Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/12/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch in dieser Woche wurde viel über die Beteiligung des Parlaments bei Entscheidungen über die pandemische Lage gesprochen. Deswegen ist mir Folgendes heute besonders wichtig – ich richte mich da jetzt ausdrücklich an die FDP-Kollegen und an die Kollegen von den Linken –: Dieses Gesetz zur Fortgeltung der epidemischen Lage ist nicht umsonst eine Parlamentsinitiative. Das ist unser Gesetzentwurf. Wir Abgeordnete aus der Koalition bringen diesen Entwurf ein. Wir Abgeordnete wollen und werden, wenn es weiterhin notwendig sein sollte, künftig alle drei Monate hier in diesem Parlament über das Bestehen bzw. über das weitere Fortbestehen der epidemischen Lage beschließen und entscheiden. Wir Abgeordnete stellen hier und heute klar, dass alle für den Pandemiefall notwendigen Regelungen ausschließlich an diesen unseren Beschluss geknüpft werden, und wir werden diesen Beschluss über die Fortgeltung dieser epidemischen Lage mit dem Abschluss der Beratungen zu diesem Gesetzentwurf im März erneut fassen. Warum ist das notwendig? Darüber haben wir diese Woche ausführlich diskutiert. Sollte nach weiteren drei Monaten, also im Juni, keine weitere Verlängerung notwendig sein, dann entscheiden wir dies hier im Parlament, und dann wird die epidemische Lage aufgehoben und mit ihr alle für die Pandemie relevanten Verordnungsermächtigungen und Rechtsverordnungen. Um sicherzustellen, dass die pandemierelevanten Regelungen künftig nur noch parallel zur epidemischen Lage bestehen, werden wir alle starren Fristen zum 31. März 2021 oder 2022, die jetzt bestehen, streichen. Übrigens – das betrifft das, was Sie besonders ärgert – können dann auch die Regelungen, die die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin treffen, nur auf der Grundlage unseres Beschlusses über das Fortgelten der pandemischen Lage überhaupt Rechtswirksamkeit entfalten. Kurz: Wir regeln das Wesentliche. Wir setzen den Rahmen, und die Details regeln die Regierungen, meine Damen und Herren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor knapp einem Jahr, im März, haben wir die epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt und ihr Fortbestehen im November beschlossen. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass wir ein Jahr später, heute, diese Regelung noch brauchen würden. Jetzt sinkt die Zahl der Neuansteckungen in ermutigender Art und Weise. Auf den Intensivstationen unseres Landes befinden sich 2 000 Patienten weniger als noch vor vier Wochen, aber leider immer noch 1 000 mehr als im Frühjahr. Das macht uns Sorgen, weil wir wissen, dass das Virus auf gefährliche Art mutiert ist. Die englische Variante zum Beispiel ist um 50 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Variante. Das hat natürlich extreme Auswirkungen auf die Zahl der Neuansteckungen. Gleichzeitig – wir in der Union sind alle Wahlkreisabgeordnete – wissen wir um die Stimmung im Land. Den Stresstest hat ja bisher nicht nur unser Gesundheitssystem mit seinen Akteuren gut bestanden. Herzlichen Dank an alle! Der Dank gilt gleichermaßen für die Menschen im Land. Auch sie alle haben durchgehalten; das ist eine große Leistung. Auch da: Herzlichen Dank! ({1}) Viele von ihnen befürworten auch weiterhin harte Maßnahmen, die die Inzidenzen weiter senken und damit vor allem die Mutationen jetzt an der Verbreitung hindern. Trotzdem – auch ich erhalte entsprechende Anrufe und E-Mails – sehnt sich die Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger nach Lockerungen. ({2}) Nicht nur jetzt in dieser volatilen Lage brauchen wir einen sicheren Rechtsrahmen, sondern vor allem auch für die Zukunft. Viele rechtliche Regelungen haben wir in dieser Coronazeit neu entworfen und angepasst. Das föderale Zusammenwirken hat auch im Infektionsschutz eine ganz neue Bedeutung gefunden. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir diese rechtlichen Regelungen und ihre Wirkung insgesamt, die wir jetzt im Rahmen der Pandemie getroffen haben, analysieren und überprüfen lassen. Diese Evaluierung geben wir in Auftrag; bis zum 31. Dezember dieses Jahres soll das Ergebnis vorliegen. ({3}) Wir meinen, dass ein interdisziplinäres Forschungsgremium dies machen sollte. Wir können uns vorstellen, dass dies die Leopoldina ist. Wir wollen daraus dann die notwendigen Schlüsse ziehen für das Vorgehen in einer Pandemie in künftigen Lagen und natürlich für das Infektionsschutzgesetz. (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen allen ein Impfangebot machen! Wir wollen die Impfziele, wie zum Beispiel die Reduktion tödlicher oder schwerer Krankheitsverläufe oder die Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen, in das Infektionsschutzgesetz aufnehmen. Übrigens, wir sind davon überzeugt, dass die Priorisierung im Rahmen einer Rechtsverordnung bereits eine ausreichende rechtliche Grundlage hat. Höchst vorsorglich nehmen wir die Impfziele in das Infektionsschutzgesetz auf. Gleichzeitig legen wir fest, dass die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission und die entsprechenden Rechtsverordnungen nicht nur die Impfziele beachten müssen, sondern wir geben die Priorisierungskriterien ausdrücklich vor. Wir haben weitere Sonderregelungen im Gesetzentwurf vorgesehen. Da geht es vor allem um die Pflege und um die Weiterführung von Schutzschirmen. Es geht um die ambulante Pflege und die stationäre Pflege, um die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Wir verlängern das Bestehen des Rettungsschirms für die niedergelassenen Ärzte. Selbstverständlich werden wir die Bedarfe im Gesetzgebungsverfahren ausführlich prüfen. Die Regelungen zum Kinderkrankengeld stehen an. Diese dürfen nicht vom Versichertenstatus abhängen, meinen wir. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Robby Schlund, AfD. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Werte Kollegen! Management bedeutet gemeinsames zielorientiertes Problemlösen. Das Ziel dieser Bundesregierung bestand letztes Jahr darin, die Reproduktionszahl bei 1,0 und darunter zu halten. Da liegen wir ja auch augenblicklich. Trotz dieses Wissens arbeiten Sie weiter an der Zementierung Ihres Komplettversagens im Management bzw. beim Problemlösen in der Coronakrise. Zum Beispiel arbeiten die Mitarbeiter aus allen Bereichen des Gesundheitswesens tatsächlich am Limit. Mit einem Weiter-so und diesem Gesetzentwurf – das sehen Sie, wenn Sie sich diesen genau anschauen – ist ein Zusammenbruch der ambulanten Gesundheitsversorgung vorprogrammiert. ({0}) Wo zum Beispiel bleibt die dringend nötige Fortsetzung der Schutzmaßnahmen für die niedergelassenen Praxen? Wir geben Ihnen jetzt schon die Schuld an der indirekten Enteignung der Vertragsärzte und dem Verlust der freien und unabhängigen Beruflichkeit; denn bei weiter sinkenden Fallzahlen von 30 Prozent und mehr in den Praxen kann man ein ambulantes System nicht mehr betreiben. Hätte man sich hier wie auch in anderen Bereichen auf die Lösung der Probleme in dieser Krise konzentriert statt auf die Umsetzung zweifelhafter, teilweiser abenteuerlicher Projekte, wären uns die Lockdowns in dieser Form weitestgehend erspart geblieben, meine Damen und Herren. ({1}) Wir können es nicht mehr hinnehmen, dass Ermächtigungen und Grundrechtseinschränkungen weiter unsere Landschaft beherrschen. Eine Lösung wäre das AfD-Rastermanagement gewesen, das wir hier heute vor genau einem Jahr gefordert haben. Was ist passiert? Nichts! Im Ausschuss sagen Sie uns auch noch: Die AfD, die bringt ja nichts ein, die macht nichts. – Wir bringen sieben Anträge ein! Haben Sie denn nicht verstanden, ({2}) dass wir hier gemeinsam arbeiten müssen – haben Sie das nicht verstanden? – für unsere Menschen da draußen? ({3}) Schaut man sich in diesem Zusammenhang die Hopkins-Daten an, dann merkt man ganz schnell, was hier passiert: Der komplette Lockdown, den wir hier betreiben, hätte doch die Coronasterblichkeit herunterbringen müssen. Was ist aber passiert? Im Durchschnitt liegt die Coronasterblichkeit in den Ländern, die keinen Lockdown oder nicht den Lockdown in dieser Form gemacht haben, ({4}) bei 0,05 Prozent mit Blick auf die Gesamtbevölkerungszahl. In Deutschland und in Österreich ist diese Zahl doppelt so hoch. Ist das denn das Management, das wir für unsere Menschen hier in diesem Land brauchen? ({5}) Da fragt man sich zu Recht: Hat man hier alles richtig gemacht, oder ist auch mal die Zeit gekommen, Fehler einzugestehen? ({6}) Das, meine Damen und Herren, sind Sie den Menschen in diesem Land in der Tat schuldig. Deshalb appelliere ich an Sie, diesen Gesetzentwurf über die Fortführung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sofort von der Tagesordnung zu nehmen und durch einen Gesetzentwurf zu ersetzen, der sich an einem Rasterkonzept und den drei Säulen des Pandemiemanagements orientiert – unter Kontrolle eines Expertenrates, den wir schon von Anfang an gefordert haben. Nur damit können die Maßnahmen beendet werden. Der Lockdown ist sofort zu beenden, die pandemische Lage ist sofort aufzuheben! ({7}) Meine Damen und Herren, tun Sie das bitte nicht für sich! Tun Sie das für die Menschen dieses Landes! Denn die ertragen das alles nicht mehr. Viele sind vom Jobverlust bedroht und fürchten um ihre Existenz. Die Lebensmittelpreise steigen, während viele in Kurzarbeit sind oder gar kein Geld mehr kriegen. Hilfen bleiben aus oder werden zu spät gezahlt. Die Zahl der psychisch erkrankten Kinder hat sich in der zweiten Lockdown-Phase verdoppelt. Wenn Sie schon nichts für sich tun, dann tun Sie es wenigstens für unsere Kinder; denn sie sind das Wertvollste, das wir besitzen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Hilde Mattheis, SPD. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gehen heute in die Debatte mit Zuversicht, aber auch mit Vorsicht: Zuversicht, weil die Fallzahlen sinken und Maßnahmen greifen; Vorsicht, weil uns das nicht ausreicht und wir die Bevölkerung schützen wollen. Die Akzeptanz ist da. Die Transparenz müssen wir herstellen. Deswegen: Wir als Parlament haben hier heute den Auftrag, die pandemische Lage weiterhin festzustellen und zu sagen: Lasst alle Verordnungen, Rechtsverordnungen noch drei Monate weiter gelten und uns dann hier im Parlament wieder darüber diskutieren, wie die Situation ist und wie die Lockerungen womöglich auch über das hinaus greifen, was hier am Mittwoch an Zielen schon besprochen worden ist. Ich glaube – das geht Richtung AfD –: Durch die Wiederholung von Behauptungen, die seit einem Jahr aufgestellt werden, werden diese nicht zu Fakten, sondern die Fakten liegen auf dem Tisch. Darauf reagieren wir als Parlament. Auch ich habe mir vor einem Jahr nicht vorstellen wollen, dass wir die Fortsetzung der Regeln hier beschließen müssen. Aber ich denke, dass wir uns als Gesundheitspolitiker, als Rechtspolitiker, als Mitglieder hier im Parlament mit dieser Situation oft beschäftigen müssen – meistens sind wir Gesundheitspolitiker die Ersten, die hier im Parlament reden, und die Letzten, die gehen –, weil die Situation einfach so schwierig bleibt. Mit diesem Gesetz, mit dem wir heute die Fortgeltung beschließen, nehmen wir für uns in Anspruch, dass wir uns sehr wohl kritisch damit auseinandersetzen und vor allen Dingen auch jeden Punkt immer wieder einzeln beleuchten und hinterfragen und uns so unserer Verantwortung bewusst sind. ({0}) Deshalb: Die dreimonatige Fortgeltung stellt uns nicht nur vor die Aufgabe, die Maßnahmen immer wieder zu hinterfragen, sondern auch vor die Aufgabe, die Maßnahmen zu konkretisieren. Das haben wir mit der Impfstrategie und mit der Festlegung weiterer Punkte im Infektionsschutzgesetz und auch im SGB V gemacht. Wir haben dem Rechnung getragen, was die Diskussion und die Debatte uns aufgegeben haben. Wir haben diese Konkretisierung, was die einzelnen Bevölkerungsgruppen anbelangt, hier niedergeschrieben. Wir schreiben also nicht einfach fort, sondern wir entwickeln fort; das ist auch unser Auftrag. Damit haben wir, glaube ich, dem Rechnung getragen, was auch von Oppositionsseite an uns herangetragen worden ist, was wir in Anhörungen diskutiert haben, was wir unter uns diskutiert haben: dass es nämlich darum geht, alle Maßnahmen auch rechtsfest zu machen. Die Evaluierung ist einer der wichtigen Punkte, bei der wir als SPD-Fraktion auch immer wieder gesagt haben: Uns geht das nicht weit genug; mein Kollege wird dazu noch Ausführungen machen. Wir hätten das Infektionsschutzgesetz gerne befristet, weil wir glauben, dass wir die Lehren aus Corona auch im Infektionsschutzgesetz niederschreiben müssen. Aber die Evaluierung gibt uns die Chance, gibt dem nächsten Bundestag die Chance, das alles aus der Distanz noch mal richtig anzugucken und zu fragen: Was brauchen wir denn im Infektionsschutzgesetz, dessen Reichweite, als wir es hier im Parlament vor etlichen Jahren beschlossen haben, noch gar nicht abgesehen werden konnte? Jetzt ist es einfach die Grundlage für Entscheidungen und Maßnahmen. Das müssen wir uns angucken, und dafür sind wir auch da. Deshalb sage ich: Die Evaluierung ist einer der wichtigen Punkte. Was uns als SPD angeht: Wir würden neben der Impfstrategie gerne die Konkretisierung der Teststrategie hier diskutieren. Dafür bleibt die parlamentarische Debatte, dafür bleibt auch die Anhörung. Da können wir womöglich noch mal nachschärfen. Eines ist klar: Wir ruhen uns hier nicht aus, sondern wir reagieren. Wir wollen, dass die Bevölkerung den Eindruck hat – das ist, glaube ich, der Anspruch, den wir an uns selbst haben –, dass wir hier nicht leichtfertig handeln, sondern dass wir auf jeden Fall mit der Wissenschaft, mit den Praktikern vor Ort, in den Kliniken einen ständigen Austausch haben und auch reflektieren, was wir hier machen. Daher bitte ich, dass wir offen in die Beratungen gehen und dass wir auch Transparenz herstellen, sodass klar ist, dass wir unsere Entscheidungen nicht einfach durch Fingerschnippen, sondern auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Debatte treffen. Ich bedanke mich fürs Zuhören. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Gesetzentwurf werden erstmalig Impfziele festgelegt. Das begrüßen wir außerordentlich, liebe Karin Maag; das hast du ja ausdrücklich an die FDP gerichtet gesagt. Übrigens haben wir genau das in unserem Gesetzentwurf gefordert; die Koalition ist uns insofern gefolgt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das können Sie öfter machen. Als Serviceopposition gehen wir gerne in Vorleistung. ({0}) Die epidemische Lage von nationaler Tragweite soll jetzt vom Deutschen Bundestag alle drei Monate neu festgestellt werden. Gut so. Wir haben in unserem Antrag vom letzten Jahr zwar alle zwei Monate gefordert, aber: geschenkt! Aber ich frage mich immer wieder, warum Sie sich eigentlich so standhaft weigern, bei der Impfpriorisierung per Verordnung die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Das ist notwendig. Das verlangen wir. ({1}) Denn bei der Verteilung des Impfstoffes handelt es sich doch ganz zweifelsfrei um einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff. Es ist deshalb nicht nur die Aufgabe, es ist die Pflicht des Deutschen Bundestages, diese wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, meine Damen und Herren. ({2}) Ich kann es nicht oft genug sagen: Die Beschlüsse zur Impfpriorisierung müssen hier getroffen werden und nicht per Verordnung vom Ministerium. ({3}) Deswegen hoffe ich, dass Sie Ihren Gesetzentwurf noch nachbessern und diesen verfassungswidrigen Zustand beenden. Meine Damen und Herren, es hilft Ihnen auch nicht, im Parlament die epidemische Lage zu beschließen und sich damit sozusagen eine dreimonatige Dauergenehmigung für alle Verordnungen einzuholen. Eine Blankovollmacht für alle Verordnungen des Ministers ist nicht zulässig, meine Damen und Herren. ({4}) Wir wollen diese Dauergenehmigung nicht erteilen. Jetzt wird es noch schöner, Herr Spahn. Die MPK hat den Minister aufgefordert – ihm wurde sozusagen ein Prüfauftrag erteilt –, die Impfpriorisierung zugunsten der Lehrer und Erzieher zu ändern; also die MPK entscheidet, was Herr Minister prüfen soll. Das finde ich schon ein bisschen sehr eigenartig, meine Damen und Herren. ({5}) – Das ist gegen das Parlament, genauso ist es. Ich wollte es nicht ganz so hart formulieren; aber das ist ein Unding, meine Damen und Herren. Es geht ja gar nicht darum, ob Lehrer oder Erzieher zuerst geimpft werden, da sind wir ja ganz bei Ihnen. Aber das kann doch nicht von einer Ministerpräsidentenkonferenz oder im Ministerium entschieden werden. Das fällt eindeutig in die Zuständigkeit des Deutschen Bundestages. ({6}) Ich komme jetzt zu den notwendigen Verlängerungen der Geltungsdauer der Schutzschirme. Zu unserem großen Bedauern wurde sie leider nicht eins zu eins verlängert. Ich wurde in der letzten Woche von mehreren Kinderärzten angesprochen, die beklagen, dass der Rettungsschirm in der jetzigen Form nicht geeignet ist, ihre existenziellen Nöte abzumildern. Das betrifft leider auch andere Arztgruppen. Da muss dringend nachgebessert werden; denn nicht nur Kinderärzte, sondern auch alle anderen Fachärzte und andere Gruppen sind jetzt, in dieser besonderen Situation, ganz, ganz wichtig. Meine Damen und Herren, in der vorliegenden Form ist der Schutzschirm leider nicht geeignet, die Nöte der Gesundheitsakteure zu kompensieren; denn zum Beispiel Physiotherapeuten, Zahnärzte, Hebammen, um nur einige zu nennen, sind hier überhaupt nicht aufgeführt. Dazu wird sich mein Kollege Schinnenburg noch äußern. Meine Damen und Herren, zum Schluss muss ich noch etwas loswerden, was mich richtig geärgert hat: Sie haben diese Woche wieder einmal die Chance verpasst, den Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmern, den Kulturschaffenden Planbarkeit zu verschaffen und Perspektiven aufzuzeigen. Ein Stufenplan ist dringend erforderlich: Er muss verständlich und nachvollziehbar sein nach klaren Wenn-dann-Regeln, so wie unser Antrag, den wir am Mittwoch eingebracht haben. Ich freue mich auf die Beratungen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Danke. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Achim Kessler, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich teile die Befürchtung der Bundeskanzlerin, dass uns die Mutationen des Coronavirus noch viel Unheil bringen werden: Erstens sind sie ansteckender, und zweitens verringern sie zum Teil sogar die Wirkungen der Impfungen. In Deutschland geht zwar die Gesamtzahl der Neuinfektionen zurück; aber die Zahl der Infektionen mit den Mutationen steigt sprunghaft an. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass mit zwei Piksern alles erledigt ist. Meine Damen und Herren, ich befürchte, dass uns die Pandemie noch lange begleiten wird. Wir brauchen deshalb dringend eine langfristig angelegte Strategie zur Bekämpfung der Pandemie. Die Bundesregierung fährt seit einem Jahr auf Sicht. Das können wir uns nicht länger leisten. ({0}) Wir müssen schon jetzt Vorkehrungen treffen, dass der Impfstoff fortlaufend angepasst wird. Und wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit Impfstoffe an möglichst vielen Produktionsorten weltweit hergestellt werden können. Es stimmt: Der Aufbau von Produktionskapazitäten dauert Monate. Aber ich fürchte, wir werden diese Produktionsstätten angesichts der Mutationen noch lange brauchen. Der Gesundheitsminister trägt seit drei Monaten vor, welche Schwierigkeiten mit dem Aufbau von Produktionsstandorten verbunden sind. Diese Schwierigkeiten werden aber durch Nichtstun nicht weniger. Ich fordere Sie auf: Hören Sie endlich auf, wertvolle Zeit verstreichen zu lassen! Handeln Sie endlich! ({1}) Geben Sie die Patente für die Impfstoffe frei, damit sie überall, weltweit, produziert werden können. ({2}) Die rechtlichen Möglichkeiten dazu haben Sie und die ethische Verantwortung erst recht. Werden Sie dieser Verantwortung endlich gerecht! ({3}) BioNTech und Pfizer erhielten aus Steuermitteln 375 Millionen Euro für die Impfstoffentwicklung und die klinischen Studien. Der US-Konzern Pfizer erwartet einen Umsatz von 15 Milliarden Dollar mit dem Impfstoff. Pfizer und BioNTech zusammen haben durch den Impfstoff eine Gewinnerwartung von 4 Milliarden Euro. Ein unternehmerisches Risiko gibt es praktisch nicht, weil es Abnahmegarantien gibt. Und jetzt verlangt BioNTech erneut 400 Millionen Euro für den Aufbau zusätzlicher Produktionskapazitäten. Meine Damen und Herren, diese Forderung offenbart eine schamlose Profitgier in einer Situation, in der die ganze Welt von einer Pandemie und ihren gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen bedroht wird. ({4}) Sie ist das offene Eingeständnis, dass die Pharmaindustrie mit dem Aufbau der erforderlichen Produktionskapazitäten überfordert ist. Meine Damen und Herren, auch angesichts der 9 Milliarden Euro, die Sie für die Beschaffung von Impfstoffen bereitgestellt haben, muss die Produktion von Impfstoffen jetzt unter staatliche Kontrolle gestellt werden. ({5}) Es hat sich deutlich gezeigt, dass Profitstreben kein geeigneter Antrieb ist, um eine Pandemie zu bewältigen. Aber statt auf der Grundlage einer durch den Bundestag legitimierten Strategie entschlossen zu handeln, legen Sie uns erneut einen Gesetzentwurf vor, mit dem der Bundestag Regelungskompetenzen an die Bundesregierung abgibt. ({6}) Nehmen Sie den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, ernst. Er sagt genau wie wir seit Monaten: Die wesentlichen Entscheidungen müssen vom Parlament getroffen werden. ({7}) Die Linke steht zu unserer demokratischen Verfassung, und deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. ({8}) Je länger die Pandemie dauert, desto mehr verletzen Sie das Demokratieprinzip. ({9}) Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese zerstörerische Politik, die das Vertrauen in unseren Staat untergräbt. Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ich frage Sie: Wovor haben Sie Angst, dass Sie sich so standhaft weigern, die Verantwortung in dieser Krise selbst zu übernehmen? Hören Sie auf, sich hinter einer Kanzlerin und einer Bundesregierung zu verstecken, die ein völliges Impfchaos angerichtet haben. Die Entscheidungen müssen wieder in den Bundestag zurückgeholt werden, damit wir endlich handlungsfähig werden. Im ersten Entwurf des Gesetzes waren noch 3 Milliarden Euro Zuschuss für die Pflegeversicherung vorgesehen. Davon ist jetzt nur noch eine Verordnungsermächtigung übrig, dass die Bundesregierung der Pflegeversicherung einen Zuschuss geben kann. Damit überschreiten Sie endgültig die verfassungsrechtlichen Grenzen; denn das Haushaltsrecht ist das wichtigste Recht des Bundestages. Sie verunsichern die vielen Menschen mit Pflegebedarf, denen sie vollmundig eine Begrenzung ihrer Eigenanteile versprochen haben, weil sie zur Armutsfalle für Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen geworden sind. Diese Politik der sozialen Kälte lehnt Die Linke ab und deshalb auch Ihren Gesetzentwurf. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zahlreichen Debatten hier im Bundestag allein in dieser Woche zeigen, dass die Coronapandemie nach wie vor unser aller Leben bestimmt, dass die Lage ernst ist und gleichzeitig die Bürgerinnen und Bürger zunehmend mürbe werden und der Krise müde sind. Wir alle sehnen uns nach Normalität, nach einer Perspektive aus dieser Krise heraus. Aber – so ehrlich müssen wir auch sein – wir sind noch nicht über den Berg. Deswegen ist ein weiteres Gesetz zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite notwendig. Ich begrüße es ausdrücklich, dass jetzt die Regierungsfraktionen – und nicht allein die Regierung – die Initiative übernommen haben. Aber, meine Damen und Herren, was Sie uns hier vorgelegt haben, ist leider inhaltlich wenig von dem zu unterscheiden, was wir bisher gesehen haben. Sie sind einfach nicht bereit – und das ist nach wie vor das Problem –, aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen, oder Sie können es nicht. Und das ist der größte Fehler, den man in dieser Pandemie machen kann. ({0}) Meine Damen und Herren, wir brauchen Klarheit über die Rechtsgründe. In einer Demokratie ist es auch und gerade während einer Pandemie notwendig, die Einschränkung der Freiheitsrechte zu begründen; und begründet sind die Einschränkungen nur, wenn sie breit demokratisch legitimiert sind durch Bundestag und Bundesrat als verfassungsmäßige Organe. ({1}) Sie müssen hier dringend nachbessern; denn breite demokratische Legitimation ist auch die Voraussetzung für die Akzeptanz von freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Weiter, meine Damen und Herren: In einer Demokratie muss das Krisenmanagement nachvollziehbar, vorausschauend und angemessen sein. Von der Regierung gibt es im Dreiwochenrhythmus autoritäre Ansagen. Auch jetzt finden wir in der Vorlage der Regierungsfraktionen keine Strategie, die den Weg durch die und aus der Coronakrise aufzeigen würde. Wir brauchen aber, meine Damen und Herren – sonst werden wir es nicht schaffen –, das überzeugte Mitmachen der Bevölkerung beim Überwinden der Krise. ({2}) Deswegen halten wir einen Stufenplan für den Weg, für die Perspektive aus dieser Pandemie für nötig, mit Einheitlichkeit von Regeln bundesweit und Anpassung an das jeweilige Infektionsgeschehen regional: Wann können Schulen, Restaurants, Theater, ja, wegen meiner auch Friseursalons wieder öffnen, und unter welchen Bedingungen müssen sie eventuell für bestimmte Zeiträume wieder schließen? Das brauchen wir doch als Sicherheit, als Information. Das ist für die Menschen so wichtig. ({3}) Die Regierung und jetzt auch die Regierungsfraktionen verweigern das, was wir seit Monaten fordern, einen interdisziplinären wissenschaftlichen Pandemierat, der sich aus unterschiedlichen Wissenschaftlern zusammensetzt, aus Virologen, aus Medizinern, aber auch Sozialwissenschaftlern, Wirtschaftswissenschaftlern und Pädagogen. Wir brauchen ein breites Spektrum von Wissenschaftlern, die Maßnahmen erarbeiten und vorschlagen, die während der Durchführung die Wirksamkeit der Maßnahmen bewerten – das macht doch im Moment keiner – und entsprechende Anpassungen empfehlen. Das ist die Aufgabe eines Pandemierats, den Sie seit Monaten verweigern. ({4}) Was Sie mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, ist wirklich – ich habe es kaum geglaubt – eine halbherzige Evaluierung bis zum Jahre 2022. Wir brauchen solche Erkenntnisse aber jetzt, um die Maßnahmen jetzt zu begründen. ({5}) Ich verstehe es einfach nicht; ich verstehe nicht, warum Sie es nicht verstehen. Wir müssen die Maßnahmen jetzt begründen, und zwar wissenschaftlich und interdisziplinär. Die Kommunikation dieser Regierung in dieser Pandemie gegenüber der Bevölkerung ist eine absolute Katastrophe. Das muss sich endlich ändern. ({6}) Es sind nach wie vor viele Fragen offen: Wo sind die Produktionsanreize, zum Beispiel für Antigenschnelltests für den häuslichen Gebrauch? Eine wichtige Voraussetzung, um den öffentlichen Raum wieder öffnen zu können. Wo ist die gesetzliche Grundlage für die Impfpriorisierung, die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und der Präsident des Bundessozialgerichts fordern? Meine Damen und Herren, für Pflegeeinrichtungen drohen mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf sogar Verschlechterungen. Wir haben es gesehen: Vor allem ältere Menschen sind von dieser Pandemie betroffen – und ihre Angehörigen und die Einrichtungen, in denen sie gepflegt werden, und die Hausärztinnen und Hausärzte, die in diese Einrichtungen gehen und ihre Patienten weiter versorgen. Es war gut, dass Pflegeeinrichtungen in den Rettungsschirm aufgenommen wurden. Und die Priorisierung war gut, es war gut, dass mit dem Impfen in diesen Einrichtungen begonnen wurde. Aber, meine Damen und Herren, wir wissen noch nichts über die Folgeschäden. Und mit diesem Gesetzentwurf drohen nun sogar Mindereinnahmen; denn die Einrichtungen drohen jetzt aus dem Rettungsschirm rauszufallen, sie befürchten zum Teil einen Leerstand von bis zu 30 Prozent. Wir sollten lieber die Chance nutzen, die Heime für die Zukunft besser aufzustellen, damit sie krisenfester werden und damit nicht so viele Menschen in diesen Einrichtungen tatsächlich Opfer der Pandemie werden. ({7}) Herr Minister Spahn, wir haben ein Jahr lang bewusst versucht, konstruktive Opposition zu sein. ({8}) Denn in einer Krise passieren Fehler, vor allem in einer solch dynamischen Krise. Aber Fehler müssen benannt und korrigiert werden. Aber Sie wiederholen die alten Fehler, und damit verspielen Sie das notwendige Vertrauen der Menschen in dieser Krise. Legen Sie einen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Perspektiven-Stufenplan vor, und schaffen Sie die verfassungsrechtlichen Grundlagen dafür. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Thorsten Frei, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so: Als wir uns vor knapp einem Jahr das erste Mal mit den rechtlichen Grundlagen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie beschäftigt haben, da ging es um Gesetze und Verordnungen mit Fristen bis Ende Juni, bis September, bis zum Jahresende, manchmal auch bis zum 31. März 2021. Das ist ein wesentlicher Grund, warum wir heute hier zu diesem Thema zusammenkommen. Diese Fristen haben wir gesetzt in Zeiten, in denen wir uns, glaube ich, nicht haben vorstellen können, dass wir ein knappes Jahr später noch mitten in dieser Pandemie drinstecken, dass wir 60 000 Tote später sind und mit großen Herausforderungen gesundheitlicher, gesellschaftlicher, sozialer, aber auch ökonomischer Art befasst sind. Deshalb ist es notwendig, sich immer wieder auch mit den rechtlichen Grundlagen zu befassen. Ich will das ganz offen sagen: Ich habe sehr aufmerksam auch den Rednerinnen und Rednern der Oppositionsfraktionen zugehört. ({0}) Ich habe auch da viel Kluges gehört, ({1}) nicht nur, aber da war auch Kluges dabei. Deswegen will ich an dieser Stelle einfach sagen: Sie sollten nie unterstellen, auch an dieser Stelle nicht, dass die Regierungsfraktionen oder auch die Bundesregierung nicht bereit wären, aus Situationen und Entwicklungen zu lernen und die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Das tun wir. Das haben wir in den vergangenen Gesetzgebungsprozessen bewiesen, als es beispielsweise um das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz ging. Das werden wir auch in diesem Verfahren wieder beweisen. Ich sage Ihnen ausdrücklich zu: Wir sind daran interessiert, auch mit den Oppositionsfraktionen gemeinsam zu erörtern, wie wir es schaffen können, für diese Maßnahmen eine möglichst breite Mehrheit hier im Parlament zu haben. Das ist unser Ziel. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Frei, die Kollegin Lötzsch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Frei, dass Sie die Frage zulassen. – Der Minister ergreift ja nicht das Wort, also muss ich mich an Sie wenden, aber das mache ich natürlich auch sehr gerne. Sie haben gerade gesagt, dass Sie aus den Fehlern lernen wollen und Verbesserungen anstreben. Nun habe ich eine ganz konkrete Frage: Wie schätzen Sie es ein – darüber wird auch heute wieder in der „Tagesschau“ berichtet –, dass die Reihenfolge bei der Impfpriorisierung häufig verletzt wurde mit der kleinen Ausrede: Da sind ja Impfdosen übrig geblieben. – Aber man weiß von vielen Fällen, in denen sich schon vor Beginn der Impfungen Landräte, Bürgermeister usw. haben impfen lassen, wo dann einfach gesagt wurde: Na ja, da ist was übrig geblieben, lasst uns mal schnell impfen. ({0}) Wir haben am Mittwoch im Ausschuss mit dem Minister darüber gesprochen, und der hat gesagt: Da hat man keine rechtliche Handhabe, um das, ich sage mal, zu bestrafen, oder wie auch immer. – Ist das aus Ihrer Sicht ein Feld, auf dem man zu Veränderungen kommen müsste? Wenn ja, welche Veränderungen würden Sie vorschlagen? Wenn nein, warum nicht?

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lötzsch, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, warum wir darauf achten müssen, dass wir hier im Parlament die wesentlichen Fragen, die grundrechtsrelevant sind, selbst entscheiden und darüber hinaus der Bundesregierung bzw. in diesem Fall dem Bundesminister durch Verordnungsermächtigung die Möglichkeit geben, spezifisch auf die Herausforderungen zu reagieren. Wir tun das im Übrigen auch mit dem Gesetzentwurf, der heute eingebracht wird. Damit schaffen wir die Voraussetzungen, dass auf dieser Grundlage ausbuchstabiert werden kann, wie die Impfziele und die Impfpriorisierungen ganz konkret umgesetzt werden. Den Fall, den Sie beschreiben, finde ich bedauerlich; das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich finde das nicht nur bedauerlich, sondern das ist dort, wo es einen Missbrauch gibt, auch in höchstem Maße unsolidarisch und natürlich maximal unklug. Das kann man nicht anders formulieren. Das gilt insbesondere dann, wenn diejenigen, die an Regeln mitarbeiten, sie selber zu ihren eigenen Gunsten brechen. Das ist absolut indiskutabel. ({0}) Ich glaube, dass wir neben diesen Grundsätzen auch Flexibilität brauchen, um sicherzustellen, dass nicht am Ende eines Tages Impfdosen ungenutzt in der Ecke stehen bleiben. Deshalb kommt es darauf an, dass man durchaus auch definiert, wie man in solchen Fällen vorgeht. Ich denke da beispielsweise an Polizistinnen und Polizisten, die im Streifendienst sind, die jederzeit erreichbar sind, die im Feuer stehen und unmittelbar konfrontiert sind mit Situationen, in denen sie Kontakten nicht ausweichen können. ({1}) Dort müssen wir mehr tun, schneller impfen. Das ist eine Möglichkeit, damit umzugehen. ({2}) Ich will mich im Weiteren auf die grundsätzlichen juristischen Bemerkungen konzentrieren, weil wir nachher noch sehr gute Redner haben, die die übrigen Aspekte dieses Gesetzentwurfs beleuchten können. Ich kann beispielsweise nicht verstehen, warum man hier bemängelt, dass die Evaluierungsvorschrift, die wir ins Gesetz reinnehmen, nicht stark genug und dass sie zu langwierig sei. Warum denn eigentlich? Tun Sie doch nicht so, als ob die Bundesregierung, die Bundestagsfraktionen – die Regierungs- wie die Oppositionsfraktionen – nicht permanent auch wissenschaftlichen Rat einholten, und zwar nicht nur von Virologen und Epidemiologen, sondern natürlich interdisziplinär. Was kann falsch daran sein, dass wir neben der jederzeitigen Kontrolle und Überarbeitung dessen, was wir tun, auch längerfristig, also in den nächsten zwölf Monaten, externen wissenschaftlichen Rat einholen? Dazu muss sich die Bundesregierung verhalten, und dazu muss sich auch dieses Parlament verhalten. Das ist doch ganz selbstverständlich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Rottmann vom Bündnis 90/Die Grünen würde auch gerne eine Zwischenfrage stellen.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne, Herr Präsident.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sagen: Es ist doch gut, dass wir evaluieren. – Ich habe eine einzige Frage. Wir haben die ganze Zeit darüber geredet, dass die Inzidenzwerte dazu dienen, die Nachverfolgbarkeit von Kontakten in den Gesundheitsämtern zu ermöglichen. Der Wert, ab dem die Nachverfolgbarkeit nicht mehr funktioniert, ändert sich aber ständig. Warum brauchen wir jetzt eine Studie? Warum können wir nicht nach einem Jahr erklären: „Wie sind die Kapazitäten in den deutschen Gesundheitsämtern? Wie viele Kontakte können die ab welcher Inzidenz nachverfolgen?“, und darauf einen Stufenplan aufsetzen? Warum ist das nach einem Jahr nicht möglich? Das ist niemandem zu erklären. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dr. Rottmann, zunächst einmal ist es so, dass wir in den vergangenen Monaten vieles dafür unternommen haben, dass die Kompetenzen und Möglichkeiten im staatlichen Gesundheitswesen verbessert werden und dass eine Nachverfolgung unter besseren Umständen gewährleistet werden kann. Zum zweiten Punkt: Wo liegt die Schwierigkeit? Die Schwierigkeit liegt auch darin, dass wir es nicht nur mit einem Virus zu tun haben, sondern zunehmend auch mit Mutationen, die über eine höhere Infektiosität verfügen, die wir am Ende nicht einschätzen können. Da stehen wir vor der großen Gefahr, dass diese Mutanten auch in Deutschland – so wie wir es in anderen Ländern schon erlebt haben – die Oberhand gewinnen können. Zur dritten Frage, die Sie gestellt haben, Frau Dr. Rottmann: Warum kann man nicht auf diesen Inzidenzen aufbauend einen Stufen- oder Perspektivplan entwickeln? Dazu muss man sagen, dass wir das im Grunde genommen im § 28a des Infektionsschutzgesetzes bereits getan haben. ({0}) Wir haben darin als Parlament klar definiert, ab welchen Inzidenzen und möglicherweise anhand welcher zusätzlicher Indikationen welche Maßnahmen durch die Bundesregierung und die Landesregierungen möglich sind. Das haben wir gemacht. Ich will nicht ausschließen, Frau Dr. Rottmann, dass wir im parlamentarischen Verfahren auch dazu kommen, das noch etwas näher auszubuchstabieren. Sie haben mit Ihrem Anliegen ja recht, dass wir für die Menschen Perspektiven und eine Nachvollziehbarkeit brauchen. Das ist richtig und notwendig, ({1}) und deswegen können wir uns über solche Fragen auch im parlamentarischen Verfahren unterhalten. ({2}) – Frau Kollegin Haßelmann, natürlich tun wir das alles jetzt. Wir spielen doch nicht auf Zeit. Ganz im Gegenteil: Wir sind daran interessiert, dass die Dinge gut gelöst werden. Und da sind wir – ich habe es schon gesagt – auch an Zusammenarbeit interessiert. Ich will noch kurz zwei Aspekte erwähnen. Der eine ist: Wir nehmen die doppelten und dreifachen Netze aus dem Gesetz raus. Wir haben Vorschriften im Infektionsschutzgesetz, die ausschließlich auf die Covid-19-Pandemie anzuwenden sind. Insofern brauchen wir zusätzliche Fristen wie beispielsweise im § 5 nicht, weil wir alles auf die Grundlage der Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite stützen. Das haben wir am 25. März gemacht, und das haben wir am 18. November gemacht. Wir sagen jetzt, dass diese Regelungen auslaufen, wenn der Bundestag nicht innerhalb von drei Monaten die Fortgeltung der epidemischen Lage beschließt. Das heißt: maximal drei Monate. Das kann natürlich auch kürzer sein, und es ist auch überhaupt kein Problem. Sie haben ja vollkommen recht. Wir haben in der letzten Sitzungswoche zehn Debatten zu Covid-19 gehabt, ({3}) und wir haben in dieser Woche 13 Debatten zu Covid-19 gehabt. ({4}) Wir können das jedes Mal feststellen. Das ist keine große Leistung für unser Haus; das kriegen wir hin. Lassen Sie mich zuletzt noch auf das Thema der Impfziele und der Impfprioritäten eingehen. Ich finde es total erstaunlich, wie hier der Präsident des Bundesverfassungsgerichts mit seinen Interviewäußerungen bemüht wird, die wir absolut teilen, die wir beherzigen und die wir mit diesem Gesetzentwurf umsetzen. Natürlich: Artikel 80 des Grundgesetzes verlangt von uns, dass wir die wesentlichen Grundentscheidungen hier im Parlament treffen. Das tun wir. Wir haben es schon getan in § 20i des SGB V, und wir übersetzen das jetzt mit einer Zwillingsvorschrift in den § 20 Absatz 2a des Infektionsschutzgesetzes. Damit schaffen wir den stabilen rechtlichen Rahmen, in dem die Regierung ausformulierte und ausbuchstabierte weitere Maßnahmen treffen kann. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ulrich Oehme, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wann gesteht die Bundesregierung endlich einmal ein, dass sie – nicht nur bei Corona – versagt hat? Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Stein in einem Haus, das auf einem maroden Fundament ohne ausreichende wissenschaftliche Begründung errichtet wurde. Wir sagen: Beenden Sie diesen Lockdown! Geben Sie der Bevölkerung ihre Grundrechte zurück! ({0}) Die WHO gab am 13. Januar 2021 die Information heraus, dass eine positiv getestete Person ohne Symptome nicht infektiös ist. Bei richtiger Anwendung dieser Empfehlung haben wir möglicherweise keine Pandemie mehr. Und ohne jede wissenschaftliche Grundlage ist auch die wahllose Inzidenzgrenze der Bundesregierung von erst 50, jetzt 35. Warum nicht 13 oder 62,5? Gestern hatten wir in diesem Hohen Haus eine Aktuelle Stunde zur Forschungsfreiheit. Sie alle beteten unisono herunter, dass diese gegeben sei. Sie ist es nicht. Gestern feuerte der bayerische Ministerpräsident Söder Professor Lütge, weil sich dieser erlaubt hat, Kritik an den Coronamaßnahmen zu äußern. ({1}) Das ist bei Weitem kein Einzelfall, dass Personen, die die Regierung kritisieren, ihrer Ämter enthoben werden – so viel zur Forschungs- und Meinungsfreiheit in diesem Land. ({2}) Wir haben angesichts der Zustände in diesem Land kein Recht, andere Länder bezüglich ihrer Demokratie zu kritisieren. ({3}) Länder wie Schweden, die Ukraine und Russland haben gezeigt, wie man mit dieser Krankheit umgehen kann. ({4}) Eine sachliche, gesellschaftlich und wirtschaftlich verträgliche Lösung ohne die Gefährdung von vulnerablen Gruppen bestand auch in Deutschland seit Beginn des Ausbruchs. Inzwischen sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir eine moralische Entscheidung treffen müssen: Opfern wir das Wohl vieler für den Schutz weniger? Oder besser: Ist es gerechtfertigt, die Grundrechte zu beschneiden, Existenzen zu vernichten und das soziale Gefüge zu zerstören, um einen nie möglichen 100-prozentigen Schutz der Bevölkerung zu erreichen? Die Bundesregierung nahm und nimmt – denn anders kann diese Fortschreibung durch den vorgelegten Gesetzentwurf nicht verstanden werden – die verursachten Kollateralschäden ihrer Politik einfach hin. Durch sie stiegen Depression, häusliche Gewalt, die Selbstmordrate um das 10- bis 20-Fache; durch sie werden, nachdem die Insolvenzantragssperre Ende März ausgelaufen sein wird, Tausende von Existenzen vernichtet werden; durch sie werden wir – so sagen es Bildungsexperten bereits – eine verlorene Generation von Schülern haben; durch sie wurden Familien gespalten, verstarben Menschen, ohne ihren Angehörigen Lebewohl sagen zu können – und das alles mit einer nicht ausreichenden wissenschaftlichen Begründung. Deshalb fordert die AfD schon lange den Einsatz einer ständigen Kommission von Wissenschaftlern, die die epidemische Lage betrachten. ({5}) Allerdings – und hier möchte ich Frau Maag widersprechen – sollten dieser nicht nur Wissenschaftler der Leopoldina angehören, sondern auch Wissenschaftler, die eine kritische Meinung haben. ({6}) Wissenschaft lebt vom kontroversen Austausch. Nur durch eine solche Kommission bekommen wir hier, im Hohen Haus, die Daten, auf deren Basis wir unsere Entscheidungen fraktionsübergreifend treffen können. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk Wiese, SPD. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind sicherlich nach wie vor in einer sehr herausfordernden Situation, die immer noch einen verantwortlichen Umgang mit der aktuellen Coronapandemie erfordert. Wir müssen einfach feststellen, dass die Lage nach wie vor sehr volatil ist. Wir sehen, wenn wir den Blick in unser Nachbarland Tschechien richten, warum es richtig ist, aktuell und kurzfristig situativ zu reagieren und gerade hier ab dem Wochenende auch stationäre Grenzkontrollen möglich zu machen, um diese Viruspandemie weiter einzudämmen. Nichtsdestotrotz sehen wir auch Licht am Ende des Tunnels. Wir sehen, dass die Zahlen langsam heruntergehen; wir wünschen uns durchaus mehr. Aber wir sehen auch, dass das Impfen voranschreitet und wir dadurch auch Möglichkeiten haben, den Bürgerinnen und Bürgern andere Perspektiven aufzuzeigen. Es ist aber – ich habe es angesprochen – nach wie vor herausfordernd. Darum ist es richtig, den Rechtsrahmen, die Verlängerung der epidemischen Lage, heute auf den Weg zu bringen. Es ist notwendig. Dieser Rechtsrahmen bietet eine Abwägung auf der einen Seite in der situativen Reaktion, in dem Erlass von Verordnungen, die es möglich machen, immer wieder auch schnell zu reagieren, und das ist auch richtig. Das ist aber nur möglich, weil der Deutsche Bundestag hierüber entscheidet und der Deutsche Bundestag diese epidemische Lage auch verlängert, und das ist richtig. Ich bin überrascht angesichts der Debatten in dieser Woche, die ich hier auch verfolgt habe, dass diejenigen, die am lautesten die Beteiligungsrechte des Bundestages einfordern, die am lautesten deutlich machen, wie wichtig es ist, dass der Bundestag sich damit beschäftigt, dann, wenn er entscheidet, wie Christian Lindner heute Morgen wieder durch Abwesenheit glänzen. ({0}) Das kann ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen. Darüber kann ich, liebe Kollegen der FDP, nur den Kopf schütteln. Die Verlängerung der epidemischen Lage ist ein Rechtsrahmen. Sie führt nicht dazu, dass alles automatisch verlängert wird bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Nein, sie macht es genauso erforderlich und übrigens auch möglich, dass wir über intelligente Öffnungskonzepte, regionale Differenzierungen diskutieren und auch die notwendige Debatte in den nächsten Wochen führen: Was kann man wie, in welcher Form und wann wieder öffnen und zulassen? Das ist eine Erwartungshaltung, die die Bürgerinnen und Bürger zu Recht an uns haben. Diese Herausforderung müssen wir annehmen und diese Debatte, auch aus meiner Sicht, hier sehr sachlich führen. Ich bin allerdings, wenn ich das sagen darf, Frau Schulz-Asche, etwas irritiert gewesen von Ihrer Rede. ({1}) Sie haben davon gesprochen, dass es autoritäre Ansagen der Bundesregierung gibt, die aus Ihrer Sicht – ich will es mal zusammenfassen – nicht verhältnismäßig sind. Ich glaube, es gab eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in Mannheim in dieser Woche, in der die baden-württembergische Landesregierung, die von den Grünen geführt wird, im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkungen zurechtgewiesen worden ist, wie man entsprechende Verordnungen nicht erlässt. Sie haben in Baden-Württemberg deutlich gezeigt, dass Sie sich nicht an Recht und Gesetz im Hinblick auf § 28a Infektionsschutzgesetz gehalten haben. Da muss ich ganz deutlich sagen: Das ist nicht das, wie wir uns verhältnismäßige Maßnahmen vorgestellt haben. Die sind da definitiv in die falsche Richtung gegangen. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schulz-Asche?

