Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Die Europäische Union steht vor einer Weggabelung. Wir haben einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung geschaffen. Beides hat uns dabei geholfen, gut durch die Krisen zu kommen, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Und jetzt müssen wir entscheiden, wie es weitergehen soll. Denn eine starke Europäische Union ist das, was wir brauchen, um auch gegen die gegenwärtige Krise anzugehen, und wo wir gemeinsam handeln müssen. Eine starke Europäische Union ist für uns das wichtigste nationale Anliegen, das Deutschland hat.
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Die Coronakrise zeigt auch: Wir können nur gemeinsam handeln und nur gemeinsam erfolgreich sein. Deshalb ist der Eigenmittelbeschluss, um den es heute hier geht, und das, was damit verbunden ist, ein ganz wichtiger Schritt nach vorne: weil er ein Zeichen dafür ist, dass Europa in der Lage ist, gemeinsam zu handeln.
Was noch wichtiger ist: Wir sind in dieser Situation auch auf dem richtigen Weg; denn wir vollenden etwas, was uns über viele, viele Jahre als Problem erschienen ist. Immer wieder, wenn über Europa – den gemeinsamen Markt, die gemeinsame Währung – diskutiert worden ist, ist es so gewesen, dass wir in diesen Situationen beklagt haben, dass es keine Fiskalunion gibt und Europa gewissermaßen in dieser Hinsicht unvollendet ist. Jetzt, in dieser Krise, sind wir den Schritt gegangen, den wir gehen müssen, um in eine Fiskalunion hineinkommen zu können.
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Das ist mit diesen Beschlüssen, um die es heute geht, auch verbunden.
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Denn das muss man so verstehen: Wir werden, um eine starke Antwort auf die Krise geben zu können, jetzt als Union Kredite aufnehmen. Wir werden – auch das gehört dazu – diese Kredite einsetzen, um den Staaten Europas zu helfen, durch die Krise zu kommen. Das bedeutet, dass wir jetzt finanzieren, was notwendig ist, zum Beispiel einen Wiederaufbau in den verschiedenen Ländern Europas, und zwar ganz besonders dort, wo das besonders notwendig ist. Das ist europäische Solidarität, und die wird mit diesen Beschlüssen auch organisiert.
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Zu den Entscheidungen, die wir hier treffen, gehört im Übrigen auch, dass wir eine klare Perspektive für den Wiederaufbau haben. Wir sagen ganz klar: Es ist notwendig, dass wir etwas für Investitionen in die Zukunft tun, in die Digitalisierung, in das Aufhalten des Klimawandels, in all die Dinge, die notwendig sind, damit Europa vorankommt. Das heißt, es wird nicht nur diese Krise bekämpft, sondern es werden auch die Grundlagen für eine bessere Zukunft in Europa gelegt.
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Wie sehr das wirkt, was wir hier gemeinsam auf den Weg bringen, kann man ganz konkret an der Frage sehen, wie sehr die Staaten Europas in der Lage sind, ihre Aufgaben jetzt zu finanzieren. Erinnern wir uns: Es hat große Probleme gegeben, die Staatsfinanzierung im Rahmen der letzten großen Krise zu organisieren, die auf den Zusammenbruch von Lehman Brothers gefolgt ist, woran sich die Staatsschuldenkrise in Europa anknüpfte. – Aber jetzt gibt es keine ernsthaften Schwierigkeiten – trotz der hohen Schulden, die gemacht werden, und der hohen Schuldenstände mancher Mitgliedstaaten –, diese Aufgaben zu finanzieren. Das ist das Ergebnis gemeinsamen europäischen Handelns und europäischer Solidarität.
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Wären wir nicht gemeinsam unterwegs, würde das heute anders sein.
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Deshalb ist Europa in dieser Krise auch mehr zusammengewachsen. Ich will sagen: Das gilt auch dann, wenn man in einer solchen Situation Kritik äußert. Wir haben zum Beispiel gesagt: Es ist nicht richtig gewesen, dass nicht mit der nötigen Energie und Forschheit gehandelt worden ist, um ausreichend Impfstoffe für Europa zu beschaffen. – Aber das spricht dafür, dass wir alles dafür tun, dass wir europäische Institutionen haben, die die Kraft haben, schnell und zügig zu handeln. Es spricht nicht gegen Europa,
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sondern es spricht dafür, Europa stark zu machen. Das tun wir mit den Beschlüssen, um die es heute geht.
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Wenn wir also jetzt diesen Weg gehen, dann gehört eben dazu, nicht nur Kredite aufzunehmen, sondern sie auch zurückzuzahlen.
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Diese Kredite zurückzuzahlen, bedeutet auch, im Rahmen dieser Periode des Mehrjährigen Finanzrahmens Europas die nächste Entscheidung zu treffen, die mit diesen Eigenmittelbeschlüssen verbunden ist, nämlich dafür zu sorgen, dass es zur Finanzierung auch europäische Einnahmen gibt, die dazu geeignet sind, „own resources“, wie es formuliert ist – das steht in all den Entscheidungen Europas dabei –, ob es nun um Einnahmen aus dem Klimahandel geht, ob es um Einnahmen geht, die etwas mit Grenzausgleichsmechanismen zu tun haben, etwa was Klimafragen betrifft, oder ob es darum geht, dass wir über Finanztransaktionen und ihre Besteuerung
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oder über die bessere Besteuerung der digitalen Konzerne sprechen. Alles das sind Entscheidungen, die mit dem, was wir heute hier verhandeln, zu tun haben. Es ist der Weg in die Fiskalunion, und es ist ein guter Weg für Europas Zukunft.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Boehringer, AfD.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf über ein neues EU-Eigenmittelsystem ist eine historische Zäsur. Minister Scholz, Sie sprachen eben von einer Weggabelung; so weit folgen wir Ihnen tatsächlich. Er markiert den letzten Schritt in eine faktische, aber illegale EU-Fiskalunion – auch das Wort haben Sie eben in den Mund genommen –,
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was alle gegenteiligen Versprechungen seit den 1990er-Jahren bricht.
Die Schuldenaufnahme der EU wird über den Naturkatastrophen-Artikel 122 AEUV begründet. Dabei wird das Geld bei Weitem nicht nur für die Bewältigung von Coronafolgen eingesetzt. Vor allem aber werden hier Artikel 310 und 311 AEUV verletzt, die seit Jahrzehnten immer als absolutes Verbot jeder EU-Verschuldung angesehen worden waren.
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Artikel 122 AEUV legitimiert ganz trivial lediglich einen klassischen finanziellen Beistand der EU gegenüber einem notleidenden Mitgliedstaat, keinesfalls eine Kreditaufnahme der EU insgesamt.
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Der EU ist gemäß ihren eigenen Verträgen somit eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben grundsätzlich verboten.
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Auch die Bundesbank sieht das übrigens so. Die Bundesbank schrieb noch 2020 – ich zitiere –: Eine Kreditaufnahme auf EU-Ebene ist in den Verträgen nicht vorgesehen. – Selbst der Rat der EU schrieb noch 2020 völlig klar: Die EU darf sich nicht durch Kredite finanzieren. – So stand es da. Doch dann wurde die Internetseite der EU am 16. Juni 2020 klammheimlich verändert, und man behauptet seitdem exakt das Gegenteil.
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Eine weitere Geschäftsgrundlage – eine wichtige Geschäftsgrundlage – des Euro war seit Maastricht 1992: Niemals eine Haftungsgemeinschaft! – Doch was wird passieren, wenn etwa Italien die neuen gemeinsamen EU-Anleihen einmal nicht tilgen kann oder will? Deutschland muss – muss! – dann gemäß Eigenmittelbeschluss Artikel 9 – das liegt vor Ihnen – auch solche ausfallenden Anteile mit übernehmen.
Die neuen EU-Kredite stellen eine radikale Änderung der europäischen Finanzverfassung dar.
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Die No-bailout-Regel des Artikels 125 AEUV hat aber Verfassungsrang. Die deutsche Regierung radikalisiert sich, wenn sie heute EU-Anleihen vorschlägt. Wo ist der Verfassungsschutz, wenn man ihn braucht?
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Formell wird der Bundestag bei „Next Generation EU“ in Form einer sogenannten begrenzten Einzelermächtigung beteiligt. Bei einer Schuldenaufnahme für das temporäre Aufbauinstrument von mindestens 750 Milliarden Euro mit Tilgung bis 2058 ist hier aber faktisch gar nichts mehr begrenzt. Eine solche Einzelermächtigung ist ein schlechter Witz und ein Dammbruch. Wenn dieser Damm einmal gebrochen ist, dann wird Brüssel immer wieder riesige begrenzte Einzelsummen zulasten deutscher Bonität aufnehmen und sie großzügig nach Südeuropa und Frankreich umverteilen. Das ginge so dann auch im Billionenbereich.
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Der heutige Vorschlag stellt ohne Übertreibung das Haushaltsrecht des Bundestags gemäß Artikel 110 Grundgesetz zur Disposition. Beim geplanten Verschuldungstempo der EU wird sehr zügig ein Schadenpotenzial von über 750 Milliarden Euro entstehen. Es ist bei solchen Volumina absurd, wenn die Regierung ernsthaft behauptet, die Haushaltshoheit künftiger Deutscher Bundestage sei durch diesen Eigenmittelbeschluss nicht tangiert. Diese Hoheit ist gemäß Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichts von 2009 ein unveräußerlicher Kernbestand unserer nationalen Souveränität.
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Gemäß dem vorliegenden Gesetz haftet Deutschland für bis zum Zehnfachen unseres offiziellen Tilgungsanteils. Faktisch könnte Deutschland mit dem vorliegenden Gesetzentwurf problemlos alleine für die gesamten Next-Generation-EU-Kredite haften. Warum diese extreme Überbesicherung? Hier werden offenbar schon heute hohe Kreditausfälle Südeuropas eingeplant, und der Bundestag soll deren Übernahme durch Deutschland implizit-materiell bereits heute mit absegnen.
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Trotz dieses gewaltigen Sicherheitspuffers ist übrigens absehbar, dass die EZB – die EZB! – einen Großteil der Anleihen auf ihr Buch nehmen wird. Das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenbank gemäß Artikel 123 AEUV ist damit auch noch tangiert und wird immer weiter ausgehöhlt.
Noch ein weiterer Rechtsbruch ist vorprogrammiert: Die EU-Wiederaufbaumittel dürften natürlich nur zur Bewältigung der Folgen von Covid-19 verwendet werden. Doch es ist ein offenes Geheimnis in Brüssel, Athen, Madrid, Rom, auch in Warschau, dass die Mittel einfach nur fließen werden und kein begünstigtes Mitgliedsland sich um Konnexität scheren muss.
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Ein Großteil der Gelder wird für andere Zwecke als Coronafolgen eingesetzt. Italien etwa – es bekommt 200 Milliarden Euro – will mit den Coronageldern den Kauf von Neuwagen finanzieren, Verbrenner übrigens. Hier spielt das heilige CO2 ausnahmsweise einmal keine Rolle.
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Die Mittel – zu über 400 Milliarden Euro sind es ja sogar Geschenke – sind längst überall verplant in den Haushalten. Es sind illegale Transferzahlungen auf Pump, allgemeine Wirtschaftshilfen.
Nicht nur rechtlich, auch haushalterisch ist der Vorschlag ein Albtraum. Die EU-Kreditaufnahme wird statistisch nirgendwo zugeordnet, nicht den nationalen Schuldenquoten, auch nicht der EU in dem Sinne. Auch das ist ein weiterer Taschenspielertrick zwecks Verschleierung. Haushalterische Klarheit ist hier nur noch eine ferne Erinnerung.
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Von den Geldgeschenken fließen übrigens nur 22 Milliarden Euro an Deutschland zurück, obwohl wir mindestens das Fünffache davon bezahlen. Die 750 Milliarden Euro Kredite für „Next Generation EU“ werden zudem nicht in den EU-Haushalt eingestellt; technisch nicht drin. Das wäre aber zwingend nach Artikel 310 und 314 AEUV. Das Programm ist damit ein unkontrollierter Schattenhaushalt.
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Fast geht unter – der Minister hat es aber erwähnt –, dass die neuen Eigenmittel nicht nur Schulden umfassen sollen, sondern etwa auch noch die Plastikabgabe – ein faktischer Einstieg in die neue Welt illegaler EU-Steuern, auch wenn der Begriff noch vermieden wurde. Als Fremdwort haben Sie ihn benutzt, Herr Minister: „Fiskalunion“ – illegal.
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Im Ergebnis wird die EU durch dieses Gesetz zunächst für drei Jahre zum extrem gut budgetierten Suprastaat. Die sich harmlos anhörende Erhöhung, die Sie demnächst mitbeschließen wollen, der Eigenmittelobergrenze um 0,8 Prozentpunkte von 1,2 auf dann 2,0 Prozent entspricht mittelfristig einer Erhöhung der deutschen EU-Haftungssumme um 67 Prozent.
Zudem soll dieser Wahnsinn auch noch dauerhaft gemacht werden.
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Die Forderungen sind ja bereits da: Eine unheilige Allianz von Christine Lagarde, EZB, George Soros und DGB-Chef Hoffmann hat ganz öffentlich gefordert, aus der EU-Verschuldung eine Dauereinrichtung zu machen.
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Fazit: Es geht hier nicht um Coronafolgen. Es geht um eine Veränderung des Charakters der EU hin zu einem hoch budgetierten Staat. Über den Umweg „EU-Verschuldung“ bekommt die EU ein indirektes, aber mächtiges Besteuerungsrecht in Form des Zugriffs auf nationale Steuerressourcen zur Tilgung ihrer Schulden durch die Mitgliedstaaten, deren Parlamente dann ab 2022 keine Mitsprache mehr haben werden über die jahrzehntelang zu tilgenden EU-Kredite. Der vorliegende Vorschlag, meine Damen und Herren, präjudiziert einen illegalen Zustand eines EU-Staats mit eigenem Megabudget. Hier wird der Boden unserer verfassungsrechtlichen Grundordnung eindeutig verlassen.
Danke schön.
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Eckhardt Rehberg, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es heute, und worum geht es heute auch nicht? Es geht heute erstens darum, dass wir über einen Eigenmittelbeschluss die Finanzierungsgrundlage für den Mehrjährigen Finanzrahmen bis 2027 legen; Umfang 1 074 Milliarden Euro. Zweitens geht es um den Eigenmittelbeschluss für den Wiederaufbaufonds; Umfang 750 Milliarden Euro, davon rund 400 Milliarden Euro Zuschuss. Insgesamt reden wir über Mittel in Höhe von über 1 500 Milliarden Euro, die wir über die nationalen Haushalte in den nächsten Jahren an Zuschüssen für die Europäische Union bereitstellen. Dazu kommen noch 300 Milliarden Euro Reste, sogenannte RAL-Mittel, die aus der letzten Förderperiode noch vorhanden sind. Insgesamt sind also bis 2027 1 800 Milliarden Euro umzusetzen – sinnvoll umzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir übertragen als Nationalstaat eine große Verantwortung auf das Europäische Parlament,
(Beatrix von Storch [AfD]: Unsere Souveränität übertragen wir!
auf die Europäische Kommission und auf den Europäischen Rechnungshof.
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Ich gehe davon aus, dass diese Verantwortung auch wahrgenommen wird. Was mir Sorgen macht, ist die Zeit, die schon ins Land gegangen ist – zwölf Monate nach Ausbrauch der Pandemie und absehbar der Abschluss des Ratifizierungsverfahrens zum Wiederaufbaufonds wahrscheinlich erst in vier bis sechs Monaten.
Die Mittelbindung der ersten 70 Prozent soll bis 2022 vorgenommen werden. Ich begrüße ausdrücklich den Wiederaufbauplan der Bundesregierung – das ist nachvollziehbar, konkret –, aber hier geht es lediglich um 17 Milliarden Euro.
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Andere Länder stehen vor ganz anderen Herausforderungen. Deswegen lege ich für uns sehr viel Wert darauf, dass die Mittel des Wiederaufbaufonds an den EU-Haushalt gebunden sind und der Kontrolle des Europäischen Parlaments, der EU-Kommission, des Rechnungshofes und einer Kaskade unterliegen. Die Vorlagen werden beim Wirtschafts- und Finanzausschuss eingereicht. Wenn es Probleme gibt, dann geht man über den Europäischen Rat, und hier herrscht das Einstimmigkeitsprinzip.
Angesichts mancher Töne, die ich in den letzten Wochen aus Südeuropa gehört habe, wofür das Geld verwendet werden soll, die ganz klare Ansage von unserer Seite: Wir werden strikt darauf achten, dass diese Mittel wirklich für die Überwindung der Krise ausgegeben werden, dass die Verwendung der Mittel konditioniert erfolgt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Herausforderung, auch für den Deutschen Bundestag. Über das EUZBBG und die anderen Mittel, die wir haben, sind wir als Deutscher Bundestag als Haushaltsgesetzgeber und wir im Haushaltsausschuss ausreichend eingebunden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Bundesfinanzminister, für uns ist Basis des Wiederaufbaufonds erstens der Artikel 122 AEUV – Ausnahmeklausel für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Ereignisse – und zweitens der Artikel 311 AEUV – Eigenmittel. Wir halten die zeitlich befristete Kreditaufnahme durch die EU für gerechtfertigt. Und – ich widerspreche Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich –: Dies ist für uns als CDU/CSU nicht der Einstieg in die Fiskalunion,
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nicht der Einstieg in eine Haftungsunion und nicht der Einstieg in eine Schuldenunion.
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Das werden wir, Herr Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD, im Wahlkampf ausfechten. Ihre Ziele, eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa, eine Haftungsunion, können Sie demnächst mit einer Linkskoalition durchsetzen, aber nicht mit der CDU/CSU im Deutschen Bundestag.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, man muss, finde ich, wenn man als Bundesfinanzminister spricht, für die komplette Bundesregierung sprechen.
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Und ich sage noch mal ausdrücklich für die Unionsfraktion: Für uns ist der Eigenmittelbeschluss für den Wiederaufbaufonds und für den Mehrjährigen Finanzrahmen nicht der Einstieg in die Fiskalunion.
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Das ist eine ganz klare Ansage von uns an dieser Stelle.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Boehringer hat das Thema ja ausführlich ausgewalzt. Warum 2 Prozent? Herr Kollege Boehringer, Sie haben hier den falschen Eindruck erweckt, dass die Kreditermächtigung größer ist als 750 Milliarden Euro. Nein, sie ist nicht größer. Eine Überdeckung erfolgt deswegen, damit sich der Wiederaufbaufonds zu günstigen Konditionen refinanzieren kann; und je günstiger die Konditionen sind, desto geringer sind die Tilgungslasten, die Zinslasten der einzelnen Nationalstaaten. Und auch hier gilt: Falls einzelne Staaten wollen, dass Änderungen vorgenommen werden, gilt das Einstimmigkeitsprinzip.
Die FDP hat jetzt einen Änderungsantrag eingebracht.
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– Einen Gesetzentwurf. – Lieber Otto Fricke, wirklich?
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Wollen wir die nationale Attitüde pflegen oder sie uns herausnehmen? Wollen wir alle anderen 26 Wiederaufbaupläne, teilweise mehrere Hundert Seiten lang, bewerten und, wenn wir meinen, dass sie nach unserem Gusto nicht in Ordnung sind, dann den Mechanismus in Gang setzen und unserem Vertreter im Wirtschafts- und Finanzausschuss das Petitum geben, dass er ablehnen muss?
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Wollen wir das im Haushaltsausschuss wirklich? Und Ihr Gesetzentwurf geht ja noch weiter. Sie wollen alle halbe Jahre alle 26 Pläne im Haushaltsausschuss durcharbeiten.
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Ich habe mal überschlagen: Das sind über 100 Vorlagen, jede Vorlage mehrere Hundert Seiten stark, die wir dann abarbeiten müssten. Ich hoffe, dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP die mehreren Hundert Seiten alle durchlesen, damit sie zu einem Votum kommen.
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Ich halte das für nicht angemessen, für nicht angebracht. Sie machen einfach ein Bohei und tun so, als ob. Das bringt überhaupt nichts.
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Wir werden einen Antrag einbringen, der die Rechte des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages noch mal manifestiert;
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sie sind aus meiner Sicht schon ausreichend durch Bundesverfassungsgerichtsurteile und durch die Rechtsetzung des Deutschen Bundestages gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zum Schluss nur die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass das Geld sinnvoll verwendet wird. Und wir als Deutsche werden am meisten davon profitieren, auch wenn wir – ja, das ist richtig – gut viermal mehr einzahlen, als wir letztendlich zurückbekommen. Aber diese Nettozahlerdebatte zum Mehrjährigen Finanzrahmen: Wer hat denn in den letzten Jahrzehnten am meisten von Europa profitiert? Wer hat denn in den letzten Jahrzehnten am meisten vom Euro profitiert?
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Das sind doch wir Deutsche! Ein großer Teil unseres Wohlstandes basiert auf dem Europas
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und nach dem Fall der Mauer auf dem größer gewordenen Europa und auf dem Euro.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Fricke, FDP.
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Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Also, ich bin schon überrascht: Da hält ein Finanzminister, der eigentlich gar nicht mehr Finanzminister ist, sondern inzwischen Kanzlerkandidat, aber nicht im Plenum sitzen kann und das deswegen von der Regierungsbank machen muss, eine Rede. Die CDU hört halb zu, weil sie denkt: Na ja, er kann ja sagen, was er will. – Er sagt am Ende: Das ist der große Weg in die „Fiskalunion“. – Dieses Wort!
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Die Linke ist völlig überrascht von dem, was sie hört; die CDU ist erschreckt. Und danach wird von einem Redner der CDU gesagt, also zu dem, was der Finanzminister gesagt hat: Nee, nee, nee, eigentlich spricht der gar nicht für die Koalition; eigentlich spricht der gar nicht für die Regierung.
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Und das in Zeiten, in denen es eigentlich notwendig wäre, dass diese Regierung, diese Koalition eine Einheit bildet, um Europa zu stabilisieren und um zu verhindern, dass es weitere Unsicherheiten gibt!
Bitte gehen Sie noch mal aufeinander zu, und überlegen Sie sich in der Großen Koalition, bis wann Sie arbeiten und ab wann Sie mit dem Wahlkampf anfangen wollen, meine Damen und Herren in der Regierung.
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Der Kollege Rehberg hat in sehr klugen, analytischen Worten das große Volumen dargestellt, um das es geht, und das ist sehr, sehr viel Geld: 1,8 Billionen, 1 800 Milliarden Euro. Nur einmal zum Vergleich: Der jährliche Haushalt des Bundes – in normalen Zeiten – umfasst 370 Milliarden Euro. Nur, damit man auch einmal einordnen kann, über welche Summen wir reden. Einen Teil davon wird Deutschland leisten, und – das will ich für meine Fraktion ausdrücklich sagen – Deutschland muss auch einen Teil davon leisten, und Deutschland muss auch einen großen Teil davon leisten; denn Europa ist eine Staatengemeinschaft,
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die dafür sorgt, dass der Starke auch für die Schwachen etwas tut. Mit uns, mit der FDP, wird es kein Europa geben, in dem sich jeder pickt, was er will, und jeder nur nach seinen eigenen Vorteilen geht; das ist nicht unser Verständnis von Europa.
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Aber in Richtung Bundesregierung muss ich schon sagen – da unterscheiden wir uns dann doch ganz klar von vielen anderen, die meinen, das geht hier so nach dem Motto: Hauptsache, das Geld ist da –: Wenn hier der Bundesfinanzminister erzählt, wie wesentlich und wie groß der Schritt ist, wenn die CDU/CSU-Fraktion sagt, um welche Summen es geht, wenn es um das Haushaltsrecht geht, das wesentliche Recht in der Gewaltenteilung in einer parlamentarischen Demokratie, und wenn dann dazu gesagt wird: „Das machen wir mit einer einfachen Mehrheit“ – das ist ja die Meinung der weit überwiegenden Teile des Hauses und auch vieler Sachverständiger –, frage ich mich schon, ob man dieses Risiko wirklich eingehen will. Denn am Ende wird doch Karlsruhe über diese Frage entscheiden.
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Und weil das so ist, dass die Koalition hier nicht den Weg gehen will, eine Zweidrittelmehrheit zu suchen, nicht dafür sorgen will, dass bei zukünftigen und neuen Instrumenten hier das Parlament Möglichkeiten hat, geht die FDP einen zweiten Weg, den mein Kollege Kuhle nachher noch im Detail darlegen wird, und sagt: Wenn wir eine „Next Generation EU“ haben, dann dürfen wir im Detail im Parlament nicht nur ein EUZBBG alter Art haben, sondern dann brauchen wir auch ein „Next Generation EUZBBG“.
Und dem Kollegen Rehberg möchte ich dazu, dass man Hunderte von Seiten lesen müsste, noch sagen: Ja, Kollege Rehberg, Entschuldigung, dann müssen wir halt die Hunderte von Seiten lesen, dann ist das eben unsere Aufgabe.
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Dafür sind wir als Parlamentarier gewählt: Wir haben die Aufgabe, zu lesen. Wir können das nicht einfach der Regierung überlassen und uns darauf verlassen, dass da schon irgendwo ein Beamter sitzt und sagt: Ich habe das gelesen, ich habe das verstanden. – Wenn man ihn dann fragt: „Warum hast du es so gemacht?“, wird er sagen: „Das war aber an der Stelle auch wieder eine politische Vorgabe.“ Nein, meine Damen und Herren, wir müssen Europa stabilisieren, gerade nach der Krise; denn es wird um die Zukunft Europas gehen.
Weil ich auch von einer Dame aus der Fraktion darum gebeten wurde, will ich bei der Frage, wo wir mit Europa hinwollen, natürlich wieder mit Shakespeares „Hamlet“ enden. In dem Falle ist das der vierte Aufzug, fünfte Szene; da sagt Ophelia ganz klar:
Wir wissen wohl, was wir sind,
– in Europa, sage ich –
aber nicht, was wir werden können.
Und wir können für Europa so viel mehr erreichen.
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Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer eine starke Europäische Union will, der muss auch ein stabiles finanzielles Fundament legen. Aber die EU steht finanziell auf wackligen Füßen, und dafür tragen diese Bundesregierung und ihre Vorgängerregierung die Verantwortung. Und das muss sich ändern, meine Damen und Herren.
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Herr Scholz, Sie sind so ein bisschen darüber hinweggehuscht; darum spreche ich es hier ganz deutlich an: Wo ist die seit der Finanzkrise versprochene Finanztransaktionsteuer? Wir finden, sie muss endlich kommen; denn diese Einnahmen brauchen wir unbedingt, meine Damen und Herren.
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Schon im Jahr 2013 hat mir die Bundesregierung geantwortet, dass man kurz vor der Einführung stünde. Das ist jetzt sieben Jahre her. Diese Zeit wurde einfach so verschwendet.
Ein Gutachten im Auftrag nicht unserer Fraktion, sondern des Bundesfinanzministeriums schätzte die Einnahmen aus der Finanztransaktionsteuer allein für den deutschen Fiskus auf 17,6 Milliarden Euro. Das heißt, auf zehn Jahre gerechnet sind CDU/CSU und SPD für einen Steuerausfall von 176 Milliarden Euro verantwortlich. Und das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren!
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Der damalige Finanzminister Schäuble hatte ja immer mit dem Finger auf andere Staaten gezeigt, wenn es darum ging, wer eigentlich die Finanztransaktionsteuer verhindere. Doch er selbst hatte diese Pläne auf Eis gelegt. Und der aktuelle Finanzminister Scholz wollte dann mit der Finanztransaktionsteuer die Grundrente finanzieren. Auch das ist bis heute nicht umgesetzt – wie immer leere Ankündigungen, meine Damen und Herren –, obwohl Minister Scholz mit dramatisch weniger Einnahmen gerechnet hatte: Er hat es runtergebeamt auf 1,5 Milliarden Euro, weil er nämlich nicht bereit war, hochrisikoreiche Geschäfte wie zum Beispiel den Handel mit Derivaten zu besteuern. Das ist nicht akzeptabel, das können wir nicht hinnehmen, meine Damen und Herren!
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Hier ist häufig das Wort „Solidarität“ gefallen. Ich bin immer noch empört, wenn ich daran denke, mit welch brutaler Härte Union und SPD in der Finanzkrise gegen Griechenland vorgegangen sind: Renten, Löhne wurden gekürzt, die Gesundheitsversorgung zusammengestrichen. Von diesen Maßnahmen hat sich Griechenland bis heute nicht erholt. So etwas darf sich innerhalb der Europäischen Union niemals wiederholen, meine Damen und Herren!
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Stattdessen muss endlich die Finanzindustrie wirksam reguliert werden.
Die Europäische Union hat nur eine Überlebenschance, wenn sie sozial, friedlich und nachhaltig ist. Wir brauchen endlich mehr Verteilungsgerechtigkeit. Dafür muss man sich mit den Vermögenden in Europa anlegen. Die Linke steht dafür bereit.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa befindet sich durch die Pandemie immer noch in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg – sozial, ökonomisch, gesundheitlich –, und Europa hat eine entschlossene Antwort in der Finanz- und Wirtschaftspolitik gegeben mit dem Kreditprogramm SURE und mit dem EU-Wiederaufbauinstrument, über das wir heute beim Eigenmittelbeschluss im Kern reden. Die Europäische Union wird notwendige Ausgaben gegen die Krise jetzt auch mit gemeinsamen Anleihen finanzieren und sich gegenseitig solidarisch in der Krise unterstützen. Wir sagen hier ganz klar: Das unterstützen wir; das ist gut so.
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Ich hätte mir gewünscht, dass hier auch die anderen demokratischen Oppositionsparteien ihre Meinung deutlich gemacht hätten. Von der Linkspartei habe ich nicht gehört, wie Sie sich dazu verhalten. Von der FDP habe ich das auch nicht gehört. Ich finde gerade mit Blick auf die FDP: Man kann nicht auf Parteitagen Pro-Europa-Reden halten, wenn es um Schönwetterpolitik geht, aber sich dann, wenn es am Ende konkret wird, wenn hier ein Kompromiss von 27 Staaten auf dem Tisch liegt, zu dem man entweder Ja oder Nein sagen muss, mit irgendwelchen Tricks und Verfahrenssachen drücken. Das geht nicht. Ich finde, auch die FDP muss sich entscheiden. Sie ist jedoch zerrissen zwischen den Europapolitikern, die Sie haben, und den Eurogegnern um Frank Schäffler. Die FDP, finde ich, muss hier Farbe bekennen!
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Wir sehen ja: Die Europäische Union kann handeln, wenn sie will, man kann politische Kompromisse schließen, man kann sich zusammenraufen, und man kann auch gemeinsam zu Ergebnissen kommen. Das haben gerade die Union und die Bundesregierung lange blockiert; es gab lange eine Blockade der Bundesregierung gegen eine gemeinsame Finanzpolitik. Diese Blockade ist jetzt aufgegeben worden. Das ist ein historischer Paradigmenwechsel, und ich begrüße das ausdrücklich.
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Herr Kollege Kindler, der Kollege Fricke würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Kindler, Sie haben gesagt, die FDP müsse sich entscheiden. Ich kann Sie schon einmal beruhigen: Erstens finde ich es gut, dass Sie es wichtig finden, wie sich die FDP entscheidet; das ehrt Sie als Grüner.
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Zweitens aber möchte ich Ihnen doch dann sagen: Natürlich ist eine Entscheidung notwendig. Nur, anders als die Grünen sagt die FDP: Wir haben eine Grundpositionierung –
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das habe ich auch, glaube ich, klar und deutlich gemacht –, nämlich dass wir wegen des Fortschritts den Schritt hier gehen müssen.
Aber ich darf Sie von den Grünen jetzt einmal fragen: Haben Sie die Entscheidung, wie Sie sich verhalten, schon getroffen? Sind Sie sich schon in der ersten Lesung klar darüber? Wissen Sie das schon, egal wie viel Parlamentsrechte es geben wird oder nicht? Wissen Sie das schon, unabhängig von der Frage, wie die Anhörung ausgehen wird? Ist für Sie die Entscheidung schon klar? Hat die Große Koalition Sie – wie in fast allen Dingen in der letzten Zeit – schon in der Tasche und kann mit Ihnen rechnen?
Wir werden am Ende entscheiden, ja – aber dann, wenn die Entscheidung ansteht. Hier und heute handelt es sich um die erste Lesung.
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Kollege Otto Fricke, ja, mir liegt auch daran, dass wir zu breiten demokratischen Mehrheiten bei europäischen Entscheidungen hier im Deutschen Bundestag kommen, und ich würde mir wünschen, dass die Linkspartei und die FDP am Ende dabei sind.
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– Ich antworte jetzt, Kollege Fricke. Vielleicht hören Sie einfach zu; das wäre super.
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Der Punkt ist: Es reicht nicht, in solchen Reden nur Shakespeare-Zitate vorzutragen, sondern man muss auch klar sagen, wie man eigentlich in der Sache zum EU-Wiederaufbauinstrument steht. Dazu habe ich wenig gehört. Ich habe hier sehr viel gehört zu Verfahrensfragen. Ich habe hier sehr viel gehört, was die FDP noch einbringt. Aber in der Sache haben Sie sich nicht positioniert. Es gibt einen Kompromiss von 27 europäischen Staaten. Den haben wir in der Sache auch bewertet. Wir haben gesagt: Das ist richtig so; wir wollen, dass gemeinsame europäische Anleihen ausgegeben werden, um zu ermöglichen, dass gemeinsame Ausgaben gegen die Krise finanziert werden. Ja, wir sind dafür, und daraus machen wir auch keinen Hehl,
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weil wir für Europa sind und sagen: Europäische Kompromisse, die einen historischen Fortschritt darstellen, wollen wir auch hier im Deutschen Bundestag unterstützen.
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Wir sagen nicht einmal hü und einmal hott, sondern wir sagen sehr klar, wie unsere Haltung dazu ist. Ich würde mir wünschen, dass auch die FDP ihre Haltung klarstellt und nicht versucht, hier Nebelkerzen zu werfen. – Danke schön.
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Ich finde, man muss diesen historischen Fortschritt anerkennen, und auch, dass das jetzt etwas anderes ist als nach der letzten großen Finanzkrise 2009. Da gab es unter dem Druck aus Berlin und Brüssel eine extrem harte Sparpolitik. Das hat zu großen sozialen Verwerfungen, insbesondere in Südeuropa, geführt. Das haben wir diesmal nicht. Jetzt gibt es eine aktive Krisenbekämpfung, und wir wollen Investitionen vorantreiben. Wir wollen, dass die Europäische Union zusammenhält und nicht nach dieser Krise sozialökonomisch auseinanderdriftet. Das ist ein großer Fortschritt in Europa.
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Wir wollen auch, dass das Wiederaufbauinstrument ein zentraler Erfolg wird. Dafür ist es schon wichtig, dass man auf die Umsetzung schaut und sich die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne genau anschaut. Man darf das Geld nicht einfach nur verteilen, sondern das Geld muss auch klug eingesetzt werden. Es ist richtig, dass die Europäische Kommission darüber wacht und Vorgaben dazu macht, dass man wirtschaftspolitisch koordiniert und guckt, wie man gemeinsam besser aus dieser Krise herauskommt, indem man die Klimakrise bekämpft, indem man aus fossilen Energien aussteigt, indem man das Gesundheitssystem stärkt, soziale Rechte stärkt. Darum muss es bei den nationalen Wiederaufbauplänen gehen.
Wir haben jetzt die Riesenchance, einen großen Aufbruch für die 20er-Jahre zu organisieren. Dafür müssen aber die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne richtig umgesetzt werden. Das ist auch eine klare Ansage an die Bundesregierung.
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Die Bundesregierung hat jetzt zwar einen nationalen Aufbauplan vorgelegt, und es gibt ein paar Programme für Klima und Digitalisierung, aber es gibt keine Strategie dahinter. Es gibt keinen Plan, wie das mit einer ambitionierten Klimapolitik und einer ambitionierten Digitalstrategie verbunden wird. Es gibt keine Zusammenarbeit mit europäischen Partnern. Es gibt kein ehrgeiziges Reformprogramm. Deswegen hat die Europäische Kommission Sie, Herr Scholz und Frau Merkel, ja auch kritisiert und gesagt: Da muss jetzt nachgebessert werden. Denn man will, dass das ein Erfolg wird und dass man wirtschaftspolitisch vorankommt.
Die Europäische Kommission mahnt die deutsche Bundesregierung ja seit Jahren, dass sie zum Beispiel mehr macht für die Unterstützung von Geringverdienern. Die Europäische Kommission mahnt Sie seit Jahren, dass Sie mehr machen, um die Umweltsteuern zu erhöhen, und dass Sie umweltschädliche Subventionen abbauen. Deutschland ist in der Europäischen Union beim Thema Umweltbesteuerung fast Letzter; nur Luxemburg, die Slowakei und Irland sind noch schlechter. Ich finde, man kann nicht einfach nur mit dem Finger auf andere Länder zeigen, sondern muss auch ernsthaft seine eigenen Hausaufgaben machen und einen ambitionierten nationalen Aufbauplan vorlegen.
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Ich finde, dass wir auch im Deutschen Bundestag diese Krise nutzen sollten, um darüber nachzudenken, wie wir Europa besser machen können. Am Anfang dieser schweren Pandemie hatten wir all diese Instrumente noch gar nicht; wir hatten weder das Kreditprogramm SURE noch das Wiederaufbauinstrument. Wir haben jetzt gesehen: Das funktioniert, das ist notwendig, und das brauchen wir in solchen Krisen. – Ich finde, das darf jetzt nicht wieder vorkommen. Wir müssen besser in Krisen reingehen und auf sie vorbereitet sein.
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Es wäre doch naiv, anzunehmen, in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten gebe es keine Krisen mehr oder keine makroökonomischen Schocks mehr in Europa. Wir haben jetzt ein gemeinsames Instrument, eine gemeinsame Fiskalkapazität in Form gemeinsamer Anleihe, die uns vor Krisen schützen kann und die gleichzeitig dafür sorgt, dass wir die notwendigen Investitionen tätigen.
Wenn wir uns heute mal in Deutschland umschauen, sehen wir doch alle selber vor Ort, dass die große Klimakrise weiter eskaliert. Wir haben gestern den Waldbericht diskutiert. Ganz viele Bäume in Deutschland sind wegen der Klimakrise kaputt und sterben. Wir haben erlebt, dass wir innerhalb von einer Woche minus 17 Grad und Schneelandschaften hatten,
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und dann auf einmal Frühling Ende Februar. Das sind riesige Wetterumschwünge, die auch mit der Klimakrise zusammenhängen. Wenn wir das einsehen, dann müssen wir doch sagen: Wir müssen jetzt massiv in den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft investieren, nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern. Das ist jetzt notwendig, und zwar im Verkehrsbereich, im Energiebereich, im Agrarbereich, im gesamten Industriebereich. Mit dem Wiederaufbauinstrument haben wir ein Instrument, um das zu machen.
Wir als Grüne wollen nicht, dass dieses Instrument nach der Krise einfach weggeschmissen wird, sondern wir wollen, dass es ein Nachfolgeinstrument gibt, und zwar unter voller Kontrolle des Europäischen Parlaments. Wir können doch nicht sagen: In Europa schützen wir uns nicht vor Krisen, wir investieren nicht gemeinsam. – Das wäre keine kluge, keine vorausschauende Politik, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dennis Rohde, SPD.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen um die Eigenmittel waren vielleicht die herausforderndsten, die es bisher in der Geschichte der Europäischen Union gab. Wir hatten es ja gleich mit zwei Megaherausforderungen zu tun, die bewältigt werden mussten. Über Corona haben wir viel gesprochen, auch über die Tatsache, dass das Virus nicht nur uns, sondern den ganzen Kontinent, die ganze Welt im Griff hat. Außerdem hatten wir noch den Brexit und seine Folgen, die im Mehrjährigen Finanzrahmen dargestellt werden mussten. Wir standen also vor zwei großen Herausforderungen.
Klar ist auch, dass der Fokus, auch der europäische Fokus, natürlich auf diejenigen gerichtet war, die für die Bundesrepublik Deutschland diese Verhandlungen führen, nicht nur, weil wir das größte Bruttonationaleinkommen und die stärkste Volkswirtschaft innerhalb der EU haben, sondern auch, weil wir im letzten Jahr die Ratspräsidentschaft innehatten. Das alles geschah in einer politischen Debattenlage, die nicht einfach war. Wir alle haben auch heute wieder den dumpfen Nationalismus wahrgenommen, mit dem einige versucht haben, diese Krise auszunutzen, um in die 50er-Jahre zurückzugehen.
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Ich will an dieser Stelle noch mal deutlich sagen: Diejenigen, die versucht haben, diese Krise mit Nationalismus zu bekämpfen, die haben den europäischen Binnenmarkt nicht verstanden. Die haben nicht verstanden, dass wir in Europa so erfolgreich sind, weil wir zusammenarbeiten.
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Die haben nicht verstanden, dass die deutsche Wirtschaft von der französischen, von der italienischen und der spanischen Wirtschaft abhängig ist. Diejenigen, die diese Krise mit Nationalismus bekämpfen wollten, hatten eigentlich die Axt an unsere deutsche Wirtschaft angelegt. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich nicht durchsetzen konnten.
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Daher bin ich denjenigen, die federführend verhandelt haben, dankbar, dass es ihnen gelungen ist, auch den Nationalismus aus anderen Staaten zurückzuweisen, dass es ihnen gelungen ist, dass wir heute sagen können: Europa ist an dieser Krise nicht zerbrochen, Europa wächst in dieser Krise noch stärker zusammen als je zuvor.
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Ich finde, das ist ein wichtiges und ein starkes Signal.
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Man sagt oft einzelnen Politikern, einzelnen Funktionsträgern, auch ehemaligen Finanzministern nach, sie seien große Europäer. Ich will ganz deutlich sagen: Das, was Bruno Le Maire und Olaf Scholz da vorgelegt haben, das ist groß und europäisch. Das atmet den Geist von Solidarität und den Geist des Miteinanders, und deshalb vielen Dank dafür.
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Und ja, wir leiten auch einen Paradigmenwechsel in der Fiskalpolitik ein. Ja, die Europäische Union bekommt erstmals die Möglichkeit, auch selbst am Kapitalmarkt tätig zu werden. Wir verstehen Europa als etwas, was nicht nur wirtschaftlich definiert ist: Europa ist und Europa bleibt eine Schicksalsgemeinschaft. Deshalb will ich gar nicht über das Technokratische sprechen und darüber, ob das jetzt richtig oder falsch ist, dass sich die Europäische Union am Kapitalmarkt bedienen kann.
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Die Frage ist doch: Welches politische Ziel steckt dahinter? Das politische Ziel ist doch, dass es einen Aufbruch in ganz Europa gibt, dass wir die Zukunftsherausforderungen, die für ganz Europa vor uns liegen, nicht verschlafen,
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dass wir einen Aufbruch schaffen und diesen Kontinent wirtschaftlich wieder aufrichten, dass wir die Krise nutzen, um Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft zu erneuern und wieder voranzubringen. Das sind Investitionen in eine erfolgreiche Zukunft der Europäischen Union, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Der Kollege Fricke stellt mir die Zwischenfrage nicht, aber ich will ihm trotzdem deutlich sagen: Wir als SPD-Fraktion werden diesem Eigenmittelbeschluss als wirklich starkem Signal für die Stärkung der Europäischen Union zustimmen.
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Ich bin der festen Überzeugung, und auch viele Verfassungsrechtler – eigentlich alle, die ich gehört habe – sagen: Eine einfache Mehrheit reicht aus.
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Wir würden uns trotzdem freuen, wenn am Ende auch die FDP-Fraktion zustimmt. Wenn Sie aber Bauchschmerzen haben sollten, weil Sie meinen, man bräuchte eine Zweidrittelmehrheit: Es liegt in eurer Hand – stimmt einfach zu.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Konstantin Kuhle, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines ist, glaube ich, in der bisherigen Debatte noch gar nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen: Wenn die Bundesregierung alleine einen Eigenmittelbeschluss vorgelegt hätte, dann sähe der ganz anders aus als dieser Eigenmittelbeschluss, den wir heute hier diskutieren, der unter maßgeblichem Regierungseinfluss der Niederländer, der Österreicher, der Schweden, der Dänen und der Finnen steht.
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Und, lieber Kollege Rohde, der französische Finanzminister Le Maire ist kein besserer oder schlechterer Europäer als Mark Rutte, der sich in ganz wesentlicher Weise dafür eingesetzt hat, dass es zur Konditionalität bei der Auszahlung einzelner Tranchen kommt.
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Ich will hier auch ganz deutlich sagen: Lieber Bundesfinanzminister Scholz, Sie haben es leider versäumt, der sozialdemokratisch geführten Regierung in Dänemark dafür zu danken, dass sie in dieser Situation auch auf haushalterische Solidität geachtet hat. Das wäre hier die richtige Ansage für einen Bundesfinanzminister gewesen.
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Lieber Kollege Kindler, ich fühle mich natürlich angesprochen, weil ich mich sehr darüber gefreut habe, dass es eine Einigung für einen Notfallmechanismus und für einen Aufhörmechanismus angesichts dieser schlimmen Pandemie in der Europäischen Union gibt. Nur, eines unterscheidet die Freien Demokraten mit Blick auf das Verständnis von Opposition fundamental von den Grünen: Die Grünen sind mittlerweile so heiß aufs Regieren,
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dass Ihnen die Union, wenn Sie morgens ins Parlament kommen, sonst was vorlegen kann und Sie am Abend dafür stimmen werden. Es geht einfach nicht, meine Damen und Herren von den Grünen,
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dass Sie die Oppositionsrolle an dieser Stelle hier in dieser Weise nicht wahrnehmen.
Ich will noch etwas Zweites sagen. Wer es in Deutschland mit der Großen Koalition aufnimmt, wer sich mit CDU/CSU und SPD anlegt, der bekommt es mittlerweile mit den Grünen zu tun. Und das hat doch mit Opposition nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren.
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Herr Kollege Kuhle, die Kollegin Brantner würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege Kuhle, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Regieren ist immer noch nicht strafbar, und es zeichnet Akteure aus, wenn sie bereit sind, zu regieren. Das war die FDP nicht.
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Aber zu Ihrem Vorwurf, dass wir Grüne nur darauf achten würden, was CDU und SPD verabschieden, und dann zustimmten: Es geht hier um einen europäischen Kompromiss, der auf europäischer Ebene zwischen dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament ausgehandelt wurde, und zu dem verhalten wir uns als Grüne, nicht zu den Regierungsfraktionen.
Und ich habe heute von Ihnen von der FDP noch kein einziges Wort gehört, ob Sie die gemeinsame Schuldenaufnahme nun richtig finden oder nicht, ob Sie es richtig finden, dass 37 Prozent in den Klimaschutz gehen oder nicht, ob Sie das Konstrukt richtig finden oder nicht. Hören Sie auf, uns hier anzugreifen, weil Sie keine eigene Position haben! Das ist einfach nur billig und ein vorgeschobenes Argument.
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Sagen Sie mal, wo Sie inhaltlich stehen. Kein Wort habe ich dazu gehört.
Es geht hier um eine fundamentale Entscheidung der Europäischen Union. Nehmen wir gemeinsam Schulden auf, um solidarisch aus einer Krise zu kommen?
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Das ist die Frage. Zu der haben wir als Grüne uns positioniert, Sie noch nicht.
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Liebe Kollegin Brantner, der Kompromiss der europäischen Staats- und Regierungschefs und auch des Ministerrates sieht eine Schuldenaufnahme vor, bei der es den Regierungen der Mitgliedstaaten Österreich, Dänemark, Finnland, Schweden und den Niederlanden gelungen ist, eine klare Begrenzung mit Blick auf die Höhe, mit Blick auf die Dauer und mit Blick auf den Zweck einzuziehen. Das ist für uns das Wesentliche. Und wir werden es uns nicht leicht machen, wir werden das intern sehr ausgiebig diskutieren.
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Aber wir werden eines nicht machen: Wir werden nicht agieren, wie die Grünen es jetzt beispielsweise in Österreich tun, und uns bis zur Unkenntlichkeit an die Große Koalition anbiedern, indem man schon zu Tagesbeginn verlauten lässt, dass man am Ende zustimmt. Das gibt es mit den Freien Demokraten nicht, liebe Kollegin Brantner.
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Und eines will ich auch sagen: In der ganzen Debatte hier sind doch die Freien Demokraten die einzige Fraktion, die überhaupt einen begleitenden Antrag vorgelegt hat.
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Hier liegt auf dem Tisch ein Antrag der Bundesregierung, und ansonsten liegt auf dem Tisch ein Antrag der Freien Demokraten zur Stärkung der Parlamentsrechte. Kein einziger Vorschlag der Grünen zur Stärkung der Parlamentsrechte in dieser Debatte! Und Sie greifen uns an, dass wir die Rolle nicht ernst nehmen? Ich glaube, das hier ist eine Angelegenheit mit vertauschten Rollen,
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und wir sollten zurückkehren zu einer Debatte über die Frage, wie wir eine Zustimmung dieses Hauses hier erreichen können; denn das muss doch denjenigen, denen Europa am Herzen liegt, das wichtigste Anliegen sein, meine Damen und Herren.
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Deswegen ist diese ganze Debatte über die Frage des Eigenmittelbeschlusses für uns auch ein Anlass, darüber zu sprechen, wie wir die Stärkung des Bundestages insgesamt voranbringen können. Sie kennen das ja aus der Pandemie, wo sich die Grünen ähnlich verhalten, alles mitmachen, was die Große Koalition vorschlägt.
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Auch hier drängen wir darauf, dass Qualität, dass Transparenz, dass Akzeptanz, dass Legitimation staatlichen Handelns steigen durch mehr Parlamentsbeteiligung. Deswegen müssen die Konditionalitäten durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages überprüft werden können. Er braucht hierzu ein Stellungnahmerecht. Er muss auch die Möglichkeit haben, den Notfallmechanismus, den die Niederländer und andere dort reingeschrieben haben, auszulösen.
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Wir sollten, finde ich, auch mal allgemein darüber sprechen, wie wir die Situation beenden können, dass die Nutzung der Instrumente aus dem EUZBBG in keinem Verhältnis zu ihrer Relevanz steht. Das ist super relevant, was in der Europäischen Union passiert, und wir nutzen diese Instrumente aus dem EUZBBG so gut wie nie hier in der Mitte des Deutschen Bundestages. Dazu liefern wir mit unserem Antrag einen Beitrag.
Sie machen einfach mit, was die Große Koalition sagt. Wir machen vernünftige Oppositionsarbeit. Sie sind schon auf dem Weg in die Regierung, und das ist ein interessanter Befund für die nächsten Monate im Wahlkampf.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zur Einordnung der aktuellen Situation in einen größeren Zusammenhang einige Gedanken. Lassen Sie uns die wirtschaftliche Entwicklung in drei großen volkswirtschaftlichen Regionen der Welt im letzten Jahr anschauen: Das Bruttoinlandsprodukt in China ist um 2,3 Prozent gewachsen – nicht viel für chinesische Verhältnisse, aber immerhin. Das BIP der USA ist um „nur“ 3,5 Prozent gesunken, das der Europäischen Union um 6,4 Prozent.
Auch ich weiß: Das BIP ist nur eine der Kennzahlen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – es ist nicht alles vergleichbar –, aber es ist ein Indiz. Und ich weiß, dass die anderen Regionen alles daransetzen werden, mit umfassenden Unterstützungsleistungen ihre Volkswirtschaften für die Zukunft fit zu machen. Und deswegen hängt die Zukunft der Europäischen Union entscheidend davon ab, wie die Europäische Union und die Mitgliedstaaten die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Pandemie meistern werden.
Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Exportorientierte Länder wie Deutschland sind auf Abnehmer für ihre Waren und Dienstleistungen angewiesen. Rund 60 Prozent der Exporte aus Deutschland gehen in die Europäische Union. Und deshalb ist es für uns auch wirtschaftlich von elementarem Interesse, dass die Europäische Union wieder auf die Beine kommt.
Eine amerikanische Redewendung sagt: „Go big or home“, also wenn, dann richtig machen. Und genau das versuchen jetzt die Europäische Union und die Mitgliedstaaten mit einer einmaligen großen gemeinsamen Kraftanstrengung. Es wird natürlich ein Balanceakt werden zwischen wirtschaftspolitischer Ankurbelung auf der einen und fiskalpolitischer Disziplin auf der anderen Seite. Aber dies ist der richtige Weg.
Ein wichtiger Baustein ist natürlich die Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses der EU.
Zum Inhalt: Was wird dort geregelt? – Wir haben es schon mehrfach gehört, aber ich wiederhole es gerne: Es wird die Finanzierung des Mehrjährigen Finanzrahmens bis zum Jahr 2027 in der Größenordnung von über 1 Billion Euro geregelt, außerdem die Finanzierung des außerordentlichen Aufbauinstrumentes „Next Generation EU“ mit 750 Milliarden Euro. In dieser Dimension wird die Kommission ermächtigt, erstmals Mittel vom Kapitalmarkt aufzunehmen.
Zum Verfahren: Alle Mitgliedstaaten sind angehalten, diesen Beschluss zu ratifizieren, sonst kann kein einziger Euro aus diesem Instrument abfließen. Wir ratifizieren diesen Beschluss, und der eigentliche Mehrjährige Finanzrahmen, das eigentliche Wiederaufbauinstrument, und auch der deutsche Aufbau- und Resilienzplan werden nicht vom Bundestag beschlossen. Deswegen besteht hier die Gelegenheit, in dieser ersten und dann in der zweiten und dritten Lesung darüber zu debattieren.
Zu den Rahmendaten dieser Situation. Die Mitgliedstaaten erhöhen deutlich ihre Zahlungen an die EU, von 1,2 Prozent auf 1,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens für den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen, zuzüglich 0,6 Prozent des Bruttonationaleinkommens für das Aufbauinstrument „Next Generation EU“. Die EU tilgt die Schulden, die daraus folgen, dann ab 2027. Nach derzeitigen Kalkulationen werden sich die deutschen Zahlungen an die EU voraussichtlich von 38 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 43 Milliarden Euro in 2027 steigern.
Und nun zu diesem Aufbauinstrument im Besonderen. Es muss immer wieder gesagt werden: Es ist einmalig, und es ist begrenzt. Deswegen vier Anmerkungen dazu, was damit verbunden ist.
Erstens. Es dürfen nicht laufende Ausgaben der Mitgliedstaaten ersetzt werden. Die Ausgaben müssen zusätzlich sein.
Zweitens. Die Mittel dürfen nicht im allgemeinen Haushalt versickern. Das heißt, das Ziel dieses Instrumentes muss erreicht werden: die Bewältigung der negativen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und das Verhindern des Wiederauftretens dieser Krise.
Drittens. Es geht darum, Kreditaufnahmen der EU durch Haftung der Mitgliedstaaten abzusichern. Ich wiederhole es an dieser Stelle, so wie es auch mein Kollege vorher getan hat: Es ist keine Vergemeinschaftung von Schulden, es ist kein Einstieg in die Schulden- oder Fiskalunion. Und auch wenn einige Akteure das immer wieder betonen oder wünschen: Das ist und bleibt so. Sehr geehrter Herr Finanzminister Scholz, da muss ich Ihnen höflich, aber entschieden widersprechen: Das ist unsere feste Auffassung.
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Viertens. Der 0,6-prozentige Aufschlag für das Aufbauinstrument „Next Generation EU“ erlaubt keine weitere Kreditaufnahme für die Kommission. Für jede weitere Kreditaufnahme wäre immer ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedstaaten erforderlich.
Lassen Sie uns an dieser Stelle nicht diese Diskussion mit anderen Themen vermischen, die auch immer wieder zur Sprache gebracht werden. Dafür zwei Beispiele.
Erstens. Ein europäischer Schuldenschnitt verstößt wegen des Verbots der monetären Staatsfinanzierung evident gegen die EU-Verträge. Glücklicherweise hat das die EZB deutlich klargestellt.
Zweitens. In einem aktuellen Kommentar der „Financial Times“ wird am Beispiel von Italien mit Premierminister Draghi eine Verknüpfung der Mittel aus „Next Generation EU“ und der allgemeinen Lockerung der Fiskalpaktregeln hergestellt. In etwa wird dort beschrieben: Wenn Italien die Mittel aus „Next Generation EU“ richtig verwendet, müsste doch das Vertrauen der anderen Gläubigerländer gegeben sein, damit die europäischen Haushaltsregeln insgesamt gelockert werden könnten. Dann könnte Italien noch mehr fiskalpolitische Anreize setzen.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle deutlich klarmachen: Diese Verbindung zwischen den Mitteln aus „Next Generation EU“ und der Lockerung der allgemeinen europäischen Haushaltsregeln ist nicht gegeben und auch nicht gewollt.
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Der Rat hat die Fiskalregeln zu Recht bis Ende 2021 gelockert, um den Mitgliedstaaten finanziellen Spielraum in dieser Krise zu geben. Aber die Regeln sind nicht aufgehoben. Sie sind und bleiben wichtige Eckpfeiler der Europäischen Währungsunion und haben zu solideren bzw. soliden Finanzen im Euro-Raum beigetragen. Durch solides Haushalten über die letzten Jahre – das können wir doch am besten feststellen – haben wir doch erst die finanziellen Spielräume erarbeitet, die uns jetzt in dieser Situation so helfen. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass der irische Finanzminister und Chef der Euro-Gruppe die Rückkehr zum haushalterischen Normalzustand nicht aus dem Blick verliert und das immer wieder betont. Hierzu würde ich mir auch eine Unterstützung unseres Finanzministers wünschen.
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Zum Abschluss ein Blick auf den Zeitplan. Wenn wir uns den Zeitplan zur Verabschiedung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne auf der einen Seite und das Verfahren bis zur Auszahlung der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds auf der anderen Seite angucken, dann stellt man unschwer fest: Die Mühlen der Europäischen Union mahlen sehr, sehr gründlich, aber leider auch langsam. Wir haben eine besondere Lage. Deswegen bitte ich alle Beteiligten, schneller zu werden. Wir haben doch auch Impfstoffe in einem vorher nie dagewesenen Verfahren schneller zulassen können. Das Gleiche müsste auch für die Auszahlung dieser Mittel gelten; denn die Mittel wirken nicht dann, wenn wir sie beschließen und debattieren, sondern dann, wenn sie investiert werden und vor Ort helfen. Deswegen, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin: Wenn es irgendwie möglich ist, bitte achten Sie darauf und versuchen Sie, Ihren Einfluss geltend zu machen, dass diese Verfahren in beiden Formen schnell abgehandelt werden.
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Wir müssen mit einer Kombination aus europäischen und nationalen Maßnahmen Europa für die Zukunft wettbewerbsfähig machen, insbesondere mit Blick auf die anderen großen volkswirtschaftlichen Regionen dieser Erde. Deshalb schließe ich mich in dieser besonderen Situation der vorher genannten Redewendung in dem Sinne an: Europe, go big and not home.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
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Alexander Ulrich, Die Linke, hat jetzt das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant: Für die Bundeskanzlerin und für den Bundesfinanzminister waren der Mehrjährige Finanzrahmen und der Wiederaufbaufonds eigentlich die Krönung der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Und kaum haben wir heute die erste Debatte hier, haben wir einen offenen Koalitionsstreit. Das ist schon spaßig, wie das heute ausgelegt wird.
Ich will schon sagen – Herr Rehberg, vielleicht können Sie mir auch zuhören –: Wer glaubt, man könnte sich aus der Coronakrise heraussparen, wer glaubt, man könnte sich aus der Klimakrise heraussparen, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
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Da sind sogar diese 1,8 Billionen Euro viel zu unambitioniert. Wir brauchen viel mehr Geld, um diese Krisen zu bewältigen.
Ganz nebenbei – die Frau Bundeskanzlerin ist jetzt leider gegangen –: Die EU-Ratspräsidentschaft war sowieso kein großer Erfolg; denn in die Geschichte der Ratspräsidentschaft wird eingehen der Impfstoffskandal, der Beschaffungsskandal, und dafür sind Ursula von der Leyen und die Kanzlerin hauptverantwortlich.
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Was heute in der Debatte auch noch bei keinem Redner eine Rolle gespielt hat, ist: Wer soll diese Summen für die Coronakrise, ob es das Geld für Maßnahmen in Deutschland ist oder ob es die 1,8 Billionen Euro auf europäischer Ebene sind, eigentlich zahlen? Diese Antwort ist man in jeder Debatte hier schuldig geblieben, ob es um den deutschen Haushalt geht oder um den europäischen Haushalt. Wir sagen ganz deutlich: Wer Sozialabbau verhindern will – dafür steht Die Linke –, wer einen Investitionsrückgang verhindern will – wir wollen mehr Investitionen –, der muss sich mit den Reichen in diesem Land und in Europa anlegen. Dafür steht nur die Partei Die Linke.
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Herr Finanzminister, Sie werden in wenigen Monaten Ihr Amt aufgeben. Ich weiß nicht, in welcher Rolle Sie sich danach hier im Bundestag wiederfinden. Das wird der Wähler entscheiden. Aber wir gehen davon aus, dass Sie als Finanzminister auch nicht die Finanztransaktionsteuer umsetzen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist mittlerweile schon fast skandalös.
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Herr Schäuble hat als Finanzminister schon damals in den Haushalt Einnahmen daraus eingeplant. Auch hier wurde wieder gesagt, man will die Grundrente damit finanzieren. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wer die Finanztransaktionsteuer im Zusammenhang mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen nicht zum Abschluss bringt, hat damit auch entschieden, dass es die Finanztransaktionsteuer nie geben wird. Das ist ein fatales Signal an die Finanzmärkte, an die Zocker, die uns damals in die Finanzkrise hineingetrieben haben.
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Das, was Sie als Finanztransaktionsteuer diskutieren, Herr Finanzminister, ist sowieso nur die halbe Wahrheit. Wir wollen eigentlich nicht die Aktionäre, die die Realwirtschaft stützen, zur Kasse bitten, sondern wir wollen die Spekulanten zur Kasse bitten. Deshalb müssen die Derivate besteuert werden. Darauf wollen Sie verzichten. Auch das ist eine Lehre aus der Finanz- und Wirtschaftskrise: Gerade die Zocker müssen zur Kasse gebeten werden und nicht die Kleinaktionäre.
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Deshalb: Wir haben große Aufgaben in Europa. Wir als Linke wären bereit, in die Fiskalunion reinzugehen, Herr Scholz. Wir haben schon immer gesagt: Wir brauchen Eurobonds. Wir haben schon immer gesagt: Wir brauchen Solidarität. Wir brauchen auch kein Europäisches Semester für die Umsetzung des Aufbauprogramms; denn dieses Europäische Semester bedeutet für viele Länder wieder Sozialabbau und Austerität. Das ist das komplett falsche Signal; auch das zeigen die Beispiele Griechenland, Spanien, Portugal usw. Deshalb: Mehr Solidarität, mehr Anlegen mit den Reichen in Europa, das wäre die Antwort. Dafür steht unsere Partei Die Linke.
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Christian Petry, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute die erste Lesung zum Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz. Ein bisschen verwundert es mich, dass wir noch nicht auf ein Thema eingegangen sind. Vor allem von den Grünen habe ich nicht gehört – oder ich habe es vielleicht überhört, Herr Kindler –, dass das einzige neue Eigenmittel, das drin ist, die Plastikabgabe ist. Die soll auch etwas lenken. Ich denke, das sollte man zumindest mal irgendwie in der Debatte festhalten, auch wenn es erst die erste Lesung ist. Das wird natürlich auch noch verstärkt; denn das wirkt sich auch in den Lenkungsmechanismen positiv aus. Dazu stehen natürlich auch wir als SPD und finden das gut.
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1,8 Billionen Euro sind genannt worden. Herr Fricke schummelt ein bisschen mit den Zahlen. Nicht direkt schummeln, aber: Haushalte von 400 Milliarden Euro wie in der Bundesrepublik direkt mit der Ausgabe von 1,8 Billionen Euro über sieben Jahre eins zu eins zu vergleichen, ohne die Zeiträume zu nennen, ist schon schwierig, gibt ein schiefes Bild. Man muss immer Jahr für Jahr vergleichen. 750 Milliarden Euro davon entfallen auf „Next Generation EU“. Der deutsche Anteil beträgt 40, 50 Milliarden Euro; wir werden dies sehen. Bei einem Überschuss von weit über 100 Milliarden Euro pro Jahr, den wir erwirtschaften, ist dies immer noch sehr positiv. Wenn man schon die Solidarität nicht bemühen will, dann den wirtschaftlichen Faktor: Wir brauchen die Europäische Union und leben mit ihr sehr gut. Dies wird auch durch den neuen Eigenmittelbeschluss manifestiert werden.
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Charles Michel hat diese Woche bei der SWKS-Konferenz zwei Säulen genannt, auf die sich dieser Paradigmenwechsel in der Europäischen Union stützt: nachhaltige Klimapolitik und Digitalisierung in sozialer Verantwortung. Das Projekt ist ein Paradigmenwechsel, ein Sozialmodell auf europäischer Ebene. Bisher hatten wir – es ist von Alexander Ulrich von den Linken genannt worden – Austerität, Neoliberalismus auch in den einzelnen Überprüfungsprogrammen. Jetzt geht es um Solidarität, um Wiederaufbau, um die Zusammenarbeit in Europa. Ich glaube, es ist ein richtiger Schritt, dass wir die Partnerschaften in der Welt und die Grundfreiheiten der liberalen Demokratien auch in diesem Eigenmittelbeschluss manifestieren. Solidarität ist das Gebot der Stunde, und auch darüber beraten wir heute hier in erster Lesung.
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Für die Sicherung von Arbeit und Wohlstand – es ist schon genannt worden – hat Olaf Scholz im April letzten Jahres mit seinem Kollegen Bruno Le Maire den Grundstein gelegt. Das ist in der Nachbetrachtung sicherlich eine Zäsur, eine historische Zäsur; denn hier ist der Paradigmenwechsel erfolgt. Mit dem Scholz/Le-Maire-Plan wurden diese Dinge auf den Weg gebracht: solidarische Finanzierung, ein europäisches Kurzarbeitergeld, neue Projekte, Zusammenarbeit. Hier sind die Grundpfeiler errichtet worden. Herzlichen Dank, Olaf Scholz, dass damit die ersten Schritte hin zu einer Fiskalunion gemacht wurden! Dies kann und darf so weitergehen. Dies werden wir in der Debatte auch in der kommenden Zeit mit allen diskutieren. Vielen Dank dafür!
