vermischen und tatsächlich nicht auf das Thema eingehen, zu dem die FDP zu Recht einen Antrag vorgelegt hat – es ist ein wichtiges Thema; wir haben da unterschiedliche Meinungen –; das finde ich einfach schade, und das möchte ich hier ganz konkret ansprechen.
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Grundsätzlich gilt, wenn wir über Grenzkontrollen diskutieren, dass immer eine Abwägung vorgenommen werden muss, ob wir diese durchführen oder nicht. Eine Abwägung wird hier zwischen Gesundheitsschutz und Freizügigkeit vorgenommen.
Das ist das, was ich kritisch anmerken muss, Kollegen von der FDP: In Ihrem Antrag wird mit keinem Wort angesprochen, warum wir in bestimmten Regionen Kontrollen an der Grenze eingeführt haben: weil wir eben auch den Gesundheitsschutz der Bevölkerung im Blick haben.
Es gibt eben keine Pauschalfestlegungen. Der Grenzübergang zu Polen ist zum Beispiel anders geregelt als der zu Tschechien; denn es wird auch hier geschaut, dass die Abwägung regionsangepasst erfolgt, was auch sinnvoll ist.
Die Abwägung, welche Maßnahmen getroffen werden, muss, wie gesagt, permanent vorgenommen werden, um der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen; darum geht es nämlich. Wenn eine Gefahr abnimmt, werden die Maßnahmen selbstverständlich gelockert bzw. sind nicht mehr nötig.
Es ärgert mich, wenn die Kollegen der FDP so tun, als wären die Grenzkontrollen antieuropäisch. Das Gegenteil ist der Fall. Es wäre doch antieuropäisch, wenn wir den Gesundheitsschutz an der nationalen Grenze enden lassen würden.
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Aufgabe des Staates ist es aber, praktikable Regelungen der Kontrollen zu organisieren, und das haben wir meiner Meinung nach, anders als in Ihrem Antrag dargestellt, auch tatsächlich getan. Zum einen gilt für Grenzpendler, dass der schlichte Nachweis eines negativen Testergebnisses, das nicht älter als 48 Stunden sein darf, und eine Systemrelevanzbescheinigung vorzulegen ist. Entscheidend ist hier natürlich der niedrigschwellige Zugang. Deswegen ist es selbstverständlich, dass sich tschechische Arbeitnehmer beispielsweise auch in Bayern testen lassen können, kostenfrei, und dass wir, was die Systemrelevanz betrifft, die Landratsämter miteinbeziehen, die regionalspezifisch vorgehen können.
In diesem Sinne glaube ich, dass wir immer abwägen müssen. Wenn es bei dem Thema der binationalen Paare Schwierigkeiten gibt, dann haben wir hier mit unserem Staatssekretär Krings jemanden, der hervorragend ist und sich dieses Themas mit Sicherheit annehmen wird. Es gilt wirklich immer, die Verhältnismäßigkeit abzuwägen, und das tun wir als Union – im Sinne des Gesundheitsschutzes, aber natürlich auch mit Blick auf unsere Unternehmer und die Arbeitnehmer, die bei uns dringend benötigt werden.
Vielen Dank.
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Danke. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Man sagt, wenn ein Mensch stirbt, ist es, als würde eine ganze Bibliothek in Flammen aufgehen. Ich weiß nun, dass ich nur wenige der geheimen Bücher meines Vaters gelesen habe, bevor das Feuer sie verschlang …
Diese Worte stammen aus dem ebenso erschütternden wie lehrreichen Roman „Alle, außer mir“, in dem Francesca Melandri mit der verdrängten Geschichte eines Familienvaters die verdrängte Kolonialgeschichte Italiens erzählt.
Verdrängt und vergessen war das blutige Erbe der Kolonialzeit lange – viel zu lange! – auch hier in Deutschland.
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Doch es bleibt unsere moralische Verantwortung, Unrecht und Ungerechtigkeit ans Licht zu holen und unsere koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht zuletzt auch kulturpolitisch.
Dazu hat sich die Bundesregierung mit dem Koalitionsvertrag klipp und klar bekannt; dafür habe ich bei der BKM ein eigenes Referat zur Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und einen eigenen Haushaltstitel eingerichtet, auch um zu zeigen, dass wir erst am Beginn stehen, dass es um eine nachhaltige, um eine lange Aufgabe geht.