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie mir wirklich gut zugehört haben. Der Zusammenhang, in dem ich von autoritären Ansagen gesprochen habe, bezog sich auf die Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten und die daraus folgenden Anordnungen, die nicht vom Parlament legitimiert sind. ({0}) Von daher bitte ich Sie, das zur Kenntnis zu nehmen und, da Ihre Fraktion ja daran beteiligt ist, den Gesetzentwurf zur epidemischen Lage entsprechend weiterzuentwickeln, darauf Rücksicht zu nehmen und dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam als demokratische Fraktionen in diesem Parlament hier zu Verbesserungen kommen. Ich würde Ihnen empfehlen, das nicht für einfache Wahlkampfaktionen zu nutzen, sondern tatsächlich zuzuhören; denn hier geht es um eine ernste Sache, und zwar die epidemische Lage nationaler Tragweite. ({1})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für die Zwischenbemerkung, weil sie mir möglich macht, einiges klarzustellen. – Ich habe manchmal den Eindruck – Sie haben es jetzt auch noch mal gesagt, was mich, ehrlich gesagt, darin bestätigt –, dass Sie hier versuchen, den Eindruck zu vermitteln, dass Sie da gar nicht mit am Tisch sitzen, dass Sie damit gar nichts zu tun haben. ({0}) Ihr grüner Ministerpräsident sitzt in sämtlichen Runden mit dabei. ({1}) Ich muss auch ganz klar sagen: Wenn Sie dann auch die Landtage mit in den Blick nehmen – – ({2}) – Frau Haßelmann, es tut manchmal weh, wenn man den Spiegel vorgehalten kriegt; aber Sie haben Regierungsverantwortung in elf Bundesländern. ({3}) Sie können sich nicht hierhinstellen und sagen, Sie hätten mit der ganzen Sache nichts zu tun; das funktioniert nicht. ({4}) Frau Schulze-Asche, ({5}) wenn Sie die Landtage ansprechen – darauf sind Sie gerade eingegangen –, ({6}) dann wundere ich mich schon – wenn wir im weiteren Verfahren jetzt in die Beratungen einsteigen –, warum ich von Ihnen nichts höre, dass wir darüber nachdenken müssen, uns auch § 28a Absatz 7 anzuschauen. Der § 28a Absatz 7 besagt nämlich, dass Landtage die Fortgeltung der epidemischen Lage unbefristet beschließen können. Ich bin sehr dafür, dass dieses auch nur befristet erfolgt. ({7}) Hierzu höre ich von Ihnen zum Beispiel gar nichts. Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich in die laufenden Beratungen einbringen. Ich kann nur sagen: Das, was der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim aufgrund von § 28a entschieden hat, ({8}) den wir als Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht haben, war richtig und hat gezeigt, dass Sie nicht verstanden haben, wie man das angemessen zu machen hat. Diese Kritik müssen Sie sich heute auch gefallen lassen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wiese, auch die Kollegin Dr. Rottmann würde gerne noch eine Zwischenfrage stellen.

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, ich habe das vermutet. – Das ist aber jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich während Ihrer Rede zulasse.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wiese, ich kenne den § 28a Infektionsschutzgesetz sehr gut; denn vielleicht erinnern Sie sich daran, dass wir Grüne daran intensiv mitgearbeitet haben. ({0}) Herr Kollege Wiese, was mir bei der SPD ein bisschen Sorgen macht, ist, dass Ihnen in einer Debatte über ein Gesetz hier im Deutschen Bundestag nichts anderes mehr einfällt, als auf Landesregierungen zu verweisen. Die sind nun nicht dafür zuständig, ({1}) die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, sondern das sind wir hier. Ich will Ihnen einen dritten Hinweis geben: In Baden-Württemberg ist der Landtag an der Entscheidung über die Verordnungen beteiligt. Das ist ein wesentlicher Unterschied. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, ohne Mikrofon nützt es nichts. – Jetzt antwortet der Kollege Wiese. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie noch eine weitere Zwischenfrage haben: Sie dürfen gerne. ({0}) – Okay, gut. Das ist nicht der Fall. Frau Dr. Rottmann, ich bin gerade ein bisschen darüber irritiert, dass Sie suggerieren, dass die Verlängerung der epidemischen Lage, die die Anwendbarkeit des § 5 und des § 28a des Infektionsschutzgesetzes möglich macht, auf deren Grundlage Entscheidungen in der MPK getroffen ({1}) und Coronaschutzverordnungen der Länder erlassen werden, gar nichts mit den Landesregierungen zu tun hat. Es tut mir leid; aber ich sage das noch einmal: In elf Landesregierungen regieren Sie mit, und Sie haben in einigen Landesregierungen – das zeigt sich gerade exemplarisch in Baden-Württemberg – Maßnahmen erlassen, die nicht Recht und Gesetz entsprechen. Sie haben eine Niederlage vor dem Verwaltungsgerichtshof in Mannheim eingefahren, ({2}) weil Sie nicht angemessene Regelungen getroffen haben, und das müssen Sie sich heute hier auch anhören. Ich kann nichts dafür, dass es Ihnen nicht gefällt, dass Sie sich in Baden-Württemberg nicht an Recht und Gesetz gehalten haben, und das muss man hier einmal ausführen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will trotz Zwischenrufen von Frau Haßelmann, die aber keine Frage mehr zu stellen scheint, sondern sich auf Zwischenrufe beschränkt, gerne auf das Thema zurückkommen. Für das weitere Verfahren ist es wichtig – da will ich an Hilde Mattheis anknüpfen –, dass wir es für gut und richtig halten, die Evaluierung aufgenommen zu haben. Wir wissen aber auch, dass Evaluierungen, die an keine Fristen geknüpft sind, durchaus manchmal in Schreibtischschubladen verschwinden. Darum ist es richtig, diese Evaluierung und damit auch das Infektionsschutzgesetz einer Befristung zuzuführen. Wir müssen im Verfahren sehr genau darüber diskutieren. Das gilt auch für die Diskussion über die Vorhersehbarkeit und über Stufenpläne. Dazu gibt es Möglichkeiten in § 28a Absatz 3 Infektionsschutzgesetz; damit müssen wir uns noch genauer beschäftigen. Ich freue mich jedenfalls auf die parlamentarischen Beratungen. Mit Blick auf die Zwischenfragen der Grünen scheint das sehr lebhaft zu werden. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Wieland Schinnenburg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen fehlt es an D und an D. Dafür haben Sie ein drittes D zu viel. Der Reihe nach: Das erste D steht für „Demokratie“. Ihr Gesetzentwurf wird dazu führen, dass der Deutsche Bundestag beim Thema Corona nur noch ein Abnickorgan ist. Wir dürfen dann alle drei Monate beschließen: „Ja, die epidemische Lage besteht noch“, und der Rest wird durch Verordnung geregelt. Meine Damen und Herren, das macht die FDP nicht mit. ({0}) Das zweite D steht für „Dankbarkeit“. Ganz oft in den Debatten hier haben wir darüber gesprochen, wie vielen Menschen im Gesundheitswesen wir dankbar sein sollten. Viele von denen lassen Sie jetzt im Regen stehen. Fangen wir an mit den niedergelassenen Ärzten. Sie wissen ganz genau, dass wir es den niedergelassenen Ärzten zu verdanken haben, dass unser Gesundheitssystem nicht zusammengebrochen ist, weil sie mindestens drei Viertel der Patienten behandeln, sodass diese gar nicht erst ins Krankenhaus kommen und die Krankenhäuser auch gar nicht überlasten können. Wir sind den niedergelassenen Ärzten zu großem Dank verpflichtet, meine Damen und Herren. ({1}) Sie hatten vor einem Jahr die richtige Konsequenz gezogen, indem Sie den niedergelassenen Ärzten 90 Prozent des Honorars abgesichert haben. Diese Vorschrift läuft aus, und Sie verlängern sie nicht. Sie lassen die niedergelassenen Ärzte allein. Das machen wir als FDP auch nicht mit. ({2}) Die zweite Gruppe, an die es zu denken gilt, sind die Menschen, die in der Pflege arbeiten. Ich denke da sowohl an die professionellen Pflegeeinrichtungen als auch an die pflegenden Angehörigen. Jeder weiß, dass diese an der Grenze ihrer Belastbarkeit für uns alle arbeiten. Nicht nur den zu Pflegenden, sondern uns allen helfen sie. Auch die lassen Sie alleine. Der erste Punkt: Bisher war es so, dass alle Mindereinnahmen von Pflegeeinrichtungen abgedeckt werden. Das ändern Sie jetzt. Nur noch in bestimmten Fällen werden diese abgesichert. Der zweite Punkt: Bei den Pflegehilfsmitteln werden bisher bis zu 40 Euro erstattet. Im Entwurf stand ursprünglich, dass das auf 60 Euro erhöht wird. Das haben Sie gestrichen. Das ist eine skandalöse Knauserei, die wir als FDP nicht mitmachen, meine Damen und Herren. ({3}) Ich komme zu den weiteren Gruppen. Physiotherapeuten, Logopäden und Hebammen bekommen keine Hygienepauschale. Zahnärzte werden auf eine Liquiditätshilfe reduziert, und die Homecarer bekommen erst gar nichts. Meine Damen und Herren, so geht man nicht mit den Menschen um, denen wir so viel verdanken. ({4}) Kurz gesagt: Erst gab es von Ihnen warme Worte, und jetzt gibt es die kalte Schulter. Ja, und dann ist da noch das dritte D. Das dritte D steht für „Droge“. Sie sind der Droge der Macht verfallen. ({5}) Sie können es nicht ertragen, dass das Parlament mitreden soll. Wir sollen nur noch alle drei Monate zu irgendetwas zustimmen, meine Damen und Herren. Das macht die FDP als Rechtstaatspartei nicht mit; da können Sie sicher sein. ({6}) Wir als FDP werden uns weiter für die Menschen engagieren, die im Gesundheitswesen an der Grenze ihrer Möglichkeiten arbeiten. Die dürfen nicht im Stich gelassen werden. Denen müssen wir helfen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nach über einem Jahr ist die Pandemie noch immer virulent; das ist die klare Überzeugung einer breiten Mehrheit in diesem Hohen Haus. Die AfD scheint sich noch nicht einig zu sein, ob sie einen Expertenrat für eine Epidemie einsetzen will, die es angabegemäß gar nicht gibt. Aber jedenfalls sind wir uns einig, dass wir leider und wider Erwarten nach über einem Jahr mit diesem Thema eben nicht durch sind. Deshalb debattieren wir heute heftig über etwas, was zentral ist, nämlich einen Beschluss für die Fortgeltung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, der eigentlich das zentrale Element der parlamentarischen Mitwirkung bei der Pandemiebekämpfung ist. Er ist, meine Damen und Herren, die Grundlage für das Handeln der Exekutive, die da besonders gefordert ist. Aber er ist natürlich auch der Rahmen und die Beschränkung – so wie wir es gerade beispielsweise vom Kollegen Wiese gehört haben – für das, was die Exekutive an dieser Stelle kann. Wir haben im Rückblick alle miteinander – auch das Parlament – ganz bewusst Verantwortung wahrgenommen. Ich glaube, dass der große Teil hier der Überzeugung ist, dass der noch immer laufende Lockdown richtig und wichtig war und zu den Ergebnissen führt, die wir momentan in den Zahlen sehen. Wenn man dann formuliert, dass Deutschland relativ gut durch die Pandemie kommt, so darf man das nicht unkritisch sagen; auch das sage ich. Da sehe ich das durchaus so wie der Kollege Frei, der das mit Blick auf die Opposition und die Kritik gesagt hat. Wir haben zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Finanzhilfen nicht so zu den Menschen gekommen sind, wie das notwendig war. Oder um es mit den Worten von Herrn Scholz zu sagen: Die Bazooka hatte an dieser Stelle Ladehemmung. – Deshalb haben wir alle miteinander – übrigens sowohl Opposition wie auch die regierungstragenden Fraktionen – darauf gedrängt, dass sich das bei der Überbrückungshilfe III jetzt ändert. Ich habe auch gelernt, dass Deutschland als Land der Einzelfallgerechtigkeit ohne Bürokratie nicht kann. Deshalb bin ich sehr vorsichtig bei dem, was hier gelegentlich zum Thema Impfpriorisierung vorgetragen wird. So wie Sie sich das vorstellen, nämlich das im Klein-Klein zu regeln, möglichst mit Bundestagsbeschluss, kommen wir am Schluss in ein Fahrwasser, das uns jede Flexibilität nimmt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Bei mir im Wahlkreis wurden, anders als die Priorisierung das vorsah, die Bewohner eines Behindertenheims durchgeimpft. Die wären nach der vorgesehenen Impfreihenfolge später dran gewesen. Aber es ist ein Infektionsherd, und die Verordnung des Ministers gibt an dieser Stelle auch her, das entsprechend zu machen, um vor Ort wirklich richtig und zielführend damit umzugehen. Wir brauchen diese Flexibilität. Wir brauchen sie auch bei der Frage: Wie geht es in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen mit dem Lockdown weiter? Wir müssen hier sehr genau abwägen zwischen Gesundheitsschutz auf der einen Seite und der ökonomischen wie gesellschaftlichen Stabilität unseres Landes auf der anderen Seite. Das ergibt sich aus unserem Grundgesetz, aber eben auch unmittelbar aus dem hier im Haus beschlossenen § 28a Infektionsschutzgesetz. Er regelt nämlich beispielsweise sehr schlüssig, dass dann, wenn die Inzidenzzahlen solide unter 50 sind, ein pauschaler, umfassender Lockdown nicht mehr möglich ist. Auch das haben wir doch letztendlich entsprechend geregelt. Und er gibt vor, dass wir Differenzierungen nach Regionen und Lebensbereichen machen müssen. Und das ist mir ein ganz besonderes Anliegen, dass wir jetzt zügig an diesen Punkt kommen. Lockdown ist eine Maßnahme, um eine Welle zu brechen. Doch, meine Damen und Herren, was kommt danach? Jedem, der heute über Lockerungen spricht, wird unterstellt, es ginge ihm leichtfertig darum, irgendwie wieder zu öffnen und normales Leben zu spielen. Nein, es geht doch um die Frage: Wie gehen wir nach dem Lockdown – was ja irgendwann einmal relevant wird – mit dieser Thematik um? Und da brauchen wir zusätzliche Konzepte. Da ist auf der einen Seite beschlossen, dass sie aus der Reihe der Ministerpräsidenten, der Staatkanzleien erarbeitet werden sollen. Aber es ist auf der anderen Seite natürlich auch unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag, darüber zu diskutieren und damit umzugehen. Impfen: Wie machen wir das? Medikamente: Da passiert mir noch zu wenig; da müssen wir noch stärker in die Richtung gehen, das voranzubringen. Aber auch da vertraue ich auf den Bundesgesundheitsminister, dass er das Thema im Blick hat. Und das Testen: Nachdem wir gesehen haben, dass es aus irgendwelchen Gründen bei den Altenheimen nicht so geklappt hat, wie wir es uns vorgestellt haben, ({0}) müssen wir noch stärker darauf drängen, dass wir in der Fläche testen, dafür Sorge tragen, dass wir die identifizieren können, die tatsächlich angesteckt sind. Und das ist für mich dann auch wichtig, Schlüsse zu ziehen. Meine Damen und Herren, wir brauchen letztendlich einen Datenschutz – ich komme zum Schluss –, der die Gesundheitsdaten des Einzelnen schützt. Aber verhindern wir doch in Gottes Namen nicht die Forschung, und verhindern wir in Gottes Namen nicht die Möglichkeit, auch hier in der Breite Schutz für die Menschen zu erwirken. Wir wissen noch zu wenig, zum Beispiel über Ansteckungsherde, und das muss sich, meine Damen und Herren, zügig ändern. Dass der Deutsche Bundestag das Thema so offen diskutiert, das straft diejenigen Lügen, die hier versuchen, etwas anderes darzustellen, und ihre eigene Rolle als Opposition bei dieser Gelegenheit kleinreden. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Edgar Franke, SPD, hat als Nächster das Wort. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder Tag mit Grundrechtseinschränkungen ist, glaube ich, ein Tag zu viel; da sind wir alle einer Meinung. Aber ich sage auch: Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Die Pandemie macht leider Maßnahmen notwendig, die unsere Freiheitsrechte massiv einschränken. Aber ich sage – auch in Richtung der AfD –: Das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit geht grundsätzlich allen Rechten in unserer Rechtsordnung vor. Das muss man ausdrücklich hier betonen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Die Freiheitsrechte gelten in einem Rechtsstaat nicht unbeschränkt. Grundrechtsbeschränkungen sind nur möglich, solange die Coronamaßnahmen verhältnismäßig sind. Diese Rechtsschranke, wenn Sie so wollen, haben wir ja. ({1}) Ich hoffe sehr – wir hoffen das alle –, dass wir die Einschränkungen schrittweise aufheben können. ({2}) Wir alle wollen wieder ins Stadion, wir alle wollen wieder ins Restaurant, wir alle wollen wieder Kultur genießen. Wir freuen uns, dass die Friseure wieder aufmachen. Das bringt mir persönlich allerdings nicht so viel; das muss ich auch sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Wir wollen Verwandte und gute Freunde wieder umarmen. Leider ist es noch nicht so weit. Gerade Familien mit kleinen Kindern wissen, wie hart es ist, dass man jetzt noch Geduld braucht. Neben Geduld brauchen wir aber auch Verlässlichkeit, ({4}) Verlässlichkeit, wenn es darum geht, wer wann geimpft wird; wir haben ja eine Priorisierungskonkretisierung im Gesetz. Das heißt, es muss nachvollziehbar sein, warum gewisse Teile der Bevölkerung früher oder später geimpft werden. Ein gutes Beispiel sind – erstens – Schulen und Kitas: Einerseits wollen wir wieder öffnen, andererseits wird dort bis jetzt kaum jemand geimpft. Das ist sicherlich ein Problem; das muss man auch ganz klar sagen. Deswegen sollten wir nochmals überprüfen, ob Kinder, Lehrer und Erzieher nicht früher geimpft werden könnten. Wir müssen sehen, wie wir das mit der STIKO-Empfehlung vereinbar machen können. ({5}) Offene Schulen, offene Kitas sind nicht nur für Kinder, sondern auch für Familien absolut notwendig, meine sehr verehrten Damen und Herren. Auch hier muss Gesundheit an erster Stelle stehen, gerade wenn wir auch bei uns in Deutschland Mutationen nachweisen. ({6}) Wir brauchen jetzt – zweitens – eine Verlässlichkeit auch bei den rechtlichen Rahmenbedingungen. Heute haben wir im Detail schon das Gesetz debattiert, und es wird für mehr rechtliche Verlässlichkeit sorgen. Es erlaubt nämlich den Regierungen und dem Bund, Maßnahmen zu treffen. Aber wir stellen eben gerade keinen Blankoscheck aus; ({7}) weder Minister Spahn noch der Regierung wird ein Blankoscheck ausgestellt. Der Bundestag hat immer das letzte Wort, und § 28a Infektionsschutzgesetz hat eine ausdifferenzierte Regelung. Ich glaube, das ist eine rechtsstaatliche Regelung, eine gute Regelung und eine Regelung, die man nachvollziehen kann, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({8}) Außerdem: Ohne einen Bundestagsbeschluss laufen alle Regelungen, auch die Verordnungen, automatisch nach drei Monaten aus. ({9}) Bei den wichtigen Entscheidungen führt also kein Weg am Bundestag vorbei. ({10}) Das ist auch gut so. Das sind Dämme, das ist ein Primat; der Bundesverfassungsgerichtspräsident hat es mehrmals angesprochen. Alle wichtigen Entscheidungen müssen in einer Demokratie im Parlament getroffen werden, und dem tragen wir mit diesem Gesetz auch Rechnung. Auch das muss man ausdrücklich sagen. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit einem Jahr müssen wir mit Corona leben. Das verlangt wirklich von uns alles ab. Wir sind ja im Wahlkreis unterwegs, wir wissen, was das bei den Menschen, bei den Familien bewirkt. Deshalb brauchen wir sicherlich auch für unsere Gesellschaft eine klare Perspektive, wir brauchen eine klare Strategie; das muss man auch ganz klar sagen. Wir müssen schrittweise zur Normalität zurückkehren. ({12}) Nur das gibt Hoffnung, und das schafft Vertrauen. Die Kanzlerin sagt immer: das Licht am Ende des Tunnels. Nur mit Vertrauen, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen wir gemeinsam aus dieser Pandemie. Für uns Sozialdemokraten gilt: Gelebte Solidarität ist hierbei das wirksamste Mittel. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt über eine Stunde über die Bekämpfung der Coronapandemie gesprochen, und ich habe sehr aufmerksam zugehört, insbesondere den Worten, die die Opposition hier an die Koalition gerichtet hat. ({0}) – Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Kollege. – Es hat mich schon ein bisschen erstaunt und – das will ich auch sagen – an der einen oder anderen Stelle erschüttert, dass es dort einen roten Faden gab, der sich durch so ziemlich alle Argumentationen der Oppositionsfraktionen gezogen hat. Was mich jetzt nicht erstaunt hat, war, dass die AfD wieder von Komplettversagen gesprochen hat, dass sie uns vorgeworfen hat, man würde hier ein Ermächtigungsgesetz schaffen. Dazu haben wir an anderen Stellen schon gesagt: Wer in diesem Zusammenhang von „Ermächtigungsgesetzen“ spricht, ({1}) wer auf die NS-Diktatur anspielt, der disqualifiziert sich selbst, meine Damen und Herren. Dazu braucht man nichts weiter zu sagen. ({2}) Dass Die Linke an dieser Stelle von der Verletzung des Demokratieprinzips spricht, ist etwas, das man an dieser Stelle nicht anders erwarten muss. Dass die FDP an dieser Stelle sagt, der Deutsche Bundestag sei nur noch ein Abnickorgan, dazu muss ich, Herr Kollege, sagen: Sie halten hier sonst gute Reden und sind auch sonst gut in Ihrer Argumentation, aber ich glaube, das war unter Ihrem Niveau. Was mich dann schon noch ein bisschen gewundert hat: Die Grünen haben in der Vergangenheit doch sehr konstruktiv an diesen ganzen Dingen mitgewirkt. Aber wenn man jetzt von autoritären Ansagen spricht, wenn man davon spricht, dass es an demokratischer Legitimation fehlen würde, wenn man fragt: „Wo ist die gesetzliche Grundlage?“, und hier in den Raum stellt, dass die Maßnahmen, die wir in den letzten Wochen besprochen haben, nicht legitimiert seien, dann muss ich mich schon fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wo waren Sie eigentlich heute, als wir eine Stunde über dieses Thema diskutiert haben? Wo waren Sie gestern bei der Regierungserklärung? Wo waren Sie bei den vielen Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag, in den Ausschüssen und in vielen Kommissionen miteinander geführt haben, wo wir genau über diese Fragen gesprochen und die demokratische Legitimation sichergestellt haben? ({3}) Ich glaube, Sie müssen sich noch einmal genau anschauen, was wir gemacht haben. Wir als Deutscher Bundestag haben die Zügel ganz fest in der Hand. Bei dem, was wir heute machen und was wir im letzten November gemacht haben, als wir § 28a Infektionsschutzgesetz auf den Weg gebracht haben, geht es darum, dass die wesentlichen Entscheidungen, die uns das Bundesverfassungsgericht mit dem Kollegen Stephan Harbarth als Präsident aufgetragen hat, wir als Deutscher Bundestag, wir als Parlament selber treffen. Und wir machen das genau so, wie die Verfassung das vorsieht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir treffen hier im Deutschen Bundestag die wesentlichen Entscheidungen. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gern.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege, Sie haben gesagt, die wesentlichen Fragen werden hier im Deutschen Bundestag besprochen. Halten Sie die Frage der Impfpriorisierung für eine wesentliche Frage, die der Deutsche Bundestag entscheiden muss? Es wurde vorhin in den Reden angesprochen: Wir reden jetzt zum Beispiel demnächst darüber, ob Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer in der Impfpriorisierung weiter nach oben rutschen dürfen oder nicht. Halten Sie es für richtig, dass genau darüber hier im Deutschen Bundestag gesprochen wird, und glauben Sie, dass das von Ihnen vorgelegte Gesetz eine entsprechende Einstufung erlaubt? Vielen Dank. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie diese Fragen stellen. Das gibt mir Gelegenheit, das ausführlicher zu beleuchten. – Genau darüber diskutieren wir heute. ({0}) Ja, nun hören Sie erst mal zu! – Wir legen im Infektionsschutzgesetz die Impfziele fest, die wir schon im SGB V festgelegt haben. Das heißt, wir haben jetzt zwei komplementäre Regelungen, die genau sagen – die Ständige Impfkommission eruiert das wissenschaftlich –, um welche Ziele es geht. Mit diesen Grundlagen, die klar und präzise sind, aber – das will ich auch sagen – die natürlich auch die notwendige Flexibilität lassen, um etwa auf Mutationen von Viren zu reagieren und Anpassungen vorzunehmen, schaffen wir den entsprechenden Rahmen. ({1}) Damit entsprechen wir in allerbester Weise dem, was das Grundgesetz uns in Artikel 80 vorgibt. Den Rahmen – die wesentlichen Entscheidungen – setzen wir als Parlament, aber wenn es um die konkrete Ausgestaltung geht, um die flexiblen Regelungen, einfach weil man auch schnell sein muss, das macht die Exekutive. Deswegen debattieren wir heute darüber, und genauso legen wir es dann im Infektionsschutzgesetz und im SGB V fest. Deswegen ist verfassungsrechtlich in gar keiner Weise zu beanstanden, was wir hier heute machen. ({2}) Von der FDP kommt oft, Frau Kollegin, dass man hier ein Abnickorgan sei. Sie fokussieren sich auf die Ministerpräsidentenkonferenz. Natürlich, liebe Grüne, ist die Ministerpräsidentenkonferenz keine verfassungsrechtliche Institution. Sie ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. ({3}) Aber ich will nur sagen: Sie spielen darauf an, dass es dort keine demokratische Legitimation geben würde. Diejenigen, die in der Ministerpräsidentenkonferenz sitzen, sind alles demokratisch gewählte Ministerpräsidenten. Natürlich haben die auch eine demokratische Legitimation. Deswegen geht der Vorwurf, den Sie erheben, schon von vornherein in die falsche Richtung. Ich will noch einmal sagen: Das, was in der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wird, muss in den Ländern umgesetzt werden, und das wird umgesetzt auf der Grundlage der Regelung, die wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Der § 28a Infektionsschutzgesetz ist die richtige Grundlage, und diese Grundlage ist ein klarer und auch verbindlicher Rahmen. Wir haben das in den letzten Wochen und Monaten gesehen: Es gibt Gerichte, die sich sehr genau anschauen, ob die Maßnahmen, die in den Ländern ergriffen worden sind, der Grundlage, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat, entsprechen. ({4}) Und die Gerichte kassieren auch die Regelungen, wenn sie dem nicht entsprechen. Deswegen geht der Vorwurf, wir als Deutscher Bundestag würden nur abnicken, wir würden keine demokratische Legitimation für die Maßnahmen gewährleisten, völlig an der Realität vorbei. Vielmehr haben wir einen klaren, einen verbindlichen Rahmen für die Pandemiebekämpfung gegeben. Deswegen haben diese Maßnahmen auch die demokratische Legitimation, die ganz unmittelbar von der Legitimation des Deutschen Bundestages abgeleitet ist, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, die Frau Kollegin Dr. Rottmann würde noch gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Oh, Frau Rottmann stellt heute viele Fragen. Selbstverständlich, immer gern, Frau Kollegin.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Luczak, dass ich noch eine Frage stellen darf. – Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kinobetreiber und seit Monaten ist Ihr Kino geschlossen. Die Frage, ob Sie bei 50er-Inzidenz wieder aufmachen dürfen oder bei 35er- Inzidenz oder bei 10er-Inzidenz ({0}) ist für Sie eine wesentliche Frage. An welcher Stelle beantwortet der § 28a Infektionsschutzgesetz diese Frage? ({1})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Rottmann, § 28a Infektionsschutzgesetz enthält eine abgestufte Regelung. Wir haben uns darüber oft im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ausgetauscht. Deswegen weiß ich, Sie kennen die Regelung und wissen, dass in Absatz 3 die verschiedenen Inzidenzwerte angesprochen werden: die 50er-Inzidenz und auch die 35er-Inzidenz. Natürlich können wir als Deutscher Bundestag nicht jede kleinteilige Regelung in ein solches Gesetz schreiben. Ich habe es gerade schon aufgezählt. Wir brauchen zweierlei: Wir brauchen auf der einen Seite einen klaren und verbindlichen Rahmen, der die wesentlichen Entscheidungen und die wesentlichen Linien skizziert, und den haben wir mit dem § 28a Infektionsschutzgesetz. Wir brauchen aber auf der anderen Seite natürlich auch die Flexibilität, um auf veränderte pandemische Bedingungen reagieren zu können. Die Regelungen, die wir haben, spiegeln genau diese beiden Pole. Und noch einmal: Das gibt uns eine Grundlage, das gibt den Ländern die Grundlage, auf die pandemischen veränderten Situationen zu reagieren. Deswegen ist es eine gute und eine richtige Regelung, die wir an dieser Stelle haben. ({0}) Ich habe leider nur noch wenige Sekunden Zeit. Deswegen möchte ich einige wenige Worte zur Impfpriorisierung sagen. Das ist etwas, was wir hier regeln. Natürlich ist die Frage, wie geimpft wird, was geimpft wird, wann geimpft wird und wer geimpft wird, zentral. Da geht es um Leben und Tod. Genau deswegen ist es uns so wichtig, ({1}) die Impfziele konkretisiert im Infektionsschutzgesetz zu verankern und dass wir klare Leitlinien haben, auf deren Grundlage entsprechende Rechtsverordnungen erlassen werden können. Ich glaube, damit sind wir auf einem guten Weg. Wir haben die wissenschaftlichen Grundlagen der STIKO, die wir zugrunde legen. Insofern kommen wir als Deutscher Bundestag unserer Verantwortung nach und geben den Rechtsverordnungen demokratische Legitimation. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass sich seit fast einem Jahr nichts Substanzielles an der Situation von Familien verbessert hat, dass wir seit mittlerweile zehn Monaten immer wieder feststellen müssen, dass viele Familien mit den Maßnahmen oder durch die Maßnahmen im Regen stehen gelassen werden, das macht mich zutiefst betroffen, meine Damen und Herren. ({0}) Seit einem Jahr diskutieren wir hier über Lohnentschädigungen, Kinderbonus, Kinderkrankentage. Überall gibt es Einzellösungen. Doch leider machen Sie dabei immer wieder denselben Fehler: Sie vergessen zahlreiche Familien, die dann durch Ihr Raster fallen. Das ist Stückwerk, meine Damen und Herren; das ist Auf-Sicht-Fahren mit Augenbinde. Ja, liebe CDU, lieber Herr Brinkhaus – eben war er noch da –, Ihr Vorgehen ist beschämend. Ja, Freiheit ist die Freiheit der Schwächeren. Für uns Freie Demokraten ist es eine Selbstverständlichkeit – um es so auszudrücken, wie ich es als Kind gelernt habe –: Die Schwächeren, das sind die Kranken, die Alten, die Kinder. Die Bundesregierung muss alles Menschenmögliche unternehmen, um sie zu schützen, ohne sie und ihre Familien zu überlasten und ihnen die Freiheit zu nehmen. Genau hier versagen Sie. ({1}) „Die Welt“ bezeichnete das Vorgehen des Kanzleramts in Bezug auf Kinder gerade erst als lebensferne Agenda. Das stimmt. Es scheint oberste Priorität zu sein, ohne jeglichen Blick auf mögliche Auswirkungen Schulen, Kitas, Sportstätten auch für Kinder geschlossen zu halten. Wenn Frau Schön – ich sehe sie gerade nicht – der Familienministerin entgegnet, dass in Schulen und Kitas eben noch keine Schnelltests da sind, wenn Sie twittern, dass sie erst auf die Öffnung vorbereitet werden müssen – zehn Monate nach dem ersten Lockdown –, dann, muss ich Ihnen sagen, ist das ein Armutszeugnis und Zeichen von Arbeitsverweigerung zugleich. ({2}) – Immer dieses Schwarzer-Peter-Spiel. Lassen Sie sich was Neues einfallen! ({3}) Zwei Aufgaben sind ganz klar: Erstens. Schleunigst müssen Konzepte her, die wir anmahnen, die Sie jetzt mittlerweile auch anmahnen, aber seit zehn Monaten nicht liefern, Kollege Beermann. Zweitens müssen Sie vieles nachbessern – genau darüber reden wir heute –, was Familien so lange Sicherheit gibt, wie diese nötig ist. Denn solange diese Konzepte nicht greifen, nicht da sind, müssen alle Familien die Sicherheit haben, die sie brauchen, fair für alle; keine Familie darf mehr durch irgendwelche Raster fallen. ({4}) Auf drei Beispiele will ich hier konkret eingehen: Erstens. Wenn beispielsweise Polizisten, weil sie privat versichert sind, durch Ihr Kinderkrankentage-Raster fallen und kein Kinderkrankentagegeld bekommen, dann ist das nicht in Ordnung. Wenn wir freiwillig Versicherte bzw. Privatversicherte da außen vor lassen, dann ist das nicht in Ordnung. NRW macht es Ihnen vor. Wir brauchen da ein bundesweites Konzept. ({5}) Zweitens. Wenn Eltern ihre Kinder in die Kita bringen und am Ende des Tages das Elterngeld ausläuft, aber gleichzeitig die Eingewöhnung in der Pandemie gar nicht möglich ist –, müssen wir – und das haben wir Ihnen schon oft genug gesagt – das Elterngeld weiterzahlen und den Familien damit so lange die finanzielle Sicherheit geben, wie sie es brauchen. Meine Damen und Herren, hier müssen wir den Eltern helfen. ({6}) Drittens. Seit über einem Jahr reden wir darüber, dass das Familienministerium gar nicht oder nur am Katzentisch sitzt, wenn das wöchentliche Coronakabinett tagt. Da verlangen wir und erwarten wir, dass das Familienministerium, das ja die Interessen von Familien, von Kindern, Jugendlichen und Senioren vertreten soll, dabei ist. Diese drei Beispiele sollen erst einmal reichen. Seit über einem Jahr müssen viele Eltern und Kinder die Härten dieser Krise größtenteils alleine meistern. Schon vor einiger Zeit haben wir deutlich gemacht, dass es wichtig ist, dass die Familienpolitik krisensicher gestaltet werden muss. Von der Krise für die Zukunft lernen bedeutet, jetzt sicherzustellen, dass durch eine geeignete Familienpolitik die Schwächeren, von denen Sie, Herr Brinkhaus, gestern gesprochen haben, ihre Freiheit zurückbekommen und wir ihnen Sicherheit geben, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen. Letzter Gedanke, Herr Präsident. Deswegen brauchen wir für Familien einen gemeinsamen Kraftakt der Länder und des Bundes. Da hilft kein Schwarzer-Peter-Spiel Richtung Länder und Kommunen, da müssen wir als Bund entsprechend richtig in die Bütt. Familien leisten einen Riesenbeitrag in dieser Pandemie. Kinder und Jugendliche verzichten auf so vieles. Eltern zerreiben sich in dem Spagat zwischen Arbeit, Homeschooling und Kinderbetreuung. Da brauchen wir einen Bund-Länder-Kraftakt, um jetzt die Weichen zu stellen und die Situation zu meistern. Da gibt es eine Menge Hausaufgaben für Sie. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU, hat als nächster Redner das Wort. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege, nicht nur das Aufsetzen der Maske ist gelegentlich ambitioniert, sondern auch die richtige Wahrnehmung der Dinge, die wir in den letzten Monaten hier im Deutschen Bundestag diskutiert haben mit der Fragestellung: Wie können wir in dieser schwierigen Pandemiesituation den Familien helfen? Ich werde jetzt den Nachweis führen, Herr Kollege, dass wir in nahezu allen Bereichen bei familienunterstützenden Maßnahmen, bei den Angeboten, die wir für Familien haben, immer auch flexibel möglichst schnell nachgesteuert haben; gelegentlich haben wir auch das, was die Regierung uns vorgelegt hat, verbessert. Wir diskutieren hier über die Kompetenz des Parlaments. Ich kann für die CDU/CSU sagen und darf das auch für die SPD-Fraktion sagen, dass wir im Familienbereich hier immer sehr schnell, sehr zügig das nachgearbeitet haben, was Familien dringend brauchten. ({0}) Fangen wir mit der Aufzählung an: Das war nicht nur beim Kurzarbeitergeld und beim Sozialdienstleister-Einsatzgesetz so, das war auch ganz am Anfang beim Infektionsschutzgesetz so; hier haben wir schnell reagiert und gesagt: Diejenigen, die Kinder zu Hause betreuen, die müssen eine Entschädigung bekommen für bis zu 20 Wochen. Es gibt Kinderkrankentagegeld für 20 Tage pro Elternteil bzw. 40 Tage für Alleinerziehende. Ich sage ganz deutlich für die Union, dass wir auch eine Anpassung für die Selbstständigen, für diejenigen, die privat versichert sind, erreichen wollen, also eine Angleichung von § 56 Infektionsschutzgesetz und § 45 SGB V. Richtig ist, dass Selbstständige keine Kinderkrankentage bekommen. Aber wir wollen, dass beide Regelungen gleich sind; denn uns sind die Selbstständigen wichtig. Im Übrigen sind das in der Regel auch Frauen, die jetzt zu Hause die Kinder betreuen. ({1}) Wir werden die Vereinfachung im parlamentarischen Verfahren hinbekommen. Da sind wir stolze Parlamentarier und kluge Parlamentarier, weil wir das umsetzen werden. Ich will noch einige weitere Punkte ansprechen, weil Sie es hier so darstellen, Herr Kollege, als hätten wir nichts getan in den letzten Wochen. Bitte schauen Sie mal in die Protokolle! Wir haben – was ich richtig fand – bereits im letzten Jahr einen einmaligen Kinderbonus von 300 Euro auf den Weg gebracht. Jetzt hat man im Koalitionsausschuss beschlossen – richtigerweise –, noch einmal 150 Euro pro Kind auf den Weg zu bringen, um auch im finanziellen bzw. materiellen Bereich die Dinge für die Familien besser zu gestalten. Wir haben den Zugang zum Kinderzuschlag – dem wichtigen Kinderzuschlag, eine der besten familienpolitischen Leistungen – jetzt in der Coronapandemie für Menschen mit einem kleineren Einkommen erleichtert. Wir haben das Elterngeld angepasst; Kollege Beermann wird nachher noch darauf eingehen. Wir haben sozusagen coronagesichert. Auch die Maßnahmen waren richtig und wichtig. Wir haben relativ schnell den Ländern gesagt: Wir geben euch 1 Milliarde Euro. Baut jetzt die Angebote in der Kindertagesbetreuung aus! Schafft in den Einrichtungen Hygienemaßnahmen mit Blick auf das Coronageschehen! Wir haben auch dafür gesorgt, dass die Träger der Kinder- und Jugendhilfe ein Hilfspaket von 100 Millionen Euro bekommen, weil die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe gerade jetzt wichtig sind, weil wir nach der Coronapandemie eine Zeit erleben werden, wo wir uns um die kümmern müssen, die jetzt in den letzten Wochen und Monaten Schäden mitgetragen haben bzw. Schäden erleiden mussten; denn die Auswirkungen sind nicht nur und in erster Linie materielle Schäden. Deswegen komme ich zum Hauptpunkt. Wenn wir über Familien reden, dann dreht sich die Debatte. Natürlich ist es wichtig für jeden Vater, für jede Mutter: Was habe ich im Portemonnaie? Aber viel wichtiger ist für die Mütter, für die Väter das, was gerade in den Seelen ihrer Kinder passiert, und was in den Seelen der Großeltern passiert. Und das ist nicht nur etwas Materielles, sondern das ist eine Veränderung, eine massive Veränderung nach Wochen, nach Monaten besonderer Maßnahmen – die wichtig und die richtig sind. Aber es ist in der Diskussion, die wir jetzt führen müssen, unser Auftrag, darauf zu achten: Wie verändern sich die Lebenswelten dieser Menschen? Wie ist es denn, wenn sich, wie das Universitätsklinikum Hamburg vor zwei Tagen, festgestellt hat, nach mittlerweile einem Jahr der Pandemie – auch wenn die Maßnahmen unterbrochen wurden – bei ungefähr einem Drittel – einem Drittel! – der Kinder psychische Folgewirkungen zeigen? Wie ist es denn, wenn wir feststellen – krisenchat.de –, dass ungefähr 20 Prozent derjenigen, die anrufen, der jungen Menschen in der Adoleszenz, der jungen Mädchen, der jungen Frauen, suizidal sind? Wie ist es denn, wenn wir merken, dass Kinder mittlerweile tatsächlich psychische Probleme haben bis hin zur Depression, und wenn viele Menschen, die in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, Auswirkungen wahrnehmen, zum Beispiel beim Thema Essstörungen? Das sind übrigens nicht nur Befindlichkeiten, das ist etwas mehr. Ich glaube, es wird unser Auftrag sein, uns jetzt in der Diskussion dem anzunehmen. Es geht um junge Menschen, die ihre Peergroups nicht mehr sehen, die vereinsamt sind, zehn-, zwölfjährige Kinder, die in den letzten Jahren glücklich waren und jetzt auf einmal sagen, dass sie in die Einsamkeit geraten. Und das wird das sein, was die Familienpolitik in den nächsten Monaten prägen wird. ({2}) – Ah, der Kollege steht. Er hat die Maske abgenommen und möchte sicherlich eine Zwischenfrage stellen. – Die würde ich zulassen, Herr Präsident. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie sie zulassen.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Aggelidis.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Herr Präsident. – Danke, lieber Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich höre Ihnen ja gerne zu, wenn Sie über die Folgen für Kinder sprechen, und stimme da mit Ihnen überein. Ich stelle nur immer wieder fest: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was Sie hier sagen, und dem, was beispielsweise Ihr Fraktionsvorsitzender sagt. Ich will ihn zu dem Punkt, den Sie gerade angesprochen haben, zitieren, und frage Sie, ob das wirklich so gut zu dem passt, was Sie sagen, und dem Wohl der Kinder förderlich ist. Er sagte: Sorgen bereitet mir allerdings, dass die Länder nun individuell darüber entscheiden, dass Schulen und Kitas wieder zu öffnen sind. Ich habe in dieser Phase der Pandemie Zweifel daran, ob das so richtig ist. Wir müssen wieder zu Inzidenzen unter 10 oder unter 5 kommen, um die Öffnungen entsprechend wieder hinzubekommen. Wissen Sie, wenn das die Perspektive sein soll, zehn Monate nach Ende des ersten Lockdowns, dann, finde ich, ist meine Aussage richtig, dass sich an der Situation – nicht an dem, was Sie hier unternommen haben – von Familien in den letzten zehn Monaten nichts wirklich Gravierendes geändert hat. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege, mein Fraktionsvorsitzender ist ein kluger Kopf, und er hat komplett recht. ({0}) Ich sage Ihnen, warum: weil mich das auch ärgert, weil das die Familien ärgert. Ich hätte mir gewünscht – und das hat er gestern in der Debatte ausgedrückt –, dass die 16 Bundesländer miteinander vereinbaren, eine einheitliche Lösung herbeizuführen. ({1}) Wissen Sie, was Familien brauchen? Familien brauchen Planungssicherheit, und Familien wollen, dass die Regierenden eine Entscheidung mit einer gemeinsamen Haltung verkörpern und nicht das eine Bundesland etwas anderes beschließt als das andere. Und gerade im Bereich Kitas und Schulen, in diesem sensiblen, wichtigen Bereich für Familien, wäre es gut gewesen, wenn es aus der MPK heraus wieder zu einer Einheitlichkeit in der Frage der Öffnung gekommen wäre. Ich sage Ihnen mal eins: Ich bin Hamburger. Wir halten jetzt noch bis 1. März die Schulen geschlossen. Und was passiert dann? – Dann sind in Hamburg zwei Wochen Ferien. Das heißt, bis zum 15. März sind die Schulen geschlossen. Ich weiß ehrlicherweise nicht, ob das eine kluge Entscheidung ist. Ich finde es richtig, wenn Länder sie früher aufmachen. Aber Einheitlichkeit wäre das Erste, was geboten wäre. Und das Zweite – das hat der Fraktionsvorsitzende gestern gesagt –: Das muss dann nicht nur mit der Frage verbunden werden: „Öffne ich eine Schule oder eine Kita?“, sondern auch mit folgenden Fragen: Wie sieht es mit Schutzmaßnahmen und Masken aus? Wie sieht es mit Testung aus? Wie sieht es mit einer Begleitung durch Lüfter und ähnlichen Dingen aus? – Und da wäre es ein Wunsch gewesen – das sage ich als Bundestagsabgeordneter ganz deutlich –, dass die Bundesländer hier mal von sich aus eine einheitliche Linie vereinbart hätten, und das haben sie nicht. ({2}) Und das ist das, was die Eltern irritiert und sie auch ärgert. Daran kann ich gleich anschließen; die Frage ist ja beantwortet. Aber das ist genau der Punkt, den ich jetzt bringen wollte. Eltern machen ja Dinge mit ihren Kindern, mit ihren Familien gemeinsam, verändern ihre Lebenswelt, wenn sie eine Perspektive haben, dass das, was sie tun, irgendwann auch dazu führt, dass ihre Lebenswelt sich wieder so erschließt, wie sie es vorher erlebt haben. Deswegen ist Planungssicherheit ein ganz zentraler Anker, und deswegen braucht man klare Vereinbarungen, damit Eltern wissen, dass sie, wenn sie noch zwei oder vier Wochen ihre Kinder zu Hause betreuen, dann auch eine Perspektive haben. Deswegen muss das Thema „Öffnung von Kitas und Schulen“ ein zentrales sein, weil dort soziale Interaktion stattfindet und weil dort in Kitas und in Einrichtungen das stattfindet, was Kinder in der jetzigen Zeit massiv vermissen. Das wird auch eine Aufgabe der nächsten Monate sein, die wir gemeinsam angehen sollten: Wie gehen wir mit den Fällen von psychischen Problemen in der Folge der Coronapandemie um? Das sind Kinder und Jugendliche, die keine Freunde mehr haben oder kaum noch Freunde treffen. Und das sind dann natürlich auch die älteren Menschen; die gehören nämlich auch mit zur Familie. Wir haben als CDU/CSU-Fraktion das Thema Einsamkeit sehr intensiv beraten: Was erleben die Menschen gerade? Wenn dann eine ältere Dame sagt, sie werde sterben, entweder an Corona oder an Einsamkeit, dann darf uns das nicht ruhen lassen. ({3}) Dann müssen wir dringend darüber nachdenken, wie wir neben der materiellen Frage auch dies angehen, neben der Frage: Wie können wir alle familienpolitischen Maßnahmen Schritt für Schritt anpacken? Das machen wir. Das machen wir gut, schnell, flexibel, das machen wir auch richtig. Die eigentliche Kernfrage für uns muss sein: Wie können wir die Lebenssituation der Menschen mit Blick auf ihre Lebenswelten wieder verbessern? Denn die Einsamkeit – das wird ein Thema sein – frisst sich in die Seelen unserer Kinder und unserer Großeltern. Und das ist etwas, was gesellschaftspolitisch in dieser Dimension von uns noch gar nicht so richtig erkannt ist. Das wird die Zukunft der Debatte sein, die wir führen müssen, nicht über das Materielle, sondern über das, was die Menschen dann bewegt. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Reichardt, AfD. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über Anträge der FDP, die Familien in der von der Regierung geschaffenen Krise unterstützen sollen. Wir werden diesen Anträgen zustimmen. Die AfD hat bereits im März 2020 umfassende Anträge ins Parlament eingebracht, die das gleiche Ziel verfolgten wie die heutigen Anträge der FDP. Im März 2020 hat die FDP unsere Anträge leider abgelehnt. Die FDP buhlt im Ausschuss lieber um die Gunst des Linksblocks, ({0}) der die Wähler und die Jugend der FDP am liebsten umbringen würde, wie jüngste Aussagen von Juso-Vertretern mit Solidarität der Linksjugend belegen. Für diesen Unfug aber werden Sie als FDP bei den Wahlen die Quittung erhalten, und das ist auch gut und richtig so. ({1}) Doch zurück zu unseren Kindern; denn um die geht es hier. Im Jahr 2021 gibt es Krankheitstage für gesunde Kinder, geschlossene Kindergärten und Schulen, Kinder, die unter Kontaktsperren leiden, Kinder, die nicht spielen, lachen und singen dürfen. Kinderärzte, der Kinderschutzbund und besonders Eltern schlagen seit Monaten Alarm. Im Gegensatz zu den Maßnahmen der Regierung sind die Leiden unserer Kinder auch tatsächlich wissenschaftlich belegt. Während die Bundesregierung und ihr Obercoronaschamane Lauterbach weiterhin Coronapanik verbreiten, haben wir tatsächlich Triagen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Allein in Tübingen stehen 100 Kinder auf der Warteliste. Sie warten auf überlebenswichtige Therapien für Essstörungen, Zwangsstörungen und schwere Depressionen. Die „Nummer gegen Kummer“ verzeichnet einen Zuwachs um 30 Prozent bei Nachfragen von Hilfesuchenden. Und Sie, Herr Weinberg, reden hier über die Krise, die Sie selber verursacht haben, und vergießen Krokodilstränen. ({2}) Die von Ihnen verordnete Isolation, das Herausreißen aus der gewohnten Ordnung, die erlebten existenziellen Krisen der Eltern aufgrund der Coronapolitik führen zu den psychischen Erkrankungen und zerstören in der Tat die Seelen unserer Kinder. Unterdessen, meine Damen und Herren, bastelt die Bundesregierung immer neue Inzidenzgrenzen für ihre Panikrhetorik heraus. ({3}) Belege für den Nutzen des immerwährenden Lockdowns gibt es nicht. ({4}) Belege dafür, dass unsere Kinder aber keine Virenschleudern sind, gibt es zuhauf, wie weltweit über 40 Studien belegen. Aber an einem wissenschaftlichen Diskurs ist die Bundesregierung ja nicht mehr interessiert. Sie missbraucht die Wissenschaft für ihre repressiven Maßnahmen und ihre totalitäre Rhetorik. Meine Damen und Herren, diese Regierung zerstört die Seelen unserer Kinder. Sie haben das richtig erkannt, Herr Weinberg. ({5}) Keine Partei außer der AfD stellt sich vor unsere Kinder, wenn Behörden diese beim Rodeln einkesseln, weil sie dort ohne Maske sind, und sie wie Verbrecher behandelt werden. Keine Partei außer der AfD will unsere Kinder vor dieser Regierung schützen. ({6}) Wir kriegen von dieser Regierung täglich neue Zahlen geliefert. Die wichtigste Zahl aber, die die Menschen in Deutschland kennen müssten, ist folgende: 99,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben kein Corona. ({7}) 0,197 Prozent sind infiziert, das heißt nicht zwingend krank. ({8}) Zudem basieren Ihre Zahlen auf einem Test, der laut WHO nicht geeignet ist, Infektionen zweifelsfrei nachzuweisen. Aber auch das wird von unserer Kanzlerin ignoriert. Gegen diese Politik helfen leider heute keine offenen Briefe an die Regierung und auch keine Petitionen mehr; denn die Regierung ist im Machttaumel eines Notstandsgesetzes. Und darum, liebe Mitbürger: Hören Sie auf Ihren gesunden Menschenverstand! Haben Sie den Mut, gegen diese Willkürmaßnahmen aufzubegehren! ({9}) Setzen Sie dieser Regierung ein klares Stoppzeichen gegen den Coronawahn! Setzen Sie dieses Zeichen spätestens bei den kommenden Landtags- und Bundestagswahlen! Das Stoppzeichen heißt AfD. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sönke Rix, SPD. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade ein bisschen gefrotzelt, ob man eigentlich auf diese Parolen mit Helau und Alaaf reagieren sollte; ({0}) aber Karneval ist viel, viel niveauvoller als das, was wir gerade eben hier gehört haben. ({1}) Wenn Sie suggerieren, dass diese Krise, die Situation, in der sich jetzt die Bevölkerung befindet, durch die Maßnahmen der Landesregierungen, der Bundesregierung und der Parlamente hervorgerufen worden ist, dann sind Sie es, die die wissenschaftlichen Grundlagen hier wirklich mit Füßen treten, während Sie uns vorwerfen, wir würden das tun. Denn Sie ignorieren, dass dieses Virus ein gefährliches Virus ist, ({2}) das Menschenleben auf dem Gewissen hat und das gesundheitsgefährdend ist. Das ignorieren Sie. ({3}) Wenn Sie sagen, dass 99 Prozent dieses Virus nicht haben, dann ist das verachtend gegen über dem 1 Prozent, die es haben, und dann ist es menschenverachtend gegenüber denjenigen, die durch dieses Virus Angehörige verloren haben. ({4}) Deshalb brauchen wir die Maßnahmen, und deshalb sind die Maßnahmen, die die Landesregierungen, die Länder und der Bund auf den Weg gebracht haben, richtige Maßnahmen zum Schutz der Menschen. ({5}) Ich danke der FDP, dass Sie heute mit den Anträgen hier die Möglichkeit geben, über die Lage der Familien in der Pandemie zu sprechen und zu diskutieren. Aber wenn wir über die Lage der Familien reden, reden wir in erster Linie über die Situation der Kinder. Wie ist es eigentlich tatsächlich für die, wenn sie seit über einem Jahr mit kurzen Unterbrechungen nicht mehr zum Sportverein gehen können, nicht in die Kita gehen können, nicht in die Schule gehen können, nur eingeschränkt sich mit Freunden treffen können, sich eben nicht auf dem Rodelberg mit vielen treffen können, sondern mit Abstand und Maske das alles erleben müssen? Wie ist es, nicht zu den Pfadfinderinnen und Pfadfindern, nicht zur THW-Jugend gehen zu können und hinnehmen zu müssen, was alles eingeschränkt ist? Das macht sehr viel mit den Kindern und Jugendlichen, und dessen sind wir uns auch sehr, sehr bewusst. Das macht viel mit Familien und Kindern. Deshalb geben wir diesen Familien und Kindern auch Hilfen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wir ignorieren diese Situation nicht. ({7}) Im Gegenteil: Weil wir diesen Stress in der Situation, die Kinder und Jugendliche an dieser Stelle erleben, nicht auch noch durch Stress und Panik für Familien quasi noch verschärfen wollen, schaffen wir Rahmenbedingungen, um Familien in dieser Pandemie zu entlasten. Wir entlasten sie finanziell, beispielsweise durch den Kinderbonus, aber auch indem wir den Eltern Möglichkeiten geben, Zeit für ihre Kinder zu haben, sich um ihre Kinder tatsächlich zu kümmern, ohne dass sie Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut bringen müssen. Nein, wir haben mit der Kinderkrankentageregelung etwas geschaffen, mit dem wir den Eltern Entspannung für die Familie ermöglichen und damit auch Stress von den Kindern abwenden können. Das ist eine gute Regelung, die wir da getroffen haben. ({8}) Ich gebe Ihnen recht, Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Sie reicht nicht aus, weil sie nämlich nur die gesetzlich Versicherten betrifft. Deshalb ist es gut, dass wir von der Union und der SPD jetzt in die Beratungen einbringen, dass wir beim Infektionsschutzgesetz die anderen in die gleiche Situation bringen wollen wie die gesetzlich Versicherten, sodass sie auch uneingeschränkt Zugang zu der Freistellung mit finanzieller Vorsorge des Staates bekommen. Da sind wir dafür. Dafür kämpfen wir gerade. Das machen wir gemeinsam als Koalition. ({9}) Aber ich will an der Stelle auch sagen: Beim Infektionsschutzgesetz finanzieren die Länder mit. Es ist heute in der Debatte schon behandelt worden: In den Ländern regieren zum Beispiel auch Freie Demokraten, Grüne, Linkspartei. Wir hoffen, dass wir von den Ländern keine Steine in den Weg gelegt bekommen, wenn wir die Maßnahmen verlängern und wenn wir die Maßnahmen für Familien in Form von Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz ausbauen wollen. Die Länder haben hier auch eine Verantwortung, und die sollen sie bitte auch mittragen. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wirtschaft, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern können wir mit finanziellen Hilfen in dieser Situation helfen. Kinder und Jugendliche brauchen gemeinsame Zeit mit Gleichaltrigen in Schule und Kita. Deshalb ist es tatsächlich, wie ich finde, nicht hinnehmbar, dass Länder sich nicht darauf einigen können, ein gemeinsames Konzept zur Öffnung von Kitas und Schulen auf den Weg zu bringen. Wir brauchen hier gemeinsame Grundlagen, um den Eltern und vor allen Dingen auch den Kindern Orientierung und Sicherheit und Struktur zu geben. Deshalb appelliere ich an die Länder ganz dringend: Setzen Sie sich noch einmal zusammen! Die Länder sollen sich noch einmal zusammensetzen, einen gemeinsamen Fahrplan entwickeln und sagen, wie Schulen und Kitas wieder geöffnet werden können, schrittweise angesichts des Pandemiegeschehens und nur so, wie es mit Hygienekonzepten und anderem erlaubt ist. Aber wir brauchen hier von den Ländern eine klare Antwort, damit die Eltern und damit die Familien und vor allem die Kinder sich orientieren können. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katrin Werner, Die Linke, hat als nächste Rednerin das Wort. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, Eltern und Kinder sind in dieser Krise besonders großen Belastungen ausgesetzt. Seit Monaten sind Schulen und zum Großteil Kitas geschlossen. Familien werden auf sich selbst zurückgeworfen und müssen die Probleme meist alleine lösen. Die Kontaktbeschränkungen bedeuten psychische Belastungen für alle. Eltern sind dauerhaft Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Sie müssen Kinderbetreuung, Homeschooling und Lohnarbeit seit Monaten unter einen Hut bringen. Ihnen fehlt die langfristige Perspektive. Viele laufen schon jetzt auf dem Zahnfleisch. Bei Alleinerziehenden ist die Belastung besonders hart. In dieser Zeit ist es das Mindeste, dass die Bundesregierung allen Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen, eine einfache, verlässliche, dauerhafte finanzielle Sicherheit bietet, ({0}) wenn sie ihrer Erwerbsarbeit nicht oder nur teilweise nachgehen können, weil sie ihre Kinder eben zu Hause betreuen müssen. Stattdessen bietet die Bundesregierung – das wurde schon angesprochen – einen komplizierten Wust an Maßnahmen, der sich auch noch alle paar Wochen ändert. Sie heißen Entschädigung nach Infektionsschutzgesetz, Erhöhung und Erweiterung der Kinderkrankentrage, und zwischendurch war auch ein bezahlter Sonderurlaub für Eltern im Gespräch. Der wurde aufgrund des massiven Widerstands von der Arbeitgeberseite begraben. Und wissen Sie – mal kurz am Rande, – was jetzt das Ergebnis des Wirrwarrs ist? Arbeitgeber, die zuvor flexible Arbeitszeiten und bezahlte Freistellung für Eltern angeboten haben, nehmen diese jetzt zurück und nötigen die Eltern dazu, ihre Kinderkrankentage jetzt zu nehmen. Aber was ist dann den Rest des Jahres? Da brauchen wir dringend Nachbesserung; denn es ist ein Unding an dieser Stelle. ({1}) Diese ganzen unterschiedlichen gesetzlichen Leistungen gelten noch nicht mal für alle Eltern. Sie werden in unterschiedlicher Höhe geleistet, sie sind befristet und an Bedingungen geknüpft, und sie ändern sich ständig. Um die Leistungen zu verstehen, braucht man also Zeit, man braucht Geduld, man braucht Durchhaltevermögen. All das haben viele Eltern einfach nicht mehr; denn sie gehen seit Monaten an ihre Grenzen und darüber hinaus. Sie haben schlicht keine Reserven mehr. Ich verstehe das Problem der Bundesregierung nicht. Warum gibt es keine unkomplizierten, an den Bedürfnissen orientierten Unterstützungsleistungen? Dann muss man sich schon indirekt den Vorwurf gefallen lassen, dass man das Gefühl hat, man soll die Leistungen vielleicht gar nicht verstehen, weil sie niemand oder nur wenige in Anspruch nehmen können. ({2}) Die Linke hat bereits im ersten Lockdown gesagt: Wir brauchen ein Coronaelterngeld. Es muss allen Eltern ermöglicht werden, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder auszusetzen und dafür eine Lohnfortzahlung für die gesamte Dauer der Krise zu erhalten. Es muss unkompliziert und flexibel sein. Familien mit geringen Einkommen und Alleinerziehende müssen dabei besonders abgesichert werden. – Diesen Vorschlag hat die Große Koalition mehrfach abgelehnt. Stattdessen sind wir seit Monaten auf einem Zickzackkurs und erleben dazu noch ein Kommunikationsdesaster. Von einer Verlängerung der Unterstützung war beim Bund-Länder-Gipfel diese Woche nicht mal mehr die Rede. Viele Eltern schütteln, ehrlich gesagt, nur noch den Kopf. Um die Wogen zu glätten und die besonderen Belastungen für Familien etwas auszugleichen, wird jetzt von einem erneuten Kinderbonus geredet. Wir sind für den Kinderbonus. Diesmal geht es um 150 Euro; im letzten Jahr gab es wenigstens noch 300 Euro. Damit wollen Sie die finanzielle Mehrbelastung ausgleichen? Kinderbetreuung und Homeschooling bedeuten doch Mehrausgaben für Strom, Wasser, Essen, Schulmaterialien, Spiele und Bastelzeug – da gibt es viele, viele Dinge. Ein „Kinderbönchen“ von 150 Euro reicht doch da bei Weitem nicht aus. Da müssen Sie wirklich nicht nur ein Schippchen, sondern riesengroße Schaufeln drauflegen. ({3}) Oder führen Sie endlich eine Kindergrundsicherung ein, damit Kinder wirksam vor Armut geschützt werden! ({4}) Und noch was: Sorgen Sie diesmal dafür, dass der Kinderbonus komplett bei den Alleinerziehenden ankommt, nämlich in dem Haushalt, wo das Kind überwiegend betreut wird. Die Belastungen für Kinder sind riesig; die Studie wurde angesprochen. Jedes dritte Kind hat psychische Auffälligkeiten. Vor allen Dingen Kinder und Jugendliche aus ärmeren, bildungsfernen Familien sind betroffen. Ja, es ist schwierig, bei geschlossenen Kitas und Schulen alle Kinder zu erreichen. Deshalb müssen Kitas und Schulen bei Öffnungen ganz vorne stehen. Aber, wissen Sie, es reicht eben nicht aus. Es fehlen die langfristigen, krisenfesten Pläne. Wir laufen einfach auf eine massive soziale Krise zu, und wir müssen jetzt gegensteuern. Wir brauchen die gesellschaftliche Infrastruktur und die soziale Sicherung; das muss ausgebaut werden. Wir hatten deshalb in den Haushaltsberatungen für dieses Jahr eindeutig mehr erwartet, Frau Giffey. Wir brauchen jetzt mehr Investitionen in die Jugend- und Schulsozialarbeit. Wir brauchen jetzt mehr Geld für Kitas, Horte und gemeinnützige Jugend- und Bildungsstätten. Und noch mal: Wenn nicht jetzt, wann dann? Sehr geehrte Regierungskoalition, Sie haben viel zu wenig getan, um die Kinder und Jugendlichen aus ärmeren Familien besser zu unterstützen. Seit einem Jahr fordern Die Linke, aber auch viele Sozialverbände zum Beispiel einen monatlichen Coronazuschlag auf Hartz IV. Monatelang wurde nicht reagiert, um den Ärmsten der Gesellschaft zu helfen. Nun gibt es einen einmaligen Zuschlag von 150 Euro. Aber da kann man noch nicht mal sagen: Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Selbst jetzt, in dieser Zeit, halten Sie am Hartz-IV-System fest. Sie verfestigen damit die Armut. Sie beschneiden damit bei 1,9 Millionen Kindern und Jugendlichen die Bildungs- und Teilhabechancen. Am Rande – das muss schon noch mal gesagt werden –: Für die Lufthansa sind ziemlich schnell 9 Milliarden Euro parat. Bei den Ärmsten der Gesellschaft sparen Sie. Wir finden, damit verschärft sich die soziale Krise, und das ist beschämend. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. – Hören Sie auf, in dieser Krise herumzueiern. Stellen Sie die Weichen für einen solidarischen Weg aus der Krise! Kurz zu den Anträgen der FDP: Sie sind keine Alternative; denn Ihre Maßnahmen sollen ja auch nicht mehr kosten, als Mittel im Haushalt zur Verfügung stehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kollegin, bitte.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Damit schreiben Sie die Mangelverwaltung der Regierung fort, und so kommen wir nicht weiter. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Werner. – Ihnen ist entgangen, dass hinter Ihnen der strenge Präsident sitzt, nicht? ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es wäre richtig, die Coronakinderkrankentage auch bei Privatversicherten und Selbstständigen vorzusehen. Wir haben ja eine ähnliche Forderung bereits im Verfahren erhoben; deshalb werden wir an dieser Stelle die FDP in ihrem Bestreben auch unterstützen. ({0}) Warum? Es geht nicht um eine Krankenkassenleistung, sondern es geht darum, Eltern in einer Notsituation zu unterstützen, nämlich erwerbstätige Eltern im Lockdown. Wir haben kein Verständnis dafür, dass dabei nach dem Versicherungsstatus unterschieden wird. Kinder sind Kinder, und wir müssen alle Kinder in einer solchen Situation gleich behandeln, und alle Eltern auch. ({1}) Wenn wir über Privatversicherte reden, reden wir nicht nur über die Reichen, sondern wir reden auch über den Polizisten, der privat versichert ist. Wir reden auch über den Soloselbstständigen, über die Künstlerinnen und Künstler, die privat versichert sind. Wir reden auch über Leute mit geringem Einkommen. Umso wichtiger ist es, dass es eine Angleichung in dem Bereich gibt. ({2}) Aber Sie von der Regierung konnten sich hier ja gar nicht auf unsere Kritik einlassen. Sie konnten es in Ihrem Verfahren auch gar nicht mehr ändern, obwohl Sie das gesehen haben; denn Sie haben es wieder einmal in einem Eilverfahren gemacht. Wieder einmal musste es sehr schnell gehen. Ehrlich gesagt, sind Sie selber schuld, dass es immer so läuft. Wir hätten uns – in der Debatte vorhin haben wir das gelernt – ja Zeit nehmen können, um das anständig hier zu beraten und vorzubereiten, die Kritik aufzunehmen und das von Anfang an richtig zu machen. Aber das war ja nie Sinn und Zweck der Sache. Es musste ja immer schnell, schnell gehen, weil die Koalition zu spät vorgelegt hat. Das lässt mich irgendwie verzweifeln und, ehrlich gesagt, auch daran zweifeln, dass Sie es mit der Unterstützung von Kindern und den Eltern an dieser Stelle wirklich ernst meinen. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie haben von Anfang an, ganz früh, als es um die Elternentschädigung im Infektionsschutzgesetz ging, versucht, hier ein bestimmtes Instrument anzuwenden. Allerdings haben Sie dabei einen Riesenschnitzer reingebaut. Sie haben Homeoffice als eine Betreuungsvariante gesehen. Homeoffice dient aber nicht als Möglichkeit zur Kinderbetreuung, sondern ist eine Dauerbelastung für Eltern und für Kinder. ({3}) Obwohl alle aufgeschrien haben, haben Sie monatelang nichts unternommen. Als ich der Ministerin im Haushaltsausschuss die Frage gestellt habe: „Wissen Sie denn, ob Ihre Instrumente überhaupt in Anspruch genommen werden? Wie kommt das bei den Eltern an? Kommt das überhaupt bei den Menschen an, die es brauchen?“, wusste die Ministerin darauf keine Antwort. Auf meine Frage hin: „Werden Sie eruieren, wie dieses Instrument ankommt?“, hat die Ministerin abgewogen und kein Interesse der Bundesregierung an dieser Stelle gezeigt. Noch immer wissen Sie nicht, ob Ihr altes Instrument überhaupt bei den Menschen angekommen ist oder nicht, weil Sie kein Interesse daran hatten, die Eltern wirklich zu unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dann fiel Ihnen aber auf, dass es vielleicht doch nicht funktioniert. Sie haben im Dezember ganz eilig und schnell, schnell versucht, daran noch irgendetwas zu ändern und zu verbessern. Sie haben es wirklich verschlimmbessert; denn dann haben Sie zwar etwas verändert, aber nur für Eltern von Schulkindern. Die Eltern von Kitakindern haben Sie vergessen. Als Ihnen das auch noch aufgefallen ist, haben Sie im Januar dann im Eilverfahren – schnell, schnell – die Zahl der Kinderkrankentage erhöht und haben gedacht, Sie hätten das richtig gemacht. Dabei sind Ihnen einfach Fehler unterlaufen, auch deshalb, weil Sie sich nicht wirklich damit beschäftigen, sondern weil Sie immer nach der schnellen Lösung suchen und sich nicht mit der Situation der Eltern auseinandersetzen. ({5}) Der größte Fehler ist, dass Sie Kinder unterschiedlich behandeln. Der zweitgrößte Fehler ist, dass Sie die Kinderkrankentage auf 20 Tage pro Elternteil begrenzen. Was ist, wenn der Shutdown länger dauert? Was ist, wenn die 20 Tage im Shutdown verbraucht sind und das Kind im Herbst – owei! – eine Erkältung hat und Mutter oder Vater zu Hause bleiben müssen? Was ist mit dem regulären Anspruch auf die Kinderkrankentage? Haben Sie darauf eine Antwort? Nein! Auf meine Frage hin meinte Jens Spahn diese Woche im Haushaltshausschuss: Ja, wir machen uns darüber Gedanken, und vielleicht wird eine Verlängerung kommen. – Eltern und Kinder brauchen aber kein Vielleicht, sondern Verlässlichkeit an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Verlässlichkeit, darum geht es. Damit komme ich zu den zwei anderen Punkten, die eigentlich gut dazu passen. Jetzt haben Sie einen Kinderbonus beschlossen, haben sich dafür auch gefeiert. Ich finde, das ist ein sehr halbherziger Schritt. Eltern sind unter Dauerbelastung, und Sie reagieren darauf mit einer Einmalzahlung. Nein, ich finde nicht, dass das reicht. Übrigens, eine Gruppe trifft es besonders stark, das sind nämlich die ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger. ({7}) Die brauchen keine Einmalleistung, sondern sie brauchen eine dauerhafte Unterstützung während des Shutdowns. ({8}) Da bin ich komplett bei allen Sozialverbänden in diesem Land. Beschließen Sie einen Zuschlag für die Familien in Hartz IV! Für sie fällt die Infrastruktur weg. Es gibt kein Mittagessen in der Kita, es gibt nicht mehr die Ganztagseinrichtungen, nicht mehr den Hort. Sie sind auf sich selbst gestellt. Und nein, sie können kein Geld sparen; denn einen Urlaub hätten sie sich vorher schon nicht leisten können, und den werden sie jetzt auch nicht einsparen können. Sie brauchen unsere Solidarität und Unterstützung. Da sollten wir Farbe bekennen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Leider kann ich nichts mehr zu dem Bereich Schule sagen, obwohl ich das wollte. Aber der Präsident hat hier natürlich das Sagen. Nur noch so viel: Wir sollten nicht Pingpong spielen zwischen Bund und Ländern, sondern uns der Sache annehmen. Ich finde es, ehrlich gesagt, wirklich beleidigend, wie hier immer die Schuldzuweisungen hin- und hergeschoben werden. Wir sind es unseren Kindern und Eltern schuldig, hier nicht nur Schuldzuweisungen zu präsentieren. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Auch damit haben Sie es geschafft, 30 Sekunden zu überziehen; auch in Ordnung. ({0}) – Alles gut. Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Margarethe Wiesmann, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Beschämend“, „beleidigend“, „alles viel zu wenig“, „alles zu langsam“ oder „doch zu schnell“ – statt auf diese pauschalen Vorwürfe einzugehen, will ich mich doch lieber mit den Anträgen der antragstellenden Fraktion beschäftigen. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, unsere Familienpolitik heute noch mal ins Licht zu rücken; denn Familien, Kinder und Jugendliche verdienen unsere Aufmerksamkeit, in diesen Zeiten noch mehr als sonst. Ihre Anregungen sind aber leider nicht so gehaltvoll, jedenfalls überwiegend nicht, dass man mit ihnen der berechtigten Sorge um das Fundament unserer Gesellschaft, die Familien, und um unsere Zukunft, nämlich um Kinder und Jugendliche, irgendwie abhelfen könnte. Zum ersten Antrag. Der Vorschlag, den Bezug des Elterngeldes als Überbrückungshilfe für Familien zu verlängern, klingt zwar toll – Analogie zum Mittelstand ist immer schön –, führt aber in die Irre. Wenn sich aufgrund der Pandemie die Aufnahme eines Kindes in die Kita verschiebt und ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, dann greifen ja unsere bereits vielzitierten Regelungen. Liegt kein Beschäftigungsverhältnis vor, vielleicht weil – es soll vorkommen – Mutter oder Vater nicht unmittelbar die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtigen, dann entsteht kein Schaden, außer dass das Kind und die Familie etwas warten müssen. Es gibt keinen Grund, das Elterngeld zu einer überflüssigen Doppelleistung aufzublähen. Zum zweiten Antrag. Im Hinblick auf die Situation von Privatversicherten gibt es keine „enorme Lücke“, wie Sie schreiben; denn das Infektionsschutzgesetz greift ja, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Es gibt einen Anpassungsbedarf in Richtung bessere Lösung im SGB V, auf den das klug regierte Nordrhein-Westfalen mit seinem eigenen Programm bereits reagiert hat. Das ist auch uns Familienpolitikern der Union sehr wichtig, und deshalb arbeiten wir in der Koalition längst daran, diese Lücke zu schließen. Drittens. Im Antrag „Familienpolitik krisensicher und verlässlich gestalten“ vom August letzten Jahres findet sich neben Allgemeinplätzen wie dem, dass das Ministerium sich bitte turnusmäßig mit der Lage beschäftigen möge, kaum etwas Brauchbares. Das war übrigens auch so, als wir im Oktober hier schon einmal darüber gesprochen haben. Im Einzelnen: Erstens, Digitalisierung der Familienleistungen. Das Digitale-Familienleistungen-Gesetz ist seit dem 10. Dezember 2020 in Kraft. Spätestens 2022 – und das ist schon bald – können online Elterngeld und Kindergeld beantragt sowie der Name des Kindes bestimmt werden; und das ist nur der Einstieg. Zweitens. Verlässliche Lohnentschädigungen – wir sprachen darüber – sind geregelt, aber bitte nur für Krisenanlässe; sonst kann es die Generation, um die es uns hier doch allenthalben geht, in der Zukunft nicht bezahlen. Drittens: Kinderkrankentage. Das ist erledigt. Viertens: Wahlfreiheit durch flexibles Arbeiten. Ja, immer gerne, aber wie denn? Wir von der Union verfolgen zum Beispiel das Modell der Zeitwertkonten. Sie nennen nicht mal Ihren wesentlichen Ansatzpunkt. Das war es. Ist das ein Konzept, um Eltern, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, Verständnis und Verlässlichkeit in der Pandemie zu bieten? Eher nicht. Deshalb sage ich Ihnen in der verbleibenden Zeit meine Auffassung dazu. Erstens. Es gibt keine durchweg berechenbare Sicherheit im Umgang mit der Pandemie. Die Bundeskanzlerin hat das überzeugend dargelegt: Wir werden mit der Pandemie noch über längere Zeit leben müssen. Darauf müssen wir uns einstellen und alle Spielräume, Lockerungen etc. als vorläufig betrachten, flexibel bleiben und zum Beispiel Regelungen wie die Kinderkrankentage, wenn sie nicht ausreichen, eben noch mal anpassen. Ich bin mir sehr sicher, dass diese Unsicherheit auch akzeptiert wird, wenn wir plausibel handeln und unsere Maßnahmen gut begründen. Zweitens. Wir müssen alle Mittel nutzen, um einen bestmöglichen Schutz auch der jungen Menschen in diesem Land sicherzustellen: Schutz vor Erkrankungen an Corona, Schutz vor materieller Not und auch Schutz vor Entwicklungsverzögerungen. Drittens. Das bedeutet, dass die Priorität für Familien, Kinder und Jugendliche dauerhaft gelten muss. Sie sind nämlich kein Eh-da-Faktor und kein Anhängsel. Sie sind die stärkste Bank für unsere Zukunft. Familien drehen am Rad; das ist heute auch schon oft gesagt worden. Weniger oft wird erwähnt, dass ältere Kinder und Jugendliche besonders leiden. Sie brauchen nämlich Sozialkontakte, die Peergroup, Teil-Sein. Zitat einer 14-Jährigen: Ich will einfach nur Teil sein von etwas Größerem. – Der familiäre Rahmen, aus dem sich Jugendliche doch gerade lösen sollen, ist hier nach vielen Monaten keine so große Hilfe. Deshalb ist jetzt ein Kraftakt gefragt, damit nach dem zu Recht nochmals verlängerten Lockdown dem Bedarf an Entwicklungsstimuli der jungen Generation entsprochen wird. Dazu müssen alle beitragen, natürlich auch die FDP, wo sie in Ländern und Kommunen Verantwortung trägt. Die Hebel sind bekannt: Hygienekonzepte, Masken, Lüftungspraxis, Lüftungssysteme, Kohortierung, räumliche Entzerrung, zeitliche Entzerrung. Hinzu kommen müssen regelmäßige und systematische Tests für Pädagogen und Schulkinder. Einige Länder und Kommunen arbeiten bereits daran, und ja, es muss schnell gehen. Meine persönliche Auffassung ist, dass wir bis zur Zulassung von Selbsttests das Testen auch den Eltern auferlegen können – nach Einweisung selbstverständlich –; sie haben doch das stärkste Interesse daran. Und mit einer klaren Begleitkommunikation können wir Kinder und Eltern dann sicher auch leichter davon überzeugen, dass sie für einen halben Tag in der Schule noch etwas länger auf Geselligkeit am Nachmittag verzichten müssen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich fasse zusammen – letzter Satz, Herr Präsident –: Ältere und Vorerkrankte impfen, die Zukunft schützen und testen, das Fundament – die Familien – absichern mit all den Maßnahmen, die wir bereits ergriffen haben, das ist eine Debatte, die sich lohnt. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Wiesmann. – Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD-Fraktion. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Mitbürger! Natürlich fordern auch wir die Bundesregierung mit ihrer zerstörerischen Lockdown-Politik auf, Kinderkrankentage für Eltern mit Kita- und Schulkindern unter zwölf Jahren auszuweiten und auch den Elterngeldbezug zu verlängern. Im gleichen Atemzug sagen wir Ihnen von der FDP, aber auch allen anderen Fraktionen in diesem Haus, dass Sie lediglich Symptompolitik betreiben und nur die AfD an der Ursache ansetzt. ({0}) Falls Ihnen wirklich so viel an den Kindern und Familien in Deutschland liegt, wie Sie alle behaupten, dann fordere ich alle Symptompolitiker dieses Hauses auf, endlich die Ursache des rein politischen Lockdowns anzugehen und mit Mehrheit des Bundestages die nicht vorhandene epidemische Lage aufzuheben. Der Betreuungs- und Bildungsbereich muss dabei absolute Priorität haben. Eine Studie der Hamburger Universitätsklinik hat ergeben, dass infolge des Lockdowns jedes dritte Kind psychisch auffällig geworden ist. Vor dem Beginn der als Ministerpräsidentenkonferenz getarnten Candy-Crush-Runde in dieser Woche wurde die Blockade der Kanzlerin endlich durchbrochen. Dass die Länder jetzt aber wieder selbst entscheiden sollen, ist einerseits eine verdiente Niederlage für Merkel, legt den Ministerpräsidenten aber andererseits die Pflicht auf, jetzt sofort zu handeln und angesichts der doppelten Belastung von Homeschooling und Homeoffice die Schulen und Kitas endlich sofort zu öffnen. Gerade für Familien mit niedrigeren Einkommen ist eine Öffnung oft die einzige Möglichkeit, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Leider wurde das Recht der Kinder auf Bildung oftmals umgekehrt, zum Schutz vor Kindern. Unsere Kleinsten wurden von der Bundesregierung und einigen von Ihnen gekauften Wissenschaftlern in politisch gewünschten Horrorszenarien zu Virenschleudern degradiert. ({1}) Es wurde ihnen eingeredet, ihre eigenen Großeltern ins Grab zu bringen, um im Auftrag des Innenministeriums – wörtlich – die Urängste des Menschen zu wecken. ({2}) Nach der Corona-KiTa-Studie vom Deutschen Jugendinstitut tragen Kinder allerdings erwiesenermaßen nicht übermäßig zum Infektionsgeschehen bei. Die Projektleiterin Dr. Susanne Kuger sagt eindeutig, dass Kitas keine Infektionstreiber sind. Bundesweite Testergebnisse zeigen vielmehr, dass jüngere Kinder insgesamt weniger infektiös sind als Erwachsene und bei einer Infektion auch seltener Symptome zeigen. Gerne hätte ich an dieser Stelle aufgrund dieser Erkenntnisse mit Ihnen zusammen die Frage diskutiert, wie notwendig das Vorziehen von Erziehern und Grundschullehrern bei den Impfungen ist. Aber auch hier hat die Candy-Crush-Runde bereits verfassungswidrig Tatsachen geschaffen, obwohl diese wesentliche Frage eindeutig in den Bundestag gehört und hier im Parlament entschieden werden muss, nirgendwo sonst. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Bahr, SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Hier ist gerade etwas in Schieflage geraten. In der letzten Sitzungswoche hatten wir gerade einmal 30 Minuten Debattenzeit für ein Gesetzesvorhaben, das die Situation benachteiligter Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien deutlich verbessern soll. Jetzt haben wir hier 60 Minuten Zeit, um über drei Minianträge der FDP zu sprechen, die zum Teil allgemeine Plattitüden verbreiten, zum Teil ganz unverhohlen Klientelpolitik betreiben. ({0}) Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung treffen Familien hart. Familienarbeit und Erwerbstätigkeit zu vereinen, ist schon in normalen Zeiten kein Zuckerschlecken. Distanzunterricht für die Schulkinder, Homeoffice für die Eltern und die Betreuung des Kitakindes unter einen Hut zu bekommen, das ist wirklich die Quadratur des Kreises und bringt viele Familien an ihre Grenzen. Darum ist es richtig, zumindest die ökonomischen Folgen abzufedern und nach Möglichkeit zu entlasten. ({1}) Das tun wir auch seit März letzten Jahres mit immer besseren und passgenaueren Lösungen. Kinderkrankengeld für Kinder, die nicht krank sind, sondern die Schule oder Kita nicht besuchen können, ist allein schon eine verwaltungstechnische Verbesserung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die den gewohnten Weg über die Krankenkasse nutzen können, um an ihre Lohnersatzleistung zu kommen. In Deutschland sind mehr als 73 Millionen Menschen gesetzlich krankenversichert, darunter fast 13 Millionen Kinder. Da bringt ein solch erleichterter Zugang sehr viel, gerade auch für die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Einkommen. Auch die Privatversicherten, die Selbstständigen und die Freiberufler sind nicht ohne Absicherung und Ausgleich, wenn ihre Kinder die Schule nicht besuchen können. Über das Infektionsschutzgesetz haben Eltern inzwischen nicht nur bei Quarantäne, sondern auch dann einen Ausgleichsanspruch, wenn Schule oder Kita geschlossen sind und die Eltern die Betreuung selbst übernehmen müssen. Dieser Anspruch steht auch Freiberuflern und Selbstständigen zu. Beim Kinderkrankengeld für alle nicht gesetzlich Versicherten aus Steuermitteln vermisse ich vor allem die soziale Komponente. Man braucht ein höheres Einkommen, um sich freiwillig privat zu versichern. Viele freie Berufe zählen nicht zu den Ärmsten der Armen, aber es gibt natürlich auch Selbstständige in prekären Verhältnissen. Für diese verlangen wir schon lange eine Versicherungspflicht in der GKV. ({2}) Die Mehrheit der Privatversicherten kann aber durch eigene Vorsorge leichter mal eine Durststrecke überwinden. ({3}) Wir als SPD plädieren übrigens schon seit vielen Jahren für die Bürgerversicherung, eine gesetzliche Krankenversicherung für alle. ({4}) Dagegen sehe ich in den Anträgen keinerlei Augenmerk auf eine Gruppe junger Menschen, die wirklich dringend unsere Aufmerksamkeit in der Pandemie benötigen: Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen und durch geschlossene Schulen und Kitas, fehlende Sport- und Freizeitmöglichkeiten sowie die Kontaktverbote fast komplett auf ihre Wohngruppen verwiesen sind. Diese Kinder und Jugendlichen haben meist einen größeren Unterstützungsbedarf und können unmöglich in einer altersgemischten Wohngruppe von zehn Heranwachsenden, die verschiedene Schulformen besuchen, von nur einer Fachkraft im Distanzunterricht unterstützt werden. Hier wären die Landesregierungen gefragt, zusammen mit den Kommunen schnellstens Geld bereitzustellen, damit Jugendhilfeeinrichtungen zusätzliches Personal einstellen können; sonst drohen ohnehin benachteiligte Kinder und Jugendliche vollends den Anschluss zu verlieren. Daher plädiere ich durchaus für eine bessere Unterstützung junger Menschen und ihrer Familien, um die Folgen der Pandemie abzumildern, aber bitte vor allem gezielt für die, die es am nötigsten brauchen, und am besten auch langfristig, also über die Pandemiesituation hinaus. Deswegen hätten wir uns am letzten Sitzungsfreitag lieber mehr Zeit für die Debatte zum SGB VIII nehmen sollen; denn dort werden strukturelle Verbesserungen für gutes Aufwachsen angestoßen, die über Finanzhilfen weit hinausgehen. Ich danke sehr. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Suding, FDP-Fraktion. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit März letzten Jahres erleben wir mit den bundesweiten Kita- und Schulschließungen einen bis dahin kaum für möglich gehaltenen Einschnitt in das Leben unserer Familien. Seit fast einem Jahr sind die Betreuung in den Kitas und der Unterricht an den Schulen entweder ersatzlos ausgefallen oder eben nur sehr eingeschränkt möglich. Das ist ein Jahr fernab jeglicher Normalität im Alltag von so vielen Familien, ein Jahr Vierfachbelastung aus Homeschooling, Kinderbetreuung, Homeoffice und Hausarbeit. Die katastrophalen Folgen für die Kinder und ihre Eltern spüren wir seit Monaten mit voller Wucht, und die werden wir noch sehr lange spüren. Das, meine Damen und Herren, darf uns nicht kaltlassen. ({0}) Folgen für die Kinder und Eltern – das klingt hier, wenn man das so sagt, erstmal recht abstrakt. Deswegen möchte ich das gern etwas klarer machen – wir haben es hier schon angesprochen –: Laut einer aktuellen Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf ist jedes dritte Kind psychisch auffällig. Kinder leiden schwer unter der pandemiebedingten Isolation. Mütter und Väter und ganz besonders die Alleinerziehenden sind am Ende ihrer Kräfte. Viele arbeiten erst nachts, wenn die Kinder schlafen. Für Eltern, die beruflich selbstständig sind, wurde die Betreuung der eigenen Kinder sogar zur finanziellen Existenzbedrohung, und das auch, weil die Bundesregierung die Ausweitung der Kinderkrankentage doch tatsächlich nur den gesetzlich Versicherten ermöglicht hat. ({1}) Lieber Marcus Weinberg, da reicht es auch nicht, wenn man sich hierhinstellt, vage Ankündigungen macht und sagt, dass man darauf furchtbar stolz ist. Das hilft den Betroffenen nicht. Das ist für die selbstständig und freiberuflich tätigen Eltern wirklich ein übler Schlag ins Gesicht. ({2}) Deswegen sage ich hier noch mal klipp und klar: Wir Freien Demokraten werden nicht müde, Sprachrohr für diese Familien zu sein. Wir werden nicht müde, unsere Forderung für eine krisenfeste Unterstützung von Familien zu wiederholen. Es reicht auch nicht, wenn sich verschiedene Abgeordnete der Koalitionsfraktionen hierhinstellen, die Situation ja in Teilen sogar durchaus richtig beschreiben, aber eben nicht handeln. ({3}) Es muss schneller gehandelt werden. Darum geht es. Das ist das, was den Betroffenen wirklich hilft. Ich sehe da, ehrlich gesagt, nicht, dass Sie es wirklich ernst meinen mit Ihrer Unterstützung. Deswegen noch mal unsere Forderungen: Erstens. Die Ausweitung der Kinderkrankentage muss auch für die freiwillig gesetzlich versicherten oder auch die privatversicherten Eltern mit Kita- und Schulkindern unter zwölf Jahren gelten, und das muss jetzt kommen. ({4}) Zweitens. Der Elterngeldbezug muss verlängert werden, wenn sich aufgrund der pandemiebedingten Kitaschließungen die Kitaeingewöhnungsphase des Kindes verschiebt. Drittens. Die Digitalisierung der Familienleistungen, vor allen Dingen der Beantragung, muss endlich lückenlos funktionieren. ({5}) Klar ist für uns aber auch: Die Überbrückungshilfen – und das sagt ja auch schon der Name – dienen zur Überbrückung. Normalität bringen sie unseren Familien natürlich nicht zurück. Das oberste Ziel muss deshalb sein, dass die Kitas und die Grundschulen so schnell wie möglich öffnen. In manchen Ländern soll das ja zum Glück schon in diesem Monat geschehen. Ich hätte mir das überall gewünscht. Der flächendeckende Einsatz von Luftfiltergeräten und Schnelltests, feste Betreuungs- und Lerngruppen, mehr Schulbusse, mehr Tempo und Priorisierung beim Impfen – das alles ist dafür unerlässlich. Nur so – da muss jetzt Dampf gemacht werden – verhindern wir, dass überlastete Familien zum größten Kollateralschaden dieser Pandemie werden. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Suding. – Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr strenger Präsident Kubicki! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich danke der FDP, dass wir hier auch heute Morgen wieder in der Kernzeit über familienpolitische Themen diskutieren können. Gleich drei Anträge sind vorgelegt worden. Man hat ja fast das Gefühl, als hätte die FDP die Familienpolitik als neues kernpolitisches Thema für sich entdeckt. ({0}) – Ja, ich sage: Für den einen oder anderen ist es dann doch relativ neu. Aber, wie gesagt, ich finde es ja gut, dass wir darüber diskutieren. Als einer der letzten Redner in dieser Debatte kann ich diese ein bisschen zusammenfassen, und da muss ich sagen: An der einen oder anderen Stelle wundere ich mich über die eine oder andere Aussage der Kolleginnen und Kollegen, gerade auch der Kollegen der AfD. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir hier erfahren durften, war wieder mal reiner Demagogenklamauk, nicht mehr und nicht weniger. ({1}) – Nein, das ist keine Hetze, Frau von Storch. – Es wird von zerstörerischer Lockdown-Politik gesprochen. Es wird davon gesprochen, die epidemische Lage einfach aufzuheben. Es wird davon gesprochen, dass Wissenschaftler von der Bundesregierung gekauft werden usw. usf. Wo kommen wir denn hier mittlerweile hin? ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, das ist nichts anderes als Demagogenklamauk. Damit müssen Sie sich abfinden. ({3}) Der Kollege Reichardt sprach davon, dass 99,2 Prozent nicht an Corona erkrankt sind. Aber man kann das Ganze auch anders sehen, man kann nämlich auch sagen: Gott sei Dank sind – in Anführungsstrichen – „nur“ 0,8 Prozent der Menschen bei uns im Land bisher an Corona erkrankt. Das ist auch eine Leistung der Bundesregierung, dieses Parlamentes und der Länderparlamente, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Jetzt geht es hier, glaube ich, aber auch darum, dass wir uns tatsächlich mal über die Frage unterhalten müssen: Wie gehen wir in der nächsten Zeit mit den Dingen um, die richtigerweise besprochen und diskutiert werden müssen? Es geht um Kinder. Es geht um Jugendliche. Aber es geht auch um noch Schwächere in unserer Gesellschaft, nämlich alte Menschen. Es geht um Einsamkeit. Wenn ich darüber nachdenke, dass viele fordern: „Die Kitas müssen öffnen, die Schulen müssen öffnen“, dann sage ich: Es wäre auch mal schön, wenn wir ebenso an unsere Jugendlichen oder an die jungen Erwachsenen denken würden, die gerade im Studium sind. Es wäre auch schön, wenn unsere Universitäten mal wieder öffnen dürften und dort Präsenzunterricht stattfinden könnte. Die jungen Erwachsenen sind nämlich auch seit einem Jahr zu Hause und haben nur Onlinevorlesungen. Wir muten diesen Menschen, den Jugendlichen, den Kindern und auch den Älteren, relativ viel zu, meine Damen und Herren; das ist so. Aber welche anderen Möglichkeiten haben wir denn? ({5}) – Ja, aufmachen; na klar. Richtig: Einfach nur aufmachen! ({6}) Die Bundeskanzlerin will doch nicht, dass die Schulen geschlossen bleiben, damit die Kinder nicht weiter zur Schule gehen können. Die Kanzlerin hat das gefordert, weil wir keine vernünftigen Schutzkonzepte in den Schulen haben, weil es immer noch keine Teststrategien in den Schulen gibt, weil es immer noch keine Lüftungsstrategien gibt, weil es immer noch keine Lernerhebungsberichte gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die Probleme, die wir haben und mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber es kann auch nicht sein, dass immer nur mit dem Finger auf die Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag gezeigt wird. ({7}) Die Ministerpräsidenten treffen sich regelmäßig mit der Bundeskanzlerin. Es werden dort Entscheidungen getroffen. Es werden Fördergelder bereitgestellt und Hilfspakete in der Größenordnung von mehreren Milliarden Euro geschnürt. Darüber entscheiden die Ministerpräsidenten, und wir liefern das Geld. Ich sage jetzt auch mal deutlich: Die Länder sind auch in der Pflicht – diese Zeit hätten sie seit einem Jahr gehabt –, vernünftige Konzepte auf den Tisch zu legen, damit Kitas, Schulen und Universitäten möglichst schnell wieder öffnen können. ({8}) – Darum kritisiere ich sie auch gerade, Herr Kollege Reichardt. Es ist eine Kritik an die Länder, dass das bisher nicht passiert ist. Vielleicht haben Sie das nicht so richtig verstanden. ({9}) Aber ich nehme die Länder gar nicht in Schutz; ich nehme sie in die Pflicht. ({10}) Genau das unterscheidet uns. Sie schimpfen immer nur auf die Bundesregierung. Die Bundesregierung ist nicht diejenige, auf die Sie immer mit dem Finger zeigen sollten. ({11}) Also, wie gesagt, wir brauchen hier eine klare Trennung. Dann sage ich noch eines: Ja, ich kann nachvollziehen, dass man jetzt versucht, beispielsweise die Friseurläden sukzessive wieder zu öffnen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen sollten uns mindestens genauso viel wert sein wie Friseurläden. Damit will ich das Friseurhandwerk in keinster Weise kritisieren oder diskreditieren; aber Kinder, Jugendliche und junge Erwachsende sollten uns genauso viel wert sein. Deswegen gilt es jetzt, daran in den nächsten Wochen zu arbeiten. Noch mal von mir gesagt: Auch die Länder müssen etwas dafür tun, damit wir bei diesen Dingen besser vorankommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns durchaus auch mal Lobbyisten sein. Lobbyist zu sein, ist manchmal etwas negativ behaftet. Aber lassen Sie uns Lobbyisten für Kinder, für Jugendliche und für unsere älteren Menschen in der Gesellschaft sein! Ich glaube, dann kommen wir in den nächsten Wochen gut voran. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Beermann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir die Anträge der FDP durchgelesen, und da ist mir eine Geschichte eingefallen: Ich war vor 20 Jahren Arbeitnehmervertreterin im Aufsichtsrat der Leiharbeitsfirma Randstad. ({0}) Das ist ja eine holländische Firma. Das war die Zeit, bevor wir digitale Kalender hatten und bevor man für einen Termin gedoodelt hat. Das heißt, wir saßen in der letzten Sitzung des Jahres da und hatten die Kalender aufgeschlagen. Es gab einen Vorschlag, und wir sind die Termine durchgegangen. Dann sagte der Anteilseignervertreter, der wichtigste Mensch, den Randstad weltweit hatte, der Oberweltmanager von Randstad – der Typ war quasi das Licht, um das die Motten alle kreisten –: An der Mai-Sitzung kann ich nicht teilnehmen. Da ist meine Frau auf Fortbildung. Da kümmere ich mich um die Kinder. Da dachte ich mir: Wäre so was bei uns möglich? Entweder würde der deutsche Obermanager sagen: „Ich kann da nicht“ – ohne Begründung natürlich –, oder die Frau wäre nicht auf Fortbildung. Es wäre auf jeden Fall anders. Das war vor 20 Jahren. ({1}) Fakt war: Die Sitzung fand statt, er war nicht da, und die Welt ist nicht untergegangen. – Das ist normal für holländische Unternehmen und holländische Manager. Es war einfach normal, dass Familienarbeit im Ansehen gleichwertig ist mit der Erwerbsarbeit. Das wünsche ich mir für uns auch. ({2}) Jetzt zu Ihren Anträgen. Sie beantragen – da haben Sie uns an Ihrer Seite –, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Eltern echte Wahlfreiheit geben, die Erwerbs- und Sorgearbeit nach individuellen Bedürfnissen untereinander aufzuteilen. Das ist ein Langfristprojekt. Ich habe mir aber auch Ihre sonstigen Anträge angeschaut – es gibt noch kein neues Wahlprogramm, aber ich habe mir das von 2017 angesehen – und mich gefragt: Was sagen eigentlich Ihre Wirtschaftspolitiker zu diesen Anträgen? Sie wollen die unternehmerischen Freiräume stärken. Sie wollen bürokratische Belastungen verhindern. Sie wollen weg von der Stechuhr, die Höchstarbeitszeit bei 48 Stunden lassen und die Regelung zur Ruhezeit von elf Stunden aufheben. ({3}) Dann habe ich mir überlegt: „Vielleicht gibt es was Aktuelles“, und habe mir das Wahlprogramm der FDP für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg angeschaut. Darin fordern Sie die Abschaffung des Landestariftreue- und Mindestlohngesetzes. Von Vereinbarkeit von Familie und Beruf nirgends auch nur ein Wort! – Deshalb: Wenn Sie Ihre flauschig-flockigen Anträge ernst nehmen, dann unterstützen Sie uns bitte bei der Schaffung echter Rahmenbedingungen, um Erwerbsarbeit und Familienarbeit kombinieren zu können. ({4}) Dazu gehören ein Recht auf Teilzeitarbeit für alle, ein Rückkehrrecht auf Vollzeitarbeit, die Neudefinition der Vollzeitarbeit, die Abschaffung der 450-Euro-Jobs, die Abschaffung der Steuerklasse V usw. Damit kommen wir weiter. Aber hier einfach flockige Anträge zu formulieren und das in der Praxis, in der eigenen Programmatik nicht zu leben, das bringt uns nicht weiter. ({5}) Wir brauchen Regeln, wir brauchen Rechte, und wir brauchen Haltung. Ich hatte gestern Abend an einem virtuellen Weibefasching des Kreisfrauenrates Ostalb teilnehmen können. Da hat die wunderbare Marlies Blume, die Kabarettistin, gesagt: Die drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – werden durch die drei Hs – Homeoffice, Homeschooling und Homework – abgelöst. ({6}) Es ist unser Job, dass das nach der Pandemie nicht auch noch so ist. Wir brauchen Langfristprojekte. Der Antrag ist ein Langfristprojekt; dafür haben Sie unsere Unterstützung. Aber wir kommen nicht weiter, wenn Sie ansonsten das nicht leben, was Sie da fordern. ({7}) In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute Faschingszeit, und bleiben Sie alle gesund! Danke schön. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja heute schon vieles gesagt worden. Trotzdem möchte ich mal kurz auf die Reden der Kollegen von der AfD eingehen, weil ich das Gefühl habe: Da sind ein paar Faktenfehler drin. Der Kollege Huber hat gesagt, dass Kinder keine Pandemietreiber sind. Herr Huber, wenn Sie die Studien genau gelesen hätten, beispielsweise vom Helmholtz-Zentrum vom Oktober 2020, dann hätten Sie festgestellt, dass das Helmholtz-Institut in einer Antikörperstudie nachgewiesen hat, dass Kinder zwar nicht erkranken, aber sehr wohl Überträger sind. Die Leopoldina schloss sich dieser Meinung im August 2020 an. Professor Lehr, Statistiker aus dem Saarland und Entwickler des Covid-Simulators, hat festgestellt, dass die Schulschließungen im Frühjahr einen Anteil von 40 Prozent am Rückgang des R-Werts hatten. ({0}) Deswegen, Herr Kollege Huber, muss ich sagen: Entweder Sie wollen hier aus Missachtung diesem Parlament die Unwahrheit erzählen, oder Sie haben einfach keine Ahnung. ({1}) Der Kollege Reichardt hat gesagt: Nur 0,2 Prozent der Bevölkerung sind bisher an Corona erkrankt. – Ich glaube, da ist Ihnen ein Kommafehler unterlaufen: Das sind nach Angaben des RKI bis heute 2,3 Prozent; 3 Prozent davon Kinder, also 160 000. ({2}) Ich glaube, Sie sollten einfach mal die Zahlen genauer lesen; dann würden Sie hier in diesem Hause viel weniger Unwahrheiten erzählen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Huber von der AfD-Fraktion?