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Auch die FDP hat einen Gesetzentwurf eingebracht. Da ist viel an Überprüfung drin; da kann man auch viel Gutes herausziehen. Allerdings finde ich es schon schwierig, wenn der Haushaltsausschuss jedes nationale Parlament überprüfen soll.
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Also, wenn ich mich melden darf: Ich melde mich für Malta und Zypern; die anderen können was anderes machen. – Aber das – es steht unter dem ersten Spiegelstrich – ist nun wirklich nicht zielführend. Ich denke, hier sollte die FDP noch einmal überlegen, wobei der Grundgedanke der seriösen Überprüfung auch von André Berghegger genannt wurde. Es ist klar: Das werden wir in der Debatte bis zur zweiten und dritten Lesung natürlich noch verstärkt darstellen können und müssen; davon bin ich überzeugt.
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Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland verfügt über einen großen Überschuss. Wir haben ein solidarisches System, also gehen wir damit verantwortlich um. Wir wollen den Eigenmittelbeschluss selbstverständlich mit breiter Mehrheit in diesem Parlament durchbringen, und deshalb werbe ich dafür. Der Startschuss ist gefallen: CDU/CSU, SPD und Grüne werben natürlich um die europäischen Kräfte in der FDP und auch um die europäischen Kräfte bei den Linken, damit wir eine Zweidrittelmehrheit erreichen können. Dann hätte sich diese Debatte erübrigt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glückauf!
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Debatte werden Weichen gestellt für die zukünftige Ausrichtung der Europäischen Union. Uns stellen sich folgende Fragen: Wollen wir als größte Volkswirtschaft in Europa im weltweiten Konzert eine Stimme haben und im Wettbewerb bestehen? Und wollen wir die europäische Zusammenarbeit vertiefen und das gegenseitige Vertrauen stärken, ohne die Mitgliedstaaten aus der Verantwortung zu nehmen? Unsere Antwort, die Antwort der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag, lautet dazu klar und unmissverständlich: Ja, das wollen wir. Deutschlands Zukunft liegt auch in der Stärke Europas.
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Mit dem neuen EU-Eigenmittelbeschluss, dem zukünftigen Mehrjährigen Finanzrahmen sowie dem temporären Aufbauinstrument „Next Generation EU“ werden die finanziellen Grundlagen der nächsten sieben Jahre gelegt. Wir als Haushälter der CDU/CSU-Fraktion haben dabei die Mittelverwendung stark im Blick: Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Gelder am Ende nur verkonsumiert werden, sondern entscheidend bleibt, dass diese verinvestiert werden, um moderne Strukturen in Europa voranzutreiben.
Mit dem Eigenmittelbeschluss stellen wir aber nicht nur die Weichen in die Zukunft, sondern wir legen zugleich auch den Grundstein für eine rasche wirtschaftliche Erholung der von der Pandemie besonders betroffenen Mitgliedstaaten. Wir haben jetzt eine Krise, die nicht von den europäischen Staaten verschuldet worden ist. Aber mit der starken Exportorientierung Deutschlands haben wir ein besonders gesteigertes Interesse daran, dass auch der Rest Europas wieder schnell auf die Füße kommt. Das Fundament für unseren Wohlstand in Deutschland liegt auch in der Stabilität Europas.
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Der Eigenmittelbeschluss bildet die Grundlage für die Berechnung der nationalen Beiträge für den EU-Haushalt und ermächtigt die EU-Kommission, einmalig und befristet bis zu 750 Milliarden Euro am Kapitalmarkt aufzunehmen. Der EU-Haushalt wird zukünftig aus vier Einnahmequellen gespeist. Diese setzen sich aus der Plastikabgabe, Zolleinnahmen, dem Mehrwertsteueranteil und den Eigenmitteln auf Basis der Obergrenze von 1,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens zusammen, die mit einem Dreiviertelanteil auch weiterhin die wichtigste Finanzierungsquelle sind.
Wir hetzen aber nicht gegen unsere Nachbarn, wie es der rechte Rand der Politik, wie es heute wieder die AfD macht. Wir schütten auch nicht wahllos das Füllhorn aus, wie es die Grünen und Linken machen. Lieber Herr Finanzminister Olaf Scholz, auch Ihren Irrtum, es sei heute der Einstieg in die Fiskalunion, können wir als Union mit der SPD nicht mitgehen. Wir als CDU/CSU machen vernünftige Finanzpolitik mit Augenmaß für Europa.
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Erst nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten kann der Mehrjährige Finanzrahmen rückwirkend zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Auch wenn ich ordnungspolitisch grundsätzlich gegen die Aufnahme weiterer Schulden bin, so halte ich in dieser absoluten Notsituation und angesichts der Schwere der Pandemie diese Vorgehensweise für vertretbar. Allerdings – und das muss klar sein – darf dies kein Dauerzustand werden. Diese Zusatzkredite sind auf die Zeit der Krisenbewältigung beschränkt, was aus meiner Sicht absolut richtig und wichtig ist.
Wir wollen eine klare Zweckbindung des Wiederaufbaufonds. Arbeitsplätze erhalten und Investitionen in die Zukunft – das muss das Credo sein. Ich nenne hier die Stichworte „Digitalisierung“, „Klimaschutz“, „Forschung und Entwicklung“ und „Investitionen in die Infrastruktur“. Wichtig ist mir dabei, zu betonen: Jede weiter gehende Verschuldung zur Finanzierung, was Kritiker oft bemängeln, braucht einen neuen Eigenmittelbeschluss. Dieser wiederum erfordert eine neue Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten und damit auch die Zustimmung dieses Hauses. Damit ist die enge Einbindung des deutschen Parlaments jederzeit gewährleistet – aus meiner Sicht ein entscheidender Punkt für die Kontrolle und das Vertrauen in diese Instrumente.
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Erlauben Sie mir, abschließend anzumerken: Die vorliegenden Werkzeuge können dazu beitragen, dass wir in Deutschland gestärkt aus dieser Pandemie- und Umbruchphase, aus dieser Transformationsphase rauskommen – gut eingebettet in einer stabilen europäischen Nachbarschaft. Dies muss das Interesse eines jeden hier im Deutschen Bundestag sein und ist somit auch im starken Interesse unseres Landes.
Herzliches „Vergelt’s Gott!“ fürs Zuhören.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Es wird Zeit, der Realität ins Auge zu schauen: Unlängst besorgen Bürgerinnen und Bürger, Unternehmerinnen und Unternehmer Schnelltests – offensichtlich nicht ganz legal, da sie selten eine Approbationsurkunde besitzen. Aber warum machen sie das? Sicherlich nicht aus Jux und Tollerei, sondern aus Verantwortung: aus Verantwortung für die Familie, aus Verantwortung für den Betrieb, aus Verantwortung für die Gesellschaft.
In Österreich sind bereits etwa 250 Selbsttestanbieter auf dem Markt vertreten. In Deutschland sind seit gestern drei derartige Tests erlaubt, aber noch kein einziger auf dem Markt. Unser Antrag setzt einen sicheren Rechtsrahmen, damit Menschen sich schnell selbst testen können. Wir geben den Menschen damit eine echte Perspektive in dieser Pandemiekrise.
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Die Freien Demokraten wollen den Menschen Möglichkeiten aus dem Lockdown anbieten. Dazu dürfen wir gerne auf andere Länder blicken. Best-Practice-Beispiele aus Ländern wie Österreich zeigen uns, wie es geht. Dabei bietet sich der Selbsttest als einer von mehreren wichtigen Bausteinen in der Pandemiebekämpfung an. Die Vorteile liegen auf der Hand. Doch was macht die Regierung? Für die Zulassungen müssen grundsätzlich staatlich benannte Stellen Prüfungen und Bewertungen im Rahmen der Konformitätsbewertung durchführen und deren Korrektheit nach einheitlichen Bewertungsmaßstäben bescheinigen. Klingt kompliziert, ist es auch. Dauer: etwa vier bis acht Wochen. Natürlich darf es bei der Qualität keine Abstriche geben, und das steht hier auch nicht zur Debatte; aber es geht auch anders.
Beispiel Österreich. Österreich entwickelte ein einfaches Verfahren zum Inverkehrbringen von Antigenschnelltests zur Selbstanwendung. Wenn das Konformitätsbewertungsverfahren noch nicht durchgeführt wurde, können die Hersteller mit einer Selbstverpflichtung bestätigen, dass bei Eigenanwendung ein entsprechendes Sicherheits- und Leistungsniveau erreicht wird und dass die Funktions- und Einsatztauglichkeit für den geplanten Zweck gewährleistet ist. Mit einer solchen Selbstverpflichtung können die Hersteller ihre Selbsttests vertreiben; denn sie haben ja bereits diese Daten. Wir wollen diesen Weg gehen. Natürlich müssen die so in Verkehr gebrachten Tests anschließend schnellstmöglich ein Post-hoc-Zulassungsverfahren durchlaufen.
Wir wollen Selbsttests für den Stufenplan zur Öffnung des gesellschaftlichen Lebens nutzen. Mit dem Nachweis eines negativen Testergebnisses digital per App können wir Grundrechte zurückgeben und unserem Land wieder eine Perspektive geben. So ist gemeinsam mit den Ländern zu prüfen, inwieweit vom Lockdown betroffene öffentliche und private Lebensbereiche, zum Beispiel Restaurants, Hotels, Kulturveranstaltungen, Theater, Kinos, Sportanlagen, Fitnesscenter usw., mit dem Nachweis von negativen Testergebnissen unter Hygienekonzepten wieder geöffnet bzw. besucht werden können, gerne auch als 24-Stunden-Tagespass.
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Geschwindigkeit mit Qualitätsgarantie ist hier die Marschrichtung. Wir müssen auf die Tube drücken. Schneller, einfacher, freier – so hätten wir mit den Coronaselbsttests die Chance, in die Normalität zurückzukommen. Denn statt eines Ankündigungsministers mit einer langsamen Nebelfahrt wollen wir eine Politik der verantwortungsvollen Perspektive, und wir wollen Hoffnung geben.
Herzlichen Dank.
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Stephan Pilsinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit Beginn dieser Pandemie lautet unsere Devise: umfassend und gezielt testen. Deshalb haben wir unsere Testkapazitäten bereits im vergangenen Frühjahr schnell hochgefahren und seitdem kontinuierlich ausgebaut. Denn wir wissen: Testen gehört zu den wichtigsten Werkzeugen bei der Bekämpfung des Coronavirus.
Mit den Antigenschnelltests können wir jetzt auch ohne großen Aufwand vor Ort testen und damit mögliche Infektionsketten zügig unterbrechen. Besonders sinnvoll ist das zum Beispiel in Pflegeheimen, medizinischen Einrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften, also überall dort, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen. Für die Pflegeheime stellen wir dafür seit Dezember auch umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung, und zwar nicht nur für die Testkits, sondern auch für das Fachpersonal.
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Bislang waren jedoch solche Antigenschnelltests auf dem Markt, die gemäß ihrer Zulassung ausschließlich für den professionellen Gebrauch vorgesehen waren. Gestern hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nun aber auch die ersten drei Sonderzulassungen für Schnelltests zur Eigenanwendung erteilt. Damit ist jetzt umso wichtiger, die Alltagstauglichkeit und die Leistungsfähigkeit dieser neuen Tests eng im Blick zu behalten. Zudem brauchen diese Produkte zwingend verständliche Gebrauchshinweise, die auf die richtige Anwendung, aber auch auf die Limitationen hinweisen. Denn ein falsch angewendeter Test bringt in der Regel erst einmal ein negatives Ergebnis, und dessen sollten wir uns bewusst sein.
Vor lauter Euphorie über die Schnelltests muss ich zudem gerade in dieser Situation erneut vor der weiteren Ausbreitung der neuen Virusmutationen warnen. Auch wenn jetzt die ersten Schnelltests zugelassen sind: Wir werden in dieser Situation auf absehbare Zeit keine kompletten Lockerungen umsetzen können. Länder wie Großbritannien und Portugal standen im vergangenen Jahr genau an diesem Punkt. Mit den dort beschlossenen Lockerungen hat sich die Zahl der Coronafälle binnen weniger Wochen vervielfacht.
Auch Deutschland ist vor dieser Gefahr nicht gefeit, meine Damen und Herren. Der Anteil der britischen Mutante liegt mittlerweile bereits bei über 30 Prozent. Wer auf die Studiendaten aus Großbritannien schaut, sieht, dass diese Variante bis zu 50 Prozent ansteckender sein kann und mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar schwerere Krankheitsverläufe auslöst. Ich sage es Ihnen noch mal: Sobald diese gefährliche Virusmutante den Wildtyp verdrängt hat – das kann bereits in wenigen Wochen der Fall sein –, werden die Fallzahlen auch bei uns wieder steigen. Jetzt vor allem auf ungezielte Massentests zu bauen, kann gefährlich sein.
Im Vergleich zum PCR-Test sind Schnelltests zudem insbesondere bei asymptomatischen Patienten deutlich weniger empfindlich, und je mehr Menschen wir damit ohne Anlass testen, desto ungenauer wird das Ergebnis. Aus meiner Sicht fahren wir besser damit, gezielt zu testen statt einfach ins Blaue hinein, zum Beispiel überall dort, wo sich ältere und kranke Menschen aufhalten oder wo eine Ansteckung wahrscheinlich ist.
Herr Kollege Pilsinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Ja, natürlich.
Herr Pilsinger, herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie sprachen gerade über die Unzuverlässigkeit des Tests. Meinen Sie, dass wir dann die Tests weglassen sollten? Würden Sie jetzt sagen, dass es gut ist, wenn beispielsweise Schülerinnen und Schüler getestet werden, oder sollen wir es gleich sein lassen und sie trotzdem in die Schule schicken? Wie sehen Sie das? Sie haben gerade ein Plädoyer gegen diese Testungen gehalten, und mich würde jetzt interessieren, wie Ihre Meinung oder die Meinung der Union diesbezüglich ist, also ob Sie denken, dass diese Schnelltests vielleicht widersinnig sind.
Herr Kollege Ullmann, ich habe deutlich gesagt, dass Schnelltests ein wirkungsvolles Mittel sind, aber kein Allheilmittel. Man muss deutlich darauf hinweisen, dass bei asymptomatischen Patienten der Schnelltest oft nicht sensibel genug ist. Wir können mit dem Schnelltest nur feststellen, ob jemand hoch ansteckend ist. Deswegen müssen wir uns genau überlegen, wen wir testen, und wenn wir testen, dann müssen wir sehr regelmäßig testen.
Diese Schnelltests sind Momentaufnahmen; auch Professor Meyer-Hermann hat dies in der Vergangenheit richtigerweise schon mehrfach in den Medien gesagt. Sie lassen nur eine Aussage über die letzten 12 bis 24 Stunden zu. Deswegen denke ich, dass wir noch mal genau eruieren müssen, wo, wann und wie oft wir testen.
Tests allein werden aber kein Allheilmittel sein, um die Virusmutationen einzudämmen. Massentests haben auch in Österreich nicht dazu geführt, das Virus komplett auszulöschen.
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Nur eine Frage. – Jetzt läuft die Redezeit weiter.
Im Vergleich zu PCR-Tests sind Schnelltests zudem insbesondere bei asymptomatischen Patienten deutlich weniger empfindlich. Je mehr Menschen wir damit ohne Anlass testen, desto ungenauer wird das Ergebnis.
Mittlerweile stehen uns die Tests auch in ausreichender Zahl zur Verfügung. Deshalb ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Anwendung der Schnelltests auf weite Bereiche auszudehnen und sie zum Beispiel in Kitas und Schulen täglich anzuwenden. Mit den regelmäßigen Tests können wir zwar nicht alle Infizierten sofort erkennen, aber zumindest einen Großteil derjenigen, die bereits hoch ansteckend sind. Hier sind wir jetzt klar im Vorteil im Vergleich zum vergangenen Jahr, als uns noch nicht ausreichend Tests zur Verfügung standen. Diesen Vorteil sollten wir nun nutzen.
Natürlich gilt in der jetzigen Situation: Ein negativer Test ist nur eine Momentaufnahme und entbindet uns nicht von der Einhaltung der Coronamaßnahmen. Gezielte Testungen auf das Coronavirus sind ein wesentlicher Baustein bei der Eindämmung der Pandemie; aber sie werden eben nicht zu einer signifikanten Absenkung der Fallzahlen führen können.
Unser Weg aus der Pandemie bleibt weiterhin das Impfen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal betonen: Auch wenn andere Länder hier eine abweichende Strategie fahren, steht bei uns weiterhin der individuelle, vollständige Schutz des Einzelnen im Vordergrund. Sobald uns ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen, können wir die Impfungen auch in die Hände der niedergelassenen Ärzte geben. Dann werden sich die täglichen Impfkapazitäten noch einmal vervielfachen.
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Bis dahin müssen wir uns aber gedulden.
Schnelltests können uns über die kommenden Monate hinweghelfen, und sie werden auch Leben retten. Aber bitte lassen Sie sich nicht dazu verleiten, darin eine Lösung für diese Krise zu sehen. Es handelt sich um ein gutes Werkzeug – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Solange wir unsere Kontakte und unsere Mobilität weiterhin einschränken, wird das Virus auch weniger Gelegenheit vorfinden, sich zu verbreiten. Das ist es, worauf es jetzt wirklich ankommt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg, AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Antrag der FDP: „Mit Corona-Selbsttests zurück in die Normalität“. Aktuell – Stand 24. Februar 2021 – sind ja drei Coronaschnelltests zugelassen. Aber Schnelltests wie auch Selbsttests gelten eben nicht als sicher aussagefähige Befunde:
Ein Antikörperschnelltest kann negativ ausfallen, während die getestete Person infektiös ist; das ist das erste Problem.
Zweitens kann ein Antikörperschnelltest durch eine frühere Infektion mit einem anderen Coronavirus positiv ausfallen. Dabei ist unklar, ob diese Schnelltests bzw. Selbsttests hier trennscharf analysieren. Ein Schnelltest kann einen PCR-Test nicht ersetzen, sondern ein positiver Schnelltest muss durch einen PCR-Test überprüft werden; das hat die FDP in ihrem Antrag selbst auch noch einmal festgestellt.
Drittens. In der öffentlichen Anhörung zu dem FDP-Antrag „Praxistaugliche und intelligente COVID-19-Teststrategie“ erklärte der Sachverständige Professor Martin Exner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, am 28. Oktober 2020, wie unsicher und ungenau die präventive Testung eines Symptomlosen mittels eines Antigenschnelltests ist. Nur zu 50 Prozent erhält man ein Ergebnis, welches dann mit dem PCR-Test übereinstimmt.
Also, meine Damen und Herren: Die FDP will tägliche Selbsttestungen; so habe zumindest ich es herausgelesen. Das wären ungefähr 60 Millionen Tests in unserem Land. Bei täglichen Testungen kommt man im Monat auf 1,8 Milliarden Tests, wenn ich es richtig gerechnet habe. Wo sollen die herkommen, und wer soll die bezahlen? Das ist für mich die Frage.
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Meine Damen und Herren, schon die Corona-Warn-App für das Smartphone hat sich nicht bewährt. Sie wird von viel zu wenig Menschen benutzt. Trotzdem will die FDP in ihrem Antrag darauf aufbauen. Problematisch aus meiner Sicht ist auch, dass es viele Menschen gibt, die gar kein Smartphone besitzen, nutzen oder nicht in der Lage sind, sich damit auseinanderzusetzen. Was ist mit dieser Gruppe? Die erreichen Sie damit nicht. Ungeachtet dieser Mängel soll dies nun der Schlüssel für den Friseurbesuch, den Eintritt zu Veranstaltungen oder den Restaurantbesuch werden.
Die FDP will, dass über die sogenannte ergänzte Corona-Warn-App Meldungen an die Gesundheitsämter erfolgen. Das ist interessant. Sollen die Testergebnisse aus dem Selbsttest, welcher noch wesentlich unsicherer ist als der PCR-Test, gemeldet werden, obwohl diese dann noch einer Überprüfung durch einen PCR-Test bedürfen? – Das ist nicht ganz logisch für mich.
Je mehr getestet wird – auch das ist gestern schon mal angesprochen worden –, umso mehr positive Ergebnisse erhält man, obwohl sich an der Situation nichts ändert. Es besteht hierbei die Gefahr, dass die zahlreichen positiven Ergebnisse zu höheren Inzidenzwerten und damit zu einem Dauerlockdown führen können. Das ist das große Problem, das ich hierbei sehe.
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Meine Damen und Herren, aus unserer Sicht ist die Pflicht zum Schnelltest mit einem indirekten Impfzwang vergleichbar. Dieser wird von der AfD – das wissen Sie – entschieden abgelehnt. Der Erhalt von Grund- und Freiheitsrechten darf nicht an eine Bedingung geknüpft werden.
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Meine Damen und Herren, Selbsttests können sinnvoll sein – keine Frage –, zum Beispiel vor einem geplanten Besuch bei Risikogruppen – wir alle wissen, welche Gruppen das sind –, oder auch für Menschen, die in medizinischen Berufen arbeiten. Aber dies muss immer freiwillig und eigenverantwortlich erfolgen.
Häufige, regelmäßige Selbsttests von symptomlosen Gesunden mit einem ungenauen und nicht sonderlich aussagefähigen Ergebnis führen im falsch positiven Fall zu einer unnötigen Verunsicherung und voreiliger Selbstisolation; eine Überprüfung mittels eines PCR-Tests durch einen Arzt ist dann sowieso erforderlich. Was ist mit der psychologischen Wirkung, die durch die ständige Habachtstellung erzeugt wird: Oje, was passiert mir hier? Was ist schon wieder los? – Wir versetzen uns damit in ständige Angst vor einer Gefahrensituation. Meine Damen und Herren, ich halte das für problematisch.
Vonseiten der WHO erklärte der Regionaldirektor für Europa, Hans Henri Kluge, die Coronapandemie ginge trotz noch sehr geringer Impfquote ihrem Ende entgegen. Diese Aussage von ihm wird überhaupt nicht aufgegriffen. Der unter anderem für die WHO tätige Epidemiologe Klaus Stöhr erklärte schon vor Wochen, dass eine dritte Welle und eine stark ansteigende Zahl von Mutationen der Anfang vom Ende einer Pandemie bedeuten und diese erfahrungsgemäß danach in der Ausbreitung stark rückläufig ist. Diese Einschätzung – sie ist ja nicht von mir – teilen andere Fachmediziner ebenso. Damit kann man sich doch mal auseinandersetzen. Alleinige Ausrichtung an flächendeckenden Inzidenzwerten hält Stöhr für illusorisch, nachzulesen in der „Frankfurter Rundschau“ vom 24. Februar 2021.
Letzter Satz. Der Dauerlockdown und vor allen Dingen die Feststellung der epidemischen Lage nationaler Tragweite müssen beendet werden, aber ohne Dauertestungen und Smartphone-Apps. Grundrechte, Freiheit und Eigenverantwortung müssen für alle wieder gewährt werden.
Recht vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reaktionen auf die gute Nachricht von gestern sind euphorisch. Dass drei Eigentests zugelassen werden, bietet tatsächlich den Einstieg in die Normalität. Die Zulassung der Tests hat allerdings auch zur Folge, dass es eine hohe Erwartungshaltung der Bevölkerung gibt.
Wir wollen eine Perspektive aus dem Shutdown bieten, und wir wollen wieder eine Perspektive hin zur Normalität schaffen. Daher braucht man jetzt vor allen Dingen eine genaue Betrachtung: Was können diese Eigentests überhaupt leisten? Was können diese Eigentests leisten, damit wir Infektionsketten durchbrechen und klar sagen können: Neben allen anderen Dingen, die wir als Maßnahmen miteinander vereinbart haben, ist der Eigentest etwas, das als Ergänzung angeboten wird, und zwar kostenlos?
Dieser Public-Health-Ansatz, den wir verfolgen, ist aber einer, den man in ein Konzept gießen muss, der präsent sein muss, nicht nur populistisch nach dem Motto „Wir geben das in jeden Discounter, und jeder kann sich bedienen“, sondern auch mit einem Konzept hinterlegt nach dem Motto „Was muss ich machen, wenn mein Test positiv ist? Was kann ich tun, wenn mein Test negativ ist?“. Insbesondere ist darauf hinzuweisen: Wenn mein Test negativ ist, entbindet mich das nicht von meiner Verantwortung für den Nächsten. Wenn mein Test positiv ist, dann muss Folgendes klar sein – da schaue ich in Richtung Regierungsbank –: Erstens. An wen muss ich mich wenden? Zweitens. Wo kann ich den notwendigen PCR-Test ganz schnell machen? Drittens. Wo sind die Leute, die mich in meiner Isolation unterstützen?
Das bringt mich zu einem zweiten Punkt, nämlich der Logistik: Was kann ich einsetzen? Reicht es, bei Aldi ein Körbchen an die Kasse zu stellen? Nein, natürlich nicht. Ich muss vielmehr in die Schulen gehen und den Schulen womöglich sagen: Gebt euren Schülern und Schülerinnen einen Schülerausweis, damit sie damit in die Apotheke gehen und sich eine Wochenration Eigentests abholen können. – Oder ich sage den Unternehmen: Sagt bitte eurem Arbeitnehmer, eurer Arbeitnehmerin: Du bekommst einen Ausweis; du hast eine präsenzpflichtige Beschäftigung. Geh in die Apotheke.
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Und die Apotheker müssen natürlich wissen: Wie kann ich abrechnen?
Das sind logistische Fragen, die man klären muss, bevor man in der Bevölkerung zu hohe Erwartungen weckt. Ich möchte nicht wieder eine Situation wie beim Impfen erleben, wenn es jetzt darum geht, die Eigentests zu implementieren. Wir brauchen das Vertrauen der Bevölkerung. Das ist doch der wichtige Punkt.
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Neben der Logistik und dem Konzept geht es natürlich auch um eine Priorisierung. Ich glaube, es ist fast unstrittig, mit Kindern und Jugendlichen zu beginnen; das macht Sinn. Die müssen die Eigentests morgens neben ihrer Zahnbürste liegen haben. Die Eltern müssen bei der Durchführung dabei sein. Und bei kleinen Kindern müssen die Eltern die Eigentests bekommen. Dies erfordert aber eine hohe Testkapazität. Da frage ich den Minister: Ist sichergestellt, dass wir genügend Tests haben? – Das muss sichergestellt sein. Ich möchte nicht – das sage ich noch mal –, dass diese wichtige Ergänzung, dieser Public-Health-Ansatz dadurch zerstört wird, dass wir das politisch nicht vorausblickend planen und organisieren. Das möchte ich nicht!
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Fast das Wichtigste ist, dass wir eine Aufklärungskampagne starten – natürlich mehrsprachig, barrierefrei, in einfacher Sprache. Es muss klar sein: Die Erklärung, wie ich die Tests nutze, muss in jedem Bahnhof hängen. Das muss jeder runterdeklinieren können. Es muss die Sicherheit geben, dass, wenn es eine Telefonnummer gibt, ich die auch erreichen kann und nicht in irgendwelchen Warteschleifen lande. – Da frage ich das Ministerium, den Minister: Ist daran gedacht? Ist vorausschauend alles organisiert?
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– Ich weiß, was Sie fragen wollen; deswegen gestatte ich mir, diese Frage nicht zuzulassen.
Frau Kollegin, haben Sie jetzt gesagt, Sie lassen die Zwischenfrage zu?
Nein.
Nein.
Und vor allen Dingen, liebe Kolleginnen und Kollegen: So viele Optionen haben wir jetzt, wo die Zahlen wieder leicht steigen, nicht mehr. Wir hatten nach Weihnachten die Hoffnung, irgendwann Inzidenzzahlen zu haben, die die Marke 35 erreichen. Nachdem diese Hoffnung so einfach nicht erfüllt wird, brauchen wir eine Perspektive. Die dürfen wir uns nicht selber dadurch kaputt machen, dass wir es politisch nicht hinkriegen, genau die fünf Punkte, die ich gerade genannt habe, auf die Reihe zu kriegen.
Vielen Dank.
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Danke für den Hinweis. – Dr. Achim Kessler, Die Linke, hat als Nächster das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dieser Rede fragt man sich ja fast, ob die SPD noch in der Regierung ist oder nicht mehr. Aber sei’s drum.
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Schnelltests, durchgeführt beim Gesundheitsdienst, in Arztpraxen und Apotheken, aber auch als Selbsttests für zu Hause, sind ein wichtiges Mittel – ich glaube, darin sind wir uns einig – zur Bekämpfung der Pandemie. Die Linke hat schon seit dem Sommer gefordert, dass Schnelltests flächendeckend zur Verfügung stehen müssen, und zwar kostenlos. Meine Damen und Herren, Beharrlichkeit zahlt sich aus: Wir freuen uns sehr, wenn unsere Forderung jetzt tatsächlich eine Mehrheit bekommt.
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Aber der Gesundheitsminister hat dieses Thema monatelang verschlafen. Für die Impfungen wurden Hunderte Millionen Euro ausgegeben. Für die Beschaffung von Masken hat der Bund Milliarden Euro in die Hand genommen. Aber bei Schnelltests, insbesondere bei Schnelltests in Eigenanwendung, ist nichts passiert. Das rächt sich jetzt; denn angesichts des Mangels an Impfstoffen, angesichts der Mutationen, die sich wesentlich schneller verbreiten, gibt es gar keine andere Möglichkeit, Lockerungen von freiheitseinschränkenden Maßnahmen herbeizuführen, als durch massenhafte Schnelltests. Wie immer in dieser Pandemie fährt die Bundesregierung nur auf Sicht. Angesichts der katastrophalen Folgen für die Menschen ist das wirklich unverzeihlich.
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Herr Minister, sogar ohne Geld und ohne staatliche Einkaufsprogramme hätten Sie etwas machen können. Es hätte ja schon geholfen, wenn Sie frühzeitig die Medizinprodukte-Abgabeverordnung geändert hätten, damit nicht nur Ärzte, sondern auch alle anderen die Schnelltests kaufen können. Das wäre ein Anreiz gewesen, die Tests zur Selbstanwendung schnell zu entwickeln. Das hätten Sie schon im letzten Sommer machen können, als wir das gefordert haben. Passiert ist es erst jetzt, am 2. Februar 2021. Diese fortgesetzte Weigerung, Maßnahmen vorausschauend – da kann ich der Kollegin Mattheis nur zustimmen – vorzubereiten, wirft die Frage auf, ob Sie in der Pandemie überhaupt regierungsfähig sind.
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Ich freue mich, dass sich zuerst die SPD und dann auch der Gesundheitsminister unserer Forderung angeschlossen haben, Schnelltests kostenlos anzubieten. Das war aber auch wirklich höchste Zeit. Denn es darf nicht sein, dass die Möglichkeit, sich testen zu lassen, vom Geldbeutel abhängt. Ich traue es den meisten Menschen zu, dass sie auch mit einem positiven Ergebnis eines privat durchgeführten Tests verantwortungsvoll umgehen werden. Denn gerade Menschen, die sich privat selbst testen, beweisen, dass ihnen die Pandemie und das Virus nicht egal sind.
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Sie beweisen Rücksicht, sie beweisen Verantwortungsbewusstsein, sie beweisen Solidarität, und genau darin will Die Linke die Menschen bestärken und unterstützen.
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Herr Spahn, ich habe mich persönlich wirklich sehr gefreut, als Sie kostenlose Schnelltests für den 1. März angekündigt haben. Umso größer jetzt die Enttäuschung. Das weitere Aufschieben von kostenlosen Schnelltests durch die Bundesregierung versteht wirklich niemand mehr.
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Zusagen in Höhe von 9 Milliarden Euro für die Lufthansa? Das geht ruckzuck; das ist gar kein Problem. Aber die Einführung kostenloser Schnelltests erfolgt erst nach Monaten öffentlicher Debatte. Und jetzt verschieben Sie die Einführung noch mal. Dabei bräuchten wir die Schnelltests so dringend, um die Zeit zu überbrücken, bis wir endlich genug Impfstoffe haben, damit alle geimpft werden können. Dieses Totalversagen der Bundesregierung bei der Bekämpfung der Pandemie muss jetzt wirklich ein Ende haben.
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Ob zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz oder perspektivisch vor einem Theater- oder Kinobesuch: Schnelltests können erheblich dazu beitragen, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und Infektionsketten zu unterbrechen.
Die Bundesregierung muss endlich alle Möglichkeiten ergreifen, um die Pandemie weltweit zu besiegen und Freiheitseinschränkungen so schnell wie möglich wieder zu beenden. Dazu gehört – ich habe hier öfter darüber geredet – die Freigabe der Impfstoffpatente, damit weltweit Impfstoffe produziert werden können; dazu gehört eine Teststrategie, die auch kostenlose Schnelltests für alle ermöglicht.
Dass es bisher versäumt wurde, allen Menschen mit Kundenkontakt, zum Beispiel Kassiererinnen, Zustellern, Schnelltests zur Verfügung zu stellen, ist unverzeihlich.
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Der Schutz am Arbeitsplatz muss endlich verbindlich geregelt und mit Kontrollen abgesichert werden.
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– Nein, das ist nicht die Sache der Betriebe, sondern es ist Aufgabe dieser Regierung, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen.
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Aber wenn ich zum Beispiel mit Lehrerinnen und Lehrern spreche, dann höre ich, dass bei vielen noch immer keine Schnelltests durchgeführt werden. Das wäre aber dringend notwendig, wenn wir jetzt die Schulen wieder öffnen wollen. Ähnliches gilt für Erzieherinnen und Erzieher, und es gilt auch für gefährdete Personengruppen, zum Beispiel in Sammelunterkünften, aber auch für Menschen mit Behinderung und mit selbst organisierten Pflegemodellen.
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Kommen Sie endlich Ihrer Verantwortung nach, die umfassende Versorgung mit kostenlosen Schnelltests zu gewährleisten. Dazu, meine Damen und Herren, gehört auch, die Gesundheitsämter und die Kommunen personell und finanziell so auszustatten, dass sie die Bürgerinnen und Bürger in der Pandemie umfassend begleiten und beraten können, auch und gerade im Zusammenhang mit den Schnelltests für zu Hause.
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Der Antrag der FDP hat das Ziel, die Zulassung von Schnelltests zu beschleunigen. So lobenswert dieses Ziel ist, so verantwortungslos ist der vorgeschlagene Weg.
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Wir sind von der FDP einiges gewöhnt, aber an dieser Stelle stockt einem wirklich der Atem. Die offizielle Zulassung der Schnelltests durch – ich zitiere – „eine einfache und unbürokratische Selbstverpflichtung“ des Herstellers zu ersetzen, offenbart, dass es Ihnen gar nicht um den Schutz der Menschen geht, sondern es geht Ihnen schlicht und ergreifend um Wirtschaftsförderung.
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Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass die Spenden aus der Pharmaindustrie für den Bundestagswahlkampf der FDP kräftig sprudeln werden. Die Linke jedenfalls lehnt diesen verantwortungslosen Unfug ab.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Dr. Janosch Dahmen, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Geheimnis, dass Testen und Tracing neben den Kontaktbeschränkungen und dem Impfen zu den wirksamsten Instrumenten bei der Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus gehören. Was aber bis heute ein Geheimnis der Bundesregierung bleibt, ist die konkrete Ausgestaltung ihrer nationalen Teststrategie. Im letzten Sommer hatte der Bundesgesundheitsminister eine nationale Selbstteststrategie angekündigt; aber statt Strategie nehme ich in den letzten Tagen vor allem Kakofonie beim Thema Testen und Schnelltesten von der Bundesregierung wahr. Das muss ein Ende haben!
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Es ist doch nur noch verwirrend, wenn einerseits den Bürgerinnen und Bürgern gesagt wird: „Testen ist so wichtig“, und wir auf der anderen Seite einfach so den Tag der Einführung kostenloser, schneller und wirksamer Schnelltests verschieben. Wann wird das passieren? Wie wird das sein? Wann wird das greifen? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wir reden hier über Menschenleben.
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Strategie, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt Planung, und in der Planung der Teststrategie gibt es doch erhebliche Mängel. Da wäre erstens das Zulassungsverfahren, das ziemlich chaotisch abläuft. Erst hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sämtliche Schnelltests, die bereits europäisch mit einem CE-Kennzeichen zugelassen waren, ungeprüft auf eine Liste zugelassener Tests gesetzt, um sie dann erst im Nachhinein selbst noch einmal zu validieren und mitunter auch Tests wieder von der Liste zu streichen. Bei den Schnelltests zur Selbstanwendung dann genau das Gegenteil: Die Zulassung dauert viel zu lange, und es werden immer neue, teils bürokratische Hürden aufgebaut, die Selbsttests in Verruf bringen und die Testgenauigkeit infrage stellen.
Gestern in der Debatte wurde der Eindruck erweckt, wir Grünen würden uns dafür aussprechen, ungenaue oder unsichere Schnelltests in den Umlauf bringen zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall; das will ich klarstellen: Die gestern zugelassenen Schnelltests zur Selbstanwendung sind vom Paul-Ehrlich-Institut seit Anfang Dezember validiert und als zuverlässig bestätigt. Wir haben es in zwei Monaten nicht geschafft, den Menschen diese Tests zur Selbstanwendung als Sicherheitsmaßnahme zur Verfügung zu stellen. Das kann doch nicht wahr sein! Zwei Monate, in denen fast 20 000 Menschen gestorben sind, und wir schauen an dieser Stelle nur zu. Das dauert zu lange, hier waren wir zu langsam, zu spät.
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Und zu langsam und zu spät heißt in der Pandemie, der Ausbreitung des Virus hinterherzurennen, anstatt endlich vor die Lage zu kommen.
Das zweite Problem der Teststrategie sind die Produktionskapazitäten. Produktionskapazitäten hängen unmittelbar mit der Nachfrage zusammen, und was mich ratlos macht, ist, dass der Bundesgesundheitsminister den Produzenten von Schnelltests bis heute keine realistische Bedarfseinschätzung und nicht die nötigen Abnahmegarantien geliefert hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch mal: Eine Strategie bedeutet Planung, und bei den Schnelltests brauchen die Produzenten Planbarkeit, damit sie liefern können. Hier sind wir nicht nur zu langsam und zu spät, wir haben auch noch zu wenig Tests, die wir dringend bräuchten. Krise heißt kümmern und nicht, sich einfach auf den Markt zu verlassen.
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Das dritte Problem der Teststrategie – das ärgert mich am meisten – ist der mangelnde Wille der Bundesregierung, die Schnelltests zur Selbstanwendung als wirklichen Game Changer in der Pandemiebekämpfung einzusetzen. Der Gesundheitsminister will stattdessen Schnelltests in erster Linie in Apotheken, Arztpraxen oder privaten Testcentern durchführen lassen. Wir werden das große Potenzial der Schnelltests aber nur dann ausschöpfen können, wenn wir die Hürden für die Durchführung von Schnelltests so niedrig wie möglich halten.
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Das heißt, Menschen müssen spontan in ihrem Alltag, auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg zu einem Treffen, einem Termin oder zur Großmutter einen Schnelltest selbstständig durchführen können. Was wir den Menschen nicht zumuten können, ist, jeden Tag 30 oder 40 Minuten bei einem privaten Testcenter in der Schlange zu stehen, um einen Schnelltest zu machen. Mit den Selbsttests geben wir den Menschen Handlungsfähigkeit in der Krise zurück. Wir machen sie zu aktiven Akteuren im Kampf gegen dieses Virus. Und das brauchen wir jetzt.
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Ich sage auch als Arzt ganz deutlich: Die Selbsttests sind zuverlässig; die Selbsttests sind kostengünstig; die Selbsttests binden kein Fachpersonal, das wir an anderer Stelle der Pandemiebekämpfung im Moment viel dringender brauchen. Deshalb appelliere ich an die Bundesregierung: Vertrauen Sie unseren Bürgerinnen und Bürgern! Sie können sich zuverlässig selbst testen. Geben Sie jeder Bürgerin und jedem Bürger jede Woche zwei kostenlose Selbsttests, und wir führen damit mehr Sicherheit in einer schwierigen Phase der Pandemie ein und schaffen Vertrauen, das wir dringend in der Pandemiebekämpfung brauchen.
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Herr Spahn, lassen Sie uns Ihr Motto „Testen, testen, testen“ mithilfe der Bürgerinnen und Bürger endlich in die Tat umsetzen. Deshalb sage ich hier an dieser Stelle: Wir müssen endlich zum Prozedere kommen: Selbst testen, selbst testen, selbst testen.
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Denn eine Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss uns doch klar sein: Wenn jetzt die Schulen öffnen und bald die Friseure, dann müssen wir den Menschen ein Sicherheitsgeländer gegen die Gefahr der Ansteckung bauen. Und dieses Sicherheitsgeländer sollte meines Erachtens mindestens aus drei Elementen bestehen: den Schnelltest zur Selbstanwendung, dem flächendeckenden Tragen von sicheren, medizinischen Masken bzw. FFP-2-Masken und einer funktionierenden Kontaktnachverfolgung einschließlich Clustererkennung mithilfe der Corona-Warn-App. Wenn das öffentliche Leben nun an manchen Stellen wieder losgeht, dann können wir uns kein Zuspät, Zulangsam, Zuwenig mehr leisten. Zeit ist der kritischste Faktor in dieser Pandemiebekämpfung. Hier sollten wir endlich Verantwortung übernehmen und für alle Menschen vernünftige Lösungen bieten.
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Ein letztes Wort noch zum FDP-Antrag. Herr Kollege Ullmann, ich wundere mich schon sehr: Als wir vor vier Wochen dieses Thema hier ins Parlament eingebracht haben, haben Sie – das kam aus Ihren Reihen – ganz großspurig gesagt, die Grünen würden unverantwortliche Zulassungsverfahren befeuern. Jetzt legen Sie einen Vorschlag vor, den wir vor vier Wochen eingebracht haben, in der Phase der Pandemie, wo klar war, dass wir Schnelltests zur Selbstanwendung brauchen. Ich muss Ihnen ehrlicherweise sagen: Ich hätte mir damals mehr Unterstützung gewünscht. Im Kern bin ich aber froh, dass Sie sich unserem Vorschlag anschließen und dass jetzt hier im Parlament offensichtlich von verschiedenen Stimmen endlich der Einsatz von Schnelltests gefordert wird.
Vielen Dank.
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Rudolf Henke, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir müssen mal wieder Acht geben, dass wir die Bedeutung und den Stellenwert eines Themas nicht wegen eines parteipolitischen Konflikts, der möglicherweise durch die nahenden Wahlen befördert wird, zerreden.
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Ich will das angesprochene Freitesten durch Schnelltests einordnen. Wenn ein Arzt Schnelltests empfiehlt und sagt: „Die sind alle sicher“, dann muss ich dazu sagen: Das ist erst erwiesen, wenn das für die bestimmte Testklasse erwiesen ist. Deswegen ist ein Verfahren notwendig, in dem geprüft wird, ob es eine CE-Kennzeichnung für die professionelle Anwendung gibt, in dem geprüft wird, ob das Unternehmen bei einer benannten Stelle einen Antrag auf Einbindung im Rahmen eines Konformitätsbewertungsverfahrens gestellt hat. Wäre das nicht der Fall, käme es nämlich zu einer Kettensonderzulassung, und das kann nicht unser Interesse sein. Also muss eine positive Evaluierung durch das PEI erfolgt sein, damit das BfArM entscheiden kann. Dann kann der Nachweis des Erfüllens der speziell für die Laienanwendung spezifizierten grundlegenden Anforderungen, die sich aus der entsprechenden EU-Richtlinie ergeben, bestätigt werden. Für die Prüfung dieser Anforderungen muss nach Anhang VI.1 der IVDD auch eine Laienstudie vorliegen. Das dauert seine Zeit. Ich finde, wir sollten uns gemeinsam dazu bekennen, dass – Krise hin, Krise her – jetzt nicht einfach alle Qualitätsanforderungen an Medizinprodukte fahren gelassen werden.
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Ich habe ja Verständnis dafür, dass die FDP überlegt: Kann man das beschleunigen?
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– Sie sagen Ja. Sie verweisen dabei auf die Niederländer
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– Entschuldigung –, auf die österreichischen Freunde und sagen: Man kann dort durch eine Selbstverpflichtung des Herstellers bestätigen, dass bei Eigenanwendung ein Sicherheits- und Leistungsniveau erreicht wird. Was heißt es denn, dass dort ein Sicherheits- und Leistungsniveau erreicht wird? Ein Sicherheits- und Leistungsniveau wird immer erreicht, bei jeder beliebigen Selbstbestätigung wird ein Sicherheits- und Leistungsniveau erreicht. Welches, ist doch entscheidend. Und dann sagen Sie: Der Hersteller soll bestätigen, dass die Funktionstauglichkeit und die Einsatztauglichkeit für den geplanten Zweck gewährleistet ist. – Ja gerne, wenn man dem Hersteller vertrauen kann. Wir werden aber eine solche Vielzahl an Herstellern haben, die versuchen werden, Produkte in den Markt zu drücken, dass wir das gleiche Problem wie bei den Masken erleben werden. Nachdem wir die Masken aus aller Welt bestellt hatten, hat man Jens Spahn vorgeworfen, dass er sie mit einer Schere zerschnitten hat, um zu prüfen, ob sie fünf Lagen haben, und sich geweigert hat, die zu bezahlen, die keine fünf funktionsfähigen Lagen hatten. So muss man das bei den Schnelltests auch machen.
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Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP dazu?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Henke, danke, dass Sie die Frage zulassen. Sie sprachen gerade Österreich an. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass die Schnelltests, die in Österreich zur Selbstanwendung zugelassen sind – auch mit einer Selbstverpflichtung –, alle eine CE-Zertifizierung haben müssen und entsprechende Daten vorliegen müssen? Wenn Sie das wissen, ist Ihre Argumentation fehlgeleitet; denn die Daten sind ja da. Oder trauen Sie den Firmen nicht zu, dass sie diese Daten richtig erhoben haben?
Lieber Herr Kollege Ullmann, die CE-Kennzeichnung für die professionelle Anwendung stellt sicher, dass der Hersteller mit den einschlägigen gesetzlichen und normativen Vorgaben für Tests vertraut ist und dass entsprechende Leistungsnachweise erfolgt sind. Sie stellt überhaupt nicht sicher, dass etwa eine Laienstudie vorliegt. Insofern ist die CE-Kennzeichnung eine wichtige und wesentliche Voraussetzung, um Produkte auf den Markt zu bringen. Aber an sicherheitsrelevante Medizinprodukte sind selbstverständlich weitere Anforderungen zu stellen. Eine CE-Zertifizierung allein reicht jedenfalls nach unserer Auffassung nicht. Insbesondere wenn so relevante Entscheidungen wie die, die Sie in Aussicht gestellt haben – ob man bestimmte Kinos, Theater, Restaurants, den eigenen Onkel, ein Fußballspiel besuchen kann –, daran geknüpft werden, dann ist das meines Erachtens zu wenig.
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Nun noch ein Wort zu der Frage, welche Aussagekraft diese Antigentests – das sind keine Antikörpertests, wie eben mal gesagt worden ist – haben. Da will ich aus dem „Epidemiologischen Bulletin“ von heute zitieren, dass das RKI herausgibt:
Gerade bei der Anwendung von Antigentests durch Laien ist es essenziell, dass der Anwender das Testergebnis richtig interpretieren und sachgerechte Schlussfolgerungen daraus ziehen kann. Ein positives Ergebnis … stellt zunächst einen Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion dar. Es ist jedoch noch keine Diagnose … Die Diagnose wird erst durch den nachfolgenden RT-PCR-Test sowie die ärztliche Beurteilung gestellt. Bei einem positiven Antigentestergebnis werden hohe Anforderungen an das daraus resultierende selbstverantwortliche Handeln gestellt. Es ist erforderlich, dass sich die positiv getestete Person in Absonderung begibt … und sich telefonisch mit dem Hausarzt oder einem geeigneten Testzentrum in Verbindung setzt, der/das dann eine PCR-Testung in die Wege leitet …
Man hat diesen Aspekt nicht richtig verstanden, wenn man glaubt, dass man sich mit einem negativen Schnelltest, egal ob er mit Unterstützung von Profis oder im Selbsttest stattfindet, freitesten kann. Freitesten kann man sich nicht, weil das eine Momentaufnahme für ganz kurze Zeit ist,
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für einen Tag, würde ich sagen, manche sagen sogar für nur sechs bis sieben oder acht Stunden. Ein negatives Testergebnis besagt nicht, dass man in den nächsten Tagen praktisch nicht ansteckend ist.
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Zu dem Zeitpunkt, wo der Test positiv ausfällt, ist mit hoher Sicherheit klar, dass man jetzt andere anstecken kann. Diese Beratung muss man natürlich in irgendeiner Weise sicherstellen.
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit.
– Ich komme zum Schluss. – Der Titel Ihres Antrags – „Schneller, einfacher, freier – mit Corona-Selbsttests zurück in die Normalität“ – weckt ganz andere Erwartungen. Geben wir Acht, dass der „German Mut“ nicht zu sehr durch die Frühlingsfreude beeinträchtig wird. Ich wünsche Ihnen trotzdem ein schönes – –
Osterfest.
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Ich glaube, wir haben verstanden.
Ich habe die Frau Kollegin angeschaut, die die ganze Zeit versucht, eine Frage zu stellen. Aber ist gut, ich bin ja auch über die Zeit.
Allerdings.
Ein bisschen ist ja klar geworden. – Ich wünsche Ihnen eine schöne Frühlingszeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Henke, auch für die guten Wünsche, egal wofür. Wir nehmen sie gerne entgegen. – Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Paul Viktor Podolay.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Coronaselbsttests gelten als Möglichkeit, das Land aus dem Dauer-Lockdown zu führen. Die Intention ist absolut zu begrüßen. Doch wie soll das in der Realität aussehen? Und ist es mit Schnelltests getan? Natürlich nicht. Oberstes Ziel muss es sein, das reale Infektionsgeschehen in der Bevölkerung differenziert abzubilden und sich nicht fanatisch an willkürliche Inzidenzwerte zu klammern. Es ist bekannt, dass diese Selbsttests in großen Mengen falsch positive und falsch negative Resultate produzieren werden. Das heißt, sie sind ungenau.
Was ist die Konsequenz, wenn alle anfangen, sich wie verrückt zu testen, und eine Flut an falschen Ergebnissen in die Inzidenzstatistik eingeht? Bleiben wir dann im Dauer-Lockdown, meine Damen und Herren?
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Wollen Sie von der FDP das? Dass Sie das allen Ernstes fordern, zeugt entweder von mangelnder Fachexpertise oder mangelndem Demokratieverständnis. Die Tests zunächst auch ohne Zulassungsverfahren auf den Markt zu bringen, ist das i-Tüpfelchen Ihrer Wahnsinnskreation. Dieses Selbsttestkonzept darf nicht als weiteres populistisches Mittel durchgeprescht werden.
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Denn langsam haben die Menschen da draußen die Nase gestrichen voll.
Die Willkür, die wir hier in Deutschland seit Monaten erleben, erinnert an eine Bananenrepublik: Lockdown in Endlosschleife, hysterische Politiker à la Karl Lauterbach und ein Innenministerium, das die Forschung korrumpiert, um politische Maßnahmen umzusetzen.
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Meine Damen und Herren, Orwells Überwachungsstaat aus dem Buch „1984“ wird seit 2020 teilweise zur Realität. Covid-19 beschäftigt uns nun seit über einem Jahr, und von den Schnelltests für zu Hause erhoffen sich viele Menschen mehr Normalität. Genau das will die AfD auch, jedoch mit Verstand und Logik. Bevor wir das Land mit unsicheren Schnelltests fluten, müssen wir die Wurzel allen Übels abschaffen, das heißt die willkürlichen und sich ständig ändernden Inzidenzschwellen streichen und die Ausrichtung der politischen Maßnahmen an diesen ein für alle Mal beenden.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Jetzt ist der nächste Redner an der Reihe – beruhigen Sie sich bitte, alles gut –: Das ist der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Dank an die FDP, dass wir ein sehr zentrales Thema in der Öffentlichkeit hier im Parlament diskutieren. Es ist gut, dass wir uns dafür Zeit nehmen. Ich finde – vom letzten Redebeitrag abgesehen –, dass das auch eine sehr konstruktive Debatte ist, die wir mitten im Parlament führen. Dafür ein großer Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwölf Monate kämpfen wir als Land, als Welt gegen das Coronavirus, zwölf Monate, die uns als Gesellschaft gefordert haben, die uns verändert haben, die unseren Alltag radikal verändert haben, Gewohnheiten verändern, außergewöhnlich harte und herausfordernde Zeiten. Auch wenn wir, glaube ich, gerade alle die Coronamüdigkeit spüren, macht es an solchen Tagen auch Sinn, sich bewusst zu machen, was wir alles in diesem Land erlebt haben, auf das wir stolz sein können. Wir haben in den letzten Monaten erlebt, wie die Solidarität im Land gewachsen ist, wie man sich gegenseitig kümmert, wie man sich beschützt. Man erlebt in der Nachbarschaft – ich habe es selbst in meinem Wahlkreis erlebt-, dass Sportvereine auf einmal Einkaufshilfen organisieren, dass Bürgerbusse Lebensmittel ausliefern und dass Hilfsorganisationen innerhalb kürzester Zeit in der Lage sind, Impfzentren einzurichten. Gerade in diesen Tagen können wir alle in unseren Wahlkreisen erleben, dass es Freiwillige sind, die Fahrdienste in diese Impfzentren organisieren. Das alles zeigt: Die Menschen sind solidarisch, sie sind füreinander da, wir können uns aufeinander verlassen. Ich finde, dass gerade eine solche Debatte hier im Parlament auch ein Ereignis ist, bei dem wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier Danke sagen sollten an all die, die uns in den letzten zwölf Monaten geholfen haben, das Land durch eine schwierige Zeit zu bringen. Also, ein großer Dank an alle, die geholfen haben.
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Wir sehen also nach zwölf Monaten: Die Solidarität ist ungebrochen. Aber auch ich spüre, dass die Coronamüdigkeit zunimmt und dass so manchem die Puste ausgeht. Die Belastungen sind für alle spürbar: bei den Erzieherinnen und Lehrern, die sich um die Kinder und Jugendlichen kümmern wollen, die da sein wollen, die sich aber selbst auch Gedanken um ihre Gesundheit machen; bei der Pflegekraft, die seit zwölf Monaten alles gibt, um Menschenleben zu schützen; beim Gastronom, der sich an alle Regeln gehalten hat, der Schutzkonzepte aufgestellt hat und trotzdem seit November keine Kunden mehr bedienen kann; bei der Künstlerin, die seit einem Jahr die Bühne schmerzlich vermisst. Alle diese Menschen kennen wir doch aus unseren Wahlkreisen. Alle diese Menschen halten sich an die Regeln. Alle diese Menschen tragen politische Entscheidungen aus diesem Parlament oder aus anderen Runden mit. Und alle diese Menschen haben eine klare Erwartung an die Politik: dass wir alles geben, dass wir uns 24 Stunden am Tag darum kümmern, dass wir gut durch diese Pandemie kommen, dass wir an Wegen aus dieser Pandemie arbeiten.
Ich will hier sagen: Ich habe einen großen Respekt vor all denen, die Verantwortung tragen: in der Bundesregierung, in den Landesregierungen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht die Zeit für eine Selbstdarstellung von Ministerinnen und Ministern. Es ist die Zeit, in der in der Regierung hart gearbeitet werden muss. Die Menschen wollen keinen Jubel, keine platten Durchhalteparolen, keine aufgesetzten Versprechen und erst recht keine Enttäuschung. Die Menschen wollen sehen, dass die Politik hart für sie arbeitet. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Pflicht, die wir auch hier im Parlament gemeinsam haben.
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Jetzt geht es darum, Öffnungsperspektiven zu schaffen, nachvollziehbare Kriterien, anhand derer klar wird, wie es besser wird und wie wir aus dieser Krise herauskommen. Das ist die Erwartung, die wir alle für die nächste Ministerpräsidentenkonferenz haben. Und wir müssen auch über den Weg dahin reden. Der Weg lautet: impfen, testen und Kontakte nachverfolgen.
Ich finde gut, dass wir über das Testen reden. Testen ist für mich ein Teil der Strategie, wenn es nicht um den Lockdown gehen soll. Ich sage Ihnen ganz klar: Der Lockdown ist nicht der Weg aus dieser Krise. Der Weg aus der Krise ist „impfen, testen und Kontakte nachverfolgen“. Wir erleben doch in diesen Tagen alle, dass es kluge Konzepte gibt. Da sind die Gastronomen, die kluge Ideen auf den Weg bringen, wie man Restaurants wieder öffnen kann. Da sind diejenigen aus dem Bereich der Kultur, die kluge Konzepte haben. Das Testen in Schulen und Kitas gehört zum Öffnen dazu. Da sind wir uns doch einig. Wir können Grundrechte zurückgeben, wenn stärker getestet wird.
Und, lieber Jens Spahn, ich will das hier sagen: Es ist gut, dass es beim Testen jetzt endlich vorangeht, bei den Schnelltests und bei den Selbsttests. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die wir als Politik gemeinsam stemmen müssen, egal ob Regierung, Opposition, Land, Bund. Wir müssen das gemeinsam stemmen, weil es der Weg raus ist aus dieser Pandemie.
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Aber ich sage Ihnen auch, lieber Jens Spahn: Millionen Menschen in diesem Land schauen auf Sie. Millionen Menschen haben die Hoffnung, dass es besser wird. Wenn Sie Dinge per Twitter versprechen, die Sie nicht halten können, dann zerstört dies das Vertrauen in die Politik insgesamt. Das darf nicht sein.
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Ich will auch etwas zu einem zweiten Thema sagen, das uns aus dieser Pandemie herausführt: das Impfen. Über Monate haben wir den Menschen gesagt: Wenn der Impfstoff da ist, dann ist das die Wende, das ist das Licht am Ende des Tunnels. – Wir merken gerade, wie wir den Anschluss verlieren. Die Kritik Anfang des Jahres – das will ich hier sagen – hat geholfen, dass wir besser geworden sind. Aber jetzt dreht sich die Debatte. Jetzt können wir morgens in den Zeitungen lesen, dass Impfdosen nicht verimpft werden.
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Wir haben eine gute Infrastruktur und zu wenig Impfstoff. Und das dreht sich jetzt gerade – das hört man in vielen Gesprächen –: In ein paar Wochen werden wir zu viel Impfstoff haben und keine Infrastruktur mehr, an der dieser verimpft werden kann. Aber wollen wir nicht vorausschauend Politik machen? Ist es nicht jetzt Aufgabe des Bundesgesundheitsministeriums, die Länder, die Bundeswehr und die Hilfsorganisationen an einen Tisch zu holen, um zu gucken: Wie machen andere Länder das, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche impfen?
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Brauchen wir nicht diesen Kraftakt, liebe Kolleginnen und Kollegen? Das ist doch das, was die Menschen von uns erwarten. Das Virus kennt keine Öffnungszeiten, keine Nachtruhe und kein Wochenende. Wenn es stimmt, was ich vorhin gesagt habe, dass so viele Menschen von uns erwarten, dass wir es besser machen, dann muss das doch der Geist sein, der in der Bundesregierung und auch in diesem Haus herrscht. Wir wollen es besser machen, weil wir den Anspruch haben, das Land vernünftig durch diese Pandemie zu bringen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Klingbeil. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion der FDP die Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Antigenschnelltests sind ein wichtiger Baustein in der Pandemiebekämpfung, vor allem bei dem immer noch herrschenden Impfstoffmangel und den sich ausbreitenden Virusvarianten. Umso schlimmer ist es, Herr Minister Spahn, dass Ihr Versprechen, ab dem 1. März allen Bürgerinnen und Bürgern kostenlose Schnelltests zur Verfügung zu stellen, nicht gehalten wurde. Wir haben Sie damals dafür sehr gelobt. Wir haben uns darauf gefreut, wie alle Bürgerinnen und Bürger. Und jetzt hat sich die Kanzlerin eingeschaltet und Ihre Vorlage einkassiert. Wissen Sie, mir ist es egal, ob Sie einen Zwist mit der Bundeskanzlerin ausfechten oder nicht, aber wenn es darum geht, dass Bildung, dass Kunst, dass Kultur, dass Gastronomie, dass Sport damit verhindert wird, dann trifft es die gesamte Bevölkerung. Und das können wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
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Ihr ganzes Hin und Her bewirkt wieder einmal einen massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Das können wir in der jetzigen Situation überhaupt nicht gebrauchen. Das sagen übrigens nicht nur wir als FDP-Fraktion, sondern das sagt auch Professor Dabrock, der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, auf den wir doch immer so gerne hören.
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie mit unserem Antrag auf, gemeinsam mit den Ländern einen Stufenplan auszuarbeiten und dabei Antigen-Schnelltests zur Selbstanwendung zu integrieren. Wir haben hier übrigens vor zwei Wochen auch schon einen bundesweiten Stufenplan eingebracht und vorgelegt. Sie können ihn gerne nachlesen und auch übernehmen, genauso wie den jetzt vorliegenden Antrag. Das würde zumindest schneller gehen; denn wieder einmal sind Wochen vergangen, in denen nichts passiert ist. Ich höre hier immer nur, was nicht geht. Sagen Sie doch endlich mal, was geht. Das würde Perspektiven für die Bevölkerung schaffen, meine Damen und Herren.
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Österreich und Dänemark haben es vorgemacht und Schnelltests als einen Weg aus dem Lockdown eingeführt. Warum läuft das eigentlich bei uns nicht so? Wir könnten das bei allen Schülerinnen und Schülern vor der Schule machen. Das würde Sicherheit geben, und das würde auch den Alltag der Menschen erleichtern. Schnelltests bieten Sicherheit im Alltag. Wir können damit ganz konkrete Situationen absichern: Schnelltest vor dem Besuch einer Kulturveranstaltung, Schnelltest vor einem Restaurantbesuch, vor dem Besuch einer Sportveranstaltung oder, wie gesagt, der tägliche Selbsttest in Schule und Kita. Meine Damen und Herren, solange wir noch nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung haben, ist dies der einzige Weg, mit dem wir gefahrlos vorsichtige Schritte hin zu mehr Freiheit ermöglichen können. Und das ist doch das, was wir alle wollen, was auch die Bürgerinnen und Bürger wollen, meine Damen und Herren.
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Wir wollen den Menschen Perspektiven bieten. Herr Minister, Sie haben doch gestern selbst im Ausschuss gesagt, dass wir genügend Selbsttests haben, dass genügend Tests vorhanden sind
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und dass auch die Strukturen da sind, um diese durchzuführen. Ja, worauf warten wir denn dann noch, meine Damen und Herren? Liefern Sie endlich. Uns haben Sie an Ihrer Seite. Aber dann müssen Sie Ihre Versprechungen auch einhalten.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Abgeordnete Alexander Krauß.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbsttests und Schnelltests – keine Frage! – machen es uns leichter, durch diese Pandemie zu kommen. Sie sind aber kein Allheilmittel. Nachdem ich meine Vorrednerin gehört habe, so nach dem Motto: „Man wendet mal die Schnelltests an, und dann kommt man aus dem Lockdown raus“, muss ich sagen: So einfach ist die Welt leider nicht.
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– Nein, sie hat es gesagt.
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Aber keine Frage: Selbsttests und Schnelltests sind ein Meilenstein und helfen uns, weiter voranzukommen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, gerade in Schulen und Kitas diese Tests einzusetzen. Das kann das Infektionsrisiko deutlich senken. Es lebt aber auch vom Mitmachen. Im Bundesland Sachsen, wo ich herkomme, hat man den Schulen freiwillige Schnelltests für die Schüler angeboten; nur ein Drittel hat das Angebot genutzt. Diese Quote müssen wir steigern. Es muss selbstverständlich sein, dass man einen Schnelltest macht, vielleicht auch einen Selbsttest, weil er eben einfacher ist und vielleicht manche Ängste nimmt.
Es bleibt dabei: Die Grundregeln, die wir aufgestellt haben – Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmasken tragen, lüften, die Corona-Warn-App benutzen –, müssen wir beibehalten. Wenn man das vernachlässigt, wird es schiefgehen.
Natürlich – keine Frage! – müssen wir auch beim Thema Impfen vorankommen, weil das der größte Schritt ist, der uns hilft, gut durch diese Pandemie zu kommen.
Schnelltests, seit gestern zugelassen, dürfen nicht zu einer trügerischen Sicherheit, zu einer Scheinsicherheit führen – darauf weist das Robert-Koch-Institut richtigerweise hin –; denn sie haben eine geringere Sensitivität, sie sind also weniger genau als ein PCR-Test. Sie sind also keine absolut sichere Methode, und sie leben davon, dass sie sachgerecht angewendet werden. Es bringt wenig, wenn man einen Test anwendet, es aber nicht richtig macht und damit dann auch kein aussagekräftiges Ergebnis erhält.
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Herr Kollege Krauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gerade zu Recht darauf hingewiesen, dass es natürlich notwendig ist, dass die Schnelltests auch richtig angewandt werden; der Kollege Dr. Henke hat das ja auch schon beschrieben. Deswegen frage ich Sie, inwieweit die Bundesregierung eine breite Aufklärungskampagne über Sinn, Zweck und Anwendungsbereiche der Schnelltests vorbereitet hat und mit der Zulassung der Schnelltests jetzt auch sofort loslegen kann, damit die Menschen zum Beispiel zweimal in der Woche morgens testen können, den Stand feststellen können, und dabei auch wissen, wie man es, erstens, richtig macht und wie man sich, zweitens, verhält, wenn das Ergebnis vorliegt.
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Vielen Dank für die Frage, die sehr wichtig ist. Ich glaube, sie führt auch noch mal zu dem FDP-Antrag, der uns vorliegt.- Klar ist, wie ich finde: Es macht wenig Sinn, dass man, bevor man einen Test macht, den man sich irgendwo gekauft oder besorgt hat, irgendwo in der Zeitung, in einer Anzeige, die geschaltet wurde, nachliest, wie das Ganze funktioniert. Logisch ist doch vielmehr, dass bei einem Selbsttest eine Packungsbeilage dabei ist, in der man genau lesen kann, wie er funktioniert.