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Ich bin froh, dass wir uns über die Bedeutung dieses Themas über fast alle Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Anträge, die wir heute beraten, nehme ich gerne zum Anlass, hier über einige der bisherigen Aktivitäten zu unterrichten. In den „Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ haben Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände 2019 bereits Ziele und Schwerpunkte festgelegt. Für die Umsetzung haben wir gemeinsam eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Provenienzforschung, Digitalisierung und Restitution: Das sind ihre zentralen Handlungsfelder, übrigens immer unter Beteiligung der Herkunftsstaaten oder Herkunftsgesellschaften.
Darüber hinaus habe ich Mittel bereitgestellt, damit das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg künftig – und das tun sie seit zwei Jahren – Provenienzforschung zu Sammlungsgut eben auch aus kolonialen Kontexten fördern kann. 2020 hat außerdem die „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“ ihre Arbeit aufgenommen – eine ganz wichtige Einrichtung, damit Menschen aus den Herkunftsgesellschaften wissen, an wen sie sich im schwierigen Geflecht des deutschen Föderalismus wenden müssen, wenn sie Auskunft benötigen.
Voraussetzung kulturpolitischer Aufarbeitung ist, dass alle Museen ihre Bestände erforschen, und zwar proaktiv, nicht erst bei Rückführungsersuchen. Wir brauchen hier nämlich möglichst große Transparenz. Deshalb hat der Deutsche Museumsbund mit Unterstützung aus dem Kulturetat einen Leitfaden zum Umgang mit diesen Sammlungsgütern erstellt und gerade in der vergangenen Woche der Öffentlichkeit eine Aktualisierung zur Verfügung gestellt.
Auch zahlreiche von der BKM geförderte Einrichtungen, zum Beispiel das Deutsche Historische Museum, tragen natürlich schon lange zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit bei. Die Kulturstiftung des Bundes arbeitet dabei mit verschiedenen und, wie ich finde, wirklich beeindruckenden zivilgesellschaftlichen Initiativen zusammen. Auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz stellt sich in zahlreichen Projekten ihrer historischen Verantwortung, unterstützt, besonders bei der Provenienzforschung, von vielen auch aus den Herkunftsstaaten.
Für die Digitalisierung von Sammlungsgut haben wir 2020 mit Ländern und Kommunen eine eigene Strategie erarbeitet, die einen zentralen Zugang zu einschlägigen Beständen aus deutschen Museen und Einrichtungen vorsieht. Derzeit werden Einrichtungen für die Pilotphase ausgewählt. Und – das ist jetzt neu – für den Ausbau der Deutschen Digitalen Bibliothek, die hier die Umsetzung übernimmt, stehen bei der BKM bis zu 1,4 Millionen Euro für 2021/22 zur Verfügung. Damit übernimmt die BKM übrigens auch, damit es jetzt schnell geht, den Länderanteil, was nicht unbedingt Schule machen soll, aber hier der Bedeutung der Sache geschuldet ist.
Voran geht es auch beim Handlungsschwerpunkt Restitution. Das DHM hat die Rückgabe der Cape-Cross-Säule beschlossen – das haben Sie alle mitbekommen – und vorbereitet; sie ist nicht mehr in Deutschland. Die SPK hat darüber hinaus gerade ein großes Forschungsprojekt zu menschlichen Überresten in Ostafrika abgeschlossen und wird Rückführungen mit den Herkunftsländern besprechen. Auf unseren BKM-Vorschlag hin bereitet die Bund-Länder-AG eine deutschlandweite Abfrage zu menschlichen Überresten vor, damit wir sie in angemessener und sensibler Weise auch zurückführen können.
Auch im Humboldt Forum wird die Aufarbeitung des Kolonialismus natürlich eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle spielen. Das wird manchmal enggeführt. Die Dauerausstellung wird aber in enger Kooperation – auch hier – mit sehr vielen Herkunftsgesellschaften erarbeitet. Sie konnten das am Tag der offenen Tür erleben. Sämtliche in der Sammlung des Ethnologischen Museums befindlichen Benin-Bronzen – auch die spielen da immer eine zentrale, weil sehr symbolträchtige Rolle – sind mittlerweile digital erfasst und veröffentlicht. Mögliche Kooperationen bis hin zu Rückführungen werden im partnerschaftlichen Dialog mit der nigerianischen Seite besprochen, unter anderem – das wissen Sie – in der Benin Dialogue Group.
Francesca Melandri, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat bei den Recherchen für ihren eingangs zitierten Roman über die koloniale Vergangenheit noch mit hochbetagten Zeitzeugen sprechen können. Sie schreibt:
Als ich jung war
– sagte ihr einer von ihnen –
habe ich gegen dein Volk gekämpft, und heute kommst du zu mir nach Hause, um mir zuzuhören. Welch ein Glückstag! Nächsten Sonntag nach der Messe werde ich allen davon erzählen.