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich. – Herr Kollege Huber, ich erkläre es Ihnen gern noch mal ausführlicher.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben dann auch mehr Redezeit.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielleicht lassen Sie mich erst mal die Frage stellen.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch, doch. Sie können auch eine Frage stellen.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke auch dem Herrn Präsidenten. – Stimmen Sie denn, Ihren Ausführungen nach, der Corona-KiTa-Studie nicht zu? Das ist, wie gesagt, die Corona-KiTa-Studie, die auch das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat. Da ist eindeutig herausgekommen – die Projektleiterin hat das auch noch mal öffentlich festgestellt –, dass Kitas insgesamt – es geht nicht um die Kinder, sondern um die Kitas, um die Einrichtungen – keine Infektionstreiber sind, weil junge Kinder weniger infektiös sind; das ist eine Tatsache. Das geht bis ins Grundschulalter. Deswegen die Frage: Teilen Sie die Erkenntnisse dieser Corona-KiTa-Studie, die das Familienministerium beim Deutschen Jugendinstitut in Auftrag gegeben hat?

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, Herr Kollege Huber, ich muss Ihnen sagen: Ich glaube, die Antikörperstudie des Helmholtz-Instituts und auch die Tatsache – das ist in den letzten Tagen herausgekommen –, dass Kitabetreuer überdurchschnittlich oft an Corona erkrankten, beweisen doch sehr deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen Kita, Schulen und Corona gibt. ({0}) – Frau Kollegin Storch, ja, ich erkläre es Ihnen auch noch mal; Sie können auch gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich glaube, drei Studien beweisen doch ganz deutlich, dass Schulen und Kitas sehr wohl ein Pandemietreiber sind. Die Studien des Helmholtz-Instituts, der Leopoldina und die statistischen Daten von Professor Lehr von der Universität des Saarlandes sprechen eine sehr eindeutige Sprache. Deswegen sage ich ganz deutlich: Wir müssen auch bei Schulen und Kitas aufpassen. Wenn sie zu früh geöffnet werden, sorgen sie nämlich sehr wohl mit dafür, dass die Coronapandemie nicht eingedämmt werden kann. ({1}) „Familienpolitik krisensicher und verlässlich gestalten“, mit diesem Titel lässt sich auch die Arbeit der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen in dieser Krise sehr gut beschreiben. So war und ist es ein zentrales Anliegen, den Familien in dieser Ausnahmesituation bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Uns ist bewusst: Familien sind mit die Hauptleidtragenden der aktuellen Beschränkungen. Ob geschlossene Kitas oder die Widrigkeiten des Distanzunterrichts: Die Coronapandemie stellt uns alle, aber insbesondere die Familien, vor riesige Herausforderungen. Uns ist klar: Allein mit gesetzgeberischen Maßnahmen lassen sich die enormen alltäglichen Probleme, denen sich die Familien stellen müssen, nicht lösen; aber die bundespolitischen Initiativen sollen einen Rahmen setzen, der zeigt: Wir lassen die Familien in dieser Situation nicht allein. ({2}) Deshalb haben wir in den letzten Wochen und Monaten eine Vielzahl von Hilfsangeboten und Maßnahmen auf den Weg gebracht. So hat die Bundesregierung unter anderem Folgendes beschlossen: Erstens. Wir verdoppeln den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende. Durch die Erhöhung des Entlastungsbetrages von 1 908 auf 4 008 Euro wird die Grundlage für die Steuerberechnung erheblich gemindert. Damit wird dem erhöhten Betreuungsaufwand für Alleinerziehende in Coronazeiten Rechnung getragen. Zweitens. Wir passen die Elterngeldregelungen an. Zur Gewährleistung der wirtschaftlichen Stabilität von Familien wurde die Sonderregelung im Elterngeld bis Ende des Jahres verlängert. Dadurch werden pandemiebedingte Einkommensverluste ausgeglichen. Leistungen wie beispielsweise Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld reduzieren das Elterngeld nicht. Monate mit geringem Einkommen können zudem von der Elterngeldberechnung ausgenommen werden, wenn Eltern infolge der Pandemie Einkommensausfälle erleiden. Drittens. Wir erleichtern den Zugang zum Kinderzuschlag. Aufgrund der Pandemie wurde die Vermögensprüfung für den Kinderzuschlag vorübergehend erleichtert. Verfügen Eltern über kein erhebliches Vermögen, müssen sie dazu auch keine Angaben machen. Hierdurch werden insbesondere Alleinerziehende und Familien mit kleinen Einkommen unterstützt. Sie erhalten einen monatlichen Zuschlag von bis zu 205 Euro pro Kind. Viertens. Bereits im letzten Jahr haben wir einen Kinderbonus von 300 Euro gezahlt. Mit dieser einmaligen Zahlung wurden besonders von den Einschränkungen betroffene Familien noch mal unterstützt. Der Bonus wurde gestaffelt in den Monaten September und Oktober 2020 zusammen mit dem Kindergeld ausgezahlt und wurde nicht auf die Sozialleistungen angerechnet. Durch die Anrechnung auf den Kinderfreibetrag wurde sichergestellt, dass er gezielt Familien mit kleinen und mittleren Einkommen zugutekommt. Fünftens. Die Koalition hat sich darauf geeinigt, auch in diesem Jahr einen Kinderbonus zu gewähren, und zwar von 150 Euro. Sechstens. Zusätzlich zur Ausweitung der Kinderkrankentage haben wir über das Infektionsschutzgesetz einen Anspruch auf Entschädigung im Betreuungsfall geschaffen, und zwar für einen Zeitraum von bis zu 20 Wochen. Eltern und Alleinerziehenden erstatten wir bei behördlichen Schließungen der Schule und Betreuungseinrichtungen den Verdienstausfall bis zu 2 016 Euro. Die Maßnahmen zeigen: Wir lassen die Familien in dieser Ausnahmesituation nicht allein; denn die Familie ist die Keimzelle unserer Gesellschaft. Deshalb sind die zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen im ureigenen Interesse unserer Fraktion und unseres Landes. Aber klar ist auch: Die gesetzgeberischen Maßnahmen bedürfen besonderer Nachjustierung. Deshalb bin ich für den Hinweis der FDP-Fraktion dankbar, die in ihrem Antrag zusätzliche Kinderkrankentage unabhängig vom Versicherungsstatus gefordert hat. Wir brauchen ein bundeseinheitliches Konzept, auch für die Privatversicherten. Diese dürfen nicht belastet werden. Diese brauchen auch Unterstützung in der Coronakrise.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seien Sie versichert: Die Bundesregierung wird auch weiter einen Fokus auf die bedarfsgerechte Unterstützung von Familien legen. Dafür setzen wir uns mit aller Überzeugung ein. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Pilsinger. – Damit ist die Aussprache beendet.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren jetzt über eine ganze Reihe von Gesetzen, jetzt im Besonderen über eines, mit dem wir Verbesserungen auf den Weg bringen, die in der ganz komplizierten, schwierigen Lage, in der wir uns alle befinden, notwendig sind. Aber es ist die Ausgangslage, um die es eigentlich geht: die Coronapandemie, die unverändert anhält und mit der wir uns auseinandersetzen und gegen die wir streng anarbeiten. Das alles funktioniert – und das ist mir an dieser Stelle wichtig zuallererst zu sagen –, weil die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, weil unzählige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil viele Unternehmen alle gemeinsam an einem Strang ziehen und mithelfen, dass das funktioniert. Dies ist keine Angelegenheit allein von Verwaltung; das ist eine Angelegenheit des ganzen Landes. Und ich sage deshalb: Danke fürs Mitmachen, fürs Verständnis und für all das, was dazugehört! ({0}) Ja, wir müssen unverändert vorsichtig sein. Wir müssen alles dafür tun, dass wir die Kontakte reduzieren, dass wir die Übertragungsmöglichkeiten reduzieren, damit wir die Pandemie im Griff behalten. Wir wissen: Zur Vorsicht gibt uns auch die Mutation Anlass; denn Tatsache ist doch, dass mit all den Veränderungen, die wir jetzt beobachten können, die Gefahren nicht kleiner geworden sind. Deshalb ist es richtig, dass wir genau so vorgehen, und es ist gleichzeitig richtig, dass wir jetzt vorsichtig erkennen lassen, welche Öffnungsschritte möglich sind, bei Kitas und Schulen, bei den Friseuren und dann als Nächstes, bei weiterem Sinken der Inzidenzen – das ist schon gesagt worden –, für Museen und Geschäfte. Ich glaube, das ist die richtige Perspektive, und auch das werden wir gemeinsam hinbekommen. ({1}) Wir können sehen, dass da Licht am Ende des Horizonts ist. Wir können erkennen, dass die Möglichkeiten gewissermaßen besser werden, weil wir eine Chance haben durch das Impfen, durch die Impfstoffe, die entwickelt worden sind. Und auch das ist vielleicht eine Botschaft neben all dem, was diskutiert wird: Es ist die technologische Kompetenz unseres Landes, die das möglich gemacht hat. Zwei von drei Unternehmen, die weltweit neue Impfstoffe entwickelt haben, stammen aus Deutschland. Das ist etwas, auf das wir aufbauen müssen – auch wenn wir nach der Pandemie wieder neue Pläne schmieden und an die Zukunft denken. ({2}) Ganz konkret tun wir deshalb an dieser Stelle etwas, um diejenigen zu unterstützen, die jetzt noch durchhalten müssen: Die Familien erhalten mit dem Kinderbonus eine Unterstützung in Höhe von 150 Euro. Der Kinderbonus war schon im letzten Jahr eine gute Sache; das bringen wir jetzt voran. Den Gastronominnen und Gastronomen helfen wir ganz konkret, indem wir die Mehrwertsteuersenkung für sie noch einmal deutlich verlängern und ihnen damit Hoffnung geben. ({3}) Den Unternehmen helfen wir, indem wir den Verlustrücktrag noch einmal weiter ausbauen. ({4}) Das sind drei Maßnahmen, die dazugehören, wenn wir uns alle gemeinsam anstrengen und unterhaken. Das ist wichtig. Es geht hier nicht nur um Geld, das viele gut gebrauchen können; es geht auch um eine gemeinsame Sache. In diesem Sinne bitte ich Sie, das zu unterstützen. Schönen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Albrecht Glaser, AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit allem Respekt, Herr Minister, das, was Sie jetzt vorgetragen haben, war so dünn wie der Inhalt dessen, was Sie vorgelegt haben. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, auch ich, haben ein großes Werk erwartet. Das ist der dritte Versuch einer Coronasteuergesetzgebung, um mit dem fiskalischen Handeln etwas zu bewirken, um die Wirtschaft aus dem Tiefschlaf zu holen. Damit hat das, was hier vorliegt, nichts zu tun. Es geht um drei Kleinigkeiten: Das Erste ist die Verlängerung der ermäßigten Umsatzsteuer auf die Speisenabgabe um 1,5 Jahre. Die Ironie ist vorhin schon durch den Saal gegangen: Denen hat man die Bude zugemacht, und jetzt sagt man: Wenn ihr sie theoretisch aufhättet, könntet ihr die Speisen ein bisschen billiger abgeben. – Das ist nichts! Das ist Zynismus, meine Damen und Herren, und Zynismus hat nichts mit Wiederbelebung der Wirtschaft zu tun. ({1}) Zweitens: Coronakinderbonus. Meine Damen und Herren, das ist ein Sozialthema. Das ist gerade diskutiert worden. Das hat mit dieser Steuerwelt eigentlich überhaupt nichts zu tun. Man darf annehmen, dass das eine rein atmosphärische Behandlung breiter Teile der Bevölkerung ist, um das Klima etwas zu verbessern. Man könnte auch sagen: Populismus. Der Kanzlerkandidat macht Populismus mit Staatsknete. ({2}) Drittens: der Verlustrücktrag. Das könnte ja was sein. Da könnte man richtig was machen. Das wäre ein Gebot der Gerechtigkeit, und das wäre ein effektives Instrument, um in Deutschland etwas zu tun. Nichts geschieht! Der Verlustrücktrag soll von 5 auf 10 Millionen Euro pro Jahr für die Jahre 2020 und 2021 erhöht werden. Was ist der Verlustrücktrag? Wenn ich im Jahr 2019 als Unternehmen einen Gewinn von 100 gemacht habe und im Jahr 2020 aus nachvollziehbaren Gründen einen Verlust von 100 mache, dann habe ich für dieses beiden Jahre 0 Gewinn. Dann müsste es möglich sein, und zwar ohne dass der Staat Einbußen bei seinen Steuereinnahmen erleidet, den Verlust aus 2020 mit dem Gewinn von 2019, der gerade in der Veranlagung ist – es entsteht ein Steuerbescheid –, zu verrechnen. Das würde dazu führen, dass die Steuer, die in 2019, als das Geschäft gut gelaufen ist, entstanden wäre, nicht zu entrichten wäre. Dann würde aus dem Unternehmen heraus Gesundung entstehen, und zwar an einer Stelle, wo sowieso verwaltet wird: in der Begegnung zwischen Steuerverwaltung und dem Unternehmen. Das ist sensationell und zielgenau. ({3}) Und für den Staat entsteht gar kein Problem, weil die Steuer nur weiter hinten gezahlt werden muss. Die klugen Kollegen Brehm und Güntzler werden hier nachher wieder erzählen, sie hätten eigentlich eine große Unternehmensteuerreform in der Pipeline. ({4}) Herr Brehm, Sie werden es zum fünften Mal erzählen. Die wird nie kommen. Das werden Sie in zehn Jahren noch erzählen. Nicht einmal den Verlustrücktrag kriegen Sie hin. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der gesamtgesellschaftliche Effekt für das, was Sie machen – den haben Sie ja dankenswerterweise ausgerechnet –, beträgt 400 Millionen Euro auf fünf Jahre verteilt. Das soll bewirken – ich zitiere –: Mit der Verbesserung der Möglichkeiten der Verlustverrechnung werden zusätzliche Investitionsanreize gesetzt. Meine Damen und Herren, die Bruttoinvestitionen in Deutschland betragen 750 Milliarden Euro pro Jahr. Mit 400 Millionen Euro an Steuerverschiebungen über fünf Jahre wollen Sie die Investitionen anreizen? Damit können Sie noch nicht einmal verhindern, dass die Unternehmen zugrunde gehen, ehe die Fünfjahresfrist vorbei ist. Das ist Ihre Fiskalpolitik für Corona, meine Damen und Herren. ({6}) Wir haben Ihnen im April 2020 alles, was das Land braucht, vorgelegt. Das schlagen auch die großen Sachverständigen in den Anhörungen immer vor. Wir sind da völlig im Konsens, nicht weil wir bei denen abgeschrieben haben oder die bei uns, sondern weil alle Leute, die darüber nachdenken und ein bisschen Sachverstand haben, zum selben Ergebnis kommen. Ein Verlustrücktrag für die Gewerbesteuer – da haben Sie noch nicht einmal drüber nachgedacht – ist genauso wichtig. Für das Jahr 2020 muss er unbegrenzt möglich sein. Wie wollen Sie denn bei den großen Unternehmen überhaupt etwas erreichen, die höhere Verluste haben? Die müssen jetzt Darlehen bei der KfW aufnehmen, damit sie ihre Steuer bezahlen können. Das ist die Coronapolitik dieser Regierung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider ist meine Zeit zu Ende. ({7}) Ich könnte Ihnen noch viel Lustiges erzählen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Bezüglich einer generellen Steuerentlastungsfrage sehen wir der Anhörung mit Interesse entgegen. Wir bedauern, dass dieses Land diese Regierung hat. Daraus kann man in Coronazeiten nicht schlau werden. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Glaser. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nummerierung der Steuergesetze zeigt, dass wir schon eine ganze Zeit lang in dieser Coronakrise sind. Heute also nun die Nummer drei. Im Mai 2020 haben wir das erste Mal ein Corona-Steuerhilfegesetz auf den Weg gebracht. Wir haben damals die Mehrwertsteuer für Speisen in Restaurants reduziert und den Zuschuss der Arbeitgeber zum Kurzarbeitergeld bis 80 Prozent steuerbefreit – 3 Milliarden Euro, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dadurch gespart haben, dass sie die Aufstockung des Arbeitgebers nicht versteuern mussten. Einen Monat später haben wir mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz über 30 Milliarden Euro Hilfen geleistet. Wir haben die Mehrwertsteuer generell gesenkt, wir haben den Kinderbonus beschlossen, wir haben den Alleinerziehendenentlastungsbetrag auf 4 008 Euro mehr als verdoppelt, wir haben den Verlustrücktrag verfünffacht, die degressive Abschreibung eingeführt, die Forschungszulage verdoppelt, die Hinzurechnungsfreibeträge und die Anrechenbarkeit bei der Gewerbesteuer verbessert. 30 Milliarden Euro für die Unternehmen, für die Wirtschaft! Und ein Teil dieser Maßnahmen stammt aus unserem Steuerkonzept, Herr Glaser, das deutlich vor 2020 erstellt worden ist. Aber es ist schön, dass Sie 2020 nachgezogen haben. Heute die Nummer drei. Der entscheidende Teil ist der steuerliche Verlustrücktrag, den Sie richtig erklärt haben. Ich weiß nur nicht, warum Sie ihn dann falsch finden. ({0}) Es ist tatsächlich so, dass wir 10 Millionen Euro, bei Zusammenveranlagung sogar 20 Millionen Euro Verlustrücktrag nach 2019 zulassen. Natürlich kann man sich mehr wünschen; aber das ist eine Verzehnfachung dessen, was wir zu Beginn dieser Krise hatten. Das sorgt für Liquidität bei den Unternehmen, die sie dringend brauchen, die zielgenau auch bei denen ankommt, die die Steuern ursprünglich gezahlt haben. Und dazu ist das auch noch – das sage ich als Haushälterin – gut für die Schuldenbremse; denn Verluste, die zurückgetragen werden, werden nicht mit in die Zukunft geschleppt. Das heißt, nach der Krise können Unternehmen sehr schnell wieder aus dem wirtschaftlichen Down rauskommen und Steuern zahlen. Ich glaube, dass es keine andere Maßnahme gibt, die so zielgenau funktioniert wie der Verlustrücktrag. ({1}) Natürlich kann man sich immer mehr vorstellen. Die FDP hat dazu gestern ja schon etwas vorgeschlagen. Aber diese 10 bzw. 20 Millionen Euro sind ein großer Schritt in die richtige Richtung. ({2}) Dann haben Sie gesagt, die Maßnahmen für die Gastronomie wären Kinderkram. Ich bin mal gespannt, ob Sie einen Gastronomen finden, der in der Anhörung sagt, dass er das, was wir für die Gastronomen getan haben, für Kinderkram hält. Wir haben nicht nur 75 Prozent des Umsatzes im November und Dezember gezahlt, sondern auch mehrfach die Senkung der Mehrwertsteuer verlängert, diesmal sogar bis zum 31. Dezember 2022. Damit ist auch Ihr Argument entkräftet, dass die Gastronomen davon gar nichts haben, weil geschlossen ist; denn ich glaube, wir alle hoffen, dass wir am 31. Dezember 2022 nun wirklich wieder in der Kneipe sitzen können. Wir unterstützen die Unternehmen mit 12 Prozentpunkten Steuersenkung. Wer da von Peanuts und Kleinkram redet, der will einfach nicht ernsthaft und verantwortungsbewusst Politik machen, sondern der will rumstänkern. Das haben Sie heute wieder getan, und das ist eigentlich schade. ({3}) Zum zweiten Mal hintereinander wird der Kinderbonus gezahlt; diesmal mit 150 Euro im Mai. Das ist aber nicht die einzige Familienleistung. Wenn es die einzige gewesen wäre, könnte das zu Recht kritisiert werden. Wir haben über die Digitalisierung der Schulen massiv Geld in die Bildung unserer Schülerinnen und Schüler gesteckt. Wir haben geeignete Endgeräte für Lehrer finanziert. Wir haben für bedürftige Schülerinnen und Schüler digitale Endgeräte bezahlt. Wir haben die Möglichkeiten für Homeoffice deutlich verbessert. Weitere Coronamaßnahmen: Es gibt Masken für diejenigen, die sie sich nicht selber leisten können. Wir haben die Zahl der Kinderkrankentage verdoppelt; in der Debatte vorhin ist es schon gesagt worden. Ich glaube schon, dass wir mit diesem Gesamtpaket eine bedeutende Hilfe für Familien geleistet haben, wiewohl ich auch weiß, dass es für Familien im Moment eine sehr schwere Zeit ist. ({4}) Mit insgesamt fast 50 Milliarden Euro allein über die Corona-Steuerhilfegesetze versuchen wir, die finanziellen Auswirkungen der Krise abzumildern. Trotzdem bleibt für uns alle der Wunsch, dass wir möglichst bald zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren können. Bitte haben Sie noch ein bisschen Geduld, und bleiben Sie vorsichtig, damit wir über ein fünftes oder sechstes Corona-Steuerhilfegesetze nicht mehr diskutieren müssen. Ich danke Ihnen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Tillmann. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Herbrand, FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen über das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Sie bezeichnen das in der Vorlage als alternativlos. Das haben Sie bei dem Ersten und dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz auch schon gemacht. Die FDP lässt es sich aber einfach nicht nehmen, weiterhin Alternativen und andere Vorschläge zu unterbreiten. Das haben wir auch schon beim Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz gemacht; da wurde es besonders deutlich. Beim Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz haben Sie die temporäre Umsatzsteuerreduzierung mit 20 Milliarden Euro ins Schaufenster gestellt. Wir haben dem eine strukturelle Entlastung der kleineren und mittleren Einkommen über eine Einkommensteuerreform entgegengestellt. Das eine hätte eine dauerhafte Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen bedeutet, und das andere hat nur eine Ministeuerentlastung über die Umsatzsteuer bewirkt. Das war der Unterschied. Jetzt hat sich auch herausgestellt, was wir immer gesagt haben, nämlich dass die Umsatzsteuersenkung ein zahnloser Tiger war. Mit viel Bürokratie wurde letztlich nichts Konjunkturelles erreicht. Jetzt kommt das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz mit dem Verlustrücktrag, dem Kinderbonus und der reduzierten Umsatzsteuer beim Gastgewerbe. Mit dem Verlustrücktrag haben Sie eine Forderung der FDP aufgegriffen; das fordern wir schon seit Beginn dieser Pandemie. Ehrlich gesagt, Herr Minister, wir würden uns da noch ein bisschen mehr Wumms aus Ihrer Bazooka wünschen; denn das, was jetzt eingebracht wird, ist zu wenig. Der Verlustrücktrag – das ist schon gesagt worden – ist ein naheliegendes, im Grunde das am nächsten liegende Instrument, um Unternehmen unbürokratisch mit Liquidität zu versorgen. Unser Vorschlag also: noch mehr und noch weiter ausdehnen. ({0}) Aber wir müssen auch sagen: Der Verlustrücktrag, egal wie wir ihn ausgestalten, geht an der Lebensrealität vieler kleiner und kleinster Unternehmen vorbei. ({1}) Und das sagen wir auch seit dem ersten Augenblick. Wir dürfen sie nicht mit dem vereinfachten Zugang zur Grundsicherung abspeisen. Wir brauchen vielmehr unbürokratische Programme, die einen Beitrag zum Lebensunterhalt und zu der sozialen Absicherung für den Zeitraum darstellen, in denen diese Menschen ihre Geschäfte nicht betreiben dürfen, weil der Staat das so vorgibt. ({2}) Zur Umsatzsteuer bei der Gastronomie und zum Kinderbonus: Da sind wir mal gespannt, was die Experten dazu sagen. Wünschenswert ist grundsätzlich immer alles, was unsere Gastronomie unterstützt und was unsere Familien unterstützt. Dazu gehört aber in allererster Linie eine Öffnungsperspektive. Und diese Chance, meine sehr verehrte Damen und Herren, haben Sie vertan in den letzten Tagen. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. – Das Wort erhält nunmehr der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ein fieser psychologischer Trick der FDP, dass sie immer den Kollegen Herbrand vor mir sprechen lässt. Da fühle ich mich immer gleich kleiner. ({0}) Aber Spaß beiseite. Ein Jahr Coronapandemie liegt hinter uns, und viele Menschen, die bisher die Einschränkungen und Maßnahmen im Großen und Ganzen mitgetragen haben, verlieren die Geduld, weil die Regierung nicht geliefert hat. Sie hat nicht geliefert beim Impfkonzept, das zu einem Impfdesaster geworden ist, wie wir dieser Tage beobachten können. Sie hat nicht geliefert bei den Überbrückungshilfen, die zu Zu-spät-Hilfen geworden sind. Das hat große Unsicherheit in diesem Land erzeugt. Ich finde es bedauerlich, dass wir zum Beispiel in der Impfstoffdebatte immer nur darüber sprechen, was nicht geht, anstatt darüber zu sprechen, was geht. Wir sehen doch, dass technische Kooperationen möglich sind mit einem Mix aus öffentlichen Beihilfen für neue Fertigungslinien und einem Eingriff in das Patentregime, damit Lizenzproduktionen erfolgen können. In den USA ist das möglich, überall ist das möglich, nur in Deutschland nicht. ({1}) Selbstverständlich ist es gut, wenn Sie jetzt einen erneuten Kinderbonus planen und auch den Hartz-IV-Empfängern einen Zuschlag geben wollen. Aber wir reden hier über 3 Milliarden Euro, die dafür in die Hand genommen werden. Alleine die Lufthansa hat 9 Milliarden Euro bekommen, und die Mehrwertsteuersenkung, die wirkungslos verpufft ist, hatte Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro verursacht. Deswegen sagen wir: Das ist zu wenig – nur 40 Cent am Tag seit Ausbruch der Pandemie. Diese Hilfen müssen verstetigt werden, um den Familien Sicherheit zu geben. ({2}) Sie rühmen sich für die auf 7 Prozent reduzierte Mehrwertsteuer in der Gastronomie. Aber das Problem ist, um hier mal Peer Steinbrück zu paraphrasieren: 7 Prozent von nix ist nix. – Wenn man keine Umsätze hat – und das geht vielen Leuten so, die ihre Läden dicht haben, wie zum Beispiel bei mir in Hamburg-Sankt Pauli –, dann hilft das eben nichts. Deswegen wären direkte, zielgenaue Hilfen wichtiger und auch ein Unternehmerlohn für die Soloselbstständigen, die in der Kurve hängen. ({3}) Gleichwohl ist es wichtig, dass wir uns heute schon ehrlich machen und eine Debatte darüber führen, wie es nach der Bundestagswahl weitergeht. Es war richtig, dass Helge Braun die Schuldenbremse rasiert hat; denn die Schuldenbremse wird, wenn man nach der Krise zu ihr zurückkehrt, dazu führen, dass die Investitionen entweder reduziert werden müssen oder dass beim Sozialstaat abgebaut wird. Und weil die Linke das nicht möchte, sagen wir: Wir wollen eine Vermögensabgabe für die Milliardäre und Multimillionäre in diesem Land. Das wäre der gerechte Weg aus der Krise. ({4}) Und auch bei all den Menschen, die jetzt in Kurzarbeit sind, drohen neue Belastungen. Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen den Progressionsvorbehalt auf das Kurzarbeitergeld abschaffen. Hier hat die Regierung nicht geliefert. Ich hoffe aber sehr, dass Sie noch mal in sich gehen und überlegen, ob Sie nicht einige Hilfen für die Schwächsten in dieser Gesellschaft verstetigen können, damit wir den Zusammenhalt in diesem Land sichern. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Ihnen das Herz brechen, aber ich möchte mich entschuldigen, dass ich diese Debatte heute früher verlassen werde, weil ich dem Wirecard-Untersuchungsausschuss beiwohnen muss. Ich möchte das hier nur ansprechen, damit das nicht als Desinteresse wahrgenommen wird. ({5}) Es ist das erste Mal in dieser Legislaturperiode, und es geht noch weiteren Kollegen so. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Danyal Bayaz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Wir haben diese Debatte inzwischen schon ein paar Mal geführt, sehr ähnlich bereits im letzten Frühjahr. Jetzt müssen wir sie noch einmal führen. Einer der Gründe, warum wir sie noch mal führen, hat auch mit dem ökonomischen Krisenmanagement dieser Regierung zu tun; denn das hat nicht funktioniert. Ihr Gesetz ist nicht in allem schlecht, aber natürlich bleibt es hinter dem zurück, was notwendig und was möglich gewesen wäre. Dazu drei Punkte. Erstens: die steuerliche Nutzung von Verlusten. Wir haben vorgeschlagen, die Verluste über einen Zeitraum von vier Jahren rücktragbar zu machen. Das würde gerade kleinen Mittelständlern helfen. Dazu waren Sie letztes Jahr nicht bereit, und Sie sind es noch immer nicht. Aber eine Verbesserung an der Stelle ist nun mal die schnellste und die effektivste Maßnahme, um Unternehmen mit Liquidität zu versorgen. Darüber sind sich auch alle Ökonomen in diesem Land einig, meine Damen und Herren. Was machen Sie stattdessen? Sie erhöhen alle paar Monate das rücktragbare Gesamtvolumen; aber das bringt vielen Unternehmen nichts; denn die Verluste aus 2021 müsste man ja ausgerechnet mit den „großen“ Gewinnen aus dem Jahr 2020 verrechnen. Wer hat die denn schon gemacht? ({0}) Deswegen: Herr Minister Scholz, machen Sie es doch einfach mal richtig! Das gäbe den Unternehmen Planungssicherheit. Zweitens: die Umsatzsteuer. Sie verlängern jetzt die Senkung der Umsatzsteuer für eine spezielle Branche. Aber ein Restaurant ohne Gäste macht auch keine Umsätze, und eine Senkung der Umsatzsteuer morgen oder übermorgen hilft doch den Unternehmen nicht, wenn sie heute von der Insolvenz bedroht sind. Die Wirtschaft braucht branchenübergreifende Lösungen. Vor allem geht es da um direkte und einfache Hilfen. Ich fordere Sie auf, Herr Scholz: Kümmern Sie sich gemeinsam mit Herrn Altmaier endlich darum, dass die bestehenden Hilfsprogramme einfach zugänglich sind und die Hilfen auch wirklich ankommen, und zwar nicht nur bei Gastronomen, ({1}) sondern auch bei Friseursalons, bei Brauereien, bei Selbstständigen und bei Kulturschaffenden. Ich finde, sie haben es nicht verdient, zu betteln, sondern das steht ihnen zu. Ich finde es schon bemerkenswert, dass sich die Staatssekretäre aus dem Finanzministerium und aus dem Wirtschaftsministerium am Mittwoch dafür gefeiert haben, dass es jetzt die Überbrückungshilfe III gibt, so als hätte das einen Nobelpreis verdient. Ich frage mich: Ist Ihnen das eigentlich nicht peinlich? Zahlen Sie den Unternehmen endlich die November- und Dezemberhilfen aus! Die warten bis heute darauf. Da geht es um Existenzen. Machen Sie da Ihren Job! ({2}) Drittens und zu guter Letzt: der Kinderbonus. Das ist – wie im letzten Jahr – eine gute Sache; aber er ist niedriger als im letzten Jahr. Das IMK hat es ja neulich berechnet: Der konjunkturelle Effekt beim Kinderbonus ist viel größer als der Effekt der Mehrwertsteuersenkung, die 20 Milliarden Euro gekostet hat und die Sie, Herr Scholz, im Juli als das Herzstück des Konjunkturpaketes klassifiziert haben. Wir haben Ihnen damals schon gesagt, dass das wenig bringen wird. Jetzt verlängern Sie die Mehrwertsteuersenkung und kürzen ausgerechnet beim Kinderbonus, der ja nicht nur sozial wichtig wäre, sondern auch unsere Konjunktur stabilisieren soll. Nächste Sitzungswoche findet eine Anhörung zu dem Gesetzentwurf statt. Ich würde Ihnen empfehlen, Herr Minister, einfach mal hinzugehen und nicht immer nur Ihre Leute zu schicken. Gehen Sie mal selbst hin und hören Sie zu, was die Sachverständigen sagen! Ich kann Ihnen prophezeien: Sie werden das alles ziemlich genauso sehen, wie ich es gerade gesagt habe. Wenn Sie nicht auf uns hören, dann hören Sie wenigstens auf die Sachverständigen! Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bayaz. ({0}) Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion. ({1})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, wir beraten heute das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Aber ich möchte einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir in diesem Land nicht nur über Steuern versuchen, die Pandemie zu bekämpfen. Ich habe mir mal heraussuchen und aufschreiben lassen, welche Hilfen wir auf den Weg gebracht haben. ({0}) Meine Redezeit reicht nicht, um alles vorzulesen. Aber falls jemand diese Liste haben möchte, gebe ich sie ihm gerne. ({1}) Wir haben schon eine Menge gemacht – auch steuerlich; meine Kollegin hat schon darauf hingewiesen. Ich möchte aber noch einmal auf die Einzelpunkte eingehen. Es gab von der Wirtschaft den ausdrücklichen Wunsch, dass wir den Verlustrücktrag noch mal anfassen. Wir haben es gemacht, wir haben es ermöglicht. Wir haben auch die Summen erheblich erhöht. Ich denke, es ist eine sinnvolle Maßnahme, um den Unternehmen Liquidität zu geben. Verlustrückträge mit Gewinnen zu verrechnen, ist sehr sinnvoll. Es ist ja auch nicht so, dass überhaupt niemand Gewinne gemacht hat, sondern es ist sehr unterschiedlich, in welchen Zeiträumen auch noch Gewinne gemacht werden konnten oder in welchen Phasen ein wirtschaftliches Leben möglich war. Von daher denke ich, das ist eine gute Maßnahme, die auch die Verbände ausdrücklich begrüßt haben. ({2}) Wir wissen alle nicht, was wir alles einkaufen werden, wenn die Geschäfte wieder aufhaben. Ich denke, jeder hat so seinen Plan. Wir werden möglicherweise auch Konsum nachholen; vielleicht kauft man im Frühjahr noch eine Winterjacke. Was wir aber nicht schaffen werden, wenn wir das erste Mal wieder ins Restaurant gehen, ist, all die Sachen zu essen, die wir in den vergangenen Monaten nicht essen konnten, weil die Restaurants zu waren. Deswegen ist es, glaube ich, sinnvoll, dieser Branche eine Sonderbehandlung zu geben und die Mehrwertsteuer für sie länger zu senken. Ich war anfangs auch skeptisch, aber ich muss sagen: Diese Branche hat eine ganz besondere Charakteristik. Da wird es keinen Nachlaufkonsum geben. Da kann man auch keine Schnäppchen anbieten wie „Essen Sie heute drei Schnitzel zum Preis von einem!“ – Das wird nicht funktionieren. ({3}) Deswegen macht es ausdrücklich Sinn, an dieser Stelle die Mehrwertsteuer längerfristig zu senken. ({4}) Wir haben als dritten Punkt den Kinderbonus fixiert. Ja, der Kinderbonus war ein Erfolg im letzten Jahr. Das war abzusehen. Familien haben, finde ich, mit die größten Lasten zu tragen, nicht nur ideell, sondern auch finanziell. Die Pandemie hat die Familien sehr gefordert. Viele Wirtschaftsinstitute haben uns bestätigt: Der Kinderbonus war eine sehr gute Maßnahme. – Ich finde es gut, dass wir im Mai noch einmal 150 Euro an alle Kindergeldempfänger auszahlen. Ich finde es auch gut, dass Hartz-IV-Empfänger den Bonus bekommen. Ich finde es auch richtig, dass wir den wieder mit den Freibeträgen verrechnen. Ich denke, das hat gut gewirkt. Das noch mal zu machen, macht durchaus Sinn. Ich hoffe für uns alle, dass wir kein viertes Steuerhilfepaket brauchen. Aber ich denke, über diese Maßnahme kann man auch noch häufiger nachdenken. ({5}) Das Ganze hier als Makulatur oder Minireform oder dergleichen zu verniedlichen, finde ich nicht fair. Das Ganze kostet uns in der vollen Jahreswirkung 5,9 Milliarden Euro. Das ist nicht nichts. Das ist eine Ergänzung zu all den anderen Maßnahmen, über die wir heute im Laufe des Tages noch reden werden und die wir auch auf den Weg bringen. Ich finde, es ist eine sinnvolle Sache. Ich wünsche uns allen, dass wir gesund durch die Pandemie kommen, dass die, die krank sind, schnell wieder gesund werden und dass wir keine weiteren Hilfsprogramme brauchen. Aber wenn wir sie brauchen, seien Sie sicher: Diese Koalition wird sie auf den Weg bringen. Ich freue mich auf die Beratungen. Alles Gute! Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute bringen wir ein weiteres wichtiges Gesetz auf den Weg, einen weiteren wichtigen Baustein bei der notwendigen Hilfe für die von der Pandemie betroffenen Unternehmen. Es ist und bleibt eine Verpflichtung und Selbstverständlichkeit für uns, dass wir Unternehmen, Mittelständlern, Einzelhändlern, Friseuren, Gastronomen, Künstlern und vielen, vielen mehr, die erheblich von der Pandemie betroffen sind, ({0}) helfen. Sie können nichts für die derzeitige wirtschaftliche Situation. Deswegen ist Hilfe für uns hier selbstverständlich. Übrigens: Das ist in keinem anderen Land der Welt so wie in Deutschland. Das sollte man sich bei der ganzen Diskussion immer wieder vor Augen führen. ({1}) Natürlich gibt es in einem solchen komplizierten Prozess auch Schwierigkeiten – leider. Das ist ärgerlich, aber aufgrund der Komplexität der Fragestellungen manchmal unvermeidlich. Ich kann Ihnen aber versichern, dass wir jeden Tag mit aller Kraft dafür arbeiten, uns um die Beseitigung aller Probleme zu kümmern und die Dinge anzugehen. Aber im Gegensatz zur Opposition, die nur meckert und motzt, machen wir. Wir lösen die Probleme und bringen das auf die Straße. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Woche konnte die Überbrückungshilfe III scharfgestellt werden: mit einer leichteren Beantragung, mit höheren Hilfen, mit einer schnelleren Auszahlung. Das ist ein wichtiger erster Teil. Der wichtige zweite Teil ist – das fordern wir seit Beginn der Pandemie –, dass sich Unternehmen auch aus eigener Kraft helfen können, nämlich mit der Erhöhung des steuerlichen Verlustrücktrags. Wir als Finanz-AG der CDU/CSU-Fraktion haben bereits zu Beginn der Pandemie, im April letzten Jahres, einen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz geschrieben und gebeten, diesen Verlustrücktrag möglich zu machen. Sie haben Gott sei Dank Ihre Skepsis inzwischen aufgegeben. Wir konnten im Juli einen ersten Schritt machen und machen nun den zweiten Schritt: Wir erhöhen den Verlustrücktrag auf 10 Millionen Euro bzw. auf 20 Millionen Euro bei Zusammenveranlagung. Es ist eben falsch, Herr Glaser, wenn Sie sagen: Es ist nur der Verlust von 2021 auf 2020. – Wenn Sie das Gesetz lesen würden, würden Sie feststellen: Es ist auch der Verlustrücktrag von 2020 auf 2019. Also, es sind faktisch zwei Jahre. Deswegen glaube ich, man sollte sich schon auch mit der Sachlage beschäftigen, wenn man Kritik übt. ({3}) Ein weiterer wichtiger Punkt – ich habe mich dafür schon weit vor der Pandemie eingesetzt – ist die Vereinheitlichung der Steuersätze in der Gastronomie für Außer-Haus-Verkauf und Verkauf im Restaurant. Sie kennen ja die Frage im Restaurant: „Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?“ Das ist eine Umsatzsteuerfrage, nämlich ob der Steuersatz von 7 Prozent oder 19 Prozent angewandt wird.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brehm, –

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zum Ende.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

– erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glaser?