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Deswegen ist es auch wichtig, liebe Kollegen von der FDP, dass man nicht nur sagt: „Die sollen mal alle die Tests auf den Markt bringen, und dann gucken wir mal, was passiert“, sondern vorher schaut: Ist der Test sinnvoll und gut, und ist eine Gebrauchsanweisung dabei, mit der man irgendetwas anfangen kann? – Deswegen ist dieser Testdurchlauf, bei dem man testet, ob der Test gut ist, so enorm wichtig.
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Lassen Sie mich zu meiner Rede zurückkommen. Wir werden diese Selbsttests haben. Es ist davon auszugehen, dass bei 0,8 oder 0,9 Prozent der Tests ein positives Ergebnis vorliegen wird. Und dann ist es wichtig, dass diesen Tests nachgegangen wird, dass ein PCR-Test durchgeführt wird, dass in der Gebrauchsanweisung auch steht, wie man vorzugehen hat, wenn das Ergebnis positiv ist. Dafür müssen wir sorgen.
Wir haben in Deutschland eine sehr gute Kapazität aufgebaut, was die Labore betrifft. Wir haben in Deutschland die Möglichkeit, wöchentlich 2,4 Millionen PCR-Tests durchzuführen – eine enorme Leistung. Wir haben sehr leistungsfähige Labore. Wir können stolz darauf sein, dass wir so eine Infrastruktur haben. Es geht hier ja um einen Bereich, der oft im Schatten steht; denn einen Laborarzt oder die Labormitarbeiter insgesamt sieht man in der Regel nicht. Aber wir haben, gerade auch, was das Nachverfolgen und die Vollgenomsequenzierung betrifft, um herauszubekommen, um welche Virusvarianten es sich zum Beispiel handelt, wirklich sehr gute Labore und Kapazitäten. Darauf können wir stolz sein, und das ist gut so.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte noch mal ganz kurz auf das Thema Impfen eingehen, das auch der Kollege Klingbeil angesprochen hat.
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Keine Frage: Wir werden jetzt in eine Zeit kommen, in der die Kapazitäten, die die Bundesländer, die für die Impfzentren zuständig sind, für das Impfen bereitgestellt haben, nicht reichen werden, um die Impfstoffe zu verabreichen, die zur Verfügung stehen werden. Es ist eine positive Entwicklung, dass es mehr Impfstoffe gibt; das ist ja schön und gut. Aber jetzt müssen wir uns Gedanken machen: Wie kann man die Impfzentren leistungsfähiger machen? Auf der anderen Seite ist richtig, dass wir, wenn wir 3 bis 5 Millionen Impfdosen pro Woche haben, schauen müssen, wie wir die Hausarztpraxen einbinden können; das hat auch der Minister schon angesprochen.
Wir haben in der vorherigen Impfsaison kein Problem gehabt – es ist nicht einmal aufgefallen –, 14 Millionen Impfdosen im Bereich der Grippeschutzimpfung einfach mal so zu verimpfen; in dieser Saison waren es vielleicht über 20 Millionen. Wir sehen also: Wir haben mit den Hausarztpraxen ein enorm leistungsfähiges System. Dort geht es auch schneller; denn der Hausarzt muss sich im Gegensatz zu dem Arzt im Impfzentrum nicht erst anschauen, was das für ein Patient ist, welche Vorerkrankungen er hat usw., weil er das schon weiß. Damit können wir dort wesentlich schneller vorankommen. Wenn es gelingt, in jeder Hausarztpraxis ein, zwei Impftage einzuführen, dann können wir die Impfung einer großen Zahl von Patienten an diesen ein, zwei Tagen wunderschön durchziehen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Vielen herzlichen Dank an das Bundesgesundheitsministerium und an alle, die bei uns im Gesundheitswesen arbeiten! Ihr leistet Hervorragendes, damit wir gut durch diese Pandemie kommen. Auch wenn es viel Prügel gibt, will ich an der Stelle auch sagen: Ihr macht wirklich einen tollen Job; macht bitte weiter so. Ich bin mir sicher, dass wir gut durch diese Pandemie kommen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Jetzt der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich zu Beginn meiner Rede einen Satz auf die Rede des Kollegen Klingbeil verwende. Er hat eine schwierige Position zu bekleiden: Regierende Opposition ist etwas, was unsere Verfassung nicht kennt; aber er muss diese Rolle ausüben.
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Was mich nur wundert, ist, dass er hier am Pult steht und sozusagen für die SPD-Gesundheitspolitik erklärt, dass wir mehr Öffnungen brauchen, während sein SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in jeder Talkshow und bei jeder Gelegenheit davor warnt. Ich glaube, liebe Freunde von der SPD, Sie müssen mal Ihre Position klären: Sind Sie für mehr Öffnungen, oder sind Sie gegen neue Öffnungen? Ich wundere mich permanent, warum Ihr Gesundheitsexperte hier im Bundestag zu diesem Thema nicht reden darf.
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Es ist richtig und wichtig, dass Jens Spahn den Weg des flächendeckenden Einsatzes von Schnelltests beschritten hat. Das ist ein wichtiger Baustein, aber ein Baustein, den es auch schon seit vielen Monaten gibt. Der Weg aus dem Corona-Lockdown geht über drei Instrumente: Impfen, Testen und die weitere strikte Einhaltung von Schutz- und Hygienemaßnahmen. Gratis-Schnelltests als Angebot für alle Bürger, durchgeführt von geschultem Personal, perspektivisch auch Eigentests für jedermann direkt für zu Hause und Öffnungsstrategien sind folglich zentraler Bestandteil der Pandemieeindämmung.
Der Bundesgesundheitsminister hat die geänderte Testverordnung für den 1. März fertiggestellt und vom Bundesfinanzministerium auch die entsprechende Finanzierungszusage erhalten. Wenn sich nun im sogenannten Coronakabinett herausstellt, dass es angesichts unterschiedlichster Planungen und Öffnungsstrategien der Bundesländer noch Klärungsbedarf mit Blick auf diverse Fragen der Organisation und der vorhandenen Kapazitäten gibt, so kann ich wegen der Verschiebung vom 1. März auf den 3. März nicht recht nachvollziehen, warum dies ein Grund sein soll für eine neuerliche überflüssige Dramatisierung der Lage.
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Bei den Beratungen am 3. März wird es genau darum gehen, die Schnell- und Eigentests in eine Gesamtstrategie aus Impfen, Testen und Schutzmaßnahmen einzubetten, die unserem Land endlich wirksame Öffnungsperspektiven erlauben wird. Insofern geschieht genau das, was die FDP-Fraktion mit ihrem Antrag fordert: mehr Testen für Öffnungsstrategien.
Meine Damen und Herren, dabei müssen wir uns allerdings im Klaren darüber sein – das ist von mehreren Rednern gesagt worden; ich halte es für ausgesprochen wichtig –, dass Schnell- und insbesondere Eigentests auch trügerische Sicherheit vermitteln können. Fehler sind nicht auszuschließen, und die Ergebnisse werden immer nur eine Momentaufnahme sein. Das heißt nicht, dass wir es nicht machen sollen, sondern wir sollten es in großer Verantwortung machen.
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Gestatten Sie mir noch zwei Anmerkungen:
Meine erste Anmerkung geht an die Adresse der Bundesländer, die ständig neue Forderungen in Richtung Lockerungen kommunizieren, aber bei der Umsetzung konkreter Maßnahmen fast immer auf den Bund zeigen. Es steht den Ländern doch frei, in eigener Verantwortung zu handeln und beispielsweise mit Blick auf Schulen und Kitas und andere Einrichtungen im großen Stil durchzutesten. Es ist auf die Dauer einfach ermüdend, wenn in den Ländern einerseits konkret der Lockdown beschlossen wird und dann mit Blick auf das Publikum ständig mit Öffnungen und Lockerungen gewunken wird, aber konkret wenig oder nichts passiert, außer dem schon gewohnheitsmäßigen Ruf nach frischem Geld vom Bund.
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Meine letzte Bemerkung betrifft das Impfen. Ja, wir haben momentan einen Engpass; aber wir können ab sofort Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte in Kitas, Grund- und Förderschulen impfen. Obwohl ich mir wünschte, dass wir mehr Impfstoffe hätten – aber wir wussten schon im letzten Jahr, dass das das erste Quartal schwierig sein wird –, würde ich mir wünschen, dass die Länder in der Lage sind, den Impfstoff, den wir zu Verfügung stellen, dann auch zügig zu verimpfen. Aber hier versagen manche Länder. Dazu gehört auch mein eigenes Bundesland Rheinland-Pfalz; aber ich höre das auch von Niedersachsen und anderen.
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Ich bin zuversichtlich, dass wir diese Pandemie im Sommer überwunden und mehr Freiheiten haben. Wir werden in den Impfprozess eine große Dynamik bekommen, wenn die Hausärzte und die Betriebsärzte einsteigen werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Pandemie im Sommer überwunden haben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Erwin Rüddel. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Moment blicken viele mit viel Frust nach Brüssel. Das hat was mit der Beschaffung von Impfstoffen zu tun. Ja, die Beschaffung der Impfstoffe hätte besser laufen können. So etwas einzugestehen, ist auch eine unumgängliche Voraussetzung, um für die Zukunft aus Fehlern zu lernen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin genauso fest davon überzeugt: Eine gemeinsame europäische Beschaffung der Impfstoffe war der einzig vernünftige Weg. Denn was wäre die Alternative gewesen? Ein europäisches Wettrennen, jeder gegen jeden, um den knappen Impfstoff? Einige wenige durchgeimpfte Länder mitten in einem krisengeschüttelten Kontinent? Das will ich mir in einem solidarischen Europa gar nicht vorstellen. Es hätte die Europäische Union zerrissen; davon bin ich fest überzeugt.
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Vor allem, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf aber das tägliche Krisenmanagement, mit dem wir uns ja alle beschäftigen, nicht den Blick auf das verstellen, wie Europa dauerhaft aus dieser Krise gestärkt hervorgehen kann. Das wird uns nur gelingen, wenn wir den im letzten Jahr eingeschlagenen solidarischen Kurs fortsetzen werden.
Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2021 bringt unser Ziel auf den Punkt: eine gerechtere, ökologischere und digitalere Gesellschaft. Kleine Reförmchen werden dafür nicht mehr ausreichen. Wir brauchen vielmehr die Kraft zu einer echten Transformation. Der Schlüssel, um diesen Wandel in Einklang mit unseren Werten und Interessen zu gestalten, liegt letztlich vor allen Dingen in einem solidarischen und in einem souveränen Europa.
Während des letzten halben Jahres unserer Ratspräsidentschaft haben wir dafür wichtige Pflöcke einschlagen können. Jetzt arbeiten wir gemeinsam mit unseren Trio-Partnern Portugal und Slowenien daran, dass die Dinge auch umgesetzt werden. Die Einigung auf den Finanzrahmen und das Coronaaufbauinstrument mit seinen 750 Milliarden Euro war nichts anderes als ein historischer Akt europäischer Solidarität.
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Jetzt kommt es darauf an, die entsprechenden Mittel schnell verfügbar zu machen. Deshalb müssen in allen Mitgliedstaaten die hierfür nötigen Beschlüsse gefasst werden und die Pläne in Brüssel und nach Brüssel endlich auf den Weg gebracht werden. Der neue Rechtsstaatsmechanismus und das neue Menschenrechtssanktionsregime stärken die europäische Wertegemeinschaft; das ist jetzt bei all den Diskussionen, die wir in der Europäischen Union etwa mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit hatten, nötiger denn je.
Um einige konkrete Beispiele zu erwähnen, insbesondere aus einem Bereich, der ein sehr zukunftsträchtiger ist, nämlich der Digitalisierung: Wir haben mit der Datenschutz-Grundverordnung vieles auf den Weg gebracht, und wir werden das jetzt mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act weiterführen. Das sind die Arbeiten, die zurzeit in Brüssel unter Hochdruck fortgeführt werden. Wir haben während unserer Ratspräsidentschaft dafür eine vernünftige Basis gelegt. Gepaart mit ambitionierten Investitionen liegt darin das Fundament für ein digital souveränes Europa, für ein menschenzentriertes digitales Modell, das sich gegen rein marktgesteuerte oder repressive Modelle, die wir auch auf der Welt sehen können, durchsetzen kann.
Mit dem Instrument SURE haben wir Europa sozialer und gerechter gemacht; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht Banken oder Großkonzerne, sondern Menschen stehen im Mittelpunkt der Krisenbewältigung. Es ist auch gut, dass wir diesen Paradigmenwechsel beim Sozialgipfel im Mai in Portugal fortführen werden.
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Meine Damen und Herren, mit unserem ehrgeizigen Klimaziel hat Europa rechtzeitig vor der COP 26 in Glasgow wieder eine globale Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel eingenommen. Ich bin froh – und das wird uns dabei helfen, dem globalen Anspruch dieses Themas gerecht zu werden –, dass wir jetzt endlich auch wieder die Amerikaner mit an Bord haben.
Auch außenpolitisch hat die Europäische Union trotz vieler Probleme und vieler Schwierigkeiten dennoch an Gewicht und auch an Gesicht gewonnen. Nie zuvor waren wir uns so einig, dass die Herausforderungen Chinas oder Russlands gemeinsam angegangen werden müssen. Unsere Reaktion auf das Vorgehen in Hongkong oder zuletzt im Fall Nawalny zeigt das, wie ich finde, sehr deutlich und sehr konkret.
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Diesen Weg werden wir auch mit Blick auf andere Konflikte, mit denen wir es international zu tun haben, gehen. Mit der Europäischen Friedensfazilität oder dem Kompetenzzentrum für Ziviles Krisenmanagement haben wir Instrumente geschaffen, die uns in Krisen handlungsfähiger und auch transatlantisch zu einem stärkeren Partner machen.
Das alles, meine Damen und Herren, werden wir weiter vorantreiben mit einem neuen sogenannten Strategischen Kompass, den wir uns dieses Jahr gemeinsam in Europa geben wollen, und darin werden wir auch Europas Bekenntnis zu Multilateralismus verankern. Weil wir dabei nicht an Worten, sondern an Taten gemessen werden, haben die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten den Covid-19 Tools Accelerator und die gerechte Impfstoffverteilung mit mittlerweile über 3 Milliarden Euro unterstützt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, tägliches Krisenmanagement und strategisches Handeln, um Europa dauerhaft aus der Krise zu führen und besser vorzubereiten auf die Krisen, die sich in Zukunft noch ergeben werden – in den nächsten Monaten muss beides weiter Hand in Hand gehen. Bei der Antwort auf die Frage, wie Europa in 10 oder 20 Jahren aussehen soll, sollten wir vor allem auf die Bürgerinnen und Bürger Europas hören. Deshalb hoffen wir, dass im Mai endlich die Konferenz zur Zukunft Europas beginnen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sind Mammutaufgaben, die auf uns warten, aber eine solidarische und eine souveräne Europäische Union ist dafür gut gewappnet.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Für die Fraktion der AfD ist der nächste Redner der Abgeordnete Norbert Kleinwächter.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kommission beschreibt ja sehr offen, was sie möchte. Vor nicht ganz einem Jahr hat diese Kommission ihr Amt mit der Agenda angetreten, den größten Umbau Europas seit mehr als einer Generation voranzutreiben. Für diese Agenda wurde sie gewählt. Das mit der Wahl kann man auch anders sehen: Gewählt haben die Wähler eigentlich was völlig anderes als das, was sie dann bekommen haben.
Angela Merkel und Emmanuel Macron haben Ursula von der Leyen ins Amt gehievt, und das EP hat das akzeptiert. Das ist die Wahrheit. Deswegen tragen Emmanuel Macron und Angela Merkel auch eine entscheidende Mitverantwortung an diesem Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission. Das ist völlig gegen die Menschen gerichtet. Wie es gegen die Menschen gerichtet ist, zeigt auch der Kommentar darin zu Corona: Corona, die Pandemie, wird tatsächlich begrüßt, weil sie – Zitat – „den Wandel stark beschleunigt hat und daher paradoxerweise auch mit großen Chancen verbunden ist“. Also, sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, Sie verlieren Ihre Arbeit, Sie verlieren vielleicht Ihre Wohnung, Ihre Selbstständigkeit, ein Familienmitglied oder einen geliebten Verwandten, und das ist eine Chance: Ihr Leid ist der Boden, auf dem Ursula von der Leyen ihre Politik macht.
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– Genau, das ist ekelhaft. Dieses Arbeitsprogramm ist ein Manifest: ein Manifest der Niedertracht.
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Dieser Systemwandel, der gegen die Menschen gerichtet ist, hat auch überhaupt keinen Respekt vor der nationalen Souveränität. Er kennt auch nicht den Gedanken der Freiheit oder etwa der Demokratie.
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Freiheit kommt gar nicht vor, weder als Begriff noch irgendwie gedanklich. Freiheit existiert nicht in diesem Gedankenkonstrukt. Demokratie wird komplett umdefiniert, wird plötzlich zu einer Union der Gleichheit. Also: Wir haben keine Gleichheit mehr vor dem Gesetz, die postuliert wird, sondern es wird auf eine faktische Gleichheit hingearbeitet. Wer was dagegen hat, wird im gleichen Abschnitt als Hassredner bezeichnet. Alle Dimensionen von Hassrede werden ja zukünftig als Straftat von europäischer Dimension ausgewiesen. Meine Damen und Herren, selbst wer liebevoll irrt, ist dann ein wohl Desinformations-Superspreader. Weil auch Desinformation bekämpft wird, war es das dann eben mit dieser Person – sehr demokratisch!
Vor dieser EU ist wirklich absolut nichts sicher: weder die Industrie noch die Familien. Die Industrie wird das Reduktionsziel von 55 Prozent CO2 eindeutig nicht überstehen. Das ist kein Wachstumsprogramm, sondern ein Wachstumsvernichtungsprogramm.
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Selbst vor den Familien macht die EU-Kommission nicht halt. Da gibt es plötzlich eine Kindergarantie, wo man sich die Frage stellt: Was hat die EU-Kommission da eigentlich zu suchen? Es geht um einen Angriff auf die Familien. Vielleicht haben ja die Eltern eine politisch ungewollte Meinung. Da kann man dann was dagegen tun.
Die EU-Kommission pfuscht außerdem im Bereich der Migration mit herum. Das Migrations- und Asylpaket, mit dem illegale Migration massenhaft gefördert werden soll, existiert schon. Jetzt nimmt sie sich die legale Migration vor, möchte also definieren, wer auch legal zu uns kommen kann, und dafür ein Talent- und Kompetenzpaket erarbeiten. Das orientiert sich sicherlich an den außergewöhnlichen Fähigkeiten von Ursula von der Leyen.
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Wer eine davon abweichende Meinung hat, der wird letztendlich als Hassredner bezeichnet, auch besser verfolgbar mit einer europäischen digitalen Identität. Der europäische Raum für Gesundheitsdaten ermöglicht es, selbst andere Informationen noch einzuholen. Die Richtlinie für Vermögensabschöpfungsstellen verrät nur ansatzweise, worum es dabei vielleicht geht. Wir kennen es von internationalen Straftaten, dass dann Vermögen einbehalten werden kann. Aber wenn Hassrede schon eine internationale Straftat wird, dann wissen wir, in welche Richtung dieser Zug fährt.
Mein Opa sagte zu mir, als ich sieben oder acht Jahre alt war, immer: Ihr werdet sehen, die EU wird der europäische Untergang. – Ich wollte ihm wirklich nicht glauben. Ich glaubte an die europäischen Freiheiten, an die kulturelle Zusammenarbeit und an all das. Aber diese Europäische Union bedeutet den Verlust jeglichen Wohlstands, jeglicher Freiheit und jeglicher Demokratie.
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Dafür ist der Preis zu hoch.
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Wir brauchen jetzt ein Impeachment gegen diese EU-Kommission. Das sogenannte Europäische Parlament muss die Kommission aus dem Amt entfernen, sonst entfernt die Kommission alle unsere Werte und unseren Wohlstand aus der Europäischen Union.
Haben Sie vielen Dank.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Florian Hahn.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, Sie machen es einem wirklich schwer, sich nicht auf Ihre Rede zu beziehen. Ich weiß ja nicht, was der Virus mit Ihnen gemacht hat,
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aber ich sage Ihnen mal eines: Sie haben das Arbeitsprogramm der EU-Kommission als gegen die Menschen gerichtet bezeichnet, und Sie haben es als „Manifest der Niedertracht“ bezeichnet. Sie heulen mit den Opfern der Pandemie. Gleichzeitig wiederum verbreiten Sie, beispielsweise über Ihre Facebook-Accounts, Querdenker-Thesen, mit dem Satz: Masken bleiben sinnlos und gefährlich.
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Ich sage Ihnen eines: Der Einzige, der hier wirklich niederträchtig ist – der solche Politik macht –, sind Sie und nicht die Europäische Kommission.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU steht auch in diesem Jahr vor großen Herausforderungen, vielleicht sogar vor den größten seit ihrer Gründung. Seit dem 1. Januar 2021 ist das Vereinigte Königreich – mit der Ausnahme Nordirlands – nicht mehr Teil des EU-Binnenmarkts. Die Folgen werden für die Menschen in der EU und für die Wirtschaft von Tag zu Tag spürbarer. Gleichzeitig hält die Coronapandemie Europa auch in diesem Jahr im Würgegriff; wir alle leiden in erheblichem Maße darunter.
Zum Glück ist es unter der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr letzten Jahres – Gott sei Dank – gelungen, einige dicke Brocken abzuräumen. Ich denke da an den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen. Ich denke da an den Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“, aber auch an das Handels- und Kooperationsabkommen mit dem Vereinigten Königreich, auf das man sich ebenfalls kurz vor Jahresende einigen konnte. Wo stünden wir heute, wenn diese Einigungen auf europäischer Ebene gescheitert wären! Deshalb danke ich der Bundesregierung unter der Führung unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel noch einmal ausdrücklich für das, was sie während der deutschen Ratspräsidentschaft geleistet hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, da die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft Handlungsfähigkeit bewiesen hat, kann sie sich nun verstärkt auch anderen Prioritäten widmen, zum Beispiel, wie sie sich geopolitisch besser aufstellen kann. Das internationale Umfeld hat sich durch den Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden entsprechend verbessert. Nutzen wir dieses Momentum, um das transatlantische Band wieder zu stärken! Das gilt beispielsweise in der Handelspolitik, für die die Europäische Kommission letzte Woche eine neue Strategie vorgestellt hat. Werben wir bei unseren amerikanischen Freunden zum Beispiel dafür, die längst überfällige Reform der Welthandelsorganisation gemeinsam anzustoßen!
Was das Arbeitsprogramm bei EU-Kommission für das Jahr 2021 angeht, möchte ich mich auf einige Anmerkungen beschränken, die mir wichtig erscheinen:
Erstens. Auch in ihrem neuen Arbeitsprogramm fokussiert sich die EU-Kommission auf den Klimawandel und die digitale Transformation sowie auf die damit einhergehenden gesellschaftlichen großen Herausforderungen. Zum zentralen Thema Klimaschutz kündigt sie das sogenannte „Fit für 55“-Paket an, mit dem das neue ehrgeizige EU-Klimaziel für 2030 angepackt werden soll. Das ist im Ansatz auch richtig, da der Klimawandel trotz Corona langfristig die größte Herausforderung für Europa und die Menschheit an sich darstellt. Aber die EU-Politik muss angesichts der Pandemiefolgen jetzt ganz besonders darauf achten, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gestärkt wird, wirtschaftliches Wachstum möglich bleibt und Beschäftigung gesichert wird. Das gilt ganz besonders für unseren Mittelstand. Denn unser Mittelstand wird das Rückgrat für die Erholung aus der Krise sein. Deswegen müssen wir ganz besonders darauf achten.
Zweitens. Ein Thema, das sich die aktuelle portugiesische Ratspräsidentschaft auf die Fahne geschrieben hat, ist das soziale Europa. Zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte will die EU-Kommission einen Aktionsplan vorlegen, der Anfang Mai auf einem hochrangigen Sozialgipfel in Porto verabschiedet werden soll.
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Ohne Frage hat die europäische Sozialpolitik ihre Verdienste und Berechtigung, zum Beispiel im Bereich der sozialen Koordinierung, und natürlich ist und bleibt Konvergenz der sozialen Bedingungen innerhalb der Europäischen Union gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlich starken Auswirkungen der Coronapandemie auf die Mitgliedstaaten ein wichtiges Ziel. Aber – das will ich auch sagen – gerade weil die Coronapandemie unsere Wirtschaft tief getroffen hat, rate ich dazu, es mit vermeintlichen sozialen Wohltaten nicht zu übertreiben; denn nachhaltige soziale Verbesserungen wird es nur mit wirtschaftlichem Wachstum und einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit geben. In diesem Zusammenhang: Wir in Deutschland haben ein funktionierendes System der Lohnfindung und der Fortschreibung von Mindestlöhnen. Wir sollten dieses bewährte System nicht ohne Not über Bord werfen.
Drittens. Lassen Sie mich betonen: Es gibt sehr wohl eine Vielzahl von Bereichen, in denen wir dringend ein Mehr europäischer Lösungen benötigen. In wichtigen Bereichen liegen bereits Ideen und Vorschläge vor, an denen weiter gearbeitet werden muss. Ich nenne zum Beispiel die Außen- und Sicherheitspolitik, die Digitalisierung, die Gesundheitspolitik sowie Migration und Asyl.
Hervorheben möchte ich bei den unerledigten Hausaufgaben insbesondere die Debatte über die Reform zur europäischen Migrations- und Asylpolitik. Aktuell sinkt zwar die Zahl neu gestellter Asylanträge in der EU stark. Wir müssen aber genau jetzt diese Phase nutzen, um endlich zu einer gemeinsamen tragfähigen Lösung in der europäischen Migrationspolitik zu kommen.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich sagen: In so herausfordernden Zeiten wie diesen braucht es ganz besonders ein starkes und ein geschlossenes Europa. Lassen Sie uns gemeinsam weiterhin daran arbeiten!
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Florian Hahn. – Für die Fraktion der FDP erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander Graf Lambsdorff.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission ist immer eine gute Gelegenheit, auf Europa als Ganzes zu schauen, und wenn wir in das Programm selber hineinschauen, dann sehen wir da, was die Kommission in diesem Jahr tun will: Sie will Europa digitaler und schneller machen, sozialer und grüner, demokratischer und stärker, sie will gleichzeitig Corona besiegen, und sie will eine Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union aufs Gleis setzen. Das ist das, was die Europäische Kommission erreichen will.
Wenn wir uns aber fragen, womit sie das erreichen soll, womit sie das erreichen muss, dann sind wir natürlich bei dem Thema, das Außenminister Maas hier gerade angesprochen hat, wir sind bei dem Thema dessen, was die deutsche Ratspräsidentschaft an Grundlagen gelegt hat und wie Deutschlands Rolle in Europa aussieht. Der Deutsche Bundestag ist der Ort, um genau diese Fragen zu stellen.
Von Florian Hahn ist hier der Mehrjährige Finanzrahmen erwähnt worden, der Haushalt, von dem man sagen muss: Er ist erneut zu spät, er enthält zu viele Festschreibungen des Status quo und enthält zu wenig Zukunft, er ist zugleich zu national und zu kleinteilig. Besser als am Gesamthaushalt sieht man es an dem Sonderprogramm „Next Generation EU“, das wir heute Morgen im Zusammenhang mit der Eigenmitteldebatte debattiert haben. Wenn Sie sich mal anschauen, was die Europäische Kommission an gemeinsamen europäischen Programmen vorgeschlagen hat im Verhältnis zu dem, was die Mitgliedstaaten im Einzelnen tun sollen, dann sehen Sie das sofort. Die Kommission begann damit, zu sagen: Wir sehen 610 Milliarden Euro der 750 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten vor, aber wir investieren in den Binnenmarkt, in Innovationen, in Digitales, in Forschung 70 Milliarden Euro. – Was haben die Mitgliedstaaten gemacht? Sie haben den ganzen Forschungs- und Digitalteil von 70 Milliarden Euro auf 11 Milliarden Euro zusammengestutzt und das Geld für sich selber genommen, für eigene Ausgaben. Meine Damen und Herren, so kann Europa nicht funktionieren: wenn es national und kleinteilig betrieben wird.
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Und das ist unter deutscher Ratspräsidentschaft passiert.
Übrigens gilt das auch für die natürlichen Ressourcen und die Umwelt: von 45 Milliarden Euro auf 17 Milliarden Euro zusammengestutzt. Noch besser ist es bei der Nachbarschaftspolitik und der Sicherheit: von 25 Milliarden Euro komplett auf 0; das ganze Geld soll zurückfließen in die Nationalstaaten. Meine Damen und Herren, das ist nicht die Art und Weise, wie man gemeinsam in Europa Politik macht.
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Außerdem soll das Geld ja schnell fließen. „Next Generation EU“ ist das Reaktionsprogramm auf die Coronakrise. Das Geld kann aber nicht fließen, weil der Rat viel zu spät dran ist. Die Mitgliedstaaten haben mal wieder getrödelt. Wir hier in diesem Hohen Haus werden erst in einem Monat den Beschluss fassen, auf dessen Grundlage das Geld überhaupt ausgegeben werden kann. Das ist keine schnelle Reaktion, das ist Trödelei seitens der Mitgliedstaaten.
Meine Damen und Herren, eine Sache begrüßen wir als Freie Demokraten ausdrücklich: Das Geld soll konditioniert ausgegeben werden; das heißt, es müssen klare Reformprogramme vorgelegt werden, damit das Geld fließen kann. Diese Reformprogramme werden jetzt schon eingereicht. Interessant an der ganzen Geschichte ist, dass die Kommission dem deutschen Reformprogramm erst mal eine Absage erteilt hat, weil es nicht ambitioniert genug ist und nicht geeignet ist, Deutschland aus der Coronakrise herauszuführen. „Deutschland“, so schreibt es Bert Rürup, „wird vom Reformmotor zur Bremse für Europa“ – so viel zur deutschen Rolle unter dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren.
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Die Kommission will, dass Europa demokratischer wird, und hat deswegen vorgeschlagen, an den Haushalt einen Rechtsstaatsmechanismus zu koppeln. Auch das ist etwas, was aus liberaler Sicht eins a ist, sehr gut. Was ist aber unter deutscher Ratspräsidentschaft passiert? Der Rechtsstaatsmechanismus wurde ausgehöhlt; er heißt jetzt übrigens formell „Konditionalitätsmechanismus“ – auf eine solche Idee muss man erst einmal kommen! Wie wollen wir denn in Ungarn und Polen Rechtsstaatlichkeit durchsetzen, wenn ein solcher Mechanismus erst ausgehöhlt und anschließend von den beiden betroffenen Ländern vetiert wird? Die deutsche Ratspräsidentschaft steht blamiert da und kommt praktisch mit einem Beschluss zurück, der nicht mehr ist als das, was ein Rechnungshof macht. Wenn wir freiheitliche Werte in der Europäischen Union schützen wollen, dann brauchen wir einen starken Rechtsstaatmechanismus. Hier muss dringend nachgearbeitet werden.
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Thema „Konferenz zur Zukunft Europas“. Florian Hahn hat gerade gesagt, da seien große Brocken weggeräumt worden. Der Brocken, der weggeräumt worden ist, bestand darin, dass dem Rat der vom Parlament vorgesehene Vorsitzende der Konferenz zu europafreundlich war. Guy Verhofstadt, den liberalen Belgier, langjährigen Premierminister, wollte man im Rat nicht haben, also hat man diese Konferenz so lange aufgehalten, bis man im Rat ein Papier beschlossen hat, in dem steht: In dieser Konferenz darf über alles geredet werden, nur nicht über die Zukunft Europas.
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Einzelne Policies dürfen dort besprochen werden, Vorschläge für Gesetzgebung! Auch das ist ein Ergebnis der deutschen Ratspräsidentschaft, und das ist kein zufriedenstellendes Ergebnis für die Zukunft Europas.
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Hilft nichts, Herr Graf Lambsdorf, die Zeit ist um.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich wünsche mir, dass wir von Deutschland aus eine bessere Rolle in Europa spielen. Ich wünsche der Europäischen Kommission viel Glück bei der Umsetzung ihres Arbeitsprogramms; befürchte aber, dass die Grundlagen dafür leider nicht gut genug sind, die in der deutschen Ratspräsidentschaft gelegt worden sind.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner hat drei Minuten Zeit. Ich bitte all diejenigen, die noch nicht gewählt haben, diese drei Minuten zu nutzen; denn nach dem nächsten Redner werde ich die Wahl schließen. Wenn er selbst schon gewählt hätte, wäre das vorteilhaft.
Ich erteile das Wort Herrn Dehm für die Fraktion Die Linke.
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Bei mir jagen Sie die Leute heraus.
Nein. Lieber Herr Dehm, in keinem Fall. Man kann Sie auch draußen gut hören, weil Sie laut genug sprechen.
Sie werden dafür sorgen.
Also, in drei Minuten ist over. Bitte, jetzt geht es los. Sie haben das Wort.
Ja. – Es ist von Neustart in diesem Arbeitspapier die Rede. Wenn schon das Pandemiemanagement der EU ein einziges Desaster war, wie soll hier ein Neustart gelingen? Wo waren denn entgegen ihrem Eigenlob die EU-Kommission oder die Bundesregierung, als Italien und Serbien im vergangenen März um Solidarität geradezu gefleht haben? Das war das Gegenteil von europäischer Solidarität.
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Im Papier steht nichts vom Impfen – als ob vor vier Monaten nicht absehbar gewesen wäre, dass man Pandemien gelegentlich auch mit Impfen bekämpfen kann! Das Nötige dazu hat mein Kollege Kessler schon im Tagesordnungspunkt davor gesagt. Die Bundesregierung hat damals keinerlei Druck auf die EU gemacht. Die Verträge sind so damals mit fahrlässiger Leichtgläubigkeit gestrickt worden, darum die Engpässe. Da wurden zig Millionen Euro der Steuerzahler in Aktiengesellschaften gegeben, deren Gewinne an der Börse verwettet werden. Solche Impfpatente gehören aber von Anfang an aufgekauft und über öffentlich-rechtliche Firmen den Menschen zur Verfügung gestellt.
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Lassen Sie mich ein Wort zum russischen Impfstoff Sputnik V sagen.
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Ich will mich gar nicht auf das Hin und Her einlassen, wann genau die Russen bei der EMA die Zulassung ihres Impfstoffs beantragt haben. Herr Spahn hätte sich aktiv darum bemühen müssen, und die Informationen hätten der Öffentlichkeit transparent zur Verfügung gestellt werden müssen, statt einer 180-tägigen Sendepause seit dem 1. August letzten Jahres, was Sputnik V anbetrifft, die übrigens auch Teile der Medien erfasst hat.
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Das trifft im Übrigen auch für die vier kubanischen Impfstoffe zu. Darum kann man sich auch noch einmal bemühen. In welchem Zustand sind die? Welche Vorteile haben sie? Dazu wird nichts öffentlich gesagt.
Seit dem 1. August letzten Jahres liegen hervorragende Resultate zu Sputnik vor; er wird in über 30 Ländern verimpft, inklusive EU-Staaten. Oder ist Sputnik am Ende deswegen nicht da, weil wir uns wegen Nawalny, der Migranten „Kakerlaken“ genannt hat, an die Anti-Russland-Sanktionen gebunden fühlen? Wo bleibt denn der Einsatz der EU für Julian Assange, der gegen Krieg und Aufrüstung kämpft und da Transparenz hergestellt hat?
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Seit Jahren macht die EU-Kommission Druck, damit die Nationalstaaten beim öffentlichen Dienst sparen. Wir stehen vor den Trümmern von Gesundheitsämtern, die nicht mehr einzelne Theater und Kita für Kita prüfen können. Deswegen dieser Lockdown mit dem Brecheisen. Wer nicht statistisch und praktisch alles über einen Kamm scheren will, braucht Personal, um mit Augenmaß zu differenzieren. Es darf nicht dazu kommen, dass, wie am Sonntag vor einer Woche in Braunschweig, 1 500 Kulturschaffende, auf Schildern die Namen ihrer untergehenden Firmen, und Persönlichkeiten dafür kämpfen müssen, dass, obwohl sie wie bei #AlarmstufeRot oder im Theater von Dieter Hallervorden hygienisch alles richtig gemacht haben, sie als Kultur in Europa und in Deutschland überhaupt überleben können. Das ist eine Forderung der Linken.
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Letzter Punkt. – Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Zügig, zügig.
Wir lassen den Abstimmenden draußen noch ein paar Sekunden.
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Wer zahlt beim Arbeitsprogramm, und wer zahlt für die Krise? Wir als Linke sagen: Die Digitalsteuer ist ein Tropfen auf die heiße Herdplatte. Da ist die EU gar nicht zuständig, und selbst da bremst die Bundesregierung. Wir sagen: Wer nicht endlich superreiche Krisengewinnler und Steuervermeider wie Jeff Bezos und Klatten/Quandt sozial gerecht zur Kasse zwingt, dem gelingt keine Reform, kein Neustart, und der wird es auch nicht schaffen, dass die EU neue Sympathien bekommt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Nachdem so viele von der Rede gefesselt waren und nicht wählen konnten, nehmen wir die nächste Rednerin noch hinzu und schließen danach die Wahlen.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hätte ich länger reden müssen?
– Nein. Das war schon gut. Sie haben schon heftig überzogen.
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Jetzt Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bringe uns jetzt von Kuba einmal wieder zurück in den Bundestag. Heute und morgen findet der europäische Gipfel statt. Es geht um die Gesundheit von uns allen, um Corona und um unsere Sicherheit. Aber leider gibt es dazu vorab wieder einmal keine Regierungserklärung der Kanzlerin. Die gab es auch nicht vor der Corona-Ministerpräsidentenkonferenz, und es gibt sie jetzt nicht vor den europäischen Regierungsgipfeln. Ich kann nur sagen: Das ist eine eklatante Missachtung des Parlamentes, und damit muss jetzt endlich Schluss sein!
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Dafür sprechen wir heute über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, und das ist ambitioniert. Aber ob die Umsetzung ambitioniert sein wird, das hängt von den Mitgliedstaaten ab und davon, ob Sie als Bundesregierung endlich von der Bremse kommen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Klimaschutz, der Green Deal. Sie haben den Klimaschutz in Ihrer Ratspräsidentschaft total vernachlässigt. Die Einigung zu den Klimazielen innerhalb der Mitgliedstaaten kam erst im Dezember letzten Jahres. Deswegen laufen jetzt immer noch die Verhandlungen zum Klimaschutzgesetz. Sie stehen erst beim Gipfel im März wieder auf der Tagesordnung. Damit haben wir sehr viel wertvolle Zeit verloren, die wir eigentlich gar nicht haben.
Die Europäische Kommission hat die Bundesregierung jetzt vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, weil Sie seit Jahren die Vertragsverletzungsverfahren beim Naturschutzrecht einfach ignorieren. Es ist unglaublich, dass Sie das europäische Naturschutzrecht bei uns nicht umsetzen, und es ist ein Armutszeugnis, dass wir jetzt deswegen vor dem Europäischen Gerichtshof stehen.
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Auch der Totalausfall bei der Agrarpolitik trägt die Handschrift von Julia Klöckner. Da gehen weiterhin die Milliarden in die Agroindustrie, statt endlich die Agrarwende voranzubringen.
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Dabei ist es wirklich an der Zeit, mit diesen Hilfsmilliarden den Green Deal wirklich umzusetzen, und da muss die Agrarpolitik ihren Beitrag leisten. Gehen Sie endlich dafür von der Bremse!
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Sie verschleppen bei allen Themen den europäischen Green Deal, weil Sie Angst davor haben, dass Sie ihn dann auch zu Hause umsetzen müssten.
Frau Merkel muss sich heute beim europäischen Gipfel zu Recht viel Kritik von ihren Kolleginnen und Kollegen anhören. Minister Seehofer hat nämlich vor drei Wochen wieder einmal unabgestimmte Grenzkontrollen erlassen und damit die Grenzregion ins Chaos gestürzt, die Nachbarn düpiert und die Fehler der ersten Welle wiederholt.
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Es ist wirklich ärgerlich, dass wir wieder in einer Situation sind, dass sich zum Beispiel unverheiratete Paare nicht wiedersehen können
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und verheiratete Paare nur gleichzeitig einreisen dürfen. Aus Portugal darf momentan nicht einmal die Ehefrau einreisen, wenn der Ehemann in Deutschland ist – das geht nicht; die müssen gleichzeitig einreisen. Das ist doch ein absoluter Wahnsinn, und es ist einfach nur ärgerlich, dass wir wieder diesen großen Mist haben, den wir schon vor einem halben Jahr hatten.
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Es ist wirklich nicht erträglich, dass Sie immer noch keine Taskforce für die Grenzregion eingesetzt haben, dass Sie diese Probleme während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht rechtzeitig angegangen sind und sich jetzt unsere europäischen Partner berechtigterweise wieder über uns ärgern.
Das Gleiche gilt mit Blick auf die Frage der Impfstoffproduktion. Wir wissen, dass es besser gewesen wäre, wenn die Europäische Union nicht nur gemeinsam bestellt, sondern auch gemeinsam bezahlt hätte. Wir wissen mittlerweile, dass es richtig gewesen wäre, nicht nur in die Innovation zu investieren, sondern auch in die Produktion. Diese Fehler liegen aber nicht nur an der Europäischen Kommission, sondern auch an den Mitgliedstaaten, die in dem Lenkungskreis ständig und regelmäßig involviert sind. Deswegen habe ich mich gewundert und war wirklich erschreckt darüber, dass die SPD, die täglich darüber mit informiert ist, die im Herbst mitgemacht hat, jetzt im Frühjahr auf einmal die Europäische Kommission dafür angreift. Das ist wirklich einfach nur Wahlkampf und schadet der Europäischen Union.
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Jetzt haben wir eine europäische Impfstoff-Taskforce bei Breton. Wir haben seit letzter Woche auch einen nationalen Impfstoffbeauftragten. Das ist alles einfach viel zu spät. Wenn wir die Debatte von vorhin verfolgt haben, werden viele wahrscheinlich sagen: Jetzt brauchen wir den Schnelltestbeauftragten. – Als Nächstes werden wir den Beauftragten für Coronamedikamente brauchen.
Es ist absehbar, dass wir bei den notwendigen medizinischen Produkten immer Engpässe haben. Das war schon bei den Masken so. Deswegen brauchen wir jetzt endlich auf europäischer Ebene ein vergleichbares Instrument, wie es die Amerikaner auch machen, um bei all den medizinischen Produkten, die wir brauchen, entlang der Lieferketten zu koordinieren, zu regulieren und zu investieren.
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Ich erhoffe mir wirklich, dass die Bundesregierung, dass Sie, Herr Maas, sich jetzt massiv dafür einsetzen, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission umgesetzt wird, HERA aufzubauen, also eine Agentur, die diese Aufgaben übernehmen kann. Es ist spät in der Pandemie, aber vielleicht noch nicht zu spät. Fangen Sie jetzt an, hier endlich richtig Druck hineinzubekommen, damit wir bei den nächsten Wellen schneller und hoffentlich vor der Welle sind und nicht wieder hinterherhecheln.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die EU-Kommission hat sich auch mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit einiges vorgenommen. Aber da liegt eine große Aufgabe bei Ihnen: Schließen Sie sich jetzt endlich den 14 Länderdelegationen Ihrer eigenen Schwesterparteien an. Machen Sie endlich den Schritt und sprechen Sie sich dafür aus, die Partei von Viktor Orban, Fidesz, aus der konservativen Europäischen Volkspartei herauszuschmeißen. Das wäre einer der erfolgreichsten Hebel, die wir im Kampf für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa haben. Hier müssen CDU und CSU jetzt endlich einmal Farbe für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bekennen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission mit dem wunderbaren Titel „Eine vitale Union in einer fragilen Welt“. Ich habe mich sehr gefreut, dass Kommissarin Dalli eine mehrjährige Gleichstellungsstrategie aufgelegt hat, und ich habe mich auch darüber gefreut, dass sich Teile dieser Gleichstellungsstrategie in diesem Arbeitsprogramm wiederfinden. Das ist gut so. Man hat dann das Gefühl, es geht immer vorwärts, und es ist auch nötig, dass es vorwärts geht. Im 21er-Programm steht auch ganz konkret, was die Europäische Kommission beim Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt unternehmen will. Und dann denkst du, es geht vorwärts, in kleinen Schritten, in Trippelschritten, aber immer in eine Richtung; aber die Wahrheit ist, dass wir echt maßgebliche Teile dieser Europäischen Union haben, wo es einfach massiv rückwärts geht.
Wir schauen konkret nach Polen; wir wissen es. Wir haben in Polen inzwischen ein Verbot des Verschreibens von Verhütungsmitteln an unter 18-Jährige. Wer Sexualaufklärung in Schulen betreibt, wird dafür bestraft. Abtreibung ist aufgrund fragwürdiger Gerichtsentscheidungen in Polen faktisch legal nicht mehr möglich. Wer allerdings glaubt, dass dann, wenn Abtreibung legal nicht möglich ist, sie abgeschafft ist, irrt natürlich. Wir haben ja auch unsere Erfahrungen mit dem Thema: Wenn sie legal nicht möglich ist, dann geht es eben im Untergrund, und dann wird es für die Frauen gefährlich. Bei uns haben sie früher auf dem Küchentisch gelegen, und so wird es im Zweifel in Polen auch sein. Das ist das, was wir nicht wollen. Wir wollen auch, dass Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln und zu Familienplanung haben.
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Kurz: Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung in Polen sind ein Frontalangriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Polen kann die Bedenken zum jüngsten Abtreibungsurteil, zur Unabhängigkeit und Legitimität des Gerichts, nicht ausräumen. Marta Lempart, die gestern im Frauenausschuss des Europaparlaments lebhaft berichtet hat, wie es in Polen zugeht, wie protestierende Frauen ihre Arbeitsplätze verlieren und trotz der zweifelhaften Gerichtsentscheidungen immer wieder aufstehen, Marta Lempart fordert uns eindrücklich auf, für sie und mit ihnen zu kämpfen; denn es geht um die Grundrechte der Europäischen Union. Ich rufe Frau Lempart von diesem Platz aus zu: Die demokratischen Teile dieses Parlaments stehen an der Seite der engagierten Frauen und Männer in Polen, die nichts weiter wollen als ihre Grundrechte, als europäische Grundrechte.
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Wir haben jetzt gerade etwas von „Next Generation“ gehört. Der Kampf der Frauen und Männer in Polen ist ein Kampf um die Rechte der nächsten Generation in Polen, aber auch in Deutschland und in Europa. Ich finde, die Kommission darf das der polnischen Regierung einfach nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort Professor Dr. Harald Weyel.
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Herr Präsident! Geehrte Kollegen und sehr geehrtes Publikum! Arbeitsprogramme sind Absichtserklärungen; denn man weiß ja nie, was kommt. Die EU-Kommission hat das gerade in der Frage der Impfstoffbeschaffung zu spüren bekommen, sodass ihre vollmundige Ankündigung, sich an die „Spitze der weltweiten Krisenreaktion zur Beschaffung eines sicheren Impfstoffes für alle“ zu stellen, als Makulatur betrachtet werden kann.
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Wir können nur hoffen, dass sich die anderen Vorhaben ebenso schnell in Luft auflösen. Ihre Umsetzung wäre fatal für Deutschlands Zukunft, die hier auf dem Altar des Multilateralismus geopfert wird.
Zu den Punkten des Programms. Der europäische Green Deal klingt wie ein Märchen, einmal abgesehen vom Denglisch, was in den Ohren schmerzt: Alles wird gut und öko. – Das ist Unsinn, und das wissen Sie auch. Jedes Elektroauto ist eine fahrbare Sondermülldeponie, die uns obendrein davon abhält, echte innovative Mobilität zu entwickeln.
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Die neue digitale „Industriestrategie für Europa“ basiert schon in den Grundsätzen auf einer Lüge, nämlich insofern, dass dort von freier Meinungsäußerung und freiem Datenfluss die Rede ist. Wir müssen uns dazu nur an den „Verhaltenskodex zur Bekämpfung illegaler Hassrede im Internet“ erinnern, mit anderen Worten, an den digitalen „Hexenhammer“ oder auch „Hexenhammer“ des digitalen Zeitalters, wie künftige Historiker sicherlich konstatieren werden.
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Auch die europäische Säule sozialer Rechte wird genau kein „Kompass für die Erholung Europas sein“. Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion hat bislang nämlich nur zwei Dinge erreicht: Sie hat die deutsche Schuldknechtschaft verstetigt und die Südländer an das Gift der Dauersubventionen gewöhnt.
Eher lächerlich wird es, wenn von der „geopolitischen Kommission“ die Rede ist, die „in einer zunehmend polarisierten Welt eine regel- und wertebasierte internationale Ordnung“ verteidigen möchte. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander, dass die Kommission glücklicherweise nur wenig Schaden anrichten können wird.
Anders sieht es mit der Arbeit am neuen Migrations- und Asylpaket aus, einem Großpaket, möchte man sagen, das bislang gerade für Deutschland so schadensträchtig wie nur möglich war und ist. Wenn diese Linie weiterverfolgt wird, dann haben wir bislang nur die Spitze des Einwanderungseisbergs gesehen. Sie rufen ja letzten Endes nach der totalen Migration. Die wollen wir nicht. Nein, nein und nochmals nein!
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Wie eine Drohung liest sich schließlich, was unser „neuer Schwung für die Demokratie in Europa“ sein soll. Jede EU-Kritik wird nämlich als antidemokratisch diffamiert und die Gängelung der Mitgliedstaaten genüsslich angekündigt. Also: Ein weiterer Abschwung der Demokratie in EU-ropa steht bevor.
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Wer so ein Arbeitsprogramm beklatscht und unterstützt, versündigt sich nicht nur an unserer Nation, sondern auch an seinen Nachkommen. Auf unsere Unterstützung können Sie nicht rechnen.
Danke schön.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, falls noch Schriftführer unter Ihnen sind: Es werden noch Schriftführer zum Auszählen gebraucht. Vielleicht können auch die Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, dass sich noch der eine oder andere Schriftführer im Auszählraum einfindet, damit wir die Wahlen zügig auszählen können.
Die nächste Rednerin ist jetzt in dieser Debatte die Kollegin Dr. Katja Leikert.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Europäer sind mittendrin in der Bewältigung der Coronakrise. Es ist sensationell, dass wir ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie bis dato schon 27 Millionen Dosen Impfstoff verimpft haben. Einiges hätte natürlich noch besser laufen können, ja. Genau deshalb sind auch wir alle gefragt, die Europäische Union weiter zu stärken. Denn eines ist auch klar: Ein Virus kennt keine nationalen Grenzen. Genau dafür ist die Europäische Union da. Sie soll die großen Probleme lösen. Genau an diesem Anspruch orientiert sich auch das Arbeitsprogramm der Kommission.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist dabei Folgendes besonders wichtig:
Erstens: gesunde Finanzen und Jobs, Jobs, Jobs.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirtschaftlich stehen wir in der Welt an einem Wendepunkt wie nach dem Zweiten Weltkrieg. – Ich erkläre es Ihnen gern noch einmal, Herr Kleinwächter. – Daher ist es genau richtig, dass die Europäische Union mit dem Aufbaufonds das größte Konjunktur- und Reformprogramm ihrer Geschichte aufgelegt hat: 750 Milliarden Euro für Investitionen. Schon jetzt zeigt sich der Erfolg. Die Spreads zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen – so was erwähnen Sie hier nämlich nicht – sind so gering wie seit Jahren nicht mehr. Wenn Sie sich die Wechselkurse anschauen, sehen Sie: Der Euro hat gegenüber dem US-Dollar und dem Pfund im letzten Jahr stark zugelegt. Der Euro ist mittlerweile das weltweit am häufigsten genutzte Zahlungsmittel. Ohne diesen Fonds hätten natürlich Spekulanten freie Hand gehabt, auf den Untergang des Euros zu wetten. Am Ende hätte es in Europa nur Verlierer gegeben. Europa wäre auseinandergedriftet.
Aber eines ist dabei auch ganz klar: Wir Europäer haben gemeinsam mit diesem Fonds einen Scheck auf die Zukunft ausgestellt. Dieser Scheck ist weder ein Freifahrtschein noch eine Dauerlösung. Alle Mitgliedstaaten müssen jetzt Reformen liefern. Haushaltslöcher dürfen damit natürlich nicht gestopft werden. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir Solidarität brauchen. Die Europäische Union darf nach außen eben keine Angriffsfläche bieten. Aber dann braucht es genauso auch die finanzielle Solidität nach innen. Genau deshalb ist es richtig, dass wir nach der Krise so schnell wie möglich wieder zum Stabilitäts- und Wachstumspakt zurückkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu meinem zweiten Punkt kommen, zum Thema Klimaschutz. Ich begrüße es, dass sich alle Mitgliedstaaten nicht zuletzt dank des Einsatzes unserer Kanzlerin auf zwei wichtige Punkte geeinigt haben: erstens auf Klimaneutralität bis 2050 und zweitens auf die Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent. Die Kommission arbeitet an zwölf Vorschlägen zur Umsetzung dieser Ziele, von der Reform der Erneuerbare-Energien-Richtlinie über die CO2-Grenzsteuer bis zur Anpassung des CO2-Zertifikatehandels. Gerade Letzterer ist ein Erfolgsmodell „made in Europe“. Seit Beginn des europaweiten Emissionshandels in der EU sind die ETS-Emissionen um 35 Prozent zurückgegangen. Liebe Frau Brantner, bei aller Wertschätzung, wir verschleppen hier gar nichts. Darum fordern wir auch die Ausweitung des ETS auf EU-Ebene im Bereich Gebäude und Verkehr genauso, wie wir das jetzt hier bei uns in Deutschland gemacht haben.
Das zeigt doch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Für eine ambitionierte Klimapolitik brauchen wir keine sturen Ideologen. Wir brauchen auch nicht die AfD, die noch nie eine echte Antwort auf große Herausforderungen gegeben hat,
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kindisch über Greta spottet und ansonsten den Klimawandel leugnet. Wir brauchen Ernsthaftigkeit und Vernunft, um diese große Transformation zu meistern. Genau deshalb wollen wir unsere Wirtschaft nachhaltig modernisieren, sie soll wettbewerbsfähig bleiben, und wir wollen globale Standards setzen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt am besten unter christdemokratischer Führung in Brüssel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, dass wir bei digitalen Endprodukten ins Hintertreffen geraten sind; das muss man feststellen. Schauen Sie jetzt aber nicht traurig auf Ihr Handy. Die Europäische Union hat viel vor. Sie ordnet den Marktplatz für Digitales komplett neu: Digital Services Act, Digital Markets Act, Data Governance Act, neue KI-Richtlinie. Das alles wird am Ende zu einem besseren und vor allem faireren Marktumfeld für die Digitalwirtschaft in Europa führen. Damit erledigt die Kommission ihren Job als Hüterin des Binnenmarkts und hat dabei unsere volle Unterstützung.
Aber das kann natürlich nur der erste Schritt sein. Allein mit Regulierungen holen wir nicht mehr auf. Wir brauchen ein europäisches digitales Ökosystem, in dem Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft und Politik für neue Produkte eng miteinander verknüpft werden. Wir brauchen mehr Menschen wie Alexander Ljung, Dietmar Hopp und Frank Thelen, die als Europäer für Disruption auf dem Digitalmarkt sorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal ob es ums Impfen geht, um die Wirtschaft, um den Klimawandel oder um Digitales, gerade wir Deutsche werden nur als Europäer wieder aus dieser Krise kommen. Unterstützen wir also das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Leikert. – Der nächste Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Dr. Lukas Köhler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Leikert hat gerade einen ganz klugen Satz gesagt, und zwar den Satz, dass die EU dazu da ist, die großen Probleme zu lösen. Ich glaube, dass das genau der richtige Ansatz ist. Die große Frage ist aber: Sind wir da auf dem richtigen Weg? Wir sehen, dass riesige Brocken vor uns liegen. Wir sehen, dass gerade in der Diskussion um den Green Deal, um die 55 Prozent CO2-Einsparung, die Knackpunkte in den Details liegen, übrigens auch in den Details der internen Verhandlungen. Wir müssen heute, wir können heute dafür sorgen, dass die Chancen, die die Klimapolitik bietet, dass das viele Geld, aber vor allen Dingen die viele Innovation der Einzelnen, der Tüftler, der Denker, der Ingenieure, umgesetzt wird. Das ist doch eine tolle Nachricht. Es ist doch super, dass wir es jetzt schaffen können, die Zukunft zu gestalten, und dass das kommende Jahr der entscheidende Zeitraum sein wird, in dem wir das tun.
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Die EU möchte zu Recht den europäischen Emissionshandel ausweiten. Das ist tatsächlich einer der wenigen Wege, wie wir wirklich Klimaschutz zielgerichtet voranbringen können. Es gibt aber noch einen anderen guten Grund dafür, warum wir das tun sollten. Die Ausweitung des Emissionshandels würde es erleichtern, dass wir die Diskussion um die anderen Bereiche, in denen er nicht funktioniert – die Bereiche Verkehr und Wärme –, nicht mehr weiter mit Bezug zum Effort Sharing behandeln müssen, sondern dass wir dafür sorgen können, dass wir ein einheitliches Ziel haben, dass wir Klimapolitik – das bestätigen sogar die Kritiker des Emissionshandels – ausgerichtet am 1,5-Grad-Ziel umsetzen. Das muss doch das sein, was wir tun. Wir müssen kluge, effiziente Klimapolitik machen, die zu möglichst wenig Kosten das Maximum herausholt und die Ziele, die wir wissenschaftlich gesetzt bekommen, auch erreicht. Das ist das, was wir tun können. Das ist das, was die EU tun kann.
Aber wir müssen noch deutlich weiter darüber hinausgehen. Die Kommission diskutiert „Fit für 55“. Aber „Fit für 55“ muss auch gleichzeitig heißen, dass wir heute die Diskussion über Negativemissionen anfangen, dass wir heute die Diskussion um CCS anfangen.
Deswegen schlagen wir Freien Demokraten zusätzlich zum 55-Prozent-Ziel ein weiteres 5-Prozent-Ziel für negative Emissionen vor. Meine Damen und Herren, wenn Sie das einbringen, dann kriegen Sie aus der Wissenschaft viel Lob, dann sagt die Wissenschaft: Ja, endlich sagt es mal jemand; endlich wird es mal eingefordert, das, was wir heute brauchen, auch heute schon zu diskutieren. – Aber als Kritik kommt dann – das war des Öfteren so –: Ja, das ist eine Technologie, die wir brauchen; negative Emissionen brauchen wir, aber erst in 30 Jahren.
Wer mit dieser Argumentation anfängt, sagt, dass wir in 30 Jahren vor dem Problem stehen werden, dass wir dann nicht darüber diskutiert haben, sagt, dass wir in 30 Jahren etwas nicht geschafft haben werden, was wir längst hätten umsetzen können und sollen. Deswegen ist es schade, dass wir uns aus Angst vor der Diskussion diesen Punkten nicht stellen,
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dass wir uns aus Angst vor der Diskussion nicht für Technologie, für Chancen, für Möglichkeiten in der Wirtschaft, in der Entwicklung, in der Innovation einsetzen. Das wäre etwas, was wir auch auf europäischer Ebene tun könnten.
Ich hoffe darauf, und ich glaube daran, dass wir auf europäischer Ebene gemeinsam viel erreichen können. Dazu müssen wir aber auch die kritischen Punkte ansprechen. Ich vertraue darauf, dass wir das im nächsten Jahr gemeinsam tun werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Köhler. – Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Abgeordnete Andrej Hunko.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister Maas, Sie sprachen eben davon, dass man mit Blick auf das, wie ich es formulieren würde, Impfstoffbeschaffungsfiasko der EU Fehler eingestehen müsse – sehr gut so weit. Aber es wäre leichter, das zu akzeptieren, wenn Konsequenzen daraus gezogen würden und wenn in dem Arbeitsprogramm der EU-Kommission, über das wir heute reden, nicht eine solche Überheblichkeit zu finden wäre. Dort steht zum Beispiel: Europa wird an der Spitze der weltweiten Impfstoffbeschaffung stehen. – Dieser Widerspruch ist unerträglich, und das muss man hier auch klar sagen.
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Das kleine Land in Europa mit großer republikanischer Tradition San Marino hat in den letzten Wochen verzweifelt versucht, über die EU bzw. über Italien Impfstoffe zu bekommen, wenigstens einen einzigen Impfstoff. Sie haben nichts bekommen und vorgestern angefangen, mit dem russischen Impfstoff Sputnik V zu impfen. Ähnlich sieht die Lage auf dem Westbalkan aus: In Serbien – einer der Staaten, die tatsächlich an der Spitze stehen, kein EU-Mitgliedstaat – sind mittlerweile über 15 Prozent der Menschen geimpft, und die Menschen können sich aussuchen, ob sie einen westlichen Impfstoff, den russischen Impfstoff oder einen Impfstoff von Sinopharm aus China verabreicht bekommen wollen.
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Ich finde es beschämend, wenn ein Land, das Beitrittskandidat der EU ist, in dieser Frage so viel weiter ist als die meisten EU-Mitgliedstaaten – oder sogar alle.
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Diese Überheblichkeit in puncto Europas Rolle in der Welt durchzieht dieses Arbeitsprogramm. Gestern ist die EU-Botschafterin in Venezuela, Isabel Brilhante Pedrosa, ausgewiesen worden, weil die EU Anfang dieser Woche nichts Besseres zu tun hatte, als neue Sanktionen gegen Menschen in Venezuela auszusprechen – aus der Regierung und sogar auch aus der Opposition –, die an den Parlamentswahlen im Dezember teilgenommen haben.
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Das ist aus unserer Sicht völlig falsch.
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Dies geschah wenige Tage, nachdem die UNO-Sonderberichterstatterin zu den negativen Auswirkungen der einseitigen Zwangsmaßnahmen, Alena Douhan, in ihrem Bericht eindringlich appelliert hatte, die Sanktionen gegen Venezuela endlich zu beenden.
Ich glaube, ich kann zusammenfassend sagen: Wenn wir auf die Rolle der EU in der Welt – das ist ja ein großes Thema in diesem Arbeitsprogramm – schauen, dann wäre es sehr gut, wenn die Europäische Union sehr viel mehr auf Kooperation auf Augenhöhe mit anderen Regionen der Welt setzen würde als auf Überheblichkeit, auf Sanktionen und auf die Vorstellung, dass man überall Richter sein kann. Ich glaube, dass dann die guten Ziele, die in dem Arbeitsprogramm formuliert sind, wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel oder der Schutz der Biodiversität und viele andere Dinge, sehr viel besser umsetzbar sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist der Abgeordnete Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Kommission hat ein Arbeitsprogramm vorgelegt, das sechs Prioritäten setzt und das ohne jeden Zweifel sehr ehrgeizig ist, weil es auf die nächsten zwölf Monate ausgerichtet ist und eines herstellen soll, nämlich Transparenz und damit auch Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft, der Unternehmen. Das ist der tiefere Sinn: das Handeln der Europäischen Kommission offenzulegen.
Weil jetzt hier verschiedentlich auch vonseiten der Linken einiges behauptet wurde – Herr Dr. Dehm hat gesagt, das Thema Impfen spielt da gar keine Rolle; Herr Hunko hat danach gesagt, man wolle sich an die Spitze der Welt setzen –, würde ich mit Erlaubnis des Präsidenten gerne aus dem Arbeitsprogramm zitieren:
Vor diesem Hintergrund wird sich die Kommission im kommenden Jahr vor allem auf Zweierlei konzentrieren. Erstens wird sie sich weiterhin nach Kräften darum bemühen, die Krise zu bewältigen, und die ersten Lehren daraus ziehen. Zu diesem Zweck wird sie insbesondere ihre Bemühungen im Hinblick darauf fortsetzen, einen sicheren und verfügbaren Impfstoff zu finden und zu finanzieren und dafür zu sorgen, dass dieser alle Menschen in Europa und weltweit erreicht.
Vor allem das Letztere erscheint mir wichtig: „weltweit“. Wir reden sehr viel über die Verfügbarkeit des Impfstoffes in Deutschland und auch in Europa; das ist alles nachvollziehbar. Aber wir dürfen auch nicht den Blick davor verstellen, dass in vielen Ländern dieser Welt überhaupt noch nicht damit begonnen wurde, zu impfen; da denke ich vor allem an die vielen afrikanischen Länder. Auch dafür haben wir als Europäische Union und vor allem als Bundesrepublik Deutschland eine Verantwortung.
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Die Prioritäten wurden ja bereits benannt: ein europäischer Grüner Deal, ein Europa, das für das digitale Zeitalter gerüstet ist, eine Wirtschaft im Dienste der Menschen, ein stärkeres Europa in der Welt, Fördern, was Europa ausmacht, neuer Schwung für die Demokratie in Europa – um sie namentlich zu nennen. Aber die oberste Priorität gilt selbstverständlich der Überwindung der Coronakrise. Corona darf aber nicht den Blick davor verstellen, dass es auch an anderen Stellen um die Sicherung des europäischen Wirtschaftsstandortes geht, was mit Corona sehr viel, aber mit der Coronakrise nur bedingt zu tun hat.
Was meine ich damit? Dieser Tage erreichen uns Meldungen, wonach die Firma Renault – ich kann jetzt gewisse Namen nicht vermeiden – wegen mangelnder Elektronikbauteile im laufenden Jahr vermutlich ungefähr 100 000 Autos weniger bauen wird. Das eigentliche Dilemma wird in diesem Jahr erst in den Monaten April bis Juni ersichtlich werden. Das gilt aber auch für deutsche Automobilhersteller wie beispielsweise VW. Auch da ist es so, dass vor allem die Engpässe bei der Halbleiterproduktion bzw. ‑belieferung für einen Rückgang der Automobilproduktion sorgen werden. VW hat genau aus diesem Grund Kurzarbeit in Wolfsburg angemeldet; die Rede ist von aktuell 8 000 Mitarbeitern, die davon betroffen sind.
Diese Diskussion wirft ein Schlaglicht darauf, wie wir in diesem Bereich aufgestellt sind. Und so wie wir noch vor zwei Jahren nicht daran gedacht hätten, dass vielleicht einmal medizinische Schutzmasken in Europa knapp werden könnten, so müssen wir jetzt und heute darauf reagieren, dass an ganz anderen Stellen die wirtschaftliche Prosperität dieser Europäischen Union und damit auch der Bundesrepublik Deutschland auf eine ernsthafte Probe gestellt wird. Deswegen – und da begrüße ich ausdrücklich die bereits gestarteten europäischen und deutschen Initiativen; deswegen waren gestern auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und seine Staatssekretärin Frau Winkelmeier-Becker bei uns im Europaausschuss – gilt es vor allem, jetzt die Weichen richtig zu stellen.