Meine Hoffnung ist, dass Aufklärung und Aufarbeitung, größtmögliche Transparenz bei Beständen aus kolonialen Kontexten und Offenheit gegenüber möglichen Rückführungen – auch bei uns in Deutschland bitte – den Weg bereiten für das Glück dieser Verständigung und der Versöhnung mit den Nachkommen der von Deutschen unterdrückten und ihrer kulturellen Schätze beraubten Menschen. Dafür werde ich mich weiterhin starkmachen. Ich danke allen, die uns dabei unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Monika Grütters. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Marc Jongen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die deutsche Kolonialzeit, eine einzige bisher verdrängte Verbrechensgeschichte.
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Dieses Fazit drängt sich auf, wenn man die vorliegenden Anträge der Altparteien liest. Es herrscht unter Ihnen ein regelrechter Überbietungswettbewerb in nationaler Selbstbezichtigung und im Ruf nach umfassender Aufarbeitung. Gefordert werden unter anderem eine Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Kolonialverbrechen, eine Stiftung, die sich diesen Verbrechen widmet, die Überprüfung aller Bundesministerien auf Nachwirkungen kolonialrassistischer Denkmuster, ein nachdrücklicher Mentalitätswandel in deutschen Museen in Bezug auf die kolonialen Sammlungen, und das heißt wohl, wie wir es eben gehört haben, umfassende Restitution, usw. usf.
Um den sachgemäßen Umgang mit den Museumsbeständen geht es dabei am allerwenigsten. Diese sind nur der Anlass für ein großes Umerziehungsprojekt der deutschen und europäischen Gesellschaft,
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die, wie es der Linken-Antrag ausdrückt, „rassistisch sozialisiert“ sei.
Gemäß der Ideologie des Postkolonialismus sind die „Gesellschaftsstrukturen, Lebensrealitäten, Kunst und Kultur“, alles bis in die Sprache hinein geradezu durchseucht von kolonialen Kontinuitäten und müssen davon mit deutscher Gründlichkeit gereinigt werden. Wie das aussehen könnte, konnte man jüngst an einer Mitarbeiterschulung des Coca-Cola-Konzerns in den USA beobachten mit dem Titel: Be less white – sei weniger weiß. Die Mitarbeiter wurden aufgefordert, weniger arrogant und selbstsicher zu sein. Sie sollten bescheidener sein und zuhören und mit weißer Solidarität brechen.
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Es fehlte nur noch die Anordnung, den Arbeitstag mit zehn Minuten Selbstgeißelung zu beginnen als Sühne für die Kolonialverbrechen der Vorfahren. Das ist nichts anderes als antiweißer Rassismus, dem auch Ihre Anträge implizit frönen, meine Damen und Herren.
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Das Ganze ist natürlich höchst interessant als psychopolitisches Phänomen. Wie kommt so viel kultureller Selbsthass zustande? Wie entstehen und wem nützen derartige Selbstbezichtigungsmechanismen? Ihre Anträge, werte Altparteien, führen mustergültig vor, was die Migrationsforscherin Sandra Kostner identitätslinke Läuterungspropaganda genannt hat. Diese legt fest, „wer Ansprüche an die Gesellschaft stellen darf“ und – vor allem – „wer diese zu erfüllen hat“. Die gebildete weiße Mittelschicht muss sich jetzt als privilegiertes Täterkollektiv bezeichnen lassen und verliert an moralischem Prestige gegenüber den angeblich unterdrückten Minderheiten, sprich: den Opfern. Sie kann aber – und das ist das Entscheidende – diesen Prestigeverlust überkompensieren, indem sie sich in Bußritualen übt und sich scheinbar selbstlos für die ehemaligen Opfergruppen einsetzt. So entstehen „Opferentrepreneure“, um noch mal Sandra Kostner zu zitieren, die von den nur scheinbar unterwürfigen Schuldbewirtschaftern als solche erst kollektiv definiert werden. Beide gemeinsam partizipieren an einer politischen Macht, die sich vom hypermoralischen Ross herab auf Kosten der Mehrheitsgesellschaft entfaltet. Ich sage das vor allem in Richtung der CDU, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob Sie dieses Spiel verstanden haben.
Und in Richtung der linken Hälfte dieses Hauses sage ich: Sie können uns weiter hier mit Ihren Krokodilstränen und Ihrer Betroffenheitsrhetorik traktieren. Seien Sie versichert, dass wir Ihr Spiel durchschaut haben und die Machtinteressen hinter Ihrem Versuch der moralischen Nötigung erkennen.