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Zwischenfrage erlaube ich gerne, ja.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank, lieber Herr Brehm; ich freue mich sehr. – Ich mache es auch ganz kurz: Ich will nur, dass etwas richtiggestellt ist. Ich habe nicht gesagt, dass das nur für 2021 gilt. Mir ist natürlich bewusst, dass es auch für 2022 gilt. Ich habe nur anhand einer ganz kleinen Rechenoperation für ein breites Publikum darstellen wollen, wie der Verlustrücktrag als Institut funktioniert. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen und mir zuzugestehen, dass das keineswegs eine Falschdarstellung gewesen ist. Könnten Sie dieser Sichtweise folgen? ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie haben jetzt ausreichend Antwortzeit. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre Rede hat gezeigt, dass Sie das Narrativ verstanden haben, dass wir eine dringende Modernisierung der Unternehmensbesteuerung brauchen; das ist schon mal wichtig. Aber in Ihren Ausführungen – so habe ich es diesen zumindest entnommen; ich weiß nicht, wie es den Kolleginnen und Kollegen geht – haben Sie gesagt, dass eben nur ein Jahr möglich ist und keine zwei Jahre. Aber wenn wir uns einig sind, dass zwei Jahre richtig sind, dann ist das auch in Ordnung. Ich kann bloß noch mal betonen: Ein Verlustrücktrag ist für das Jahr 2021 auf 2020 und für das Jahr 2020 auf 2019 möglich, also faktisch zwei Jahre, und das ist gut und richtig so. In der Praxis – das will ich noch ausführen – hat es bei den Gastronomen angesichts der unterschiedlichen Steuersätze von 7 und 19 Prozent immer erhebliche Abgrenzungsprobleme in den Betriebsprüfungen gegeben, was zu Belastungen geführt hat. Deswegen ist es nicht nur richtig, dass wir den Gastronomen helfen wollen, aus der Pandemie herauszukommen, sondern es ist auch richtig und notwendig, zusätzlich die Probleme, die es in der Vergangenheit gab, zu lösen und Bürokratie abzuschaffen. Deswegen ist die Verlängerung sinnvoll. Wenn wir es irgendwann dauerhaft hinbekommen, wäre ich durchaus dafür zu haben. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf im weiteren Verlauf. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Kollegen haben schon darauf hingewiesen: Das ist mittlerweile das Dritte Corona-Steuerhilfegesetz. Es ist auch darauf hingewiesen worden, dass dies natürlich nur ein Mosaiksteinchen ist in dem gesamten Hilfspaket, das wir als Koalition geschnürt haben für die deutsche Wirtschaft, die unter der Coronapandemie im erheblichen Umfang leidet. Aber es ist ein wichtiger Mosaikstein, und ich bin froh, dass wir ihn kontinuierlich weiterentwickeln und nicht nach dem ersten oder zweiten Gesetz aufgehört haben, sondern jetzt das dritte Gesetz auf den Weg bringen. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn es denn notwendig ist – was ich nicht hoffe –, werden wir auch die Kraft haben, ein viertes Paket zu machen. Ich bin auch froh, dass wir das fast schon leidige Thema des Verlustrücktrages aufgreifen konnten. Man kann ja in Richtung des Herrn Bundesfinanzministers Scholz sagen: Er bewegt sich doch. – Denn ich erinnere mich an viele Debatten hier, wo wir das schon eingefordert haben und es eigentlich nur Olaf Scholz war, der eine Modernisierung, eine Verbesserung beim Verlustrücktrag abgelehnt hat. Dies jetzt anzugehen, ist ein guter Schritt. Wir kommen zu einer Verdoppelung der Beträge von 5 auf 10 Millionen Euro bzw. bei Zusammenveranlagung von 10 auf 20 Millionen Euro. Aber ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Das ist ein wenig zögerlich in meinen Augen. Da geht noch mehr. ({0}) Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie haben ja genauso wie andere Kollegen die hervorragende Wirkung des Verlustrücktrages dargestellt. Wenn wir uns darin einig sind, dass das der richtige Weg ist, dann sollten wir darüber nachdenken, wie Liquidität in die Unternehmen kommt, wie latente Steueransprüche, die sowieso bestehen – ich setze voraus, dass die Unternehmen fortbestehen –, schon vorher den Unternehmen zugutekommen. Und wir sollten darüber nachdenken, ob die Begrenzung des Verlustrücktrages in dieser Höhe tatsächlich berechtigt ist, meine Damen und Herren. ({1}) In der Debatte haben wir ja nicht nur über die Höhe, sondern auch über den Zeitraum des Rücktrages gesprochen; Herr Kollege Dr. Bayaz hat es ja angesprochen. Daran, dass es die vier Jahre, die die Grünen wollen, sein müssen, habe ich meine Zweifel. Da gilt es auch Gestaltungsmodelle und Progressionsunterschiede auszunutzen; das will ich nicht weiter ausführen. Aber der Tatbestand, den er auch angesprochen hat, ist wahr – das ist doch Fakt –, nämlich dass der Verlustrücktrag von 2021 nach 2020 wahrscheinlich in kaum einem der Fälle greifen wird. Von daher ist das in vielen Fällen ein Nullum. Darum sollten wir überlegen, ob wir nicht wenigstens zeitlich begrenzt diesen Verlust von 2021 auch nach 2019 zurücktragen können. ({2}) Denn damit würden wir wirklich helfen. Letztlich hätte ich noch die Bitte, dass wir als Gesetzgeber den Mumm aufbringen, neben der Verbesserung beim Verlustrücktrag darüber nachzudenken, dass vielleicht auch noch andere Dinge aufgegriffen werden, die ich hier bereits mehrfach angesprochen habe. Es geht um die Lohnsummenregelung in der Erbschaftsteuer. ({3}) Es geht um die Verschonung von Vermögen, das übertragen wurde in der Erwartung, dass das Unternehmen unverändert fortgeführt wird. Dort gibt es Veränderungen, die nicht der Unternehmer zu verantworten hat, sondern die exogen getrieben sind. Von daher brauchen wir hier Sicherheit für die Unternehmen, von daher brauchen wir eine gesetzliche Regelung, wie wir sie übrigens auch für die Abschreibung der digitalen Wirtschaftsgüter brauchen; denn eine Sonderabschreibung per BMF-Schreiben ist mir im deutschen Steuerrecht nicht bekannt. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Güntzler. – Damit schließe ich die Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschen, die ohnehin schon wenig Geld haben, stehen in der akuten Coronasituation vor zusätzlichen finanziellen Belastungen. Je länger die Pandemie andauert, desto höher werden diese Belastungen gerade für bedürftige Menschen. Wenn etwa zusätzliche Kosten anfallen, sei es jetzt zum Beispiel akut für Kinderspielzeug, Homeschooling, Desinfektionsmittel, Masken oder Coronaschnelltests, wenn nicht nur Schulen und Kitas, sondern auch viele soziale Einrichtungen wie Büchereien, Schwimmbäder und Jugendtreffs geschlossen sind, dann geht das für viele Menschen, die es ohnehin schon nicht leicht haben, mental und finanziell an die Substanz. Diese Menschen, meine Damen und Herren, brauchen unsere Solidarität. Es ist und muss unser Ziel sein, dass wir auch in dieser akuten Gesundheits- und Wirtschaftskrise die gesamte Gesellschaft zusammenhalten. ({0}) Mir als Bundesarbeits- und ‑sozialminister geht es um konkrete Hilfen, die ankommen. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt zusätzlich zur ohnehin notwendigen Anpassung der Regelsätze zum 1. Januar in Höhe von insgesamt 1,4 Milliarden Euro zusätzliche Mittel kurzfristig zur Verfügung stellen. Erstens. Angesichts der auf der vorletzten Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidentenkonferenz in vielerlei Hinsicht verschärften Auflagen müssen wir den Menschen in der Grundsicherung entsprechende medizinische Masken zur Verfügung stellen. Das ist auf dem Weg. Gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsminister sorgen wir dafür, dass Menschen in der Grundsicherung die notwendigen Masken bekommen. ({1}) Zweitens müssen wir angesichts von verlängertem Homeschooling dafür sorgen, dass Kinder in der Grundsicherung, die es ohnehin schon nicht leicht haben, nicht dadurch ausgeschlossen sind, dass sie keine digitalen Endgeräte wie zum Beispiel Laptops, Drucker oder Tablets haben. Da hat die Bundesregierung bereits im letzten Jahr gehandelt und 500 Millionen Euro aus dem DigitalPakt zur Verfügung gestellt. Wir müssen nur feststellen, dass das in vielen Ländern und Kommunen nicht entsprechend umgesetzt wurde. Deshalb habe ich auf Basis einer neuen rechtlichen Möglichkeit, die wir seit 1. Januar im SGB III geschaffen haben, die Jobcenter angewiesen, die Kosten für Endgeräte für Kinder, die trotz der Mittel aus dem Schuldigitalpakt keine Leihgeräte oder eigenen Endgeräte zur Verfügung haben, jetzt schnell und unbürokratisch zu übernehmen. ({2}) Drittens geht es aber auch um direkten finanziellen Druck. Mit dem heutigen Sozialschutz-Paket bringen wir zusätzliche Maßnahmen kurzfristig auf den Weg. Dazu gehört ein Zuschlag auf die Grundsicherung, und zwar auf die verschiedenen Grundsicherungssysteme für Erwachsene, von jeweils zusätzlich 150 Euro. Wir werden auch den Kinderbonus einführen, der nicht auf die Grundsicherungssysteme angerechnet wird; das sind auch noch einmal 150 Euro. Ein Beispiel: Für ein Ehepaar mit zwei Kindern sind das 150 Euro für den Mann und 150 Euro für die Frau, wenn beide in der Grundsicherung sind, sowie 150 Euro für jedes Kind. Nun gibt es viele aus der Opposition, die sagen: Das reicht nicht. – Ich verstehe diese Debatte; aber tun Sie bitte nicht so, als wäre das nichts. ({3}) Das hilft den Menschen sehr konkret in einer schwierigen Lebensphase. Herr Präsident, meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf bringen wir noch eine Fülle von anderen Regelungen auf den Weg. Zum Beispiel werden wir den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung bis zum Ende des Jahres verlängern, damit Menschen, die jetzt auf Grundsicherung angewiesen sind – ob sie Selbstständige sind, ob sie Kurzarbeiter sind, die ergänzende Grundsicherung brauchen, weil der Lohn zu niedrig war, ob sie langzeitarbeitslose Menschen sind oder Menschen, die jetzt in Langzeitarbeitslosigkeit kommen –, sich in ihrer Not nicht gleichzeitig noch Sorgen zum Beispiel um ihre Wohnung machen müssen – ein ganz wichtiger Schritt, den wir damit machen. ({4}) Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, dass wir zügig dieses Gesetz im Deutschen Bundestag beraten und verabschieden, damit wir die weiteren Hilfen anweisen können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Heil. – Nächster Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Heil! Durch ihre Lockdown-Politik hat die Bundesregierung dieses Land in eine soziale und wirtschaftliche Krise gestürzt, die ihresgleichen sucht; sie ist sehr, sehr schwer. Und was ich ziemlich unredlich finde, Herr Minister, ist, dass Sie jetzt mit Geld winken und sagen: Guckt mal, wir haben da eine Prämie für euch, wir haben einen Bonus, wir sind so sozial. – Meine Damen und Herren, das ist doch ungefähr so, als wenn Sie bei dem Wetter mit überhöhter Geschwindigkeit über die Bundesstraße brettern, das Auto in die Leitplanke setzen, aber dann nicht Ihre Mitpassagiere befreien, sondern heißen Tee ausschenken und sagen: Ach, bleibt doch bitte sitzen, draußen ist es so gefährlich. ({0}) Meine Damen und Herren, machen Sie die Wirtschaft wieder auf. Dann brauchen wir uns über diese Almosen, die Sie hier verteilen wollen und mit denen Sie sich im Wahlkampf schmücken wollen, nicht weiter zu unterhalten. ({1}) Wenn wir im Ausschuss und in den Anhörungen ernsthaft diskutieren, was Sie heute vorschlagen, dann wirklich nicht, weil wir Ihre Politik gut finden, sondern weil es darum geht, wie man jetzt in diesem Falschen, was Sie als Rahmen gesetzt haben, das Richtige tun kann. ({2}) Sie schlagen jetzt zwei große Dinge vor: Auf der einen Seite kommen Sie jetzt plötzlich auf die Idee, einen großen Mangel Ihrer eigenen Agenda 2010 zu beheben, ({3}) indem Sie dafür sorgen, dass Menschen, die ihre Arbeit verlieren, dass Selbstständige, die zum Beispiel ihre Geschäftsgrundlage verlieren, nicht mehr den totalen sozialen Absturz erleben, indem sie ihr komplettes Vermögen aufgeben müssen, indem die Angemessenheit ihrer Wohnung überprüft wird. Diese Überprüfung ist für einen gewissen Zeitraum ausgesetzt, und diese Aussetzung möchten Sie verlängern. ({4}) Das ist sicherlich sinnvoll. Die ganz große Frage ist, warum Sie das bis zum 31. Dezember 2021 planen. Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht planen, die Wirtschaft bis zum 31. Dezember 2021 komplett geschlossen zu halten, damit Menschen reihenweise in die Armut purzeln, in den Sozialsystemen ankommen. ({5}) Das wäre wirklich unredlich, und es wäre falsch. ({6}) Deswegen ist die große Frage: Warum überlassen Sie nicht dem Deutschen Bundestag, vielleicht auch dem Bundestag der nächsten Wahlperiode, eine Entscheidung, wie dieses System weiter gestaltet werden soll? – Der zweite große Punkt ist Ihr Bonusversprechen von 150 Euro. Übrigens: Ihr komplettes Gesetzespaket kostet ja mal eben schlappe 1,4 Milliarden Euro. Das ist nicht nichts; Herr Heil, da stimme ich Ihnen durchaus zu. Das ist ungefähr das Volumen, das der Bund im Jahr für BAföG ausgibt, und es ist das doppelte Haushaltsvolumen der Stadt Potsdam. Wenn ich „BAföG“ sage, dann sind wir übrigens bei einem Punkt, den Sie völlig vergessen: Für die Studenten haben Sie nichts geplant; von BAföG-Sonderzahlungen höre ich nichts. Wir haben vorhin über den Kinderbonus diskutiert – im Zusammenhang mit dem Corona-Steuerhilfegesetz –, jetzt diskutieren wir über 150 Euro extra in den Sozialversicherungssystemen. Sie versuchen, sich hier als guter Retter darzustellen, aber Sie berücksichtigen eben nicht alle. Und genau das ist das Grundproblem sozialistischer Politik. ({7}) Die Regierung schafft es gar nicht, den kompletten Überblick zu behalten, sondern es gibt immer jemanden, der durch die Maschen fällt. Und ich bitte Sie einfach – hier wäre mal die Gelegenheit für ein Mantelgesetz gewesen –: Berücksichtigen Sie doch bitte mal alle Betroffenen, und führen Sie dann eine ordentliche Politik vor. ({8}) Meine Damen und Herren, 150 Euro sind ein plakativer Betrag – andere würden „Populismus“ sagen, nicht wahr? Wir sind uns alle einig, dass der Bedarf bei den sozial Schwachen sicherlich steigt. Deswegen sind wir bei Ihnen, wenn Sie sagen: Die Beträge müssen erhöht werden. ({9}) Aber warum stellen wir die Bedarfe nicht ordentlich fest, warum stellen wir sie nicht empirisch fest? So, wie Sie es machen, mit 150 Euro pauschal für alle, die in den Sozialversicherungssystemen sind – und dann spielen Sie sich als Retter auf –, schaffen Sie neue Ungleichheiten ({10}) zwischen dem Rentner mit einer kleinen Rente und demjenigen, der in der Grundsicherung ist und von der Einmalzahlung profitiert, zwischen dem einen und dem anderen. Sie spielen die ganze Zeit den einen Bevölkerungsteil gegen den anderen aus, und das sollte nicht passieren. Wir werden uns Ihren Vorschlägen widmen. Aber, wie gesagt: Es geht hier darum, im Falschen das Richtige zu tun. Haben Sie herzlichen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. – Als nächsten Redner rufe ich auf den Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Virus zwingt uns im Interesse der Gesundheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch im Interesse dessen, dass unser Land, seine Wirtschaft und auch seine Sozialsysteme weiter funktionieren können, leider weiter zu drastischen Maßnahmen, die für viele Menschen eine ganz besonders große Härte bedeuten. Aber die wichtige Botschaft ist: Wir lassen die Menschen in dieser Situation nicht allein, sondern helfen und unterstützen mit einem starken, handlungsfähigen und vor allen Dingen – darauf kommt es nämlich an – handlungswilligen Sozialstaat. Genau das ist der Inhalt des Sozialschutz-Pakets III, und deswegen ist es richtig, dass wir es heute in den Bundestag einbringen. ({0}) Und wer, wie der verehrte Vorredner, offensichtlich zwischen „sozial“ und „Sozialismus“ nicht unterscheiden kann, der ist natürlich auch nicht in der Lage, eine vernünftige Sozialstaatspolitik zu machen. Das ist eben der Unterschied zur Koalition, die das kann. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor allem mit Blick auf die Selbstständigen, die es besonders schwer haben, wenn sie ihrer gewohnten Tätigkeit nur eingeschränkt oder gar nicht nachgehen können, verlängern wir zu Recht noch einmal den vereinfachten Zugang zum Arbeitslosengeld II, bei dem wir die Überprüfung der Wohnungssituation außer Acht lassen, bei dem wir großzügige Vermögensgrenzen vorsehen. Das ist richtig und notwendig. ({2}) Für Kinder, die nicht an der Gemeinschaftsverpflegung in einer Schule oder Kita teilnehmen können, verlängern wir die Sonderregelung, dass auch auf andere Art und Weise der Zuschuss aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu ihnen kommen kann. Mit dem Coronazuschuss in Höhe von einmalig 150 Euro schützen wir zusätzlich Familien. Der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen: Wir haben bereits in Gang gesetzt, dass es für Menschen in der Grundsicherung Masken gibt, und der Minister hat im Hinblick auf die Ausstattung mit digitalen Endgeräten eine klare Anweisung an die Jobcenter gegeben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen explizit nicht – und deswegen helfen wir auch entsprechend –, dass es in dieser Krise, in der Digitalunterricht notwendig ist, weil Präsenzunterricht nicht möglich ist, dazu kommt, dass Kinder aus ärmeren Haushalten benachteiligt werden. Nein, genau das Gegenteil wollen wir erreichen. ({3}) Damit soziale Dienstleister und Einrichtungen – also das, was die soziale Infrastruktur unseres Landes ausmacht – in der Pandemie nicht in die Knie gehen, haben wir ein völlig neues Gesetz mit dem schönen Kürzel SodEG geschaffen: das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir jetzt mal auf die vergangenen Monate zurückblicken, hat es in vielen Fällen geholfen, dass Dienste und Einrichtungen, die zum Teil schließen mussten, ihre Tätigkeit einschränken mussten, am Leben erhalten wurden. Das betrifft vor allen Dingen Menschen mit Behinderungen, deren Werkstätten nur eingeschränkt offengehalten werden konnten. Das betrifft Vorsorge- und Rehaeinrichtungen, deren Belegungszahlen eingebrochen sind. Das betrifft Anbieter von Leistungen der Arbeitsförderung oder von Sprachkursen, die keine Maßnahmen mehr durchführen konnten und, und, und. Ich will das nicht alles aufzählen, aber es ist eine beachtliche Reihe. Deswegen ist es eine wichtige Botschaft, dass wir die Dauer der Geltung des neuen Gesetzes verlängern und das klare Bekenntnis abgeben: Wir wollen, dass die Dienste, die im Sozialbereich und im Gesundheitsbereich für uns alle da sind, in dieser Krise bestehen bleiben und anschließend mit hoffentlich umso größerer Kraft ihre Tätigkeit weiterbetreiben können. Das Sozialschutz-Paket III ist auch ein klares Bekenntnis zu einer guten und leistungsfähigen sozialen Infrastruktur in unserem Land. ({4}) – Wissen Sie, wenn man in dieser Krise überhaupt keine Empathie hat, wenn man offensichtlich nicht versteht, was den Sozialstaat dieses Landes ausmacht, dann macht man so dumme Zwischenrufe wie den Ihrigen. ({5}) Noch ein kleiner Hinweis: Besonders schwer hat es gerade diejenigen getroffen, die normalerweise erfolgreich als freie Künstler ihren Lohn verdienen. In dieser Krise haben sie leider kaum bis gar keine Engagements. Es ist wichtig, dass wir zusätzlich eine Regelung treffen, dass die Künstlerinnen und Künstler, auch wenn das Einkommen jetzt wegfällt, leistungsberechtigte Mitglieder der Künstlersozialkasse bleiben. Unser klares Bekenntnis: Wir stehen zu den Künstlerinnen und Künstlern in unserem Land. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Kollege Weiß, Ihre Kommentare bezüglich meiner Fraktion und meiner Person habe ich zur Kenntnis genommen. Darf ich darum bitten, dass Sie meinen Ausführungen zukünftig vielleicht etwas konzentrierter folgen? Sie hatten angemerkt, dass wir angeblich keine sozialen Vorschläge machen oder keine Empathie für die Betroffenen hätten, dabei hatte ich in meiner Rede eindeutig ausgeführt, dass die Bedarfe durch Ihre Regierungspolitik gestiegen sind. Selbstverständlich steigen die Preise beispielsweise überall im Handel, weil Sie gedrucktes Geld in den Markt pumpen und wir damit mittelfristig eine Inflation haben werden. Selbstverständlich steigen die Ausgaben gerade für die sozial schwachen Menschen, weil sie in Hygienemaßnahmen usw. zusätzliche Mittel investieren müssen. ({0}) Ich habe in meiner Rede angemerkt, dass wir vielleicht nicht auf einen plakativen Betrag wie 150 Euro setzen sollten, sondern dass wir darauf setzen sollten, ehrlich den Bedarf neu zu ermitteln, damit wir feststellen: Das ist der neue Bedarf, und der wird dann auch als Bedarf ausgezahlt. Was halten Sie denn von diesem Vorschlag? Wer hat Sie eigentlich auf die Idee mit diesen plakativen 150 Euro gebracht? Wollen Sie hier im Bundestag Wahlkampf machen? ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege, schon wie Sie Ihre Wortmeldung begonnen haben, zeigt, dass es Ihnen und Ihrer Fraktion am Grundverständnis für die derzeitige Situation fehlt. Diese Krise ist nicht durch die Politik, sie ist durch das Virus ausgelöst worden, und darauf antworten wir mit der Politik. ({0}) Wer schon in der Analyse falschliegt, liegt auch bei den Maßnahmen falsch; das ist eine klare Konsequenz. ({1}) Zu Ihrer Frage nach dem Regelsatz im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Wir haben in Deutschland ein vom Verfassungsgericht anerkanntes System, das sich bewährt hat, nämlich dass wir in regelmäßigen Abständen durch eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe den Bedarf einer einkommensschwachen Familie genau erheben, den wir in der finanziellen Leistung des Arbeitslosengeldes II abbilden. Genau dieser Prozess hat im vergangenen Jahr stattgefunden, und zum 1. Januar, also vor etwas mehr als einem Monat, sind die neuen Regelsätze in Kraft getreten. Von daher muss ich Ihnen sagen: Wir haben das Coronajahr 2020 bereits bei der Abbildung dieser Regelsätze beachtet. Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass wir diese neuen Regelsätze im Deutschen Bundestag in einem Gesetz miteinander beschlossen haben. ({2}) Ich will noch hinzufügen: Das Gesetz sieht auch vor, dass man einmalige Mehrbedarfe mitberücksichtigen kann und darf. Wir bewegen uns also mit den 150 Euro voll und ganz in der Systematik des Sozialgesetzbuches II. Wir brauchen das Gesetz nicht auseinanderzunehmen. Es ist ein gutes Gesetz, und es wirkt. Es gibt uns auch die Instrumente in die Hand, um in Sondersituationen angemessen reagieren zu können. ({3}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Sozialschutz-Paket III ist eine klare Botschaft, ein klares Angebot: Wir stehen an der Seite der Menschen, die es in dieser Krise besonders hart getroffen hat. Wir helfen mit einem handlungsfähigen, aber vor allen Dingen mit einem handlungswilligen Sozialstaat. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister, Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem Sie eine Einmalzahlung für erwachsene Grundsicherungsempfänger in Höhe von 150 Euro vorsehen. Was Sie hier aber nicht explizit gesagt haben, ist, dass Sie diese Einmalzahlung erst im Mai auszahlen werden. Was ist das für eine traurige Farce! Die Menschen brauchen finanzielle Unterstützung, um sich jetzt, in der Hochphase der Pandemie, schützen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt ist die Zeit, den Menschen unter die Arme zu greifen, und nicht erst im Mai. ({0}) Wir haben unter diesen Grundsicherungsempfängern vulnerable Personen. Wir haben Menschen in der Grundsicherung im Alter, die die Möglichkeit haben müssen, im nächstgelegenen Supermarkt statt im günstigsten einzukaufen. ({1}) Wir haben in der Grundsicherung Menschen mit Behinderungen, mit Vorerkrankungen, die zu den vulnerablen Gruppen gehören. Die brauchen jetzt die finanzielle Unterstützung und nicht erst im Mai. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf unzureichend, und deshalb werden wir ihn in dieser Form ablehnen. ({2}) Lieber Herr Bundesminister, ich habe Sie schon im März in einem Schreiben darauf hingewiesen, dass die Lebensmittelpreise ansteigen. Ich habe Sie schon im März darauf hingewiesen, dass es mit Sicherheit zu einer Unterdeckung bei der Grundsicherung gekommen sein dürfte. Sie haben nicht reagiert. Jetzt kommen Sie nach einem Jahr Pandemie und legen den Menschen einen Vorschlag vor, dessen Umsetzung sie erst im Mai erreichen soll. Lieber Herr Heil, das ist in keiner Weise soziale Verantwortung. Das ist eine Ablehnung sozialer Verantwortung, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen dürfen. ({3}) Zu den sozialen Trägern, die Peter Weiß angesprochen hat, möchte ich sagen: In der Tat brauchen wir unsere soziale Infrastruktur in diesem Land. Aber die soziale Infrastruktur in unserem Land braucht auch eine Perspektive, und zwar eine Perspektive, die über wenige Monate hinausgeht. Deshalb ist es unzureichend, im Gesetz die Unterstützung des SodEG nur bis zum Juni festzuschreiben. Wir hätten hier eine langfristige Perspektive gebraucht, weil wir die soziale Infrastruktur dauerhaft brauchen. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den sozialen Einrichtungen brauchen diese langfristige Perspektive.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kober, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heil? – Er erlaubt die Zwischenfrage. Herr Kollege.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Kober, ganz herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie wissen, dass ich Sie menschlich und fachlich sehr schätze. Aber ich bitte, im Rahmen dieser Zwischenbemerkung eines zur Kenntnis zu nehmen: Ich lasse nicht zu, dass Sie hier unredlich über den Parlamentarismus reden. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, Geld über eine Handkasse auszuzahlen, sondern sie braucht eine gesetzgeberische Grundlage; deshalb bringen wir dieses Gesetz ein. Ich habe das vor 14 Tagen angekündigt, wir haben es im Koalitionsausschuss in der letzten Woche beschlossen, und heute ist der Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag. Und wenn Sie hier skandalisieren, dass das im Mai ausgezahlt würde, kann ich Ihnen sagen: Dann stimmen Sie besser schnell zu. Dann sorgen Sie dafür, dass wir den Gesetzentwurf schnell umsetzen können. ({0}) Sie unterschlagen, dass es für die schnellen Hilfen nicht nur ein Gesetz braucht, sondern auch eine gute Administration, die wir mit den Jobcentern und der Bundesagentur haben. Sie sehen das bei den Wirtschaftshilfen: Der Kollege Altmaier hat keine Bundesverwaltung in der Fläche, deshalb dauert das lange, manchmal auch sehr lange. Wir haben eine gute Bundesagentur, wir haben gute Jobcenter. Wenn es nach mir ginge, ginge das auch alles viel, viel schneller. Aber die Menschen hier hinter die Fichte zu führen, indem Sie so tun, als brauchte es kein Gesetz dafür, das finde ich mehr als unredlich. Sie wissen es besser. Deshalb kann ich nur sagen: Das, was Sie hier machen, ist Populismus und nichts anderes, Herr Kober. ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Bundesminister, auch ich schätze Sie menschlich, ohne Zweifel; wir wissen das voneinander. Aber hier komme ich zu einer fachlich-sachlich anderen Einschätzung, und über diese Einschätzung habe ich Sie im März vergangenen Jahres nicht im Unklaren gelassen. Ich glaube, dass die Mehrbedarfsregelungen wie in §§ 21 ff. SGB II es einfach gemacht hätten, tatsächlich den Menschen schnelle Hilfen zukommen zu lassen. Und selbst wenn es im Ergebnis zu einem Gesetz hätte kommen müssen oder sollen, dann hätten Sie in den vergangenen jetzt fast zwölf Monaten natürlich Zeit gehabt, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen. Jetzt, im Februar, reagieren Sie – Sie haben zu Recht gesagt, vor zwei Wochen hätten Sie das vorgelegt –, planen aber die Auszahlungen erst im Mai. Diesen langen Zeitraum können Sie keinem erklären. Ich sage, lieber Herr Bundesminister Heil, lieber Hubertus, das hätte schneller gehen können; vor allen Dingen hätte es schneller gehen müssen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben, wie ich gerade ausgeführt habe, nicht die Zeit, die Hilfen in die Zukunft zu schieben, sondern es ist Zeit, dass wir jetzt reagieren. Deshalb, Herr Bundesminister: Fassen Sie sich ein Herz! Prüfen Sie den Vorschlag, es über eine Mehrbedarfsregelung auszubezahlen! Ich bin zuversichtlich, dass das tatsächlich in der Sache möglich wäre. ({1}) Das Zweite, was wichtig ist und auch noch einmal angesprochen werden muss, ist, dass Sie Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende, Soloselbstständige nach wie vor auf die Grundsicherung verweisen, obwohl hier eigentlich ein eigenes System angemessen gewesen wäre. Hier wäre ein Vorschlag aus Ihrem Hause hilfreich. Auch da haben Sie bisher nicht geliefert. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute hier über eine einmalige Zahlung in Höhe von 150 Euro an die Ärmsten im Land, und die AfD schreit auf, das wäre schon Sozialismus. Als Vorsitzende einer demokratisch-sozialistischen Partei ({0}) kann ich nur sagen: Das, was Hubertus Heil hier geliefert hat, ist jetzt wahrlich nicht sozialistisch, es ist noch nicht einmal konsequent sozial. ({1}) Denn beim Schutz der Ärmsten handelt diese Regierung zu spät und halbherzig. ({2}) Seit der ersten Woche Coronakrise haben wir darauf hingewiesen, dass diese Krise natürlich bei den Ärmsten Mehrausgaben verursacht, nicht nur für Masken und Desinfektionsmittel. Mit dem Lockdown fielen Nothilfen weg, günstige Einkaufsmöglichkeiten fielen weg. Wenn die Kitas und Schulen geschlossen sind, fällt das gestützte, kostenlose Mittagessen weg. Wenn die Kinder den ganzen Tag zu Hause sind, fallen natürlich Mehrkosten an für Strom, Kommunikation, Druckerpatronen, Bastelmaterialien und, und, und. Vielleicht werden jetzt einige von Ihnen sagen: Das ist ja ganz schön kleinkariert, was die aufzählt mit Bastelmaterialien und Strom usw. – Aber für Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen, ist das eben ein Problem. Deswegen sage ich ganz klar: Abgeordnete und Regierende, die müssen nicht jeden Euro dreimal umdrehen; aber sie müssen immer die Wirklichkeit und die Sorgen der Menschen im Blick haben, die das tun müssen. ({3}) Zusammen mit einem breiten Bündnis von 41 Sozialverbänden und Gewerkschaften fordern wir deshalb einen Coronazuschlag auf Sozialleistungen und auf Sozialrenten. Über welche Menschen reden wir hier? Um das noch einmal zu verdeutlichen: Wir reden über Geringverdienende wie zum Beispiel Alleinerziehende, die aufstockende Hartz-IV-Leistungen beantragen müssen, über arme Rentnerinnen und Rentner, über Asylbewerber, über Menschen, die in Werkstätten für Behinderte arbeiten, Langzeiterwerbslose, Pflegebedürftige, Erwerbsgeminderte und, und, und. Elf Monate lang hat die Regierung dieses Thema ignoriert, und das bedeutete für diese Menschen elf Monate zusätzliche Existenznöte. Das hätten wir ihnen ersparen können, wenn die CDU eher bereit gewesen wäre, etwas für die Ärmsten zu tun. ({4}) Und Sie handeln halbherzig, weil es nur eine einmalige Zahlung ist. Die Kosten fallen aber jeden Monat an. Deswegen fordern wir als Linke in aller Deutlichkeit mindestens 100 Euro Coronazuschlag für jeden Coronamonat, und das auch rückwirkend. ({5}) Ich möchte abschließend noch etwas Grundsätzliches sagen, weil die Coronakrise ja schon auch offenlegt, wo noch Schwachstellen sind, wo unser bisheriges Sozialsystem nicht funktioniert. Für prekär Beschäftigte, Minijobbende, Freischaffende, Honorarkräfte, Kunstschaffende, für all die gibt es keinen garantierten sozialen Schutz. Deswegen lautet die richtige Konsequenz aus der Coronakrise: Es ist Zeit für eine sanktionsfreie Mindestsicherung, damit im Notfall niemand unter 1 200 Euro im Monat fällt. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping. – Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat haben in dieser Woche 41 Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Kinderschutz- und Familienverbände, der Dachverband der Tafeln und viele, viele mehr in einem eindringlichen Appell erneut deutlich gemacht, dass wir einen Aufschlag auf die Grundsicherung brauchen – um erneut deutlich zu machen, dass die Ärmsten in dieser Krise nicht noch ärmer werden dürfen –, und zwar in Höhe von 100 Euro jeden Monat mehr für Erwachsene und von 60 Euro für Kinder. Wir Grüne schließen uns dieser Forderung an. Wir haben das mehrfach hier beantragt, und wir werden es immer wieder beantragen, bis es dieser Bundestag endlich beschließt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Was machen jetzt CDU/CSU und SPD in diesem Gesetzentwurf? Statt auf die Fachwelt zu hören, sehen sie eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro vor. Wir haben seit einem Jahr diese Krise. Wir haben es in dieser Zeit geschafft – auch mit großen Mehrheiten –, milliardenschwere Hilfspakete hier auf den Weg zu bringen. Das war richtig. Aber die Ärmsten sind quasi leer ausgegangen. Und jetzt gibt es – nach einem Jahr – eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro für erwachsene Menschen, die Grundsicherung beziehen. Ich hätte, ehrlich gesagt, erwartet, dass Sie das hier totschweigen, weil es so peinlich ist. Aber stattdessen rühmen Sie sich noch dafür. Das ist nicht mehr als ein wahltaktisches Almosen. Wir brauchen echte Hilfe für die Menschen in der Grundsicherung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Jetzt sagt Minister Heil, wir sollten nicht so tun, als wäre das nichts. Eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro für 13 Monate, das sind etwa 11,50 Euro pro Monat bzw. 38 Cent pro Tag. Der Regelsatz ist ohnehin schon viel zu niedrig, und jetzt kommen lächerliche 38 Cent pro Tag dazu – bei steigenden Preisen für Obst, für Gemüse, für frische Lebensmittel, für Energie, für Desinfektionsmittel und, und, und. Das ist keine Hilfe. Das ist eine Nullrunde für die Armen; das müssen Sie sich hier vorwerfen lassen, Herr Minister! ({2}) Jetzt wird damit begonnen, die kostenlose Abgabe von zehn FFP2-Masken für Menschen in der Grundsicherung zu organisieren. Das ist gut, aber es ist ja wohl auch das Mindeste, wenn das Tragen dieser Masken zur Pflicht gemacht wird. ({3}) Und jetzt stellt sich heraus, dass das seitens der Bundesregierung zum Beispiel für Geflüchtete gar nicht vorgesehen ist; hier verweist die Bundesregierung an die Länder und Kommunen. Ich habe es diese Woche noch schriftlich bekommen. Beim Infektionsschutz besteht also nicht nur ein Flickenteppich, sondern auch ein Klassensystem. Infektionsschutz darf aber weder vom Geldbeutel noch vom Aufenthaltsstatus abhängen, er muss für alle Menschen gelten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Ich komme zum Schluss: Die Coronakrise ist groß, ja. Deswegen müssen die Reaktionen auch sozialpolitisch groß sein. Dieses Sozialschutz-Paket III ist es leider nicht. Ja, Sie verlängern einige Regelungen beim Zugang zur Grundsicherung, Sie verlängern die Sicherstellung der sozialen Dienste bis Ende Juni. Da frage ich mich, ehrlich gesagt: Warum nur bis Ende Juni? Die Krise wird wohl kaum bis Ende Juni vorbei sein. Gerade die Träger der sozialen Dienste brauchen längerfristige Sicherheit. ({5}) Das heißt, es braucht an diesem Gesetzentwurf noch deutliche Verbesserungen. Dazu sind wir bereit und werden das auch in den Ausschussanhörungen durch entsprechende Anträge deutlich machen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dagmar Schmidt von der SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Sven Lehmann, man muss schon ein Abgeordnetengehalt haben, um 150 Euro nicht viel Geld zu finden. Ich finde das ziemlich zynisch, das hier so zu sagen. ({0}) Es gibt ganz viele Menschen, für die sind 150 Euro viel Geld. Für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern, die auf Grundsicherung angewiesen ist, sind 600 Euro zusätzlich viel Geld. Ich finde es zynisch, etwas anderes zu behaupten. Immer mehr zu fordern, das geht, aber zu sagen, das wäre nichts, das ist nicht in Ordnung. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, die Pandemie belastet uns alle. Es macht aber eben einen Unterschied, ob das Gehalt in der Pandemie weitergezahlt wird oder ob das eigene Geschäft gerade keinen Umsatz macht. Es macht einen Unterschied, ob man sozial abgesichert ist oder ob man gerade mit wenig oder sehr wenig Geld auskommen muss. Es macht einen Unterschied, ob man in dieser Situation einen Job suchen muss, ob man Kinder hat oder Eltern pflegt, ob Betreuung wegfällt und man Homeschooling organisieren muss. Und deswegen ist es richtig und wichtig, immer wieder zu gucken und die Unterstützung während der Pandemie auch immer wieder anzupassen, um eben möglichst viele zu erreichen. Und deswegen bin ich froh, dass wir mit dem Sozialschutz-Paket III heute wieder einen wichtigen Beitrag dazu leisten. ({2}) Erstens. Wir verlängern den Schutz für die sozialen Dienstleister, und ich hoffe, dass wir da zu einer unkomplizierten Regelung kommen, die das auch verlässlich wirklich bis zum Ende der Pandemie gewährleistet, wann auch immer das sein wird. Zweitens. Wir verlängern, was wir gerne auch grundsätzlich so hätten: den einfachen Zugang zur Grundsicherung und Sicherheit in schwierigen Lebenssituationen. Arbeitslosigkeit – und das gilt nicht nur für Zeiten der Pandemie – ist in den seltensten Fällen ein selbst gewähltes Schicksal. Wer Grundsicherung beantragt, darf keine Angst haben, sofort sein Erspartes oder seine Wohnung zu verlieren. ({3}) Wir wollen eine Brücke in die Zeiten nach der Pandemie bauen und Sicherheit geben, damit eben der Kopf für eine Jobsuche frei ist, damit der Kopf für einen Neuanfang und einen Neustart frei ist, und diese Brücke verlängern wir. ({4}) Drittens. Ja, das ist richtig: Wir müssen uns noch mehr um Familien kümmern. Eltern, allen voran Mütter, aber gerade auch die Kinder und die Jugendlichen tragen eine ganz besondere Last in dieser Pandemie. Deswegen bin ich froh, dass wir erneut einen Kinderbonus von 150 Euro pro Kind beschließen werden – wir haben das eben diskutiert –; denn die Möglichkeiten einer Familie, mit der Krise umzugehen, sind eben auch abhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten. Und gerade diejenigen, die es sowieso schon schwer haben, sind in einer Krise noch mal stärker belastet und betroffen. Deswegen ist es richtig, und es ist auch an der Zeit, für diejenigen, die Grundsicherungsleistungen erhalten, mit freien FFP2-Masken, Laptops für die Schulkinder usw., mit dem Aufschlag von 150 Euro endlich einen Ausgleich zu schaffen. Ich möchte aber gerne noch etwas dazu deutlich sagen. Nicht nur diejenigen, die Grundsicherungsleistungen erhalten, haben es schwer. Wir haben für Menschen, die arbeiten und bei denen es trotzdem nicht reicht, im Sozialstaat zwei Bausteine. Der eine ist das Wohngeld, der andere ist der Kinderzuschlag. Ich würde mich freuen, wenn diejenigen, die Wohngeld oder Kinderzuschlag bekommen, auch einen Zuschuss von 150 Euro bekämen. Vielleicht können wir da ja gemeinsam noch etwas erreichen. ({5}) Schutz und Sicherheit, ein Sozialstaat, der flexibel ist, lernt und einfach hilft, das bleibt unser Ziel in der Pandemie und danach. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht gleich an Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wirtschaftlichen Folgen des Virus sind massiv, und auch die sozialen und psychischen Schäden sind hoch. Wir tun in dieser Koalition alles, um diese Schäden abzufedern, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Menschen abzufedern. Dabei haben wir die Gefahren dieses Virus nie unterschätzt. Die Grundausrichtung und die Strategien innerhalb dieser Bundesregierung waren immer richtig. Anders als andere mussten wir uns nicht korrigieren. Ich denke beispielsweise an den Ministerpräsidenten Ramelow, der das auch öffentlich zugegeben hat. Es verdient natürlich Respekt, so etwas auch zugeben zu können. ({0}) Aber letztendlich braucht es Weitsicht und Klugheit, was die nächsten Schritte angeht. Weitsicht und Klugheit vermisse ich insbesondere bei den Vorschlägen der AfD. All das, was Sie jetzt fordern, ist der sichere Weg in die dritte Welle, und eine dritte Welle bedeutet mehr Schäden, dramatische Schäden in der Wirtschaft und im sozialen Bereich und natürlich auch mehr Tote. Das wollen wir nicht. Deswegen setzen wir sehr konsequent unseren Kurs von Vorsicht und Umsicht fort. Das ist auch das richtige Rezept, wie wir jetzt mit diesem Virus insgesamt umgehen müssen.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Kollege, geben Sie das Wort zu einer Zwischenfrage an Frau Kipping?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Kipping, gerne. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Stracke, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben gesagt, Sie tun alles, um die Folgen abzufedern. Jetzt steht ja der Vorschlag im Raum, dass wenigstens diese einmalige Zahlung – uns als Linke ist das zu wenig – auch an Bezieher von Wohngeld und Kinderzuschlag gehen soll. Und für alle, die mit diesen sozialpolitischen Fachbegriffen nicht so viel zu tun haben: Das sind Menschen, die ein extrem geringes Alterseinkommen haben, oder Familien mit mehreren Kindern, die auch ein ganz geringes Einkommen haben. Bisher steht das nicht im Gesetzentwurf. Es gibt das böse Gerücht, das würde an der CDU liegen. Jetzt frage ich Sie ganz persönlich, um hier mal Transparenz zu schaffen: Was halten denn Sie persönlich von der Idee, diese kleine Leistung, die uns als Linke natürlich zu klein ist, vielleicht auch auf die 600 000 betroffenen Wohngeldbeziehenden und Kinderzuschlagsbeziehenden auszuweiten? ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kipping, ich finde, dass diese Einmalzahlung, die wir jetzt in Höhe von 150 Euro auf den Weg bringen wollen, eine sehr pragmatische Antwort auf den Mehrbedarf während dieser Pandemie ist, die auch sehr unbürokratisch auf den Weg gebracht werden kann. Deswegen unterstütze ich es ausdrücklich, dass wir diese 150 Euro einmalig auszahlen. Ich entnehme Ihren Äußerungen, dass Sie die Regelsätze gerne anpacken wollen und da unter Umständen monatliche Zahlungen haben wollen. Sie haben das ja in Ihrer Rede genannt. Ich will nur daran erinnern, dass wir im Rahmen der Veränderung und der Weiterentwicklung der Grundsicherung, der Regelsätze ({0}) ja sehr wohl – ich komme schon darauf – die Preisentwicklungen dieses Pandemiejahres 2020 berücksichtigt haben – das zum einen – und dabei im Übrigen auch die Mehrwertsteuersenkung, die ein halbes Jahr galt, nicht berücksichtigt haben. Das zeigt das gesamte Feld, in dem wir uns bewegen. Deswegen müssen wir jetzt darüber diskutieren – und das tun wir ja nicht nur im Rahmen dieses Parlamentes, sondern auch außerhalb –, ob es noch weitere Ansatzpunkte gibt, beispielsweise diese 150 Euro noch einmal auszuzahlen. Ich verschließe mich einer solchen Diskussion nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, um die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie in den Griff zu bekommen, ist unser deutscher Sozialstaat ein stabiler Schutz und Schirm in dieser Naturkatastrophe. Wir lassen niemanden allein, und wer Hilfe braucht, den unterstützen wir. Wir haben deswegen in der letzten Woche ein 10-Milliarden-Euro-Paket mit mehr Unterstützung für Unternehmen, für Familien und für Menschen mit wenig Geld geschnürt, die besonders unter dieser Krise leiden. Wir haben beispielsweise mit dem Kurzarbeitergeld schon eine sehr stabile Regelung, was Beschäftigung und Liquidität in den Betrieben angeht. Mit dem aufgestockten Kurzarbeitergeld leisten wir einen deutlichen Beitrag zur Sicherung der Kaufkraft. Und Menschen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben, trifft diese Pandemie natürlich in besonderer Art und Weise. Deswegen haben wir bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres dafür gesorgt, den Zugang zu den Grundsicherungssystemen deutlich zu erleichtern. Wir haben hier schnell und einfach die notwendige finanzielle Unterstützung organisiert. Niemanden lassen wir in existenzieller Not alleine. Deswegen verlängern wir diese Regelungen. Das ist sicherlich gut. Die Einmalzahlung ist eine pragmatische Antwort, darauf habe ich ja bereits hingewiesen. Schlüsselfragen sind da auch die Forderungen, die hier von Grünen und insbesondere der Linken zum bedingungslosen Grundeinkommen aufgestellt werden. ({1}) Schlüsselfrage ist nicht, möglichst hohe Geldleistungen möglichst lange in der Grundsicherung zu beziehen. Das ist nicht die Schlüsselfrage. Schlüsselfrage ist vor allem – und das ist eine arbeitsmarktpolitische Aufgabe –, wie wir die Menschen möglichst schnell aus dem Bezug wieder herausbekommen. Das ist letztendlich auch etwas, was den Menschen gerecht wird. Wir wollen nicht, dass die Menschen möglichst lange von Grundsicherung leben, sondern wir wollen sie dort möglichst schnell wieder herausholen. Darauf konzentrieren sich unsere Bemühungen. Man muss diese Einmalzahlungen von 150 Euro ja im Gesamtpaket mit der Bereitstellung von kostenfreien FFP2-Masken sehen, mit der Übernahme der Kosten für digitale Endgeräte bis zu 350 Euro, damit Kinder am Onlineunterricht teilnehmen können. Ausdruck der Vorsorge ist es, ein warmes Mittagessen für Kinder und Jugendliche zu organisieren, wenn es wieder pandemiebedingt zu Schließungen kommen sollte; wir hoffen, dass dies nicht der Fall ist. Gleiches gilt natürlich auch für die sozialen Dienste und Einrichtungen. Wir wollen die soziale Infrastruktur schützen. Wir kümmern uns um die sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft und um die Kümmerer in den sozialen Diensten und Einrichtungen. Das zeigt: Unser Sozialstaat ist leistungsfähig und hat den Stresstest in dieser Pandemie mehr als bestanden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Eines ist noch wichtig: Kunst- und Kulturschaffende sind systemrelevant. Deswegen ist es auch ein wichtiges Signal, das wir aussenden, dass wir für sie die jährliche Mindesteinkommensgrenze auch im Jahr 2021 aussetzen. Die Künstlersozialversicherung bietet einen wichtigen Schutz gerade für die wichtige Gruppe derer, die in Kunst und Kultur Unglaubliches leisten. Deswegen darf dieser Schutz nicht verloren gehen. Dafür sorgen wir. Insgesamt ist es ein gutes Gesetzgebungspaket, das wir als Koalition auf den Weg bringen wollen. Es verdient allseitige Zustimmung und Unterstützung. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem herzlichen Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Öffentlichen Gesundheitsdienst beginnen. Wir haben gerade in der Pandemie erlebt, dass sie über die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit hinausgegangen sind, und das nicht nur an einem Tag, sondern über Wochen und Monate. Das war eine sehr, sehr respektable Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Öffentlichen Gesundheitsdienst. ({0}) Zur Beschreibung der Istsituation gehört aber leider auch, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst seinen Aufgaben bereits vor der Pandemie nicht ausreichend gerecht werden konnte; denken wir an Einschulungsuntersuchungen und Gesundheitsförderung. Der Grund liegt in der personellen Unterbesetzung. Es gibt derzeit 2 500 Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Vor 25 Jahren waren es 50 Prozent mehr. Deswegen war es richtig – dafür ein herzliches Dankeschön an den Gesundheitsminister –, im September den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst auf den Weg zu bringen. Der Bund, der eigentlich keine Zuständigkeit für diesen Bereich hat, gibt dennoch 4 Milliarden Euro für den Öffentlichen Gesundheitsdienst aus: für Personal, für Digitalisierung, für moderne Strukturen. Wir stehen auch vor Herausforderungen. Das wird deutlich, wenn ich an die SORMAS-Software zur Kontaktnachverfolgung denke. Derzeit nutzt nur knapp die Hälfte der Gesundheitsämter dieses System. Die Bundesländer haben zugesagt, bis Ende Februar alle Gesundheitsämter anzuschließen. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass es vermutlich nicht dazu kommen wird, was schade ist. Ich würde mir wünschen, dass gerade die Landkreise, dass die Länder dort wesentlich mehr Dampf machen, damit das gelingt. ({1}) Deswegen sollten wir beraten, wie der Öffentliche Gesundheitsdienst gestärkt werden kann und wie wir von Bundesseite mehr Einfluss nehmen können, damit der Öffentliche Gesundheitsdienst auch wirklich seine Arbeit macht. Allein mit guten Worten und großzügigen Geldgeschenken wird das auch in Zukunft nicht gelingen. Das waren für mich jetzt die kurzfristigen Notwendigkeiten. Aber ich finde, wir müssen den Öffentlichen Gesundheitsdienst auch in einer Langfristperspektive betrachten. Wir brauchen den Öffentlichen Gesundheitsdienst für einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik. Wir müssen den Fokus stärker darauf ausrichten, wie Menschen gesund bleiben können. Dabei spielt der Öffentliche Gesundheitsdienst wirklich eine Schlüsselrolle. Unser Gesundheitswesen beschäftigt sich sehr intensiv damit, warum Krankheiten entstehen und wie man sie heilen kann, und das ist auch vollkommen in Ordnung. Wir müssen uns aber noch viel stärker damit beschäftigen, wie es gelingt, dass Menschen gesund bleiben, also gar nicht erst krank werden. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es ist gut und richtig, dass Kranken so, wie wir das machen, geholfen wird; aber zusätzlich müssen wir das Gesundheitswesen stärker darauf ausrichten, Menschen gesund zu erhalten. Das verlangt uns allen selbst etwas ab. Die Grundvorstellung „Man wirft eine Tablette ein, und dann wird man gesund“ muss schon durch einen weiteren Gedanken ergänzt werden, nämlich durch den, dass jeder selbst etwas für die Gesunderhaltung tun kann und auch tun muss. Dieser Gedanke kommt uns, jedenfalls mir, zu selten. Ich zum Beispiel nehme mir zu wenig Zeit für die eigene Gesundheit. Was können wir jetzt tun? Was heißt das konkret? Die Krankenkassen bekommen derzeit umso mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds, je mehr Kranke sie haben. Das ist auch nachvollziehbar, weil man dann auch Mehrausgaben hat. Aber warum geben wir nicht jenen Kassen Geld, denen es gelingt, ihre Versicherten besonders lang gesund zu erhalten? Und wie geht Gesunderhaltung? Das hat etwas mit der Stärkung von Gesundheitskompetenz zu tun, damit, dass Gesundheitskompetenz vermittelt wird, dass es mehr Schutzimpfungen gibt, dass es mehr Prävention gibt. Wenn ich über Prävention spreche, dann heißt das für mich vor allem, dass die Prävention die Richtigen erreicht. Bei unseren Präventionskursen zeigt die Statistik, dass sie zu 81 Prozent von Frauen besucht werden. Das spricht dafür, dass Frauen besonders intelligent sind; das spricht aber nicht dafür, dass unsere Präventionskurse besonders intelligent sind. Denn die sollten gerade auch Männer erreichen, die vielleicht eher dazu neigen, gesundheitlich angeschlagen zu sein. Wir brauchen auch mehr Informationen darüber, was man selbst tun kann, wie man sich gesund ernährt, wie man sich mehr bewegt. Wir haben in der Pandemie gemerkt, dass das Thema Gesundheit ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt ist, dass wir auch mehr über Hygienethemen gesprochen haben. Mich hat ein Gastwirt mal angesprochen. Er hat gesagt, jetzt wüssten auch die Männer, wozu das Waschbecken vorm Klo da sei. Es ist bei uns einfach, ein bisschen flapsig gesagt, im Bewusstsein der Menschen angekommen, dass man sich mehr mit Hygiene beschäftigen muss. Ich denke auch an das Thema Impfen; das wird uns ja in diesen Tagen ganz besonders bewusst. Wir erleben bei den Grippeimpfungen eine sehr positive Entwicklung; die Zahl der Geimpften ist gewachsen. Wir sind natürlich noch immer nicht dort, wo wir hinwollen, dass sich nämlich 75 Prozent der Älteren gegen Grippe impfen lassen, aber wir sind auf einem sehr guten Weg. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns unser Gesundheitswesen mit einem starken Öffentlichen Gesundheitsdienst umbauen. Wir brauchen mehr Gesundheitsförderung, wir brauchen mehr Prävention, wir brauchen mehr Wissensvermittlung für alle darüber, was sie selbst für ein gesundes Leben tun können. Vielen Dank. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Paul Viktor Podolay von der AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es freut mich sehr, heute einen Antrag vorzustellen, den die AfD im Juni 2020 hier im Deutschen Bundestag eingebracht hat und der von allen anderen Fraktionen im Gesundheitsausschuss inklusive der Grünen abgelehnt wurde, nämlich zur Reform der Weltgesundheitsorganisation. Die grünen Weltverbesserer wollen die WHO in die deutsche Gesundheitsversorgung einbinden. Schön und gut, wäre dieses Vorhaben nicht von Scheinheiligkeit und Doppelmoral gelenkt. Deutschland hat im Jahr 2020 allein zur Bewältigung der Coronapandemie 397 Millionen Euro an freiwilligen Leistungen an die WHO und UNAIDS gezahlt. Hierin nicht eingeschlossen sind die anderen Projekte, freiwillige Zahlungen und der Pflichtbeitrag. International war Deutschland im Jahr 2020 der größte staatliche Geldgeber der WHO. Wenn es jedoch darum geht, diese einst so prestigeträchtige Institution zur Verantwortung zu ziehen und ihre Verfehlungen zu beleuchten, ignoriert die deutsche Regierung alle Alarmzeichen. ({0}) Aber auch die übrigen Oppositionsparteien scheinen hier vollkommen einzuknicken, vor allem die Grünen. Doch wir als AfD scheuen uns nicht davor, genau diese Missstände anzusprechen, publik zu machen und aufzuarbeiten. 2020 bot eine Galerie epischer Verfehlungen der WHO. Im September erschütterten ungeheuerliche Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs die Weltgesundheitsorganisation. Ihre Ärzte sollen in Kongo-Kinshasa während der verheerenden Ebolaepidemie von 2018 bis 2020 Frauen und Mädchen systematisch sexuell ausgebeutet haben. Dieser Bericht machte internationale Schlagzeilen, scheint die hier anwesenden Gutmenschen jedoch genauso wenig zu interessiert wie die ernstzunehmenden Anschuldigungen gegen den WHO-Chef Tedros Ghebreyesus, in den Völkermord in Äthiopien verwickelt zu sein. Die „Times“ berichtete im Dezember 2020 über diesen Skandal, während in Deutschland nach wie vor blinder Gehorsam herrscht. Auch nicht unvergessen bleiben das chinazentrische Gebaren der WHO zu Beginn der Pandemie und das unglaublich späte Entsenden eines Forschungsteams zur Entdeckung des Ursprungs von Corona, der bis heute nicht geklärt ist. Doch die größte Baustelle der WHO ist die Finanzierung; denn die einstige Finanzierung durch Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten ist schon lange passé. Eingenommen haben diese Rolle andere Akteure. Inzwischen stammen rund 80 Prozent des WHO-Haushaltes von privaten Geldgebern, Stiftungen und freiwilligen Regierungszuschüssen, die zweckgebunden sind, ({1}) also über die die WHO nicht frei verfügen kann. Diese Akteure, die den Großteil der Gelder bereitstellen, tun dies nicht aus altruistischen Motiven, sondern erkaufen sich damit ihren Einfluss in der Organisation. ({2}) Dies stößt in der Forschung, Zivilgesellschaft und vor allem der AfD auf massive Kritik. Stück für Stück wurde die Förderung von Basisgesundheitssystemen in den armen Ländern dieser Welt zur Nebensache und durch die Abhängigkeit von Geldgebern konterkariert. Empfehlungen, die Milliarden von Menschen betreffen, müssen aber auf unabhängigen Forschungsergebnissen und Entscheidungsprozessen basieren und dürfen nicht vom Angebot des höchstbietenden Lobbyisten abhängen. ({3}) – Schreien Sie nicht, seien Sie still! ({4}) Um die WHO zu reformieren, fordert die AfD deshalb zum Ersten ein Finanzierungsmodell, das eine industrie-, staaten- und stiftungszentrierte Politik unterbindet, zum Zweiten die strikte Einhaltung demokratischer Entscheidungsprozesse innerhalb der WHO, die unabhängig von den Beitragszahlungen ist, und zum Dritten und Letzten, dass Wissenschaftler und Funktionäre, die für die WHO arbeiten, gründlich auf Industrieverbundenheit und Lobbytätigkeiten zu überprüfen und gegebenenfalls nicht einzustellen sind. ({5}) Meine Damen und Herren, diesen menschlichen und bürokratischen Sumpf mit dem Geld der deutschen Steuerzahler zu finanzieren, ist moralisch nicht vertretbar. ({6}) Die WHO kann ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nur dann gewissenhaft nachgehen, wenn Unabhängigkeit, Transparenz und demokratische Entscheidungsprozesse gesichert sind. Ohne Reform sind weitere Zahlungen an diese mittlerweile korrupte Organisation ({7}) unverzüglich einzustellen. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte über das Thema sprechen, das hinter dem Tagesordnungspunkt steckt, nämlich über den Öffentlichen Gesundheitsdienst. ({0}) Wenn es eine von mehreren Lehren aus der Pandemie gibt, dann haben wir doch hoffentlich gelernt, dass wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken müssen. ({1}) Denn der Öffentliche Gesundheitsdienst ist ganz nachgewiesener Weise eine wesentliche Schnittstelle zur Bekämpfung der Pandemie. Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder ein Hochfloppen zur Wichtigkeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes erlebt, nämlich immer dann, wenn es Pandemien gab. Vor etlichen Jahren wurde immer wieder gesagt: Wir müssen den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken. – Es darf uns diesmal nicht passieren, dass wir das nächste Woche wieder vergessen. Daher sagen wir als SPD-Fraktion: Wir brauchen in der Tat einen gestärkten Gesundheitsdienst. Dazu reichen die Maßnahmen, die wir in den letzten Wochen, in den letzten Monaten auf den Weg gebracht haben, allein nicht aus. Wir brauchen eine nachhaltige Stärkung. Schon 2016 haben die Gesundheitsminister der Länder gesagt: Wir brauchen einen stärkeren, interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz für den ÖGD. Wir brauchen eine stärkere Verzahnung mit der Wissenschaft. Wir wollen, dass der Bund, die Länder und die Kommunen Verantwortung tragen. Wir wollen in diesem Dreiklang, dass die Bevölkerung mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst eine Ansprechstation hat für bestimmte gesundheitliche Fragen, auch in Sachen Prävention. Das alles dürfen wir nicht vergessen. Deswegen sind wir dankbar über den Antrag der Grünen, aber er geht uns nicht weit genug. Wir haben in unserem Papier, das wir miteinander in der Fraktion beschlossen haben und wofür wir werben, in der Tat einen Ansatz gewählt, der auch die Kompetenzen des Bundes erweitert. Es ist schön, was Sie als Grüne formuliert haben; aber es ist nicht nachhaltig genug. Denn wir sehen ja jetzt, wie lange es braucht, um Vereinbarungen auf den Weg zu bringen. ({2}) Sehr schnell haben wir alle miteinander mit 50 Millionen Euro den Ausbau von Programmen, den Digitalausbau für die Öffentlichen Gesundheitsdienste auf den Weg gebracht. Wir haben gesagt: Wir geben 4 Milliarden Euro für Personal. – Ja, das ist alles gut und richtig; aber die Umsetzung dauert lange, weil der Föderalismus einfach auch eine Hürde darstellt. Wir wollen, dass es sehr schnell geht, und wir wollen, dass die Umsetzung des ÖGD-Ausbaus durch Personalstellen, Digitalausstattung und auch Akzeptanz gestärkt wird. ({3}) Von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Antrag der Grünen ist gut und wichtig. Aber lassen Sie uns einen gemeinsamen Weg einschlagen. Dabei kann uns der Sachverständigenrat wichtige Hinweise geben, und zwar Hinweise wie – nicht ob – der ÖGD ausgebaut werden sollte. Er sollte wirklich eine niedrigschwellige Anlaufstelle sein, die vorbeugend, präventiv, tätig ist, die nicht nur bei Hygienekonzepten, nicht nur in Pandemiezeiten, sondern vor allen Dingen bei Voruntersuchungen, bei allen möglichen Fragen der Bevölkerung zum Thema Gesundheitsschutz zuständig ist. Dazu braucht es ein Werben und ein Umdenken in den Kommunen und vor allen Dingen in den Ländern. Denn was haben wir in den letzten Jahrzehnten erlebt? Da will ich jetzt keine Schelte betreiben; aber es gehört zur Bilanz dazu: Der ÖGD ist irgendwie eine kleine Fachabteilung in irgendwelchen Kreisämtern geworden statt eine selbstständige Behörde, die als dritte Säule in unserem Gesundheitssystem etabliert ist. Das müssen wir ändern. ({4}) Das sollte nicht nur eine kleine Stelle sein, wo man ärztliches oder nichtärztliches Personal einstellt – in manchen Gesundheitsämtern sind auch Nichtmediziner angestellt; das muss man auch dazusagen –, sondern es muss eine Behörde sein – und „Behörde“ ist nichts Langweiliges bzw. darf es in dem Fall nicht sein –, es muss eine zupackende, eine auf die Bevölkerung zugehende, eine problemlösende Institution sein. ({5}) Von daher möchten wir, dass die Gesundheitsämter diese Rolle sehr viel stärker in unserem System einnehmen und dabei unterstützt werden. Und ich werbe, wir werben dafür, dass der ÖGD auf jeden Fall auch eine große Bedeutung in den Parlamenten bekommt, die jetzt nicht so sehr darüber reden, nämlich vielleicht in den Kreistagen und in den Länderparlamenten; denn da wurde ganz massiv zusammengespart. Deshalb ist also auch diese Stärkung, diese institutionelle Stärkung, unser Anliegen. Ich habe es schon gesagt: 4 Milliarden Euro und zusätzlich 50 Millionen Euro für den ÖGD – für Personal, für den Ausbau der digitalen Infrastruktur – scheinen auf den ersten Blick nicht wenig zu sein. Aber wenn man sich das genauer anguckt und sieht, dass das nur für ein paar Jahre gilt, dann muss man sagen: Vielleicht ist das einfach zu kurz gesprungen. Deswegen wollen wir als SPD-Fraktion hier auch die Möglichkeit des Bundes haben – und zwar über eine Änderung des Grundgesetzes. Dafür werbe ich; denn das Thema Daseinsvorsorge ist eines, das im Bereich der Gesundheit wieder fundamental an Konjunktur gewinnen muss. ({6}) Von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich finde, wir sollten uns wirklich auf den Weg machen. In dieser Situation, in der uns die Pandemie gelehrt hat, wo so viele Knackpunkte sind, wo es so viele Fehlstrukturen gibt, die nicht das leisten können, was sie in dieser Situation leisten müssten, sollten wir nicht einfach nach ein paar Monaten sagen: „Gott sei Dank, es ist überwunden!“, sondern sollten uns vorbereiten und auf den Weg machen. Denn der ÖGD ist und bleibt die Schnittstelle, und wir lernen das jeden Tag. Wir sehen nicht nur, dass die Zahlen oftmals fehlerhaft oder verzögert ankommen, sondern auch, dass die Kontaktnachverfolgungsmöglichkeiten des ÖGD einfach nicht so sind, wie wir uns das vorstellen, dass es da auch eine kleine Blockade in dem einen oder anderen Gesundheitsdienst gibt. Das alles müssen wir auflösen, und das geht nur, indem wir nicht kritisieren, sondern unterstützen. Deshalb: Der Öffentliche Gesundheitsdienst braucht diese Unterstützung von Bund, Land und Kreis. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Andrew Ullmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Pandemie erwarten wir alle einen starken Öffentlichen Gesundheitsdienst. Dazu gehören explizit die lokalen Gesundheitsämter und das Robert-Koch-Institut. Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist eine der wichtigsten Einrichtungen des Staates, um einen guten Gesundheitsstandard und die Gesundheitssicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Doch wie ist es gelaufen? Wir mussten erkennen, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst heillos überfordert war. Es waren, meine Damen und Herren, explizit nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schuldig, sondern schuldig waren die Länder und die Kommunen; denn sie haben seit Jahren an Personal und Ausstattung gespart. Das ging auch lange gut. Doch SARS-CoV-2 deckte diese Versäumnisse gnadenlos auf. Hier ist der Ansatz der Grünen richtig: Wir müssen mehr beim Öffentlichen Gesundheitsdienst tun. Gesundheit darf nämlich nicht nur als Kostenfaktor angesehen werden, sondern hier muss mehr in die Zukunft, in Personal und Ausstattung investiert werden. Nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitsamt oder im Robert-Koch-Institut sind die Buhmänner oder Buhfrauen in dieser Pandemie. Denn wie kann ein Fisch schwimmen, wenn das Wasser fehlt? Und hier fehlt viel Wasser! Hoffentlich ziehen wir alle die richtigen Schlüsse aus dieser Pandemie. Doch Bundesmittel immer dort einzusetzen, wo die Länder geschlafen haben, ist nicht der richtige Weg und kein nachhaltiger Ansatz. Wir erwarten hier viel mehr Verantwortung auch vonseiten der Bundesländer. Eine bessere Vernetzung und klare Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sind jetzt essenziell und wichtig, um der Herausforderungen in der Gesundheit Herr zu werden und auf die nächste Pandemie besser vorbereitet zu sein. So geht nachhaltige Gesundheitspolitik. Immer wieder, auch heute, war zu hören, dass Lockdown-Maßnahmen notwendig waren, um die Kontaktverfolgung zu gewährleisten. Das mag in einer Pandemie ja durchaus sein. Doch noch wichtiger neben der Kontaktverfolgung – das haben Staaten mit deutlich besseren Inzidenzen gezeigt – sind bessere Kontrollen, die uns vieles hätten ersparen können. ({0}) Wenn in einer deutschen Stadt von den Menschen, die in Quarantäne oder Isolierung sind, nur 1 Prozent kontrolliert werden und dabei 30 Prozent dieser Menschen die Regeln nicht einhalten, ist es kein Wunder, dass immer wieder Infektionsketten auftreten und uns Probleme bereiten. Vergleichen wir doch einmal, wie es in Taiwan und Südkorea mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst aussieht. Da ist das wirksamste Mittel die Kontrolle der Quarantäne- und Isolierungsmaßnahmen. Das ist ein klügeres Vorgehen, als ständig Lockdowns zu verhängen, besser als die Angstpolitik der Bundesregierung, und wir hätten damit auch weniger Sorgen um mutierte Viren. So wäre uns vieles erspart geblieben. ({1}) – Wenn Sie eine Frage stellen wollen, stellen Sie eine Frage. Reinrufen ist nicht Stil dieses Hauses. ({2}) Wer öffentliche Gesundheit und die Pandemie ernst nimmt, muss statt eines Weiter-so die begangenen Fehler erkennen und diese umgehend beseitigen. Die Ausrede, es gebe zu viele Infizierte, zieht nicht mehr. So kann es im Öffentlichen Gesundheitsdienst auch nicht weitergehen. Deshalb brauchen wir einen starken Öffentlichen Gesundheitsdienst und ein starkes Robert-Koch-Institut. Wir brauchen sie als Krisenspezialisten. Die Tätigkeit im Öffentlichen Gesundheitsdienst muss lukrativer werden, mit Aufstiegsmöglichkeiten und besserem Verdienst und nicht einfach, Herr Krauß, mit einem Dankeschön. Das Fach „öffentliche Gesundheit“ muss mehr Widerhall in den universitären Ausbildungen finden. Wir brauchen eine qualitativ bessere Vernetzung durch die Nutzung der digitalen Möglichkeiten. Wir brauchen aber auch mehr Verantwortungsübernahme auf Länderebene, oder wir müssen anfangen, darüber zu diskutieren, ob wir einen Systemwechsel dahin gehend haben wollen, dass Gesundheit Richtung Bund geht. So, meine Damen und Herren, können der Öffentliche Gesundheitsdienst und das Robert-Koch-Institut verbessert werden und unserem Land besser und nachhaltiger dienen. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Harald Weinberg von der Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ullmann, Zwischenrufe sind ganz normale parlamentarische Gepflogenheit; darauf will ich nur noch mal hinweisen. ({0}) Von Rudolf Virchow, dem Armenarzt, stammt die Bemerkung – und damit zitiert er Salomon Neumann –: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ ({1}) Die Richtigkeit dieser Erkenntnis erschließt sich besonders in den Tagen der Pandemie, die wir im Moment haben. Die Auseinandersetzung mit der Pandemie zeigt, dass Politik und Medizin in der Tat zusammengehören. Gesundheit ist dabei unvermindert von der sozialen Lage der Menschen abhängig; das war schon vor Corona so. Es gibt einen Unterschied von zehn Jahren bei der Lebenserwartung zwischen den reichsten und den ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung, und das im reichen Deutschland. Wer arm ist, stirbt früher, und das ist ein Skandal. ({2}) Das ist auch in der Coronapandemie so. Das Virus ist nicht der große Gleichmacher. Es trifft die Ärmsten, die sozial Benachteiligten weitaus stärker als die Reichen. Die Oxfam-Studie hat es gerade wieder bestätigt: Es ist ein Ungleichheitsvirus. Da gilt die alte, aber zutreffende Regel: Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten. Alle anderen sind auf einen gut funktionierenden Staat mit einem gut funktionierenden Gesundheitswesen dringend angewiesen, ({3}) und da – das hat die Pandemie gelehrt – ist noch einiges zu tun. Wir haben es jetzt gerade gehört: Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist in den letzten Jahrzehnten eher kaputtgespart als wirklich nach vorne gebracht worden. Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass er durchaus – und das hat sich jetzt in der Pandemie gezeigt – systemrelevant ist und insofern in der Tat auf allen Ebenen auch wieder gestärkt werden muss. An dieser Stelle sind wir auch voll beim Grünenantrag. ({4}) Und da gilt es auch, die verschiedenen Ebenen zu verzahnen: Bund, Land und Regionen müssen da sozusagen zusammenkommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht aber auch um Gesundheit als Aufgabe in allen Politikbereichen; das ist auch in dem Antrag der Grünen adressiert. „Health in All Policies“ heißt das in dem Ansatz der Weltgesundheitsorganisation, und dabei geht es darum, dass gesundheitliche Chancengleichheit und Gesundheitsförderung nicht einfach als Aufgaben an die Gesundheitspolitik zu delegieren, sondern Querschnittsaufgaben sind, die alle Politikbereiche betreffen. Das bedeutet, in der Wohnungspolitik, in der Sozialpolitik, in der Steuerpolitik, in der Finanzpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Asylpolitik usw. usf. die Voraussetzungen und Verhältnisse zu schaffen, die der Gesundheit der Menschen förderlich sind. Das ist auch relativ plausibel und relativ klar. Man kann das am Beispiel der Wohnungspolitik zeigen: Wenn man in einer schlechten Wohnung mit schlechter Belüftung, mit Schimmel im Bad usw. usf. leben muss, dann kann es dort keine vernünftige Gesundheit geben; die kann sich da einfach nicht entwickeln. Der Antrag der Grünen adressiert diese Frage auch in einem Teil, mogelt sich aus unserer Sicht dabei aber um eine zentrale Frage herum; denn letztendlich heißt „Health in All Policies“ auch, die Verteilungsfrage, die Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung, ins Zentrum zu stellen. Von Wilkinson und Pickett stammt hierzu eine aufschlussreiche Studie aus dem Jahre 2010, deren Ergebnisse sich am Ende so zusammenfassen lassen: Gleichheit ist besser für alle. Oder, wie der deutsche Titel lautet: „Gleichheit ist Glück“. ({5}) Dafür braucht es aus unserer Sicht allerdings mehr, als in dem ansonsten guten Antrag der Grünen drinsteht. Deshalb können wir uns an dieser Stelle leider auch nur enthalten. Vielen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Frau Dr. Kappert-Gonther von der Fraktion der Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme es Ihnen von der Koalition tatsächlich ab, dass Sie etwas zur Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und zur Stärkung der Gesundheitsämter beitragen möchten. ({0}) Aber: Ich möchte Ihnen zurufen: Machen! Sie stellen diese Regierung! ({1}) – Die Mittel aus dem Pakt für den ÖGD, die Sie bereitstellen – das stimmt –, kommen zu spät. Es ist zu wenig, und zu allem Überfluss sind sie befristet. Das ist nicht nachhaltig. ({2}) Mit Ihrem eiligen Notprogramm zur Abschaffung der Faxgeräte und mit den Einsätzen der Bundeswehr versuchen Sie jetzt, die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsämter zu sichern. Das reicht nicht. Noch immer arbeiten die Mitarbeitenden in den Gesundheitsämtern weit über ihre Belastungsgrenze hinaus. Durch ihren hohen Beitrag und ihre hohe Arbeitsbereitschaft tragen sie uns ganz maßgeblich durch diese Pandemie. Danke! ({3}) Endlich rückt der ÖGD in das Zentrum der Aufmerksamkeit, und da gehört er hin. Die Gesundheitsämter sind jetzt besonders wichtig: für den Infektionsschutz, für die Kontaktnachverfolgung, für die Eindämmung dieser Pandemie. Der ÖGD hat aber auch darüber hinaus ganz wichtige Aufgaben für die Sorge um die Gesundheit aller. Schon vor der Pandemie war der ÖGD eine entscheidende Säule dieses Gesundheitswesens, aber leider hat es erst diese Krise gebraucht, um die Bedeutung der Gesundheitsämter für die Sorge um unser aller Gesundheit zu erkennen. Viel zu lange war der ÖGD Opfer von Sparzwängen der Länder, und der Bund hat sich zu lange gar nicht gekümmert. Schon lange vor Beginn der Pandemie haben die Suchtberatung, der Bereich Lebensmittelsicherheit und die Gesundheitsberichterstattung mit viel zu wenig Personal auskommen müssen. Die Schuleingangsuntersuchungen haben zum Teil gar nicht mehr stattgefunden. Auch die Zahnprophylaxe in den Grundschulen durch Zahnärztinnen und Zahnärzte im Auftrag der Gesundheitsämter ist vielerorts ausgefallen, und die Last tragen die Kinder, vor allem die Kinder aus Familien, deren Eltern es aus verschiedensten Gründen nicht schaffen, mit ihren Kindern zur Prophylaxe zu gehen. Das darf doch so nicht bleiben! ({4}) In unserem reichen Land gehen die Gesundheitschancen und die Lebenserwartung zwischen armen und wohlhabenden Menschen so auseinander. Das ist ein Armutszeugnis. Auch das muss sich endlich ändern, ({5}) und hierfür können – und das ist ein entscheidender Gedanke – gut ausgestattete Gesundheitsämter einen erheblichen Beitrag leisten. Diese Pandemie ist schwierig. Sie bringt viele von uns an den Rand ihrer Kräfte. Wir können aber, wenn wir bereit sind, wirklich hinzugucken, aus dieser Pandemie auch lernen, was wir künftig besser machen müssen. Diese Krise zeigt uns, dass unsere Gesundheit nicht nur von uns individuell abhängt, sondern dass unsere Lebensbedingungen, unsere Umwelt entscheidend für unsere Gesundheit sind. Sie lehrt uns, dass wir die Sorge um die Gesundheit aller – Public Health – endlich stärker verankern müssen, wie es in vielen Ländern schon längst der Fall ist. Sie zeigt uns, dass wir starke und gut vernetzte Public-Health-Institutionen brauchen, und hier liegt die entscheidende Chance für den ÖGD der Zukunft. ({6}) Die Gesundheitsämter brauchen jetzt und auf Dauer eine stabile Finanzierung, und dafür schlagen wir in unserem Antrag vor, die Ausgaben für den ÖGD dauerhaft mindestens zu verdoppeln. Wenn diese Basis gesichert ist, dann kann endlich besser in die interprofessionellen Public-Health-Konzepte und die Kooperation mit Kitas, Schulen, Sportvereinen investiert werden. Der ÖGD kann dann mehr in die Gesundheitsförderung vor Ort einbezogen werden. ({7}) So stärken wir die Gesundheitschancen aller nachhaltig. Diese Pandemie wird nicht die letzte sein. Wir müssen uns besser wappnen. Wir brauchen einen Gesundheitscheck bei allen politischen Entscheidungen. Wir müssen bei jeder politischen Entscheidung überprüfen, welche gesundheitlichen Auswirkungen sie hat; denn ob Verkehrs- oder Agrarpolitik, ob Sozial- oder Bildungspolitik: Alle politischen Entscheidungen haben einen Einfluss auf unsere Gesundheit. Und wenn wir nicht endlich zu konsequentem Umwelt- und Klimaschutz übergehen, steigt die Gefahr weiterer Pandemien. ({8}) Für eine gute Gesundheitsversorgung ist es elementar wichtig, dass wir künftig nicht mehr auf das Präventionsparadoxon hereinfallen: Je besser die Arbeit der Gesundheitsämter sein und der Öffentliche Gesundheitsdienst funktionieren wird, je stärker Public Health, je nachhaltiger die Gesundheitsförderung, desto weniger sichtbar wird in Zukunft die akute Notwendigkeit von Gesundheitsämtern sein. Dann aber dürfen wir nicht zulassen, dass wieder der Rotstift angesetzt wird; denn das würde sich spätestens in der nächsten Krise rächen. ({9}) In unserem Antrag steht, was wir sofort tun können, was wir sofort tun sollten, um den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu dem zu entwickeln, was er sein kann. Ich danke Ihnen. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Tino Sorge von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ja sagen: Im Ergebnis sind wir uns hier – das habe ich zumindest den Ausführungen der Vorrednerinnen und ‑redner entnommen – alle einig, dass wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken müssen und stärken wollen. Das Einbringungsdatum des Antrags der Fraktion der Grünen liegt ja jetzt schon ein bisschen zurück, er datiert vom 18. November 2020. Insofern ist da natürlich auch viel dabei, was relativ allgemein ist. Es ist aber auch viel dabei, was längst schon überholt ist. ({0}) Wir haben am Mittwoch im Ausschuss über diesen Antrag debattiert. Ich fand es schon bemerkenswert, dass wir im Ausschuss – das erlebt man ja selten – auch aus der Opposition fast geschlossen gehört haben – Andrew Ullmann beispielsweise hat gesagt, der Antrag enthalte planwirtschaftliche Elemente; Harald Weinberg aus der Fraktion Die Linke sprach davon, der Antrag sei viel zu unkonkret, viel zu offen, unpräzise –, dass der Antrag im Grunde im Hinblick auf die Qualität und die inhaltliche Ausrichtung – darin sind wir uns sicherlich einig – in dieser Form nicht zielführend ist. Ich will auch noch mal darauf hinweisen, dass das Thema Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes natürlich auch damit zusammenhängt, dass wir da vieles besser machen müssen. Aber ich wehre mich ein bisschen dagegen, immer nur zu nörgeln. Wir haben das heute wieder gehört. Wir haben für den Öffentlichen Gesundheitsdienst 4 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, davon 800 Millionen Euro zusätzlich für Digitalisierung, und 5 000 neue Stellen geschaffen. ({1}) Das wird hier so lapidar vom Tisch gewischt. Da wird dann gesagt: Na ja, 40 Milliarden Euro wären besser gewesen. – Insofern, glaube ich, sollten wir da ein bisschen die Relation sehen. Was ich auch noch sagen will: Natürlich müssen wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken; das wollen wir alle. Aber ich persönlich möchte nicht, dass wir ein staatliches Gesundheitsamt als Bundesoberbehörde etablieren, wie das bei einigen Rednerinnen und Rednern hier herausgekommen ist. Also, ganz herzliches Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern vor Ort. Ja, ich weiß, die Lage dort ist sehr unterschiedlich. Aber ich glaube, wir sollten auch deren Leistungen nicht kleinreden und sagen: Wir machen am besten eine Bundesoberbehörde, und dann wird alles besser. ({2}) Wir haben natürlich das Thema Föderalismus angesprochen. Da geht es tatsächlich darum, die Länder zu unterstützen. Da ist es nicht der richtige Weg, immer zu sagen: Wir können mit Geld alle Probleme lösen. Wir kippen einfach genügend Geld rein, dann geht’s allen besser, dann läuft das. – Vielmehr müssen wir die Länder konkret dabei unterstützen, wie sie ihre Gesundheitsämter vor Ort besser in die Lage versetzen, in epidemischen Lagen wie jetzt in der Coronapandemie Infektionsketten nachzuverfolgen. Da ist ja schon viel auf den Weg gebracht worden. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass wir SORMAS@DEMIS, also das Melde- und Informationssystem, flächendeckend schon viel, viel schneller etabliert hätten. Wenn man schaut, dass in Afrika, im Kongo und in Nigeria, SORMAS bereits flächendeckend läuft, dass also in afrikanischen Staaten Systeme genutzt werden, die wir in Deutschland entwickelt haben – das System ist ja nicht vom Himmel gefallen: SORMAS ist ja vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig entwickelt worden –, dann ist es natürlich nicht schön, dass wir jetzt noch darüber diskutieren, ob alle öffentlichen Gesundheitsämter dieses System nutzen. Ich bin froh, dass mittlerweile 375 Gesundheitsämter dieses System zumindest für die Meldung nutzen können, die Hälfte auch schon angeschlossen ist. Den Weg sollten wir weitergehen. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Weil hier auch die Staatsministerin für Digitalisierung sitzt, will ich Folgendes ansprechen: Mich ärgert in der ganzen Diskussion immer, dass wir über Digitalisierung sehr abstrakt reden. Da wird dann gesagt: Ja, wir könnten mit Digitalisierung viel mehr erreichen. Wir müssten nur besser vernetzen. Wir müssten die Institutionen, die Akteure in die Lage versetzen, über Datennutzung, über Datenaustausch auch schneller auf neue Situationen zu reagieren. – Und genau da hakt es ja häufig. Wir haben das Problem, dass wir grundsätzlich immer sagen: Ja, Digitalisierung ist gut. – Aber wenn es dann konkret wird, reden wir alles schlecht. Da werden dann Probleme aufgezeigt. Da werden Risiken aufgezeigt. Da wird nie chancengetrieben diskutiert. Insofern, glaube ich, stellt die Pandemie auch eine Chance dar. Ich wünsche mir, dass wir viel, viel offener über Ideen, über Möglichkeiten, gerade auch über digitale Möglichkeiten sprechen. Wir müssen auch darüber sprechen, inwieweit vielleicht in dem einen oder anderen Bereich mehr Pragmatismus Einzug halten muss, etwa bei der Abwägung, welche potenziellen Möglichkeiten uns auch eine bessere Datennutzung eröffnet. Insofern sollten wir in der Debatte auch bei der Frage „Wie können wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst verbessern?“ nicht ausschließlich über Geld reden.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie so nett fragen: Sehr gerne, Frau Präsidentin.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Die Abgeordnete Christmann hat das Wort.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Kollege, Sie haben so schön über Digitalisierung und ihre Möglichkeiten im Bereich der Gesundheit gesprochen; das treibt uns ja derzeit alle um. Wenn Sie aber sagen, wir sollten da mehr über die Chancen sprechen, irritiert mich das etwas. Denn ich glaube: Über die Chancen der Corona-Warn-App, zum Beispiel durch die Ergänzung einer Clustererkennung, über die Chancen der Digitalisierung der Gesundheitsämter sind wir ja seit letztem Sommer im Gespräch. Dann gab es ein Hackathon, wo mehrere Lösungen für Gesundheitsämter und andere Sachen vorgeschlagen worden sind. All diese Dinge sind doch aus meiner Sicht von der Regierung nicht zügig umgesetzt worden. Es ist ja nicht so, dass nicht alle diese Chancen sehen und auch einfordern würden, sondern es mangelt doch an der Umsetzung. ({0}) Das würde ich dem gern entgegensetzen, wenn Sie hier für mehr Begeisterung geworben haben. Wir sind alle begeistert. Aber wann geht es denn los? ({1})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Dr. Christmann, wir haben ja das Thema in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ hoch und runter diskutiert. Ich glaube, wir beide sind uns da noch einiger, als das vielleicht die Fraktionen in Gänze sind. Es ein sehr schönes Stichwort, dass Sie die Corona-Warn-App ansprechen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir in Deutschland wirklich wochenlang hoch und runter diskutiert haben, ob man so eine App überhaupt machen soll, ob Bundesgesundheitsminister Jens Spahn da nicht wieder zu forsch ist, ob er nicht einfach vorprescht. ({0}) Da sind Datenschutzbedenken angeführt worden. Wir reden hier, wie gesagt, über eine Tracing-App. Da wurde so getan, als würden die Leute ständig überwacht werden. Das ist genau der Punkt: Wir sprechen über innovative Ideen, aber die werden dann immer kaputtgeredet. ({1}) Das ist ja nicht nur bei der Corona-Warn-App so. Das ist ja bei der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen genau dasselbe Spiel gewesen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir beim DVG, dem Digitale-Versorgung-Gesetz, darüber gesprochen haben, ob wir im Rahmen des Forschungsdatenzentrums, also da, wo die Daten gesammelt werden, überhaupt eine Antragsbefugnis für Gesundheitsunternehmen, also für private Unternehmen, etablieren sollten, damit die Daten dort für Forschung auch genutzt werden können. Da kann ich mich sehr genau daran erinnern, dass Ihre Fraktion – ich will jetzt konkret keine Namen nennen, kann ich aber gern nachreichen – ({2}) einen Popanz aufgebaut und so getan hat, als würden jetzt alle Patienten gläsern werden, als würde man von jedem die Privatdaten, Klarnamen und was auch immer abgreifen wollen. Genau das ist der Punkt: dass Sie über Digitalisierung immer schön blumig erzählen, aber dann, wenn es konkret wird, wenn wir als Parlament, als Regierungsfraktion, als Bundesregierung, als Bundesgesundheitsministerium agieren, dann ist immer alles schlecht, dann ist alles böse. Oder wahlweise heißt es: Es ist mit der Gießkanne gemacht. – Also, da müssten Sie sich langsam mal entscheiden. Dann würde uns das auch konstruktiv helfen. – Vielen Dank. ({3}) Frau Präsidentin, ich habe jetzt noch eine Sekunde Redezeit. Aber wenn Frau Klein-Schmeink, die sich gerade meldet, eine Frage stellen will, lasse ich diese gerne zu.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Sprechen Sie.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darauf muss ich natürlich eingehen, weil Sie mich ja indirekt angesprochen haben. – Sie wiederholen hier etwas, was in der Sache überhaupt nicht zutrifft: Nicht der Datenschutz ist dafür verantwortlich, dass die Corona-Warn-App ihr Potenzial nicht so ausschöpfen kann, wie es eigentlich nötig wäre, oder dass wir hier mit der Forschung und dem Auswerten von Gesundheitsdaten für die Forschung nicht vorankommen, sondern das hat damit zu tun, dass die Voraussetzungen dafür nicht passend geschaffen werden. Wenn ich Sie mal fragen darf: Nennen Sie uns doch mal das Datum, wann die Clustererkennung für die Corona-Warn-App endlich funktionsfähig sein wird, nachdem das schon seit Oktober im Gespräch ist und ganz konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, ich finde es sehr interessant, dass da offenkundig auch bei Ihnen eine sehr einseitige Betrachtungsweise vorherrscht. Da wird, weil das Thema Corona-Warn-App explizit angesprochen wurde, immer so getan, als sei man sich einig, als könnten wir sofort loslegen. Das Problem ist eben nur: Wenn wir dann loslegen, dann kommen zusätzliche Bedenken. ({0}) Ich sage auch: Bei der Frage, wie wir solche Apps oder wie wir innovative Ideen für das Gesundheitssystem überhaupt erst mal zum Laufen bringen, haben wir ja ständig die Diskussion, inwieweit man da überhaupt Akteure einbeziehen kann. Sie sind ja meistens ganz weit vorneweg und sagen: Wir müssen mehr digitalisieren. – Wenn es dann aber darum geht, Innovation im System zu ermöglichen, dann sind Sie die Ersten, die bremsen, weil Sie sagen: ({1}) Da dürfen Private nicht ins System rein. Da müssen hohe Hürden aufgebaut werden. Ich weiß jetzt nicht, wie viel Redezeit ich habe. ({2}) Aber ich könnte jetzt hier stundenlang auch über das Agieren des BfDI, des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, sprechen, der ja teilweise ein sehr ambivalentes Verhältnis zu bestimmten digitalen Lösungen hat. Wir in Deutschland meinen: Immer dann, wenn eine staatliche Lösung angeboten wird, müssen wir diese staatliche Lösung 150-prozentig machen. Diese ist am Schluss so unpraktikabel, dass sie überhaupt nicht mehr funktioniert. Danach wird dann kritisiert, dass sie nicht funktioniert. Dann ist irgendwas verkehrt. Also, da sollten Sie sich mal überlegen, wie Sie da argumentieren. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Damit ist die Frage von Frau Klein-Schmeink von Bündnis 90/Die Grünen beantwortet. Sie haben noch wenige Sekunden zu einem wunderbaren Schlusswort.