Wir sind auf sehr bedenkliche Art und Weise abhängig von amerikanischen Märkten. Damit meine ich nicht nur die Produktion, sondern auch die Distribution. Nur eine Zahl sei genannt: Bei der Halbleiterproduktion machen zehn Hersteller zwei Drittel des Gesamtweltmarktes aus, und von denen sind sechs US-amerikanische Unternehmen. Nur eines, Infineon, ist aus Europa.
Wir müssen deswegen dringend darauf achten, dass wir hier die richtigen Akzente für die Zukunft setzen. Denn eines sei auch gesagt: Selbst wenn die Distributoren in deutscher oder in europäischer Hand liegen: Wenn die Produktion in amerikanischer Hand liegt, sind die Daten der Zulieferung in einer amerikanischen Cloud. Deswegen wird auch an der Stelle sichtbar: Wir brauchen die europäische Cloud. Wir müssen uns hier wesentlich zukunftsfähiger aufstellen; sonst kommen wir in ein großes Dilemma.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und schönen Dank für die Zeit.
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Es war schön, ja. – Der Kollege Axel Schäfer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission, die wir im Deutschen Bundestag führen, sollten die proeuropäischen Parteien und Fraktionen dieses Hauses bitte auch immer europäisch führen. Das heißt, wir dürfen an eine Kommission, der Politikerinnen und Politiker von Liberalen, Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grünen und sogar ein Linker angehören, keine anderen Maßstäbe anlegen, als wir das aktuell bei unseren schwierigen Debatten zu Corona über das Verhältnis Bundestag und Regierung und auf der anderen Seite Bundesrat tun. Wir alle in diesem Land haben eine große gemeinsame Verantwortung bei dieser außergewöhnlichen Herausforderung. Wir haben diese in vergleichbaren Konstellationen auch in der EU. Deshalb bitte nie nach dem Prinzip: Wenn morgens früh die Sonne lacht, hat dieses unser Land vollbracht, doch gibt es Matsch und Schnee, dann war es die EG – oder jetzt EU.
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Bitte nie nach diesem Prinzip!
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Ich sage das ganz bewusst. Hier im Parlament sitzen ja Abgeordnete, die früher im EP waren, zum Beispiel der Kollege Lambsdorff, die Kollegin Weisgerber, die Kollegin Brantner, der Kollege De Masi oder auch Martin Schulz, ich übrigens auch. Wir wissen doch, dass es bei jeder Europadebatte, wenn man sie wirklich ernst nimmt, nur darum gehen kann, dass man neben der nationalen Perspektive immer auch die europäische im Sinne der eigenen Parteifamilie mit einbezieht; denn sonst funktioniert es nicht. Man kann nur kritisch gegenüber der Kommission sein, wenn man auch selbstkritisch gegenüber den eigenen Positionen ist. Sonst funktioniert Europa nicht.
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Deshalb bin ich klar davon überzeugt – die Kommissionspräsidentin ist bekanntlich eine Christdemokratin –, dass die EU-Kommission im letzten Jahr und mit dem, was sie als Arbeitsprogramm vorlegt, Wegweisendes tut. Sie hat in einer historischen Situation vieles vorangebracht; dies müssen wir einordnen und dürfen wir nicht kleinreden.
Gucken wir uns das an. Corona ist ja nur ein Punkt. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, wie schnell wir in Europa in der Lage sind, gemeinsam Impfstoffe zu entwickeln. Wir waren nie zuvor in der Situation, dass wir zeitgleich einen halbwegs geordneten Austritt eines Landes bewältigen mussten, Stichwort „Brexit“. Wir waren selten in der Situation, die Finanzen regeln zu müssen und wie jetzt mit dem Zukunftsfonds etwas völlig Neues vorangebracht zu haben. Das ist, finanziell gesehen, fast so etwas wie eine europäische Revolution. Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass wir die Klimakrise bewältigen müssen.
Das ist möglich gewesen in dieser und mit dieser Kommission. Deshalb ist es richtig, dass wir im Deutschen Bundestag einerseits Versäumnisse im Einzelnen diskutieren und kritisieren. Aber andererseits müssen wir uns auch dem zuwenden, was in Europa gelungen ist. Wir wissen – manchmal sollten wir es auch aussprechen –, dass wir als EU die Standards auf dieser Welt setzen. Standards bezüglich Datenschutz, Gesundheitssicherheit und Handelsbeziehungen werden von Europa gesetzt. Dies haben wir demokratisch, teilweise in sehr großen Koalitionen oder in ungewöhnlichen Konstellationen, hinbekommen. Das ist ein Stück unser Selbstbewusstsein. Deshalb sollten wir genau das hier auch vor uns hertragen.
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Jetzt mache ich eine persönliche Bemerkung nach über 20 Jahren Zusammenarbeit mit Elmar Brok, mit Gunther Krichbaum, jetzt auch mit Andreas Nick. Ich habe keinen Zweifel an der europäischen Integrität der Christdemokraten. Aber es kann nicht sein, dass die christdemokratische Partei Ungarns den Fraktionsvorsitzenden ihrer eigenen Familie, Manfred Weber, CSU, mit Gestapo und stalinistischen Methoden in Verbindung bringt. Das ist unakzeptabel. Da stelle ich mich auch in jeder Beziehung vor Manfred Weber.
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Ich bitte euch wirklich, völlig unabhängig von Wahlkämpfen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU: Sagt eurem neuen Parteivorsitzenden Armin Laschet, Fidesz muss rausgeschmissen werden! Das sind keine Christdemokraten. Das sind Nationalisten. Die gehören nicht in eine proeuropäische Parteifamilie.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Christian Natterer, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Bürger aus meinem Wahlkreis im Dreiländereck in Weil am Rhein berichtete der „Badischen Zeitung“ im April 2020, wie schwierig es ist, seiner Arbeit in Basel nachzugehen und gleichzeitig seine Lebensgefährtin im Elsass zu besuchen. Frankreich, Schweiz, Deutschland – normalerweise würde er die Grenzen dort gar nicht wahrnehmen. Doch seit dem Ausbruch der Coronapandemie hat sich seine Realität schlagartig verändert. Denn zu Beginn der Coronakrise schien all das, wofür wir in Europa lange und hart gekämpft hatten, ins Wanken zu geraten. Die geschlossenen Grenzen betrafen dabei, wie im eben erzählten Beispiel, sehr konkret das Leben unserer Bürger.
Ein Schleier des Egoismus und der Verschlossenheit fiel über Europa. Bilder endloser Lkw-Staus waren ein Symbol der plötzlich dagewesenen Angst um die allgemeine Versorgungslage in der EU. Masken und Schutzanzüge steckten zunächst in den europäischen Häfen fest, und Erinnerungen an die Zeiten vor Schengen waren wieder präsent. Kurzum: Die innereuropäische Freizügigkeit, ein zentraler Pfeiler unseres liebgewonnenen vereinten Europas, schien bedroht zu sein.
Probleme und Krisen dieser Art sind aber nur gemeinsam zu bewältigen. Deshalb brauchen wir zukünftig nicht weniger, sondern mehr Europa. Ich begrüße daher ausdrücklich das Arbeitsprogramm der EU-Kommission, welches auch über die Pandemie hinaus konkrete und zukunftsorientierte Lösungen anbietet.
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Dabei möchte ich vor allem auf zwei zentrale Punkte eingehen: den Klimaschutz und die Verkehrspolitik, zwei eng miteinander verzahnte Themen. Eine nachhaltige Verkehrspolitik auf europäischer Ebene ist unerlässlich. Die von der EU vorgeschlagenen Maßnahmen erachte ich als sinnvoll und fordere dabei weitere Schritte.
Die transeuropäischen Verkehrsachsen, die sogenannten TEN-Projekte, müssen weiter fortgeschrieben und vor allem schneller umgesetzt werden.
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Ein prominentes und immer wieder genanntes Beispiel ist der Rheinkorridor mit der Ausbaustrecke Karlsruhe–Basel im Zuge der TEN-Achse Rotterdam–Genua, unter anderem das größte Verkehrsprojekt in meinem südbadischen Wahlkreis. Dies würde nicht nur eine Beschleunigung der Verkehre in Europa insgesamt bedeuten, sondern auch zu einer Entlastung der vom Verkehrslärm geplagten Menschen im Rheintal und anderswo führen.
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Die Beschleunigung der transeuropäischen Schienenprojekte auch innerhalb Deutschlands ist sehr wichtig. Ich blicke zu der Fraktion der Bündnisgrünen. Schade, dass der grüne Verkehrsminister von Baden-Württemberg das vom Bund angebotene beschleunigte Verfahren zum Ausbau der Schienenwege in seinem Land abgelehnt hat. Vielleicht können Sie ihm hier noch etwas auf die Sprünge helfen.
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Unabhängig davon geht es aber auch um die Frage des CO2-neutralen Bahnstroms. Dessen Anteil liegt in Deutschland bei 61 Prozent. Auch hier ist ein höheres Ziel möglich, um eine wirklich nachhaltigere Schieneninfrastruktur zu schaffen.
Ebenso will die EU eine deutliche CO2-Minderung in der Industrie erreichen. Das ist ein wichtiges Ziel; doch die Lasten müssen gerecht verteilt werden, ohne dabei Industriearbeitsplätze zu gefährden. Gerade die deutschen Automobilunternehmer mit ihren Zulieferern haben mit der Umstellung auf die Abgasnorm Euro 6 viel Vorbildhaftes geleistet. Genau deswegen müssen wir nun aufpassen, bevor wir wieder neue Grenzwerte und somit neue Kosten für unsere Wirtschaft aufbauen.
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Corona hat uns doch gerade gelehrt, wie wichtig es ist, industrielle Produktion in Europa zu halten und nicht durch zunehmende Belastungen auf andere Kontinente zu verlagern. Wir müssen die nachhaltige Transformation unserer Industrie gemeinsam mit den Firmen und nicht gegen sie gestalten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht ohne Grund heißt das Arbeitsprogramm „Eine vitale Union in einer fragilen Welt“. Die Aufnahme von coronakranken Patienten aus anderen EU-Ländern in eigenen Krankenhäusern – im Übrigen eine deutsche Initiative – ist ein gelungenes Beispiel dafür. Die EU hat gezeigt, dass sie bei aller Kritik in der Lage ist, in Krisenzeiten zu handeln, Solidarität zu zeigen und Dinge zu verändern. Diesen Mut müssen wir für künftige Herausforderungen bewahren, dabei nationalen Egoismus bekämpfen, innereuropäische Grenzen wieder abbauen und natürlich das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission konsequent umsetzen.
Vielen Dank.
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Lieber Christian Natterer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch dazu und auf gute Zusammenarbeit!
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stand heute sind wir meilenweit entfernt davon, die Covid-19-Pandemie global in den Griff zu bekommen. Das hat fatale Folgen, nicht nur für uns, sondern auch und vor allem für die Menschen in den ärmeren Ländern unserer Erde.
Jahrzehntelang hat die Welt beharrlich globale Partnerschaften aufgebaut, erfolgreiche internationale Organisationen, Strukturen der internationalen Zusammenarbeit, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Polio oder anderen Krankheiten. Soll das alles jetzt – in dieser großen Pandemie, die uns selbst herausfordert – keine Rolle mehr spielen? Wir dürfen diese über die letzten Jahrzehnte mühsam erarbeitete globale Solidarität nicht einfach fahrlässig über Bord werfen, meine Damen und Herren.
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Wir sind leider kurz davor, genau das zu tun. Wir dürfen die ärmeren Länder in dieser schweren Zeit, in der Pandemie, nicht alleinlassen. Das Virus und die damit verbundenen Folgeerscheinungen – Millionen Infizierte, Hunderttausende an Covid-19 Gestorbene, überfüllte Kliniken, Verunsicherung der Menschen, Schulschließungen, das Wiederaufflammen von beigelegt geglaubten Konflikten – würden einen immensen Schaden nach sich ziehen, wenn wir jetzt nicht handeln.
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Eines sage ich hier voraus: In dieser Situation steht auch unsere Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wenn wir die Länder des Globalen Südens jetzt im Stich lassen, dann fällt uns das irgendwann gewaltig auf die Füße.
Herr Dr. Müller, ich sehe, Sie nehmen auch an der Debatte teil. Ja, das BMZ hat viel getan, aber wir bekommen die Pandemie global nicht in den Griff, wenn wir business as usual machen.
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In Deutschland, in Europa haben wir seit nunmehr einem Jahr auf die Herausforderungen, die das Virus an uns stellt, mit Ausnahmebeschlüssen reagiert, mit Ausnahmebeschlüssen zum Schutz unserer Bevölkerung und mit sehr viel Geld – dreistelligen Millionenbeträgen! – zur Unterstützung unserer Wirtschaft. Wir müssen jetzt den nächsten Schritt tun und Ausnahmebeschlüsse zum Schutz der vulnerablen Menschen weltweit fassen.
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Dass wir jetzt im Haushalt 1,5 Milliarden Euro für die globale Covid-19-Kampagne freigegeben haben, ist ein wichtiger erster Schritt. Doch zur Wahrheit gehört auch: Die Kampagne ist trotz der Zusagen aus Amerika, Großbritannien und der EU weiterhin extrem unterfinanziert. Von Anfang an hätten alle Staaten, EU und Deutschland inklusive, den Einkauf von Impfstoffen über die dafür vorgesehene Covax-Initiative der WHO steuern müssen. Das wäre der richtige, multilaterale Weg gewesen, auch um günstigere Preise für alle Länder verhandeln zu können und Transparenz zu gewährleisten.
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Stattdessen haben viele Länder, auch die Bundesregierung, bilaterale Abkommen mit Impfstoffherstellern getroffen, bevor Covax hierzu die Möglichkeit hatte; der Markt ist für Covax so gut wie leergekauft. Niedriglohnländer waren nun auch gezwungen, ihrerseits bilaterale Verhandlungen einzugehen – mit fatalen Folgen. Medienberichten zufolge bekommen diese Länder Zusagen nämlich nur zu exorbitant höheren Preisen als wir.
Seit zwei Monaten impfen wir bereits. Aber Covax hat erst gestern mit der Auslieferung von Impfstoffen starten können. Bei uns überschüssige Impfdosen müssen wir Covax zur Verfügung stellen. Es muss unter uns doch Einigkeit darüber herrschen, dass auch in anderen Ländern weltweit das Gesundheitspersonal und Menschen mit dem höchsten Risiko zuerst und schnell geimpft werden müssen.
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Das wäre eine faire und ethisch erforderliche globale Verteilung der Impfstoffe.
Wenn wir die globalen Ziele der Weltgesundheitsorganisation nicht erreichen, müssen wir natürlich auch über Fragen der Lizenzen und des Patentschutzes reden. Südafrika und Indien haben in der Welthandelsorganisation bereits einen Vorstoß gemacht. Liebe Bundesregierung, machen Sie sich zum Anwalt dieser Länder! Sagen Sie nicht einfach: „Nein, das geht nicht“ und „Das machen wir nicht“. Sagen Sie uns, wie es geht!
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Gleichwohl wissen wir auch, dass das allein nicht ausreicht. Der Unterstützungsbedarf geht darüber weit hinaus. Wenn es um die Ausweitung von weltweiten Produktionskapazitäten geht, dann braucht es viele weitere Maßnahmen. Dann geht es um einen Know-how-Transfer. Es braucht eine funktionierende Zulieferindustrie, Transport und Lagerung. Um den Impfstoff effektiv verimpfen zu können, braucht es neben der gerechten Verteilung über Covax auch Aufklärung, geschultes Personal, Impfzentren usw.
Natürlich brauchen die ärmeren Länder auch Unterstützung bei der Bereitstellung von Tests, Diagnostika und – ganz wichtig – Behandlungsmöglichkeiten für Covid-19-Patienten. Auch wenn das Impfen verständlicherweise derzeit im Mittelpunkt steht: Prävention, Diagnose, Behandlung und starke Gesundheitssysteme in allen Ländern sind wichtige Bestandteile der Bekämpfung dieser Pandemie.
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Wir haben uns in der Fraktion sehr viele Gedanken über die Machbarkeit unserer Forderungen gemacht. Herr Dr. Müller, Sie haben eine gute Handreichung dessen, was Sie jetzt tun können und müssen. Ich bin davon überzeugt, dass wir das mit einer gemeinsamen Anstrengung aller Staaten, insbesondere der Industriestaaten, hinbekommen. Das wäre nicht nur in unserem ureigenen Interesse. Es wäre auch ein Akt der globalen Solidarität – etwas, das wir uns, wie ich eingangs sagte, mit viel Mühe über die Jahrzehnte aufgebaut haben und das wir unter keinen Umständen aus den Händen geben dürfen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Herrn Bundesminister Dr. Gerd Müller für die Bundesregierung.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Lichtblick heute: 600 000 Impfdosen sind in Ghana eingetroffen. Marokko ist schneller und weiter im Impfmodus als wir in Deutschland. Das ist der Lichtblick! Aber es sind nur 5 von 55 afrikanischen Ländern, die heute konkreten Zugang zu Impfdosen haben. Deshalb freue ich mich und bin dankbar für diese Debatte, Herr von Holtz, und auch für viele Impulse, die dieser Antrag liefert. Dahinter stecken echte Fachleute. Herzlichen Dank!
Covid-19 ist eine globale Pandemie, und das Virus besiegen wir nur weltweit oder gar nicht. Den Satz predige ich jetzt seit Monaten. Er ist noch längst nicht überall angekommen, meine Damen und Herren, weder in der Politik in Deutschland noch draußen in der Welt. Aber das müssen wir verstehen: Besiegen wir das Virus nicht weltweit, dann kommt es mit dem nächsten Flieger zurück.
Diese Pandemie ist eine Polypandemie. Was heißt das? Sie gefährdet Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung, Stabilität und Frieden. Die Ärmsten der Armen werden am härtesten getroffen und können sich am wenigsten schützen. Ich will dies mal mit Zahlen aufbereiten, damit uns klar wird, was in der Welt außerhalb Europas, wo die Sonne scheint, abgeht.
Der Tod durch das Virus: 2,5 Millionen Tote, zwei Drittel davon in Entwicklungs- und Schwellenländern, 170 000 Tote in Mexiko; ich greife mal Lateinamerika heraus. Der Zusammenbruch von Nahrungsmittel- und Medikamentenversorgung: Nach UN-Angaben voraussichtlich 2 Millionen Tote in diesem Jahr allein in Afrika, weil Medikamente gegen Aids, Malaria, Tuberkulose usw. fehlen.
Polypandemie heißt auch: 150 Millionen Menschen zusätzlich kämpfen gegen Hungertod und Armut. 300 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern haben ihren Arbeitsplatz verloren – ohne Kurzarbeitergeld, ohne Unterstützung. 1 Milliarde Kinder – 1 Milliarde Kinder! – kann heute, an diesem Tag, weltweit nicht zur Schule gehen.
Diese Wirtschaftskrise ist auch eine Finanzkrise, mit der wir uns die nächsten Monate auseinandersetzen werden. Überschuldung führt zu Destabilität und zu Staatsbankrott, Stichwort „Sambia“. Deshalb bedeutet diese Coronakrise auch eine Gefährdung der Sicherheit in vielen Bereichen. Ich habe Anfang der Woche mit den fünf Sahelstaaten darüber in einer Konferenz gesprochen.
Die Pandemie ist ein Weckruf an alle, an die internationale Gemeinschaft, die Schwächsten der Welt deutlich mehr zu unterstützen, als dies bisher erfolgt.
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Ja, jeder kann mit unterstützen. Die Unterstützung bleibt weit hinter dem zurück, was international notwendig wäre. Deutschland geht voran; das unterstreichen wir dick. Diese Debatte muss auch andere in Europa und in der Weltgemeinschaft mitreißen. Sie alle haben nahezu im Konsens, sage ich, das Corona-Sofortprogramm des BMZ in Höhe von 4 Milliarden Euro aus dem Boden gestampft. Damit wird die Gesundheitsstruktur gestärkt, die Mittel fließen in Testkits, Labor, Forschung-, Wissenschaftsaustausch. Es ist schon was vorangekommen.
Die Kanzlerin hat letzte Woche eine zusätzliche Zusage von 1,5 Milliarden Euro für Covax gemacht. Zentral wichtig! Die Amerikaner haben unter Joe Biden 4 Milliarden US-Dollar zusätzlich angekündigt. Deutschland insgesamt – ich nenne auch die anderen Ministerien: Finanzministerium, Gesundheitsministerium, Forschungsministerium – stellt 2020/2021 zusätzlich 8,9 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Das ist schon eine Ansage.
Wenn dieser Ansage auch die europäischen Staaten, die EU und die internationale Staatengemeinschaft folgen würden, dann könnten wir das finanzielle Leck stopfen. Herr von Holtz, Sie haben das angesprochen: Um 20 Prozent der Menschen in den Entwicklungsländern Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen – 20 Prozent! –, fehlen nach jetzigem Stand 25 Milliarden Euro. Der Zugang zu Impfstoffen für die Ärmsten der Armen darf nicht an der Finanzierung scheitern, meine Damen und Herren.
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Impfstoffe sind ein globales Gut. Die Lage ist so, dass 70 Prozent der weltweit verfügbaren Impfdosen – 70 Prozent! – sich Industriestaaten mit 16 Prozent der Weltbevölkerung gesichert haben. 70 Prozent der Impfungen erfolgen in den 50 reichsten Ländern. Ja, jeder denkt zunächst mal an sich selber. Aber ich sage noch mal: Das Virus wird zurückkommen. Es ist von Wuhan innerhalb von Wochen auf 195 Länder der Welt gesprungen. Deshalb können wir uns nicht isoliert davon freimachen. Es ist positiv hervorzuheben: Es passiert schon eine Menge, zum Beispiel das, was ich in Bezug auf Deutschland gesagt habe.
Ich bin auch erfreut – ich war vor Jahren noch skeptischer –: Die UN-Organisationen handeln entschlossen, zum Beispiel das Welternährungsprogramm. UNICEF ist in die Verteilung der Impfdosen integriert. UNDP, der Währungsfonds und die Weltbank verhindern den wirtschaftlichen Zusammenbruch vieler dieser Staaten. Die WHO, GAVI, Covax sind einsatzfähig. Dr. Berkley wartet nur darauf, voranzugehen, Diagnostik aufzubauen, Impfkampagnen umzusetzen.
Die Grundstruktur in der Organisation ist vorhanden, um 20 Prozent der Menschen in den Entwicklungsländern 2021 zu impfen. Das wäre ein großer Schritt; denn das Durchschnittsalter beispielsweise in Afrika liegt bei 20 Jahren. Die Ausgangslage ist etwas anders als bei uns. Aber es fehlen diese 25 Milliarden Euro. Die heutige Debatte ist ein Aufruf an die EU: Es ist nicht mit 500 Millionen plus 500 Millionen Euro getan. Wenn nach innen ein 1 000-Milliarden-Euro-Recovery-Programm finanziert werden kann, dann muss Covax mindestens auf Augenhöhe mit den Amerikanern unterstützt werden. Die G 7, G 20 sind aufgerufen, diese Lücken zu schließen.
Aus dieser Krise müssen wir auch die richtigen Konsequenzen ziehen, die ich nur kurz andeuten kann: Stärkung internationaler Zusammenarbeit, Ausbau der WHO zu einem Weltpandemiezentrum mit globalen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen, Zusammenführung der Wissenschaft und Forschung, Diagnostik weltweit – China, Russland, Indien, Afrika, Israel, Amerika.
Ich bestärke auch den Vorschlag von Guterres, das Potenzial für Impfstoffproduktion auch in den Entwicklungsländern, wie Sie es im Antrag dargelegt haben, Herr von Holtz, zu fördern, Technologietransfer und Lizenzproduktionen aufzubauen. Das ist zentral wichtig für die jetzige und für spätere Pandemien. Das ist nicht die erste und wird nicht die letzte Pandemie sein, die wir bekämpfen. Wir müssen für die Zukunft besser vorbereitet sein als jetzt. Wir brauchen dazu auch ein neues Verständnis des Miteinanders von Mensch, Tier und Natur. Das ist der One-Health-Ansatz, meine Damen und Herren.
Wo kommt das Virus her? Das wäre eine eigene Debatte, Stichwort „Ökosysteme“. Wie zerstören wir Ökosysteme? Wie treiben wir Soja- und Palmölpflanzen hinein in die Regenwälder und machen den Lebensraum für Tiere immer kleiner?
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja, gerne. Ich bin fast am Schluss.
Es verlängert Ihre Redezeit ohnehin.
Herr Minister, Sie haben sich gerade positiv bezogen auf die Forderung, durch Freigabe von Patenten und durch Technologietransfer Produktionskapazitäten zur Bekämpfung der Pandemie weltweit aufzubauen.
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Ich frage Sie: Wie kommt es, dass die Bundesregierung auf Nachfrage im Unterausschuss Globale Gesundheit gesagt hat, dass sie den Antrag der Regierungen Indiens und Südafrikas an die Welthandelsorganisation nicht unterstützt, den Patentschutz während der Pandemie bis zum Ende der Pandemie aufzuheben, um zu ermöglichen, dass die Produktionskapazitäten aufgebaut werden? Dieser Antrag wird inzwischen von der Weltgesundheitsorganisation und über 100 Regierungen unterstützt. Nur Deutschland, die anderen europäischen Regierungen und die Regierung der USA verhindern, dass die Pandemie weltweit schnell bekämpft werden kann.
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Wir sind uns einig – das findet sich auch in den Anträgen wieder –, dass die Produktionskapazität in Europa, in den USA nicht ausreichend ist. Vielmehr müssen wir die vorhandenen Kapazitäten in den Entwicklungs- und Schwellenländern nutzen. So ist beispielsweise Indien die Apotheke der Welt. Dort ist die grundlegende Infrastruktur vorhanden, und deshalb gibt es bereits Lizenzfertigungen von Produzenten mit indischen pharmazeutischen Unternehmen im ganz großen Stil. Das muss der Weg sein.
Wir im BMZ sind dabei, diese Potenziale abzufragen. Südafrika hat Möglichkeiten, Produktionspotenziale aufzubauen. Auch das Pasteur-Institut im Senegal hat eine Grundinfrastruktur, um Kapazitäten für die Impfstoffproduktion aufzubauen. Das geht nicht von heute auf morgen, und es geht nicht mit dem Zwang zur Freigabe von Patenten. Das gelingt nur in der Zusammenarbeit zwischen Lizenzgeber und Lizenznehmer und mit technologischer Unterstützung, mit Technologietransfer; auch dafür hat Covax sein System vorbereitet. Ich sehe uns da auf einem guten Weg – er reicht aber noch nicht aus –, um die Kapazitäten in diesen Ländern grundständig, bodenständig zu entwickeln.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein neues Verständnis in dem Sinne, dass wir nicht, wie jetzt, jeden Tag in Bezug auf das Virus in Hektik geraten, auf die Medikamente, auf die Impfung warten. Vielmehr müssen wir uns fragen: Wo kommen das Virus, die Bedrohung, die Pandemie her, und was müssen wir grundlegend ändern? – Es geht um ein neues Verständnis von Mensch, Tier und Natur; es geht um den Schutz der Biosphäre, den Erhalt der wertvollen Schutzgebiete Regenwälder durch einen One-Health-Ansatz.
Wir sind dem Antrag der Grünen an dieser Stelle schon voraus; denn wir haben vor drei Monaten eine Unterabteilung eingerichtet; Frau Staatssekretärin Flachsbarth – sie ist ausgebildete Veterinärmedizinerin – ist Sonderbeauftragte. Wir wollen diesen Bereich aufbauen und einen neuen Ansatz finden, die Arbeit von Humanmedizin, Veterinärmedizin, Landwirtschaft und Ökologie zusammenzudenken. Wir müssen Globalisierung und globale Lieferketten nachhaltig und gerecht gestalten; das ist eine der zentralen Antworten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Albert Einstein soll einmal gesagt haben: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
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Genau das fasst die vorliegenden neuen wie alten Anträge schön zusammen. Sie sind gekennzeichnet von kopflosem Aktionismus. Als wir zuvor diese Probleme ohne hypermediale Präsenz angesprochen haben, wurden unsere Anträge und Vorschläge verlacht. Sie erkennen zwar die Problematik, bieten aber immer die gleiche Lösung an und verkennen anscheinend effektivere Alternativen, nicht nur unsere.
Immer mehr Entwicklungsländer, Länder des Globalen Südens, Dritte-Welt-Länder – nennen Sie es, wie Sie wollen –, wenden sich Staaten zu, die in der Art ihrer Zusammenarbeit den eigenen eng definierten geostrategischen Interessen folgen. Und die sind auch noch erfolgreich damit. Dagegen huldigen Sie Ihrem Goldenen Kalb der westlichen überlegenen multilateralen etc. Entwicklungszusammenarbeit.
Ja, es stimmt, liebe Kollegen von den Grünen, dass die Gesundheitssysteme und der gesamte staatliche Apparat in vielen Entwicklungsländern überlastet, unterfinanziert und ungerecht verteilt ist. Ja, es stimmt, liebe Kollegen von der FDP, dass das Bevölkerungswachstum und die stetig schrumpfende Distanz zwischen allen Punkten der Erde die Gefahr der Verbreitung von schweren und tödlichen Krankheiten stark erhöht hat. Ja, und es ist sogar richtig, dass wir weder China noch Russland noch anderen regionalen Mächten das Feld in diesen Ländern überlassen sollten.
Aber das, was Sie zur Lösung dieser Probleme vorschlagen, funktioniert so nicht. Das wird allein bei der Impfstoffdebatte deutlich: China exportiert inzwischen mehr Impfstoff, als es selber verbraucht. Und ja, das ist wahrscheinlich kein altruistischer Akt, sondern geostrategisches Kalkül. Ihre Art der Entwicklungshilfe, euphemistisch „Entwicklungszusammenarbeit“ genannt, funktioniert so nicht.
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Auch wenn Sie lachen mögen: Wir können und sollten von anderen Nationen und neuen Gebern lernen. Wir sind auf lange Sicht so nicht konkurrenzfähig, schon gar nicht mit Ihrer Art der identitätszerstörenden Politik.
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Wir fordern die Ausrichtung der Entwicklungspolitik an den geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands. Als Erstes müssten wir endlich einmal die deutschen – nicht die europäischen und globalen – Interessen formulieren.
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Und als Zweites muss man klar an die Entwicklungsländer kommunizieren: Die Unterstützung findet nur zeitlich begrenzt statt, sie geht mit einer klaren Exit-Strategie einher, die Eigenverantwortung der Länder wird gefordert, und vor allem: keine ideologiegetriebenen Minimalstprojekte à la gendersensible Männerarbeit und Ähnliches.
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Der Aufbau von entwicklungsfördernder Infrastruktur und einer wirtschaftlichen Grundlage, die eine eigene, selbstgesteuerte Entwicklung ermöglicht und im Einklang mit deutschen Interessen steht, muss unser Ziel sein. Hunger und Armut waren einmal die Treiber von Entwicklungshilfe. Jetzt sind es Fragen nach Artikeln, Suffixen und Kleinstgruppenbefindlichkeiten. China verringerte die Anzahl der in absoluter Armut lebenden Menschen im eigenen Land um 800 Millionen – ohne Genderfragen, ohne Identitätsdebatten und ohne Bevormundung durch selbsternannte Heilsbringer.
So traurig es sein mag, aber Sie müssen endlich begreifen, dass der Spruch „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ damals wie heute gilt. Sie täten gut daran, endlich Ihre überkommene, gescheiterte Entwicklungspolitik aufzugeben und wirklich neu zu gestalten. Wir haben dazu genug Möglichkeiten aufgezeigt.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege Oehme. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der geschätzten Kollegin Vizepräsidentin Dagmar Ziegler, SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Kollege der AfD-Fraktion, vielleicht ist es ja bei Ihnen so üblich, dass das Fressen vor der Moral kommt. Das weisen wir für uns und den Rest des Hauses jedenfalls weit von uns.
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Deutschland lässt die armen Länder in dieser weltweiten Krise eben nicht im Stich. Am 10. Februar sind weitere 1,5 Milliarden Euro vom Haushaltsausschuss bewilligt worden, die Finanzminister Olaf Scholz für die WHO und für die Impfallianz Covax für die Bereitstellung von Impfstoffen, Schutzkleidung und Tests in 92 Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt hat. Sie sollen auch der Erforschung der weltweit auftretenden Virusmutationen dienen. Wir können die Pandemie nur besiegen, wenn wir sie weltweit unter Kontrolle bringen. Deshalb müssen Impfstoffe global zugänglich und bezahlbar sein. Das ist hier und heute ganz sicher weitgehender Konsens in diesem Hause.
Die humanitäre Lage in den Entwicklungsländern hat sich drastisch verschlechtert. Ihre Gesundheitssysteme sind am Limit, ihre Wirtschaften liegen am Boden, und Zigtausende Menschen haben Zukunftsangst. Die Pandemie verstärkt die ohnehin prekäre Lebenssituation dieser Menschen und damit vielleicht auch den Zwang, die Heimat zu verlassen. Fluchtursachen gibt es einfach zu viele. Deshalb müssen wir endlich umfassende Bleibeperspektiven eröffnen.
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Die bereits erwähnten 1,5 Milliarden Euro verteilen sich auf vier Ministerien: das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Bundesministerium für Gesundheit sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Das BMZ zum Beispiel erhält 800 Millionen Euro für die Finanzierung von GAVI, unserer Impfallianz. Weitere 20 Millionen Euro gehen an die UNITAID für die Bereitstellung von Covid-19-Therapeutika. Hinzu kommen 140 Millionen Euro für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria für Tests und Schutzausrüstungen. Im Bereich Gesundheit sollen 260 Millionen Euro zur weiteren Unterstützung an die WHO fließen, die eine ganz entscheidende Rolle bei der Koordinierung der Gesamtarbeit spielt. Das ist ein guter Weg, um die armen Länder bei der Entwicklung und Stabilisierung ihrer Gesundheitssysteme gerade jetzt zu unterstützen.
Auch international gerät vieles in Bewegung. Auf dem schon erwähnten G-7-Gipfel wurde am vergangenen Freitag beschlossen, die ärmeren Länder mit mehr als 4 Milliarden Dollar für die globale Impfkampagne Covax zu unterstützen, also für den Kauf, die Herstellung und die Lieferung von Impfdosen. Bis Ende 2021 sollen rund 2 Milliarden Impfdosen zur Verfügung stehen. Die sieben führenden Industrienationen betonten in ihrer Abschlusserklärung – ich erlaube mir ein Zitat –, entschlossen zusammenzuarbeiten, um die Coronapandemie zu besiegen und eine Erholung der Weltwirtschaft herbeizuführen. Auch die EU-Kommission will ihren Beitrag von 500 Millionen auf 1 Milliarde Euro erhöhen. Sie befasst sich zudem mit Fragen der globalen Solidarität sowie eines möglichen internationalen Pandemieabkommens noch in diesem Monat.
Dies alles bringt uns weiter nach vorn und gibt uns ein Stück Zuversicht; aber es kann eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass das nicht ausreichen wird, um allein die für dieses Jahr von der WHO errechneten Mehrkosten für die globale Impfkampagne zu decken. Aber immerhin – wir haben es gehört –, die Einkäufe der Impfstoffe haben begonnen und die ersten Lieferungen an die betroffenen Länder sind erfolgt. Und: Die reichen Staaten, die sich bislang den größten Teil der Impfstoffproduktion gesichert haben, sollten nach Ansicht der WHO überschüssige Dosen an die ärmeren Länder spenden.
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Auch 4 bis 5 Prozent der Impfdosen, die für die EU gekauft worden sind, könnten, so beispielsweise Staatspräsident Emmanuel Macron während des Gipfels, gespendet werden.
Allerdings dürfen dadurch nicht die nationalen Impfkampagnen gefährdet werden. Und genau hier liegt das Problem. Statt, wie vor einem Jahr auf einem G-7-Sondergipfel beschlossen, alle Staaten gleichmäßig mit Impfstoffen zu versorgen, heißt es jetzt: Die eigene Bevölkerung zuerst, und spenden erst dann, wenn was übrig bleibt.
Aber es bleibt dabei – das gilt nicht nur jetzt, sondern auch bei allen Plänen und Strategien zum Schutz vor und zur Bekämpfung von künftigen Pandemien –: Unser Ziel muss es sein, allen Menschen weltweit eine Impfung zu ermöglichen, unabhängig davon, ob sie in einem Industriestaat oder einem Entwicklungsland leben.
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Wir brauchen eine wirksame globale Impfstrategie mit hoher Impfgerechtigkeit, und zwar jetzt. Das ist ein weiterer Lackmustest der Erdbevölkerung, an dem sich zeigt, wie sie mit dem Schutz von Mensch und Natur umgeht.
Unser Ziel ist schlicht zu formulieren: solidarisch einfach menschlich zu sein. So wie wir – ich bin Ostdeutsche – mal für gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West unter dem Motto „Wir sind ein Volk!“ demonstriert haben, sollten wir uns jetzt gemeinsam einsetzen für den Kampf gegen die Pandemie unter dem Motto „Wir sind eine Weltbevölkerung!“.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Vizepräsidentin. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr. Andrew Ullmann, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein kleines Virus. Ein kleines Virus hat die Fragilität unseres Systems zum Vorschein gebracht. Es nutzt die Risse innerhalb unserer Gesellschaften und zwischen den Nationen aus und vertieft sie. Es hat auf brutalste Weise gezeigt, dass es ohne Gesundheit keine wirtschaftliche Stabilität, keine Sicherheit, keine Entwicklung und keine Perspektive gibt.
Wir müssen endlich die akute Phase der Pandemie verantwortungsvoll beenden. Das erfordert ein globales koordiniertes Vorgehen; denn wir müssen überall die Pandemie beenden. Wie es der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros, schon mal gesagt hat: Niemand ist sicher, bis alle sicher sind. – Das ist nicht nur Politrhetorik, das ist eine epidemiologische Tatsache.
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Deshalb sind wir explizit dankbar, dass die Grünen dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Einige Ansätze sind gut, andere sehen wir kritisch. Vor allem vermissen wir die Weitsicht. Was passiert in Zukunft mit dem ACT-Accelerator? Wie können wir unsere Systeme widerstandsfähiger machen? Und wie können wir in Zukunft Pandemien verhindern? Mit unserem Antrag fordern wir, dass die Vorbereitung auf die nächste Pandemie bereits jetzt beginnt, und zwar heute und nicht erst morgen oder in ein paar Jahren. Wir sollten nicht nur auf eine Pandemie wie die letzte vorbereitet sein; dieser tödliche Kreislauf aus Panik und Vernachlässigung in der Politik muss ein für alle Mal durchbrochen werden.
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In der Infektionsmedizin ist klar: Die größten Gefahren gehen von Zoonosen aus: SARS, Zika, Ebola oder jetzt Covid-19; das ist wohl eine der verheerendsten Zoonosen, die wir bisher kennengelernt haben. Uns muss klar sein, dass fast zwei Drittel der Infektionskrankheiten in der Humanmedizin Zoonosen sind. Das lässt befürchten, das SARS-CoV-2 nur die Spitze des Eisberges ist; denn Klimawandel, steigende Mobilität, das Vordringen des Menschen in unberührte Lebensräume, industrielle Landwirtschaft, Nutztierhaltung führen dazu, dass sich Krankheitserreger schneller ausbreiten können. Ohne Präventionsmaßnahmen werden Pandemien häufiger auftreten, sich schneller ausbreiten, mehr Menschen umbringen und die Weltwirtschaft mit verheerenderen Auswirkungen als je zuvor beeinflussen.
Wir müssen die Covid-19-Pandemie als Weckruf begreifen, unser System neu zu denken. Wir müssen in globaler Zusammenarbeit Verantwortung übernehmen für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt und die gegenseitige Abhängigkeit berücksichtigen. Unser Leitfaden muss das One-Health-Konzept sein. „One Health“ darf nicht nur Rhetorik sein, sondern muss auf allen Ebenen konsequent umgesetzt werden.
Ich möchte kurz 5 unserer 15 Forderungen vorstellen:
Erstens. Unsere Frühwarnsysteme müssen verbessert und weiterentwickelt werden. Wir brauchen ein funktionierendes Frühwarnsystem für Zoonosen.
Zweitens. Partnerländer in der Entwicklungszusammenarbeit müssen gezielt bei der frühzeitigen Erkennung und Eindämmung von Zoonosen unterstützt werden.
Drittens. Die Bedrohung von Naturwäldern mit ausgeprägter Biodiversität muss auf internationaler Ebene angezeigt werden, und es müssen ihr Schutz, ihre Wiederherstellung und ihr Ausbau gefördert werden.
Viertens. Die dreigliedrige Zusammenarbeit der Weltorganisation für Tiergesundheit, OIE, der Weltgesundheitsorganisation, WHO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, FAO, muss gestärkt werden. Umweltaspekte müssen dabei stärker in den Fokus rücken.
Fünftens. Die Pandemieprävention erfordert starke Gesundheitssysteme weltweit in Analogie zu SDG 3, der Agenda 2030. Dabei kann die One-Health-Agenda sehr hilfreich sein.
Ein Weiter-so nach der Covid-19-Pandemie darf es nicht geben. Es liegt in unserer Verantwortung, eine weitere Krise zu verhindern, frei nach dem UN-Motto „Let’s build back better“.
Danke schön.
Geehrter Präsident! Minister Müller! Kolleginnen und Kollegen! Noch nie ist Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Erfolg in so kurzer Zeit gelungen. Nur ein Jahr ist es her, seit das neue Covid-19-Virus auftauchte. Es hat das Leben der Menschheit weltweit radikal verändert. In diesem Zeitraum sind mehrere Impfstoffe zugelassen worden; noch mehr stehen knapp davor. Normalerweise brauchen Forscher und Forscherinnen zehn Jahre dafür. Dieser erste Triumph über die Krankheit könnte die Menschen über Grenzen hinweg verbinden und ein Signal für globale Zusammenarbeit und Solidarität aussenden – eine schöne Vision.
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Die Realität jedoch sieht anders aus: Die Impfung erreicht vier Fünftel der Menschheit gar nicht. Die Entwicklungsorganisation Oxfam spricht in einer Studie vom Ungleichheitsvirus. Auch wenn die Impfkampagne bei uns sehr holprig startet und sich Unzufriedenheit breitmacht – die wenigen reichen Industrieländer haben sich bereits seit letztem Sommer einen Großteil der Impfstoffe in Vorabverträgen gesichert; Minister Müller, Sie erwähnten es soeben. Dagegen haben etwa 130 Länder noch keine einzige Dosis verbraucht und werden teilweise bis 2024 auf Impfschutz für ihre Bevölkerung warten müssen. Dabei sind die ärmeren Länder von den Folgen der Pandemie überproportional betroffen. Schon jetzt nimmt der Hunger weltweit zu. Durch Ausfälle im Gesundheitswesen führen andere Krankheiten zu höheren Todeszahlen. Die ökonomische Krise als Folge der Gesundheitskrise droht ärmere Länder wirtschaftlich für Jahre zurückzuwerfen. Laut dem Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation Tedros ist der Impfegoismus der reichen Länder für sie selbstzerstörerisch. Die Pandemie kann doch erst dann beendet werden, wenn sie für alle besiegt ist.
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Man fragt sich: Wie konnte es trotz vieler hochrangiger Aufrufe zu Solidarität zu solchen Alleingängen kommen?
Erstens. Mit fast 10 Milliarden Euro haben die EU und die Bundesregierung die Erforschung von Impfstoffen von BioNTech und CureVac subventioniert. Zudem beschloss die Bundesregierung vor zwei Wochen, 1,5 Milliarden Euro mehr für das privat-öffentliche Projekt Covax der WHO und der Impfstoffallianz GAVI zu zahlen. Covax soll helfen, Impfstoffe gegen Corona global zu verteilen. Das hört sich sehr gut an. Das hat gestern auch begonnen. Der Verteilungsmechanismus bringt allerdings nichts, wenn es nichts zu verteilen gibt. Denn sehr früh wurde versäumt, die Produktionskapazitäten weltweit rasch auszubauen, was uns auch in der Zukunft helfen würde. Man stelle sich einen zu kleinen Kuchen vor, von dem die meisten armen Länder höchstens ein paar Krümel abbekommen, weil sich einige wenige reiche Länder die großen Stücke gesichert haben.
Die WHO hatte schon im Mai 2020 die Idee Costa Ricas begrüßt, einen Patentpool für Covid-19-Produkte einzurichten. Dies ist ein bewährtes Instrument für die Versorgung ärmerer Länder. Der im Jahr 2000 gegründete Medicines Patent Pool MPP hat entscheidend dazu beigetragen, dass heute fast alle Menschen mit HIV/Aids weltweit behandelt werden können. In den1980er- und 1990er-Jahren mussten leider viele Millionen Infizierte im globalen Süden sterben, weil kostengünstige Generika nicht im breiten Maßstab eingesetzt werden durften. Westliche Pharmafirmen hatten sich gegen die Freigabe von Patenten eingesetzt. So ähnlich verhält es sich jetzt leider erneut; denn die Industrieländer mauern beim Patentpool.
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Zweitens. Weil der Erfolg der Impfstoffentwicklung durch die Steuerzahler/-innen möglich gemacht wurde, müssten die Regierungen auch gesetzliche Konditionen für den Zugang, die Bezahlbarkeit und die Transparenz der Produkte entwickeln. Die Industrieländer nehmen diese kollektive Verantwortung jedoch nicht an, sondern stehen auf der Seite der Pharmalobby. Minister Spahn hat das gestern indirekt auch bestätigt. Dass die politische Priorität nicht darauf liegt, alle Menschen weltweit zu erreichen, halte ich für ein Unding.
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Dabei gibt es sogar schon Instrumente, wie Equitable Licensing, die in der gegenwärtigen Lage die Freigabe der Patente rechtfertigen würden.
Drittens. Der Norden könnte vom Süden lernen. Südafrika und Indien hatten die Initiative der temporären Lizenzfreigabe mit dem sogenannten TRIPS Waiver von der Welthandelsorganisation ins Leben gerufen. Weil sie nicht so lange auf Hilfe für ihre Bevölkerungen warten wollen, unterstützen Hundert Länder diese Initiative, darunter die Afrikanische Union. Die Industrieländer aber blockieren auch diese wegweisende Forderung.
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200 NGOs aus dem Globalen Süden haben in einem öffentlichen Brief die Forderung bekräftigt, Patente zeitlich befristet aufzuheben.
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Die Linke unterstützt dieses zivilgesellschaftliche Engagement; denn das Bremsen bei der weltweiten Pandemiebekämpfung ist unterlassene Hilfeleistung.
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Minister Müller, Sie, aber auch Frau Merkel oder Herr Steinmeier haben gesagt: Der Impfstoff soll ein globales öffentliches Gut sein. – Zeigen Sie sich solidarisch, und unterstützen Sie die Patentfreigabe von SARS-CoV-2-Impfstoffen, wie das auch im ersten Bevölkerungsschutzgesetz möglich gemacht wird.
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Während die Industrieländer blockieren, bieten Russland und China bedürftigsten Ländern ihre Impfstoffe zum Selbstkostenpreis an. Während die reichen Länder Profite vor Menschenleben setzen, hat der kleine Karibikstaat Kuba die Lizenz für seinen Impfstoff der WHO übergeben. Es geht also anders.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Statt uns um die Stücke eines zu kleinen Kuchens zu streiten, sollten wir besser das Rezept teilen. Nur so können wir dafür sorgen, dass die Coronapandemie zu einem Wendepunkt hin zu einer solidarischen globalen Gemeinschaft führt.
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute Nachmittag steht ein sehr wichtiges und uns alle und die Weltbevölkerung bewegendes Thema auf der Tagesordnung. In den zahlreichen Anträgen, die heute Nachmittag debattiert werden, haben wir es häufig mit dem Begriffspaar „globale Gesundheit“ und „Coronapandemie“ zu tun; zwei sich schneidende Kreise, die nicht deckungsgleich sind, die allerdings auch in einer seriösen Debatte teilweise unterschiedlich behandelt werden.
Ich finde es, ehrlich gesagt, schon etwas ärgerlich, wenn hier vom Kollegen Ottmar von Holtz und auch in den Anträgen der Eindruck erweckt wird, dass die Arbeit in diesem Sektor bisher nur darin bestanden hätte, dass wir die Hände schicksalsergeben in den Schoß legen und dem Geschehen seinen Lauf lassen.
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Genau das Gegenteil ist der Fall.
Wenn ich alleine auf die Politik im Kontext der globalen Gesundheit schaue, dann stelle ich fest, dass wir seit 2013 eine ständig zunehmende Befassung mit diesem Thema haben; damals mit einem ersten Konzept „Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen“. Dies mündete im Oktober letzten Jahres in der globalen Gesundheitsstrategie. Der Deutsche Bundestag hat sich einen Unterausschuss Globale Gesundheit gegeben. Das BMZ hat im vergangenen Jahr als spontane Reaktion auf die Coronakrise ein umfangreiches Coronasofortprogramm aufgelegt, und der Haushalt des BMZ wächst ständig auf. Wir sind diesem Thema zugewandt; wir bemühen uns intensiv, Fortschritte zu erzielen. Nur, die Stärkung von Gesundheitssystemen, die die Grundlage und das Fundament für eine gute Versorgung sind, ist ein Marathon und kein Sprint. Demgegenüber haben wir es bei der Pandemie mit einer hochakuten Notlage zu tun, der wir uns mit den geeigneten Mitteln widmen müssen.
Ich denke, es ist eine vollkommen verfehlte Darstellung – das muss ich sagen; es ärgert mich schon und treibt mir die Zornesfalten auf die Stirn –, dass in Ihrem Ausgangsantrag vom Mai 2020 in der Einleitung stand, dass die Covid-19-Pandemie schonungslos offengelegt habe, welche Fehler in der Vergangenheit in der globalen Gesundheit gemacht wurden. Das ist schlichtweg falsch,
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weil die Pandemie ein Ereignis historischen Ausmaßes und beispiellos ist und wir uns bei ihrer Bewältigung täglich die Erfolge erkämpfen müssen.
Noch wesentlich ärgerlicher ist es, wenn dann der Eindruck erzeugt wird, dass die Probleme, die die Kollegen von den Grünen und der Linken ja offenbar seit Ewigkeiten kennen, mit einem Allheilmittel beseitigt werden können. Dieses Allheilmittel besteht darin, dass – wie in der Regel – zunächst mal die Finanzmittel quotenmäßig erhöht werden, darüber hinaus die Vergemeinschaftung geistigen Eigentums erfolgt und natürlich die Privatwirtschaft und die Aktivitäten Privater ausgeschlossen werden sollen,
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weil man ihnen ja zweifelhafte Motivationen unterstellt. Das ist schlichtweg eine verfehlte Herangehensweise an eine hochkomplexe Materie.
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Der wirkliche Weg zu einem Erfolg besteht darin, die internationalen Akteure koordiniert zusammenzuführen und arbeiten zu lassen. Lassen Sie mich ganz kurz nur einige wenige der Akteure aufzählen, die heute schon mehrfach genannt worden sind: WHO, GFATM, GAVI, ACT-A, Covax. Jüngst wurde Covax allein durch die Bundesrepublik Deutschland um 1,5 Milliarden aufgestockt, und die USA haben Mittel angekündigt. – Das sind die Methoden, mit denen wir uns diesen Herausforderungen widmen müssen.
Das Entscheidende ist aber auch, dass die Rahmenbedingungen neben der reinen Beschaffung, dem Erwerb und der Verteilung des Impfstoffs gewährleistet sind. In der Anhörung gestern Nachmittag zum Thema der Patentrechte ist uns geschildert worden, dass es unter anderem eine wesentliche Voraussetzung ist, dass vor Ort Impfzentren oder Impfmöglichkeiten, aber vor allen Dingen auch die notwendigen Spritzen vorhanden sind. 5 Milliarden spezieller Spritzen fehlen zurzeit noch. Auch da ist UNICEF federführend und vorausschauend unterwegs und hat gestern die ersten Lieferungen vom Zentrallager in Dubai zu den Malediven auf den Weg gebracht; 30 weitere Länder werden kurzfristig mit Spritzen versorgt.
Aus gegebenem Anlass – lieber Herr Dr. Kessler, Sie reizen mich immer wieder mit diesem Thema – muss ich noch mal was zum Thema der Impfstoffe sagen.
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Gestern haben wir in der ausführlichen Anhörung substanziiert vernommen, dass die Produktion des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs eben nicht ein normaler chemischer Vorgang ist, sondern ein hochkomplexer Prozess: 160 Substanzen – größtenteils ebenfalls patentgeschützt, teilweise in der Lieferkette knapp –, 450 Schritte der Qualitätssicherung – 70 Prozent des Produktionsprozesses bestehen aus Qualitätskontrolle –, Fit and Finish, Verpackung, Logistik und entsprechende Belehrungen in der Verarbeitung sind wesentliche Bestandteile des Produktions- und Vertriebsprozesses. Und das kann eben nicht jedermann; das können nur Spezialisten. Also suggerieren Sie doch bitte nicht der ganzen Welt, es reiche, wenn man auf dem Schreibtisch zwei Reagenzgläser, eine Zentrifuge und einen Bunsenbrenner stehen hat und die Patenturkunde an der Wand hängt.
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Auf diese Art und Weise kann man keine Premiumprodukte herstellen.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Linken von dem von Ihnen angesprochenen Kollegen?
Ja, bitte schön.
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Vielen Dank, Herr Dr. Kippels, dass Sie die Frage zulassen. – Ich höre den Vortrag, den Sie uns gerade gehalten haben, jetzt seit drei Monaten. Der Gesundheitsminister erklärt uns auch immer wieder im Gesundheitsausschuss, wie schwierig und kompliziert es ist, diese Impfstoffe herzustellen.
Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, anstatt immer zu erzählen, welche Schwierigkeiten es macht, tatsächlich zu handeln,
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die Lizenzen freizugeben
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und damit tatsächlich mal zu ermöglichen, dass die Produktionskapazitäten erhöht werden?
Sie erzählen uns hier die ganze Zeit, dass Sie auf Freiwilligkeit anstatt auf Zwang setzen. Dann erklären Sie uns doch einmal, warum Sie mit dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz dem Gesundheitsminister die Möglichkeit gegeben haben, die Unternehmen zu zwingen, Zwangslizenzen zu vergeben. Warum haben Sie dieses Gesetz geschaffen, wenn Sie jetzt sagen: „Wir machen das alles freiwillig“?
Dass es nicht funktioniert, erleben wir doch. Sehen Sie sich doch die Impfquoten in Deutschland an. Sehen Sie sich doch an, dass der gesamte afrikanische Kontinent so gut wie keinen Zugang hat, und hören Sie auf, uns hier diese Märchen zu erzählen.
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Verehrter Herr Kollege Dr. Kessler, zunächst mal: Ihre Erregung und Aufregung verstärken die Argumentationskraft Ihrer Worte nicht. Und wenn Sie gestern bei der Anhörung wirklich aufmerksam zugehört hätten – körperlich waren Sie ja anwesend,
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haben sich aber dann etwas gelangweilt im Sessel zurückgelehnt –, dann wüssten Sie: Wir haben von zwei Sachverständigen substanziell gehört, dass zurzeit überhaupt keine Produktionsprobleme bestehen, sondern die Produktionsabläufe auf Hochtouren laufen bzw. nach der entsprechenden Aufrüstung der vorhandenen Anlagen die – –
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– Hören Sie doch gerade erst mal zu.
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Das Schwierige an einer Frage ist, dass man dann auch mal zuhören muss, Herr Kollege Dr. Kessler.
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Das macht die Sache in der Debatte vielleicht einfacher.
Herr Kollege.
Ich bringe es zum Schluss. Jedenfalls ist auf die Kernfrage hin, die gestern mehrfach gestellt worden ist, die Aussage getätigt worden: Durch die Freigabe der Patente würde auf absehbare Zeit keinerlei Steigerung der Produktion zu erwarten sein.
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Gut. Das war jetzt die Antwort. Sie können sich setzen, Herr Kollege Dr. Kessler. – Und nun geht es weiter.
Das war die Antwort, und ich komme dann auch fast schon zum Schluss.
Die weitere Erkenntnis, die wir gestern sammeln konnten, war die Feststellung, dass es bereits über 250 freiwillige Partnerschaften zur Produktion des Impfstoffes gibt und es insofern ganz wichtig ist, dass wir diese Freiwilligkeit im Rahmen der weiteren Maßnahmen unterstützen, indem wir beispielsweise bei der Umrüstung vorhandener Produktionsanlagen im Rahmen der Freiwilligkeit Hilfe leisten und gegebenenfalls auch Finanzierungsmodelle zur Verfügung stellen.
Wie wichtig das Thema „Qualität und Qualitätssicherung“ ist, sehen wir doch gerade hautnah an AstraZeneca. Diese Diskussion, die wirklich auf ganz hohem Niveau geführt wird, führt schon dazu, dass das Produkt kritisch betrachtet wird.
Wir halten also abschließend fest, dass wir seit Jahren eine steigende Kurve der Aktivitäten und auch des Erfolgs auf einer zugegebenermaßen noch langen Strecke der Verbesserung der globalen Gesundheit sehen. Ihrer Anträge bedarf es nicht. Deshalb können wir uns wieder unserer verantwortungsvollen Arbeit zuwenden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sehr schön, Herr Kollege Dr. Kippels. – Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Anträge in Gänze durchliest, kann man definitiv eins bekommen: Angst.
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Deutschland soll, so der Antrag der Grünen, die globale Covid‑19-Bekämpfung mit organisieren und unterstützen. Nun, das wäre so, als wenn die Grünen die weltweite Energieversorgung organisieren und planen sollten.
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Seien wir mal ganz realistisch: Was wir in Deutschland nicht annähernd schaffen, sollten wir global gar nicht erst versuchen.
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Deutschland lebt in Coronahysterie statt in Coronastrategie: unsinnige Lockdown-Regelungen bis hin zur totalen Impfpanne. Das hat schon was vom Flughafen: Da wurde auch ständig angekündigt und nicht geliefert; da hätte mancher schon viel früher fliegen müssen. Aber es geht ja um die Anträge der Grünen, der Linken und der FDP, und es geht hauptsächlich um die Länder des sogenannten Globalen Südens, also um die anderen. Aber wie sehr sich doch alles ähnelt! Den Anträgen entnehmen wir: Viele der Bekämpfungsmaßnahmen wie Ausgangssperren und Grenzschließungen ziehen massive sozioökonomische Folgen und schwere Rezessionen nach sich. – Oder: Bei der Durchsetzung freiheitsbeschränkender Maßnahmen wie Ausgangssperren kommen Polizei und Militär zum Einsatz, und es häufen sich Berichte über unverhältnismäßige Gewalteinsätze. – Und: die Feststellung, dass es Regierungen gibt, die die derzeitigen Veränderungen nutzen, um repressive Maßnahmen unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung zu etablieren; auch in Europa erleben wir so was. Bei uns? Mut zur Wahrheit? Nein. Hier muss natürlich Ungarn herhalten. – Dann weiter: Friedensarbeit und Krisenprävention im Globalen Süden stärken, um eine Abwärtsspirale zu verhindern. – Und: Die Abwanderung von medizinischem Personal hat in vielen Ländern zu einer ernsten Krise geführt. Es werden in den armen Ländern bis zu 18 Millionen medizinische Fachkräfte gebraucht.
Nicht nur, dass Deutschland und Europa selber kaum in der Lage sind, präventiv Krisen zu begegnen;
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wir haben in Deutschland den Gesundheits- und Pflegebereich kaputtgespart. Unsere Ärzte gehen ins Ausland, weil sie dort bessere Bedingungen haben, und wir haben mittlerweile die Ärzte und Pflegekräfte aus den Ländern, die Sie gerade beschrieben haben.
Dann wurde gestern in der Afrika-Debatte gesagt, dass wir alles tun müssen, um den Globalen Süden mit Impfstoff zu versorgen; wir dürfen es nicht den bösen Staaten Russland und China überlassen. Na, das ist ja mal eine sensationelle Begründung. Der Unterschied ist eben: Die reden nicht; die handeln.
Gestern wurde in der gleichen Debatte betont: Wir müssen einen Teil unserer Impfdosen an den Globalen Süden abgeben, wegen der Impfgerechtigkeit. – Ein Vorschlag: 30 Prozent der Deutschen wollen sich nicht impfen lassen, und da wir ja alle auf Freiwilligkeit setzen – Impfzwang wird es ja nicht geben –, werden diese 30 Prozent der Deutschen gerne ihre Impfdosen abgeben. Das ist echte, gelebte Solidarität.
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Ansonsten geht es wie immer darum, mehr Geld auszugeben, circa 3,5 Milliarden Euro. Die FDP bezieht sich auf Zoonosen, also auf Krankheiten, die sich vom Tier auf den Menschen übertragen. Dabei geht es um die räumliche Distanz zwischen Wildtieren und Menschen. Ich bitte hier um eine genauere Ausführung.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.
Das Problem entsteht durch invasive Arten, und man sollte nicht grundsätzlich alles an Tieren bedenkenlos essen.
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Abschließend: Corona tötet Menschen; aber um ein Vielfaches höher ist das Sterben durch den weltweiten Lockdown. Beenden wir ihn endlich! Ihre Anträge lehnen wir gerne ab.
Danke.
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Vielen Dank. – Herr Kollege, dieser Bemerkung bedurfte es nicht, um es freundlich zu formulieren.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona hat die ganze Weltgemeinschaft getroffen, und nun gilt es, weltweit gemeinschaftlich zu handeln. Das lässt sich an dem Thema „Verteilung des Impfstoffkuchens“ gut aufzeigen. Denn je länger die weltweite Verteilung der Impfstoffe dauert und je länger das Virus irgendwo auf der Welt unkontrolliert bleibt, desto mehr Infektionen und Todesfälle gibt es, die vermeidbar wären, desto größer ist die Gefahr weiterer Mutationen, desto höher ist das Risiko, dass Impfstoffe nicht wirken, desto weniger können wir die Schutzmaßnahmen hier bei uns lockern, desto teurer werden der Wiederaufbau und das Aufholen des Entwicklungsverlustes in allen Ländern, aber vor allem im Globalen Süden, desto mehr leiden der weltweite Handel und Reiseverkehr, desto mehr steigt die Gefahr für gewaltsame Verteilungskonflikte und Migrationsbewegungen. Wir müssen also schnell, gemeinsam und global handeln.
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mit großer öffentlicher Förderung in Rekordzeit Covid-19-Impfstoffe entwickelt. Was für ein Segen! Aber nun ist sicherzustellen, dass die Ergebnisse dieser Forschung für alle Menschen zum Segen werden. Wir brauchen darum klare Bedingungen, an die wir unsere Förderung knüpfen. Öffentliche Fördermittel müssen dazu beitragen, dass die Preise für Impfstoffe sich nicht zuerst an Renditeinteressen orientieren. Lebenswichtige Impfstoffe müssen für alle Länder dieser Welt bezahlbar sein.
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Solange das nicht der Fall ist, ist gerade der Globale Süden auf unser Engagement bei der Verteilung des Kuchens angewiesen. Wir als Bundesrepublik setzen nochmals 1,5 Milliarden Euro zur Bewältigung der Pandemie weltweit ein. Ein so kräftiges Statement für die globale Gesundheit, meine Damen und Herren, ist der richtige Weg, und es ist gut, dass die EU und die USA beim G-7-Treffen in der letzten Woche angekündigt haben, dass sie uns auf diesem Weg folgen werden. Auch das ist eine gute Nachricht.
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Ghana ist nun das erste Land, das gestern Impfstoffe über Covax erhalten hat, und diesen Verteilmechanismus der WHO müssen wir weiter stärken. Covax ist unsere beste Chance, fairen weltweiten Zugang zu Impfstoffen zu organisieren, und darum ist es wichtig, dass wir wie geplant sehr zügig Impfstoffdosen aus den europäischen Kontingenten auch an Covax abgeben.
Aber bei all diesem Engagement zur Impfstoffverteilung ist auch wahr: Wir haben uns als Industrienationen vom vorhandenen Kuchen erst einmal die größten Stücke gesichert. Gleichzeitig lassen wir zu, dass das Rezept, um mehr zu backen, damit es für alle reicht, nicht rausgerückt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geht so nicht.
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Wenn wir sehen, dass der Kuchen nicht für alle reicht, dann müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, dass auch die Länder des Globalen Südens selbst produzieren können. Wir müssen mit allen Mitteln dafür sorgen, dass die internationalen Produktionskapazitäten für Impfstoffe ausgeweitet werden, und hierfür müssen die forschenden Pharmaunternehmen mit lokalen Herstellern in den betreffenden Ländern zusammenarbeiten und eben auch technisches Know-how zur Verfügung stellen. Das ist im Übrigen gestern bei der Anhörung von allen Experten ebenso einhellig befürwortet worden.
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Die EU-Kommission setzt bislang noch auf freiwillige Lizenzierung. Aber die Zeit drängt. Sollten Hersteller den freiwilligen Lizenzierungsmechanismus nicht zeitnah nutzen, dann darf auch die zeitlich befristete Weitergabe von Patenten und Produktionswissen nicht tabu sein.
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Denn nur auf den guten Willen der Industrie zu setzen, reicht dann nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß den Antrag der Grünen und diese Debatte sehr zu schätzen. Denn die Coronapandemie zeigt in aller Deutlichkeit auf, was falsch läuft in der Welt. Aber wenn wir es schaffen, dieser globalen Herausforderung in globaler Verantwortung zu begegnen, wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen und konkret umsetzen – vielleicht legen wir dann den Schalter ja endlich um. Durch den gemeinsamen Kampf gegen Corona können wir die Logik des Gemeinwohls ins Zentrum globaler Gesundheitspolitik stellen. Ich denke, das ist dringend nötig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Beeck, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gute vorweg: Uns einen heute – jedenfalls mindestens fünf von sechs Fraktionen in diesem Haus – die Einsicht, dass der Kampf gegen Corona nur weltweit gewonnen werden kann, und wohl auch der Wille, international in vorbildlicher Weise tätig zu werden.