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Unser vorliegender Antrag – ich komme zum Schluss – fordert einen Stopp der Rückgabe von kolonialem Sammlungsgut bis auf wenige wohlbegründete Ausnahmefälle. Menschliche Überreste – Frau Grütters, keine Frage –, auch symbolisch wichtige Objekte für das jeweilige Land, hierüber kann man sprechen. Aber generell fordern wir einen Stopp, und zwar nicht weil es in der Kolonialzeit keine Verbrechen gegeben hätte – die hat es sehr wohl gegeben –, sondern weil unsere Museen heute Rechtssicherheit brauchen
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und weil es diese musealen Objekte nicht verdient haben, als Faustpfand identitätslinker Machtpolitik missbraucht zu werden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helge Lindh.
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Uff!
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich erst mal von der Rede eben erholen. Das gelingt mir aber, wie immer. – Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin, ohne mit der Firma irgendwie verbunden zu sein, ein Abhängiger von Cola Zero und bekenne mich dazu. Aber nach der heutigen Information bin ich ein noch größerer Cola-Fan; denn diese Coca-Cola-Schulung ist wie für Sie gemacht.
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Gut, dass Sie sie beschrieben haben. Herzlichen Glückwunsch an Coca-Cola! Eine weise Entscheidung: eine Weiterbildung für die AfD.
Zum Zweiten muss ich angesichts Ihrer Rede feststellen, dass das Deutsche Kaiserreich sich keine bessere Legitimation der Kolonialpolitik hätte vorstellen können als Ihre.
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Also ex post ist es Ihnen gelungen, eine mustergültige Grundlegung der deutschen Kolonialpolitik zu liefern. Das muss man auch erst mal schaffen.
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Dann haben Sie ernsthaft gesagt, Sie leugneten ja nicht, dass es diese Verbrechen gegeben hätte, aber man müsse Rechtssicherheit für die deutschen Museen schaffen. – Ich hoffe, Sie haben auch über die Folgen nachgedacht. Wenn also infolge von Verbrechen Artefakte, menschliche Überreste usw. in Museen sind, ist die Rechtssicherheit für das deutsche Museum wichtiger als die Form der Wiedergutmachung,
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die ja nie eine Wiedergutmachung sein kann. Das ist Rechtsverständnis und Moral à la AfD. Herzlichen Glückwunsch!
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Was ist Kolonialismus aber tatsächlich? Zum einen das, was die AfD soeben vorgeführt hat. Das zeigt auch, dass dieses Denken bis heute weiterwirkt.
Was Kolonialismus im Kern ist, zeigt die Geschichte von Sussy Dakaro. Auf einem Friedhof in Wuppertal-Sonnborn gibt es einen Gedenkstein, gewidmet ebenjener Sussy Dakaro, die mit 17 Jahren als gebürtige First Australian im Wuppertaler Zoo an Tuberkulose gestorben ist. Sie war Teil einer Völkerschau und wurde den Besuchern des Zoos vorgeführt, nachdem sie selbiges auch in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten erlebt hatte. Ihr Name war nicht Sussy Dakaro; er wurde ihr von der Dominanzgesellschaft und denjenigen, die sie da vorführten, verliehen. Wir wissen bis heute nicht, wie sie wirklich hieß. Wir wissen nicht mal, ob sich an der Stelle, an der heute dieser Gedenkstein steht, tatsächlich ihre Gebeine befinden. Wir können bis zum heutigen Tag nicht sagen, ob diese repatriiert werden können, wie es bei ihrem ebenfalls an Krankheit verstorbenen Mann im Jahr 1993 möglich war.
Dieses Beispiel zeigt, denke ich, als ganz einfaches Beispiel, worum es wirklich geht: um einen Menschen, dem die Identität genommen wurde, dem der Name genommen wurde, der gezwungen wurde, in einem fremden Land zu leben, der dort wie ein Tier vorgeführt wurde, dem auch noch Knochen durch die Nase oder die Ohren gezogen wurden, um damit ein Bild des Fremden zu kreieren, an dem sich dann die deutschen Besucherinnen und Besucher belustigten. Das Ganze lief dann unter dem Titel – ich zitiere –: „Bumerang werfende australische Kannibalen“. Darüber reden wir beim Thema Kolonialismus, und ich denke, daraus wird auch der Auftrag, dem wir gerecht werden müssen, deutlich.