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr von Notz hat sich gemeldet.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Nein, die Zeit ist abgelaufen. Ich lasse jetzt auch keine Zwischenfragen mehr zu.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde die Frage gerne zulassen, lieber Konstantin von Notz. Ich kann die Frage sicherlich noch im Anschluss hoffentlich zufriedenstellend klären. Ich darf mich für die Aufmerksamkeit bedanken. Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Ich freue mich auf die Beratungen und darauf, dass wir in der Digitalisierung und bei der Bekämpfung des Coronavirus, der Ausstattung und der Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsämter schnell und gut vorankommen. In diesem Sinne: gute Diskussion! ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Wieland Schinnenburg von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gar keine Frage: Der Öffentliche Gesundheitsdienst spielt eine ganz wesentliche Rolle. Wer daran noch Zweifel hatte, der ist durch die Erlebnisse in der Pandemie geheilt. Die Gesundheitsämter sind zuständig für die Kontaktnachverfolgung, für die Aufnahme und Verwaltung von Daten. Wir alle wissen, dass das nicht optimal läuft. Würde es optimal laufen, dann könnten wir wesentlich eher in Lockerungen gehen. Wenn wir nämlich eine bessere Kontaktnachverfolgung hätten, könnten wir uns höhere Infektionszahlen als derzeit erlauben. So weit stimmen wir Ihnen vollkommen zu. Nun haben wir einen sehr blumigen Antrag der Grünen vorliegen und verschiedene Beiträge von SPD und Grünen gehört, wie wichtig und wie schön und wie toll doch der Öffentliche Gesundheitsdienst ist. Ja, dann müssten wir annehmen: Dort, wo Rot-Grün regiert, ist mit dem ÖGD alles ganz toll. Lassen Sie uns den Praxistest machen, zum Beispiel in meinem Wahlkreis Hamburg-Wandsbek. Hamburg-Wandsbek wird seit sieben Jahren, die Stadt Hamburg seit sechs Jahren rot-grün regiert. Die FDP-Fraktion der Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek hat eine Anfrage zum Gesundheitsamt Hamburg-Wandsbek gestellt. Sie wurde vor wenigen Tagen beantwortet, und ich darf Ihnen kurz die wichtigsten und erschreckenden Antworten mitteilen. Erstens. Die Daten von Ärzten und Laboren werden mit einem offenbar selbstgestrickten System, das sich OctoWare nennt, im Gesundheitsamt aufgenommen und gehen dann zur Landesebene in Hamburg. Dort werden sie auf ein anderes System übertragen, das sich SurvNet nennt. Von diesem Netz wiederum werden sie an das RKI weitergegeben. Das verstehe ich nicht unter effiziente Arbeitsweisen, meine Damen und Herren. Es wäre sinnvoll, gleich das System DEMIS zu verwenden. Zweitens. Wie erfolgt die Kontaktnachverfolgung im Gesundheitsamt Hamburg-Wandsbek? Auch dort gibt es ein eigenes, selbstgestricktes Programm, das nennt sich Hamburger Pandemie-Manager. Ich empfehle, einfach das System SORMAS zu benutzen. Drittes Ergebnis. Wir haben das Bezirksamt gefragt: Wer hat denn entschieden, dass mit so selbst gestrickten, eigenartigen Systemen gearbeitet wird? Antwort: Das wurde überbezirklich entschieden. – Das ist eine nette Beschreibung dafür, dass der rot-grüne Hamburger Senat es nicht auf die Reihe bekommt. So sieht die Realität in rot-grün regierten Verwaltungen aus. ({0}) Darum sollten Sie sich einmal kümmern. Rot-grüne Träume prallen radikal auf die Realität. Das ist die Wahrheit, und das muss geändert werden, meine Damen und Herren. ({1}) Es geht noch weiter: Vor wenigen Tagen ist die Leiterin des Gesundheitsamtes Hamburg-Wandsbek zurückgetreten. Sie hat die Konsequenz daraus gezogen, dass sie offenbar von der rot-grünen Verwaltung alleingelassen wurde. Meine Damen und Herren, wir als FDP wollen konkrete Verbesserungen. Wir wollen den flächendeckenden Einsatz von DEMIS und SORMAS. Dafür sollten Sie sorgen, statt blumige Anträge zu schreiben. ({2}) Letzte Bemerkung: Unsere Bezirksfraktion in Wandsbek wird Ihrem rot-grünen Bezirksamt weiter auf die Finger gucken, und das wird wahrscheinlich nicht angenehm für Sie. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Stephan Pilsinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Coronakrise hat uns auch im Jahr 2021 noch immer fest im Griff. Durch die konsequente Umsetzung der Kontaktbeschränkungen und die begonnenen Impfungen sind wir aber endlich auf einem guten Weg. Erstmals seit Beginn der zweiten Pandemiephase sinkt die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen. Aber wir dürfen das nun Erreichte nicht leichtfertig verspielen; noch immer liegt die 7-Tage-Inzidenz bundesweit über dem Wert von 50 Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner. Zudem drohen deutlich ansteckendere Virusvarianten den Fortschritt zunichtezumachen. Erst wenn die Gesundheitsämter wieder eine realistische Chance haben, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen, können wir die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zurückerlangen. Damit ist der Öffentliche Gesundheitsdienst ganz ohne Zweifel eine der tragenden Säulen unserer Pandemiebekämpfung. ({0}) Ohne die Gesundheitsämter vor Ort wäre weder eine Rückverfolgung von Kontakten noch eine koordinierte Vorgehensweise bei lokalen Ausbrüchen möglich. An dieser Stelle geht daher zunächst mein ausdrücklicher Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gesundheitsämtern, die seit Beginn dieser Pandemie unter einer bisher nie dagewesenen Belastung stehen. Ich finde, diese Mitarbeiter haben einen hervorragenden Job geleistet. ({1}) Wir wissen, dass den Gesundheitsämtern aktuell sehr viel abverlangt wird. Aber wir werden in Zukunft dafür sorgen, dass sie nicht nur personell gestärkt und modernisiert, sondern durch eine digitale Offensive auch untereinander besser vernetzt werden. Wir haben aus dieser Krise gelernt, meine Damen und Herren. Deshalb stellt der Bund den Gesundheitsämtern mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Der erste Schritt zur Umsetzung dieser Beschlüsse wurde bereits mit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz hier im Deutschen Bundestag gemacht. Mithilfe dieser neuen Regelungen werden dringend notwendige Maßnahmen zur Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes endlich konkret umgesetzt. Noch bis Ende dieses Jahres sollen auf dieser Grundlage mindestens 1 500 neue Stellen geschaffen werden, das heißt mehr Ärztinnen und Ärzte, aber auch mehr Fach- und Verwaltungspersonal. Bis Ende des kommenden Jahres sollen darüber hinaus mindestens 3 500 weitere Vollzeitstellen in den Gesundheitsämtern geschaffen werden. Auch die Attraktivität einer Tätigkeit in den Gesundheitsämtern soll im Rahmen dieser Maßnahmen künftig steigen; denn bei der Besetzung von Stellen steht der ÖGD in direkter Konkurrenz zu anderen Bereichen des Gesundheitswesens. Durch eine engere Verzahnung mit der Forschung stärken wir gleichzeitig auch die wissenschaftliche Basis des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben innerhalb kürzester Zeit zahlreiche wirksame Maßnahmen angestoßen und auch bereits mit der konkreten Umsetzung begonnen. ({2}) Natürlich werden wir nicht von heute auf morgen die personellen und organisatorischen Strukturen der Gesundheitsämter vollständig modernisieren können. Wir wollen diese Krise möglichst bald überwinden; aber die Maßnahmen benötigen Zeit, um zu wirken. Seien Sie versichert: Wir tun alles dafür, damit die Verbesserungen so schnell wie möglich vor Ort ankommen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben bei der Verbesserung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes keine Zeit zu verlieren. Nach meiner Meinung kommt die dritte Welle sicher. Ich gebe der Kanzlerin recht: Die Öffnungen der Schulen durch die Bundesländer sind verfrüht. Wir werden sehr schnell – Mitte März – wieder im exponentiellen Wachstum sein. Deswegen brauchen wir bis dahin einen Öffentlichen Gesundheitsdienst, der die Kontakte sicher nachvollziehen kann; denn einen weiteren Lockdown sollten wir unter allen Umständen vermeiden, auch wenn dies unter der jetzigen Betrachtung als sehr schwierig erscheint. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Edgar Franke von der SPD. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gute medizinische Versorgung vor Ort ist ein Stück Lebensqualität. Das ist vielen Menschen wichtig. Deshalb brauchen wir ein dichtes Netz aus Kliniken, aber auch aus niedergelassenen Ärzten und Gesundheitsämtern, und das überall, nicht nur in den Ballungszentren. Gerade in ländlichen Gegenden ist dieses Netz aber häufig nicht eng genug. Wir wissen alle: Kommunen suchen händeringend nach Hausärzten, kleinere Kliniken vor Ort haben es schwer. Jeder, der kommunalpolitisch tätig ist, im Kreistag, in den Kommunen, weiß: Den Gesundheitsämtern fehlt es an Personal; den Gesundheitsämtern fehlt es aber ganz häufig auch an Geld. Das wissen wir eigentlich nicht erst seit der Pandemie. Für die Menschen heißt das: Eine gute Gesundheitsversorgung ist nicht mehr überall selbstverständlich. Für uns Sozialdemokraten ist Gesundheit das höchste Gut, und Gesundheit, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf nicht vom sozialen Status abhängen. Harald Weinberg hat zu Recht gesagt: Es darf nicht sein, dass wer arm ist, früher stirbt. Deswegen ist für uns Sozialdemokraten die öffentliche Daseinsvorsorge Gesundheit eines der wichtigsten gesellschaftlichen Themen. ({0}) Deshalb haben wir uns immer die flächendeckende Gesundheitsversorgung auf die Fahne geschrieben. Wir haben ja auch ein bisschen was gemacht. Erstens. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz haben wir unsere Kliniken zukunftsfest gemacht. Der Bund stellt 3 Milliarden Euro für Digitalisierung und moderne Notfallversorgung bereit. Damit stärken wir nicht nur die Krankenhäuser in der Stadt und auf dem Land, sondern damit stärken wir auch die Konjunktur. Zweitens. Wir stärken die bedarfsnotwendigen Kliniken auf dem Land. Das war mir persönlich ganz wichtig. Sie bekommen eine jährliche Bundesförderung. Wir haben die Mittel auf SPD-Initiative hin erhöht. Kliniken können jetzt bis zu 800 000 Euro zusätzlich erhalten. Auch das war ein ganz großer politischer Erfolg. ({1}) Herr Minister, wir als Sozialdemokraten würden uns zwar wünschen, dass die Förderkriterien für bedarfsnotwendige Kliniken noch ein bisschen offener gestaltet werden, dass sie sich vielleicht stärker an den Versorgungsrealitäten orientieren, aber die Förderung ist gut. Drittens. Seit diesem Jahr gibt es den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Länder erhalten 4 Milliarden Euro; das ist mehrfach schon gesagt worden. Wir werden 5 000 neue Stellen bekommen. Hilde Mattheis hat sehr kenntnisreich ausgeführt – sie ist in diesem Bereich schon lange sehr engagiert –, dass wir den Öffentlichen Gesundheitsdienst personell, inhaltlich und konzeptionell stärken müssen. Das ist der richtige Weg. Sie hat auch zu Recht gesagt, dass es ein Umdenken bei den Kommunen, bei den Ländern und bei den Landkreisen geben muss: Der öffentliche Gesundheitsdienst ist nicht nur ein Anhängsel, sondern ein wichtiger Politikbereich. Frau Kappert-Gonther hat das Beispiel der Zahnprophylaxe angesprochen. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst für die Daseinsvorsorge wichtig ist. Insofern sollten wir alle dafür arbeiten, ihn weiter zu stärken. ({2}) Mit all diesen Maßnahmen stärken wir nicht nur unseren Öffentlichen Gesundheitsdienst, sondern auch die gesundheitliche Versorgung. Ich möchte zum Schluss noch den ambulanten Bereich ansprechen, auch weil sich ein Antrag auf die MVZs bezieht. Der gesellschaftliche Wandel wirkt sich auch auf die ambulante medizinische Versorgung aus. Deswegen haben wir seit knapp 20 Jahren die sogenannten Medizinischen Versorgungszentren, die MVZs. Wir wissen alle, in diesen Zentren arbeiten Ärzte, oft aus unterschiedlichen Fachrichtungen, unter einem Dach zusammen. Die MVZs haben sich wirklich bewährt. Sie haben oftmals die medizinische Versorgung vor Ort verbessert. Sie bieten auch für Ärztinnen und Ärzte, die Teilzeit arbeiten wollen oder kein wirtschaftliches Risiko mehr tragen wollen, Vorteile. Seit der letzten Legislaturperiode können auch Kommunen rechtlich selbstständige MVZs gründen und betreiben und so gezielt die medizinische Versorgung stärken. Es gibt aber nur eine Handvoll Medizinische Versorgungszentren, die von Kommunen betrieben werden. Ich habe mich vor zwei Jahren sehr dafür eingesetzt, dass in Schwarzenborn ein MVZ entsteht. Schwarzenborn ist eine kleine Stadt mit 1 000 Einwohnern in meinem Landkreis in Hessen. 1 000 Einwohner ist wirklich nicht viel; das ist die kleinste Stadt in Hessen. In Schwarzenborn gab es keinen Arzt mehr. Die Kommune hat dort ein kommunales MVZ gegründet, wo zwei Ärzte, eine Gynäkologin und ein Hausarzt, angestellt sind. Dort gibt es jetzt einen Arzt und eine Ärztin. Daran sieht man ganz konkret: MVZs und da, wo es keine Ärzte gibt, auch kommunale MVZs sind ein wichtiges Instrument, um eine flächendeckende Versorgung herzustellen. ({3}) Deshalb sollten wir gerade die MVZs stärken. Sie sind hervorragend geeignet, die ambulante medizinische Versorgung auch in ländlichen Regionen zu verbessern. Sie sind ein wichtiger Baustein für eine flächendeckende und gute Versorgung, wie wir immer sagen, unabhängig vom Alter der Versicherten, unabhängig vom Geldbeutel und unabhängig vom Wohnort. Das ist der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. Danke schön. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Als letzten Redner in der Debatte hören wir Dr. Georg Kippels von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in der letzten Stunde leidenschaftliche Plädoyers für den Öffentlichen Gesundheitsdienst gehört, durchaus auch herbe und an einigen Stellen ohne Zweifel berechtigte Kritik. Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist durch die Pandemie seit nunmehr einem Jahr im unmittelbaren Fokus der gesamten Bevölkerung und natürlich auch der Politik. Ich glaube, uns eint hier alle die Überzeugung, dass gute Arbeit geleistet wurde, es aber auch Verbesserungsbedarf gibt und wir alle uns diesem widmen sollten. Für eine saubere Aufarbeitung dieser Fragestellung ist es, glaube ich, wichtig, dass wir zwischen zwei verschiedenen Aspekten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes unterscheiden. Auf der einen Seite geht es um die Regelversorgung – viele Aspekte sind angesprochen worden: Prävention, Aufklärung, Regeluntersuchungen, Impfwesen, Hygiene – und auf der anderen Seite natürlich um den Einsatz zur Bewältigung einer Pandemie, also in einer Krise, in einer Ausnahmesituation. Alles das geht beim Öffentlichen Gesundheitsdienst zusammen. Ich bin der Meinung, dass diese Aspekte im Antrag der Kollegen der Grünen leider nur unzureichend beleuchtet worden sind. Ich will die Herausforderungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst im Zusammenhang mit der Pandemie einmal anhand meines Heimatkreises, des Rhein-Erft-Kreises in Nordrhein-Westfalen, mit 465 000 Einwohnern und zehn Städten konkret darstellen. Die Inzidenz lag heute Morgen bei 71,8. In den zehn Städten haben wir aber ein Spektrum zwischen 40 und 121. Wir haben 587 Infizierte, und wir beklagen und betrauern 296 Verstorbene. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um von hier aus einen Gruß in die Heimat zu senden und dem Landrat Frank Rock und dem Gesundheitsdezernenten Christian Nettersheim und seinen Kolleginnen und dem Team der Verwaltung herzlich dankzusagen, da die wichtige Aufgabenstellung der Kontaktnachverfolgung erfolgreich bewältigt worden ist. ({0}) Wie sieht die personelle Besetzung aus? Im Normalbetrieb sind es 85 Mitarbeiter auf 60 Stellen, fünf Mediziner, auf der Leitungsebene ein Verwaltungsbeamter. Mittlerweile sind es in dieser Sondersituation alleine 85 Mitarbeiter im Covid-Zentrum. In der Kürze der Zeit konnten die Stellen natürlich nicht durch vollwertige Neueinstellungen besetzt werden, sondern es waren Umsetzungen und Abordnungen erforderlich. Des Weiteren gibt es 95 externe Mitarbeiter aus den anderen Behörden und der Bundeswehr. Frage: Ist das nun ein strukturelles Problem der Unterbesetzung? Nein, selbstverständlich nicht, weil es eine Ausnahmesituation ist. Richtig ist allerdings auch, dass für den Regelbetrieb der Personalstand im Laufe der Jahre immer weiter gesunken ist, auch deshalb, weil viele Vorsorgemaßnahmen in der Vergangenheit in den privatärztlichen Bereich ausgelagert worden sind. Ich nenne exemplarisch nur die sogenannten U-Untersuchungen, die jetzt mit tatkräftiger Unterstützung der GKV bei den Kinderärzten stattfinden. Die klassischen Reihenuntersuchungen und Reihenimpfungen, an die ich mich aus meiner Kindheit noch gut erinnern kann, finden überhaupt nicht mehr statt. Wir müssen zur Attraktivierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes wieder originäre medizinische Aufgabenstellungen suchen und dort etablieren; denn so wird es für die Mediziner attraktiver, in diese Berufssparte einzusteigen. ({1}) Auch die weiteren Fragenstellungen, die aus der Krise resultieren, müssen wir in besonderem Maße in den Blick nehmen. Wir haben festgestellt, dass zu Beginn der Krise, aber auch im weiteren Verlauf eine sehr intensive Zusammenarbeit zwischen dem Hauptamt, dem ÖGD, und dem Ehrenamt, DRK, Johanniter, Malteser, Caritas, stattgefunden hat und stattfinden musste, um bestimmte punktuelle Aufgabenstellungen personell aufzufangen. Aus meiner Sicht wäre es eine wichtige Aufgabe, diesen Trainingsbetrieb zu verstetigen und ebenso wie Bundeswehr, THW und Feuerwehr im wiederkehrenden Rhythmus Krisenszenarien zu erproben, einzuüben, zu harmonisieren und vor allen Dingen auch die technischen Gegebenheiten zu vervollständigen und zu perfektionieren. Wir haben von den Vorrednern schon zahlreiche Hinweise zu den digitalen Hilfsmitteln gehört; diese müssen aber auch tatsächlich im Zusammenspiel funktionieren. Der Pakt von Bund und Ländern für den Öffentlichen Gesundheitsdienst vom 5. September 2020 stellt dafür eine hervorragende Basis dar. Wir sollten jetzt nicht in Aktionismus verfallen, sondern wir müssen nach der Pandemie den Bedarf solide analysieren. Wir müssen die Inhalte schärfen und attraktivieren. Dafür stellt der Pakt ausreichend Mittel und Ressourcen zur Verfügung. Infolgedessen müssen wir uns dem Antrag nicht widmen und können ihn getrost ablehnen. Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich und für die gesamte deutsche Polizei ist das heute ein schöner Moment. Wir haben nicht mehr damit gerechnet, dass in dieser Legislaturperiode die Rechtsgrundlagen für die Arbeit der Bundespolizei modernisiert werden. Wir lesen heute den ersten Gesetzentwurf dazu. Deshalb geht mein erster Dank an die beiden Regierungsfraktionen. Die haben sich nämlich zusammengesetzt und den Gesetzentwurf geschrieben und konsentiert. Eine Verständigung war innerhalb der Bundesregierung nicht möglich; insofern geht diese erste Lesung heute auf die Arbeit der beiden Koalitionsfraktionen zurück. Dafür danke. ({0}) Das Bundespolizeigesetz stammt aus dem Jahre 1994 und ist seitdem im Wesentlichen unverändert. Allein schon aus diesem Zeitablauf ergibt sich, dass die Modernisierung der Rechtsgrundlagen überfällig ist. Ich möchte nur stichwortartig die Regelungsinhalte nennen; die Kolleginnen und Kollegen werden sicherlich noch die Details zum Ausdruck bringen. Ein großer Bereich beinhaltet den polizeilichen Datenschutz, die Datenerhebung, die Datensicherung und die Datenübermittlung. Ein weiterer Bereich umfasst erforderliche Befugnisse im Bereich der Gefahrenabwehr. Hier nenne ich als Stichwort die Überwachung der Telekommunikation. Für die Überwachung der Telekommunikation streiten bestimmte politische Kräfte schon seit Jahrzehnten. Es ist also schön, dass dies jetzt die Chance hat, realisiert zu werden. Des Weiteren sind zu nennen die Identifizierung und Lokalisierung von Mobilfunkkarten und Endgeräten, der Einsatz technischer Mittel gegen fernmanipulierte Geräte, die Möglichkeit der Meldeauflage, die Möglichkeit zum Erlass eines Aufenthaltsverbots und schließlich noch Bestimmungen zum Schutz von Zeugen. Was auch noch wichtig ist – das ist in den meisten länderpolizeilichen Regelungen bereits enthalten –: die Einführung der rechtlichen Klarstellung für den finalen Rettungsschuss jetzt auch auf Bundesebene. Das ist eine ganz klare Rechtsregel zur Absicherung unserer Polizeibeamten. All diese Regeln sind, wie gesagt, längst überfällig. Darum sprach ich eingangs von einem erfreulichen Moment für die Bundesrepublik Deutschland, für ihre Sicherheit, aber vor allem auch für die Frauen und Männer, die tagtäglich ihren nicht einfachen Dienst tun. ({1}) Ich möchte diese kurze Debatte heute auch nutzen, um der Bundespolizei nach vielen Monaten der besonderen Belastung unserer Polizeibeamten zu danken. Sie ist, wie ich immer sage, der Juwel unserer Sicherheitsbehörden. Ich sage den einzelnen Polizeibeamten immer: Das ist ein schöner Beruf, aber auch ein riskanter. Allein die Tatsache, dass wir jetzt auf 2 000 infizierte Polizeibeamte seit Beginn der Pandemie zulaufen, zeigt, dass mit dem Beruf aufgrund der Einsätze auch gesundheitsmäßig Risiken verbunden sind. Tausende von Polizeibeamten waren zudem in Quarantäne. Darüber wird in der Öffentlichkeit weniger gesprochen. Deshalb will ich die Debatte heute dafür nutzen, unseren Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten für ihren ungeheuer wichtigen Dienst auch in der Pandemie den Dank der Bundesregierung auszusprechen. ({2}) In dieser Legislaturperiode haben wir nicht mehr allzu viele Sitzungswochen; ich glaube, es sind insgesamt noch sieben. Da muss man immer auch die Gefahr sehen, dass ein gutes Gesetz vielleicht nicht mehr die Ziellinie erreicht. Deshalb bitte ich das ganze Parlament, dieses wichtige Gesetz, das ohne die Verständigung der Regierungsfraktionen nicht mehr zustande gekommen wäre, jetzt zügig sorgfältig zu lesen, aber vor allem auch dafür zu sorgen, dass wir diese neuen Rechtsgrundlagen noch in dieser Legislaturperiode bekommen. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Christian Wirth von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Hohes Haus! Herr Seehofer, dass für Sie die Bundespolizei ein Juwel unter den Sicherheitsbehörden ist, kaufe ich Ihnen persönlich ab. Leider sehe ich, dass das im Umfeld der Regierung anders ist. Ich glaube, da ist die Bundespolizei eher das Stiefkind der Sicherheitsbehörden. Wir reden über ein Gesetz, das – Sie haben es gesagt – fast 20 Jahre alt ist; wir sind im fünften Jahr nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass weite Teile dieses Gesetzes verfassungswidrig sind. So viel zum Juwel. Und so viel dazu, was die Koalitionsfraktionen von der Opposition und überhaupt von diesem Haus halten, wenn dieses Gesetz erst zwei Tage vor der ersten Lesung den Fraktionen zur Verfügung gestellt wird. Trotzdem: Es waren harte Jahre für die Bundespolizei: Flüchtlingskrise, Terrorismus, schließlich die Grenzkontrollen in der Coronakrise. Wir sind dankbar, dass die Bundespolizei, diese hervorragende Mannschaft unter einem hervorragenden Präsidenten Dieter Romann, die Kanzlerin eines Besseren belehrt hat, nämlich: Man kann Grenzen schließen. ({0}) Trotz Hasses von der linken Aktivistenseite haben diese Beamten Hervorragendes geleistet. Dafür gilt Ihnen der Dank der AfD und der deutschen Bevölkerung. ({1}) Endlich reagieren Sie auf die Kritik des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2016 und schaffen Rechtsgrundlagen für die Arbeit der Bundespolizei, die seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten überfällig sind. Herr Bundesminister Seehofer, Sie haben inhaltlich einiges benannt: Überwachung der Telekommunikation, Identifizierung und Lokalisierung von Mobilfunkkarten, Einsatz technischer Mittel gegen fernmanipulierte Geräte, Meldeauflagen, Aufenthaltsverbote und vieles mehr. Das ist alles sehr löblich und wurde auch Zeit. Klar ist – Sie haben es auch benannt –, warum das BMI Gas geben wollte: weil der Koalitionspartner, die SPD, sich in Sicherheitsfragen immer wieder als Sicherheitsrisiko erweist. Deswegen mussten wohl die Koalitionspartner unter Streichung wesentlicher Aspekte des Entwurfes hier eine Grundversion einbringen. Sie wissen alle: Der nächste Koalitionspartner – voraussichtlich die Grünen – wird sicherheitspolitisch ein Fiasko sein. Das Problem dieses Gesetzentwurfes ist: Er wird nicht einmal dem Status quo gerecht; von Visionen wollen wir erst gar nicht reden. Sie tun so, wie in vielen Bereichen, als ob es keine digitale Welt gibt. Der Bereich Cyberabwehr wurde völlig aus dem Entwurf genommen – wohl auf Drängen der SPD, wie man immer wieder hört. Cyberangriffe sind aber sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich die größte Bedrohung – auch grenzüberschreitend –, der wir ausgesetzt sind. Man denke an kriminelle Banden. Man denke an Staaten wie China, Russland oder Nordkorea. Wir haben im Innenausschuss dieser Tage von BKA-Präsident Münch gehört, wie erfolgreich unsere Behörden kämpfen können, wenn man sie lässt, nämlich bei der Bekämpfung der Schadsoftware Emotet gegen ukrainische Banditen. Aber das geht eben nur im Wege der Amtshilfe; das heißt, wenn das BKA in der Lage ist, auf Amtshilfe von Behörden anderer Länder zurückzugreifen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Was macht man aber, wenn Amtshilfe nicht zu erwarten ist? Dann ist die Bundespolizei zuständig, aber nicht entsprechend aufgestellt. Hier lassen wir sie im Stich: keine Rechtsgrundlagen, wie das auch 20 Jahre lang in beiden Bereichen der Fall war. Man muss über den umstrittenen Hackback diskutieren können, also über die Zerstörung feindlicher Server bei Cyberangriffen über die Grenzen hinweg. Man muss auch über Gesichtserkennung diskutieren. Man kann nicht einfach darüber hinwegsehen und so tun, als ob es keine kriminelle Cyberwelt gibt. Also bleibt dieser Gesetzentwurf, zweifellos gut gemacht, leider im Gestern stehen. Schauen wir einfach ein Dreivierteljahr weiter: Es wird einen neuen Koalitionspartner geben. Wir gehen mal davon aus, dass es die Grünen sein werden. Ein ergrünter Bundeskanzler/-in Söder benennt einen Bundesminister/-in von den Grünen. Es ist zu befürchten, dass Herr von Notz, mit dem man trefflich diskutieren kann, irgendeiner Geschlechterquote zum Opfer fällt ({2}) und leider nicht Innenminister wird. Was wird passieren? Die Bundespolizei – wie viele Sicherheitsbehörden – wird CO2-neutral aufgestellt. Wir fahren Fahrrad, und kommunizieren werden wir mithilfe von Brieftauben und Lichtsignalen. Gute Nacht! Fühlen Sie sich sicher! Danke. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort geht an Dirk Wiese von der SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute hier im Deutschen Bundestag in erster Lesung die Reform des Bundespolizeigesetzes beraten, ist sicherlich nicht selbstverständlich. Nach 27 Jahren ist diese Reform aber nötig und erforderlich; denn viele Anforderungen und Herausforderungen haben sich in diesen 27 Jahren gewandelt. Ich will zuallererst meinen Dank sagen an all diejenigen in den Koalitionsfraktionen, die – wir haben gerade auch vom Bundesinnenminister gehört: es bestehen da Schwierigkeiten auf der Regierungsebene – in wirklich guten, sachlichen und konstruktiven Gesprächen mit dazu beigetragen haben, dass diese erste Lesung heute möglich wurde. Darum herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen von SPD, CDU und CSU an diesem Tag heute! ({0}) Herr Minister, ich habe gerade überlegt, wie man das, was Sie am Anfang beschrieben haben, treffend auf den Punkt bringen könnte. Ich war mir nicht sicher, aber als Westfale ist es im Zweifelsfall immer gut, es in abgewandelter Form mit den Worten von Johannes Rau auf den Punkt zu bringen, wohlgemerkt: in abgewandelter Form. Vielleicht kann man am heutigen Tag sagen: Braucht man eine Idee, dann fragt man einen Oberbayern; will man sie allerdings umsetzen, dann greift man auf das Sauerland zurück. – Wenn wir uns darauf heute verständigen könnten, dann ist das, glaube ich, ein ganz guter Punkt. Das Gesetz ist notwendig. Nach 27 Jahren haben sich einfach die Anforderungen geändert. Es war sicherlich im Jahr 1994 nicht so, dass die tägliche Bedrohungslage auch Drohnen oder Laserpointer an Flughäfen umfasste. Es ist gut, dass wir hier nachjustieren und hierfür Regelungen für die Bundespolizei finden. Es ist auch gut, dass wir zu Verbesserungen bei der Zusammenarbeit mit den Landespolizeien kommen, wenn gerade auch die Strafverfolgungszuständigkeiten für Vergehen auch auf Verbrechen ausgeweitet werden. Auch das hat, glaube ich, eine hohe praktische Relevanz, die für Vereinfachungen im Alltagsgeschehen der Bundespolizeibeamtinnen und ‑beamten sorgt. Ein Punkt ist uns in den Verhandlungen besonders wichtig gewesen; darauf haben auch die Gewerkschaften der Polizei immer wieder hingewiesen. Es ist so, dass die Bundespolizisten und ‑polizistinnen oft ihre Unterbringung an Flughäfen und Bahnhöfen haben. Die bisherige Unterbringung – das muss man einfach sagen – ist in keiner Form akzeptabel. Darum ist es, glaube ich, ganz entscheidend – da bin ich auch den Berichterstattern und Verhandlungsführern sehr dankbar –, dass es zukünftig klare Standards für eine angemessene, adäquate Unterbringung an Flughäfen und Bahnhöfen geben wird. Es kann nicht sein, dass Polizeibeamten die letzte Unterkunft, die irgendwie noch frei ist, zugewiesen wird. Ich bin dankbar dafür, dass wir das zukünftig auf den Weg bringen. Es ist ein guter Tag für die Bundespolizei, wenn wir das hinbekommen. ({1}) Ich finde es auch richtig, dass wir sehr eingeschränkt, aber notwendig ein ganz klares Zeichen im Bereich der Ermittlungsmöglichkeiten setzen, gerade was die Fragen des Menschenhandels und der Schleuserkriminalität anbelangt. Hier haben wir nach wie vor ein sehr hohes Dunkelfeld. Gerade bei Delikten der sexuellen Ausbeutung, der Zwangsprostitution, vornehmlich mit osteuropäischen Opfern, müssen wir noch viel genauer hinschauen. Dafür sind auch aus meiner Sicht Ermittlungskompetenzen erforderlich. Wenn wir sehen, wie viele Delikte – ich habe es angesprochen – es im Dunkelfeld gibt, die nicht aufgedeckt werden, dann ist es richtig, der Bundespolizei die notwendigen Kompetenzen zur Verfügung zu stellen. Wir werden dies auch in den Beratungen vernünftig adressieren. ({2}) Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch einen Dank aussprechen. Die gut 50 000 Bundespolizeibeamtinnen und ‑beamten leisten gerade jetzt unglaubliche Arbeit. Wenn ab Sonntag wieder stationäre Grenzkontrollen nach Tschechien stattfinden werden, werden wieder viele vor Ort sein und auch Überstunden machen müssen. Darum kann man hier im Plenum am heutigen Tag nur noch einmal für die geleistete Arbeit Danke sagen. Wir sorgen dafür, dass die Arbeitsbedingungen besser werden, dass die Herausforderungen der heutigen Zeit gemeistert werden können und dass der Feierabend endlich in vernünftigen Unterbringungsmöglichkeiten verbracht werden kann. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke sehr. – Das Wort geht an Benjamin Strasser von der FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf ist ein Musterbeispiel für den Zustand dieser Großen Koalition: Jahrelang wird gestritten, Reformen werden angekündigt, wieder abgesagt, Eckpunktepapiere geschrieben, und am Schluss liegt der kleinste gemeinsame Nenner vor. Schaut man in diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hinein, dann findet sich darin auch Positives – auch das begrüßen wir ausdrücklich –, beispielsweise die neue Zuständigkeit der Bundespolizei für Abschiebungen oder die Rechtssicherheit durch eine Rechtsgrundlage für den finalen Rettungsschuss. Das ist gut; das begrüßen wir. Aber das ist doch nicht der Kernpunkt dieses Gesetzentwurfs. Erstens führen Sie mit diesem Gesetzentwurf eine Quellen-TKÜ-plus ein, die wieder zu einer verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Situation führen wird. Sie wollen nämlich mit der Quellen-Telekommunikation nicht nur die laufende Kommunikation überwachen, sondern auch rückwirkend auf Kommunikation zurückgreifen, die zwischen der richterlichen Anordnung und dem konkreten Einsatz des Staatstrojaners liegt. Zweitens verschieben Sie darüber hinaus wieder die Grenzen zwischen Nachrichtendiensten und dem Verfassungsschutz. Sie schaffen heute eine Rechtsgrundlage, die Sie dem Verfassungsschutz genauso geben wollen. Diese Vernachrichtendienstlichung der Polizei führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern sie führt im Zweifel zu mehr Unsicherheit. Das können Sie auch in der Praxis beobachten, beispielsweise im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. ({0}) Drittens schaffen Sie mit diesem Mittel nicht nur ein Instrument der Bekämpfung der Kriminalität, sondern Sie öffnen Einfallstore für Kriminelle auf die Geräte aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Ernsthaft zu glauben, dass Sicherheitslücken, die für den Staatstrojaner offen gelassen werden, nur von Sicherheitsbehörden genutzt werden, ist naiv, und deshalb, Herr Minister Seehofer, kann man eben nicht sonntags von IT-Sicherheit reden und montags den Staatstrojaner für die Bundespolizei in den Gesetzentwurf schreiben. ({1}) Aber es ist ja die Masche der Union, möglichst hart an die Grenze der Verfassungsmäßigkeit zu gehen; im Zweifel klärt es das Bundesverfassungsgericht. Das hinterlässt nicht nur Zweifel am Respekt gegenüber dem Verfassungsgericht, sondern Sie hinterlassen auch enttäuschte Beamte, denen Sie Instrumente in die Hand geben, die das Bundesverfassungsgericht wieder kassiert. Deswegen: Beenden Sie diese Politik der enttäuschten Erwartungen! Wir haben doch genügend Herausforderungen bei der Bundespolizei: 1,5 Millionen Überstunden, 8 500 nichtbesetzte Stellen, Digitalisierung in der Fläche: Fehlanzeige, ein Pakt „Polizei 2020“, der nicht vorankommt. Die Herausforderungen sind da. Herr Minister Seehofer, ich weiß gar nicht, ob man Sie beglückwünschen darf, dass Sie ab Herbst dieses Jahres mit all diesen Problemen nichts mehr zu tun haben werden. Aber Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger – wer immer das auch sein mag, vielleicht der Kollege von Notz; wir wünschen uns natürlich auch mal wieder einen liberalen Innenminister – sei gesagt: Lösen Sie nicht nur diese Probleme, sondern sorgen Sie im digitalen Zeitalter dafür, dass Bürgerrechte nicht nur eine notwendige Pflicht, sondern ein wesentlicher Bestandteil einer guten Innen- und Rechtspolitik sind! Dieser Gesetzentwurf leistet dazu leider keinen Beitrag. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition begründet ihren Gesetzentwurf damit, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Das Gericht hat angemahnt, den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung besser zu schützen. Doch in Wirklichkeit will die Koalition jetzt im Bundespolizeigesetz eine ganze Reihe neuer Befugnisse verankern. Ihr geht es nicht um einen besseren Schutz der Grundrechte, sondern um den weiteren Ausbau polizeilicher Überwachung. Diese Mogelpackung lehnen wir ganz klar ab. ({0}) Die Bundespolizei soll künftig durch Manipulationen an Handys Gespräche mithören und Nachrichten mitlesen können. Die Einführung der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung soll der Bekämpfung zum Beispiel von Schleusern dienen. Sicher gibt es kriminelle Schleuser, die das Leben von Flüchtlingen gefährden. Aber wenn es Ihnen wirklich um die Flüchtlinge geht, dann sorgen Sie gefälligst für sichere Fluchtwege! Das aber verweigern Sie beharrlich. Damit sorgen Sie selbst für die Geschäftsgrundlage der Schleuser, und Sie gefährden Menschenleben, anstatt sie zu schützen. ({1}) Weitere neue Befugnisse sollen Meldeauflagen und Aufenthaltsverbote sein, zum Beispiel für Hooligans. Dafür genügt die bloße Annahme, ein Fußballfan könne Gewalttaten begehen. Worauf sich diese Annahme stützen muss, wird im Gesetzentwurf nicht festgeschrieben. Am Ende herrscht dann reine Willkür, und das ist nicht hinnehmbar. Extrem unpräzise formuliert ist die neue Befugnis der Bundespolizei, künftig mehr Abschiebungen durchzuführen. Vom Wortlaut her würde eine Zufallskontrolle im Zug genügen. Wird dabei eine Person angetroffen, die nur geduldet ist und innerhalb von sechs Monaten abgeschoben werden kann, dann wäre künftig nicht mehr die Ausländerbehörde zuständig, sondern die Bundespolizei. ({2}) Das ist meines Erachtens völlig absurd. ({3}) Für die Betroffenen bedeutet das zudem große Rechtsunsicherheit, und schon deswegen lehnen wir das ab. Das einzig Positive am Gesetzentwurf ist die Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag und dass der Datenschutzbeauftragte das Recht erhält, Maßnahmen zur Beendigung etwaiger Datenschutzverstöße anzuordnen. Sein Budget wird dafür allerdings nicht erhöht. Auch darin zeigt sich das Prinzip dieser Regierung: Gegenüber polizeilichen Befugnissen tritt der Schutz der Grundrechte grundsätzlich zurück. – Es wird Zeit, das endlich umzukehren. Schönen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Frau Dr. Irene Mihalic von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach fast drei Jahrzehnten ist es wirklich an der Zeit, das Bundespolizeigesetz grundlegend zu reformieren. Unsere Bundespolizei braucht verlässliche Arbeitsgrundlagen, und die Bürgerinnen und Bürger brauchen eine verlässliche Polizei. Deshalb ist eine Reform auch so dringend nötig. ({0}) Doch der Prozess der Einbringung war Chaos pur – das ist hier auch schon angesprochen worden –: Der Referentenentwurf, der vor einem Jahr an die Öffentlichkeit kam, war ja ein regelrechtes Wünsch-dir-was. Da stand sogar noch die Cyberabwehr drin. Ein gefährliches Zuständigkeitschaos wäre dabei die Folge gewesen. Abgesprochen war das damals übrigens mit niemandem, auch nicht mit den Bundesländern. Ich hoffe, dass das diesmal anders ist, meine Damen und Herren. ({1}) Herr Seehofer, die Reform des Bundespolizeigesetzes eignet sich nicht für unkoordinierte Testballons, die man nachher wieder einsammeln muss. Nun kommt die Große Koalition in der letzten Kurve dieser Legislaturperiode mit dem Gesetzentwurf. Einige schlechte Regelungen wurden dabei gestrichen; ja, das erkennen wir an. Und ja, es ist auch sinnvoll, dass die Bundespolizei nicht nur Vergehen, sondern auch Verbrechen in ihrem Zuständigkeitsbereich selbst bearbeiten kann. Aber warum benötigt sie dazu ein ganzes Set hochumstrittener Befugnisse? Warum wird hier wieder erneut die hochumstrittene Quellen-Telekommunikationsüberwachung eingeführt, gegen die mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig sind? Damit tun Sie auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keinen Gefallen, weil es hier einfach keine Rechtssicherheit gibt, meine Damen und Herren. ({2}) Befugnisse sind doch keine Trophäen für Behördenchefs, mit denen man sich irgendwie schmücken kann, sondern sie müssen sich an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und an den tatsächlichen Aufgaben orientieren. Anderes haben Sie dagegen nicht angepackt, wie zum Beispiel den § 22 Absatz 1a Bundespolizeigesetz zur Feststellung der unerlaubten Einreise. So wie dieser Paragraf aktuell im Gesetz steht, führt er in der polizeilichen Praxis zu falscher Anwendung, sodass es zum Beispiel zu Racial Profiling kommt, und das ist völlig inakzeptabel. ({3}) Stattdessen braucht die Bundespolizei eine echte rechtsstaatliche Kontrollbefugnis mit klaren Zulässigkeitsvoraussetzungen, sodass jede Polizistin und jeder Polizist ganz klar weiß, wann und wie solche Personenkontrollen möglich sind. Auch die betroffenen Personen könnten die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme wesentlich besser nachvollziehen. Fragen Sie mal bei der Gewerkschaft der Polizei; die werden Ihnen bestätigen: Der § 22 Absatz 1a in seiner heutigen Form ist für die polizeiliche Arbeit vollkommen ungeeignet und muss dringend reformiert werden. ({4}) Auch die Personalfrage ist nicht geklärt. Denn wir sollten ehrlich sein: Mit diesem Gesetz, mit neuen Befugnissen, neuen Kompetenzen wachsen selbstverständlich auch die Erwartungen an die Bundespolizei, und da sieht es angesichts von über 8 000 unbesetzten Stellen leider nicht gut aus. Meine Damen und Herren, es bleibt viel zu tun, aber nur sehr wenig Zeit in diesem Prozess. Das darf aber nicht zu Abstrichen bei der Qualität dieses Gesetzes führen. Herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Mathias Middelberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Auch ich möchte mich vorab herzlich bei den Kollegen aus den beiden Regierungsfraktionen bedanken, die an diesem Gesetzentwurf engagiert gearbeitet haben. Vor allen Dingen möchte ich unseren beiden Berichterstattern Uli Grötsch und Michael Brand ganz besonders und an erster Stelle danken. ({0}) Ausdrücklich danken möchte ich aber auch unserem Bundesinnenminister und dem Ministerium, das uns inhaltlich bestens unterstützt hat und am Ende auch geholfen hat, den konkreten Entwurf zu erstellen. Auch an das Ministerium herzlichen Dank! Einen ganz besonderen Dank möchte ich richten ({1}) an unsere 252 000 Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, die jeden Tag die Sicherheit an unseren 3 800 Kilometern Land- und 890 Kilometern Seegrenze, an 5 700 Bahnhöfen und an 14 großen Flughäfen in Deutschland sicherstellen. Sie leisten einen enormen Beitrag für die Sicherheit in diesem Land. Ich will nur einen Aspekt benennen: Die Bundespolizei ist die Fahndungspolizei in Deutschland. Die Bundespolizei hat 2019 18 200 offene Haftbefehle an den Grenzen des Landes vollstreckt, 50 Haftbefehle jeden Tag. Ohne die Bundespolizei wäre es in diesem Land um unsere Sicherheit deutlich schlechter bestellt. Deswegen einen herzlichen Dank an alle Bundespolizisten und ‑polizistinnen! ({2}) Wir haben die Bundespolizei personell deutlich besser ausgestattet. Wir haben aber auch die Polizeizulage um 40 Prozent angehoben, wir haben eine Prämie für besondere Einsatzbereitschaft eingeführt, und wir haben die Einstiegsbezüge für die Polizeianwärter angehoben. Aber – und das kam schon bei den drei Kollegen und Kolleginnen, die zuletzt gesprochen haben, zur Sprache – wir haben eine kleine Differenz im Haus, wenn es um das Thema Befugnisse geht. ({3}) Ich kann natürlich nicht nur sagen: „Ich will die Polizei besser ausstatten, ich will mehr Polizeibeamte“ – da sind wir uns wahrscheinlich, was viele Fraktionen hier im Haus angeht, einig –; ich muss am Ende auch ehrlich über die Frage der Befugnisse reden. ({4}) Wir haben über die Quellen-TKÜ gesprochen. ({5}) Da sage ich Ihnen ganz konkret – da sind Sie genau die richtige Adresse, Herr von Notz, Frau Mihalic; Sie sind nämlich nicht bereit, der Polizei die Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, die sie heute im digitalen Zeitalter einfach haben muss –: ({6}) Ich kann die Erkenntnisse nicht mehr mit einer traditionellen Telefonüberwachung gewinnen, bei der ich beantrage, den Festnetzanschluss zu checken; ich kann es auch nicht, indem ich SMS checke, ({7}) sondern ich muss an die heutigen Wege und Möglichkeiten der Kommunikation herangehen. ({8}) Und wenn ich fiese, miese Schleusernetzwerke habe, die auf dem Rücken von Menschen und unter Inkaufnahme von Menschenleben Leute über Grenzen – – ({9}) – Melden Sie sich doch gerne zu einer Frage, Herr von Notz. Ansonsten würde ich Sie auch um ein bisschen Disziplin in einer solchen Debatte bitten. ({10}) – Sie haben nicht das Wort, sondern Sie können sich melden. ({11}) – Dann bitte.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Noch erteilt der Präsident oder die Präsidentin das Wort.