Nicht so schön ist allerdings, dass dies nur schleppend gelingt. Nicht schön ist, dass noch bis vor ganz kurzer Zeit in der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit die Schwerpunkte in dieser Richtung völlig falsch gesetzt worden sind. Nicht schön ist, dass die eigenen Strukturen unserer Entwicklungszusammenarbeit eher Chaos sind als Vorbild. Nicht schön ist auch, dass zwischen den hehren Worten des Ministers, dass wir uns als Anwalt der Ärmsten in der Welt verstehen und Vorreiter bei der Bekämpfung der Pandemie sind, und unserem Agieren eine große Lücke, eine Lücke zwischen Wirklichkeit und Anspruch, klafft.
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Ja, wir sind aktuell einer der größten Geber bei Covax, bei ACT-A, bei GAVI. Aber es hat lange gedauert – über ein Jahr –, bis aus 400 bzw. 600 Millionen Euro dann 2,1 Milliarden Euro geworden sind. Die Folge ist eben von Ihnen selbst, Herr Minister Müller, beschrieben worden: Gestern, am 24. Februar, ist die erste Lieferung von Covax tatsächlich nach Ghana erfolgt. In der nächsten Woche soll vielleicht die Lieferung an die Elfenbeinküste erfolgen. Das ist ein Lichtblick; aber die Perspektive ist noch dünn, und das reicht nicht aus.
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Auch wenn das aktuelle Virus noch nicht unter Kontrolle ist, noch lange nicht unter Kontrolle sein wird, sind wir gut beraten, jetzt schon in den Blick zu nehmen – das haben viele der Vorredner, insbesondere auch der Kollege Ullmann aus meiner Fraktion, schon gesagt –, dass wir robuste Gesundheitssysteme in der Welt brauchen für Frühwarnsysteme, für schnelle Reaktionen auf das, was passiert, und auch dafür, eine Impfkampagne sauber ausrollen zu können.
Darauf können wir nur mit Gesundheitsinfrastrukturen in der ganzen Welt reagieren. Herr Bundesminister Müller, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Mit „BMZ 2030“ haben Sie fünf Kernthemen definiert. Da kam Gesundheit überhaupt nicht vor; sie steht unter Ziffer zwei der sogenannten Initiativthemen. Das haben wir mittlerweile ein wenig zurückgenommen. Aber der grundsätzliche Fokus der bilateralen Zusammenarbeit ist bei Ihnen von der Gesundheit vollständig weggenommen worden.
Noch einmal: Wir Freien Demokraten unterstützen ausdrücklich das starke Engagement Deutschlands in den multilateralen Organisationen WHO, GAVI und Covax, aber das darf nicht die Ausrede dafür sein, sich bei den guten verantwortungsvollen Maßnahmen, die wir im Gesundheitssektor in bilateraler Zusammenarbeit auf den Weg gebracht haben, aus der Verantwortung zu stehlen,
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zumal die WHO gar nicht in der Lage ist, die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gesundheitssysteme vorzunehmen; das haben wir im Ausschuss immer wieder gehört. Dafür reichen die personellen Kapazitäten in der Fläche nicht aus. Deswegen: Auch die Struktur bei uns verdient einen Blick; das machen wir dann bei anderer Gelegenheit.
Abschließend, Herr Minister: Ich freue mich immer, von Ihnen zu hören, wenn Sie sich für die Ärmsten der Welt, die von der Pandemie besonders betroffen sind, wie Sie völlig zu Recht feststellen, einsetzen, weil sie unmittelbar an Leib und Leben betroffen sind, aber auch wirtschaftlich und sozial. Wenn wir die Pandemiefolgen begrenzen wollen, passt es aber eben nicht, dass wir uns mit der BMZ-2030-Strategie aus einigen der ärmsten Länder der Welt zurückziehen. Es passt nicht, wenn wir uns aus Ländern zurückziehen, in denen wir maßgebliche Beiträge geleistet haben –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
– für den Aufbau von Infrastruktur, bei Frischwasser, bei Abwasser, bei Elektrizität und anderen Dingen. Deswegen, Herr Minister, gilt für uns, aber auch für unsere Entwicklungszusammenarbeit: Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt. In diesem Sinne können wir noch besser werden. Arbeiten wir zusammen daran!
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Vielen Dank, Herr Kollege Beeck. – Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie hat erneut auch die Ungleichzeitigkeit der Welt deutlich gemacht. Und dennoch oder gerade deswegen stimme ich hier völlig mit unserem Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller überein: Die Pandemie besiegen wir nur weltweit oder gar nicht.
Und ich bin der festen Überzeugung, dass privilegierte Länder aus ihrer humanitären Überzeugung heraus eine besondere Verantwortung haben gegenüber weniger privilegierten Ländern. Hier zeigt sich wie so oft, dass die AfD zu kurz denkt, wenn sie mal wieder hervorbringt, dass beispielsweise die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit eingefroren werden sollen. Denn auch für mich sind die Interessen Deutschlands in der Welt klar: Frieden, Freiheit, Sicherheit, Stabilität, freie Handelswege und multilaterale Zusammenarbeit. Dafür setzen wir uns auch ein;
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denn die Hilfe dient neben der Humanität auch rein nationalen Wirtschaftsinteressen. Es geht darum, dass wir im Sinne unseres Landes Lieferketten aufrechterhalten; denn wir nutzen jeden Tag Waren aus den sogenannten Entwicklungsländern.
Die Internationale Handelskammer hat erst kürzlich dargestellt, dass jeder Euro, den die Bundesregierung heute für die Impfstoffversorgung in ärmeren Ländern ausgibt, das künftige deutsche Bruttoinlandsprodukt um 20 Euro steigert. Wir sind ein Land, das international agiert, sowohl geschäftlich als auch im privaten Bereich, ein Land, das den Austausch mit anderen Ländern lebt und liebt. Besiegen wir die Pandemie also nicht weltweit, so gehen wir immer das Risiko ein, dass jeder Flug den Virus wieder zurückbringt. Eine Hilfe für die ärmeren Länder ist also sowohl im Sinne der Humanität als auch im Sinne unserer ureigenen nationalen Interessen sinnvoll.
Diese Hilfe muss natürlich organisiert werden, und dafür ist die WHO die richtige Stelle; denn sie hat das Potenzial, die richtigen Strukturen weiterzuentwickeln. Und auch hier unterstütze ich die Forderung unseres Bundesentwicklungsministers, dass die WHO zu einem Weltpandemiezentrum ausgebaut werden muss.
Dabei möchte ich aber auch nicht so tun, als sei von Beginn an alles rundgelaufen. Mitnichten! Zu Beginn der Pandemie gab es Akteure, die eine schwierige Rolle gespielt haben, und mehr Konsequenz wäre an dieser Stelle wichtig gewesen, ja, gerade auch gegenüber China. Hier muss man ganz klar benennen, dass ein transparenteres und offeneres Agieren der chinesischen Seite für die Pandemiebewältigung wichtig gewesen wäre. Auch dass China die Vakzine im Sinne einer Impfstoffdiplomatie nutzt, finde ich sehr grenzwertig.
Wir müssen weiter darauf drängen, dass die WHO mehr Rechte und eine größere Durchsetzungskraft erhält. Das können wir natürlich nur gemeinsam mit anderen Ländern erreichen, und deshalb ist es ein wichtiges Signal der neuen Regierung in den USA gewesen, sich neu zur WHO zu bekennen.
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Das bietet große Chancen; denn ein Transformation Process, der die Struktur der WHO untersuchen und schlagkräftiger machen soll, ist bereits im Gange. Auch das wäre ohne den Einsatz und die Mittel aus Deutschland nicht möglich gewesen.
Deutschland ist der viertgrößte Geber in Bezug auf die Pflichtbeiträge der WHO und ein großer Geber, wenn man sich die freiwilligen Beiträge anschaut, sei es für die Organisationen der Vereinten Nationen, wie das Kinderhilfswerk UNICEF, oder auch für den Bevölkerungsfonds. Und wir engagieren uns auch im Bereich der Kinder- und Müttergesundheit und der Bekämpfung von HIV. Gerade bei den letztgenannten Beispielen müssen wir jetzt in der Pandemie gut darauf aufpassen, dass wir dort keine Rückschläge erleiden. Damit können wir uns als Industrieland im Vergleich absolut sehen lassen. Deswegen finde ich es einfach nicht redlich, wenn die Opposition teilweise so tut, als würde Deutschland hier nicht eine Vorreiterrolle in der Welt einnehmen.
Ich bin in jedem Fall sehr dankbar für die hervorragende Arbeit, die viele Menschen in unserem Land für die Entwicklungszusammenarbeit tun, allen voran unserem Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, der in diesem Bereich Maßstäbe gesetzt hat.
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Gerade erst in diesem Monat hat der Haushaltsausschuss 1,5 Milliarden Euro zur globalen Bekämpfung der Coronapandemie bewilligt. Es wurde schon vielfach angesprochen: Mit diesen Mitteln werden der faire weltweite Zugang zu Therapeutika, Impfstoffen und Tests sowie Investitionen in Gesundheitssysteme weltweit, insbesondere in Entwicklungsländern, unterstützt. Und erst gestern sind die ersten Impfdosen über das System Covax nach Ghana geliefert worden: 600 000 Impfdosen sind dort eingetroffen. Ganz konkret haben wir als Land neben diesen Lieferungen Ehrenamtliche, auf die wir stolz sein können. Die schnell einsetzbare Expertengruppe, die mit Ehrenamtlichen und Vertretern von Charité, RKI usw. besetzt ist, reist in Entwicklungsländer, um dort konkret zu helfen. Deshalb gibt es für uns als Land keinen Grund, uns zu verstecken. Im Gegenteil: Ich bin sehr dankbar, dass wir hier alle zusammen so viel geschafft haben.
In diesem Sinne: Vielen herzlichen Dank. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen zu diesem wichtigen Thema.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Zeulner. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich persönlich verbinde viel mit der Weltgesundheitsorganisation WHO und der globalen Solidarität bei der Bekämpfung von Krankheiten und Pandemien. Und das habe ich – einige werden sich erinnern – hier im Plenum gesagt: Als ich ein Kind war und noch im Senegal lebte, gab es eine Impfaktion gegen Pocken, und die ganze Region profitierte davon. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass die WHO und die Weltgemeinschaft die Pocken in der ganzen Welt erfolgreich bekämpft haben.
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Jetzt ist es unsere Aufgabe, die Coronapandemie weltweit zu bekämpfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt: Niemand ist sicher, bis alle sicher sind! Das wurde von einem Kollegen schon gesagt. Das gilt, und deshalb sind wir uns alle einig: Wir wollen keinen Impfegoismus. Wir wollen eine Impfsolidarität. Das ist unsere Verantwortung, meine Damen und Herren.
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Denn: Krankheiten kennen keine Grenzen, daher sollten auch wir keine kennen.
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Diese Pandemie können wir nur gemeinsam weltweit eindämmen. Das heißt: Alle Länder müssen den Impfstoff erhalten. Die reicheren Staaten haben sich deshalb verpflichtet, ärmere Länder finanziell zu unterstützen. Die WHO hat mit der globalen Impfplattform Covax den Schlüssel zur gerechten Verteilung des Impfstoffs.
Es ist erfreulich – das wurde heute schon mehrfach genannt –, dass Deutschland 1,5 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Covid-Pandemie zugesichert hat. Das sind gute Nachrichten, und Deutschland wird seiner Verantwortung gerecht.
Doch wir wissen auch: Das Geld bringt wenig, wenn nicht auch die Impfdosen in den Ländern ankommen. Die meisten Staaten haben viel mehr Impfdosen reserviert, als ihre Bevölkerungen brauchen. Daher müssen wir vor diesem Hintergrund darüber nachdenken, diese überschüssigen Dosen auch gerecht in der Welt zu verteilen. Ich wiederhole noch einmal: Niemand ist sicher, bis alle sicher sind.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Diaby. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich möchte am heutigen Tag, der einen wichtigen Schritt für die Gleichstellungspolitik in Deutschland bedeutet, mit einer kurzen Geschichte beginnen. Vor 50 Jahren wurden Kinder in einem Experiment erstmals gebeten, eine forschende Person zu zeichnen. Die Bilder, die dabei entstanden, waren ganz unterschiedlich: Sie zeigten Physiker, Chemiker, sogar Tropenforscher. In einem Punkt aber waren sich die Kinder vor 50 Jahren einig: Sie zeigten zu 99 Prozent Männer. – Das ist eine Situation, die wir verändern wollen. Heute lautet unser Leitsatz für die Gleichstellungspolitik: Frauen können alles! Das ist Fakt und Forderung zugleich.
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Frauen müssen aber auch sichtbar sein. Sie müssen auch wirken und gestalten können. Deshalb haben wir bereits im Jahr 2015 das Führungspositionen-Gesetz beschlossen, und heute gehen wir mit dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf einen weiteren Schritt voran.
Der Frauenanteil in Vorständen von Unternehmen liegt heute gerade einmal bei etwas über 10 Prozent. Das ist weder zeitgemäß noch gerecht, und im internationalen Vergleich ist es sogar beschämend gering. Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf regeln, dass in börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen mindestens eine Frau im Vorstand sitzt, wenn der Vorstand aus mehr als drei Personen besteht. Das ist unsere Mindestforderung.
Knapp 70 international operierende Unternehmen fallen unter diese Regelung. Diese Unternehmen sind nicht irgendwelche Unternehmen, sondern sie haben weltweit über 4,5 Millionen Beschäftigte; das sind die großen Player. In knapp 30 dieser Unternehmen findet sich nicht eine einzige Frau im Vorstand. Es wird Zeit, das zu ändern, weil es sich überall auswirkt. In den Bereichen, wo eine Frau Verantwortung in den Chefetagen übernimmt, wo sie mitbestimmt, da geht es auch insgesamt gleichberechtigter und, wie Studien zeigen, auch wirtschaftlich erfolgreicher zu. Deshalb brauchen wir feste Vorgaben.
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Denn freiwillig – das haben wir in den vergangenen Jahren gesehen – tut sich leider gar nichts oder viel zu wenig. Das gilt auch für die Zielgrößen, die sich Vorstände und Unternehmen setzen. Fast 80 Prozent der Unternehmen geben bislang für ihre Vorstände die Zielgröße null oder gar keine Zielgröße an: fast 80 Prozent für frauenfreie Vorstandszonen. Und deshalb legen wir mit diesem Gesetzentwurf fest, dass die Zielgröße null künftig begründet werden muss und dass es Sanktionen gibt, wenn dieser Pflicht zur Begründung nicht nachgekommen wird.
Und natürlich ist eines auch klar: Der Bund muss hier genauso mit gutem Beispiel vorangehen. Der öffentliche Dienst hat eine Vorbildfunktion. Deshalb soll es künftig so sein, dass bei Unternehmen, die in Mehrheitsbeteiligung des Bundes liegen, ab drei Mitgliedern und bei Körperschaften des öffentlichen Rechts schon ab zwei Mitgliedern eine Frau im Vorstand sein muss. Das sind über 90 Bundesunternehmen und 150 Körperschaften. Dazu gehören die Krankenkassen sowie die Renten- und Unfallversicherungsträger.
Im öffentlichen Dienst des Bundes setzen wir uns das Ziel, dass bis 2025 50 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt sein sollen. Derzeit sind es 37 Prozent in den obersten Bundesbehörden, in den Dienststellen 35 Prozent. Wir sind da schon besser als manch anderer Bereich. Aber wir wollen auch noch mehr Verantwortung übernehmen.
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Meine Damen und Herren, ich habe eingangs davon gesprochen, welche Bilder die Kinder vor 50 Jahren von Forschenden gemalt haben. Heute ist dieses Experiment wiederholt worden, und wenn Kinder heute zum Stift greifen, dann malen sie auch Forscherinnen. Das zeigt: Es geht voran.
Wir wollen und können nicht noch mal 50 Jahre warten, bis wir weiterkommen. Nur feste Vorgaben wirken. Deshalb gehen wir diesen Weg. Ich freue mich, dass wir heute ein Gesetz beraten, das wirklich etwas für Mädchen und Jungen gleichermaßen bewirken wird und ein wichtiges Zeichen für eine moderne Gesellschaft setzt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Ministerin Giffey. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Ehrhorn, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten Jahrzehnten hat sich das Leitbild der karriereorientierten berufstätigen Frau in der Gesellschaft offensichtlich durchgesetzt. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass dem Arbeitsmarkt langsam eine wachsende Zahl von hochqualifizierten Mitarbeiterinnen zur Verfügung steht. Und selbstverständlich soll und wird sich das künftig auch in der Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen widerspiegeln. Dagegen ist auch überhaupt gar nichts einzuwenden.
Einzuwenden ist etwas gegen den Weg dorthin, der von Ihnen immer wieder propagiert wird; denn dies ist ein Weg staatlichen Dirigismus, mit dem Sie Ihre Vorstellungen um jeden Preis erzwingen wollen:
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Frauenquoten für Aufsichtsräte, Frauenquoten für Vorstände und Frauenquoten selbstverständlich am Ende auch für die Parlamente. Mit Letzterem sind Sie nunmehr bereits dreimal vor den Verfassungsgerichten gescheitert. Die Verfassungsgerichte Thüringen, Brandenburg und auch das Bundesverfassungsgericht haben einer Vorauswahl aufgrund des Geschlechtes eine klare Absage erteilt.
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Und was für Parlamente gilt, kann durchaus auch auf andere Bereiche übertragen werden. Aufsichtsräte sind verpflichtet, zum Wohle des Unternehmens Vorstände ausschließlich nach ihrer Qualifikation auszuwählen.
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Das Geschlecht hat dabei überhaupt keine Rolle zu spielen, und das tut es auch nicht.
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Dieter Rickert, der von der „Frankfurter Allgemeinen“ als Altmeister der Headhunter beschrieben wird, schildert die Situation wie folgt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Seit 40 Jahren stelle ich als Personalberater bei jeder Suche die Standardfrage: „Darf es auch eine Frau sein?“ Die Antwort lautet stets: „Finden Sie eine! Wir nehmen die Person mit der besten Qualifikation. Geschlecht egal.“
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Er sagt weiter:
Seit die Quote droht und Selbstverpflichtungen mit Zielgrößen erzwungen wurden, suchen alle händeringend nach qualifizierten Frauen, die es in der gewünschten Anzahl einfach noch nicht gibt …
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Das hat vermutlich auch etwas damit zu tun, dass noch immer wenige Frauen die Fächer studieren, die man für eine Unternehmenskarriere dringend braucht. Frauen sind noch immer überrepräsentiert in Fächern wie Sozialwissenschaften, Soziale Arbeit, Pflege, Gesundheit, Architektur und Innenarchitektur. Sie sind nach wie vor unterrepräsentiert im Ingenieurswesen, in Informatik und Elektrotechnik.
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Immer wieder nehmen sich Frauen auf dem Weg nach ganz oben leider auch selbst aus dem Rennen, weil sie der Familienplanung schließlich doch den Vorrang einräumen. Dies alles wird aber immer wieder ausgeblendet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Deshalb glauben Sie immer wieder, dass Sie das moralische Recht hätten, Ihre ideologischen Vorstellungen durch Zwang und staatliche Repression durchzusetzen.
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Tatsächlich entfernen Sie sich dabei aber jeden Tag ein kleines Stück weiter von unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Wir werden einen solchen Weg nicht mitgehen. Wir sind der Überzeugung, dass Veränderungen, die eine Gesellschaft wirklich voranbringen, keinen staatlichen Zwang benötigen.
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Ihr bevorzugter Weg ist sozialistischer Dirigismus.
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Wir dagegen stehen für Demokratie und Freiheit. Wir sind die Partei der arbeitenden Menschen.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Ehrhorn. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade wieder vom Kollegen Ehrhorn gehört: Vorstände sollen ausschließlich nach Qualifikation besetzt werden.
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Lieber Kollege Ehrhorn, es ist also anscheinend so, dass es in Deutschland genau 86 Frauen gibt, die qualifiziert sind, eine Vorstandsposition auszuüben, aber 734 Männer. Und es scheint so zu sein, dass es genau 26 Frauen gibt, die in der Lage sind, den Vorstandsposten einer Krankenkasse zu besetzen, aber 186 Männer. Das heißt, um Ihr Argument aufzugreifen: Auf eine qualifizierte Frau kommen neun qualifizierte Männer. Richtig?
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Ich glaube, an diesen Zahlen merkt man schon, dass da irgendetwas nicht stimmt.
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Wo sind die Frauen? Wo sind die Mädchen mit den guten Noten in der Schule, die oft die besseren Schulabschlüsse als die Jungs machen? Wo sind die Frauen, die die besseren Studienabschlüsse haben? Wo sind die Frauen, denen, wie Sie ja gesagt haben, anscheinend die Betreuungsmöglichkeiten fehlen? Die Betreuungsmöglichkeiten sind da, und trotzdem kommen die Frauen nicht in den Führungspositionen an. Das muss man sehen. Und ganz ehrlich: An der Qualifikation allein kann das nicht liegen.
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Und das ist ein Problem, sehr geehrte Damen und Herren. Denn es kann nicht gut sein, dass die maßgeblichen Entscheidungen in den Unternehmen überwiegend nur von der einen Hälfte der Bevölkerung getroffen werden. Nachgewiesenermaßen treffen gemischte Führungsteams bessere und nachhaltigere Entscheidungen. Gemischte Teams machen einen Unterschied, der sich ganz oft auch auszahlt. Und: Top-Entscheiderinnen haben auch eine Strahlkraft in die ganze Gesellschaft hinein. Es geht eben nicht um die Karrieren von wenigen Frauen, sondern es geht um die grundsätzliche Frage der Gleichberechtigung und vor allem auch um die beste Aufstellung für unser Land in Politik, Verwaltung und auch in der Wirtschaft.
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Weil wir gesehen haben, dass sich in den letzten Jahren so wenig bewegt hat, machen wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf einen Vorschlag, wie wir Unternehmen, Körperschaften und Verwaltung dazu bringen, dass Führungsteams gemischter besetzt werden und dass das in Zukunft ambitionierter und zielgerichteter passiert.
Wir folgen dabei einer ganz einfachen Logik: Der Bund legt selbst vor, was er von den Unternehmen einfordert. Die feste Geschlechterquote wird auf Unternehmen mit mehrheitlicher Bundesbeteiligung und auf Körperschaften des öffentlichen Rechts wie etwa Krankenkassen ausgeweitet. Gleichzeitig machen wir auch für Unternehmen der Privatwirtschaft die Vorgaben verbindlicher. Denn man sieht: Da, wo Unternehmen sich ambitioniertere Flexiquoten gegeben haben, und da, wo wir als Politik feste Quoten vorgegeben haben, gab es plötzlich die Frauen. Da waren sie da, da machen sie einen super Job, und – Zauberei – plötzlich haben wir genug Frauen für Aufsichtsräte und auch für Vorstände.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein großer Schritt, aber das Kernproblem lösen wir mit dem Gesetz allein natürlich nicht. Uns muss klar sein, dass, wenn wir wirkliche Veränderungen wollen, es vor allem auch um kulturelle und strukturelle Veränderungen geht. Das heißt: Kampf dem Thomas-Prinzip. Das Thomas-Prinzip heißt, dass man automatisch Menschen um sich schart und ihnen auch Karrierewege eröffnet, die einem ähnlich sind.
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– Das ist kein Quatsch, das ist nachgewiesenermaßen der Fall. – Es heißt auch immer, es gibt die guten Frauen nicht. Es gibt sie. Es gibt sie sehr wohl, und deshalb müssen wir sie sichtbar machen. Wir haben beispielsweise die Initiative „SheTransformsIT“ gegründet, die die vielen Frauen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sichtbar macht, die sich im Rahmen der Digitalisierung bewegen.
Frau Kollegin Schön, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.
Herr Präsident, ich habe gesehen, ich bin am Ende meiner Redezeit. – Menschen brauchen Vorbilder. Diese Vorbilder müssen wir sichtbar machen, und wir müssen ihnen Wege eröffnen.
Deshalb – letzte Anmerkung – unterstützen wir auch die Initiative „#stayonboard“. Es geht darum, dass auch Frauen, die Vorstandspositionen innehaben, in den Mutterschutz gehen können, dass man Pflegeverantwortung wahrnehmen kann und trotzdem eine Führungsposition bekleiden kann. Hier müssen wir an die Strukturen ran. Mehr Teilzeit in den Führungspositionen, Familienverantwortung trotz oder besser mit Führungsposition. Ich freue mich auf die Gesetzesberatungen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. – Der PGF kann sich schon mal überlegen, wer von den Rednern der CDU/CSU-Fraktion eine Minute weniger redet.
Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welt, in der wir leben, wird zunehmend komplexer, und mit ihr die Herausforderungen. Wenn wir diesen in Zukunft erfolgreich begegnen wollen, brauchen wir einen vielfältigen Blick auf die Dinge. Wir brauchen verschiedene Perspektiven für die beste Lösung. Und wir brauchen buntgemischte Teams, Teams, in denen Frauen mitentscheiden und mitführen, meine Damen und Herren.
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Aber schauen wir in die Führungsetagen der deutschen Unternehmen, wünsche ich mir mehr Vielfalt. Wie in vielen anderen Ländern: Dort setzt man auf Vielfalt und Veränderung, gerade in der Krise. Da müssen wir auch ansetzen, wenn wir weiter agil und wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ihre vorgeschlagenen Quoten werden daran herzlich wenig ändern, meine Damen und Herren. Sie sind weder innovativ noch zielführend.
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Mischen wir uns also nicht derart in die unternehmerische Freiheit ein, sondern fragen wir uns vielmehr: Warum ist es so, wie es ist? Warum gelangen zu wenige Frauen bis nach ganz oben? Warum verlieren wir sie auf dem Weg dorthin? Dann werden wir schnell zu den Rahmenbedingungen kommen, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zur Unternehmenskultur.
Damit den Frauen der Aufstieg genauso gelingen kann wie den Männern, brauchen wir – erstens – ein Umdenken in den Köpfen, einen Kulturwandel in den Unternehmen hin zu mehr Familienfreundlichkeit und Vielfalt und – zweitens – modernere Strukturen, damit es möglich ist, Verantwortung für Familie und Beruf zu übernehmen. Da sitzen die Killer der Karrieren.
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Dabei wünschen sich doch ganz viele Männer in unserem Land in Führungspositionen auch mehr Zeit für die Familie, denn am Ende profitieren beide von mehr Flexibilität, orts- und zeitflexiblem Arbeiten und modernen Modellen wie Jobsharing oder Topsharing, von einem Talentmanagement, in dem Elternzeit als wertvoller Teil der Berufslaufbahn angesehen wird, weil es eben auch für die Führung qualifiziert, und von einer Kultur, die Diversity in allen Facetten schätzt. Im Wettbewerb um die besten Köpfe der Welt werden genau das die wesentlichen Faktoren sein, meine Damen und Herren.
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Es ist im Interesse aller Unternehmen, mutig und ambitioniert voranzugehen und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Der Staat hat dabei auch seine Aufgaben: für die beste Kinderbetreuung zu sorgen und Gesetze nur dort zu ändern, wo es wirklich nötig ist, nämlich beispielsweise bei zeitlich begrenzten Auszeiten für Führungspositionen. In so einem Fall muss unsere Botschaft klar sein: Stay on board! Nimm dir die Auszeit, aber komm zurück ins Unternehmen!
Es ist zutiefst menschlich, Kinder zu bekommen, sich um die Pflege der Eltern zu kümmern oder selbst schwer zu erkranken. So können Führungskräfte – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – Werte vorleben und Vorbild sein mit Strahlkraft ins gesamte Unternehmen. So sieht Leadership von morgen aus, und so sieht nachhaltige Veränderung ohne Quote aus.
Frau Kollegin, nehmen Sie sich jetzt eine Auszeit.
Herzlichen Dank.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Es ist immer wieder schön, wenn mir die Redner ankündigen: „Ich komme zum Schluss“, und der dann zwei Minuten dauert. Das ist sensationell.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Chefetagen in Deutschland sind reine Männerklubs. In der Krise hat sich diese Monokultur zwischenzeitlich sogar noch breiter gemacht. Das ist bezeichnend und ein folgenreiches Problem; denn die Normen männlicher Führungsriegen wirken selbstverständlich auf alle unteren Ebenen ein, auf alle Entscheidungen, auf die Betriebskultur, die Vereinbarkeit von Job und Privatleben und die Ungleichheit bei den Löhnen zwischen den Geschlechtern. Die alten Beharrungskräfte, die mit dem Begriff „gläserne Decke“ viel zu freundlich beschrieben sind, gehören durchbrochen. Dafür ist es jetzt tatsächlich an der Zeit.
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Das neue Führungspositionengesetz muss da aber noch deutlich nachschärfen. Weil so viel Einfluss und Interessen daran hängen, haben die Männerklubs in den Vorständen und Aufsichtsräten nämlich wenig Lust, ihre Reihen für Frauen und Vielfalt zu öffnen. Seit Jahrzehnten gibt es die Debatte, seit 2015 das Führungspositionengesetz, um daran etwas zu ändern. Es regelte im Geltungsbereich 100 großer Unternehmen feste 30-Prozent-Quoten für Frauen in Aufsichtsräten und für die Vorstände sogenannte flexible Quoten je nach Gusto.
Sechs Jahre später soll das Ganze nun wirksamer werden, und das muss es auch. Das Frauenministerium in Person von Frau Giffey selbst sagt, was wir und viele andere damals schon gesagt haben: Da, wo auf butterweiche Quoten und Freiwilligkeit gesetzt wird, bewegt sich nichts oder sehr wenig.
Die Bundesregierung steuert hier nur etwas nach und bleibt wieder auf halber Strecke stehen. Auch künftig sind flexible Quoten bei vielen Unternehmen erlaubt. Neu eingeführt wird nur eine Pflicht zur Begründung. Bei all den Chefetagen, die in ihren Bereichen stumpf die Zielgröße null angeben, graut es mir, ehrlich gesagt, jetzt schon vor wortreichen Erklärungen, warum alles so bleiben muss, wie es ist.
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Das kann es nicht sein. Deshalb ist der GroKo-Entwurf für das Führungspositionengesetz II wirklich ungenügend.
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Als Linksfraktion haben wir eine Reihe von Maßnahmen beantragt, mit denen Durchlässigkeit und Chancengleichheit erreicht werden können. Wir wollen echte Quoten, und zwar gemäß dem Bevölkerungsanteil von Frauen in Höhe von mindestens 50 Prozent und nicht von 30 oder 40 Prozent. Sie müssen verpflichtend und sanktionierbar sein. Wir wollen die Gleichstellungsbeauftragten und die Betriebsrätinnen stärken und ihnen entsprechende Klagewege eröffnen. Wir wollen eine überprüfbare Regelung, mit der echte Gleichstellung im öffentlichen Dienst und bei den Mehrheitsbeteiligungen des Bundes schnellstens erreicht wird. Außerdem wollen wir ein eigenes Konzept für kleine und mittelständische Unternehmen, denn genau hier arbeiten ja mehr Frauen als in großen Betrieben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben 2021 und müssen wirklich höllisch aufpassen, dass die Folgen der Covid-19-Pandemie nicht bereits erkämpfte Fortschritte wieder kaputtmachen. Es braucht Anstrengung und Konsequenz, damit die gerechtere Verteilung von Ressourcen wie Zeit, Geld und Entscheidungsmacht zwischen den Geschlechtern endlich Realität wird. Das Führungspositionengesetz kann und muss dazu noch stärker beitragen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Achelwilm. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen dürfen mitmachen, aber nur ein bisschen. – Das ist die Botschaft, die von Ihrem Gesetzentwurf ausgeht. Und das reicht nicht. Es reicht nicht, weil Frauen führen wollen und weil sie es können.
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Es reicht nicht, weil die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stockt, wenn es keinen Kulturwandel in den Führungsetagen gibt. Nach 20 Jahren freiwilliger Selbstverpflichtung der Privatwirtschaft müssen wir konstatieren: Führende Männer sind an der Aufgabe gescheitert, es ohne gesetzliche Vorgaben zu schaffen.
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Deswegen brauchen wir eine feste Quote auch für Unternehmensvorstände. Die gläserne Decke ist nicht gut sichtbar, aber sie wirkt weiter. Sie bremst Frauen aus und potenziert ihre Wirkung, wenn weitere Diskriminierungsmerkmale wie Herkunft, Behinderung oder sexuelle Identität mit dazukommen.
Meine Damen und Herren, als die Aufsichtsratsquote für eine kleine Pilotgruppe von etwas mehr als 100 Unternehmen im Jahr 2015 auf unser Drängen und durch den unermüdlichen Kampf von FidAR und anderen Frauenverbänden endlich durchgesetzt wurde, war das ein guter Anfang. Wir stellen fest: Die Quote wirkt. Die betroffenen Unternehmen haben die Quote alle eingehalten, und sie führt zu einer Professionalisierung der Arbeit in Aufsichtsräten.
Und was machen Sie damit? Warum wenden Sie diese Erkenntnis bei dem neuen Gesetz nicht an? Statt einer festen Quote für Unternehmensvorstände soll es nur eine Mindestbeteiligung geben. Noch schlimmer: Die Mindestbeteiligung gilt nur für 70 Unternehmen. In etwas mehr als der Hälfte dieser Unternehmensvorstände gibt es aber bereits mindestens eine Frau. Das heißt, es fehlen weitere 30 Frauen in Vorständen, und dann wäre Ihr neues Gesetz schon erfüllt.
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Sie machen ein Gesetz für 30 Frauen? Das ist kein Fortschritt, das ist Symbolpolitik!
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Ich sage Ihnen: Eine Frau im Vorstand reicht nicht. Sie allein kann die verkrusteten Strukturen nicht aufbrechen. Diversität braucht die kritische Masse von mindestens einem Drittel Frauen; so haben wir es in unserem Grünenantrag gefordert.
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Das, was einige gegen die Quote einwenden, schaffen wir in Wahrheit erst mit der Quote: dass Qualität sich durchsetzt und nicht Geschlecht.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron, AfD-Fraktion?
Nein, danke schön. – Führungspositionen werden aktuell eben nicht ausschließlich nach Qualifikation vergeben. Männer werden befördert durch eine informelle Männerquote. Eine Frauenquote ändert diese Spielregel, und das schafft Gerechtigkeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist entscheidend, dass der Blick aus den Führungsetagen auf die Welt nicht nur ein männlicher ist; denn Probleme werden immer komplexer. Um sie zu lösen, brauchen wir alle guten Köpfe. Wir brauchen Frauen, Diversität und kein Weiter-so mit einem männlichen Blick.
Ich fordere Sie auf, aus dem ersten Schritt einen Sprung zu machen. Eine echte Quote für Vorstände ist jetzt fällig. Frauen sind längst startklar.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schauws. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Josephine Ortleb, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wir jetzt oft gehört haben, sieht die Realität in deutschen Unternehmen derzeit so aus: Je höher die Position, desto geringer der Frauenanteil. Das ist eine Realität, die wir als SPD-Bundestagsfraktion nicht hinnehmen wollen – gerade jetzt.
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Denn aktuell stehen Frauen in der ersten Reihe bei der Krisenbewältigung, aber der Weg zu Führungspositionen bleibt ihnen weiterhin verwehrt.
Deswegen freue ich mich, dass heute endlich das zweite Gesetz für mehr Frauen in Führungspositionen ins parlamentarische Verfahren eingebracht wird. Denn mit diesem Gesetz schaffen wir eine neue Realität, eine Realität, in der Frauen ganz selbstverständlich in den Unternehmensvorständen sitzen, eine Realität, in der dort, wo über Löhne und Arbeitsbedingungen entschieden wird, Frauen mitverhandeln, eine Realität, in der Frauen nicht als Belastung für die Wirtschaft gesehen werden. Das kann man vielleicht auch mal Herrn Altmaier mitgeben.
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Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben gemeinsam mit unseren Ministerinnen Franziska Giffey und Christine Lambrecht mit großer Überzeugung und Ausdauer für dieses Gesetz gekämpft. Diese Ausdauer zahlt sich jetzt aus. Vorstände großer Unternehmen, die ausschließlich von Männern besetzt sind, gehören bald der Vergangenheit an.
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Erstmals wird es verbindliche Vorgaben für mehr Frauen in Vorständen geben; das ist wirklich historisch. Dieser wichtige Schritt wird eine hohe Signalwirkung haben und die Unternehmenskultur nachhaltig positiv verändern.
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Mit dem Gesetz senden wir aber auch ein zweites Signal, und zwar an die Unternehmen, die sich bisher für ihre Vorstände die Zielgröße null gesetzt haben. Das Fehlen von Begründungen und auch das vorgeschobene Argument, es gebe halt keine Frau, die wollte, werden in Zukunft nicht mehr akzeptiert, sondern sanktioniert. Denn: Frauen wollen. Das zeigt sich insbesondere in den Unternehmen, in denen jetzt schon die fixe Quote gilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz machen wir klar, dass freie Wirtschaft nicht die Freiheit von jedweder gesellschaftlichen Verpflichtung bedeutet, dass die Wirtschaft eine Verantwortung in dieser Gesellschaft trägt, dass Frauen in Führungspositionen kein Versehen, sondern Erfüllung einer gesellschaftlichen Verpflichtung sind.
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Klar ist aber auch, dass wir als Bund nicht hinter dem zurückbleiben, was wir für die Wirtschaft fordern. Deswegen wird es für die Unternehmen mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes neue, verbindliche Regelungen geben; wir haben das schon gehört. Wir werden auch im öffentlichen Dienst bis 2025 die Führungspositionen paritätisch besetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich wirklich darauf, dass wir jetzt in das parlamentarische Verfahren einsteigen. Ich freue mich auf die Anhörungen, auf die Debatte. Wir sind es den vielen Frauen schuldig, eine Realität, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Frauen mitentscheiden, und keine, in der über Frauen entschieden wird – gerade jetzt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Ortleb. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Melanie Bernstein, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit April 2015 gibt es in Deutschland das Führungspositionengesetz. Ziel war es, den Anteil von Frauen in Chefetagen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor zu erhöhen, um damit die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern zu fördern.
Wo stehen wir also heute, fast sechs Jahre später? Bei den 105 börsennotierten und zugleich paritätisch mitbestimmten Unternehmen stieg der Frauenanteil in den Vorständen auf 11,5 Prozent. Bei Unternehmen, die nicht in den Regelungsbereich der Aufsichtsratsquote fallen, beträgt der Frauenanteil 7,6 Prozent. Da ist deutlich Luft nach oben.
Ich war wirklich nie eine Freundin der festen Quote und bin nach wie vor der Meinung, dass Frauen mit guter Qualifikation und einem festen Willen sehr weit kommen können. Neben der eigenen Kraft braucht es dazu, nebenbei gesagt, auch die Unterstützung anderer Frauen, die es schon nach oben geschafft haben. Aber auch ich komme an den Zahlen nicht vorbei. Ich weigere mich, zu glauben, dass es nicht mehr als knapp 8 Prozent der Frauen geben soll, die qualifiziert und gewillt sind, Führungspositionen einzunehmen. So spricht viel dafür, die Bereitschaft von Unternehmen zu stärken, für ihre Leitungsorgane mehr Frauen zu gewinnen und damit die Teilhabe von Frauen an Führungspositionen zu verbessern.
Dafür, dass es manchmal Druck von außen braucht, um den langgehegten Status quo zu brechen, gibt es zahlreiche Beispiele. Ein sehr gutes ist etwa die Öffnung aller Laufbahnen für Frauen in der Bundeswehr. Diese hat eine Bewerberin im Jahr 2000 vor dem Europäischen Gerichtshof erzwungen. Seit 20 Jahren dienen also Frauen gleichberechtigt in den Streitkräften – derzeit rund 23 000 Soldatinnen, davon 4 600 Offiziere. Für die Bundeswehr war das ein echter Gewinn, der aber eben nicht durch eine Selbstverpflichtung oder einen Wandel von innen errungen wurde, sondern durch den Klageweg erzwungen werden musste.
Werte Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron?
Nein. – Wenn es also so ist, dass alle anderen Maßnahmen nichts oder wenig bringen, bleibt uns eben nur der Weg der gesetzlichen Vorgaben. Danach sieht es ja nach den Zahlen, die ich eingangs nannte, aus.
Auch wenn ich meinen eigenen beruflichen und politischen Weg ohne geschlechterspezifische Förderung gegangen bin:
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Ich kann gut verstehen, dass Frauen am Ende eines langen beruflichen oder politischen Lebens frustriert darüber sind, dass sich trotz der schönen Bekenntnisse und Sonntagsreden wenig geändert hat. Es vergeht doch kein Parteitag, keine Aktionärsversammlung, ohne dass die Tatsache beklagt wird, dass es so wenige Frauen in echten Führungspositionen gibt. Dann wird die eine Frau, die es doch geschafft hat, beklatscht und der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass sich daran bald was ändert. Nur passiert dann meistens nichts. Da ist der Schritt nicht weit, sich zu fragen, ob es nicht doch etwas Druck von außen braucht.
Ich sage nicht, dass der Gesetzentwurf perfekt ist. Nadine Schön hat es schon erwähnt: Beim Thema Mutterschutz zum Beispiel gibt es noch Diskussionsbedarf. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass wir über Vorstände und Aufsichtsräte reden, also über Frauen, die auf der Karriereleiter bereits weit oben stehen und somit eine kleine Minderheit aller Frauen ausmachen.
Genauso wichtig muss es uns sein, für die Mehrheit überhaupt erst mal die Voraussetzungen zu schaffen, sich für eine Führungsposition zu qualifizieren. Das ist in Zeiten geschlossener Schulen und Kitas wichtiger denn je.
Ich komme zum Schluss. Ich freue mich auf das parlamentarische Verfahren.
Herzlichen Dank.
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Das Wort geht an Frau Dr. Silke Launert von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt Worte und Begriffe, von denen man weiß, dass sie die Stimmung anheizen. Worte und Begriffe, die fast immer emotionale Debatten entfachen. Bei dem Wort „Quote“ bzw. „Frauenquote“ handelt es sich um ein solches Reizwort.
Nichtdestotrotz müssen wir diese Diskussionen führen – aus gutem Grund. Für uns aus der Union war es in der Vergangenheit und ist es auch in der Zukunft immer wichtig und klar: Eigenverantwortung, Freiwilligkeit, Vernunft und der Blick auf die Realität sollten grundsätzlich an erster Stelle stehen und nicht staatliche Verpflichtung.
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Über viele Jahre haben wir deshalb versucht, mit dem Führungspositionengesetz auf freiwilliger Basis eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen zu erreichen. Wir haben gedacht, die Unternehmer erkennen selbst – es gibt ja Studien, wonach ein Anteil von Frauen in Führungspositionen insgesamt auch zu mehr Erfolg führt –, dass ein höherer Frauenanteil zu mehr Erfolg, mehr Kompetenz, mehr Fortschritt führt. Aber die Zahlen zeigen uns dann doch was anderes.
So lag der Anteil von Frauen in Vorständen bei den 105 börsennotierten und zugleich paritätisch mitbestimmten Unternehmen im November letzten Jahres bei knapp über 10 Prozent. Bei drei Viertel der Unternehmen – das wurde schon gesagt – lag der Frauenanteil bei null, 75 Prozent der Unternehmen gaben sich für Vorstände die Zielgröße null. – Ja, diese Zahlen machen sprachlos. Und wenn ich dann höre: „Ja, das tut uns leid. Wir haben das Ziel null, weil es einfach keine qualifizierten Frauen gibt“, dann bin ich fast fassungslos.
Eine Gruppe von Männern sagt: Unser Ziel ist es, immer weiterhin eine Gruppe von Männern zu bleiben, weil nur wir als Gruppe von Männern kompetent sind. – Wissen Sie, das ärgert mich; denn die Unternehmen, die das sagen, haben offensichtlich ihre Hausaufgaben bei der Frauenförderung nicht gemacht. Man kann nämlich gewinnen, wenn man 50 Prozent der Bevölkerung weiterqualifiziert und sich entwickeln lässt. Diese Unternehmen haben auch die Verfassung nicht vollumfänglich im Blick.
Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz: Es geht hier um die Gleichberechtigung, und – das unterscheidet uns von den Linken – Gleichberechtigung heißt nicht Gleichstellung. Keine Ergebnisgleichheit um jeden Preis. Das sagt die Verfassung wirklich nicht. Aber sie sagt: Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und – das ist ein Schutzauftrag an uns aus der Verfassung –: Wir sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass es auch in der Realität zu einer wirklichen Gleichberechtigung, zu einer echten Chancengleichheit kommt.
Wenn eine Gruppe von Männern sagt: „Nur wir, die Gruppe von Männern, sind immer die Besseren“,
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dann stellen sich doch die Fragen: Wo zeigt sich offensichtlicher, dass es da strukturelle Mängel gibt? Wo wird es klarer, dass es da eine gläserne Decke gibt, wenn Männer sagen: „Männer sind kompetenter und gehen immer den besseren Weg“? Die Antwort ist offensichtlich.
Frau Kollegin.
Das ist genau die Situation, wo der Verfassungsauftrag greift und wo es erlaubt ist,
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dann auch mal mit einem staatlichen Zwang zu kommen. – Frau Präsidentin, ich weiß, Sie wollen sagen, ich sei über der Zeit.
Nein. – Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Bystron.
Okay. Ja, ich lasse sie zu.
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Liebe Frau Dr. Launert, vielen, vielen Dank. – Sie sind die erste Frau, die eine Frage zulässt. Die drei anderen haben sich das offensichtlich nicht getraut.
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Sie sind jedenfalls aus Bayern so wie ich.
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– Liebe Kollegen, lassen Sie uns doch das Gespräch auf einem parlamentarischen Niveau führen.
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Sie sind jedenfalls wie ich aus Bayern. Wir haben sehr viele erfolgreiche bayerische Unternehmen in unserer Heimat. Jetzt sagen Sie mir: Was für einen Grund hätte ein Unternehmen, zum Beispiel BMW, das auf allen Ebenen die qualifiziertesten Mitarbeiter sucht, gerade für die Spitzenpositionen Frauen nicht einzustellen, wenn sie kompetent wären?
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Sie haben von Gleichberechtigung gesprochen.
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Aber in der freien Wirtschaft ist nicht die Gleichberechtigung das Ziel, sondern die Gewinnerzielung. Man sucht immer die besten Kräfte. Man will die besten Leute haben.
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Warum sollten die Aktionäre nicht darauf bestehen, die Besten zu nehmen? Warum sind nicht die Aktionäre auf die Idee einer Frauenquote, mit der Sie jetzt kommen, gekommen, wenn die Frauen es so gut könnten und wenn es so viele Frauen gäbe?
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Ja, es ist natürlich so, dass ein Unternehmen nach Gewinnmaximierung strebt. Das ist sein gutes Recht. Es hat auch ein Recht, zu sagen: Ich möchte bestimmen, wie ich meine Stellen besetze. – Das ist auch ein Grundrecht; da haben Sie recht.
Aber man darf nicht immer nur die eine Seite sehen. Es gibt halt auch einen Auftrag aus der Verfassung an uns als Gesetzgeber: Wenn es in der Gesellschaft leider nicht dazu kommt, dass echte Gleichberechtigung gelebt wird, dann habt ihr die Chance, Nachteile auszugleichen und auf die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung, der Chancengleichheit hinzuwirken.
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Diesem Auftrag müssen wir als Gesetzgeber nachkommen.
Es geht eben nicht nur um die Seite der Unternehmen; das sehen die Unternehmen aber leider, leider nicht. Wir haben es als milderes Mittel mit der Freiwilligkeit versucht. Ein Eingriff in die Grundrechte setzt immer zuerst ein milderes Mittel voraus, in diesem Fall die Freiwilligkeit. Wir haben es echt probiert, immer wieder. Zu Recht kritisieren andere, dass das auch hier viel zu wenig ist – wir sind auch hier nur wieder bei wenigen Unternehmen. Und nur für wenige Unternehmen gibt es eben erst mal einen vorsichtigen Versuch mit der Verpflichtung.
Aber Eingriffe sind möglich, wenn der Staat handeln muss. Wir müssen das jetzt, da es freiwillig nicht geht. Wenn die milderen Mittel nicht erfolgreich sind, dann darf der Staat auch irgendwann mal Ernst machen.
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Also gehen wir jetzt voran. Deshalb ist das ein Durchbruch. Wir sehen: Es wirkt. Die Unternehmen merken: „Hoppla, wir kommen nicht mehr drum herum“, und suchen plötzlich händeringend Frauen. – Unser Handeln wirkt.
Das wird sich auch auf die unteren Ebenen der Führungsetagen auswirken. Ich hoffe es. Wenn das auf Dauer nicht klappt, wenn wieder alle denken: „Jetzt hole ich mir einfach nur eine Frau, und dann habe ich keine Verpflichtungen mehr“, dann werden wir die Diskussion weiterführen. Aber ich hoffe, die Wirtschaft hat verstanden: Es gibt nicht nur ihre Freiheit, sondern es gibt auch einen Auftrag des Staates zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung, und dem müssen wir nachgehen. – Vielen Dank.
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Wenn ich noch ganz kurz zum Schluss kommen darf.
Der Schluss sei erlaubt.
Natürlich ist die Quote nur ein Signal. Ich habe es gerade angesprochen: Es ist ein kleiner Teil. Es geht ja nicht überall um Gleichstellung. Weitere wichtige Aspekte sind auch zu beachten. Da spricht die FDP natürlich Wichtiges an.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Chance, die Motivation von Frauen, sich überhaupt bis nach oben durchkämpfen zu können: Das sind alles Themen, die uns wichtig sind, die wir voranbringen, die wir zu einem Paket geschnürt haben und für die wir uns einsetzen. Ich hoffe, dass wir dann wenigstens bei all diesen Maßnahmen gemeinsam an einem Strang ziehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute reden wir über eine Grundgesetzänderung, die die Eigentumsgarantie modifizieren soll. Artikel 14 Absatz 1 Grundgesetz lautet bis jetzt:
Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
Die Fraktion der AfD möchte jetzt einen Absatz 4 anfügen:
Jeder hat zur Verwirklichung des in Absatz 1 bezeichneten Eigentumsgrundrechts das Recht zur uneingeschränkten Nutzung von Bargeld. Von der Notenbank herausgegebene Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel.
Ich habe mich gefragt: Warum wollen die Antragstellenden diese Grundgesetzänderung? – Dazu findet sich genau eine vage Formulierung in diesem Antrag, die wie folgt lautet:
Von verschiedenen Interessengruppen wird kolportiert, dass der heutige Stand der Digitalisierung des Lebens die Existenzberechtigung des Bargeldes entfallen lässt.
Das ist die Skizzierung des angeblichen Problems, das die Antragstellenden mit einer Grundgesetzänderung lösen wollen.
Da frage ich mich doch: Wer soll das sein? Wo in diesem Antrag werden diese Interessengruppen genannt? Ohne jegliche aus meiner Sicht valide Grundlage soll hier an unserer Verfassung herumgedoktert werden. Münzen und Scheine sollen Verfassungsrang bekommen. Nicht mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Aber aus diesem einen Satz, den ich eben zitiert habe, aus dieser für mich nebulösen Behauptung werden weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. Mit diesem Satz wird die Erforderlichkeit des Antrags begründet. Ich finde das unfassbar, habe aber auch gedacht: Das ist fast schon eine Kunst; denn über Kunst kann man ja auch trefflich streiten. Hier wird tatsächlich behauptet oder zumindest der Anschein erweckt, dass Bargeld verboten werden soll. Das macht Angst, das schafft Unbehagen, und genau das ist aus dem rechten Lager ja auch gewollt. Anscheinend gibt es da Vorlagen für bestimmte Reden oder Gesetzentwürfe, die abgearbeitet werden, in die man nur noch etwas einfügen muss. Und an einer Stelle steht dann: Wie erzeugen wir Angst?
Weiter heißt es nämlich:
Eine Gesellschaft, in der jede Zahlung nur noch in digitaler Form stattfindet, kommt dem totalen Überwachungsstaat erschreckend nahe [...]
Sie tun so, als würden Sie selbst daran glauben. Die Schuld für das angebliche Bargeldverbot geben Sie der von Ihnen verhassten EU, der Niedrigzinspolitik usw.
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Die Frechheit ist dann noch: Als Verlierer werden von Ihnen die „kleinen Leute“ genannt,
die aus ihren kaum noch verzinsten Riester-Renten, Lebensversicherungen und Sparbüchern mit negativer Verzinsung nicht in andere, riskantere Anlageklassen fliehen können oder wollen.
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Ich empfinde es als bodenlose Unverschämtheit, Menschen als „kleine Leute“ zu bezeichnen.
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Es gibt keine kleinen Leute, es sei denn, die AfD macht sie zu solchen.
Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Dort steht nämlich in § 14 Absatz 1, Satz 2 Bundesbankgesetz:
Auf Euro lautende Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel.
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Dort steht schon genau das, was jetzt nach dem Willen der Antragstellenden in unsere Verfassung geschrieben werden soll. Das wird in Ihrem Antrag mit keiner Silbe erwähnt, aber es wird das Horrorszenario aufgebaut, ein Bargeldverbot stünde unmittelbar bevor.
Aber halt! Das, was in Ihrem Antrag steht, entspricht nicht eins zu eins dem Bundesbankgesetz; denn Sie möchten ja den Euro abschaffen. Also erfolgt natürlich auch kein Bekenntnis zur Euro-Währung, sondern Sie wollen im Grundgesetz formuliert haben, dass Banknoten erhalten bleiben sollen, nicht etwa unsere Euro-Währung, wie es im Bundesbankgesetz vorgesehen ist.
Wir Sozialdemokraten wissen: Bargeld ist das beliebteste Zahlungsmittel, und das wird mit uns auch so bleiben. In Deutschland gibt es keine allgemeine Beschränkung der Barzahlung. Jeder kann seine Geschäfte bar abwickeln, sogar den Kauf einer Immobilie. Aber wer will das schon?
Allerdings – das trägt vielleicht zur Aufklärung bei; das muss man unterscheiden – gibt es eine Obergrenze für anonyme Bargeldzahlungen. Diese liegt in Deutschland bei 9 999 Euro. Das heißt: Wer darüber hinaus bar zahlen möchte, der darf das immer noch tun. Er muss sich aber ausweisen. Hintergrund dafür ist der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, und das ist richtig.
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Das hat also überhaupt nichts mit einem Bargeldverbot zu tun, wie uns die Antragstellenden glauben machen wollen.
Ich muss jetzt leider noch sagen: Schade, dass die FDP fast in dieselbe Richtung argumentiert
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und ebenfalls eine Grundgesetzänderung beantragt, wenn auch an anderer Stelle.
Diesen Anträgen werden wir Sozialdemokraten daher auf keinen Fall zustimmen und sind gespannt, wie sich die beiden Fraktionen in diesem Punkt einer Grundgesetzänderung möglicherweise weiter annähern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Tobias Matthias Peterka von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Sparer! Bargeld ist gedruckte Freiheit. Das hat jetzt anscheinend auch die FDP-Fraktion gemerkt und einen Antrag hinzugestellt. Aber natürlich musste ein böses AfD-Wort geändert werden; es heißt jetzt dort: „geprägte Freiheit“. Aber geschenkt!
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Wir als AfD fordern im vorliegenden Antrag ein nationales Informationsprogramm für den uneingeschränkten Erhalt des Bargelds; wir debattieren hier nämlich über zwei Vorschläge unserer Fraktion. Nachteile durch die Nutzung von Scheinen und Münzen dürfen nicht toleriert werden. Das Bewusstsein für die ureigene Unabhängigkeit und Verantwortung muss gerade jüngeren Menschen aktiv vor Augen geführt werden.
In Schweden zahlt kaum noch jemand mit Bargeld; das kann er großteils gar nicht mehr. Auch in Deutschland wurde in der Studie „Junge Deutsche 2019“ festgestellt, dass gerade die aktuell junge Generation erhebliche Lücken bei grundlegenden Finanzthemen und bewusstem Konsumverhalten aufweist. Zunehmend wird auch hierzulande bargeldlos gezahlt und damit der Schmerz des realen Geldausgebens, Pain of Paying, vollkommen sediert.
Natürlich sind PayPal und Kartenzahlung oft praktischer. Das will auch gar niemand verbieten. Wir wollen aber durch dieses Aktionsprogramm aktiv die Länderebene anregen – Sie können dies in unserem Antrag nachlesen –, ihrerseits dieses wichtige Thema aufzugreifen und Vorträge sowie andere Lehrformate an Schulen zu starten. Dafür gibt es unabhängige Partner, die gern neutral und problemoffen die moderne Konsumwelt erklären – altersgerecht aufgearbeitet, in unterschiedlichen Klassenstufen und Unterrichtsfächern.
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Dort wird dann auch unsere notwendige Ergänzung des Grundgesetzes zu thematisieren sein; unser Gesetzentwurf liegt hier ebenfalls vor. Das Privateigentum ist nämlich die Grundfeste eines jeden nichttotalitären Staates. Es muss effektiv sein und mit der Zeit gehen. Also unterlassen Sie doch bitte Scheinargumente wie „Bargeld ins Grundgesetz, da ist gar kein Bedarf“ oder „Haben wir noch nie so gemacht“.
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Es wurde auch noch nie ein Finanzsystem von der Größe des Euro auf toxische Minuszinsen ausgerichtet, und es wurde noch nie so kopflos und chaotisch eine Shutdown-Krise herbeigeführt.
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Dadurch, kombiniert mit der angenehmen Möglichkeit, überall bargeldlos zu zahlen, entsteht nämlich eine gesellschaftliche Falle, in die wir auf keinen Fall tappen dürfen. Bargeld muss jedem Bürger auch künftig ohne Nachteile zur Verfügung stehen!
Dies ist auch kein Fehlalarm, Frau Dilcher; denn in einem Dutzend Euro-Staaten gibt es bereits Transaktionslimits. Der 500-Euro-Schein wurde bekanntlich abgeschafft. Freie Goldkäufe sind bei uns auch gedeckelt. Und EZB und IWF schwadronieren offen darüber, wie man die Flucht der Bürger vor Minuszinsen unterbinden könnte. Vielleicht durch klammheimliche Unbrauchbarmachung von Bargeld? Ganz genau; so nennt der IWF zum Beispiel Rabatte für unbare Zahlungen – ganz offen nachlesbar. Es geht um das Vermeiden öffentlicher Diskussionen.
Natürlich kann man eine moderne digitale Wirtschaft bargeldfeindlich über Rabattprogramme und Minuszinsen betreiben. Natürlich kann man alle Transaktionen nachverfolgbar machen, um mit dem gläsernen Konsumenten dann angeblich Verbrechen zu bekämpfen. Aber dies hätte nichts mehr mit einer freiheitlichen, bürgerlichen Gesellschaft zu tun.
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Es wäre sicher – das haben wir vorhin ja auch gehört – der feuchte Traum des linkslastigen Spektrums hier, dass nicht nur Amazon dem Kunden Verhaltensempfehlungen geben kann, sondern gleich der Staat dem Bürger. Wäre ja alles auch noch freiwillig! Sicherlich: Ich würde gerne die Käufer sehen, die freiwillig ein paar Prozent mehr zahlen, wenn sie Bargeld benutzen. Das ist doch unrealistisch.
Wenn Sie jetzt wieder die alte Leier vom AfD-Thema auspacken, dann verweise ich hier auf das ifo-Institut, das Ludwig von Mises Institut, die Hayek-Gesellschaft, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung oder das Institut für Weltwirtschaft.
Meine Damen und Herren, die Datensätze aller unbaren Käufe sind bereits jetzt in der Welt; das wissen Sie genau. Dass Datenschutzgesetze schnell einmal dem Wandel unterliegen, zeigte Minister Spahns Initiative bei Patientendaten, also einem weit sensibleren Bereich als meinem letzten Aldi-Einkauf. Gerade Geringverdiener – ich sage es hier noch mal – würden sich sofort vermeintlich tollen Rabattsystemen ergeben und ihre Daten verramschen.
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Dass eine Regierung, die zunehmend Klimaneutralität propagiert und ernsthaft #ZeroCovid als Losung ausruft, vor der Kontrolle und Steuerung von Einkaufsverhalten zurückschreckt, kann mir jetzt wirklich keiner erzählen.
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Ich komme zum Schluss. Ein klares Nein zur schleichenden De-facto-Abschaffung des Bargelds. Auf eine perverse Art hätten Konsumententum und linker Staatsglauben Hand in Hand gewonnen. Diese Ironie der Geschichte dürfen wir nicht zulassen.
Vielen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin des Deutschen Bundestags! Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesmusikverbandes Chor & Orchester, Herr Kollege Strasser! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu Ihnen von der AfD fällt mir fast nichts mehr ein.
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Die AfD findet sich in der Realität leider nicht zurecht, oder – und das ist obendrein noch verwerflich – sie probiert mit voller Absicht auch heute wieder, zu zündeln, indem sie die Sachlage nicht so ganz genau nimmt, die Realität verdreht, um damit Sorgen und Ängste zu generieren und sich dann, wie in diesem Fall, zum Retter des Bargeldes aufzuspielen.
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– Herr Kollege, stellen Sie eine Zwischenfrage, dann verlängert es meine Redezeit. Aber so machen wir das nicht.
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Der uns zur zweiten und dritten Lesung vorliegende Gesetzentwurf steht aber leider insgesamt in der traurigen Tradition Ihres bisherigen parlamentarischen Wirkens. Sie verbreiten Fake News – Kollege Peterka hat es gerade auch wieder gemacht –, dass das Bargeld abgeschafft werden soll. Dazu gibt es keinerlei Veranlassung. Sie verunsichern die Menschen. Sie sollten sich für manche Anträge, die Sie hier stellen, ausdrücklich schämen.
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Ich darf zitieren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, aus der ersten Lesung am 7. November 2019. Damals stand hier der nach mir sprechende Kollege Matthias Hauer und hat laut Protokoll – ich darf zitieren, Frau Präsidentin – ausgeführt:
Ich sehe hier nur Finanzpolitiker – es sind jetzt alle hier –, also gehe ich auf Nummer sicher und frage mal: Ist jemand anwesend, der das Bargeld abschaffen möchte?
Dann folgten Zwischenrufe von Antje Tillmann und Frank Schäffler, der nach mir gesprochen hat: „Nein!“
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Niemand hat die Absicht, das Bargeld abzuschaffen; das haben Sie völlig richtig erkannt. Es wäre nur gut, wenn es die AfD auch kapieren würde.
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Der Zwischenruf unseres Parlamentarischen Geschäftsführers Grosse-Brömer damals war: „Das ist der Moment, in dem man den Antrag zurückzieht!“
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Nichts haben Sie gelernt, meine Damen und Herren.
Ich kenne niemanden in der Unionsfraktion, der dies wünscht.
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Unsere Position ist seit jeher klar. Herr Kollege Peterka hat vorhin ausgeführt: Vielleicht will man bargeldlos, aber vielleicht will man auch mit Bargeld zahlen. – Wir lassen den Menschen die Freiheit, bargeldlos oder mit Bargeld zu zahlen.
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Wenn jemand fürs bargeldlose Zahlen Prozente oder Nachlässe bekommt, kann ich nur sagen: Auch das haben die Menschen sich verdient. Wir schreiben den Menschen keinen bestimmen Lebensstil vor. Das ist das, was uns von euch unterscheidet.
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Meine Damen und Herren, ich könnte Ihnen viele weitere Akteure und Institutionen nennen, mit denen ein solches Vorhaben niemals umsetzbar wäre. Das würden Sie genauso beharrlich ignorieren wie das bisherige parlamentarische Verfahren. Bereits nach der ersten Lesung im Plenum im November 2019 hätten Sie, wie ich ausgeführt habe, Ihren Antrag zurückziehen sollen. Genügend gute, sachliche Gründe haben Ihnen damals der Kollege Hauer – er wird später noch reden – und der Kollege Hirte an die Hand gegeben.
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Aber – das zeigt sich leider immer wieder – an der Sache sind die Populisten von diesem Flügel des Bundestages gar nicht interessiert.
Bei der anschließenden Behandlung im Rechtsausschuss haben dann sämtliche anderen Fraktionen sowohl gegen Ihren Antrag als solches als auch gegen die Durchführung einer Anhörung gestimmt.
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Woran, meinen Sie, liegt das? Einen konkreten Handlungsbedarf gibt es jedenfalls nicht, weil keiner der politischen Akteure es wünscht und weil das Bargeld bereits durch Grundgesetz und übrigens auch durch den EU-Vertrag geschützt ist.
Ein weiterer handwerklicher Grund – Frau Kollegin Dilcher hat schon darauf hingewiesen –, der gegen Ihren Antrag spricht, ist der von Ihnen ausgemachte Regelungsort.
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Sie wollen den Artikel 14 des Grundgesetzes ändern und einen neuen Absatz 4 einführen. Selbst wenn man Ihr Vorhaben grundsätzlich teilen würde, was wir nicht tun, dann wäre das der falsche Ort. All das, was Sie in Ihrer Begründung des Antrags aufführen, lässt sich nämlich nicht aus der Eigentumsgarantie des Artikels 14 ableiten. Diesen Schnitzer hätten Sie auch nach der ersten Lesung korrigieren können. Aber, wie gesagt, es geht Ihnen eher um negative Stimmungsmache als um gute Politik. Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz, allgemeine Handlungsfreiheit, wäre der richtige Ort, um Ihr Anliegen zu verorten, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen. Sie haben sicher den einen oder anderen Juristen in Ihrer Fraktion, der Sie darauf hätte aufmerksam machen können, der, statt auf seinem Handy zu daddeln, darauf aufpasst, was die Fraktion hier vorlegt.
Bis jetzt kann ich Ihrem Gesetzentwurf nur attestieren: Neben dem fehlenden Handlungsbedarf ist jetzt noch ein gröberer handwerklicher Fehler hinzugekommen. Wagt man trotzdem noch einen Blick auf den Inhalt bzw. Ihre Analyse, dann wird der katastrophale Eindruck von Ihrem Machwerk leider völlig abgerundet. Sie behaupten, dass unser Bargeld aufgrund der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank entweder abgeschafft oder zumindest benachteiligt werden würde; ich habe es extra noch mal im Protokoll der 124. Bundestagssitzung nachgelesen. Damals hat das Kollege Peterka, der gerade eben auch gesprochen hat, zum Besten gegeben.
Wenn Sie wirklich glauben, dass man durch eine Änderung des Artikels 14 Grundgesetz eine Geldwertstabilität hervorrufen würde, dann zeigen Sie damit, dass Sie nicht nur mit der Juristerei, sondern auch mit der Volkswirtschaftslehre auf Kriegsfuß stehen.