Wie gehen wir damit um? Ein Beispiel und ein wichtiger Schritt scheint mir zu sein – das war jetzt sichtbar auf einer Konferenz „Shared History“; dafür danke ich auch ausdrücklich Staatsministerin Müntefering –, dass wir konsequent die Beteiligung und die Rolle deutscher Behörden aufklären, und das nicht einfach selbst, sondern von Beginn an zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Globalen Südens, und das in Stipendienprogramme umsetzen. Das ist ganz konkreter, verantwortungsbewusster und notwendiger Umgang.
Darüber hinaus scheint mir wichtig zu sein, dass wir – auch wieder kooperativ – Schulbücher erstellen, die deutlich machen, was wirklich geschah, die dieser Sussy Dakaro, die gar nicht Sussy Dakaro hieß, und vielen, vielen anderen Raum und Platz geben und Erinnerung schaffen.
Wir machen es durch Kooperationsprojekte, dadurch – und das ist erst ein Anfang –, dass beispielsweise das Goethe-Institut und die Gerda Henkel Stiftung entsprechende Projekte starten, und dies immer wieder nach dem Grundsatz der Zusammenarbeit; denn Täter und Opfer sind schrecklicherweise geeint, aber – das ist auch unser Ausgangspunkt – in einer shared History, in einer geteilten Geschichte.
Die einzige Antwort aus meiner Sicht, aus unserer Sicht kann sein, dass wir als Deutsche hier tatsächlich Kontrolle abgeben, dass wir diesen Kontrollverlust bewusst eingehen, dass wir jetzt nicht noch im Versuch der Aufarbeitung sagen, wie die Rolle ist,
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und dass wir nicht behaupten, das Deutsche Museum und dessen Bedingungen oder die Art und Weise, wie wir uns vorstellen, dass mit Artefakten und Gebeinen umgegangen werden muss, seien das Entscheidende. Nein, das ist nicht unser Recht; das ist die Rolle derjenigen aus den Herkunftsgesellschaften, derjenigen, die hier in der Diaspora leben. Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende.
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Es geht um Fragen der Rückgabe, der Transparenz, der Digitalisierung, aber auch das bitte immer im Schulterschluss mit den Betroffenen; denn es gibt zum Beispiel australische Bevölkerungsgruppen, die nicht wollen, dass Artefakte, dass andere Objekte, auch Zoologika, vorgeführt werden. Also muss man sich auch da immer rückkoppeln.
Zum Zweiten geht es darum – das muss man aussprechen; wie wichtig das ist, hat Herr Jongen gerade vorgeführt –, dass wir auch über Rassismus und die tiefe Verknüpfung mit dem Kolonialismus sprechen und das nicht als separate Debatten begreifen. Also gehören in den Mittelpunkt unserer Debatte auch „Black Lives Matter“ und die ganze Aufarbeitung des Rassismus bis in die heutigen Strukturen hinein.
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Das Dritte, was wir brauchen, ist der Prozess; ich deutete es eben schon an. Es reicht nicht, dass wir die Debatte in Feuilletons führen; es reicht auch nicht, das hier über Anträge zu machen. Es ist dringend notwendig, dass wir das operativ umsetzen. Aber wir brauchen auch neue Räume der Begegnung, in denen diese Wunden offen angesprochen werden. Es nützt nichts, die Schmerzen zu betäuben: Die Schmerzen müssen sichtbar gemacht werden.
Gerade in solchen Räumen – und wir haben alle Möglichkeiten, über Bürgerbeteiligung, über Formen der Foren bis in die Städte hinein – muss diese Geschichte sichtbar gemacht werden. Und da müssen diejenigen, die diesen Schmerz empfinden und die heutzutage genau diesen Schmerz von Sussy Dakaro spüren – die nicht irgendwie, wie Sie behaupten, –
Herr Kollege.
– verquaste Ideen der Identitätspolitik haben, sondern die daran leiden –, die Räume bekommen, ihr Schicksal, ihr Empfinden deutlich zu machen, –
Herr Kollege Lindh.
– und wir müssen zuhören. Das ist unser Auftrag, nichts anderes.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hartmut Ebbing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider können wir nichts, was geschehen ist, rückgängig machen. Wir können nur aus der Geschichte lernen und versuchen, aus heutiger Sicht fair und gerecht nach Lösungen zu suchen. Dies trifft für die Enteignungen aus der NS-Zeit wie auch für die aus der deutschen Kolonialzeit zu. Weder ist eine Beweislastumkehr fair und gerecht, noch führt eine ungefragte Rückgabe bei Gütern, deren Herkunft nicht eindeutig geklärt werden kann, zu Gerechtigkeit. Diese Art von Beweislastumkehr ist unter anderem deshalb bedenklich, weil in den meisten Fällen nicht klar ist, an wen Objekte zurückgegeben werden sollen; denn die Herkunftsgesellschaften existieren heutzutage oftmals gar nicht mehr.