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Niedrige Zinsen haben Sie übrigens auch in den USA, Japan und der Schweiz. Oder wollen Sie sagen, das läge auch an der EZB?
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Zusammengefasst ist dieser Gesetzentwurf vollumfänglich abzulehnen. Hören Sie auf, die Menschen in unserem Land zu verunsichern in der Hoffnung, damit Stimmen zu fangen.
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Verantwortungsvolle Politik geht anders.
Herzlichen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an Frank Schäffler von der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Freiheit und Sicherheit bewegen sich in einem Spannungsfeld. Wir als Freie Demokraten entscheiden uns im Zweifel für die Freiheit. Die Frage ist nur, ob eine Grundgesetzänderung – sie wird hier gefordert – tatsächlich notwendig ist. Ich glaube, sie ist nicht notwendig.
({0})
Denn die Frage des Bargeldes ist inzwischen keine nationale Frage mehr, sondern eine europäische Frage. Die europäischen Verträge können nur einstimmig verändert werden. Insofern ist das Schutzniveau in Artikel 128 AEUV viel höher, als es eine Grundgesetzänderung entfalten würde.
Aber – auch das gehört zur Wahrheit dazu – das Bargeld muss wieder stärker geschützt werden. Dafür haben diese Bundesregierung und ihre Vorgängerregierung vielfach nicht genügend getan. 2017 ist die Grenze für anonyme Barzahlungen von 15 000 auf 10 000 Euro gesenkt worden. 2020 sind Barzahlungen an Güterhändler auf 2 000 Euro reduziert worden. Jetzt wird das Zahlen mit Kryptowerten auf 1 000 Euro reduziert. Immer wieder wird versucht, die Menschen in ihren Zahlungsvorgängen stärker zu überwachen. Ich glaube, das ist zu viel, und das führt dazu, dass Menschen noch misstrauischer werden gegenüber staatlichen Aktionen.
({1})
Der Staat sollte aus meiner Sicht vorbildlich vorgehen. Er sollte den Annahmezwang des Euros auch selbst einhalten. Wenn Sie in Berlin Ihren Reisepass oder Ihren Personalausweis verlängern, dann können Sie beim Einwohnermeldeamt nicht bar bezahlen, sondern nur per Karte.
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Sie können auch Ihren Rundfunkbeitrag nicht bar bezahlen; Sie können ihn nur überweisen. Ich glaube, da, wo der Staat tätig ist, muss er auch selbst vorbildlich handeln. Das ist aus meiner Sicht Voraussetzung dafür, dass das Bargeld auch weiterhin seine Akzeptanz behält.
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Bargeld ist der in Münzen geschlagene Teil unserer Freiheit, und dafür sollten wir uns einsetzen.
Vielen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an Stefan Liebich von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD traut den Menschen nicht,
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und zwar insbesondere jungen Leuten nicht, das hat Herr Peterka eben deutlich gemacht. Ich darf aus dem Antrag der AfD zitieren:
Angesichts der gegenwärtigen Unwissenheit gegenüber den (eigenen) Finanzen kann eine mündige und verantwortungsvolle Haltung derzeit keinesfalls erwartet werden.
O-Ton AfD.
Diese jungen Leute bewahren ihr Geld nämlich nicht mehr, wie es die AfD möchte, im Sparstrumpf unter dem Bett auf; diese jungen Leute bezahlen mit Kreditkarte oder mit einer App. Das ist aus Sicht einer Partei, die mental in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts hängen geblieben ist, natürlich nicht akzeptabel. Die rechte Gurkentruppe beschreibt in ihrem Antrag eine Angst vor schwedischen Verhältnissen. Dort ist es nämlich erfreulich einfach, bargeldlos zu bezahlen. Die AfD sagt auch, warum sie sich sorgt. Weil sie sich nämlich um Straßenmusiker und Wohnungslose Sorgen macht, ausgerechnet die AfD. Das nimmt Ihnen doch keiner ab.
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Übrigens: Wenn Sie mal ins Ausland fahren würden, dann könnten Sie sehen, dass man in Schweden, in den Vereinigten Staaten und sogar in der Volksrepublik China Menschen auf der Straße per App, per Kreditkarte oder per QR-Code Geld geben kann. Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber das ist inzwischen längst Realität.
Dann habe ich mir einmal angeschaut, was Sie beantragen, und ich musste wirklich ein bisschen lachen, als ich gelesen habe, was unsere radikale rechte Opposition will: eine Informationskampagne und Schulstunden, damit die jungen Leute endlich wieder lernen, bar zu bezahlen, so wie ihre Großeltern in der guten alten Zeit. – Also ehrlich!
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Es sind hier tatsächlich ein paar Dinge zu diskutieren, aber an denen scheitert die AfD wieder.
Herr Liebich, sind Sie bereit eine Frage oder ein Statement zuzulassen?
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Nein, keinesfalls. – Die Sorge, dass Amazon, Facebook, Google, Alibaba die größten Schattenbanken der Welt werden, ist eine berechtigte Sorge, und darüber müssen wir diskutieren und insbesondere darüber, dass Facebook eine eigene Währung – früher Libra genannt, jetzt Diem – einführen will. Das ist ein Problem, schon alleine wegen der Marktmacht. Dem muss Europa tatsächlich einen Riegel vorschieben.
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Ich möchte nicht, dass der europäische Zahlungsverkehr irgendwann in der Hand von US-amerikanischen oder chinesischen Konzernen ist. Jegliche Zahlungsmittel, Dienstleistungen müssen unabhängig von der Technologie auf demselben Niveau wie der Bankensektor reguliert und staatlich beaufsichtigt werden.
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Aber zurück zur AfD. Sie verheddern sich hier in Ihren eigenen Widersprüchen. Eben haben Sie alle gehört, was Herr Peterka gesagt hat. Dann schaut man einmal, was die AfD noch vor zwei Jahren zu Facebooks eigener Währung gesagt hat. Damals, im Jahr 2019, sagte die AfD, sie sei die einzige Fraktion, die sich wohlwollend für Facebooks Digitalwährung ausgesprochen habe. Ich darf zitieren:
Für die AfD steht fest, der technologische Fortschritt wird sich nicht aufhalten lassen, auch nicht mit Regulierungen und Verboten.
Was denn nun? Die AfD weiß wieder einmal nicht, was sie will.
Wir sind für den bestehenden Schutz des Bargeldes unter Beachtung geldwäscherechtlicher Schwellenwerte; aber wir sind auch für ein zukunftsfestes gesetzliches Zahlungsmittel. Wir brauchen den digitalen Euro. Hier ist die Europäische Union, hier ist die Europäische Zentralbank gefragt.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Das Wort geht an Canan Bayram für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Mein Vorname Canan steht für das Wort „Liebling“, so nennen Sie mich alle, wenn Sie meinen Vornamen aussprechen. Ich kann Ihnen aber sagen, dass mich das nicht zu Everybody’s Darling macht, und das will ich auch gar nicht sein.
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Meine Damen und Herren, was hat die AfD hier für einen Antrag vorgelegt? Man fragt sich: Worüber wollen Sie eigentlich diskutieren? – Das Thema soll das Bargeld sein. Ich weiß nicht, wer bei der AfD davon geträumt hat, dass es politische Kräfte gäbe, die das Bargeld abschaffen wollen würden, wahrscheinlich der Moruk, der in der ersten Reihe schläft. Der Albtraum der AfD ist völlig absurd.
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Herr Gauland hat sich Sorgen gemacht, dass demnächst das Bargeld abgeschafft wird. Ich kann Ihnen sagen: Keiner will das. Für uns, Bündnis 90/Die Grünen, gilt vielmehr: Freiheit statt Angst. Dazu gehört auch die Freiheit, in seinen Bewegungsprofilen nicht überwacht zu werden. Natürlich können und sollen die Leute weiterhin mit Bargeld zahlen, meine Damen und Herren.
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Vor zwei Wochen haben wir hier einen Entschließungsantrag eingebracht, den auch Die Linke und die FDP unterstützt haben, mit dem wir Bargeldzahlungen bei Immobilienkäufen ausschließen möchten, um Geldwäsche zu verunmöglichen, weil Geldwäsche ein Verbrechen darstellt, meine Damen und Herren. Das wollen wir bekämpfen.
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Bei Verbrechen fällt mir komischerweise wieder die AfD ein. Man fragt sich: Wie werden eigentlich die Waffen bezahlt, die irgendwie mit dem Büro von Herrn Bystron verwickelt sind, mit Bargeld oder mit etwas anderem?
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Wie sind die ganzen Koffer und sonstigen unterstützenden Parteispenden bei der AfD eigentlich eingegangen? Kennen wir nur die unbaren Zahlungen? Gab es da vielleicht auch Geldkoffer?
Meine Damen und Herren, für uns Grüne steht fest: Parteienfinanzierung benötigt größtmögliche Transparenz, das heißt, wir müssen klar überwachen, wohin Bargeld fließt, um zu merken, wann der Geldfluss gegen geltende Gesetze verstößt.
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Das ist doch gar keine Frage! Da es völliger Unsinn ist, zu behaupten, dass hier irgendwer plant, das Bargeld abzuschaffen, fragt man sich insoweit schon: Wovor hat die AfD eigentlich Angst?
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– Genau. – Sie hat Angst, dass sie selber irgendwann an ihre eigenen Fake News glaubt. Soweit ist es mit denen schon gekommen, meine Damen und Herren.
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Das Wort geht an Matthias Hauer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als CDU und CSU stehen zum Bargeld. Das war schon 2019 so,
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als Sie seitens der AfD Ihren Gesetzentwurf eingebracht haben, das ist heute so, und das wird auch in Zukunft so sein. Niemand möchte das Bargeld abschaffen, auch aus den anderen Fraktionen niemand.
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Schon bei der Einbringung des AfD-Gesetzentwurfs hatte ich das abgefragt; Kollege Paul Lehrieder hat das freundlicherweise zitiert. Zur Sicherheit, wirklich nur um tausendprozentig sicherzugehen, möchte ich das heute noch einmal tun: Wir haben viele Finanzpolitiker hier. Ist irgendjemand hier im Raum anwesend, der das Bargeld abschaffen möchte?
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Ich habe ein paar Sekunden Zeit gelassen. Wirklich niemand möchte das Bargeld abschaffen.
Und jetzt kommt die AfD und will das Bargeld retten. Jetzt müssen Sie nur noch jemanden finden, vor dem Sie das Bargeld retten können. Hier im Raum jedenfalls finden Sie keinen. Sie wollen Ängste schüren, Sie wollen Gefahren herbeireden, um sich dann selbst als Retter zu präsentieren.
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Aber das lassen wir Ihnen hier gemeinsam nicht durchgehen.
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Jeder wird auch in Zukunft mit Bargeld bezahlen können. Jeder Mensch soll selbst entscheiden, ob er lieber bar oder bargeldlos bezahlt. Die Freiheit des Bargeldverkehrs ist unantastbar.
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Für diese Erkenntnis braucht es keine AfD. Bargeld ist Datenschutz, Bargeld ist auch Privatsphäre, Bargeld ist Freiheit. Dazu stehen wir hier fraktionsübergreifend.
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Bereits jetzt ist Bargeld durch unsere Verfassung geschützt: durch die Eigentumsfreiheit, durch die Vertragsfreiheit, durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch deshalb ist Ihr Gesetzentwurf schlicht überflüssig.
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Wie argumentiert jetzt die AfD? Sie befürchten – Zitat – eine Aufweichung der Datenschutz-Grundverordnung zulasten des Datenschutzes. Es geht um dieselbe DSGVO, die Sie als Bürokratiemonster und Angriff auf die Meinungsfreiheit bezeichnet haben. Und Sie befürchten einen – Zitat – Überwachungsstaat. Gleichzeitig waren Sie die Fraktion, die der Facebook-Währung unkritisch den roten Teppich ausrollen wollte – Kollege Liebich hat das freundlicherweise mit Zitaten untermauert – und damit ausländischen Großkonzernen blind vertrauen wollte. Auch das sollten die Menschen erfahren.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Peterka von der AfD-Fraktion?
Ich habe bisher immer alle Zwischenfragen zugelassen. Diesmal möchte ich es nicht tun, weil ich glaube, dass die Debatte gerade ein so hohes Niveau erreicht hat und kurz vor dem Abschluss steht.
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Insofern können wir das gerne beim nächsten Mal klären.
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Sie haben sich als AfD schon 2016 für den Erhalt des Bargeldes ausgesprochen. Auch damals wollte niemand das Bargeld abschaffen. Sie haben damals sogar eine Kampagne unter dem Titel „Bargeld lacht!“ gestartet. Sie schreiben auf Ihrer Homepage – Zitat –:
Dazu liefert die Website www.bargeld-lacht.org ausführliche Informationen über die Absichten der Altparteien und die Antworten der AfD darauf.
Wenn die AfD immer noch glauben würde, das Bargeld sei in Gefahr, dann würden Sie doch auf dieser Kampagnenseite liefern, Fakten zusammentragen, Namen nennen, Lösungen präsentieren. Dann schauen wir mal, was aus dieser AfD-Seite geworden ist: Schon bei Einbringung des Gesetzentwurfs 2019 standen da nur noch viele asiatische Schriftzeichen. Worum ging es da? Da stand auf Japanisch: Wie hoch ist die jährliche Invalidenrente? – Also schon zur ersten Lesung hatten Sie die Seite offenbar eingestellt und nach Japan verkauft. So wichtig war Ihnen dieses Anliegen; so stark in Gefahr sahen Sie das Bargeld, nämlich überhaupt nicht.
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Heute kann man diese Kampagnenseite – falls Sie das recyceln wollen – erneut erwerben, sie steht nämlich zum Verkauf. Der japanische Seiteninhaber verlangt ein Mindestgebot von 2 999 US-Dollar,
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zahlbar – das habe ich natürlich extra für Sie gecheckt – per Kreditkarte, PayPal, Überweisung oder Alipay; leider keine Barzahlung möglich.
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Da haben Sie sich wohl den falschen Vertragspartner für Ihre Kampagnenseite ausgesucht. Sie haben die Kampagne also offenbar eingestellt. Nehmen Sie 2 999 US-Dollar unbar in die Hand, dann können Sie das recyceln.
Also: Es gibt das Bargeld immer noch. Das wird auch so bleiben. Das Bargeld steht nicht zur Disposition. Es ist gut, wenn Sie sich künftig mehr um die japanische Invalidenrente kümmern und weniger um Deutschland. Dann bleibt uns auch hier im Haus vieles an Hetze erspart.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Herrn Peterka zu einer Kurzintervention.
Herr Hauer, stellvertretend für die meisten anderen sage ich: Ich verstehe ja dieses billige Manöver nach dem Motto „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ etc.; aber bitte verkneifen Sie es sich doch. Ich hätte wahrscheinlich in jedem dritten Satz sagen können: „de facto Benachteiligung“, „nur de facto“. Sie hätten die Sprüche trotzdem gebracht. Das ist einfach billig.
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Diese komische Homepage, die, glaube ich, von Professor Otte war, hier noch rauszuziehen, das ist doch wirklich unterste Schublade. Sparen Sie sich doch diesen Klamauk! Dazu ist das Thema zu wichtig. Meine Frage hätten Sie auch gleich zulassen können; dann hätte ich das jetzt nicht machen müssen.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Hauer.
Herr Kollege Peterka, eine Frage habe ich Ihrem Statement nicht entnommen. Die müssen Sie auch nicht stellen.
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– Warten Sie. Hören Sie mir doch mal zu, dann können Sie auch verstehen, was ich sage.
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Das ist ein alter Trick, den ich Ihnen hier kostenlos mit auf den Weg gebe.
Also, die Seite wurde angekündigt von Frau Weidel. Die hat, glaube ich, auch noch eine Funktion in Ihrer Fraktion. Ich sehe sie jetzt hier nicht mehr. Insofern weiß ich das nicht so genau, aber ich gehe mal davon aus, sie ist noch im Amt.
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Insofern hat sie auch noch eine gewisse Bedeutung.
Ansonsten habe ich in Ihrer Frage bzw. Ihrem Statement keinerlei Substanz erkennen können, nichts, worauf ich antworten könnte. Insofern freue ich mich, wenn wir jetzt zum Ende der Debatte kommen.
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Ich schließe die Debatte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Kultur- und Medienbereich, der sich so gerne fortschrittlich gibt, uns gerne kritisiert, haben Frauen schlechtere Chancen als Männer. Das gilt für Honorare und Gehälter, für Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten, für die Vergabe von Preisen und Stipendien oder für die Besetzung von Führungspositionen in Kultureinrichtungen. Qualifizierte Frauen gibt es im Kunst- und Kulturbereich genug – man blicke nur auf die Kunsthochschulen und Universitäten.
Kommen wir zum Medienbereich. Auch hier fehlt es nicht an kompetenten Frauen; nur: Sie sind oft nicht sichtbar. Sowohl in der Besetzung der Führungsämter als auch in den Positionen vor der Kamera fehlen sie. Frauen sind schlichtweg unterrepräsentiert.
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Daran würde sich übrigens auch nichts ändern, wenn ARD und ZDF fusionierten, wie es sich eine Gruppe meiner Partei wünscht. Aber darüber unterhalten wir uns dann zu einem anderen Zeitpunkt.
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Noch immer sehen wir überwiegend männliche Gäste und Experten in den Nachrichtensendungen und Talkshows. Sie erklären uns die Welt. Bestes Beispiel: unser Kollege Karl Lauterbach. Rund 50 Auftritte wurden inzwischen in Sachen Corona gezählt: bei Maischberger, „Markus Lanz“ – gestern Abend zuletzt –, „Anne Will“, oder „Hart aber fair“.
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Ein fleißiger Kollege und Abgeordneter, ohne Frage. Aber es gibt doch inzwischen genügend weibliche Expertinnen und erst recht weibliche Mediziner – übrigens auch in diesem Parlament. Ich verstehe nicht, warum die nicht auch einmal eingeladen werden, sondern immer nur der Gleiche.
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Frauen moderieren – immerhin –, und die Zahl der Kommentatorinnen, zum Beispiel in den Tagesthemen, ist zuletzt gestiegen.
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Aber kann es wirklich sein, dass nur jeder dritte Hauptakteur im Bereich der Nachrichten weiblich ist? Das zumindest zeigt eine Studie der Uni Rostock. Die Ergebnisse dieser Studie zur Geschlechtergerechtigkeit in den Medien sind schon schockierend. Seit 20 Jahren hat sich leider nur sehr wenig verändert.
Schauen wir auf einen anderen Bereich: die Spielfilme. Kommen Frauen vor, sind sie meist vor allem hübsch und jung. Frauen sind gerne gesehen, sofern es um Liebe, Beziehung und Partnerschaft geht. Und: Sie sind nicht älter als 30 Jahre. Der Graben zwischen Männern und Frauen bricht ab 35 Jahren auf,
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je älter, desto weniger Frauen auf dem Bildschirm. Ab 50 Jahren sind dann nur noch ein Viertel der Protagonistinnen weiblich.
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Zahlen lügen nicht. Was müssen wir also tun? Wir müssen speziell an die Programme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besonders strenge Maßstäbe anlegen.
Zweitens. Um mehr Frauen auf die Podien und als Sachverständige vor die Kamera zu bringen, brauchen wir eine Expertinnendatenbank, und zwar nicht nur für das Fernsehen, sondern für alle kulturellen Sparten.
Drittens. Jurys und Aufsichtsgremien des Rundfunks sind ausgewogen zu besetzen.
Viertens. Zur fairen Bezahlung von Künstlerinnen werden Honorarempfehlungen in den Förderrichtlinien angelegt.
Natürlich sind Frauen nicht in allen Kultursparten benachteiligt, auch das gehört zur Wahrheit. Die Buch- und Verlagsbranche zum Beispiel ist deutlich weiblicher als andere; eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Denn an anderer Stelle muss man beispielsweise Dirigentinnen und Intendantinnen mit der Lupe suchen. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
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Wir alle müssen an einem Bewusstseinswandel arbeiten. An Anstößen hat es in den letzten Jahren wahrlich nicht gefehlt, sei es von den ProQuote-Verbänden, der MaLisa Stiftung, dem Deutschen Kulturrat oder auch der Wissenschaft. Staatsministerin Monika Grütters ist tatkräftig vorangegangen. Die BKM hat die Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur zu einem Schwerpunktthema der EU-Ratspräsidentschaft gemacht. Jurys und Gremien, auf die sie Einfluss hat, sind bereits weitgehend paritätisch besetzt. Und sie hat wissenschaftliche Studien finanziert.
Ich fasse zusammen: Kunst, Kultur und Medien müssen zeigen, dass sie mit Blick auf das Thema Geschlechtergerechtigkeit endlich besser werden. Männliche Netzwerke und Machtsicherungssysteme müssen der Vergangenheit angehören, auch in Kunst, Kultur und Medien. Unser Antrag zeigt, wie es gehen kann.
Vielen Dank.
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Das Wort geht an Dr. Marc Jongen von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien will die GroKo verwirklichen. Klingt gut, beruht aber auf einem Etikettenschwindel.
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Der Begriff „Geschlechtergerechtigkeit“ ist ein geschicktes Framing für radikalfeministische Forderungen wie die 50-Prozent-Frauenquote und den Kampf – wir haben es gehört – gegen obskure Männernetzwerke, die es Frauen angeblich verwehren, ihr kreatives Potenzial zu entfalten.
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Ob Honorare und Gehälter, Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten, Preise und Führungspositionen – überall stehen angeblich die Männer im Wege, die die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen verhindern und Chancengleichheit verunmöglichen.
Der Antrag der Grünen sagt der großen Männerverschwörung den Kampf an – ich zitiere –:
Wenn wir zulassen, dass der Kulturbetrieb weiterhin Männern-dominiert bleibt und einseitig gefördert wird, behindern wir die kulturelle Vielfalt und die Pluralität der Perspektiven und verwehren der Hälfte der Gesellschaft ihre Chancen.
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Und weil man die angebliche einseitige Förderung ablehnt, die man im Übrigen nur behauptet, will man jetzt ganz offiziell Frauen einseitig fördern. Das ist grüne Logik. Das ist trotzdem widersinnig, meine Damen und Herren.
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Ich habe es vor Kurzem hier gesagt und wiederhole es: Sie verwechseln – und zwar natürlich mit Absicht – Chancengleichheit mit Ergebnisgleichheit. Aber gleiche Chancen heißt eben längst nicht gleiche Ergebnisse, eher im Gegenteil. Daher berufen Sie sich auch zu Unrecht auf das Grundgesetz, das Gleichberechtigung einfordert. Diese ist in Deutschland längst verwirklicht. Was Sie wollen, ist nicht Gleichberechtigung und auch keine Gerechtigkeit, sondern so ziemlich das Gegenteil, nämlich positive Diskriminierung, das heißt Bevorzugung von Frauen und Benachteiligung von Männern aufgrund des Geschlechts.
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Das ist nicht nur kulturfeindlich, es ist auch grundgesetzwidrig, jedenfalls nach unkorrumpiertem Rechtsverständnis.
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Mit der Beseitigung der Männerdominanz ist das feministische Ressentiment aber noch nicht befriedigt. Im Antrag der GroKo wird angemahnt, in kulturellen Bildungsangeboten klischeefreie, positive Rollenbilder für beide Geschlechter zu etablieren.
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Sie maßen sich also an, darüber zu befinden, wann ein Rollenbild klischeefrei ist und wann nicht.
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Wir warten dann nur noch auf eine Bundesrollenbildbeauftragte, die umgehend einschreitet, wenn angebliche Geschlechterklischees verbreitet werden. Und ich sage Ihnen: In Zeiten, wo 007 von einer schwarzen homosexuellen Frau gespielt wird, gibt es nichts Klischeehafteres als die Frau mit dem harten Punch und den sensiblen Mann mit der Babytrage aus der Patchworkfamilie.
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Man muss ja fast schon dankbar sein, wenn man irgendwo noch auf ein älteres Rollenmuster stößt, das von Ihrer Erziehungsarbeit unberührt geblieben ist.
Eine Folge Ihres Quotensozialismus ist die hypermoralische Dauerempörung über die Realität, die sich Ihnen nicht fügt. Ein gutes Beispiel sind die vorliegenden Anträge, in denen minutiös aufgeführt wird, wo Frauen überall unterrepräsentiert sind. Jede noch so geringe Abweichung von der Geschlechterparität in den kreativen Berufen wird zum Skandal dramatisiert, der für immer weitgehendere Forderungen ausgeschlachtet wird.
Bei den Frauenquoten wird es daher auch nicht bleiben: Weitere Quotenforderungen werden sich anschließen, um Minderheiten sichtbarer zu machen, wie es heißt, seien es die People of Color, LGBT-Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund usw. Die Folge sind Filme, Bücher, Stücke von einer sterilen politischen Korrektheit, die in Wahrheit kein Mensch sehen will, meine Damen und Herren.
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Die Zahl von Männern und Frauen sollte im Kultur- und Medienbetrieb – wie überall sonst auch – von einer Bestenauslese, unabhängig vom Geschlecht, bestimmt sein und nicht von ideologisch motivierten Prozentsätzen. Diesen Grundsatz, auf dem die Leistungsfähigkeit unseres Landes beruht und den im Übrigen auch die Kunstfreiheit gebietet, wollen Sie außer Kraft setzen. Die AfD wird diese Gesellschaftstransformation im quasisozialistischen Sinn nicht mitmachen. Wir lehnen die vorliegenden Anträge, den der GroKo, aber auch die der Grünen und der Linken, ab.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als 2020 zum Jahr der Gleichstellung ausgerufen wurde, haben manche gedacht: „Das ist gut“ und andere gesagt: Es ist beschämend, dass wir im 21. Jahrhundert noch immer um gleiche Rechte für Frauen und Männer ringen müssen. – Ich selber habe das auch gedacht; denn vor über 50 Jahren habe ich damit begonnen und hätte mir nie träumen lassen, dass ich 2021 hier stehe und noch immer dafür streite, dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben und die Benachteiligungen endlich aufhören.
({0})
– Bis heute kann von Gleichstellung keine Rede sein.
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Dass Sie von der AfD damit kein Problem haben, wundert mich nicht. Die Frage der Gleichstellung der Geschlechter ist eine urdemokratische Frage,
({2})
und demokratische Gesellschaft und AfD sind unvereinbar. Deshalb kann das nicht Ihre Aufgabe sein.
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Erschreckend ist, dass auch im Bereich von Kultur und Medien die Ungleichheiten bestehen. Die Kollegin Motschmann ist ja schon darauf eingegangen. Wir haben eine Studie vom Kulturrat, die wir in Auftrag gegeben haben, und sie zeigt, dass für den Kulturbereich, der ja gerade für die gesellschaftliche Entwicklung wichtig ist, die Daten teilweise noch erschreckender sind als für die Wirtschaft.
({4})
Ich glaube, allein das ist schon ein Grund, warum wir darum streiten müssen, dass wir gleiche Rechte haben und in diesem Bereich vorankommen: Kultur und Medien sind überall in der Welt so wichtig für Demokratisierungsprozesse. Und Demokratie für alle kann doch nur bestehen, wenn die Erfahrungen von beiden Geschlechtern mit einfließen.
({5})
Deshalb ist der Kampf für Gleichstellung ein Kampf für die Freiheit von Kultur und Medien und für Demokratie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau von Storch?
Nein.
({0})
– Nur Frau zu sein, bedeutet noch nicht, dass man für Frauenrechte steht.
({1})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Bystron von der AfD-Fraktion?
({0})
Ich möchte der AfD gar keine Antworten geben;
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denn ich weiß, was das für Fragen sind. Danke schön.
({1})
Im Kulturbereich haben wir viele Baustellen; die Kollegin Motschmann hat es gesagt. Es sind Stipendien, es sind Preise, die überall ungleich vergeben werden, und daraus folgen Honorare und Gehälter. Wir haben im Bereich der Kultur einen Unterschied, einen Gender Pay Gap, von 20 bis zu 60 Prozent.
({2})
Und es zeigt sich, dass – gerade da, wo prekäre Arbeitsverhältnisse sind, wo schlechte Honorarbedingungen sind – vor allen Dingen Frauen betroffen sind, auch jetzt in der Coronapandemie und auch im Kulturbereich.
({3})
Deshalb wollen wir eine Studie haben, die sich systematisch mit den dortigen Bedingungen auseinandersetzt; wir wollen, dass uns dazu fortlaufend Daten geliefert werden, damit es öffentlich wird. Denn es gibt nicht nur einen Gender Pay Gap, sondern genauso einen Gender Show Gap.
Wenn man sich mal die Bühnen ansieht: Nur ein Drittel der Personen auf den öffentlichen Bühnen sind wirklich Frauen. Sie verdienen weniger. Und wenn sie älter werden, sind sie noch weniger da. Ältere Männer sind auf der Bühne offensichtlich noch immer schön, Frauen scheinbar nicht.
({4})
Genau hier anzusetzen und dafür zu sorgen, dass wir nach vorne kommen, ist wichtig.
Man muss sich einmal anschauen, dass es im Bereich der Dirigenten- und Orchesterausbildung zu 45 Prozent Frauen sind, die hervorragende Abschlüsse machen, und mal überlegen, wann jemand von uns auf großen Konzerten jemals eine Dirigentin gesehen hat. Es zeigt sich: Gerade mal 6 Prozent Dirigentinnen gibt es in diesem Bereich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben dieses Thema ausführlich im Ausschuss beredet. Die Kollegin Motschmann hat gesagt, was wir wollen: Wir wollen Daten, wir wollen eine Expertinnen-Datenbank, damit es mit dem Argument „Es gibt ja keine Frau, die wir berufen können“ endlich ein Ende hat. Wir wollen auch Berichte über die prekären Arbeitsverhältnisse, die wir in diesem Bereich haben.
Deswegen lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten. Denn wer die Freiheit von Kunst und Kultur will, der muss dafür sorgen, dass Teilhabe, Zugang und Sichtbarkeit von Kreativen und Kunstschaffenden für Frauen und Männer gleich sind. Sonst werden wir die Freiheit von Kunst und Kultur nicht verteidigen können. Ich glaube, es lohnt sich, dass wir gemeinsam dafür streiten.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. – Das Wort geht an Katja Suding von der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Union und SPD haben sich im Koalitionsvertrag verpflichtet – Zitat –, „Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Kunst, Kultur und Medien weiter auszubauen“. Ich sage mal vorsichtig: Dieses Ziel wurde bisher noch nicht erreicht.
Projektförderung, Stipendien und Preise werden nachweislich deutlich häufiger an Männer als an Frauen vergeben. Im Fernsehen dominieren die männlichen Kollegen genauso deutlich. Männer sind die Experten, die Moderatoren,
({0})
die Journalisten und Sprecher. Und die Auswertung der Coronaberichterstattung zeigt: Auch in der Krise erklären Männer die Welt. Auf vier männliche Experten kommt nur eine weibliche Expertin. „The future is equal“ – danach sieht es leider nicht aus. Wir brauchen aber Diversität, vor allem in der Kultur- und Medienwelt; denn von ihr geht eine ganz wichtige Vorbildfunktion aus, meine Damen und Herren.
({1})
Darum müssen wir – erstens – die Arbeitsbedingungen strukturell verbessern. Häufig befristete Verträge und fehlende Kinderbetreuungsplätze führen dazu, dass vor allem Frauen mit Kindern zurückstecken. Darüber hinaus braucht es handfeste finanzielle Unterstützung, beispielsweise durch die von uns schon lange geforderte verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Kosten der Kinderbetreuung und der Haushaltshilfen.
({2})
Ich unterstütze Sie, liebe Kolleginnen von Union und SPD, in Ihrer Forderung, mehr individuelle Betreuungsplätze zu schaffen. Das wollen wir Freien Demokraten auch. Aber dann handeln Sie auch bitte danach. Denn stattdessen verpuffen jetzt die Milliarden aus dem sogenannten Gute-KiTa-Gesetz wirkungslos, weil sie in einkommensunabhängige Beitragsfreiheit und eben nicht in die Qualität, also beispielsweise flexible Öffnungszeiten, investiert werden. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren.
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Zweitens muss die Branche auch aus sich heraus einen Kulturwandel vollziehen. Die Einrichtung der unabhängigen Vertrauensstelle Themis zur Bekämpfung sexueller Belästigung und Gewalt in der Kultur- und Medienbranche ist da ein erster richtiger Schritt. Es braucht aber insgesamt eine Atmosphäre des Respekts und der Chancengerechtigkeit. Verbindliche Verhaltenskodexe, niedrigschwellige Präventionsangebote und vertrauliche Anlaufstellen für Betroffene brauchen in den Kultureinrichtungen einen ganz festen Platz.
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Drittens müssen wir als Gesetzgeber sensibel prüfen, ob nicht auch der bestehende Rechtsrahmen mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit sprachlich oder inhaltlich überarbeitet werden muss. Aber einfach nur eine Quote mit Sanktionen – das greift in jedem Fall zu kurz, meine Damen und Herren.
Dabei muss uns auch immer klar sein: Gleichstellung hört nicht beim Thema Frauen auf. Auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und Personen aus der LSBTI-Community müssen berücksichtigt werden.
Ja, es bleibt viel zu tun. Aber in der Schlüsselfunktion, die die Kultur- und die Medienbranche zum Beispiel durch Film und Fernsehen hat, steckt auch ganz viel Potenzial für die gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen, von allen Menschen, und dieses Potenzial müssen wir nutzen.
({5})
Das Wort geht an Simone Barrientos von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche geht es in mehreren Debatten um Frauen. Es geht um Quote, um Diversität, und es geht, kurz, um Gerechtigkeit. „Feministische Woche im Bundestag“, schrieben Frauen auf Twitter. Es ist natürlich gut, dass das Thema hier so breit debattiert wird. Aber es ist eben auch ein schlechtes Zeichen. Denn es ist eigentlich vollkommen irre, dass wir im Jahr 2021 über etwas diskutieren müssen, was selbstverständlich sein sollte, nämlich dass Frauen in allen Bereichen des Lebens gleiche Chancen haben, dass sie nicht schlechter bezahlt werden als Männer, dass sie die gleiche Sichtbarkeit, den gleichen Raum in Debatten bekommen, auch – und darum geht es hier und heute – in Kultur und Medien.
Die Zahlen, die der Kulturrat vorgelegt hat, zeichnen ein skandalöses Bild. Deshalb melden sich immer mehr Frauen aus dem Bereich Kultur und Medien sehr laut zu Wort und fordern nichts anderes als Gerechtigkeit. Und sie haben genug von warmen Worten. Sie wollen Fakten.
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In der Antwort der Koalition – nein, so kann man es eben nicht machen – ist viel heiße Luft. Der vorliegende Antrag fordert uns auf: Wir sollen erst mal feststellen, dass die Beauftragte für Kultur und Medien Großartiges für Frauen leistet. Es tut mir leid, aber Frau Grütters nutzt die Möglichkeiten bei Weitem nicht, die sie in ihrem eigenen Ressort hat. Es gibt Ansätze; aber da könnte sie mit deutlich besserem Beispiel vorangehen, und sie könnte Maßstäbe setzen, eben auch für Länder, Kulturförderung usw. Denn wer Kultur fördert, der darf ja durchaus – finden wir jedenfalls – beispielsweise Honoraruntergrenzen und faire Vergütungen, aber auch Geschlechtergerechtigkeit und Diversität bei Projekten einfordern. Wer das Grundgesetz wörtlich nimmt, muss das eigentlich sogar tun.
Im Antrag der Koalition steht viel Richtiges; aber es ist viel zu wenig. Deswegen werden uns enthalten.
Der Antrag der Grünen geht da weiter. Da geht es dann vor allem um die Quote, am Rande auch um Diversität; auch das war hier schon Thema. Das gehört natürlich dazu. Und klar: Quoten braucht es leider, leider, leider, weil Selbstverpflichtungen, Freiwilligkeit usw. zu nichts oder nur sehr wenig geführt haben.
({1})
Der Antrag meiner Fraktion geht deutlich weiter, weil wir glauben, dass das Problem sozusagen an der Wurzel angepackt werden muss. Denn dass Frauen und andere benachteiligte Gruppen so schlechtgestellt sind, ist ja strukturell begründet. Der Fehler liegt im System, und wer das ändern will, der muss die Verhältnisse ändern. Anders wird es nicht gehen.
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Wir fordern deshalb verbindliche Kriterien für die Vergabe von Bundeskulturförderung wie zum Beispiel gleiche Bezahlung für alle Geschlechter, angemessene Honorare und Vergütungen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – eigentlich Selbstverständlichkeiten. Wir fordern die Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung der sozialen Lage aller in Kultur und Medien Beschäftigten. Wir fordern konkrete Maßgaben für die Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit und Diversität in Kultur und Medien. Wir fordern eine umfassende Reform der sozialen Sicherungssysteme, sodass im Ergebnis alle einzahlen und alle – wirklich alle – abgesichert sind.
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Wir fordern, um es ganz kurz zu machen, nichts anderes als einfach nur Respekt. Neulich sagte mir ein guter Freund: Wenn ein Mann das mit der Geschlechtergerechtigkeit nicht versteht, ist er vielleicht dumm. Aber wenn er nicht dumm ist und trotzdem das Problem leugnet, dann ist er schlicht ein Lump. – Ich möchte ihm da gar nicht widersprechen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Erhard Grundl von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wo sind die Frauen in der Kultur? Wo sind die Frauen in der Kunst? Eigentlich scheinen sie ja gut aufgestellt zu sein. In den Fächern Darstellende Kunst, Bühne, Regie, Bildende Kunst und Kunstgeschichte studiert eine deutliche Mehrheit an Frauen. Frauen im Kulturbetrieb in Deutschland sind trotzdem ungehört, ungesehen, unrezensiert und ungezeigt. Nur 22 Prozent der deutschen Theater werden von einer Frau geleitet. Nur 30 Prozent der Inszenierungen an diesen Bühnen sind von Frauen, und in mageren 14 Prozent der Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks führen Frauen Regie. Von 130 Orchestern in Deutschland werden sage und schreibe 3 von Frauen dirigiert.
({0})
Ja, da ist sie, meine Damen und Herren, die Quote. Es gibt sie nämlich schon. Es ist eine Männerquote.
({1})
Die Kunst ist frei, vorausgesetzt sie ist männlich. Und die Frauen, die es trotz der Brother Culture, der Seilschaften und der permanenten Unterschätzung geschafft haben, sind dann auch noch unterbezahlt. Der durchschnittliche Gender Pay Gap in der Kultur liegt bei 24 Prozent – Tendenz steigend in allen Branchen, so die Studie des Kulturrats 2020. Das ist kein Gap, das ist ein Abgrund.
({2})
Was macht die Bundesregierung, die diese trostlosen Zahlen mit zu verantworten hat? Seit Jahren liegen diese Zahlen vor, und sie machen dazu einen runden Tisch und ein Mentoringprogramm. In vier Jahren bei 800 Bewerbungen wurden 97 Frauen betreut. Ich denke, das ist mehr als mager.
({3})
Dabei sind sich Wissenschaft und Sachverständige einig: Nur die Quote kann das wirklich verändern. Was schlagen CDU/CSU und die SPD jetzt in ihrem Antrag vor? Mehr vom Gleichen, mehr von dem, was nichts bewirkt, hier und da mal ein bisschen Förderung und einen Frauentrostpreis. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Quote für Parität auf den Führungsebenen staatlicher Häuser, in der Projektförderung, bei Ausstellungen, in Filmen der Öffentlich-Rechtlichen, überall, wo die Kultur von Steuergeldern, also zur Hälfte von Frauen, finanziert wird, eine Quote für eine geschlechtergerechte Kulturbranche und echte Chancengleichheit in Kultur und Medien.
({4})
Nur da, wo es gerechte Chancen auf Teilhabe und Zugang gibt, existiert Kunstfreiheit. Wer in Sonntagsreden die Freiheit der Kunst betont, der muss erst mal für Chancengleichheit sorgen.
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Da haben Sie, meine Damen und Herren von CDU und CSU, aber leider auch von der SPD, Nachholbedarf. Um Margarete Stokowski zu zitieren:
Man muss nicht für die Quote sein, man kann auch einfach warten und sterben, bevor es Gleichberechtigung gibt.
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Ich bin überzeugt, wir sind es all den großartigen Frauen im Kulturbereich schuldig, uns für diese Chancengleichheit, für diese Quote einzusetzen. Aber noch mehr sind wir es all den Frauen schuldig, die wir noch nicht kennen, die daran gehindert werden, sichtbar zu werden, weil sie das vermeintlich falsche Geschlecht haben.
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Ihnen die gleichen Chancen zu geben, wie wir Männer sie haben, darauf freue ich mich, und dafür setzen wir uns ein. Ich möchte Sie alle bitten, unseren Antrag unterstützen.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Das Wort geht an Yvonne Magwas von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauen im Kultur- und Medienbereich haben nach wie vor Nachteile. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben es bereits gesagt: Es betrifft alle Bereiche, egal ob es um Gehälter geht, ob es um Honorare geht, ob es um Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten, Preise, Jurybesetzungen, Stipendien oder auch die Besetzung von Führungspositionen geht. Für eine Branche, die sich selbst als gesellschaftliche Avantgarde bezeichnet, ist das ein Armutszeugnis.
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Ich möchte die Faktenlage nicht wiederholen; diese zeigen uns bereits die Studien des Kulturrates, und die Vorredner und Vorrednerinnen haben das ja schon angesprochen. Zwei wesentliche Aussagen sind für mich entscheidend: Erstens. Es gibt genügend qualifizierte Frauen im Kultur- und Medienbereich. Zweitens. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern wir haben ein Umsetzungsdefizit.
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Erste Schritte sind aber getan. Ich möchte unserer Staatsministerin Monika Grütters recht herzlich danken, die den runden Tisch „Frauen in Kultur und Medien“ initiiert hat. Daraus sind wirklich gute, konkrete Maßnahmen entstanden. Es wurde ein Projektbüro beim Kulturrat eingerichtet. Das Mentoringprogramm wurde ins Leben gerufen. Aus Gesprächen wissen wir, dass das Mentoringprogramm sehr nachgefragt wird und erfolgreich ist; an dieser Stelle herzlichen Dank an Monika Grütters. Umso wichtiger ist, dass das Programm verlängert wurde und wir es finanziell aufgestockt haben, sodass mehr Frauen, lieber Herr Grundl, in Zukunft daran teilnehmen können.
Als Koalition legen wir heute einen Antrag vor, der weitere konkrete Verbesserungen für die Frauen auf den Weg bringen soll. Eine zentrale Forderung dabei ist, dass Geschlechtergerechtigkeit als personalpolitisches Ziel verankert werden muss. Wünschenswert ist es natürlich für die gesamte Branche, aber insbesondere müssen wir gemeinsam mit den Ländern darauf hinwirken, dass die öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen, die städtischen Theater, Museen, Bibliotheken, aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, ihre Personalpolitik mit daran ausrichten. Hierfür muss es mehr Teilzeitangebote auch für Führungspositionen geben, mehr Doppelspitzen, aber auch – das war auch schon ein großes Thema – die Anpassung von Gehältern.
Damit sind wir beim wesentlichen Thema: dem Gender Pay Gap. Die Einkommensunterschiede zwischen Künstlerinnen und Künstlern sind nach wie vor groß. Man muss das auch immer ein Stück weiterdenken; denn häufig ist dieses geringe Einkommen immer auch eine wesentliche Ursache für die Altersarmut von Frauen. Es ist wichtig, dass die Kultureinrichtungen und die Kulturunternehmen für dieses Problem sensibilisiert werden. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass die Honorarempfehlungen in den Förderrichtlinien des Bundes für den Kultur- und Medienbereich berücksichtigt und umgesetzt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist natürlich – es wurde mehrfach gesagt – die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In einer Branche, die durch projektbezogenes Arbeiten sowie ungewöhnliche Arbeitszeiten geprägt ist, sind mehr Angebote und Anreize für individuelle Kinderbetreuung notwendig. Eine Schauspielerin zum Beispiel, die am Abend vor ihr Publikum tritt, wird in der städtischen Kita meistens kein passendes Betreuungsangebot finden. Es muss mehr flexible Möglichkeiten für die Kinderbetreuung geben, eventuell auch Anreize für die Unterstützung durch Arbeit- oder Auftraggeber. Ich denke, dieser Punkt ist sehr zentral; im Übrigen nicht nur für den Medienbereich oder für den Kulturbereich, sondern für viele andere Berufsgruppen auch.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Das ist die Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, Themis. Themis bietet vertrauliche Beratung und Unterstützung für Opfer sexueller Diskriminierung in der Kultur- und Medienbranche. Der hohe Beratungsbedarf mit 183 Fällen in einem Jahr zeigt, wie wichtig diese Einrichtung ist.
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Es freut mich deshalb, dass dies fortgeführt wird. Es wäre wünschenswert, dass wir das auf die gesamte Kultur- und Medienbranche ausweiten;
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denn bisher ist Themis nur auf den Film-, Fernseh-, Theater- und Orchesterbereich beschränkt. Hier brauchen wir eine Öffnung.
Zum Schluss. Mit unserem Antrag möchten wir die Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien weiter voranbringen. Wichtig dabei ist aber auch, dass der Bund das nicht alleine tun kann. Ja, wir als Bund müssen Vorbild sein. Aber Länder und Kommunen müssen ebenfalls an diesem Strang ziehen; denn nur gemeinsam können wir bei der Geschlechtergerechtigkeit vorankommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Zum Schluss geht das Wort an Katrin Budde von der SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mit einem Zitat von der Schauspielerin Eva Meckbach beginnen:
Frauenrollen müssen sich fast immer an einer männlichen Figur abarbeiten. Oder ihr zuarbeiten, und dadurch zeigen sie ihre Stärke. Ihre Daseinsberechtigung ist ihre irgendwie geartete Relation zum kompetenten Mann. Vielleicht gibt es da einen Fight gegen ihn – dann ist sie doch kompetenter, aber er legt ihr natürlich Steine in den Weg. An diesem Punkt sind wir gerade: die männliche Kompetenz vorsichtig in Frage zu stellen, aber natürlich nie ganz. Man traut sich noch nicht, die wirklich kompetente Frau zu zeigen, unabhängig von Typen drum herum. Sondern man zeigt die, die jetzt noch kämpft. Aber Geschichten zu erzählen, wo Männer gar nicht so wichtig sind oder wo sie begleitend sind, aber nicht im Mittelpunkt stehen, weil man sich nicht an ihren Geschichten abarbeitet, an ihren Bedürfnissen, oder ihnen hilft, sie begleitet, sie versteht – das sehe ich total selten.
Eigentlich ist damit alles gesagt; denn das ist die gesellschaftliche Realität in und außerhalb der Kunst und Kultur, aber auch in dem Bereich Kunst-, Kultur- und Kreativwirtschaft.
Ich möchte Ihren Blick an dieser Stelle noch ein bisschen weiten beim Thema „Gleichstellung und Gleichberechtigung“. Es gibt schon bei der klassischen Frage „Wie steht es um die Gleichstellung zwischen Frau und Mann?“ so erschreckende Befunde, wie meine Kolleginnen und Kollegen das schon vorgetragen haben. Einen Befund will ich noch ergänzen: Wir hatten einen Anruf von einem jungen Mädchen, das sich bei uns beschwert hat, warum nur Tobias, Can und Julian die Checker in einer Kinderreihe des Bayerischen Rundfunks seien. Mädchen seien doch auch Checker und cool. Sie ist traurig, dass es keine Mädchen-Checker gibt. Das Mädchen hat recht:
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Auch Mädchen und Frauen sind Checkerinnen. – Es reicht bis in das Kinderfernsehen.
Wie sieht es aber, meine Damen und Herren, dann bei den weiteren Themen der Gleichstellung und Gleichberechtigung aus? Klare Antwort: noch schlechter. Sicher haben Sie vom Manifest der #ActOut-Gruppe der Schauspieler/-innen gehört. Wenn Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung geraten wird, diese geheim zu halten, und das von Agent/-innen, Caster/-innen, Produzent/-innen, Redakteur/-innen, Kolleg/-innen und Regisseur/-innen, dann ist das ein gesellschaftlicher Skandal.
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Wenn Menschen mit Beeinträchtigung erst gar nicht vorsprechen dürfen, dann ist das ein gesellschaftlicher Skandal.
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Und wenn eine Balletttänzerin den Schwan nicht tanzen darf, weil sie eine andere Hautfarbe hat, und ihr gesagt wird, sie störe damit die Ästhetik des Balletts, dann ist das ein gesellschaftlicher Skandal.
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Das, meine Damen und Herren, gehört geändert. Das gehört geändert durch deutliche und noch deutlichere Worte aus der Politik, dass wir dies nicht dulden, durch Anonymisierung von Auswahlverfahren, durch Klarstellung von Förderrichtlinien und durch feste Quoten überall – und noch viel mehr.
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Der Antrag der Koalition ist ein kleiner Anfang. Wir wissen das. Wir wissen, dass da noch viel Luft nach oben ist. Da geht noch ganz schön was.
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Aber für den heutigen Tag bitte ich dennoch um Ihre wohlwollende Zustimmung. Ein Anfang ist es, und darauf werden wir aufbauen.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen auch in der Pandemie als Staat handlungsfähig bleiben. Wir wollen aus der Not von Corona die Tugend der Digitalisierung machen, und wir wollen, dass die 20er-Jahre trotz aller Widrigkeiten ein Reformjahrzehnt für unsere Staatsverwaltung werden.
Zu alledem ist das Planungssicherstellungsgesetz, das wir heute verlängern, ein guter Beitrag. Schon vor einem Jahr standen wir vor der Herausforderung, dass die Öffentlichkeits- und Bürgerbeteiligung in staatlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren pandemiebedingt nicht in den geübten Wegen erfolgen konnte. In Rathäusern, die für den Publikumsverkehr geschlossen sind, macht eine Auslegung von Planungsunterlagen wenig Sinn. Aber statt die Hände in den Schoß zu legen, haben wir uns damals für Mut und für Entschlossenheit entschieden und das Planungssicherstellungsgesetz auf den Weg gebracht, das Öffentlichkeitsbeteiligung alternativ auch auf digitalem Wege ermöglicht. In der Pandemie haben wir sozusagen eine aufgedrängte Experimentierklausel genutzt. Aber ich kann heute sagen: Dieses Experiment ist uns gelungen; denn die Genehmigungsbehörden in Deutschland waren allein aufgrund der durch uns geschaffenen digitalen Beteiligungsmöglichkeiten weiterhin handlungsfähig. Das ist das Verdienst unseres gesetzgeberischen Handelns, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und ja, wir haben uns im Mai des vergangenen Jahres entschieden, das Planungssicherstellungsgesetz zunächst zu befristen, bis zum 31. März 2021. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten uns vor einem Jahr gewünscht, dass uns die pandemische Lage ermöglicht hätte, heute anders zu beurteilen. Aber die Pandemie ist weiter ernst, und sie macht es notwendig, dass wir das Gesetz verlängern. Wir schlagen das für einen längeren Zeitraum vor, bis zum 31. Dezember 2022. Warum? Erstens, weil sich das Gesetz grundsätzlich bewährt hat. Das hat auch die Expertenanhörung im Innenausschuss gezeigt; sie war quasi eine erste Kurzevaluation, die ergeben hat, dass es bisher keine maßgeblichen Anwendungsprobleme bei dem Gesetz gibt. Und zweitens, weil dieser Geltungszeitraum hinreichend lang ist, um eine erfolgreiche Evaluation des Gesetzes durchzuführen; denn wir haben in der Anhörung gehört: Planungs- und Genehmigungsverfahren brauchen leider noch immer einen zu langen Vorlauf. Deswegen ist die Zahl der Anwendungsbeispiele, der Erfahrungsschatz noch relativ gering. Und die Beteiligten brauchen Planungssicherheit. All das setzen wir um, wenn wir bis zum 31. Dezember 2022 verlängern; dieser Zeitraum ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Parlament ist natürlich frei, vor Ablauf dieser Fristverlängerung das Gesetz anzupassen. Aber ich finde, wir haben jetzt einen guten Übergangsrechtsrahmen geschaffen. Ich möchte auch betonen: Wir haben es geschafft, auch für den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen von Vorhabenträgern bei der Internetveröffentlichung eine sinnvolle Regelung zu finden, die sich bewährt hat. Aber wir werden es schaffen, das alles zu evaluieren.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Eine digitalisierte Verwaltung, das ist nicht nur etwas für Pandemiezeiten, sondern es ist eine berechtigte Alltagserwartung der Bürger für die 20er-Jahre. Unser Fraktionsvorsitzender, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, hat dafür eine Revolution in der Digitalisierung des Staates ausgerufen. Ich kann Ihnen sagen: Ich finde, das ist ein guter Vorschlag;
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nicht weil ich Revolutionen, wie sie von linker Seite kämen, gut finde, sondern weil es sich eher um Revolutionen handelt, wie sie Stein und Hardenberg mit den preußischen Reformen in der Erneuerung des Staatswesens geschafft haben. Auch das wollen wir, daraus wollen wir lernen, das ist guter Erfahrungsstoff.
Wir werben um Zustimmung für dieses Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herzlichen Dank.
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Maske! – Danke schön. – Das Wort hat Dr. Christian Wirth von der AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wir haben diesem Gesetz nicht zugestimmt, wir werden auch der Verlängerung nicht zustimmen.
Die Bürgerbeteiligung bei öffentlichen Projekten ist seit den 60er-Jahren ein Grundpfeiler unserer demokratischen Ordnung. Sie ist eine der letzten Bastionen lokalen und direkten Bürgerwillens. Vom Windrad im Vorgarten bis zur nächsten Brücke, die wegen chinesischem Billigstahl nicht fertig wird, muss die Politik sich ausnahmsweise einmal den tatsächlich betroffenen Bürgern stellen.
Aber nicht jeder hat die Möglichkeit, an der digitalen Welt teilzunehmen. Dass die Planungsverfahren in Deutschland zu lange dauern, ist eine Binsenweisheit und hat nichts mit der Krise zu tun. Dank der Parteien, die seit Jahrzehnten abwechselnd die Bundesregierung stellen – und insbesondere dank der CDU/CSU mit ihrer Kanzlerin, die nimmermüde wird, zu betonen, dass sie Physikerin ist –, rangieren wir mit einer der größten Volkswirtschaften der Welt beim digitalen Ausbau auf der Liste irgendwo zwischen Entwicklungsländern, unter „ferner liefen“.
Wenn wir die Bürgerbeteiligung in den Planungs- und Genehmigungsverfahren aber ernst nehmen, verbietet sich die ausschließliche Digitalisierung dort, wo sie den Bürger nicht erreicht, so zum Beispiel, wenn ausreichende Netzkapazitäten nicht vorhanden sind. Wir verkennen nicht, dass auch hier die Digitalisierung hilfreich sein kann – allerdings nur als flankierende Maßnahme, keinesfalls – wie man aus dem Antrag der Grünen herauslesen kann – als Ersatz der präsenten Bürgerbeteiligung.
Dass Sie die Befristung eines Gesetzes, welches in der Coronakrise beschlossen wurde, verlängern wollen, sendet ein völlig falsches Signal an die Bevölkerung. Bis Ende 2022 soll dieses Gesetz verlängert werden – der Lockdown vielleicht auch?
Immer wieder, seitdem die Politik – ohne die AfD – den Lockdown ausgerufen hat, hört man einen verhängnisvollen Satz, nimmermüde auch in diesem Verfahren im Innenausschuss, im Plenum und wohl gleich wieder hier in der Debatte, immer dann, wenn es um Themen geht, die Sie seit Jahren verpennt haben – zum Beispiel dauern die Planungs- und Ordnungsverfahren in Deutschland viel zu lange, da Sie seit Jahrzehnten die Digitalisierung verschlafen haben –, aber auch, wenn Sie die EU zur Schuldenunion umbauen wollen, immer wieder wird hier jubelnd auf den Satz verwiesen: „In der Krise liegt auch eine Chance“, heute in der Variante: „aus der Not eine Tugend machen“. In der Krise liegt eine Chance, deswegen Gesetz X, Verordnung Y, Verlängerung Z.
Meine Damen und Herren, wo ist die Chance in der Krise für die, die in der Krise arbeitslos werden? Wo ist die Chance in der Krise der Gaststätten, Hotels, Länder, die vielleicht nie wieder öffnen können?
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Wo ist die Chance in der Krise für Handel und Mittelstand, deren Existenz gerade ruiniert wird? Wo ist die Chance in der Krise für die, die die ihnen zugesagte Hilfszahlung nicht erhalten und vielleicht genau an einem Monatsgehalt scheitern? Während diese Existenzen zerstört werden, reden Sie von der Chance, die wir in der Krise als Gesetzgeber haben. Die Krise als Arbeitsmotivation des Gesetzgebers, ist das Ihr Ernst? Wir alle haben die größten Chancen in diesem Land, das größte Privileg in diesem Land, nämlich in dieses Parlament gewählt zu werden vom souveränen Volk, um dessen Interessen zu wahren. Wir haben die Chance als Gesetzgeber, das Gute zu bewahren und dort, wo Änderungen notwendig sind – wie auch hier –, diese mit Augenmaß vorzunehmen. Das ist unsere Chance als Parlamentarier. Wenn Sie eine Krise brauchen, um endlich eine Chance zu haben, Ihre verfassungsmäßige Tätigkeit auszuüben, dann sind Sie hier im Parlament, in der Regierung fehl am Platz.
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Dann geben Sie die Politik auf und machen Sie das, wo man nicht agiert, sondern nur reagiert, nicht gestaltet, sondern nur Krisen bewältigt: Gründen Sie eine Selbsthilfegruppe! Genug Teilnehmer haben Sie ja dann.
Vielen Dank.
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Die Maske bitte aufsetzen! Die Maske bitte aufsetzen!
Das Wort hat Mahmut Özdemir von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zugegebenermaßen ein schmales Gesetz, wenn man es ausdruckt: Es hat vier Seiten, sieben Paragrafen, wovon eine Seite allein auf den Anwendungsbereich verwendet wird. Da ist die Rede von der Umweltverträglichkeitsprüfung, vom Baugesetzbuch, vom Netzausbau, von Bundesfernstraßen und von Bundeswasserstraßen. Das sind alles Bereiche, die in unserem Land Arbeitsplätze, Wertschöpfung, Innovation, Bauen und Umwelt betreffen, und deshalb sind wir froh, mit diesem Gesetz für Stabilität und Rechtssicherheit gerade in diesem Verfahren sowie für Arbeitsplätze und die Wertschöpfung in diesem Land zu sorgen.
Wir nehmen keine Veränderungen am Gesetz vor, sondern eine Befristung. Offiziell, nach der amtlichen Bekanntmachung, heißt das Gesetz: „Gesetz zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Planungs- und Genehmigungsverfahren während der COVID-19-Pandemie“. Dieser Titel zeigt: Es ist ein Pandemiefolgengesetz und eben nicht ein Verwaltungsmodernisierungsgesetz.
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Die Amtsstube und die verstaubten Unterlagen dort bleiben also weiterhin die Regel, aber wir ergänzen es durch die neuen Möglichkeiten im Internet.
Wir sichern und ermöglichen damit die Durchführung und die Fortsetzung der Öffentlichkeitsbeteiligung. Vorgelagerter Rechtsschutz bietet Rechtsfrieden. Diese Öffentlichkeitsbeteiligung ist dem Geist von „mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt entflossen, und wir freuen uns, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern durch diese Verfahren schon sehr früh eine Teilnahme im Verfahren ermöglichen.
Das ist ein exzellenter demokratischer Rechtsschutz, den sich jeder leisten kann – nicht nur diejenigen, die sich eine Armada von Rechtsanwälten und Gutachtern leisten können –, um in einem Planungsverfahren ihre eigenen Interessen geltend zu machen. Das ist ein urdemokratischer Prozess, den wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stärken und weiter vorantreiben wollen.
§ 3 ist das Kernstück des Planungssicherstellungsgesetzes: die Veröffentlichung im Internet. Sie kann erfolgen, sie kann die Auslegung in einem Rathaus ersetzen, zu dem man derzeit aufgrund der Pandemie keinen Zutritt hat, so wie es wünschenswert wäre. Wir haben aber auch für diejenigen, die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse haben, einen Anspruch darauf eingefügt, dass diese nicht unbefugt weitergegeben werden. Wir haben eine Widerspruchslösung eingeführt für diejenigen, die sagen: Meine Daten oder meine Unterlagen sind so sensibel, dass ich sie nicht im Internet offengelegt wissen möchte. – Da gibt es jetzt die Stopptaste für diejenigen, die sagen: Es ist mir wichtiger, meine Geschäftsgeheimnisse zu schützen, als das Planungsverfahren oder das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen.
Die angeordnete Auslegung soll parallel dazu so weiterbestehen, wie wir sie bislang kennen. Sinn und Zweck des Planungssicherstellungsgesetzes ist es damit nicht, primär eine Wirtschaftsfreundlichkeit zu erzeugen oder vorzugaukeln, sondern Sicherheit, Rechtssicherheit, Bürgerfreundlichkeit für Betroffene zu gewährleisten. Verfahren sollen weiterlaufen, auch und gerade wenn die Amtsstube nicht für den Publikumsverkehr geöffnet ist.
Ich freue mich, dass viele Verwaltungen sehr gute, kreative Lösungen entwickelt haben, zum Beispiel kurzfristig Turnhallen umfunktioniert und mit Zugangsregeln dafür gesorgt haben, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung erfolgen kann. Es ist gut für die Demokratisierung eines Planungsverfahrens, dass Betroffene ihre Interessen kreativ zum Beispiel auch in Turnhallen beibringen können und ihre Unterlagen dort auch persönlich einsehen können.
Ein Sachverständiger hat es sehr schön formuliert: Öffentlichkeit heißt auch Öffentlichkeit. – Der Anspruch im Planungssicherstellungsgesetz auf Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ist kein Anspruch auf Verkürzung von Transparenz beim Betroffenen. Wir behandeln den Häuslebauer genauso, wie wir denjenigen behandeln, der eine Industrieanlage bauen will.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion sind dafür, die Rechte derer zu stärken, die unmittelbar, gegenwärtig und selbst betroffen sind. Im Umkehrschluss dürfen auch nur diese Betroffenen bei den Vorhabenträgern in die Unterlagen schauen. Wir wollen, dass die Verfahren der Verwaltung im Internet mit der gleichen Tugend durchgeführt werden wie im analogen Zeitalter in der Amtsstube.
Wir wollen aber auch das Verständnis für Mittelstand und Industrie hier nicht unter den Tisch kehren. Eine unbegrenzte Verfügbarkeit von Unterlagen und von sensiblen Daten im Internet führt zu der, wie ich finde, berechtigten Sorge, dass Konkurrenten – nicht unbedingt nur in Deutschland, sondern auch international – Einblick in entsprechende Planungsunterlagen und sensible Daten nehmen können. Planungsdaten ersetzen, wie ich finde, nicht den deutschen Innovationsgeist, das deutsche Know-how, das deutsche Wissen und den Vorsprung. Deshalb halte ich es mit dem Sachverständigen: Öffentlichkeit heißt auch Öffentlichkeit.
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Dieser Unbegrenztheit im Internet müssen wir durch Beschränkung auf die wirklich Betroffenen mit einer entsprechenden Absicherung in der IT-Struktur begegnen, ohne dabei die Öffentlichkeit und die Transparenz zu beschneiden.
Die Fristverlängerung bis 2022 haben wir bewusst nicht an eine entsprechende Regelung zur pandemischen Lage gekoppelt, weil wir der Überzeugung sind, dass wir auch auf der Zeitschiene Sicherheit und Verbindlichkeit gewährleisten müssen. Wir wollen den Betroffenen nicht sagen: Die Lage ist für die nächsten drei Monate festgestellt, so lange kannst du nach der Kann- und der Sollregelung die Unterlagen sowohl im Internet als auch körperlich auslegen; in drei Monaten sagen wir dir dann, wie du dein Planungsverfahren weiter betreiben kannst oder darfst. – Das führt nicht zur Sicherheit, und das führt nicht zur Verbindlichkeit. Niemand wird Geld in die Hand nehmen und in eine Anlage, in Arbeitsplätze, in Wertschöpfung investieren, wenn er diese Sicherheit nicht bekommt.
Stichwort „Evaluation“. Das ist ein Wort, das in Mode gekommen ist, und steht, hochtragend formuliert, für: Was müssen wir eigentlich langfristig in unsere Rechtsordnung übernehmen? Eine solche Evaluation werden wir vornehmen. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen, dass wir im Internet auslegen, weil wir so den Zugang erleichtern und dafür Sorge tragen, dass Barrierefreiheit hergestellt wird.
Wir sollten ganz klar miteinander definieren, welche Anforderungen wir auch langfristig an eine Verwaltungsmodernisierung stellen. Es geht darum, Betroffenen immer einfacher und besser den Zutritt zu offen zugänglichen Unterlagen zu verschaffen, und zwar nicht nur zu den Dienstzeiten, in denen die Verwaltung ihre Türen geöffnet hat. Es geht um ein hohes Maß an Barrierefreiheit für diejenigen, die eine körperliche Einschränkung haben. Das wird dadurch gewährleistet, dass die Unterlagen im Internet offen zugänglich sind.
Mit Blick auf Geheimhaltung und insbesondere darauf – davon hatte ich gerade schon gesprochen –, dass wir für die deutschen Unternehmen sensible Daten und einen Innovationsvorsprung schützen wollen, müssen wir eine vernünftige Sicherheit, wie wir sie derzeit in analogen Verfahren gewährleisten, auch in das Internetzeitalter übertragen – Stichwort „digitale Sicherheit“ –, um so auch dem Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – wenn man das unfallfrei ausgesprochen hat, hat man auch schon einen Teil seiner Redezeit bestritten – gerecht zu werden.
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Das müssen wir als Grundrechtsanspruch, den das Bundesverfassungsgericht statuiert hat, auch und gerade in Verwaltungsverfahren erfüllen.
Ich schlage vor, wir stimmen heute einem Pandemiefolgengesetz zu, um morgen gemeinsam eine Verwaltungsmodernisierung in all diesen Anwendungsbereichen, die das Planungssicherstellungsgesetz vorschreibt, vorzunehmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte herzlich um Zustimmung zu diesem Gesetz.