Bei ansonsten wirklich guten Ideen der Grünen, aber auch der Linken müssen wir diese Anträge leider ablehnen. Die AfD hingegen leugnet geschehenes Unrecht und ist völlig unwillig, einen versöhnlichen Vergleich zwischen Deutschland und den Herkunftsgesellschaften herbeizuführen.
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Dies ist für die FDP absolut nicht hinnehmbar.
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Stattdessen fordern wir in unserem eigenen Antrag zunächst eine breit gefächerte Erforschung der deutschen Museen mit einer gleichzeitig durchgeführten Digitalisierung. Konkret heißt das im ersten Schritt, einen einfachen und zentralen Zugang zu bereits vorhandenen digitalen Sammlungen zu ermöglichen, und zweitens eine schnelle Erfassung von noch nicht digital erfasstem Sammlungsgut nicht nur aus kolonialen Kontexten unter einheitlichen Standards. Ob hierbei die Deutsche Digitale Bibliothek wirklich ein hilfreicher Partner ist, bezweifle ich. Wir brauchen ein wirklich leistungsfähiges mehrsprachiges und nutzerfreundliches Portal. Hier muss unter anderem ein Abgleich mit dreidimensionalen Objekten auf KI-Basis möglich sein. Man muss so was nicht neu erfinden.
Bei eindeutigen Fällen fordern wir entweder eine Rückgabe der Gegenstände oder die Erarbeitung einer Lösung zusammen mit den Herkunftsgesellschaften. Nicht immer will man die Gegenstände zurückhaben, sondern würde viel lieber hier bei uns in Deutschland eine Geschichte rund um den Gegenstand erzählt wissen.
In Streitfällen schlagen wir eine Ethikkommission vor, die entscheidet, ob und vor allen Dingen an wen ein Objekt zurückgegeben werden soll. Diese muss natürlich auch mit Vertretern der Herkunftsländer besetzt werden. Klar ist aber auch, dass wir nur dann restituieren, wenn die Herkunftsstaaten die Prinzipien der UNESCO-Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes anerkennen und zeitgleich, analog zur Haager Konvention, nicht in Regionen andauernder Kriege oder Konflikte liegen.
Das Wichtigste ist jedoch, dass wir nicht in eine Art Neokolonialismus verfallen und einfach einseitig Regeln festsetzen. Es ist essenziell, dass wir gemeinsam mit den Herkunftsgesellschaften faire und gerechte Lösungen auf Augenhöhe finden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Hartmut Ebbing. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Brigitte Freihold.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Linke begrüßt die Bemühungen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. Wir sehen in der Aufarbeitung des deutschen kolonialen Unrechts eine gesamtgesellschaftliche, über die Restitution des geraubten Sammlungsgutes hinausgehende Aufgabe, die effiziente Instrumente der Aufarbeitung benötigt.
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So fordern wir die Einrichtung einer unabhängigen Bundesstiftung, die sich der Aufarbeitung des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen widmet, weshalb die Teilhabe der Nachkommen unabdingbar ist.
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Der Stiftungsrat muss mindestens paritätisch mit internationalen Expertinnen und Experten und Nachkommen der Kolonisierten besetzt werden. Darüber hinaus muss ein unabhängiges Forschungsinstitut mit der Aufarbeitung des Kolonialismus beauftragt werden.
Restitution ist die Konsequenz von Verbrechen und muss deshalb verrechtlicht werden. Wir brauchen ein umfassendes Restitutionsgesetz mit verbindlichen Regeln für Museen und auch für private Sammler.
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Eine „Unabhängige Kommission“ ist nötig, die ähnlich der „Beratenden Kommission“ bei NS-Raubgut, bei Streit- und Verdachtsfällen als Mediationsstelle fungiert. Bis heute haben nicht alle Museen und Einrichtungen mit der Inventarisierung und Digitalisierung ihrer Bestände begonnen – auch eine Folge davon, dass die Bundesregierung in der Vergangenheit aktiv vor Provenienzrecherchen gewarnt hat, wie bei der Anhörung am 3. April 2019 deutlich wurde. Die BKM bewegt sich lieber auf dem roten Teppich als bei dem Thema „Rückgabe, Entschädigung und Entschuldigung für das deutsche Kolonialunrecht“. In unserem weiteren Antrag auf Bundestagsdrucksache 19/9340 fordern wir deshalb eine Beweislastumkehr: Gutgläubiger Erwerb muss grundsätzlich ausgeschlossen werden, wenn rechtmäßiger Erwerb oder Besitz oder rechtmäßiges Eigentum nicht lückenlos und zweifelsfrei nachweisbar sind.
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Der Kulturgüterraub, der von europäischen Staaten, darunter Deutschland, begangen wurde, war durch kolonialrassistische Zuschreibungen und Stereotype legitimiert, die bis heute nachwirken. Der gewaltsame Tod von Oury Jalloh im Dessauer Polizeigewahrsam steht symbolisch für die Leerstellen fehlender Aufarbeitung. Auch deshalb wollen wir den Begriff „Rasse“ aus Artikel 3 des Grundgesetzes streichen.
Das Unrechtssystem der Kolonialherrschaft hat die kolonisierten Gesellschaften und unsere Gesellschaft tiefgreifend geprägt und deformiert. Anhaltender Rassismus und mangelnde erinnerungspolitische Aufarbeitung in der Bildung sind die Folge. Sensibilisierung für Rassismus in allen Ausprägungen muss verpflichtend in der Aus- und Fortbildung der Polizei werden. Die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und seiner Kontinuitäten muss angemessen in der bildungspolitischen Gedenkstättenarbeit berücksichtigt werden.
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Nachkommen der Versklavten und Kolonisierten müssen als Partner/-innen der Gedenkstättenarbeit gestärkt werden. Schließlich müssen ein zentrales Mahnmal sowie weitere dezentrale Gedenkstätten für die Opfer von Kolonialismus, Versklavung und Rassismus als Lernorte errichtet werden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Brigitte Freihold. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Kirsten Kappert-Gonther.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen Rassismus verlernen. Die Morde von Hanau, rassistische Übergriffe, struktureller Rassismus: Das dürfen wir niemals akzeptieren.
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Darum brauchen wir auch die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes.
In Gesprächen auch hier im Parlament – wir haben es heute gerade schon wieder gesehen –, begegnen uns immer noch Argumente, die zeigen, dass zur Aufarbeitung des kolonialen Unrechts noch sehr viel zu tun ist. „Das ist doch schon alles so lang her. Was hat denn das mit uns zu tun?“: Diese Haltung ist immer noch – leider – sehr weit verbreitet.
Tradierte Behauptungen von Ungleichwertigkeit begründeten die ökonomische und kulturelle Ausbeutung kolonialisierter Gebiete und von Menschen, und sie wirken als Rassismus bis heute fort. Rassismus wird geradezu befördert durch die Heroisierung von Kolonialverbrechern im öffentlichen Raum, durch Straßennamen, durch Denkmäler. Wer das nicht erkennt, sollte mal die Perspektive wechseln.
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Es ist gut, dass sich der Black History Month auch in Deutschland etabliert, um einen Raum für marginalisierte Erfahrungen zu schaffen. Doch kritische Aufarbeitung und Rassismuskritik dürfen nicht allein den Betroffenen zugeschoben werden. Sie sind unser aller Aufgabe.
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„Wir tun doch schon so viel“, hören wir von der Bundesregierung auch heute wieder. Die Realität sieht leider wie folgt aus: Die Eröffnung des Humboldt-Forums wurde aufgrund Ihres Festhaltens an der Ausstellung der Benin-Bronzen und anderer Beutekunst zum Debakel. Die Anzahl der an die Herkunftsgesellschaften zurückgeführten Kulturgüter und menschlicher Gebeine ist gemessen an dem, was hierzulande immer noch lagert, minimal. Und absolut überfällig ist eine angemessene Bitte um Entschuldigung für den Genozid an den Herero und Nama.
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Ist also die Aufarbeitung des Kolonialismus zum Scheitern verurteilt? Keineswegs, wenn wir ernsthaft bereit sind zur Demut, zur Erweiterung unseres Blickwinkels und dazu, Deutungshoheit abzugeben. Wir brauchen eine zentrale Stelle des Erinnerns und Lernens hier in der Bundeshauptstadt, hier, an dem Ort der Afrika-Konferenz, deren Ende sich gerade zum 136. Mal jährt. Wir brauchen einen Ort des Nachdenkens und des Vorausdenkens, einen Ort, der sich mit den kolonialen Verbrechen und mit dem Widerstand dagegen beschäftigt, der als zentraler Referenzpunkt funktioniert für die dezentralen Initiativen, die es an vielen Orten schon gibt.
Ein gutes Beispiel, wie Denkorte funktionieren können, ist das Antikolonialdenkmal „Der Elefant“ in Bremen, dessen Umwidmung seit vielen Jahren von einem ehrenamtlichen Verein getragen und in Kooperation mit Namibia gestaltet und gelebt wird. Es kann also gelingen, dass wir uns unserer Geschichte stellen, die kritische Aufarbeitung voranbringen und somit einen Beitrag dazu leisten, Rassismus endlich zu überwinden.