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Danke sehr. – Das Wort hat Konstantin Kuhle von der FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der enorme Digitalisierungsbedarf der öffentlichen Verwaltung besteht völlig unabhängig von Corona, und doch bedurfte es erst der Pandemie, um das sogenannte Planungssicherstellungsgesetz auf den Weg zu bringen. So haben wir es hier im vergangenen Jahr gemeinsam ermöglicht, dass wesentliche Schritte im Planungs- und Genehmigungsverfahren als digitale Formate stattfinden können.
Ich nehme es sehr wohlwollend zur Kenntnis, dass sowohl aus der Union als auch aus der SPD gesagt wird, dass wir diese digitalen Formate auch nach der Pandemie ermöglichen wollen. Nur eines will ich ganz klar sagen: Für uns Freie Demokraten ist ein Zurückfallen hinter das Niveau des Planungssicherstellungsgesetzes in puncto Digitalisierung überhaupt keine Option.
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Das ist erst der Anfang. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung muss weitergehen, und deswegen muss die Verstetigung digitaler Formate im Planungsrecht auf die Erfahrungen aufsetzen, die jetzt mit dem Planungssicherstellungsgesetz gemacht werden. Ich bin sicher, wir werden dann im Rahmen einer ausführlichen Evaluation gemeinsam daran arbeiten.
Wenn wir das tun, dann muss natürlich auch der Schutz von Geschäftsgeheimnissen eine besondere Rolle spielen. In der Anhörung ist deutlich geworden, dass die Kommunen beim Schutz der Geschäftsgeheimnisse heute schon tätig sind. Auch im Rahmen der Evaluation, die wir Ende 2022 vor uns haben werden, muss natürlich der Schutz der Geheimnisse privater Unternehmen sichergestellt werden.
Ich habe in der Anhörung vor allen Dingen drei Dinge gelernt. Diese Erkenntnisse führen am Ende dazu, dass wir Freie Demokraten heute der Verlängerung einmal mehr zustimmen.
Das ist erstens, dass die Einführung digitaler Möglichkeiten ganz wesentlich auch am Netzausbau im ländlichen Raum hängt. Ich finde, dass dieser wichtige Aspekt ganz richtigerweise während der Anhörung angesprochen worden ist. Wir können nicht das Planungsrecht und die Genehmigungsverfahren digitalisieren und dann den ländlichen Raum hinten runterfallen lassen. Wenn sich der Staat digitalisiert, dann muss er sicherstellen, dass den Bürgerinnen und Bürgern die digitalen Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Zweitens hat in der Anhörung die Tatsache eine wichtige Rolle gespielt, dass die digitalen Formate, die hier eingeführt werden, natürlich keine Pflicht sind. Die Behörde kann sich selber überlegen, wie sie bei der Öffentlichkeitsbeteiligung vorgeht: ob sie die Bekanntmachung oder andere Formate der Öffentlichkeitsbeteiligung wählt, ob sie das digital macht, ob sie das hybrid macht oder ob sie das mit kreativen neuen Formaten macht. Das können die Behörden selber entscheiden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, und damit kann man das gut ausprobieren.
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Vor allem aber mit Blick auf die Vielgestaltigkeit an Konstellationen, die es gibt – im ländlichen Raum, in Behörden, die unterschiedlich ausgestattet sind –, müssen wir uns noch einmal klarmachen, dass bei der Frage, ob man ein digitales Format anwendet oder nicht, Ermessen eingeräumt wird und dass bei der Ermessensausübung auch die epidemische Situation und das Infektionsgeschehen zu berücksichtigen sind. Das heißt im Klartext: Je weniger Corona, umso mehr Regelverfahren, und je mehr Corona, desto digitaler muss oder kann man es machen. Aber dazwischen ist von Hybridergänzungsterminen und anderen Formaten vieles und alles möglich. Das schafft in der Pandemie die nötige Flexibilität.
Wir stimmen gerne zu. Wir haben aber die Erwartung, dass nach der Pandemie bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung noch eine Schippe draufgelegt wird.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Das Wort geht an Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Durch Corona ist vieles zurzeit nicht möglich. Auch Veranstaltungen zu Planfeststellungsverfahren finden nicht statt, bei denen Bürgerinnen und Bürger Alternativen und Bedenken zu großen Infrastrukturprojekten äußern können, wie Wohnungsbau, Schienenausbau, aber auch zu umstrittenen Höchstspannungsleitungen SuedLink und SuedOstLink oder dem umweltschädlichen Fehmarnbelttunnel.
Das Gesetz, das Planfeststellungsverfahren ohne Treffen ermöglicht, wurde im Mai 2020 befristet bis März 2021 verabschiedet, und jetzt verlängert es die Koalition bis Ende 2022. Da frage ich mich: Woher wissen Sie heute, dass coronabedingt Einschränkungen bei Veranstaltungen bis Ende 2022 möglich sein sollen? Oder wollen Sie etwa die Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern durch das Planungssicherstellungsgesetz ausdehnen? Das wäre fatal.
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Transparente Bürgerbeteiligung ist das A und O demokratischer Mitsprache, fördert Akzeptanz und schützt vor teuren Fehlern. Wären die Bürgerhinweise zu Stuttgart 21 ernst genommen worden, hätte das unglaubliche Kostensteigerung und technische Probleme vermieden.
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Statt die Bürgerbeteiligung bis Ende 2022 einzuschränken, fordert die Linke mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung.
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Es ist doch klar: Wenn Bürgerbeteiligung nicht vor Ort stattfindet, sondern im Netz, dann braucht man schnelles Internet. Aber die Politik der unionsgeführten Bundesregierung der letzten Jahre hat den Breitbandausbau in ländlichen Regionen versemmelt. Diese Koalition hat gleichzeitig den Mobilfunkkonzernen die Frequenzen für mobiles Internet versteigert und dabei zugelassen, dass 2 Prozent der Haushalte nicht versorgt werden. Ein Unding!
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Also im Klartext: 1,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind abgeschnitten vom schnellen Internet, können weder Onlinedokumente herunterladen noch an Videokonferenzen teilnehmen. Das nehmen Sie billigend in Kauf. – Das ist europarechtswidrig. Das lehnt die Linke ab.
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Seniorinnen und Senioren, Menschen mit geringen Einkommen haben oft nicht die finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme an Onlineveranstaltungen. Das ist diskriminierend. Für die Linke fordere ich: Digitale Verfahren sind beim heutigen Breitbandausbau maximal als parallele Ergänzung zu herkömmlichen Verfahren zulässig, und es muss Möglichkeiten geben, kostenlose Leihgeräte und Support für Menschen zu geben, die eigene Geräte nicht haben.
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Kolleginnen und Kollegen, in der jetzigen Situation, in der das Vertrauen in Maßnahmen der Regierung von Woche zu Woche sinkt, darf dieses Planungssicherstellungsgesetz mit weiteren Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger nicht verlängert werden.
Vielen Dank.
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Danke. – Das Wort geht an Dr. Ingrid Nestle von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Grundsatz ist das Anliegen dieses heute zu beratenden Gesetzes absolut zu begrüßen. Ja, natürlich müssen die Planungen weitergehen, auch zu Coronazeiten.
Und ja, natürlich bieten diese digitalen Beteiligungsformate für manche Menschen auch eine richtige Chance; denken wir nur an Eltern, die für die Betreuung ihrer Kinder verantwortlich sind. Natürlich ist es da einfacher, zwischendurch einmal zwei Stunden vom eigenen Arbeitszimmer aus ins Internet zu gehen, als an einen anderen Ort zu fahren und da womöglich den ganzen Tag zu verbringen. Denken wir an Leute, die sich vielleicht ein bisschen scheuen, im großen Saal aufzustehen und ins Mikro zu sprechen. Es gibt eine ganze Reihe Menschen, für die diese digitalen Beteiligungsformate ein Mehr an Beteiligung bedeuten. Deswegen sollten wir sie auch weiterentwickeln und auf Dauer zusätzlich zu Präsenzformaten beibehalten.
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Trotzdem wird der heute vorliegende Gesetzentwurf, finde ich, der Bedeutung des Themas nicht wirklich gerecht. Das liegt in erster Linie daran, dass Sie sich überhaupt nicht die Mühe gemacht haben, einmal die Erfahrungen auszuwerten, die wir bisher mit diesem Gesetz gemacht haben. Ja, vor einem Jahr, da mussten Sie schnell reagieren. Als Sie im Frühjahr letzten Jahres das Gesetz auf den Weg gebracht haben und Corona neu war, da mussten Sie schnell etwas machen; das war völlig in Ordnung. Aber jetzt müssten Sie doch weiter sein.
Kollege Özdemir, wenn Sie hier stolz sagen, ja, wir haben seit damals nichts geändert, dann, so finde ich, ist das nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal; denn es ist Ihre Verantwortung,
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es ist Ihre Pflicht, auszuwerten: Was haben wir denn aus der Zeit gelernt?
Ich habe die Bundesregierung einmal gefragt: Was haben Sie denn evaluiert? Wie oft sind eigentlich die verschiedenen Veranstaltungstypen gewählt worden? – Die Antwort war: Der Bundesregierung liegen keine Informationen vor, und – Zitat –: Im Gesetzgebungsverfahren ist jedoch eine Evaluierung des PlanSiG durch die Bundesregierung vorgesehen worden. – Sie stellen also fest, es soll evaluiert werden. Aber offensichtlich evaluieren Sie, nachdem Sie das Gesetz verlängern, nicht vorher. Gelinde gesagt, ist das der falsche Zeitpunkt.
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Sie verlängern auch nicht nur so ein bisschen. Nein, Sie verlängern gleich bis Ende 2022, nicht bis zum Anfang 2022. Erst dachte ich auch so, Anfang nächsten Jahres, passt ja; nein, bis Ende nächsten Jahres sehen Sie jetzt schon vorher, dass keine größeren öffentlichen Veranstaltungen stattfinden können. Ich finde, das ist deutlich zu lange, vor allem wenn keine Evaluierung stattgefunden hat.
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Es wäre auch leicht gewesen, Punkte zu finden, wo man nachbessern kann. Nicht nur am Montag in der Anhörung wurde deutlich: Ja, die Videokonferenz, also das Format, wo man ins Gespräch kommt, das den Erörterungstermin am besten ersetzen kann, wird nur sehr selten angewendet, weil man vorher von jedem Einzelnen eine Einverständniserklärung einholen muss, um dieses Format überhaupt wählen zu dürfen. Das ist nur einer der Punkte, wo man tatsächlich unproblematisch und schnell Verbesserungen für mehr Beteiligung und eine bessere Qualität hinbekommen könnte.
Ich wünsche mir sehr, dass es für die Zukunft wenigstens gelingt, die Erfahrungen noch auszuwerten, die Formate weiter zu verbessern, weil sie so wichtig sind. Leider können wir in dieser Form noch nicht zustimmen.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Detlef Seif von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Anhörung der Sachverständigen hat also ziemlich eindeutig ergeben, dass es sich um eine gute Idee handelt, das Planungssicherstellungsgesetz zu verlängern, und dass wir das hier tun sollten. Das kam in den letzten Beiträgen nicht so ganz durch.
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Denjenigen, die bereits bei der Erstauflage des Gesetzes forderten, dass Planungsverfahren vorläufig ausgesetzt werden sollen – das haben wir heute auch wieder gehört –, ist nach wie vor eine klare Absage zu erteilen. Es handelt sich oftmals um wichtigste Infrastrukturmaßnahmen: Wohnungsbau, Klimaschutz, angestrebte Energie- und Verkehrswende.
Wenn die Vorhabenträger privat sind, müssen wir immer auch sehen, dass eine Untätigkeit des Staates in deren Rechtskreis eingreift und einen Eingriff in Eigentumsrechte und die Gewerbefreiheit darstellen kann.
Die Aussage eines Sachverständigen in der Anhörung „Es geht ja sowieso nicht immer ganz schnell bei den Planungen, insbesondere auch im Bereich der Ausschreibungen und der Vergabe; also ist das jetzt auch nicht so tragisch“ ist doch genau der falsche Weg. Es geht doch darum, Verfahren zu beschleunigen, Bürokratie abzubauen und hier keine Verzögerung hinzunehmen.
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Verzögerungen können fatale und kostspielige Auswirkungen für Investoren und auch für öffentlich-rechtliche Vorhabenträger haben. Denken wir doch an die geschützten Flächen, die teilweise von Planungen betroffen sind: FFH-Richtlinie, Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Denken wir an die Vogelschutzrichtlinie, wo es um den Schutz seltener Vögel geht. Wenn die Gutachten einige Jahre alt sind, sind sie nach der gefestigten Rechtsprechung nicht mehr zu nutzen, nicht mehr zu verwerten. Wir fangen dann in der Planung von vorne an. Das kann doch nicht Sinn unserer gesetzgeberischen Tätigkeit sein. Deshalb müssen wir hier in der Tat tätig werden.
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Eins ist klar: Die Onlinekonsultation ist nicht das, was eine Anhörung ist. Soweit man da das Ganze kritisch beleuchtet, ist das auch richtig. Hier geht es um Rede und Gegenrede. Hier geht es darum, Planungsfehler zu erkennen. Hier geht es um einen Ausgleich und letztlich auch um eine befriedende Wirkung. Deshalb muss man an der Stelle genau hingucken. Wenn wir die Verfahren nach der Pandemie digital fortsetzen, wird das einer der wichtigsten Punkte sein, auf den wir unser Augenmerk zu legen haben.
Jetzt komme ich zu Reden von linker Seite und auch aufseiten der AfD, dass das Ganze ja ein Beschneiden der Bürgerrechte sei und wie schlimm das alles sei.
Wenn Sie in der Anhörung denjenigen gut zugehört hätten, die mit den Planungen befasst sind – ich rede jetzt insbesondere von der Vertreterin des Städte- und Gemeindebundes –, hätten Sie gehört, dass sie ganz klar gesagt hat: Das wird sensibel angegangen. Von der Kannvorschrift wird sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Es werden ganz unterschiedliche Verfahrensarten auch hybrider Natur genutzt. Das hat dazu geführt, dass derzeit nicht wirkliche Fehler und Probleme entstanden sind. – Das ist doch auch im Interesse der Behörde, dass sie aufpasst, dass keine Planungsfehler entstehen, dass man tatsächlich die Betroffenen gehört hat. Deshalb haben die ein ureigenes Interesse, dass das ordnungsgemäß abläuft. Das ist an dieser Stelle Ihnen zu entgegnen.
Das ist nicht wirklich schlecht, was wir heute beschließen; das ist gut. Das wird in der Situation der Pandemie auch dringend erforderlich sein. Aber wenn es dann um die digitale Umsetzung nach der Pandemie geht: Ja, einverstanden, da müssen wir überlegen, wie wir die Mitwirkungsmöglichkeiten im digitalen Bereich so ausbauen, dass wir die Funktion der Anhörung demnächst umsetzen können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen Gruß an Die Linke: Stillstand ist Rückschritt; aber ich glaube, das können Sie am besten. – Wir müssen den Weg der Digitalisierung aufnehmen. Jetzt gerade, im Zeitalter der Pandemie, wissen wir, dass wir mit diesem Gesetz auf dem richtigen Weg sind und den ersten Schritt gehen. Wir wissen auch, dass wir in den Bereichen der Infrastrukturmaßnahmen Planfeststellungsverfahren brauchen, und da brauchen wir die Öffentlichkeitsbeteiligung für die Akzeptanz. Wenn diese wie momentan nicht möglich ist, dann bekommen wir mit diesem Gesetz die Möglichkeit, die Öffentlichkeit mit einzubeziehen.
Ich glaube, dass die einen oder anderen, die sich intensiv mit Planungen beschäftigen, sich durchaus auch die Mittel zunutze machen, um sich dort mit einzubringen. Ich glaube, da sind wir mit diesem Gesetz auf einem guten Weg. Wir wissen aber auch, dass das erst der Beginn der Digitalisierung ist. Wir haben uns mit der Regierung, mit unserem Koalitionspartner SPD auch schon auf den Weg gemacht. Wir haben das OZG. Wir haben verschiedene Anträge zum Thema der Digitalisierung eingebracht; sie gehen weit über das PlanSiG hinaus. Wenn wir dort die ersten Erfahrungen sammeln, um die Digitalisierung voranzutreiben, also nicht nur in Bezug auf die Bürger, sondern auch innerhalb der Verwaltungsprozesse, dann sind wir dort einen wesentlichen Schritt weiter. Ich glaube, uns kann die Erfahrung vom PlanSiG, die wir im ersten Jahr gewonnen haben und jetzt auch über die Verlängerung gewinnen werden, durchaus weiterhelfen, dass wir im Bereich der Digitalisierung weiter vorankommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eins sagen: Wir müssen auch schauen, dass wir vorankommen. Wir haben wichtige Infrastrukturprojekte, wir haben Vorhaben beim Straßenbau und beim Schienenbau, wir wollen Wohnungsbau schaffen. Dafür brauchen wir die Planfeststellungsverfahren. Da können wir nicht aufgrund der Pandemie und einer etwas schwierigen Öffentlichkeitsbeteiligung, die die Pandemie mit sich bringt, einfach in die Verlängerung gehen. Ich glaube, wir müssen diese Wege nutzen, die uns offenstehen, um dort entsprechend weiterzukommen.
Lassen Sie mich auch sagen: Wir digitalisieren nicht, weil wir technikverliebt sind; wir digitalisieren, weil wir Prozesse verbessern wollen, weil wir Dienstleistungen einfacher zugänglich machen wollen. Deshalb stoßen wir entsprechend die Digitalisierung an. Das heißt, mit diesem Gesetz schaffen wir es zum einen, Verzögerungen möglichst gering zu halten. Wir schaffen hier die Beteiligung, sodass sich Bürger einbringen können. Wir schaffen Akzeptanz in der Bevölkerung, und wir schaffen Planungssicherheit für die Investoren. Wir sichern auch unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Wir brauchen die Investitionen für unsere Zukunft. Wenn wir die Energiewende schaffen wollen, brauchen wir das. Wenn wir die Wirtschaft stärken wollen, brauchen wir eine starke Infrastruktur. Dafür sind wir mit diesem Gesetz auf einem guten Weg. Deshalb ist es nicht nur konsequent, sondern auch notwendig, dass wir mit diesem Gesetz in die Verlängerung gehen. Ich bitte Sie um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende und Zuschauende! Die Pandemie hat die ohnehin schon sehr prekäre Situation von wohnungs- und obdachlosen Menschen drastisch verschärft. Deshalb ist es erst mal gut, dass mit der am 16. Januar neu in Kraft getretenen Coronavirus-Testverordnung sowohl die Heimbewohner/-innen als auch das Personal von Obdachlosenunterkünften getestet werden können. Die Kosten dafür werden vom Bund getragen. Das ist erst mal positiv.
Der letzte für uns alle sehr plötzliche und überraschende, aber schöne Wintereinbruch hat gezeigt, wie äußerst wichtig ein grundsätzlich gutes Konzept zur sicheren Unterbringung von obdachlosen Menschen ist, und das auf jeder föderalen Ebene. Überwiegend sind hier die Länder und die Kommunen in der Verantwortung. Eine Wohnungslosenstatistik führen aber die wenigsten Länder – leider auch wir in Berlin nicht, was bei mir persönlich auf Unverständnis stößt. Da hilft auch keine Berliner „Nacht der Solidarität“. Wir haben dadurch Hellfelder entdecken können; aber Tausende im Dunkelfeld blieben nach wie vor ungesehen.
Das heißt aber auch: Wir brauchen Konzepte, die nicht erst anfangen zu wirken, wenn Menschen wohnungs- und obdachlos sind. Wir müssen Ursachenbekämpfung betreiben. Hier sage ich: Die SPD kümmert sich.
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Deswegen haben wir 2020 schon durchgesetzt, dass es eine Statistik zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit geben wird.
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Ab 2022 wird also erstmals eine bundesweite Statistik veröffentlicht werden. Das ist ein wichtiger Schritt, damit wir präventive Maßnahmen, also Maßnahmen vor der Obdachlosigkeit, vor der Wohnungslosigkeit, ergreifen und umsetzen können.
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Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass die Beratungsleistungen der BAG Wohnungslosenhilfe im Jahr 2021 finanziell deutlich ausgebaut werden.
Faktum ist aber: Wir brauchen generell mehr bezahlbaren Wohnraum, um Wohnungslosigkeit vorzubeugen. Hier gibt es viele, viele gute Maßnahmen. Und eines sage ich jetzt schon: Wir können – auch gegen Unionsbarrieren – Langstreckenlauf. Wir werden bis zum letzten Moment dieser Legislatur weiter für die Umsetzung wichtiger Vorhaben kämpfen: das Baulandmobilisierungsgesetz, die Mietspiegelreform, den Umwandlungsschutz von Miet- in Eigentumswohnungen und das Beenden von Share Deals.
All diese Punkte sind in der Diskussion. Ich hoffe, wir kriegen sie auch noch gebacken.
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Denn eines ist wirklich klar: Wir brauchen bezahlbaren, wir brauchen barrierefreien Wohnraum für alle Menschen. So und nur so können wir Wohnungs- und Obdachlosigkeit reduzieren. Ich danke für das Zugehen der Union auf unsere Vorschläge.
Danke.
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Kollegin Rawert, die Maske!
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Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuschauer! Seit wir im September 2017 in den Deutschen Bundestag gewählt wurden, haben wir Alternativen uns für die Belange unserer obdachlosen Bürger eingesetzt.
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Es ist eine Schande, dass weder diese Regierung noch die Vorgängerregierungen es geschafft haben, sich einen Überblick über die Situation und vor allem über die Anzahl der Menschen, die in unserem Heimatland auf der Straße leben, zu machen. Erst der Antrag von uns Alternativen zur Einführung einer Obdachlosenstatistik im Herbst 2018 hat das BMAS aus dem Dornröschenschlaf geweckt, sodass man sich des Themas angenommen hat.
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Herrn Heils Umsetzung unserer Idee lässt zwar zu wünschen übrig, war aber ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Heute sprechen wir wieder – unter dem Vorzeichen der Coronapandemie – über diese besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe, die nicht nur am Rande der Gesellschaft lebt, sondern in den Konzepten der Regierung zur Eindämmung des Coronavirus gar nicht ernsthaft vorkommt.
Der Kälteeinbruch der letzten Wochen hat deutlich gezeigt, dass die Versorgung der Obdachlosen, die jedes Jahr im Winter katastrophal ist, dieses Jahr de facto überhaupt nicht stattfinden konnte. Da Obdachlosenunterkünfte nach wie vor nicht als systemrelevant eingestuft sind, war die Folge, dass diese für die Betroffenen großteils nicht zur Verfügung standen. Suppenküchen bieten Essen nur to go an, sodass es für die Obdachlosen noch nicht einmal möglich war, sich während der Essensaufnahme aufzuwärmen.
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Zu guter Letzt machen Polizei und Ordnungsämter auch noch Jagd auf obdachlose Menschen, weil sie Coronaauflagen wie zum Beispiel Kontakteinschränkungen oder die Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen nicht einhalten und vor allem gar nicht einhalten können.
All das sind Zustände, die Herrn Arbeitsminister Heil nicht erst seit gestern bekannt sind. Dennoch gibt es in seinem Ministerium keinerlei echte Versuche, hier Abhilfe zu schaffen.
Mit unserem Antrag, den wir Alternativen hier einbringen, setzen wir uns für ein dringend benötigtes Soforthilfeprogramm für Obdachlose und Hilfsorganisationen in der Obdachlosenhilfe ein.
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Wir Alternativen fordern, Unterstützung für Notunterkünfte endlich umzusetzen. Dort werden neben finanziellen Hilfen vor allem medizinisches Personal und Masken für Obdachlose benötigt. Damit diese Einrichtungen im Zuge der Coronamaßnahmen nicht geschlossen werden müssen, fordern wir eine bundesweit einheitliche Anerkennung der Einrichtungen als systemrelevant. Da gegen Obdachlose verhängte Bußgelder weder sinnvoll noch einbringbar sind, sollen Bußgeldverfahren gegen Obdachlose im Zusammenhang mit Verstößen gegen Coronaauflagen generell verboten werden.
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Liebe Genossinnen und Genossen der Fraktion Die Linke, ich frage Sie: Wo waren Sie, als wir Alternativen im März 2020 ein Soforthilfeprogramm für unsere obdachlosen Bürger im Rahmen des ersten Sozialschutz-Paketes eingebracht hatten?
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Sie waren auf der Seite der GroKo und haben gegen unseren Antrag gestimmt. Und heute greifen Sie unsere Forderungen in Ihrem eigenen Antrag wieder auf – übrigens nicht das erste Mal, dass Sie sich an unseren Anträgen bedienen.
Dazu muss ich Ihnen allerdings sagen, dass Sie als Bundestagsfraktion deutlich langsamer arbeiten als Ihre Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Denn Frau Breitenbach war schlau genug, um gute Anträge der ach so bösen AfD bereits im Mai 2020 als ihre eigene Idee auszugeben und unsere Forderung nach der Einrichtung von stationären Hilfezentren für infizierte Obdachlose auf Landesebene hier in Berlin umzusetzen.
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Herr Witt.
Ihr Antrag strotzt wieder einmal vor Ideen, die von Karl Marx –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– ich komme zum Schluss – und aus dem Handbuch „Staatssozialismus der DDR“ stammen. Wohnraum und Immobilien beschlagnahmen, weil der Staat durch jahrelanges Wegschauen unsere Obdachlosen sträflich vernachlässigt hat, das ist nicht das Mittel der Wahl, liebe Genossinnen und Genossen.
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Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst einmal eine Vorbemerkung zu der Debatte. Ich möchte eigentlich dem Grunde nach allen Fraktionen – bis auf die AfD und Die Linke – unterstellen, dass wir im Übrigen ein großes Interesse daran haben, sehr gut durch die Krise zu kommen.
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Aber ich glaube, dass wir bei der Frage: „Wie sieht unser Weg durch die Krise aus?“, zwei Grundregeln beachten sollten. Grundregel Nummer eins: Wir müssen die Probleme der Krise ehrlich beschreiben. Da will ich Ihnen ein Beispiel nennen: Was die mietrechtlichen Aspekte im Antrag der Linken oder der Grünen angeht, behaupten Sie, dass jetzt durch Corona massenhaft, so wird es formuliert, Kündigungen in die Obdachlosigkeit erfolgen.
Ein Blick in die Realität belehrt einen sehr schnell eines Besseren. Stand heute ist es so, dass es im Wohnbereich kaum Mietrückstände gibt. In Berlin war es so, dass bei dem Mietmoratorium im Frühjahr/Sommer gerade mal 0,3 Prozent der Wohnraummieter das Mietmoratorium in Anspruch genommen haben.
Die zweite Grundregel, die ich für wichtig halte, ist, dass wir die Pandemie eben nicht für die Verbreitung alter Ideologien nutzen sollten.
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Aber genau das machen Sie. Sie nutzen die Pandemie wieder für Ihre Schlagwortpolitik. Auch da ein paar Beispiele. Es ist wieder die Rede von „Beschlagnahme“. Eine Beschränkung der Eigenbedarfskündigung wollen Sie.
Sie wollen einen Ausschluss jedweder Zwangsräumung.
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Sie wollen die Auflösung von Flüchtlingsunterkünften, und Sie wollen Mietminderung möglich machen, wenn ein Vermieter nicht energetisch saniert.
Das Problem dabei ist, dass Sie damit immer zu kurz springen.
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Ich will Ihnen mal ein Beispiel außerhalb der Mietpolitik nennen, das gerade Sie von den Linken angeht. Ihre Parteivorsitzenden schwadronieren im Moment darüber, dass wir das Problem mit dem Impfstoff in Deutschland lösen könnten, wenn man die Impfstoffhersteller enteignet. – Da sieht man, wie kurzsichtig Ihre Ideologie ist, auch bei der Mietpolitik.
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Was glauben Sie, welcher Forscher, welcher Impfstoffhersteller zukünftig in Deutschland noch nach einem Impfstoff forscht oder ihn hier herstellt, wenn er in der Vergangenheit schon einmal enteignet worden ist?
Ich möchte jetzt noch ein paar inhaltliche Aspekte aufgreifen. Das, was Sie fordern, ist auch verfassungsrechtlich in Deutschland nicht umsetzbar.
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Manchmal wundert man sich: Der eine oder andere Blick in die Grundrechte würde Ihnen sehr viel Schreibarbeit ersparen. Sie wollen zum Beispiel erleichterte Voraussetzungen für die Beschlagnahme von leerstehenden Wohnungen oder den Ausschluss jedweder Zwangsräumung; das fordern die Grünen wiederholt. Das gilt also auch in dem Fall, wenn ich als Vermieter einem Mieter kündige, der zum Beispiel andere Mieter in einem Mehrfamilienhaus bedroht, der Sachbeschädigungen begeht. Sie wollen, losgelöst von der Pandemie, jedwede Zwangsräumung auch in diesem Fall ausschließen.
Sie wollen dann – ich finde, da wird es besonders perfide – tatsächlich auch Hotels oder Hotelbetriebe an Pandemiehilfen nur teilhaben lassen, partizipieren lassen, wenn sie ihre Zimmer für Obdachlose zur Verfügung stellen. Da will ich Ihnen von den Grünen, weil ich Sie ja vorhin tatsächlich auch in einen anderen Kontext gesetzt habe, mal ganz ehrlich ins Stammbuch schreiben: Beschäftigen Sie sich doch mal intensiv mit Ausmaß und Bedeutung des Grundrechts auf Eigentum in Deutschland! Ich kann es gar nicht anders sagen.
Wieder kleiner Ausflug am Rande: Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender Anton Hofreiter in diesen Tagen darüber sinniert, dass wir doch den Menschen in Deutschland untersagen oder verbieten sollen, in einem Einfamilienhaus zu wohnen oder ein solches zu bauen,
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dann ist das vor allem ein massiver Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum. Die Sorge, die ich habe, ist, dass Sie Bedeutung und Umfang dieses Grundrechts leider bis heute nicht begriffen haben.
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Das, was mich vor allem beschwert – da sind wir ein Stück weit wieder bei dieser Impfstoffbeschaffungsdebatte –:
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Bei all diesen vermeintlich guten Vorschlägen, die Sie unterbreiten, machen Sie genau das Gegenteil von dem, was wir wollen. Es geht uns in diesem Land darum, Wohnraum zu schaffen. Aber mit diesen irrsinnigen Instrumentarien werden Sie keinen Investor dazu motivieren, noch irgendwo in Deutschland Geld zu investieren.
Wissen Sie, es ist ja jetzt nicht so, dass das von mir einfach eine Behauptung ist, die ich mal raushaue, ins Blaue spreche.
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Sie wissen, was jetzt kommt: Man muss ja nur nach Berlin gucken. Da kriegt man mittlerweile ein super Gefühl dafür, was man nicht machen darf, weil man sonst einen Wohnungsmarkt komplett kaputtmacht. Sie verschrecken dort alle Investoren. Da sind Sie in Verantwortung: SPD, Grüne und Linke.
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Man muss mal sagen: Es ist ein totales Desaster.
Deswegen am Schluss wieder der Werbeblock. Frau Präsidentin, Sie gestatten: die neuesten Schlagzeilen aus Berlin. Hier zum Beispiel: „Wirtschaft befürchtet neue Hürden beim Bauen“ in der „Berliner Morgenpost“, „Mietendeckel sorgt für Verluste“ und im „Tagesspiegel“ zum Mietendeckel: „Angebot an Wohnungen hat sich halbiert“. Die Folgen des Gesetzes belasten laut einer Studie vor allem Familien. Das ist Ihre Wohnraumpolitik. Und weiter: „Mietendeckel: 30 Prozent weniger Wohnungsangebote“ und „Mietendeckel: Profitieren die Reichen?“.
Kollege Hoffmann, ich bitte, die Zitate in die Redezeit einzubeziehen und zum Schluss zu kommen.
Deswegen: Kehren Sie zurück auf die Ebene der Sachlichkeit!
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Da sind Sie bei uns jederzeit willkommen, aber mit solchen Ideen nicht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Willkomm für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft spricht Die Linke reale Probleme an. Wie so oft zieht sie aber daraus irreale Schlüsse.
Wenn man sich das Versagen der Regierung bei der Beschaffung von Schutzkleidung, das Versagen bei der Beschaffung von Impfstoff, das Versagen bei der Auszahlung von Wirtschaftshilfen, das Rumeiern bei der Aufstellung eines Stufenplans und das Kommunikationsdesaster um die Schnelltests ansieht, dann zweifeln auch die Bürger, was hier eigentlich noch real ist und was nicht.
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Ja, Obdachlosigkeit ist ein soziales Problem. Es trifft die am härtesten, die es in unserer Gesellschaft eh schon schwer haben. Dennoch: Ihre Rezepte sind falsch. Sie schaffen zusätzliche Probleme, statt die anzugehen, die Sie angeblich lösen wollen.
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Wem Obdachlosigkeit droht, dem hilft kein Verbot der Zwangsräumung, sondern die Unterstützung durch das Sozialamt. Das Verbot der Zwangsräumung schadet aber Vermieterinnen und Vermietern; Vermietern, die seit Monaten auf die Zahlung der vereinbarten Miete gewartet haben, gemahnt haben, zum Gericht gehen mussten und sich währenddessen weiterhin um Instandhaltung und den Hausfrieden sorgen mussten. Denen nehmen Sie nun den letzten Ausweg, sich von einem renitenten Mieter zu befreien.
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Sie fordern, dass die Bundesregierung Überbrückungshilfen für Hotels und Pensionen nur dann ausgibt, wenn diese Hotels Zimmer für die Unterbringung von obdachlosen Menschen zur Verfügung stellen. Das ist aus der Sicht besagter Hotels und Pensionen schlicht unverschämt.
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Sie hätten ja fordern können, dass Beherbergungsbetriebe zusätzlich gefördert werden, wenn sie jetzt Wohnungslosen ein Obdach geben. Aber das fordern Sie natürlich nicht. Nein, Sie erschweren Unternehmen, die um ihre Existenz fürchten, noch mal den Zugang zu Überbrückungshilfen, auf die sie schon unter den geltenden Bedingungen seit Monaten vergeblich warten.
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Ich bin mir sicher: Viele Pensionen würden sich freuen, wenn sie das seit Monaten bestehende Verbot, selbstzahlende Gäste aufzunehmen, durch Gäste kompensieren könnten, deren Kosten die Kommunen übernehmen.
Dass wir Schnelltests auch für die Wohnungslosenhilfe brauchen, ebenso wie Hygieneartikel und Schutzausrüstung, ist richtig. Warum diese Kosten der Bund übernehmen soll, erklären Sie nicht. Sie können es auch nicht erklären, denn das ist ja schon längst geregelt und im Wesentlichen Sache der Kommunen.
Vielen Dank.
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Für Die Linke hat nun die Kollegin Lay das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 22 Kältetote allein in diesem Jahr! Seit zehn Jahren sind nicht mehr so viele Menschen auf Deutschlands Straßen erfroren wie in diesem Winter. Das ist doch wirklich skandalös. Das ist eine Schande für ein so reiches Land.
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Fast 50 000 Menschen sind obdachlos und leben auf der Straße, knapp 700 000 haben keine eigene Wohnung; die Tendenz ist steigend. Da dürfen wir nicht länger zuschauen.
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Das Einzige, was diese Regierung in den letzten Jahren hingekriegt hat, ist die Wohnungslosenstatistik. Dass es sie gibt, ist ja auch gut. Herr Witt, wir fordern die hier als Linke übrigens schon über zehn Jahre, und wir fordern auch seit über zehn Jahren ein Konzept gegen Wohnungslosigkeit; das haben Sie nur nicht mitbekommen. Es ist auch gut, dass diese Statistik kommt. Aber dabei können wir doch nicht stehen bleiben; denn vor Kälte und vor Schnee schützt sie eben nicht.
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Deswegen haben wir als Linke diese Debatte heute beantragt und eigene Vorschläge gemacht, und ich wundere mich schon, von welch hohem Ross die Union hier heute redet; denn von Ihnen ist in dieser Frage wirklich noch überhaupt nichts bekommen.
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Wie kann es sein, dass in Wohnungslosigkeit immer noch geräumt wird? Wie kann es sein, dass selbst während der Pandemie Zwangsräumungen stattfinden? Ich habe bei der Regierung mal nachgefragt. Im Jahr 2019 wurden die Wohnungen von 50 000 Menschen zwangsgeräumt, und wir predigen hier „Stay at home“, also „Bleibt zu Hause“. Allein in Hamburg wurden im letzten Jahr 600 Menschen aus ihren Wohnungen geräumt. Das kann doch nicht sein! Das ist doch einfach unverantwortlich!
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Genau deswegen fordern wir als Linke, Zwangsräumungen während der Pandemie auszusetzen, und wir wollen grundsätzlich nicht, dass Menschen in die Wohnungslosigkeit geräumt werden. So geht es nicht!
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Und: Ja, während der Pandemie stehen die meisten Hotels leer. Lassen Sie uns doch wenigstens in der Pandemie Hotels für Wohnungslose öffnen! Die linke Sozialsenatorin in Berlin hat übrigens damit angefangen, und sie bezahlt die Hotels dafür. Damit das auch andere tun, sollte man denjenigen, die sich weigern, tatsächlich sagen: Wenn Coronahilfen in Anspruch genommen werden, dann muss das auch an die Aufnahme von Bedürftigen geknüpft werden.
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Leider stoßen die Kommunen, die das machen wollen – wenn sie beispielsweise Leerstand für Obdachlose öffnen wollen –, immer wieder an rechtliche Grenzen. Deswegen muss der Bund die Beschlagnahmung von Leerstand im Interesse der Bedürftigen erleichtern.
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Mit dieser Forderung stehen wir als Linke nun wahrlich nicht alleine da. Das fordern 13 Straßenzeitungen, 118 000 Menschen haben unterschrieben, und Margot Käßmann hat die Unterschriften übergeben. Und was sagt sie? Es ist eine Frage – Zitat – „der Christenpflicht und Nächstenliebe, Menschen in Einzelunterkünften unterzubringen“. Ihre Worte möchte ich heute insbesondere den christlichen Parteien ans Herz legen.
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Wir brauchen endlich auch einen besseren Kündigungsschutz. Es kann doch nicht sein, dass jemandem, der seinen Rückstand ausgeglichen hat, ordentlich gekündigt wird. Wir hatten kürzlich eine Anhörung im Rechtsausschuss dazu. Da waren sich wirklich alle ernstzunehmenden Expertinnen und Experten einig. Passiert ist seither nichts.
Einen Kündigungsschutz im Lockdown gab es nur im ersten Lockdown, bis zum Sommer. Eine Verlängerung hat die Koalition nicht hinbekommen.
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Das ist peinlich und für die Betroffenen einfach nur noch tragisch.
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Zu guter Letzt: Natürlich brauchen wir einen Neustart beim sozialen Wohnungsbau. Die Anzahl der Sozialwohnungen ist doch auf einem historischen Tiefststand, und Bauminister Seehofer sagte vorgestern bei der Konferenz, wir hätten beim sozialen Wohnungsbau schöne Ergebnisse. Das ist einfach nur noch zynisch.
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Die Wohnungs- und die Obdachlosenhilfe sind systemrelevant, und sie müssen endlich mehr unterstützt werden.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Bayram das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen ist ein Menschenrecht. Keiner kann sich aussuchen, ob er wohnen will oder nicht. Wir alle brauchen ein Dach über dem Kopf.
Gerade in der Pandemie ist es umso wichtiger, dass wir nicht nur darüber nachdenken, ob die Menschen Schutz und Sicherheit vor Kälte und anderem haben, sondern dass wir auch, wenn wir „Stay at home“ sagen – wer zu Hause bleibt, steckt andere nicht an –, denen, die keine Wohnung haben, erst mal ein Home besorgen.
({0})
Das heißt, eigentlich dürfte es Wohnungs- und Obdachlose in der Pandemie gar nicht geben.
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Dass wir uns hier heute wieder darüber austauschen müssen, wo es überall fehlt, liegt daran, dass – das sollten wir als Deutscher Bundestag doch vielleicht mal gemeinsam feststellen – die Kommunen und die Länder es nicht alleine schaffen,
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jetzt in der Pandemie all die Menschen unterzubringen. Und da hilft es auch nicht, dass die FDP hier hineinruft.
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Zum einen haben Sie eine Maske und kein Mikro, sodass man Sie überhaupt nicht hört, und zum anderen haben Sie auch noch unrecht.
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Es kann doch nicht sein, dass Sie von der FDP in der Pandemie immer noch die Immobilienlobby verteidigen wollen.
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Haben Sie denn überhaupt kein Herz? Haben Sie da, wo bei anderen das Herz schlägt, ein Portemonnaie? Ich weiß es nicht.
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Es geht wirklich darum – da appelliere ich an uns alle –, dass wir uns darüber einig sein sollten, das nicht auf die Kommunen – auf die Senatorin in Berlin oder sonst wen – zu schieben,
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und wir sollten uns hier darüber verständigen, dass der Bund nach dem Infektionsschutzgesetz eine Verantwortung dafür hat, die Wohnungslosen unterzubringen. Da sollten wir vielleicht mal reinschreiben: Infektionsschutz heißt, die Menschen von der Straße zu kriegen. – Dann können sie weder infiziert werden noch andere infizieren.
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Wohnen ist ein Menschenrecht. Aktuell haben wir die Situation, dass viele Menschen bedroht sind. Das müssen wir uns mal vorstellen: Einerseits sind wir darauf angewiesen, dass die Menschen zu Hause bleiben, um sich nicht anzustecken; andererseits muss die Polizei in Häuser rein, um Wohnungen zu räumen. Wie absurd ist das denn!
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Das könnten wir hier im Bundestag sofort ändern, und da müssen Sie von der FDP auch nicht rumheulen. Sie müssen dem Antrag der Linken gar nicht zustimmen; Sie könnten mal einen eigenen Antrag schreiben.
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- „Respekt vor Eigentum“ habe ich mehr, als die AfD Respekt vor irgendwas hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dazu gehört auch: Der Respekt vor Eigentum geht nicht vor Menschenleben und Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit. – Dass das bei Ihnen in der AfD keine Rolle spielt, wundert mich jetzt hier auch nicht.
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– Ja, rufen Sie doch weiter rein; dann rede ich weiter.
Das funktioniert jetzt nicht. Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir wollen die Menschen aus der Obdachlosigkeit heraus in Wohnungen, in Hostels oder in sonst was bringen, und dafür, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist hier jeder verantwortlich.
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Das Wort hat Ulli Nissen für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade unter den Coronabedingungen haben wir noch mal festgestellt, wie wichtig die eigene Wohnung – unser Zuhause – ist. Die SDGs, die Nachhaltigkeitsziele 2030, fordern im Ziel 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“. Dazu gehört auch bezahlbares Wohnen; das ist ein elementares Bedürfnis, ein Grundbedürfnis.
Zu Beginn der Coronapandemie haben wir schnell gehandelt. Nennen möchte ich eine wichtige Maßnahme: den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung. – Die Vermögensprüfung ist weitgehend ausgesetzt, die Wohnungskosten – Miete plus Heizung – werden übernommen, ohne dass die Angemessenheit der Wohnung geprüft wird.
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Die Unterbringung von Wohnungslosen ist die Aufgabe der Städte und Gemeinden. Diese stellen sich ihrer Verantwortung; oft werden pragmatische Lösungen gefunden. So werden Engpässe durch Hotels oder Jugendherbergen beseitigt.
Nach nahezu allen Polizei- und Ordnungsgesetzen in den Ländern sind die Gemeinden für Maßnahmen zur Vermeidung oder Beseitigung von Obdachlosigkeit zuständig. Dabei liegt die örtliche Zuständigkeit dort, wo sich der oder die Betroffene gegenwärtig aufhält. Dabei ist es ohne Belang, wo die Betroffenen herkommen oder melderechtlich registriert sind. Ich danke dem Deutschen Städtetag für die Klarstellung.
Besonders wichtig ist uns die Prävention. Menschen dürfen erst gar nicht ihre Wohnung verlieren.
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Dazu gehört eine Verbesserung des Mieterschutzes. Häufig wird Eigenbedarf vorgetäuscht, um das Mietverhältnis zu beenden. Um Missbrauch zu verhindern, müssen wir die gesetzliche Regelung für die Eigenbedarfskündigung schärfen und den Missbrauch stärker ahnden.
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Mietrückstände sind schon angesprochen; dem Gesagten stimme ich zu. Gut, dass wir als Koalition die Möglichkeit der Umlage der Modernisierungskosten auf die Miete deutlich eingeschränkt haben. Wir wollen da mehr. Es sollte nur noch möglich sein, warmmietenneutral zu erhöhen. Also: Wenn ich eine Heizkostenersparnis von 50 Euro habe, kann die Miete auch nur um 50 Euro erhöht werden.
Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen muss deutlich erschwert werden.
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Wir brauchen den § 250 des Baulandmobilisierungsgesetzes. Dort ist eine deutliche Erschwerung der Umwandlung vorgesehen. In Frankfurt
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erlebe ich, wie die Firmen Häuser aufkaufen und dann mit schäbigen Methoden versuchen, die Menschen aus ihren Wohnungen zu vertreiben.
Dafür ist die Frankfurter Firma WPS ein Beispiel.
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Sie stellen unter anderem völlig überzogene Mieterhöhungsforderungen, bauen Haustürschlösser aus, sodass jeder ins Haus kann. Fenster im Hausflur werden ausgebaut und monatelang nicht erneuert. Viele ziehen aus, weil sie die Schikanen nicht mehr ertragen. WPS droht mir jetzt mit rechtlichen Schritten, weil ich die Mieter/-innen unterstütze. Klare Ansage an die WPS: Mein Motto ist „Stark für die Schwachen, laut für die Leisen“.
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Ich lasse mich nicht mundtot machen!
Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU: Lassen Sie uns gemeinsam die Situation für die Mieter/-innen verbessern. Lassen Sie uns alles dafür tun, dass die Menschen ihre Wohnung – ihre Heimat – nicht verlieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Wilfried Oellers das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte hat mich jetzt schon etwas irritiert, insbesondere nachdem ich den Titel der Debatte gelesen hatte: Man will über Obdachlosigkeit und Mieterschutz in Coronazeiten diskutieren. – Ich stelle allerdings fest, dass wir eine Grundsatzdebatte führen, bei der die wenigsten Redner das Wort „Corona“ in den Mund genommen haben.
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Dabei soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass gerade für uns das Thema Obdachlosigkeit ein ganz besonders wichtiges gesellschaftliches, politisches Thema ist. Ich will ganz zu Beginn auch deutlich in Abrede stellen, dass die CDU/CSU-Fraktion dieses Thema nicht beachtet und überhaupt nicht ernst nimmt; genau das Gegenteil ist der Fall. Das möchte ich hier, an dieser Stelle, ausdrücklich betonen.
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Vorweg vielleicht auch noch mal zur Zuständigkeitsfrage, weil auch Frau Bayram diese angesprochen hat. Wir haben es in Deutschland so geregelt, dass die Länder und die Kommunen zuständig sind: die Länder für den sozialen Wohnungsbau, die Kommunen für die Unterbringung der Obdachlosen. Weil Sie behauptet haben, wir müssten es hier im Bund entscheiden, will ich noch mal ganz besonders betonen: Erst 2018 haben wir die Alleinzuständigkeit den Ländern übertragen, und zwar deswegen, weil sie es gewünscht haben.
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Zusätzlich haben wir auch noch 2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Damit müssten die Länder eigentlich auskommen und ihre Verantwortung wahrnehmen.
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Mein Kollege Hoffmann hat ja schon das Beispiel Berlin genannt. Daran sollten Sie sich vielleicht mal ein Beispiel nehmen, wie man es gerade nicht macht. Schauen Sie sich lieber andere Beispiele an, wie man es besser macht.
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Kollege Oellers, ich habe die Uhr angehalten. Es gibt gleich zwei Wünsche zu Fragen und Bemerkungen: einmal von der Kollegin Bayram und einmal von der Kollegin Lay.
Nein. Danke schön. – Ich will in Bezug auf die Coronapandemie betonen – die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sind angesprochen worden –, dass diese ausdrücklich noch in die Coronavirus-Testverordnung Ende Januar aufgenommen worden sind. Man hat das Thema Corona gerade bei Obdachlosen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe eben nicht außer Acht gelassen.
({0})
Dann kommen in Form von Anträgen die ganzen Themen zur Sprache, die eine Antwort auf die Frage geben sollen, wie man die Probleme lösen kann. Da sind wir natürlich wieder mal mitten im Sozialismus angekommen. Statt zu sagen, man will an Eigentümer, die leerstehende Wohnungen haben, herantreten und diese Wohnungen beschlagnahmen, wäre es vielleicht mal ein Ansatz, dass die zuständigen Stellen an den Eigentümer herantreten und anfragen, ob man diese anmieten kann. Gleiches gilt entsprechend für den Vorschlag bezüglich der Hotels, nämlich dass man sagt: Die leerstehenden Hotels sollen in Anspruch genommen werden. – Statt immer sofort zu fordern, etwas zu beschlagnahmen, und staatliche Eingriffe vorzunehmen, wäre vielleicht das normale marktwirtschaftliche System richtig: Man fragt einfach mal an. – Das gehört zu einer sozialen Marktwirtschaft genauso dazu.
({1})
Zur Frage des Wohnraums. Was haben wir nicht alles für Maßnahmen ergriffen, um Wohnraum zu schaffen! Ich habe gerade schon die 2 Milliarden Euro erwähnt, die die Länder zusätzlich haben, um sozialen Wohnraum zu schaffen.
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– Ja, Wohnungseigentum schaffen, ist nicht Ihr Thema; das weiß ich. – Das Baukindergeld dient auch dazu, Wohnraum zu schaffen, gerade für Familien mit Kindern. Genauso zielt das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Mietwohnungsneubauten darauf ab, mehr Wohnraum zu schaffen. Deswegen sind das genau die richtigen Instrumente, um im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft anzusetzen.
Zum Kündigungsmoratorium, wie es im letzten Jahr der Fall war – die Grünen haben die Verlängerung dieses Moratoriums beantragt –, muss man ganz deutlich sagen, dass die pandemiebedingten Kündigungen ja gerade nicht vorliegen, so wie es die öffentliche Anhörung bestätigt hat.
Ich möchte noch ein ganz wichtiges Projekt zur Vermeidung von Obdachlosigkeit ansprechen – Obdachlosigkeit ist oft ein Teufelskreislauf –: das Projekt „Housing First“. Die Obdachlosen haben das Problem, dass sie auf der einen Seite keine Unterkunft haben und damit keine Leistungen bekommen und dass sie auf der anderen Seite keine Leistungen bekommen, weil sie keine Unterkunft haben.
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So dreht es sich immer wieder im Kreis. Deshalb muss man sagen: Housing First, genau das ist der richtige Ansatz. Das Projekt wird hier in Berlin vorangetrieben, in Nordrhein-Westfalen genauso. Das sind Ansätze, wie wir das Problem angehen müssen. Ich würde mich freuen, wenn dies auf Länderebene weiter unterstützt wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Bayram das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Der Kollege hat mich angesprochen und mir erklärt, dass die Union 2018 irgendwas zum Thema Obdachlosigkeit gemacht haben will. Da wollte ich ihn fragen, ob er mitbekommen hat, dass wir eine Pandemie haben und ob er erkennt, dass die Tatsache, dass Menschen keine Wohnung haben, dass sie obdachlos, wohnungslos sind, dazu führen kann, dass sie sich schneller und leichter mit Corona anstecken und dass sie, wenn sie angesteckt sind und auf der Straße sind, wiederum andere Menschen anstecken können. Deswegen wäre es infektionsschutzrechtlich relevant, diese Menschen entsprechend unterzubringen – ob in Hostels, in Wohnungen, in was auch immer –, damit wir den Infektionsschutz gewährleisten können. Die Verantwortung von uns allen ist, das mitzudenken. Das habe ich in meiner Rede angesprochen, und Sie kommen da in Ihrer Rede irgendwie mit 2018.
Die Geltungsdauer des Kündigungsschutzes – das haben Sie auch falsch wiedergegeben – haben Sie kein einziges Mal verlängert. Das Moratorium wurde einmal entschieden und nicht verlängert. Sie reden irgendwas von Verlängerung.
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– Die SPD ruft hier rein: Wir wollten verlängern, die CDU wollte es nicht.
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Ich denke, wann man da vorne eine Rede hält, dann sollte die inhaltlich nicht falsch sein.
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– Herr Hoffmann, man hört Sie nicht. Sie haben eine Maske auf. Sie haben kein Mikro.
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Ich sage Ihnen auch: Ehrlich gesagt, wenn Sie zur Unterbringung und zum Schutz der wohnungs- und obdachlosen Menschen vor Corona eine Idee hätten, dann bräuchten Sie meinen Fraktionsvorsitzenden Toni Hofreiter auch nicht falsch zu zitieren. Wie ahnungslos, wie erbärmlich, ideenlos ist eigentlich Ihre Wohnungspolitik!
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Kollege Oellers, Sie können jetzt erwidern; Sie können aber auch auf die zweite und letzte Kurzintervention, die ich noch zulasse, erwidern und haben dann natürlich die doppelte Zeit, sofern das notwendig ist. – Dann hat Frau Lay das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Herr Kollege Oellers hat in Bezug auf den sozialen Wohnungsbau leider die Unwahrheit gesprochen, und das zeugt leider auch von einer völligen Unkenntnis der Materie. Die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau ist eben nicht 2018 an die Länder gegangen. Im Gegenteil: 2006 wurde die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau vom Bund an die Länder übertragen, mit Stimmen der GroKo gegen die Stimmen der Linken, und 2018 haben wir das ein Stück weit wieder rückgängig gemacht und die gemeinsame Verantwortung wiederhergestellt, wir alle, außer die AfD.
Meine Kritik ist, dass seither nicht viel passiert ist und das notwendige Geld nicht geflossen ist und auch die Gesetzeslage nicht geändert wurde. Das Ergebnis von diesem Versäumnis ist, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode 160 000 Sozialwohnungen weniger haben werden als zu Beginn der Legislaturperiode. Das ist doch das Problem, und das ist auch das Versäumnis dieser Regierung.
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Sie haben das Wort zur Erwiderung, Herr Oellers.
Vielen Dank. – Zunächst, Frau Kollegin Lay, korrigiere ich mich in Bezug auf 2018. Sie haben recht: Das war 2006. Aber 2018 hat der Bund den Ländern 2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt. Man kann ja vielleicht mal in Berlin nachfragen, was mit dem Geld für den sozialen Wohnungsbau passiert ist.
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Deswegen hat der Bund an dieser Stelle seiner Verantwortung, die Länder ausreichend finanziell auszustatten, damit sie den sozialen Wohnungsbau vorantreiben, ganz bestimmt Genüge getan.
Frau Bayram, vieles war ja jetzt eine Klarstellung Ihrerseits zum Mieterschutz und zur Verlängerung des Kündigungsschutzes. Es war richtig, den nicht über die Sommermonate hinaus zu verlängern, da die Situation pandemisch bedingt für die Mieter nicht mehr so prekär war, dass man Kündigungsrecht außer Kraft setzen könnte. Die Anhörung hat ja gerade bewiesen, dass es keinen pandemiebedingten Anstieg bei den Kündigungen gibt.
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Von daher ist das dann auch kein Instrument, das man verlängern muss.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Linksextremismus ist nach wie vor eine Gefahr für unser Land, und leider ist er ein Problem, das nicht kleiner, sondern größer wird. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: 2018 haben wir 6 449 Straftaten im Phänomenbereich Linksextremismus registriert; 2019 waren es bereits 9 849. Besonders beunruhigend ist, dass insbesondere die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten steigt. Während wir 2019 noch 423 Gewalttaten registriert haben, waren es im Jahr 2020 schon über 1 300, und besonders beunruhigend ist, dass 355 davon der Körperverletzung zuzuzählen sind.
Sprachrohr und Hauptorganisationsplattform der Linksextremisten in Deutschland ist die Internetseite Indymedia. Regelmäßig findet man dort Gewaltaufrufe, Bekennerschreiben, übelste Beleidigungen und Drohungen. Auch Feindeslisten findet man dort. Wie schnell aus solchen Feindeslisten bittere Realität werden kann, zeigt der Fall Walter Lübcke. Dennoch fällt es schwer, diese Seite eindeutig zu ächten. Im Gegensatz zu manch einer rechtsextremen Seite wird im Fall von Indymedia oft relativiert oder sogar heruntergespielt, wenn es darum geht, klar zu benennen, was diese Seite ist: eine linksextreme Plattform.
Meine Damen und Herren, so kann das nicht weitergehen. Gewalt bleibt Gewalt, und egal aus welcher Richtung sie kommt, sie muss immer konsequent verurteilt werden.
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Deshalb ist es richtig, dass das Bundesinnenministerium bereits 2017 den Vorgänger der jetzigen Indymedia-Seite – linksunten.indymedia.org – verboten hat. Die Betreiber der damaligen Seite haben dagegen beim Bundesverwaltungsgericht geklagt, und die Klage wurde erfreulicherweise im Januar 2020 abgewiesen. Das Urteil begrüße ich sehr.
Allerdings gibt es auch Menschen in diesem Haus, Abgeordnete, die das ganz anders sehen. Ich möchte die Kollegin Doris Achelwilm von der Fraktion Die Linke zitieren; sie äußerte sich in einer Pressemitteilung im Januar 2020 wie folgt:
Nüchtern betrachtet ist das Verbot ein unverhältnismäßiger Verstoß gegen die Grundrechte und ein Vorstoß autoritärer Machtpolitik.
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– Sie applaudieren auch noch. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer das Urteil von unabhängigen deutschen Gerichten als einen Vorstoß autoritärer Machtpolitik bezeichnet, der sollte seine Einstellung zur FdGO dringend überprüfen.
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Nun zu Ihnen, liebe AfD, zu Ihrem Antrag. Es gibt keinen Zweifel daran – das sagte ich bereits –, dass Indymedia eine linksextreme Plattform ist. Schmähungen gegenüber unserer Polizei und Drohungen sind absolut inakzeptabel. Genau aus diesem Grund beobachtet der Verfassungsschutz bereits seit 2020 die Plattform als Verdachtsfall. Der volle Instrumentenkoffer des Verfassungsschutzes steht zur Verfügung, und er kommt zum Einsatz. Was es bedeutet, ein Verdachtsfall zu sein, brauche ich Ihrer Fraktion ja nicht zu erklären.
Nun fordern Sie in Ihrem Antrag den Verbot des Vereins hinter der Seite, und Sie fordern das Abschalten der Seite. Ja, als ob das so einfach wäre: Wir schalten die Seite ab, und das Problem ist gelöst. – Manch einer hier im Haus hätte sich gewünscht, dass es 2016 nach dem Abschalten der rechtsextremen Plattform Altermedia genauso gewesen wäre; aber so ist es nun mal nicht. Linksextremisten sind längst nicht so dumm, für wie manche hier in diesem Haus sie halten. Sie haben natürlich schon Ausweichplattformen gegründet; die Server stehen im Ausland, und oft sind die Inhalte kopiert. Hinzu kommt: Wenn wir ein Verbot machen wollen, dann machen wir das und kündigen es nicht vorher an, meine Damen und Herren.
Aber den wichtigsten Grund, warum man Ihren Antrag eigentlich nicht ernst nehmen kann, liefern Sie selbst. Sie sagen auf Seite 3: „Aufgrund der Anonymität des Netzwerks bleiben die personellen Konstellationen im Dunkel.“ Konkret heißt das: Wo es keinen Verein gibt, kann man auch keinen Verein verbieten.
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Warum also dieser Antrag?
Generell – das muss ich sagen – liest sich Ihr Antrag leider so, als ob einer Ihrer Referenten in der Mittagspause sein Brötchenpapier genommen hat und darauf ein Best-of von Indymedia-Zitaten gekritzelt hat.
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Das reicht vielleicht für den politischen Aschermittwoch, aber nicht für eine Debatte hier im Deutschen Bundestag.
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Und dass Sie daraus auch noch eine namentliche Abstimmung ableiten, das ist nicht nur mutig, sondern auch dreist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen keine Schaufensteranträge der AfD, um den Linksextremismus zu bekämpfen. Das macht man nämlich nicht mit Ankündigungen, sondern mit konkreten Taten, und da können Sie uns vertrauen.
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Sehr geehrte Kollegen der AfD, deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir wollen Indymedia verbieten, den Verein und seine Webseite und das Logo. Es stellt sich allein die Frage: Warum ist das noch nicht passiert? Denn, wie Sie gerade richtig gesagt haben, Herr Bernstiel, der Vorgängerverein hieß linksunten.indymedia, und er ist verboten, und er konnte auch verboten werden, anders als Sie gerade insinuiert haben.
Er ist verboten worden, weil er zu Gewalt aufrief und weil er Selbstbezichtigungsschreiben zu linksextremen, schwersten Gewalttaten veröffentlichte – genau das Gleiche, was jetzt Indymedia tut, das Identische. Indymedia mobilisiert gewaltbereite Linksextremisten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, und der Verfassungsschutz stellt fest: Die Linksextremen nehmen bei Angriffen schwerste bis tödliche Verletzungen von Polizeibeamten billigend in Kauf.
Indymedia geht es nicht um die Menschheit, Gerechtigkeit oder die Umwelt.
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Die wollen schlagen, treten und plündern. Sie wollen demütigen, einschüchtern und bedrohen, anzünden, abfackeln und zerstören. Die wollen Terror, und sie wollen töten. Und das sagen sie selbst. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin von Indymedia selbst: „Nennt uns terroristisch und kriminell …“ Und an anderer Stelle schreiben sie: „Es gibt genug Möglichkeiten sich zu bewaffnen. So gibt es im Internet ausreichend Anleitungen zum Herstellen von Sprengmittel … Damit können wir deren Personal … töten.“ Wo, Herr Bernstiel, ist das jetzt relativiert? Man weiß nicht genau, was man machen kann? Nein, sie wollen töten, und sie schreiben es.
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Wir stellen uns eine gedankliche Sekunde vor, das käme von Rechtsextremisten.
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In der nächsten Sekunde wäre die Seite verboten. Gott sei Dank wäre sie verboten.
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Es gibt in Deutschland links- und rechtsextremen Terrorismus; aber es gibt zwischen beiden einen zentralen Unterschied: Es gibt, Gott sei Dank, einen massiven Verfolgungsdruck gegen Rechtsterrorismus, der diesen auch jetzt in den Untergrund verdrängt hat.
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Und: Der Rechtsterrorismus geht von Einzeltätern und Kleingruppen aus. Es gibt dagegen so gut wie keinen Verfolgungsdruck gegen Linksterroristen. Der geschieht nicht. Die agieren nicht heimlich, nicht versteckt, nicht im Untergrund, und das sind nicht nur eine Handvoll gefährliche Einzeltäter.
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Die Linksterroristen können ganz offen und ungeniert öffentlich werben, mobilisieren, organisieren und zur Gewalt aufrufen auf der Plattform Indymedia. Ich darf noch einmal zitieren: „Es gibt genug Möglichkeiten sich zu bewaffnen“ und „... Anleitungen zum Herstellen von Sprengmittel.“ „Damit können wir deren Personal ... töten.“ „Nennt uns terroristisch …“ – Warum sind die noch online?
Für die allermeisten hier ist linke Gewalt immer moralisch irgendwie gute Gewalt, auf jeden Fall bessere Gewalt. Linke stören sich an rechten Meinungen, nicht an linker Gewalt. Wenn ein AfD-Politiker die Flüchtlingspolitik kritisiert, dann ist das aus linker Sicht ein Verbrechen. Wenn ihm anschließend ein Linker dafür das Auto anzündet oder ihn ins Krankenhaus prügelt, wie meinen Kollegen Stephan Schwarz soeben in Baden-Württemberg, dann ist das aus linker Sicht irgendwie konsequent, halt gute Gewalt. Die Sympathisanten dieser linken Gewalt sitzen überall, in den Redaktionsstuben,
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in den Universitäten, in den Umweltverbänden, in den Gewerkschaften, in den NGOs und, ja,
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auch hier im Deutschen Bundestag und in der Regierung.
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Die gesamte linke Seite und auch große Teile der Mitte hier gehören dazu. Deshalb tut Bundesinnenminister Seehofer das, was er am besten kann, nämlich nichts.
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Ich sage für diese Debatte voraus: Sie werden maximal ein kurzes pflichtschuldiges Lippenbekenntnis zu linksextremer Gewalt auf Indymedia aufsagen, einen halben Satz vielleicht. Dann werden Sie, insbesondere Sie von der Linken, den gesamten Rest Ihrer Redezeit darauf verwenden, gegen die AfD zu hetzen. Sie werden mit Ihrem ganzen Hass und Hetze schwadronieren, aber Sie werden die Gewalt gegen die AfD oder linke Gewalt nicht angemessen verurteilen, weil Indymedia und seine Gewalttäter Ihre willigen Vollstrecker sind, Ihr langer Arm, vor allem jetzt im Wahlkampf, um einen politischen Gegner mundtot zu machen und den schärfsten Konkurrenten aus dem Feld zu drängen.
Ganz aktuell: Indymedia mobilisiert und organisiert gerade gegen unseren Parteitag in Berlin in drei Wochen unter der Überschrift „AfD-Parteitag zu Brei stampfen!“. Die Opposition soll plattgemacht werden. Das passt Ihnen einfach hier in Ihr Konzept. Deswegen legen Sie Ihre Bluthunde von Indymedia nicht an die Kette. Oder doch?
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Ich lasse mich gern von Ihnen jetzt widerlegen. Kommen Sie hier nach vorne. Stimmen Sie unserem Antrag zu, und ziehen Sie Indymedia den Stecker.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Susann Rüthrich für die SPD-Fraktion.
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Also manche graben ja hier echt einen Tunnel, um das Niveau immer noch ein Stück weiter zu senken.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. Haben die Antragstellenden eigentlich nicht aufgepasst, als ihre Eltern versucht haben, ihnen das beizubringen?
Sie wollen also Indymedia verbieten. Was nervt Sie denn eigentlich so an dieser Seite?
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Dass da in Teilen tatsächlich sehr kritikwürdige Inhalte veröffentlicht werden, weswegen die ursprüngliche Seite ja auch abgeschaltet wurde?
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Oder ärgert Sie vielmehr, dass da jemand ist, der Ihnen auf die Finger schaut,
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der zu Ihnen und Ihresgleichen recherchiert,
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der Netzwerke aufdeckt, die Sie nur zu gerne verbergen wollen?
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Kollegin Rüthrich.
Nein. – Ärgert Sie, dass da jemand ist, der Ihre rechtsextremen Neigungen öffentlich macht?
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Also, erst mal ein Hinweis: Ich kann die Kollegin gar nicht fragen, ob sie eine Frage oder Bemerkung zulässt, weil sie meine Frage bei dieser Lautstärke einfach nicht hören kann.
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Sie lassen diese nicht zu, ja?
Ich glaube, die AfD hat hier ausreichend Redezeit. Von mir kriegt sie keine.
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Also: Sie zitieren in Ihrem Antrag und auch jetzt gerade am Pult recht ausgewählt. Ihr Antrag hat mich dazu gebracht, noch mal auf die Seite, die Sie kritisieren, zu schauen. Was finden wir da?
AfD stellt militanten Neonazi und Weggefährten von Stephan Ernst, dem Mörder von Herrn Lübcke, zur Kommunalwahl auf.
Der wegen seiner rechtsextremen Vergangenheit aus der AfD geworfene Andreas Kalbitz wird munter weiter auf AfD-Veranstaltungen als Redner eingeladen, berichtet Indymedia.
({1})
AfD-Landtagsabgeordneter als Redner bei einer Kundgebung, die durch Sicherheitsbehörden als rechtsextremistische Veranstaltung eingestuft wird.
Oder ein Bericht über einen AfD-Landtagsabgeordneten, der eine durch die Polizei aufgelöste rechtsextreme Himmelfahrtsparty relativiert. Viele Teilnehmende sind uns bekannt als frühere Mitglieder der Skinheads Sächsische Schweiz.
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Es wird wegen Landfriedensbruch ermittelt. Waffen und Drogen werden sichergestellt.
Und derselbe Abgeordnete bot außerdem noch einer gewaltbereiten Gruppe Unterstützung an, die in Griechenland auf Geflüchtete losgehen wollte. Das ist auf Indymedia zu lesen.
Oder auch: „Schwindel-Briefe von der AfD“.
Ein mit antisemitischen Tönen auffällig Gewordener wird AfD-Berater in der Landtagsfraktion usw.
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Ja, die Mittel und Inhalte auf Indymedia sind nicht immer, oft nicht sauber.
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Deshalb steht Indymedia ja im Verfassungsschutzbericht. Genau das droht Ihnen ja selbst auch. In Teilen leisten Sie denen, die Sie kritisieren, ja schon jetzt Gesellschaft. Indymedia schreibt eben auch über Sie und über Neonazis und über Rechtsextreme und über Ihre Verbindungen untereinander. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist klar.
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Dass ausgerechnet Sie sich hier jetzt aber als die Saubermänner aufspielen, das spottet jeder Beschreibung.
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Die Innenminister und Verfassungsschutzämter sind bereits aktiv. Ausgerechnet von Ihnen braucht da keiner Nachhilfe.
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Daher lehnen wir Ihren Antrag aus voller Überzeugung ab.
Was wir aber stattdessen tun: die Demokratie mit den vielen Engagierten in Vereinen, Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften stärken. „Demokratie leben!“, unser Förderprogramm für die Zivilgesellschaft, ist glücklicherweise so umfangreich wie noch nie zuvor. Am Gesetz zur wehrhaften Demokratie arbeiten wir; denn damit erkennen wir die Demokratieförderung endlich als Daueraufgabe für alle Ebenen an.
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Das ist das nötige Versprechen. Wir stehen an der Seite all derer, die den Angriffen auf unsere demokratische und offene Gesellschaft Tag für Tag die Stirn bieten.
Vielen Dank.
({9})
Frau Präsidentin, vielen Dank für die Erteilung des Wortes. – Frau Rüthrich, Sie haben hier in einer Art und Weise Linksextremismus relativiert und verharmlost – das ist einer Vertreterin des Hohen Hauses unwürdig.
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Frau Rüthrich, Sie haben gefragt: Was stört Sie an dieser Seite? – Ich werde Ihnen jetzt zwei Zitate bringen. Zitat eins, auf dieser Seite veröffentlicht:
ein aufgesetzter schuss aus einer Gaspistole auf einen nazi am kopf oder am herz ist sofort tödlich. da braucht es keine umstände um legal oder nicht an eine scharfe Pistole ranzukommen.
Das zweite Zitat bezieht sich auf Polizeibeamte:
Die durch die Stadt streifenden Schweine sind für uns nichts weiter als verachtenswerte Subjekte, denen wir, so lange wir die Mittel und Selbstbestimmtheit dazu haben, ihre Streifenfahrt zur Gefahr werden lassen …
Das steht auf dieser Seite, und das haben Sie gerade eben verteidigt.
Schämen Sie sich!
({1})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
({0})
Ich habe nichts verteidigt; ich habe lediglich zitiert, was auf dieser Seite ebenfalls steht. Sie mit Ihrem Antrag haben mich leider dazu genötigt, diese Seite, die mir ausgesprochen nicht gefällt,
({0})
noch mal zitieren zu müssen. Ich suche mir meine Zitate aus, die ich hier vortrage.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 25. November 2019 legten unbekannte Täter am Gebäude der Ausländerbehörde in Göttingen Feuer. Der Brand breitete sich relativ schnell in dem Gebäude aus. Er führte dazu, dass weite Teile des Gebäudes bis heute nicht zu gebrauchen sind. Im Zusammenhang mit der Tat tauchte ein Bekennerschreiben auf der Plattform Indymedia auf, wo ganz offen mit Gewalt gegen die Beschäftigten der Göttinger Ausländerbehörde gedroht wurde. Ich will einen Satz zitieren, der sich mir eingebrannt hat, weil ich mit den Beschäftigten der Ausländerbehörde an der Solidaritätskundgebung teilgenommen habe. Dort wurde gesagt: „Kündigt lieber eure Jobs!“ – „Kündigt lieber eure Jobs!“ – Die Beschäftigten der Göttinger Ausländerbehörde machen sich teilweise Sorgen um ihre körperliche Unversehrtheit. Deswegen sollten linksextreme Straftaten hier aus dem gesamten Haus verurteilt werden als Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
({0})
Liebe Frau Rüthrich, dass Sie hier dazu nicht klar Stellung bezogen haben und dass bei dem, was ich jetzt gesagt habe, es gerade mal zwei Sozialdemokraten hinbekommen, zu klatschen, finde ich wirklich erbärmlich.
({1})
Warum begreifen Sie nicht, dass linksextreme Gewalt auch – auch! – von der politischen Linken bekämpft werden muss? Sie muss aus der politischen Mitte, aber auch von der politischen Linken bekämpft werden. Dass Sie das hier nicht hinbekommen, finde ich wirklich unerhört.
({2})
– Ich würde gerne in meinem Vortrag fortfahren.
Natürlich steht die Tat in Göttingen in einem Zusammenhang mit den Angriffen auf Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die durch Linksextremisten immer wieder durchgeführt werden. Natürlich kann uns das nicht kaltlassen, wenn – wie der Kollege gesagt hat – im Jahre 2019 festgestellt wurde, dass linksextreme Straftaten im Vergleich zu 2018 um 40 Prozent gestiegen sind. Deswegen ist es natürlich richtig, dass eine Plattform wie Indymedia ein Verdachtsfall des Verfassungsschutzes ist. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen.
Aber: Ein Verbot, ein erneutes Verbot von Indymedia ist mit erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden. Das haben wir ja beim ersten Indymedia-Verbot gesehen, das bis zum Verwaltungsgericht gegangen ist, das jetzt beim Bundesverfassungsgericht liegt; denn da wird gemischt: gefährliche Gewaltaufrufe, die Relativierung linksextremer Gewalt mit Aufrufen, die von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Deswegen muss man sich gut überlegen, ob man eine solche Internetseite verbietet, damit nicht am Ende eine Opferrolle entsteht, die Linksextremisten noch stärker macht. Dass es schwierig ist, eine Partei als Verdachtsfall einzustufen, dass es schwierig ist, einen Verein zu verbieten, dass es schwierig ist, solche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, zeigt gerade der Antragsteller. Die AfD wehrt sich gerade mit Händen und Füßen dagegen, vor Gericht, vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft zu werden.
({3})
Was wir nicht gebrauchen können bei der Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sind eine linksextreme Internetseite, die sich als Märtyrer darstellt, oder eine rechtsextreme Partei, die sich als Märtyrer darstellt.
({4})
Beides können wir nicht gebrauchen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss aus der Mitte verteidigt werden. Wenn der politische Arm des Rechtsterrorismus einen Antrag gegen Linksextremismus stellt, dann lässt uns das relativ kalt. Wir bleiben dabei, politisch gegen Linksextremismus vorzugehen. Wir lehnen Ihren Antrag ab und stärken die politische Mitte.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss schon sagen: Die AfD hat nicht mal verstanden, dass Indymedia gar kein Verein im Sinne des Vereinsgesetzes ist.
({0})
Deswegen kann man sie auch nicht verbieten.
({1})
Wenn ich mir heute Ihre Show angucke, die leider vom Kollegen Kuhle im Grunde genommen begrüßt wird, dieses antiparlamentarische Verhalten, das man hier zur Kenntnis nehmen muss – es werden Fake News einfach mal vorgetragen, es wird ein Showantrag eingebracht, und es wird ein Aktionismus mit namentlicher Abstimmung betrieben; wir sehen ja, wie Sie heute hier aufgestellt sind –, dann kann man das wirklich nur noch antiparlamentarisch nennen, und das verurteilen wir aufs Schärfste.
({2})
Meine Damen und Herren, weil jeder anonym auf Indymedia – –
({3})
– Ich kann auch warten, bis Sie sich wieder beruhigt haben.
({4})
Also, derzeit hat überwiegend die Kollegin Jelpke das Wort, auch wenn natürlich Zwischenrufe und Bemerkungen zur parlamentarischen Debatte gehören.
({0})
Sie wollen doch gar keine Debatte; das zeigen Sie doch gerade.
({0})
Weil jeder anonym auf Indymedia veröffentlichen kann, findet sich dort leider auch viel Müll – zweifellos –, und manche Beiträge sind mehr als grenzwertig.
({1})
Das ist aber der Preis des Indymedia-Prinzips. Indymedia ist nämlich Ende der 1990er gegründet worden im Gefolge der Antiglobalisierungsproteste. Ziel war es damals, jenseits des Mainstreams ein Medium zu schaffen, eine Plattform für aktivistischen Journalismus und alternative Berichterstattung.
({2})
Meine Damen und Herren, wer sich die Seite mal anguckt – und ganz offensichtlich tun das ja einige –, stellt fest, dass man dort Berichte über Aktivitäten und Demonstrationen lesen kann, die man in normalen Medien nicht zu sehen bekommt.
({3})
Man findet auch Berichte über Polizeigewalt und Gewalt von Rechten, die man ebenfalls totgeschwiegen hat.
Indymedia ist auch eine wichtige Plattform für Enthüllungen antifaschistischer Recherche
({4})
über die rechtsextreme Szene.
({5})
Dass die AfD diese Plattform verbieten möchte, ist nicht verwunderlich – getroffene Hunde bellen bekanntlich.
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Meine Damen und Herren, ein publizistisches Forum ist auch dann von der Pressefreiheit gedeckt –
({7})
und da möchte ich an Herrn Bernstiel anknüpfen –, wenn die Autoren dort innerhalb gewisser Grenzen weitgehende Freiheiten haben. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2005 klargestellt. Es bedürfe besonderer Anhaltspunkte, um von einzelnen Beiträgen auf Verfassungsfeindlichkeit des gesamten Mediums zu schließen. Die Nennung solcher Medien im Verfassungsschutzbericht nannte das Gericht daher eine unzulässige Einschränkung der Pressefreiheit.
({8})
Darum fordern wir auch, dass Indymedia nicht weiter vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Ich meine: Dafür, dass hier so viele Rechercheberichte über Ihre Verbrechen
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mit der rechten Szene und Ihre Bündnisse mit Neonazis veröffentlicht werden, kann man hier wirklich nur Danke sagen.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Dr. Irene Mihalic das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In einem demokratischen Rechtsstaat zählt die Pressefreiheit zu den höchsten Gütern, und auch unangenehme und teilweise unerträgliche Inhalte sind von der Pressefreiheit gedeckt.
({0})
Allerdings gibt es klare Grenzen. Diese werden eindeutig überschritten, wenn, wie auf Indymedia, zu Gewalt und zum Systemsturz aufgerufen wird oder es sogar Solidarisierungen mit Terrorismus gibt.
({1})
Verfassungsfeindliche und strafrechtlich relevante Inhalte, meine Damen und Herren, müssen konsequent verfolgt und aus dem Netz genommen werden.
Das Vereinsverbot von linksunten.indymedia aus 2017 hat da aber nichts genützt, wie wir heute wissen; denn es war ganz offensichtlich nicht der richtige Weg, wenn weiterhin Gewaltaufrufe, vor allem gegen Polizistinnen und Polizisten, auf der Nachfolgeseite veröffentlicht werden. Aber diese Erfahrung scheint der AfD völlig egal zu sein; denn Sie fordern in Ihrem Antrag heute genau das Gleiche.
({2})
Das Ziel dahinter ist meiner Ansicht nach vollkommen klar: Sie möchten eben in bekannt plakativer Art und Weise von der massiven Bedrohung durch den Rechtsextremismus ablenken, meine Damen und Herren.
({3})
Von der Demokratie und vom Rechtsstaat haben Sie ja sowieso nur ein instrumentelles Verständnis, so nach dem Motto: Wir nehmen das, was uns gerade in den Kram passt. – In diesem Fall machen Sie halt mal schnell einen Schaufensterantrag zum Linksextremismus. Nein, meine Damen und Herren, was Sie hier machen, hat mit parlamentarischen Verfahren in einer Demokratie nichts zu tun.
({4})
Und überhaupt: Dass die AfD in der Woche nach dem Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau
({5})
diesen Antrag hier auf die Tagesordnung setzt, sich aber nicht einmal mit dem ausufernden Hass und den Gewaltaufrufen in rechtsextremen Medien befasst, ist bezeichnend.
Frau von Storch, schauen Sie mal in Ihre eigenen Reihen und sagen Sie doch mal was dazu, was Ihr Freund und Chefredakteur des neurechten „COMPACT-Magazins“ nach dem Angriff auf das Kapitol geschrieben hat. Die rechtsextremen Gewalttäter aus Washington nannte er großartige Patrioten,
({6})
und er formulierte Pläne, wie man generalstabsmäßig die Erstürmung eines Parlaments zur Initiierung einer Revolution organisieren könnte. Diese offene Solidarisierung mit einem Angriff auf die Institutionen der Demokratie ist brandgefährlich.
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Doch dazu äußern Sie sich mit keiner einzigen Silbe; denn Sie leben genau von dieser Hetze und diesen Aufrufen zu Gewalt. Deshalb ist Ihr Antrag auch so scheinheilig und durchschaubar.
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Es ist vollkommen klar: Gegen die Verbreitung strafrechtlich relevanter Inhalte im Netz muss mit rechtsstaatlichen Mitteln konsequent vorgegangen werden, völlig egal, wie die Website damals hieß oder heute heißt. Ablenkungsmanöver wie diesen Antrag von der AfD brauchen wir dazu ganz sicher nicht.
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Das Wort hat der Kollege Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD ist eine Gefahr für die Sicherheit in unserem Land.
({0})
Sie versucht, mit billigem Populismus Aufmerksamkeit zu erhaschen,
({1})
ohne die wirklichen Gefahren zu bekämpfen. Denn wenn Sie ein wirkliches Interesse an der Sicherheit in unserem Land hätten, hätten Sie diesen Antrag gar nicht erst eingebracht.
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Verbote sollten nämlich gut vorbereitet und durch die Regierung und Polizeibehörden sofort umgesetzt und nicht vorher ellenlang debattiert werden; denn ansonsten könnten – und das ist ja das kleine Einmaleins im Polizeiwesen – die Beweise vernichtet werden und die Betroffenen untertauchen. „Handeln, nicht reden“ ist die Devise. Damit stellen Sie und Ihr Antrag, wie gesagt, eine Gefahr für die Sicherheit in unserem Land dar.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in unserem Land ein Problem mit Extremismus. Nach einem Erstarken der Rechtsextremisten – Stichworte „NSU“, „Gruppe Freital“ – sehen wir nun leider auch ein Ansteigen der politisch motivierten Kriminalität links, aber auch der Gewaltbereitschaft insgesamt. Aus Worten werden leider immer mehr Taten, vorbereitet auch von den verlängerten politischen Armen hier im Parlament.
So steht heute auch der Linksextremismus vor der Schwelle des strukturierten Terrorismus. Er verzeichnet inzwischen jährliche Steigerungsraten von 2 bis 5 Prozent. Mit dem Verbot von linksunten.indymedia in 2017 haben wir gezeigt, dass wir auf dem linken Auge nicht blind sind,
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dass wir Gewalt gegen diejenigen, die täglich den Kopf für uns hinhalten, nicht tolerieren. Wenn Linksextremisten Gewalt anwenden, Fallen und Bomben gegen Polizisten und politische Gegner einsetzen, haben sie längst den Schritt zum linken Terror vollzogen und treten in die Fußstapfen der RAF.
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Doch unsere Demokratie ist wehrhaft. Wir haben in den letzten Jahren vieles getan, um gegen diese Form von Extremismus vorzugehen. Wir haben mehr Personal in die Sicherheitsbehörden gebracht. Wir haben mehr Beobachtungen veranlasst. Wir haben mehr und konsequent die Strafverfolgungsbehörden ertüchtigt. Und wir wollen auch mit der Einführung der Quellen-TKÜ hier noch besser werden. Unsere Antwort auf Extremismus heißt: eine starke Polizei und ein starker Verfassungsschutz.
({6})
Vielleicht noch mal zurück zum Antrag des rechten Randes dieses Hauses: Ich nehme ja zur Kenntnis, dass sich die AfD nun stärker bei der Verfolgung von Hass, Gewalt und Straftaten im Internet engagieren will. Da schlage ich Ihnen vor, dass Sie Ihre beschriebenen und bekannten guten Verbindungen nach Moskau und zu Präsident Putin vielleicht nutzen, um unseren deutschen Strafverfolgungsbehörden endlich den Zugriff auf die Server mit Kinderpornografie, von Trollen und mit Fake News zu ermöglichen.
({7})
Machen Sie sich doch stark für unsere Polizei. Sprechen Sie mit Präsident Putin, wie wir diese Plattformen endlich effektiv verbieten können.
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Zu einer wirksamen Bekämpfung des Extremismus, der in Ihrem Antrag ja gefordert wird, gehört schließlich auch die Unterstützung der Sicherheitsbehörden. Dabei können Sie auch wieder einen sehr effizienten Beitrag leisten: Räumen Sie doch Ihren eigenen Laden auf, oder lösen Sie sich am besten auf. So entlasten Sie Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden auf jeden Fall, und wir können noch besser gegen den Linksextremismus kämpfen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Womit habe ich diese Liebe der AfD verdient? Schrecklich!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte eigentlich jeden Grund, den Antrag der AfD zu befürworten.
({1})
Das Bekennerschreiben zur Zerstörung meines Büros erschien nirgendwo anders als auf Indymedia, in einer unmissverständlich rücksichtslosen Weise und Sprache. Der Unterschied ist aber, dass meine eigene Befindlichkeit, Rachegelüste oder Instrumentalisierung eben kein Motiv von Politik sind, sondern das Ende von Politik; und das haben Sie ja vorgeführt.
({2})
Deshalb tue ich das gerade nicht und sage gleichermaßen ganz deutlich: Wenn im Namen von Menschenrechten, wie es bei mir geschah, menschenverachtend gehandelt wird, dann spottet das jeder Form von Menschenrechten und ist zutiefst verurteilenswert, ohne jeden Kompromiss.
Und: Als Sozialdemokraten sind wir die letzten, die Belehrungen der AfD, aber auch der FDP brauchen. In der Weimarer Republik und in den 70er- und 80er-Jahren war es niemand anders als die Sozialdemokratie, die deutlich gegen den Linksterrorismus gestanden hat und auch bis heute steht.
({3})
Kommen wir zur zweiten Geschichte. Nach dem Anschlag auf mein Büro: Wie waren da Ihre Reaktionen? Kübelweise Häme, keine Spur von Solidarität. Ein AfD-naher Glaser schrieb mir doch glatt, er wolle mir die Fenster in meinem Büro ersetzen. Als er dann feststellte, dass ich Mitglied der SPD bin und nicht der AfD, hat er sein Angebot zurückgezogen.
({4})
Und das sagt alles.
({5})
Ihr Antrag ist an Heuchelei, Scheinheiligkeit, Bigotterie nicht zu überbieten. Ihnen geht es doch nicht die Spur um den Kampf gegen die Antifa. Sie sind die eigentlichen Komplizen der Antifa.
({6})
Sie freuen sich über jeden linksextremen Anschlag in diesem Land, weil Sie ihn benutzen und instrumentalisieren können.
({7})
Das allein ist Ihr Ziel, und deshalb antifabulieren Sie in solchen Anträgen. Mit Ihrer Antifantasie und Ihren Bildern, die Sie zeichnen,
({8})
machen Sie nichts, was dem konkreten Kampf gegen Extremismus entspricht,
({9})
und Sie tun das wenige Tage nach dem Jahrestag des Anschlags in Hanau.
({10})
Deshalb stelle ich eindeutig fest: Als wehrhafte Demokratie –
Herr Kollege.
– mit ganz klaren Positionen dieser Koalition, aber auch der Grünen und der FDP und der Linken haben wir wahrlich in der Gänze in Deutschland kein Antifa-Problem.
({0})
Aber die AfD –
({1})
Kollege Lindh! Bitte!
– hat ein manifestes Neonazismus- und Faschismusproblem, und das werden wir bekämpfen in diesem Land.
({0})
Ich bitte erst mal diejenigen, die in Erwartung der namentlichen Abstimmung schon hier im Saal sind, trotzdem die Abstandsregeln einzuhalten und auch für den voraussichtlich letzten Redner in dieser Debatte, nämlich den Abgeordneten Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion, die notwendige Aufmerksamkeit herzustellen.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Bekämpfung des Extremismus, und zwar gleich welcher Form, verfolgt die Bundesregierung eine Linie von Klarheit, Konsequenz und Härte. Und ich füge hinzu: dies in voller Unterstützung und Geschlossenheit durch diese Koalition.
({0})
Auch nach der heutigen Debatte sage ich Ihnen: Die Koalition hat 398 Mitglieder. Die hält auch eine abseitige Einzelmeinung wie die von der Kollegin Rüthrich aus, die, glaube ich, selber bemerkt hat, dass sie da den Punkt heute nicht so ganz getroffen hat.
({1})
Der Bundesinnenminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat den Kampf gegen Feinde unserer Demokratie zur Chefsache erklärt und in den vergangenen Jahren wiederholt und mit Nachdruck unter Beweis gestellt, dass er entschlossen, zügig und rechtssicher agiert, um radikalen Organisationen und Vereinen den Garaus zu machen. Die Beispiele aus der jüngeren Zeit sind Ihnen bekannt: Nordadler, Combat 18, Mezopotamien Verlag, MIR Multimedia usw.
Kollege Kuffer, ich habe die Zeit angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Scheer?
Jetzt keine Zwischenfragen, bitte. – Unsere Sicherheitsbehörden wissen, was sie tun, und haben bereits 2017 bei linksunten.indymedia bewiesen, wie das geht. Es gilt hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“; denn – das will ich auch sagen – nichts ist kontraproduktiver als Verbote, die nicht halten. Das hätte den gegenteiligen Effekt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit ist bereits in vollem Gange. Präsident Haldenwang hat am 9. Juli 2020 mitgeteilt, dass Indymedia als Verdachtsfall eingestuft worden ist,
({1})
und wir lassen jetzt bitte unsere Beamtinnen und Beamten ihre Arbeit tun. Ich habe hier vollstes Vertrauen und sage Ihnen: Sie erreichen hier nichts, wenn Sie aus der Hüfte schießen.
({2})
Aber ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, noch was anderes:
({3})
Wem es mit der Bekämpfung des Extremismus ernst ist, der behält den Konsens der Demokraten im Blick und der sieht zu, dass wir diese wichtige Frage nicht den Stereotypen der alltäglichen politischen Auseinandersetzung unterwerfen. Sie wissen, dass das BMI die Frage eines Verbots von Indymedia bearbeitet. Sie zitieren das Ministerium in Ihrem Antrag ja sogar selbst.
({4})
Und trotzdem bauen Sie Ihren Antrag und die ganze heutige Befassung des Parlaments so auf, dass Sie nachher wieder das Trugbild erzeugen können, die Mehrheit des Hauses würde sich einem Verbot verweigern – obwohl Sie wissen, dass das Gegenteil der Fall ist!
({5})
Sie wollen keinen Beitrag zur Bekämpfung des Linksextremismus liefern. Nein, Sie wollen die Bekämpfung des Rechtsextremismus schwächen! Das ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen, was Sie wollen. Und es ist mittlerweile auch dem Letzten klar geworden, warum Sie das tun: weil Sie selbst genügend Extremisten in Ihren Reihen haben und diese auch weiterhin noch schützen wollen,
({6})
weil Sie weiterhin den Faschismus verharmlosen wollen und weil Sie im letzten Jahr auch die letzten Masken haben fallen lassen, als Sie offen und aktiv Extremisten bei gewaltsamen Angriffen auf demokratische Institutionen unterstützt haben.
Ich sage Ihnen zum Abschluss: Wir wissen, dass wir auf Sie bei der Bekämpfung des Extremismus keinen Millimeter weit zählen können.
({7})
Im Gegenteil: Sie haben es so weit kommen lassen –
Herr Kollege!
– und sind strukturell so weit in den Extremismus abgeglitten, dass Sie nach meiner festen Überzeugung als Partei in Gänze ein Fall für den Verfassungsschutz sind.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Scheer das Wort.
Ich möchte mich kurz zu Wort melden, weil ich die beiden Äußerungen von Herrn Kuhle und Herrn Kuffer zutiefst verstörend finde. Im Namen der SPD-Fraktion – wir sind bei vielen Themen wirklich geschlossen, bei diesem aber ohne jeglichen Zweifel –
({0})
möchte ich hier noch einmal klarstellen: Uns eine Tendenz der Liebelei mit Extremismus vorzuwerfen,
({1})
das ist wirklich infam, das ist bodenlos.
({2})
Meine Kollegin hat hier ganz dezidiert die Motivation der AfD hinterfragt, warum hier dieser Antrag vorliegt.
({3})
Die Motivation, das stand hier im Mittelpunkt. Und wenn Sie, Herr Kuhle, und Sie, Herr Kuffer, jetzt den Eindruck erwecken möchten, dass hier nicht die Motivation der Anlass war, sondern irgendwie eine Sympathisierung mit dem, was auf Indymedia zu finden ist, dann ist das falsch.
({4})
Das müssen Sie auch gewusst haben. Insofern ist es einfach billig, sich jetzt auf dem Rücken von Sozialdemokraten zu profilieren. Ich finde das so was von infam! Ich bitte Sie, das hier zurückzunehmen. Meine Kollegin hat dies so nicht gesagt!
({5})
Kollege Kuffer oder Kollege Kuhle, wer möchte?
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Scheer, die Kollegin Rüthrich hat Zitate von der Seite Indymedia vorgelesen,
({0})
Zitate, wie es sie auch gegeben hat im Zusammenhang mit einem linksextremen Brandanschlag in meinem Wahlkreis, wo ich mit Beschäftigten gesprochen habe, die Angst haben um ihre körperliche Unversehrtheit, die sich normalerweise darum kümmern, dass Anträge in der Ausländerbehörde zügig bearbeitet werden, die sich darum kümmern, dass Gelder überwiesen bzw. ausbezahlt werden an ALG-II-Empfänger. Es hat mehrere Wochen gedauert, bis das wieder stattfinden konnte.
({1})
Ich hätte mir einfach von einer sozialdemokratischen Rede erwartet – ich weiß auch nicht, warum das zu viel verlangt ist –,
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dass man sich von solchen Gewalttaten distanziert.
(Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat sie doch!
– Nein, sie hat Zitate vorgelesen von der Indymedia-Seite.
Weil ich gerade dabei bin und Sie ja auch den ganzen Mechanismus hier hinterfragen, liebe Frau Scheer, will ich Ihnen das gerne auch persönlich einmal sagen: Ich glaube, wir müssen uns als gesamtes Parlament auch mal fragen, welche Empörungsmechanismen im Umgang mit der AfD eigentlich etwas bringen und welche nichts bringen.
({3})
Ich halte auch gerne engagierte, laute und auch heftige Reden gegen die AfD. Ein Stück weit gibt mir das auch was,
({4})
weil ich damit, wie ich glaube, auch dazu beitrage, dass in der Öffentlichkeit deutlich wird, dass es hier einen breiten Konsens der Demokraten gibt bei der Bekämpfung der zentralen Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, und das ist der Rechtsextremismus. Das ist diese Truppe, die da auf der einen Seite von uns sitzt. Sie glauben gar nicht, was wir uns hier die ganze Zeit links von der Seite anhören müssen, was wir hier ertragen müssen während so einer Debatte!
({5})
Wir brauchen da keine Belehrungen von Ihnen.
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Ich werbe aber dafür, angesichts des Rechtsextremismus nicht zu vergessen, dass es auch aus anderen Phänomenbereichen Straftaten gibt. Die gehören auch zur Innenpolitik dazu, und die müssen auch bekämpft werden, und darüber müssen wir auch diskutieren.
({7})
Machen Sie sich überhaupt keine Sorgen darüber, dass wir sehr wohl in der Lage sind, bei dieser Truppe gegenzuhalten, die uns hier seit drei Jahren das Leben schwer macht
({8})
und uns von links das Ohr volllabert.
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Da brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen. Aber wir brauchen keine Belehrungen.
({10})
Sie merken doch, dass sich in diesem Haus –
Kollege Kuhle, tut mit leid, Sie haben jetzt nicht die doppelte Redezeit.
– über Ihre Wortmeldung und über die Wortmeldung von Frau Rüthrich ausschließlich die AfD aufgeregt hat.
Sie müssen den Punkt setzen.
Sie geben denen eine Bühne, wenn Sie sich nicht auch mal eindeutig vom Linksextremismus distanzieren. Das ist ganz einfach.
({0})
Liebe Frau Kollegin Scheer, ich weiß nicht, ob Sie sich und der Partei damit jetzt einen Gefallen getan haben. Deshalb würde ich einfach vorschlagen, dass Sie es nicht noch schlimmer machen.
Die Kollegin Rüthrich hat in den Saal gerufen: Was stört Sie eigentlich an der Plattform Indymedia? – Darauf bezog sich diese Bemerkung von mir.
({0})
Ich habe das ausdrücklich als Einzelmeinung durchgehen lassen und nicht die SPD mit in Haft genommen. Deswegen ist es nicht so wahnsinnig klug, wenn Sie jetzt die Partei oder die Fraktion mit reinreiten.
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Insofern wäre es, glaube ich, ganz klug, wenn wir es jetzt dabei belassen.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Lockdown, die monatelangen Schulschließungen sind für die 11 Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland zu einer großen Belastung geworden. Jedes dritte Kind zeigt inzwischen psychische Auffälligkeiten. Sie sind aggressiver, depressiver und viel häufiger krank.
Auch die Lernrückstände sind inzwischen riesig. Die Lernzeit hat sich im Lockdown halbiert. Vor allem sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche verlieren im Distanzunterricht oftmals den Anschluss; denn nicht jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, einen eigenen Computer, eine eigene Webcam zur Verfügung oder Eltern, die jeden Morgen danach schauen, dass man auch wirklich jedes Aufgabenpaket abarbeitet. Für sie ist Corona zur Chancenbremse geworden. Sie brauchen nicht nur eine schrittweise Rückkehr zum Präsenzunterricht, sondern jetzt endlich eine klare Perspektive, wie sie ihre Lernlücken in den kommenden Monaten schließen können.
({0})
Wir müssen alles dafür tun, dass diese Generation ihr Recht auf Bildung endlich wieder wahrnehmen kann.
Gleichzeitig leiden Hunderttausende Studierende unter der sozialen Isolation im Lockdown. Viele von ihnen haben den Nebenjob verloren, fallen beim BAföG durchs Raster, wissen nicht mehr, wie sie ihr Studium noch finanzieren sollen. Bringen wir diese beiden Gruppen doch zusammen: zu einem Bundesprogramm Lern-Buddys, in dem Studierende Schülern und Schülerinnen helfen, ihre Lernlücken wieder zu schließen, indem sie Lehrkräfte unterstützen bei der digitalen Lehre, beim Unterrichten von Teilgruppen oder auch beim Eins-zu-eins-Mentoring besonders bedürftiger Schüler. Dafür sollten dann Studierende Leistungspunkte im Lehramtsstudium bekommen oder auch eine direkte Vergütung, einen Stundenlohn. Auch auf bestehende Initiativen und Nachhilfeinstitute vor Ort sollten Schulen dabei flexibel zugreifen können.
Wir Freie Demokraten fordern, dass die Bundesregierung 1 Milliarde Euro für diesen Zweck zur Verfügung stellt; denn die Verringerung der riesigen Folgeschäden der aktuellen Bildungskrise, die sind uns jede Kraftanstrengung wert.
({1})
Wenn Medizinstudierende – wir sehen das doch jeden Tag – beim Impfen aushelfen, dann können doch wohl auch Lehramts- und Fachstudierende den Schulen unter die Arme greifen. Das entlastet Eltern und Lehrkräfte. Das bietet Studierenden eine frühe Praxiserfahrung, aber auch ein eigenes Einkommen und den vielen Schülern und Schülerinnen vor allen Dingen die individuelle Betreuung, die sie gerade so dringend benötigen. Selbstverständlich ist ein solches Bundesprogramm Lern-Buddys kein Allheilmittel und wahrlich kein Ersatz für eine grundlegende Reform der Studienfinanzierung.
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Aber es wäre eine schnelle, pragmatische Hilfe und Unterstützung für zwei Generationen, die in dieser Krise schon allzu oft vergessen wurden.
Die Unionsfraktion wird Ihnen gleich vermutlich noch erzählen, dass Frau Karliczek ja ein solches Nachholprogramm schon in petto habe. Das ist natürlich Blödsinn. Wir haben von ihr mehrfach schon vage Versprechen gehört, aber ein konkretes Konzept, das bleibt sie uns bis heute schuldig. Ein paar Ferienprogramme oder Stiftungsprojekte irgendwann im kommenden Schuljahr, wie sie es über die Presse hat andeuten lassen, werden hier nicht ausreichen, diese große Aufgabe zu wuppen; das ist einfallslos.
({3})
Seit Monaten geben wir uns als Parlament, als Deutscher Bundestag damit zufrieden, dass die Regierungsbank uns immer erst im Nachhinein erklärt, was sie alles wieder nicht geschafft hat.
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Mit ihrer unambitionierten Salamitaktik hat Frau Karliczek schon im letzten Jahr die Studienfinanzierung völlig gegen die Wand gefahren. Das darf ihr mit dem Coronaaufholprogramm kein zweites Mal passieren!
({5})
Deshalb haben wir als gute Serviceopposition – Sie kennen das – heute natürlich ein konkretes Konzept vorgelegt, einen Vorschlag, über den wir gerne im Detail – von der Dauer bis zu den Stundenlöhnen – diskutieren können. Aber wir müssen endlich zu Ergebnissen kommen! Denn Abwarten ist keine Lösung.
Also: Geben doch wir als Parlament der Regierung endlich einen klaren Auftrag, ein solche Bundesprogramm Lern-Buddys noch im Frühjahr auf den Weg zu bringen!
Herzlichen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Dietlind Tiemann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Verlorene Corona-Generation“ oder „Die Zukunftsaussichten der ‚Generation Cʼ“ – so und ähnlich titeln derzeit Zeitungen über Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Ohne Frage, die Pandemie belastet nicht nur Seele und Geist, sondern auch besonders das Lernniveau; darüber sind wir uns sicherlich einig. Deshalb fordert die FDP-Fraktion in ihrem Antrag Lern-Buddys für Schüler – ein Vorschlag, der zwischen mobilen Luftfilteranlagen und neuen Digitalpakten ja schon sehr praktikabel hervorsticht; das muss man an der Stelle auch einmal sagen.
Hier muss ich die Kolleginnen und Kollegen schon mal dahin gehend ein Stück weit loben; denn es erscheint, lieber Kollege Jens Brandenburg, auch in Ihrem Vortrag eben, schon sehr logisch, was da vorgetragen wurde. Auch da sind wir uns einig.
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Die Lern-Buddys sollen den Lernfortschritt von Schülern konkret in Gruppen begleiten, zusätzlich aber auch die Lehrkräfte entlasten – beides gute Vorschläge, die für alle Beteiligten sicherlich einen Mehrwert haben können.
Trotzdem finden sich in Ihrem Antrag Punkte, die unausgegoren sind und es eigentlich unnötig verkomplizieren. Im Antrag fordern Sie, dieses Buddy-Programm kurzfristig aufzubauen – wie immer. Ich denke, in der Pandemie haben wir oft genug bemerkt, dass Neues nicht ganz einfach und schnell in die Praxis umgesetzt werden kann, insbesondere in der Phase, in der wir uns im Moment befinden. Deshalb verstehe ich den Vorstoß nicht, jetzt wiederum ein neues Programm aufzulegen.
Besser wäre es doch gewesen, bereits vorhandene Programme zu nutzen – aufzustocken, wenn nötig. Diesen Weg sind wir in der Regierung gegangen. Zuerst – das ist immer wieder zu erwähnen – sind natürlich die Länder als zuständige Ebene in der Pflicht an dieser Stelle. Vom BMBF kam hier bereits im Januar 2021 der Vorschlag, bestehende Länderprogramme finanziell zu unterstützen. Und der Januar ist schon um. Zusätzlich sollen das Programm „Kultur macht stark“ und die darin bereits bestehenden Bündnisse für Bildung für die Nachhilfe genutzt werden. Es muss wieder einmal nichts Neues erfunden werden; die Struktur ist bereits vorhanden, und das Angebot an die Länder steht bereits auch.
Daneben ist mir noch nicht ganz klar, wie dieses Buddy-Programm vonseiten der Studenten umgesetzt werden soll. Im Antrag heißt es, für viele Studenten sei schließlich der Nebenjob weggefallen, da würde zeitlich das Buddy-Programm gut reinpassen. Das kann man so sehen. Sie machen es sich aber ein bisschen einfach, wenn Sie das eins zu eins übertragen:
Erstens betreffen Lerndefizite genauso Studenten aller Fachrichtungen. Ich glaube, die leiden ganz genauso darunter, dass sie keinen Präsenzunterricht haben, sondern Lehre fast ausschließlich digital und das auch in unterschiedlicher Qualität stattfindet.
Zweitens tue ich mich schwer damit, Lehramtsstudenten im großen Umfang einzusetzen. Für mich werden die Studenten hier doppelt verkauft: Einerseits können und sollen sie Nachhilfe leisten. Andererseits halte ich es für kritisch, diese bereits als Lehrerersatz einzusetzen; denn Lehrer fehlen ja schon grundsätzlich – das ist leider an zu vielen Stellen der Fall, weil die Planung der Ausbildung von Lehrern immer noch nicht so ist, dass der Bedarf gedeckt werden kann –, und die pädagogische Ausbildung der Lehramtsstudenten ist ja noch nicht abgeschlossen und soll auf jeden Fall sehr zügig vonstattengehen. Im Land Brandenburg – das darf ich einmal positiv erwähnen – hat das Programm „Studentische Lehr-Lernassistenzen an Brandenburger Schulen“ genau diese Abgrenzung vorgenommen, die ich mir im Antrag gewünscht hätte.
Und drittens. Klar, der 450-Euro-Job in der Gastronomie oder in einer Bar fehlt derzeit vielleicht. Nachhilfeunterricht kann aber nach 20 Uhr schlecht durchgeführt werden. Die Zeiten muss man natürlich auch betrachten; das vielleicht einmal mit einem Augenzwinkern.
Deshalb ist der Weg, Landesprogramme zu fördern und mit den bestehenden Bündnissen für Bildung zu unterstützen, der richtige Weg. Dort wurden über Jahre Erfahrungswerte zur Pädagogik und zum Zeitmanagement in Abstimmung mit den Schulen gesammelt, die jetzt natürlich ganz besonders wichtig sind. Zusätzlich hält sich durch die gewachsene Struktur auch der Verwaltungsaufwand in Grenzen. Auch das ist wichtig; denn was die Schulleiterinnen und Schulleiter, die Lehrkräfte, die Eltern und alle anderen Beteiligten jetzt natürlich überhaupt nicht brauchen, ist ein zusätzlicher Verwaltungs- und organisatorischer Aufwand. Das muss für uns ganz oben stehen.
Fakt ist: Es muss etwas passieren, um die Auswirkungen auf das Wissensniveau wieder einzufangen. Auch darin sind wir uns einig. Fakt ist aber auch: Die Maßnahmen hierzu müssen für Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen angemessen und vor allem ausgereift sein. Deshalb ist für den Bund auch hier weiterhin das Gebot der Stunde: klare Kommunikation nach außen, Nutzung aller belastbaren Programme zur Bewältigung der Pandemie, Gesprächsbereitschaft bei der Unterstützung von Länderprogrammen. Alles das steht bereit. Ich denke, wenn wir diese Strategie weiter verfolgen, sind wir nicht nur auf dem richtigen Weg, sondern können dort gemeinsam helfen.
Wenn wir den Weg so gehen, dann – es tut mir leid – brauchen wir den Antrag nicht. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende FDP-Antrag gleicht einem verzweifelten Schrei nach Aufmerksamkeit. Englisch muss es klingen und Problemlösungskompetenz vortäuschen. Auch künftig sollen Schüler und Studenten das ausbaden, was uns die Altparteienpolitik inklusive der FDP in Bund und Ländern über Jahrzehnte eingebrockt hat.
Was ist die derzeitige Situation, meine Damen und Herren? Herr Detlev Krüger, der Vorgänger von Herrn Drosten an der Charité, besteht darauf, dass Schulschließungen nicht das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der Pandemie sind. Er führt folgende Fakten an: Kinder erkranken am seltensten, ihre Infektionen verlaufen zum Glück meist symptomfrei oder nur mit leichten Symptomen, und sie geben das Virus deutlich seltener weiter als Erwachsene. Daher seien Schulschließungen als Coronabekämpfungsarznei unterm Strich schädlicher für die Kinder als Covid-19 selbst. Auch die Mutante sei kein Grund, die Schulen nicht zu öffnen, so Herr Krüger heute Morgen in der „Berliner Morgenpost“.
Mit jeder Woche Hickhack und Distanzunterricht werden Bildungslücken größer, aber auch soziale, psychische und physische Probleme.
Werte FDP, Sie unterstützen mit Ihrem Antrag die Willkürmaßnahmen einer Verbotspolitik ohne jede Evidenzbasierung!
({0})
Wir von der AfD fordern: Die Ursachen der Bildungskatastrophe müssen endlich bekämpft werden und nicht die Symptome!
Statt unsere zahlreichen Forderungen zur Ermöglichung des Präsenzunterrichts vehement zu unterstützen, möchte die Serviceopposition lieber willfährig ein hanebüchenes Lern-Buddy-System an den Schulen installieren, um die Bildungskatastrophe abzuwenden. Ihr quasi staatlich institutionalisierter Nachhilfeunterricht sieht die Abfrage eines polizeilichen Führungszeugnisses, qualitätssichernde Mindestvoraussetzungen oder Kontrollinstanzen erst gar nicht vor. Welche Studenten sind geeignet? Wer überprüft diese Eignung? Anhand welcher Kriterien? Wollen Sie wirklich, allen Ernstes, jeden auf unsere Kinder loslassen?
Sie, werte Kollegen von der FDP, wollen mit diesem Antrag die weitere Entwertung und Überfrachtung des Lehrerberufs. Nach Ihrer Vorstellung kann jeder Lehrer sein, der studiert und zu Hause herumsitzt.
({1})
In Ihrer Welt ist jeder Lehrer von zu viel Freizeit geplagt und zieht einfach noch Unmengen Zeit aus dem Hut, um Buddys anzuleiten, zu beraten und zu betreuen, und zwar zusätzlich zu seinen schier übermenschlichen Anstrengungen in Bezug auf individualisierte Wochenpläne, Distanzbetreuung, Inklusions- und Integrationsbemühungen sowie fehlende Digitalität in Deutschland. Ihr Ernst?
Wenn Ihnen schon die fachliche Eignung für die Betreuung unserer Kinder so völlig egal ist, frage ich mich: Welchen Sinn macht es dann, sich im Antrag rein auf Studenten zu beschränken? Es sitzen gerade ziemlich viele zu Hause rum. Warum dann nicht gleich jeden zum Buddy machen, der sich dazu anbietet? Fazit: Ihr Antrag kann die Löcher in den Bildungssocken nicht stopfen; es fehlen Nadel und Faden.
Zum Schluss möchte ich allen Lehrern, Pädagogen und Eltern – vor allem Eltern –, die von der Coronamaßnahmenpolitik dieser Regierung an den Rand der Verzweiflung gebracht werden, danken. Sie kümmern sich trotz allem so vorbildlich, liebevoll und fürsorgend wie möglich um unsere Kinder in diesen seltsamen Zeiten.
Für uns alle hoffe ich, dass der Irrsinn bald ein Ende hat und diese Regierung trotz ihrer großen Transformationspläne zu Freiheit und Normalität zurückfindet. Ich glaube, niemand da draußen möchte frei nach Klaus Schwab vom Weltwirtschaftsforum globalisiert, transformiert, enteignet, aber glücklich sein. Bitte bedenken Sie alle: Ein weiteres Coronaschuljahr mit oder ohne Buddys ist der Todesstoß für unsere Bildungsnation und ein bleibendes Trauma für unsere Kinder.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Wiebke Esdar für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion gibt uns heute Tipps zur Schulpolitik. Sie schlagen vor, es solle ein Lern-Buddy-Programm aufgesetzt werden. Ich glaube, dass Ihr Antrag damit ganz gut in die Linie der FDP-Bundestagsfraktion passt, weil er so einen fancy englischen Begriff im Titel hat. Das passt sehr gut zu den Sachen, die Sie bisher vorgeschlagen haben; ich erinnere an die „Digital European University“ oder an Ihre Vorschläge zu „Smart Germany“.
({0})
Er passt aber auch, ehrlich gesagt, aufgrund der Tatsache, dass nach dem Titel ziemlich wenig durchdachte Substanz den Antrag prägt, gut in die Linie der FDP-Bundestagsfraktion.
({1})
Als Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen möchte ich sagen, dass ich es mutig finde, dass Sie den Antrag hier einbringen; denn wenn ich mit Lehrerinnen und Lehrern in Nordrhein-Westfalen spreche – beispielsweise in meinem Wahlkreis in Bielefeld und Werther –, dann melden die mir zurück, dass sie nicht in erster Linie Leute brauchen, die zusätzlich von außen in die Schulen kommen, sondern dass sie sich eine Schulpolitik wünschen, die sie in der Pandemie unterstützt und nicht behindert.
({2})
Lassen Sie uns darum nach Nordrhein-Westfalen schauen – dem Land, in dem eine FDP-Politikerin Schulministerin ist –, auch im Vergleich zu anderen Ländern wie Niedersachsen, Hamburg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz. Ich glaube, da läuft einiges besser. Mein Vorschlag wäre darum, Frau Gebauer, Ihrer FDP-Schulministerin, einen Buddy an die Seite zu stellen,
({3})
der ihr beim Formulieren und Abschicken der Schulmails hilft. Diese Mails haben einen Erlasscharakter, sind also rechtlich bindend für die Schulen. Da ist es immer wieder vorgekommen, dass diese Mails ganz spät, erst nach Dienstschluss am Freitagnachmittag, verschickt wurden und dann am Montagmorgen schon in Kraft getreten sind.
({4})
Ein weiterer Vorschlag wäre, dass wir einen Buddy einsetzen, der der Schulministerin bei der Kommunikation mit dem Ministerpräsidenten hilft.
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Es irritiert die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und die Lehrer nämlich, wenn die Schulministerin eine E-Mail verschickt, in der steht: „Die Schulen werden alle wieder aufgemacht“, und zwei Stunden später der Ministerpräsident eine Pressekonferenz gibt, in der er das Ganze wieder korrigiert und eine andere Aussage macht.
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Ein weiteres Team von Buddys könnte Ihre Schulministerin davon überzeugen – –
Kollegin Esdar, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP-Fraktion?
Gerne.
Bitte.
Frau Präsidentin, Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie machen sich ein bisschen lustig über eine ernste Situation. Die Kinder gehen nicht mehr in die Schule. Ich habe selbst einen Jungen zu Hause, der fast ein Jahr lang keinen Unterricht mehr gehabt hat.
Wir versuchen jetzt, mit erheblichen Mitteln Unterricht möglich zu machen, indem wir die Lehrerschaft unterstützen, und Sie ziehen das hier ins Lächerliche. Ich glaube, das ist dieser Diskussion nicht würdig. Ich frage Sie, ob das wirklich Ihr Ernst ist, diesen Antrag nicht konstruktiv zu bearbeiten, sondern nur lächerlich machen zu wollen.
({0})
Herr Kollege, wenn Sie mir genau zuhören, können Sie durchaus erkennen, dass ich, wie ich einleitend auch gesagt habe, der Auffassung bin, dass es sinnvoll ist, solche Vorschläge zu machen, die für die Schülerinnen und Schüler vor Ort – ich spreche momentan über NRW; wenn ich zum Ende der Rede komme, werde ich es auch auf die Bundespolitik ausweiten – nach meinen Erfahrungen aus den Gesprächen, die ich mit Lehrern und Lehrerinnen führe, wesentlich relevanter sind als die Frage, ob ein Programm in Höhe von 1 Milliarde Euro aufgesetzt werden soll, wie Sie es vorschlagen.
Sie machen nach dem Vorstoß der A-Länder, die nämlich ein solches Unterstützungsprogramm schon in die KMK eingebracht haben, Vorschläge, die von der Seite der B-Länder verhindert werden. Darum muss ich feststellen, dass die FDP-Politik an dieser Stelle eher darin besteht, ein doppeltes Spiel zu spielen.
Da Sie die Frage der Lächerlichkeit aufwerfen, lautet die Frage doch eher, ob nicht die Schulpolitik dann lächerlich gemacht wird, wenn Sie in dem Land, wo Sie Verantwortung tragen, nichts davon, was in die KMK eingebracht wurde, umsetzen, in der KMK eher die Bremser sind, hier aber als Opposition so tun, als wenn Sie die Einzigen wären, die mit innovativen Vorschlägen um die Ecke kommen.
({0})
Darum würde ich ein weiteres Team an Buddys im Schulministerium vorschlagen, das dafür sorgt: Da, wo vor Ort kluge Vorschläge zum Wechselmodell und zum digitalen Unterricht gemacht werden, so wie das in Solingen der Fall war, sollten diese nicht verboten werden, wie es die Schulministerin in NRW getan hat, sondern sie sollten umgesetzt werden können.
({1})
Noch ein weiteres Team an Buddys könnte die Schulministerin darin unterstützen, verbindliche Aussagen zu einigen Fragen zu machen: Sind Kinder und Jugendliche verpflichtet, beim Videounterricht die Videoschalte anzuschalten? Was passiert mit Videoaufzeichnungen des Unterrichts, und dürfen die überhaupt gemacht werden? Wie wird mit illegaler Verwendung von Bild- und Videomaterial umgegangen? Wie wird bewertet, wenn es Netzprobleme gibt? Alles das sind extrem relevante Punkte für die Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen und wesentlich wichtiger als die Frage, ob Studierende jetzt als Erstes an die Schule kommen.
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Darum finde ich Ihren Antrag – ich habe es schon gesagt – ziemlich mutig.
Ich möchte noch etwas konkret zum Antrag sagen: Dass sogenannte Lern-Buddys an die Schulen gehen können, wie Sie es vorschlagen, um Lernmaterial zu beschaffen oder sich im Unterricht einzusetzen, das hat eine Schulleiterin, mit der wir gesprochen haben, wie folgt kommentiert: Einfach irgendwelchen Studenten die digitale Weiterbildung der Schüler aufzuerlegen, ist praxisfern. Wo das sinnvoll geht, da wird es längst gemacht. Wir haben bereits Studierende bzw. FSJler, die genau das machen.
({3})
Ich zitiere sie weiter: Ich sehe darin aber auch nichts Neues. Schulen in Niedersachsen können auch jetzt schon Verträge mit Studierenden machen. Es gibt also diese Form der Unterstützung bereits da, wo es in den Ländern nicht verhindert wird.
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Ich hatte es gerade schon erwähnt: In der KMK haben die A-Länder genau dieses Programm vorgeschlagen. Sie wissen, was dabei rausgekommen ist. Da wäre noch mehr möglich gewesen, wenn die B-Länderseite, der sich die FDP zugehörig fühlt, nicht gebremst hätte.
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Ich möchte noch einen weiteren Punkt erwähnen, weil Sie die Studierenden angesprochen haben. Als Wissenschaftspolitikerin hat es mich überrascht, dass in dem Antrag die FDP auf Bundesebene vorschlägt, den Hochschulen vorzuschreiben, für welche außerschulischen Leistungen sie bei den Aktivitäten Leistungspunkte vergeben sollen.
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Meines Wissens gibt es derzeit keinen Wissenschaftsminister der FDP, aber die Wissenschaftspolitik, die ich zum Beispiel unter Minister Pinkwart in NRW wahrgenommen hatte, hinterließ bei mir eher den Eindruck, dass er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hätte, dass Social Credit Points auf Bundesebene festlegt werden.
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Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen in den Hochschulen schon mal die Diskussion um Credit Points geführt hat. Das ist ein nicht ganz unterkomplexes Thema; da muss man auch darüber sprechen, wie dabei Qualität gesichert werden kann und wie Missbrauch verhindert wird.
Was Ihr Antrag aber sehr deutlich macht: Sie schlagen vor, dass diejenigen, die es sich leisten können, auf diese Weise tätig zu werden, dafür Leistungspunkte erhalten. Diejenigen aber, die Geld verdienen müssen, verrichten zwar die gleiche Tätigkeit, erhalten aber keine Leistungspunkte dafür, sondern sollen bezahlt werden. Das, meine Damen und Herren, ist Politik, die die soziale Spaltung par excellence fort- und vorführt.
({8})
Darum, meine Damen und Herren, ist uns sehr bewusst, dass die Coronapandemie Familien und Lehrkräfte im ganzen Land vor unbekannte enorme Herausforderungen stellt.
({9})
Sie brauchen in den Schulen klar kommunizierte Perspektiven und Unterstützung, damit der Schulbetrieb wieder ordentlich anlaufen kann. Wir brauchen individualisierte Unterstützung durch Fachkräfte, die am besten im Zusammenspiel zwischen Schule, Ganztag und Jugendhilfe funktioniert.
Dazu hat die SPD-Fraktion im Landtag NRW gerade einen Antrag eingereicht. Ich bin gespannt, wie viel davon in Nordrhein-Westfalen unter der Schulministerin Gebauer überhaupt umgesetzt wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist alles schon beantragt, nur halt noch nicht von jedem; dieses Mal von der FDP. Aber ich sage mal so: Allein deshalb, weil wir dieses Thema – –
Kollegin, ich muss Sie bitten, auch die Form einzuhalten.
({0})
Entschuldigung! – Frau Präsidentin!
({0})
Also noch mal: Es ist alles beantragt worden, bloß halt nicht von jedem. Und dieses Mal kommt die FDP mit einem Thema, das hier schon mehrfach diskutiert wurde, unter anderem auch in einem Antrag meiner Fraktion. Aber dadurch, dass wir vielfach darüber diskutiert haben, und dadurch, dass Sie jetzt hier die Wäsche voll kriegen, ist der Antrag – das will ich auch klar sagen – noch lange nicht schlecht.
Ich finde, das ist eine gute Idee in einer solchen Krisensituation. Ich würde sie allerdings erweitern, so wie damals auch in unserem Antrag. Es gibt verschiedene Studierende unterschiedlicher Studiengänge – Studierende der Bildungswissenschaften, Studierende der sozialen Arbeit –, die das durchaus tun und übernehmen könnten.
({1})
Was aber wieder für die FDP typisch ist – und das kann ich Ihnen leider nicht ersparen –, ist der Versuch, das gleichzeitig mit einem Konjunkturprogramm für die Nachhilfeindustrie zu verbinden. Meine Damen und Herren, ich kann da nur sagen: Aktion Mövenpick lässt grüßen.
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Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht die Nachhilfewirtschaft braucht ein Konjunkturprogramm, sondern das alte System Schule braucht eine Generalüberholung, und zwar jetzt:
({3})
fächerübergreifendes Lernen statt 45-Minuten-Sitzen in Fächersilos, Lernen im eigenen Tempo statt nach Plan und im Gleichschritt – alle machen zur selben Zeit dasselbe –, selbstorganisiertes Lernen statt Bulimie-Büffeln, andere Formen von Prüfungen, durchaus orientiert an dem, was Schülerinnen und Schüler interessiert – warum auch nicht? –, kollaboratives Lernen,
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gemeinsam recherchieren, sich auseinandersetzen, systematisieren und das Ganze dann auch präsentieren. Das wäre in der Regel dann auch noch mit Spaß verbunden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir müssen endlich frische Luft an das Bildungssystem ranlassen. Neue Schule braucht das Land! Aber wenn ich ehrlich bin, traue ich weder der Bildungsministerin noch der KMK zu, überhaupt zu nennenswerter Innovation in der Lage zu sein. Ich finde, deshalb braucht es „Systemsprenger“, zum Beispiel viel mehr externe professionelle Fachkräfte, Handwerkerinnen, Wissenschaftler, außerschulische Angebote, die das alte System Schule endlich aufmischen.
({5})
Und im Übrigen: Es ist die Mangelwirtschaft in der Bildung, die endlich ein Ende haben muss.
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Mehr Lehrkräfte, flächendeckend mehr Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter und mehr Psychologinnen und Psychologen sind nötig. Neue Schule braucht das Land, liebe Kolleginnen und Kollegen. Eine kleine Nummer ist nicht zu haben.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Wenn ich die Titel Ihrer Anträge lese, dann frage ich mich immer, ob Sie sich von der gleichen mittelmäßigen Werbeagentur beraten lassen wie die Bundesregierung. Sei es drum; reden wir über Lern-Buddys.
Sie benennen ja vollkommen richtig die größte bildungspolitische Herausforderung, die wir zu bewältigen haben werden, nämlich die enormen Lernrückstände und die Bildungsungerechtigkeit. Deswegen haben wir Ende letzten Jahres schon einen Antrag mit diversen Maßnahmen gestellt. Die Ministerin hat da ja leider eine Leerstelle.
Jetzt reagieren Sie mit Ihrer Spezialdisziplin, einem schmalen Antrag, der dieser Herausforderung mit Sicherheit nicht gerecht wird. Sie nehmen sich genau eine Maßnahme aus unseren Vorschlägen, die ja öfters geäußert wurden, und reduzieren das dann noch auf eine Gruppe, nämlich die der Studierenden; dabei ist das Spektrum doch viel größer: Wir haben FSJler, wir haben Menschen mit pädagogischer Erfahrung, Freiwillige, wir haben die Ruheständlerinnen und Ruheständler; die tauchen dann wahrscheinlich in einem extra Antrag als „Edu-Ager“ auf.
Aber wir brauchen diese Unterstützung, und da haben Sie dann wiederum recht: Die Schulen haben angesichts des Fachkräfte- und Lehrkräftemangels, zu dessen Abbau wir auch immer noch auf Vorschläge aus dem BMBF warten, nicht die Kapazitäten, um diese Aufgabe noch mit zu stemmen, und sie können Begleitung sehr gut gebrauchen.
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Es ist auch richtig, die Studierenden dann bezahlen zu wollen, zum Beispiel auch Künstlerinnen und Künstler, Soloselbstständige. Nur frage ich mich angesichts Ihres Vorschlages – 10 Euro in der Stunde –, was Ihnen Bildungsarbeit eigentlich wert ist. Ich habe vor 40 Jahren als Schülerin schon für jede Nachhilfestunde 10 D-Mark bekommen. Die Schule ist wirklich kein Platz für neoliberales Lohndumping.
({1})
Was wir wirklich brauchen, das ist ein Bildungsschutzschirm für unsere Kinder, und da braucht es mehrere Maßnahmen. Da braucht es natürlich das individuelle Lernen; da haben Sie vollkommen recht. Da braucht es auch Lernstandsanalysen.
Es wurde erwähnt: Es gibt Strukturen; sie sind nur viel zu armselig. Die muss man ausbauen. Das sind Programme wie „Menschen stärken Menschen“ oder „Kultur macht stark“. Aber das muss man dann auch ausbauen, das muss man solide finanzieren, damit Projektträgerinnen und Projektträger auch wirklich Planungssicherheit haben.
({2})
Und wir müssen natürlich die Schulen stärken, die mit den größten Herausforderungen zu kämpfen haben, und die Schulen in den benachteiligten sozialen Quartieren stark machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen alle Kräfte, um diese Herausforderungen zu stemmen. Alleine Bildungs-Buddys werden es nicht richten.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ohne Zweifel jede Mühe wert, sich Gedanken zu machen, wie man die großen Lerndefizite, die durch Corona entstanden sind, nun auflösen kann. Dazu haben eine Reihe von Bundesländern sich ernsthafte Gedanken gemacht.
Mein Land Schleswig-Holstein hat sich zum Beispiel mal mit dem Thema Sommerschule auseinandergesetzt. Weitere Diskussionspunkte kennen Sie auch: die Verkürzung von Ferien etc. Aber wir müssen weiter darüber nachdenken, wie wir dieses Problem lösen. Es sind alle, insbesondere auch die KMK und die Bildungsminister und Bildungsministerinnen, sicherlich auch die Bildungsministerin aus Nordrhein-Westfalen, aufgefordert, darüber nachzudenken, wie man das lösen kann.
Trotzdem stellt sich für uns gerade deshalb, weil es auch sehr stark länderbezogen ist, die Kernfrage: Soll sich der Bund wirklich damit auseinandersetzen, welche Leistungspunkte zu vergeben sind, wenn Lehramtsstudierende in den Bundesländern Schülerinnen und Schüler im Zuge der Coronapandemie unterstützen?
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Ich bin mir sicher, dass die betroffenen Universitäten und Hochschulen davon nur wenig begeistert sind. Ich halte auch, ehrlich gesagt, gar nichts davon; denn es geht hier auch um die Frage der Autonomie der Hochschulen insgesamt, die dadurch eingeschränkt wird. Studienleistungen durch den Bund vergeben zu wollen, halte ich nun wirklich für völlig verfehlt.
Völlig unscharf bleibt in Ihrem vorliegenden Antrag auch, welche Studenten mit welcher Qualifikation eigentlich diese Aufgabe übernehmen sollen. Lehramtsstudenten – das wissen wir alle – haben Semester mit einem großen Praxisanteil. Die müssten sehr genau aufeinander abgestimmt werden. Und was ist mit denjenigen, die fachfremd sind? Reichen deren pädagogische Kenntnisse aus, um solche Aufgaben zu übernehmen? Das bedeutet doch im Grunde genommen, dass wir uns darum bemühen müssten, in den Schulen entsprechende Ausbildungsgänge zusätzlich einzurichten. Das führte nicht nur zu großer Bürokratie, sondern auch zu einer erheblichen Erschwerung der Arbeit der ohnehin schon belasteten Schulen.
Wie viele der Lern-Buddys, die erstmalig vor eine Klasse treten, können eigentlich Frontalunterricht machen? Haben Sie sich darüber mal Gedanken gemacht? Eine schwierige Aufgabe! Das Ziel kann man nicht ohne Weiteres dadurch erreichen, dass man die unvorbereitet reinlässt; denn es handelt sich eben um keine normale Nachhilfe.
Für dieses Programm soll der Bund – so haben Sie es vorgeschlagen – 1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Das ist rund und eindrucksvoll. Aber ist es auch schlüssig? Bei einer Vergütung von 10 Euro die Stunde entspräche das 100 Millionen Unterrichtsstunden. Damit stünden jedem einzelnen Schüler etwa zwölf Stunden zur Verfügung. Nun kann man sagen: Es wird ja auch Klassenunterricht betrieben, und nicht jede Jahrgangsstufe hat den gleichen Anteil, sondern manche Stufe hat vielleicht ein bisschen mehr. Das bedeutet einerseits doch aber, dass wir einen erheblichen Teil von zusätzlichen Stunden in den Schulen unterbringen müssen. Das bedeutet nicht nur einen enormen organisatorischen Aufwand, sondern auch erhebliche zeitliche Herausforderungen.
Andererseits wäre damit auch nicht das Problem gelöst, wie die Studenten die Ausfälle ihrer Studentenjobs ausgleichen könnten; denn 2,8 Millionen Studenten steht eine Summe von 1 Milliarde Euro gegenüber. Wenn man das umrechnen würde, würde das für jeden etwa 350 Euro ausmachen. Das kann es nicht sein. Das würde also nur funktionieren, wenn nur Einzelne diese Aufgabe wahrnehmen würden.
Der Antrag verkennt außerdem völlig, dass es längst Nachhilfeprogramme gibt und die Studierenden sie oft selber organisieren und auch ganz intensiv mit der Nachhilfearbeit ihr Geld verdienen. Ich finde es sehr merkwürdig, dass ausgerechnet die sonst liberale FDP private, ehrenamtliche Initiativen so reglementieren will und ein Konkurrenzprodukt schaffen will. Auch der Name mit dem gekünstelten halben Anglizismus „Lern-Buddys“ macht den Antrag nun auch nicht gerade besser. Dieser wenig liberale Ansatz untergräbt die Bildungshoheit der Länder, er missachtet die Autonomie der Hochschulen, er schadet dem ehrenamtlichen Engagement, und er weist 1 Milliarde Euro an Kosten aus, ohne eine schlüssige Kalkulation vorzulegen.
Bei allem guten Willen, den ich da erkenne, Lösungen zu schaffen, so muss man doch sagen – mein Fazit –: Lern-Buddys für die Schulen? Nein, sondern vielleicht mehr Lern-Buddys für die Bildungspolitiker in den Ländern, in der KMK, aber auch für die Bildungspolitiker der FDP hier im Deutschen Bundestag.
Herzlichen Dank.
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