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Dafür, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es einen klaren politischen Willen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Danke schön.
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Vielen Dank, Dr. Kirsten Kappert-Gonther. – Letzter Redner in dieser Debatte und in dieser Sitzungswoche: Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Irgendwann zwischen etwa 1500 und 1920 geriet die Mehrzahl der Räume und Völker der Erde unter die zumindest nominelle Kontrolle von Europäern: ganz Amerika, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und – berücksichtigt man auch die russische Kolonisation Sibiriens – der größere Teil des asiatischen Kontinents. Die koloniale Wirklichkeit war … vielgestaltig, widerspenstig gegenüber anmaßenden imperialen Strategien, geprägt von den lokalen Besonderheiten der Verhältnisse …, von den Absichten und Möglichkeiten der einzelnen Kolonialmächte, von großen Tendenzen im internationalen System. Kolonialismus muß von all diesen Aspekten her gesehen werden, gerade auch aus der Warte der … Betroffenen an Ort und Stelle.
So steht es zu lesen in dem Buch „Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen“ von Jürgen Osterhammel und Jan C. Jansen.
Dieser hier beschriebenen Komplexität dessen, worüber wir heute sprechen, wird aber bei uns doch schon Rechnung getragen. Wir sprechen jetzt zum dritten Mal im Plenum zu dem Thema. Vor allem der Ruf nach gesetzlichen Regelungen ist dabei lauter geworden. Dabei wissen wir doch spätestens seit der Diskussion um ein Restitutionsgesetz im Zusammenhang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern, um die Schwierigkeiten rund um zivilrechtliche Fragen wie Verjährungsfristen, Beweislastumkehr etc.
Rückführungen von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten scheitern nicht an mangelnden gesetzlichen Regelungen. Auch hebt eine gesetzliche Regelung weder die hier vielerwähnte eurozentrische oder eurozentristische Sichtweise noch postkoloniale Denkmuster auf.
Wer am Dienstag die Pressekonferenz des Deutschen Museumsbundes zur finalen Fassung des „Leitfadens Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ aufmerksam verfolgt hat, der weiß außerdem, dass in vielen Fällen der Museumspraxis Rückgabeersuchen gar nicht an der allerersten Stelle stehen. Oftmals geht es den Herkunftsgesellschaften vielmehr um Aufklärung, um Anerkennung, um Dialog, an dessen Ende dann auch Rückführungen stehen.
Ich wiederhole mich nicht nur in der Verwendung der Worte von Professor Raphael Gross, der sagt, dass zur historischen Urteilskraft die Fähigkeit gehört, sich der eigenen Wertung bewusst zu werden. Ich wiederhole mich auch darin, zu sagen, dass doch genau das passiert: Unser Bewusstsein im Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit verändert sich. Es stimmt ja, dass wir uns noch bis in die 2000er-Jahre hinein wenig bis gar nicht mit diesem Teil unserer Geschichte auseinandergesetzt haben. Es stimmt aber eben nicht, dass wir es immer noch nicht tun.
Vieles zeigt doch, dass sich der Umgang schon deutlich gewandelt hat: die bisherigen einzelfallbezogenen Rückführungen wie die der Wappensäule von Cape Cross oder die Rückführung menschlicher Überreste durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der bereits erwähnte, nun finale Leitfaden für Museen und Sammlungen, die „Ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, die entsprechende zur Umsetzung gehörende Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Drei-Wege-Digitalisierungsstrategie, die bei der Kulturstiftung der Länder angesiedelte Kontaktstelle als zentrale Anlaufstelle für Fragen rund um das Thema und der gestiegene Etat für die Provenienzforschung.
Gleichbedeutend wiegt die Entwicklung an den Universitäten. Die wachsende Zahl von Studiengängen zu Provenienzforschung oder Postcolonial Studies spricht doch für das steigende Interesse junger Menschen, das Thema Kolonialismus und deutsche Kolonialvergangenheit auch wissenschaftlich zu erforschen. Ausstellungen nicht nur in den ethnologischen und historischen Museen, sondern über alle Sparten und auch Kultureinrichtungen hinweg sprechen für die Aktualität und das Interesse am Thema. Das ist doch der Dialog, den wir wollen und der auch gut anläuft.
Wichtig ist – und damit schlage ich den Bogen zum eingangs erwähnten Zitat –, diese gesellschaftliche Entwicklung vor allem auch in Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften sowie den internationalen Dialog stärker zu fördern.
Vielen Dank.
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