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung! ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, bitte.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ganz herzlichen Dank. – Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie zulassen, dass ich eine Frage stelle.

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist wirklich ein Popanz, den Sie hier aufbauen, ein totaler Popanz. Niemand will hier die Bedeutung irgendwelcher Befugnisse kleinreden; aber es geht genau um das, was Sie sagen: um seriöse Politik. ({0}) Und die Wahrheit ist: Sie hökern hier mit hochsensiblen, verfassungsrechtlich hochproblematischen Instrumenten herum. ({1}) Sie regieren ja, Herr Middelberg; Ihre Fraktion regiert seit 15 Jahren. Wenn Sie jetzt hier heute erzählen würden, es gäbe Aufgaben, für die es bisher gar keine Instrumente gibt, dann würden Sie sagen: Die letzten 15 Jahre haben wir dabei versagt, der Bundespolizei diese Dinge zu geben. – Das würden Sie dann dokumentieren. Die Wahrheit ist: Sie sind mit den Instrumenten an der absoluten verfassungsrechtlichen Grenze. Und die Dinge, die Sie hier machen – das haben Sie in der letzten Zeit immer wieder gemacht –, sind weder praxistauglich noch verfassungskonform. Deswegen führen Sie hier solche Instrumente ein: weil eben nicht bestraft wird, wenn man in Karlsruhe verliert. Ich sage ja immer: Wenn man drei Klagen in Karlsruhe verliert, müsste es eigentlich zu Neuwahlen kommen. Dann wären Sie sehr viel vorsichtiger mit diesem Instrument. Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Popanz. – Stimmen Sie mir da nicht zu, Herr Kollege? ({2})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Bemerkung, Herr Kollege von Notz, die Sie am Ende noch als Frage formulieren konnten. ({0}) Nein, ich stimme Ihnen ganz ausdrücklich nicht zu, und ich will es Ihnen auch erklären. Natürlich ist der Bereich des Datenschutzes, die Grenzlinie, die bestimmt, inwieweit wir bei kriminellen Sachverhalten und zur Aufklärung sehr schwerer Straftaten, aber auch zur Verhinderung von sehr schweren Straftaten auf Kommunikation und damit auch auf Daten von Privatpersonen zugreifen dürfen, eine höchst sensible Grenze. Aber im Unterschied zu Ihnen verabsolutieren wir den Datenschutz nicht. ({1}) Wir sagen nicht: „Der Datenschutz ist die heilige Kuh, und neben dieser heiligen Kuh dürfen wir überhaupt nicht mehr tätig werden“, ({2}) sondern wir sagen: Der Datenschutz darf unter strengen Kriterien – je nachdem, wie hoch die Rechtsgüter sind, um die es geht – angetastet werden. Ich erinnere an den Lkw mit 71 Menschen, die erstickt vorgefunden wurden, zurückgelassen von Schleusern, von ganz üblen kriminellen Banden. Darum geht es jetzt konkret: dass wir denen auf die Spur kommen. Dazu müssen wir auch die Möglichkeit haben, auf deren Kommunikation zuzugreifen. Das gilt übrigens genauso für terroristische Netzwerke oder für rechtextreme Netzwerke. ({3}) Auch da bedarf es der Möglichkeit, auf deren Kommunikation zuzugreifen. Nur dann können Sie so ein Netzwerk aufdecken und enttarnen. ({4}) – Herr von Notz, jetzt bin ich an Ihrem Punkt. Jetzt können wir uns gerne über die technischen Möglichkeiten unterhalten. ({5}) Aber wir müssen auch die Realitäten betrachten: Die Leute telefonieren nicht mehr im traditionellen Verfahren über Festnetz, die trommeln auch nicht mehr wie früher oder geben Rauchzeichen, die schicken sich auch keine SMS mehr, sondern sie kommunizieren heute über die Wege, die viele von uns nutzen ({6}) und die auch Kriminelle nutzen, nämlich über WhatsApp und andere verschlüsselte Messengerdienste. Und jetzt können wir – und ich sage, das kann man in jedem Detail sorgfältig prüfen und auch hinterfragen – nicht einfach sagen: Wir greifen auf diese Kommunikation nicht mehr zu, das ist eine völlige Tabuzone. – Das ist für mich inakzeptabel. ({7}) – Dazu führt Ihre ablehnende Haltung aber. ({8}) – Doch. ({9}) Das ist das Ergebnis Ihres politischen Handelns, Herr von Notz. Das ist das Problem. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege Dr. Middelberg und lieber Kollege von Notz, bitte kommen Sie jetzt zum Ende. Sie haben ausreichend Zeit, im Ausschuss darüber zu debattieren.

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das setzen wir dann auch mit Freude dort fort. Ich kann nur sagen: Wenn wir Ihrem Kurs folgen würden, dann würden wir unsere Polizei, unseren Verfassungsschutz und alle anderen Sicherheitsinstitutionen in diesem Land blind machen, dann wären wir am Ende nicht mehr handlungsfähig. Ich will am Schluss einen Punkt erwähnen, der sich heute im Bundesrat ereignet hat: Da haben Sie als Grüne und auch die FDP die Regelung zur Bestandsdatenauskunft verhindert. ({0}) Das ist leider wieder ein Beitrag, um zu verhindern, dass das wichtige Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, bei dem es darum geht, im Internet – – ({1}) – Ja. Deswegen haben wir ja die Regelungen nachgebessert. Und diese Regelungen haben Sie jetzt blockiert. ({2}) Damit können wir das Gesetz zur Bekämpfung der Hasskriminalität weiterhin nicht ins Werk setzen. Und ich möchte, dass wir, wenn Leute im Internet Hasspostings machen, in Zukunft ermitteln können: Wer steckt hinter diesen Hasspostings? Dazu müssen wir auf IP-Adressen zurückgreifen können. Deswegen brauchen wir dieses Gesetz, und Sie verhindern das. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Sie versündigen sich damit an der Sicherheit und auch an dem politischen Diskurs in diesem Land. Sie beklagen es immer wieder, Herr von Notz, ({3}) Sie leisten aber keinen konstruktiven Beitrag. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Nachdem wir eben auf der Ebene des Verfassungsrechtes waren, komme ich in meinem Beitrag auf die Ebene der praktischen Arbeit. Schönefeld, Senftenberg, Stuttgart, Köln – was haben diese Orte gemeinsam? Ich will es Ihnen sagen: Sie haben Flughäfen und Bahnhöfe mit Bundespolizeidienststellen, wo zum Teil unzumutbare Arbeitsbedingungen herrschen: kein Tageslicht, Gestank von angrenzenden Toiletten, unzureichende Klimatisierung. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Wertschätzung, das ist keine Voraussetzung für effektives Arbeiten, und das werden wir ändern. ({0}) Dabei dürfte es das eigentlich gar nicht geben. In § 62 Bundespolizeigesetz steht, dass der Bundespolizei „erforderliche Diensträume“ zur Verfügung zu stellen sind. Nun ist das Problem: Was ist „erforderlich“? Alle, die Kinder haben, werden das wissen – mein beliebtes Beispiel –: Was ist ein aufgeräumtes Kinderzimmer? Auch darüber kann man sich trefflich streiten, und eben auch darüber, was „erforderliche Diensträume“ für die Bundespolizei bedeutet. Im vorliegenden Gesetzentwurf ist das Wort „erforderlich“ ein bisschen genauer beschrieben; aber klar definiert ist es immer noch nicht. Aber: Es ist hineingeschrieben worden, dass die Räume kostenfrei zur Verfügung zu stellen sind. Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir im Verfahren reden. Es geht hier um etwa 80 Millionen Euro im Jahr. Warum ist das so schwierig? Das ist so schwierig, weil wir zum einen in der EU festgelegt haben, dass die Flughäfen bis 2024 ohne Zuschüsse auskommen sollen, und weil die Bundesregierung zum anderen festgelegt hat, dass wir mehr Personenverkehr auf der Schiene haben wollen, und da ist es aus unserer Sicht kontraproduktiv, wenn wir durch diese Vorschrift die Kosten erhöhen. Es erschließt sich mir auch nicht, wie die Motivation, diese Situation zu verbessern, dadurch erhöht wird, dass wir den Betreibenden Gelder streichen. In diesem Zusammenhang gilt mein ausdrücklicher Dank dem deutschen Flughafenverband, der den Prozess begonnen hat, über diese Frage mit seinen Mitgliedsverbänden zu diskutieren, und auch der Deutschen Bahn AG, bei der ein Bewusstseinswandel eingesetzt hat. Aber wir wollen das Ganze beschleunigen, und wir wollen es vor allen Dingen verstetigen. Darum sollten wir bei den Beratungen über Klarstellungen von Standards von Räumen für die Bundespolizei reden und auch darüber, die Selbstkostenerstattung beizubehalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben doch ein gemeinsames Ziel: Unser Ziel ist, gute und erfolgreiche Arbeit der Bundespolizei dadurch zu unterstützen, dass wir besseres rechtliches Handwerkszeug zur Verfügung stellen, und auch dadurch, dass wir vernünftige Arbeits- und Aufenthaltsräume haben. Das wird dieses Gesetz leisten. Ich freue mich auf die Beratungen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon vor Jahren wollte die Regierung dem deutschen Staatsvolk die Entscheidung darüber, wer zu ihm gehören soll, aus der Hand nehmen. Zur Ermessenseinbürgerung trat eine weite Anspruchseinbürgerung. Deshalb sind die Bedingungen eines solchen Anspruchs besonders gut zu prüfen und für die von der Regierung geplanten noch viel größeren Migrationswellen wetterfest zu machen. Mit dem Globalen Migrationspakt soll Migration mit jedem erdenklichen Mittel erleichtert und forciert werden. Die Abnehmer eines solchen Angebots sitzen laut Umfrage südlich der Sahara in Größenordnungen von Hunderten von Millionen schon auf gepackten Koffern. ({0}) Will man verhindern, dass unsere staatlichen und gesellschaftlichen Kapazitäten überfordert werden, so ist von Anfang an darauf zu achten, dass sich die Antragsteller ökonomisch, sozial und kulturell hier integriert haben. Gegenwärtig ist es aber so, dass auch derjenige eingebürgert werden kann, der wegen einer Straftat verurteilt wurde, und auch derjenige, der gar nicht in der Lage ist, den eigenen Unterhalt zu bestreiten, wenn es denn dem öffentlichen Interesse oder der Vermeidung von Härten diene. Da sollen also harte Fakten, die eine Einbürgerung laut Gesetz eher nicht ratsam erscheinen lassen, durch ideologische Bewertungen diffuser Ermessensbreite überschrieben werden können, getreu der falschen Maxime „Staatsbürgerschaft führt zu Partizipation führt zu Integration“, wenn es sich in Wahrheit doch umgekehrt verhält: Integration muss Voraussetzung für die Erlangung der Staatsbürgerschaft bleiben. Man kann das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meine Damen und Herren. ({1}) Nun zu den Ansprüchen: Gegenwärtig soll selbst derjenige einen Einbürgerungsanspruch haben, der Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unterstützt hat, wenn er denn nur versichert, er habe sich davon abgewandt. Wieder sollen harte Fakten durch bloße Lippenbekenntnisse überschrieben werden können. Man hat offenbar noch nicht genug radikale Islamisten mit bereits erlangter deutscher Staatsangehörigkeit, die man dann nicht mehr loswerden kann, wobei man schon die jetzige hohe Zahl von Gefährdern gar nicht mehr überwachen kann und schon eine Einzelperson für ein Massaker wie auf dem Breitscheidplatz reicht. Laut einer Studie ist jeder zweite islamistische Attentäter in Deutschland als Flüchtling eingereist. Man fragt sich wirklich, was für Probleme dieser Gesetzgeber hatte, wenn er selbst noch für solch einen Personenkreis die Staatsbürgerschaft offengehalten sehen will. Interessenvertretung der deutschen Staatsbürgergesellschaft sieht anders aus. ({2}) Schauen wir auf weitere Anspruchsvoraussetzungen, etwa betreffend die Gefahr der Überlastung des deutschen Sozialstaats. Bei der ökonomischen Integration braucht es mehr als eine Momentaufnahme. Die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts sollte schon einige Jahre bestehen. Schließlich muss die ganze Party am Ende doch irgendwer bezahlen. Oder die sprachliche Verständigung innerhalb der Aufnahmegesellschaft – natürlich essenziell –: Da sollte schon ein Niveau vorliegen, das ermöglicht, die Hauptinhalte von Texten zu verstehen und sich so zu verständigen, ({3}) dass ein normales Gespräch ohne größere Mühe gut möglich ist, ({4}) also B2-Niveau und nicht nur B1. Man sollte hinzufügen: Politische Steuerungsmacht – Stichwort: Wahlrecht – sollte von der Fähigkeit getragen sein, den politischen Diskursen in Deutschland folgen zu können. Die Konditionen der Einbürgerung sind von diffusen Öffnungsklauseln durchlöchert wie ein Schweizer Käse; denn die Kriterien dieses ominösen „öffentlichen Interesses“ sind vermutlich ein weites Feld, das jeder Ideologie offensteht. Wofür steht denn zum Beispiel der neue Wunschkoalitionspartner der Union, die Grünen? Ein 2015 illegal immigrierter Syrer wird von ihnen in Oberhausen als Direktkandidat für den Bundestag aufgestellt. Er meint: Mit mir im Bundestag würde es nicht mehr nur heißen „Dem deutschen Volke“, sondern: „Für alle Menschen in Deutschland“. ({5}) Er selbst hat nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, weiß aber jetzt schon: Das Wahlrecht muss so geändert werden, dass alle hier lebenden Menschen wählen können. ({6}) Er steht damit exemplarisch für eine geplante Turboverleihung der Staatsbürgerschaft und verkörpert eine entsprechende allgemeine Politik der Grünen; denn Staatsbürgerschaft ist dann, was die politische Steuerungsmacht betrifft, vor allem Wahlrecht. Da will der Wunschpartner der Union hin, wir nicht, meine Damen und Herren. ({7}) Eine stabile Gesellschaft, die ihre Funktionsfähigkeit erhalten will, sollte ein Auge darauf haben, wie sich in ihr das Verhältnis der Anspruchsempfänger zur Gruppe der Leistungsträger entwickelt. In allen Dimensionen der Integration – ökonomisch, rechtlich, sprachlich, kulturell – müssen da doch vernünftige Mindeststandards gewährleistet bleiben. Davon ist Deutschland gegenwärtig leider weit entfernt. Das momentane Staatsbürgerschaftsrecht ist eher von realitätsblinder ideologischer Voreingenommenheit geprägt als von nüchterner Sachabwägung. Was wir brauchen, ist weniger selbstverliebte vorgebliche Gesinnungsethik als vielmehr nüchterne Verantwortungsethik. Was zu Tiefstpreisen verschleudert wird, erweckt den Eindruck: Was nichts kostet, ist nichts wert. – Die Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk sollte uns mehr wert sein, meine Damen und Herren. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie sahen von Herrn Curio gerade den Beleg, dass sich die Alternative für Deutschland nicht mit dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht in der Tiefe beschäftigt hat. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Es ist doch eigentlich traurig, dass wir hier wieder einen Nachmittag für Nachhilfe aufwenden müssen. Und – um die Erinnerungen der AfD an alte Debatten aufzufrischen –: Das ist eigentlich nicht das, was Anspruch an diese Debatten sein sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Gleichzeitig ist es aber so: Sie sprechen ein wichtiges Thema an, das Staatsangehörigkeitsrecht. Es ist natürlich so, es geht hier um das eigentlich höchste Recht, das wir als Staat zu verleihen haben: die Vollmitgliedschaft in unserer staatlichen Gesellschaft – mit allen Rechten und Pflichten. Ich sage Ihnen – das ist in Ihrem Vortrag, Herr Curio, völlig durcheinandergeraten –: Es geht beim Staatsangehörigkeitsrecht nicht zuallererst um die Frage des Aufenthaltsrechts, es geht auch nicht um die Frage, wer nach Deutschland kommen kann und wer nicht – darüber haben wir intensiv debattiert –, sondern es geht um die Frage: Wie gehen wir mit den Menschen um, die schon bei uns sind, sozusagen auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der staatlichen Gemeinschaft? Da muss man doch eines sagen – ich glaube, wir sollten uns über die Parteigrenzen hinweg einig sein –: Ein schöneres Kompliment kann man unserem Land doch eigentlich gar nicht machen, als dass man sagt: Ich möchte hier nicht nur Aufenthalt haben und hier leben, sondern ich möchte dazugehören, zu dieser Verfassungsgemeinschaft – mit allen Rechten und Pflichten. Deswegen muss man sagen: Migrationspolitisch ist es in unserem Interesse, dass die Leute nicht nur hier leben, sondern Teil dieses Staates werden. ({1}) Da sehen wir aber gegenüber der Position der Alternative für Deutschland einen grundsätzlichen Unterschied. Ich sage Ihnen: Es ist ein genuin patriotisches Anliegen, wenn man zum deutschen Staatsvolk gehören möchte. Das Grundgesetz ist da ganz klar, und es unterscheidet in seiner Gedankenwelt, es denkt anders, als Sie denken. Das Grundgesetz billigt nicht nur den patriotischen Wunsch von Björn, von Enrico und von Philipp, sondern auch den patriotischen Wunsch von Pawel, von Ibrahim und von Chen-Lu, Teil dieses deutschen Staates zu werden, und das ist unser Verständnis eines weltoffenen Patriotismus, meine Damen und Herren. ({2}) Ich habe Ihnen auch gesagt: Es ist an dieser Stelle offensichtlich nötig, die Erinnerungen der AfD ein bisschen aufzufrischen. Denn Sie fordern in Ihrem Antrag Dinge, die wir im Staatsangehörigkeitsrecht längst umgesetzt haben. Ich erinnere daran, dass unsere Regierungskoalition und die Fraktionen von CDU/CSU und SPD 2019 mit einer großangelegten Reform des Staatsangehörigkeitsrechts eigentlich einen neuen sicherheitspolitischen Goldstandard geschaffen haben. Wir haben einen rechtssicheren Ausschluss geschaffen für die Einbürgerung von Antragstellern in Mehrehen. Wir haben gesagt: Eine geklärte Identität ist die unverrückbare Voraussetzung für eine Einbürgerung. Und wir haben knallharte Voraussetzungen – zu Recht – geschaffen für eine Rücknahme der Einbürgerung von Identitätstäuschern. Das, was Sie fordern, haben wir an vielen Stellen längst umgesetzt. Das war gute und konkrete Regierungsarbeit, die wir betrieben haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Da muss man sich dann schon fragen: Wo waren Sie denn damals? Wieso kommen Sie jetzt hier zwei Jahre später um die Ecke mit irgendwelchen Vorschlägen? Da würde ich Ihnen nur empfehlen: Entweder aktualisieren Sie Ihre Anträge, oder Sie bringen sie dann ein, wenn wir über die Dinge diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Man muss natürlich auch sagen: Einiges schlagen Sie vor, was neu ist in der Debatte. Das sind in der Tat interessante Vorschläge. Da wird unter anderem vorgeschlagen: Diejenigen, die sich in Deutschland einbürgern lassen wollen, sollen dann zur Aushändigung der Einbürgerungsurkunde einmal die Nationalhymne singen. ({5}) Wissen Sie, ich habe ja gar nichts dagegen, wenn man die Nationalhymne singt; das finde ich eigentlich grundsätzlich gut. Aber spannend ist, wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben. In Ihrem Antrag schreiben Sie nämlich gar nicht erst „Nationalhymne“, sondern da weisen Sie zur Sicherheit noch mal darauf hin: die dritte Strophe des Deutschlandliedes. Das ist für einige in der AfD vielleicht auch wichtig, damit man sich nicht versingt. ({6}) Also, da muss man schon sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, im vollen Ernst: Bevor Sie von der AfD jetzt darüber fabulieren, was Sie von einbürgerungswilligen Ausländern verlangen, würde ich erst mal an Sie appellieren, sich zu fragen, ob Sie die Anforderungen selbst erfüllen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Amthor, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Amthor, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. Ich muss doch mal Ihren links-grün-schwarzen Arroganzlauf hier stoppen. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Viel Erfolg!

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie sprachen eben davon, dass es ein Kompliment ist, dass jemand die deutsche Staatsbürgerschaft haben will. Können Sie sich auch vorstellen, dass die deutsche Staatsbürgerschaft haben zu wollen kein Kompliment an die deutsche Bevölkerung ist, sondern, im Gegenzug, eine Migration, eine dauerhafte Einwanderung in unsere Sozialsysteme darstellt? ({0}) Wem wollen Sie unsere Staatsbürgerschaft verleihen? Ich habe jüngst, heute Morgen noch, gelesen: Ein Syrer mit 4 Frauen und 23 Kindern kostet den deutschen Steuerzahler schon jetzt im Jahr 400 000 Euro Alimentierung, ohne je einen einzigen Cent eingezahlt zu haben. Wollen Sie solchen Menschen unsere Staatsbürgerschaft hinterherwerfen? Kommen Sie in der Realität an! Setzen Sie Ihre schwarz-grüne Brille einfach mal ab, Herr Amthor!

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Keuter, ich danke Ihnen für den Hinweis, dass Sie nicht nur Ihre Unkenntnis im Staatsangehörigkeitsrecht, sondern auch die im Sozialrecht unterstrichen haben; ({0}) das wird nämlich in dieser Frage sehr deutlich. Und nicht nur das: Auch Zuhörschwäche scheinen Sie zu haben. Ich habe nämlich darauf hingewiesen, dass wir mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts eine Einbürgerung von Menschen in Mehrehe explizit ausgeschlossen haben. ({1}) Ich weiß nicht, was Sie für Zerrbilder haben. Niemand will solche Einbürgerungen. Das, was wir machen, ist konkrete Politik. Was Sie machen, ist oberflächliches Geschwätz, und das merken die Menschen. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch mal deutlich sagen: Bevor die AfD hier Vorschläge macht, wie man nun mit einbürgerungswilligen Ausländern umgeht, sollten Sie selbst hinterfragen, ob Sie die Voraussetzungen erfüllen. Da finde ich besonders spannend: Sie verlangen von allen Ausländern, die eingebürgert werden wollen, ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Total richtig! Das ist auch Praxis. Ich kann nur sagen: So ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung würde ich mir von manchen in Ihren Fraktionen befindlichen staatlich geprüften Rechtsextremisten wünschen. ({3}) Das ist doch die Realität. Was Sie hier aufführen, ist scheinheilig. Dann machen Sie weitere tolle Vorschläge: 60 Stunden Pflichtunterricht in politischer Bildung und Verfassungskunde. Auch das ist ein Vorschlag nicht nur für einbürgerungswillige Ausländer, sondern vielleicht auch für die AfD. Wenn Sie hier so weitermachen mit diesen Anträgen, haben Sie 60 Stunden Verfassungskunde von mir auch fast zusammen. ({4}) Das Problem ist nur, diese Lehrstunden sind in der Regel nicht wirksam. Deswegen ist auch dieser Antrag wie vieles, was wir von Ihnen in der Innenpolitik erlebt haben: schlecht, lückenhaft, sachlich falsch. Deshalb wird es unsere Zustimmung auch nicht finden. ({5}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zum Thema Staatsangehörigkeit sagen, jenseits des Antrags; denn es gibt Reformbedarf. Ich als Bundestagsabgeordneter, dem auch Parteitagsbeschlüsse wichtig sind, will sagen: Es bleibt mir persönlich ein Anliegen, dass wir in der nächsten Legislaturperiode eine Mehrheit dafür bekommen, den Doppelpass abzuschaffen. ({6}) Man kann nicht gleichzeitig für Dortmund und Schalke 04 spielen. Da wird es um politische Entscheidungen gehen. Für CDU und CSU bleibt das ein Thema. Ihren Antrag lehnen wir allerdings ab. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass das Staatsangehörigkeitsrecht ein sensibles Feld ist, auf dem immer wieder um Kompromisse gerungen wird, kann gar nicht verwundern, weil es eben um das wichtigste Statusrecht geht, um die größte, bedeutendste Rechtskreiserweiterung, die ein Rechtsstaat vornehmen kann. Deutschland ist ein tolerantes, weltoffenes Land mit einer bereichernden Einwanderungsgeschichte: im 17. und 18. Jahrhundert mit der Ansiedlung der Hugenotten in Preußen und in letzter Zeit, in unserer jüngsten Geschichte, natürlich vor allem mit dem Zuzug von Unionsbürgern, die durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union in unser Land gekommen sind. Mit der Einbürgerung werden Zuwanderer Teil des Staatsvolkes und dürfen an Wahlen teilnehmen und die politische Richtung unseres Landes mitbestimmen. Weil der demokratische Rechtsstaat kein Interesse daran hat, in relevantem Umfang ungeeignete Personen zu seinen Bürgern zu machen, darf und muss er dann die Einbürgerung an Voraussetzungen knüpfen. Diese Voraussetzungen – das sage ich in Richtung der Vertreter der AfD – müssen allerdings auch erreichbar und praktikabel sein, und sie dürfen nicht ins Unermessliche gesteigert werden. Wohlverstandener Patriotismus bedeutet bei diesem Thema: Für gut qualifizierte und integrationsbereite Einwanderer muss Deutschland ein Leuchtturm sein. ({0}) Deshalb gibt es für uns Freie Demokraten einige Eckpunkte bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes: Die Verleihung der Staatsangehörigkeit muss Ergebnis und Ziel einer gelungenen Integration in die deutsche Gesellschaft sein. Die Kriterien zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit müssen anspruchsvollen Maßstäben genügen. Wer sie erlangen möchte, muss sich ohne Wenn und Aber zu unserer Gesellschafts- und Staatsordnung bekennen. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist keine Vorleistung, kein Vorschuss für zukünftige Integrationsleistungen. Zudem darf es keine Rabatte bei den Anforderungen an Sprachkenntnisse, bei dem Bekenntnis zu und der Achtung vor unserer Werte- und Rechtsordnung und bei der Bestreitung des eigenen Lebensunterhaltes geben. Natürlich darf eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, keine Fehlanreize setzen. Deshalb müssen Identitätstäuschungen spürbare Konsequenzen haben. Der freiheitliche Rechtsstaat muss Regelungen auch für humanitäre Härten vorsehen, aber er darf sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Nach spätestens zwei Generationen sollten sich Einwanderer in der Regel für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind und eine Entscheidung für unser Land vorliegt, dann ist das ein Grund zum Feiern, und zwar nicht zaghaft und hinter verschlossenen Türen, sondern feierlich mit den Symbolen unseres Landes und unserer Verfassung, mit der Flagge, mit dem Singen der Hymne und auch mit der Übergabe eines Grundgesetzes und der jeweiligen Landesverfassung. Zu diesem sinnvollen Reformbedarf leistet Ihr Antrag keinen Beitrag, und deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Amthor hat schon recht: Man muss ja immer irgendwas finden, wie man diesen Debatten Sinn abgewinnen kann. Sie haben es für Nachhilfe benutzt. Ich weiß nicht, ob es was gebracht hat, aber ich wünsche es uns. Ich möchte die Debatte nutzen, um mal jemanden hier in den Raum zu zaubern, um den es geht. Ich nenne ihn mal Yusuf. Er wohnt seit vielen Jahrzehnten in meiner Heimatstadt. Er ist da in Vereinen aktiv. Ich glaube, er hat irgendein ganz normales Leben geführt. Er und seine Frau, sie haben Kinder großgezogen. Ich habe von manchen Sorgen erfahren; ich habe aber auch mitbekommen, wie stolz er auf das ist, was sie erreicht haben. Yusuf spricht mich immer persönlich an. Er meldet sich nie in öffentlichen Veranstaltungen, weil er sein Deutsch als zu schlecht empfindet. Er wohnt seit Jahrzehnten hier; aber er schämt sich, dass er die Sprache nicht kann. Ich persönlich finde: Für Scham ist da gar kein Platz; denn er hat in seinem Leben viel geleistet. Vielleicht hat er lange Jahre nicht gewusst, ob er überhaupt in diesem Land bleiben möchte, und natürlich gab es vor vielen Jahrzehnten all diese Unterstützungsangebote noch gar nicht, die wir heute kennen. Menschen wie Yusuf haben regelrecht Angst, auf diese Ämter zu gehen und eine Einbürgerung zu beantragen, weil sie nicht in hohem Alter wieder mit Nachfragen konfrontiert werden wollen, Prüfungen über sich ergehen lassen wollen. Ich finde es auch unangemessen, dass man ihnen das zumutet, insbesondere den Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus der ersten Einwanderergeneration. Es ist meine Überzeugung und es ist auch unsere Überzeugung, dass gerade für diese erste Generation die Hürden für die Einbürgerung ja keinesfalls höhergelegt werden dürfen, sondern dass sie heute schon zu hoch sind und dass wir sie abbauen müssten. Denn es muss unser Ziel sein, dass wir dann, wenn sie sich schon zu uns bekennen wollen, sagen: Das ist eine gute Entscheidung, sie tut unserer Gesellschaft gut, und das unterstützen wir. ({0}) Neben diesen formalen Hürden, die wir haben, gibt es aber auch eine andere Hürde, und das ist zum Beispiel eine Debatte wie diese, in der wiederholt Menschen aus anderen Ländern, mögen sie auch vor vielen Jahren gekommen oder schon in der soundsovielten Generation hier sein, immer wieder in Zusammenhang mit Kriminalität oder mit Sicherheitsrisiken gebracht und pauschal in eine Ecke gestellt werden. Dagegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir uns gemeinsam verwahren. Ich will dazu einfach sagen – ich glaube, ich kann hier für die breite Mehrheit dieses Hohen Hauses und auch für die breite Mehrheit unserer Bevölkerung sprechen –: Wer in diesem Land lebt, wer die Kriterien zur Einbürgerung erfüllt, wer den Schritt gehen möchte, sich voll zu uns zu bekennen und damit auch das Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können, der ist uns herzlich willkommen. Wir freuen uns über diese Entscheidung, und wir ermutigen zu dieser Entscheidung. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD möchte uns wieder mal ihre rassistische Hetze auf die Tagesordnung setzen. Mit Ihrem Antrag und Ihrem Gesetzentwurf zum Staatsangehörigkeitsrecht bedienen Sie erneut Ihren völkischen Nationalismus ({0}) und nichts anderes. Das sehen wir auch heute hier in dieser Debatte. ({1}) Zum Staatsangehörigkeitsrecht haben wir als Linksfraktion klare Positionen. Im Gegensatz zur AfD setzen wir uns für ein modernes Einbürgerungs- und Staatsangehörigkeitsrecht ein, das Einbürgerungen erleichtert und vor allem die Partizipation stärkt. Hier möchte ich auch noch mal darauf hinweisen, Herr Amthor: Aktuell erfolgen über 60 Prozent der Einbürgerungen unter Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit. ({2}) Doppelte Staatsangehörigkeit bzw. Mehrsprachigkeit ist nun mal Realität in vielen Teilen unserer Gesellschaft, europaweit und weltweit, und das sollte nicht problematisiert, sondern erleichtert werden. ({3}) – Nein, das ist kein Problem. Viele Kommunen und Bundesländer führen aktuell erfolgreich mehrsprachige Einwanderungskampagnen durch, und diese Kampagnen werden auch von den größten Migrantenselbstorganisationen unterstützt, die auch entsprechende Forderungen aufstellen. Wenn Migrantinnen und Migranten wie Sasa Stanisic, Gewinner des Deutschen Buchpreises und Autor, aufgrund der restriktiven Aufenthaltsregelungen und Einbürgerungsverfahren sagen, dass sie nach dem heute geltenden Recht nicht in Deutschland hätten bleiben dürfen, dann ist das ein Alarmsignal. Denn Migrantinnen und Migranten wie Sasa Stanisic liefern im Gegensatz zur AfD einen wichtigen Beitrag für unsere vielfältige Gesellschaft. ({4}) – Natürlich. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf von einem vermeintlichen Zerfall der Wertebasis sprechen, wird deutlich, dass Sie am völkischen Nationalismus hängen geblieben sind. ({5}) Wenn hier irgendwelche Werte zerfallen, dann, weil Sie weiterhin zu Hess und Hatze aufrufen. ({6}) – Hass und Hetze. Und Fratze, wie Sie. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass Einbürgerungswillige nicht durch verfassungsfeindliche Handlungen jeglicher Art auffällig geworden sein dürfen. Interessant, denn Sie alle hier und die meisten bzw. ein größerer Teil Ihrer Parteimitglieder würden ja nach Ihren eigenen Regelungen an einer Einbürgerung scheitern. ({7}) – Natürlich. – Alleine die Formulierung „Die Entscheidung, wer zu einem Staatsvolk gehören soll, muss mit der Überlegung einhergehen, wer willens und fähig ist, für ein Land Verantwortung zu übernehmen und sich gut zu integrieren“ zeigt, dass diese Fähigkeit Ihrer Ansicht nach bestimmten Gruppen komplett abgesprochen werden soll. ({8}) Wer soll denn hier überhaupt darüber entscheiden? Sie etwa? Alte weiße Männer mit Hundekrawatten sicher nicht. Davon hatten wir ja genug. ({9}) Ihr Papier zum Staatsangehörigkeitsrecht, das Sie zum Jahresbeginn aus Angst vor einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz vorgelegt haben, kann und wird Ihre völkische Ausrichtung nicht überdecken. Mit Ihrem heute aufgesetzten Antrag machen Sie deutlich: Sie stehen weiterhin zu einem völkischen Staatsangehörigkeitsverständnis. ({10}) Übrigens sollten Sie bedenken, dass das völkische Staatsangehörigkeitsverständnis –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– für das Bundesverfassungsgericht ausschlaggebend war, die Verfassungsfeindlichkeit der NPD 2017 festzustellen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Akbulut, Sie müssen den Schlusspunkt setzen.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir hoffen, dass es bei Ihnen nicht so lange dauern wird. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, sich einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen. – Das Wort hat die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Deutschland schon immer als Einwanderungsland gesehen, dessen offene Gesellschaft seine Einheit nur in Vielfalt entfalten kann – eine Überzeugung, der sich viele in diesem Haus nur mühsam annähern konnten und können. Einige in diesem Haus bleiben sogar gänzlich im völkisch-nationalistischen Denken verhaftet. Das Deutschland von heute findet langsam, aber stetig zu einem neuen Selbstverständnis als Einwanderungsland. Beispielhaft stehen hierfür sicherlich die bisherigen Auseinandersetzungen um das Staatsangehörigkeitsrecht. Meine Damen und Herren, in Deutschland wurde mit der ersten großen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zur Jahrtausendwende Rechtsgeschichte geschrieben. Das, ja, noch aus der Kaiserzeit stammende Blutsrecht wurde durch das Bodenrecht ergänzt – ein großer Erfolg der damaligen rot-grünen Bundesregierung, aber auch ein unglaublicher Kraftakt, meine Damen und Herren. ({0}) Denn diese Reform wurde von einer schmerzvollen Stimmungsmache begleitet – schmerzvoll für viele Einwanderungsfamilien. Parolen wie die des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rüttgers „Kinder statt Inder“ oder die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft von Roland Koch lösten ein großes Trauma für meine Generation von Zuwandererkindern aus. So was darf sich nicht wiederholen, meine Damen und Herren. ({1}) Statt das Staatsangehörigkeitsrecht weiterzuentwickeln, erleben wir in den letzten Jahren leider einen traurigen Rollback. Vor allem die Frage der zwingenden Identitätsklärung, eine vermeintlich selbstverständliche Frage, wird immer zum Politikum hochstilisiert, weil sie eben etwas komplexer ist, als es zu sein scheint. Gerade für Geflüchtete kann nämlich der Nachweis der Identität erhebliche Schwierigkeiten bedeuten, wenn nicht sogar eine ausweglose Situation darstellen. Deshalb ist es auch nicht hinnehmbar, dass Geflüchtete nur dann anerkannt und perspektivisch auch eingebürgert werden sollen, wenn sie nach der Flucht noch ihre Geburts-, Heirats- und Ausweisurkunden, am besten noch notariell beglaubigt oder ordentlich zusammengefaltet, auf einem gefährlichen Fluchtweg sicher verwahrt, vorweisen können. ({2}) Dass Recht und Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen, hat deshalb auch das Bundesverwaltungsgericht anerkannt. Dabei ist klar, dass es für Kriegsflüchtlinge, deren Pass nicht mehr existiert und die keinen Kontakt mit ihrem Verfolgerstaat aufnehmen können und müssen, Ausnahmetatbestände im Staatsangehörigkeitsrecht geben muss, damit ihnen die Einbürgerung nicht dauerhaft versperrt bleibt, meine Damen und Herren. Wenn im Aufenthaltsrecht die Möglichkeit besteht, dieser Beweisnot bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Rechnung zu tragen, muss das genauso im Staatsangehörigkeitsrecht gelten und darf auch nicht unterwandert werden, meine Damen und Herren. ({3}) Wer das Staatsangehörigkeitsrecht endgültig in dieses Jahrtausend heben, wer das Versprechen einer pluralen Demokratie einlösen möchte, sollte sich deshalb uns anschließen und nicht den Ewiggestrigen. Meine Damen und Herren, in einem modernen Einwanderungsland ist die Staatsangehörigkeit kein Geschenk, sondern – Herr Amthor, Sie haben es gesagt – es ist das essenzielle Recht, dazuzugehören, und, wie Hannah Arendt einst treffend formulierte, das Recht, Rechte zu haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Volker Ullrich hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Staatsangehörigkeitsrecht vermittelt eine besondere Bindung an den Verfassungsstaat. Für uns ist klar, dass die deutsche Staatsbürgerschaft nicht zu Beginn, sondern am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses steht. Aber dies ist in den Voraussetzungen der sogenannten Anspruchseinbürgerung bereits geregelt. Die Voraussetzungen sind: ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, acht Jahre Aufenthalt in Deutschland, ausreichende Deutschkenntnisse, die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt selbst zu sichern, das Bestehen eines Einbürgerungstestes, das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und keine Verurteilung wegen einer Straftat. Das alles ist geltendes Recht. Es ist falsch und widerwärtig, so zu tun, als ob das nicht geltendes Recht wäre. Aber dieser Geist spricht aus Ihrem Antrag. ({0}) Wenn ich Ihren Antrag lese, dann sehe ich: Sie sprechen von Vorgängen an der griechisch-türkischen Grenze im März 2020, von Massenmigration, von Flüchtlingsströmen. Die Frage, die erlaubt sein muss, ist: Was haben die Vorkommnisse an der griechisch-türkischen Grenze mit der deutschen Staatsangehörigkeit zu tun? Die Antwort ist: nichts. ({1}) Aber Sie schreiben es in den Antrag rein, um immer die gleiche Leier zu spielen, nämlich bei jedem Thema auf Ihr Lieblingsthema zurückzukommen und Angst zu schüren vor Flüchtlingen und vor Migration. Das ist ein falsches Spiel. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({2}) Lassen Sie uns auf die Zahlen der Einbürgerungen sehen. ({3}) Im Jahr 2019 waren es 128 900 Einbürgerungen in Deutschland. Die Zahl ist leicht gestiegen im Vergleich zu den Vorjahren; da waren es immer etwa um die 100 000 Einbürgerungen pro Jahr. 100 000 Einbürgerungen im Jahr ist etwas über ein Promille unserer Bevölkerung – um noch mal darzustellen, um welchen Bereich es sich hier handelt. Die höchste Zahl der Eingebürgerten waren Menschen mit ehedem türkischer Staatsangehörigkeit, 16 200 Menschen, zum allergrößten Teil Menschen, ({4}) die seit vielen Jahrzehnten hier wohnen und Steuern gezahlt haben. Das darf auch bei dieser Debatte nicht vergessen werden. Die zweitgrößte Anzahl an Menschen, die sich einbürgern haben lassen, waren Menschen aus Großbritannien, 14 600 Einbürgerungen. Das hat auch was mit der Flucht vor dem Brexit zu tun. Sie als deutsche Brexit-Partei sind ja in einer besonderen Rolle diesbezüglich. ({5}) Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan hingegen machten etwa 10 Prozent der Eingebürgerten aus. Das heißt also: Das alles, was Sie in Ihrem Antrag als – angebliche – Tatsache anführen, hat mit der Realität nichts zu tun. Ihr Antrag ist schlichtweg Fake News, meine Damen und Herren. ({6}) Ich möchte noch auf zwei Dinge eingehen, zum einen auf die Frage: Wie überreichen wir in unserem Land die Einbürgerungsurkunde? Ich glaube, darüber können wir trefflich streiten. Ich meine, dass die Zeit vorbei sein sollte, wo sie einfach per Posturkunde zugestellt wird. Man sollte durchaus kleine Feierlichkeiten abhalten, auch nach Corona. Aber es ist niemand gezwungen, die Hymne in den Amtsstuben, wie Sie es als nötig suggerieren, zu singen. Entscheidend ist der Respekt vor den Symbolen der Republik, der Respekt vor der Verfassungsordnung, der Respekt vor einem weltoffenen und toleranten Deutschland. Diesen Respekt können wir mit Fug und Recht einfordern. Aber dieser Respekt wird gelebt durch ein Miteinander, in dem wir uns alle als Menschen begreifen, die diesen Staat erbauen wollen, und nicht als Menschen, die diesen Staat spalten möchten, meine Damen und Herren. ({7}) Deswegen, abschließend gesagt: Ich meine, dass das jetzige Staatsangehörigkeitsrecht Ergebnis der Entwicklung von intensiven Diskussionen war. Es macht den Menschen, die Staatsbürger werden wollen – das ist zu Recht ein Kompliment für uns –, ein gutes Angebot, aber ein Angebot auf der Basis des Verfassungsstaates und unter Respekt und Anerkennung unserer Werteordnung. Ihr Antrag lässt das vermissen. Deswegen werden wir ihn ablehnen. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Yüksel für die SPD-Fraktion. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren vor den Bildschirmen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neue Sitzungswoche, neue Anträge der AfD, natürlich wieder gespickt mit Fremdenfeindlichkeit und Misstrauen. ({0}) Ich bin Tochter eines Gastarbeiters. Ich lebe seit über 50 Jahren hier in Deutschland und engagiere mich auch seit vielen Jahren politisch. ({1}) Was Sie in dieser Legislaturperiode an Anträgen einbringen, ist menschenverachtend und einfach unfassbar. ({2}) Eine derartige Boshaftigkeit ist mir auf meinem Weg noch nicht begegnet. Sie schaden unserem Land, indem Sie versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten. Sie schaden unserer Demokratie und unserem Ansehen in der Welt mit Ihren fremdenfeindlichen Äußerungen. ({3}) Sie fordern hier ein schriftlich abzugebendes Bekenntnis, das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu achten. Sieht man sich allerdings die Meldungen des Verfassungsschutzes an, stellt man fest, wer hier tatsächlich Probleme mit der Treue zum Grundgesetz und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hat, nämlich Ihre Parteimitglieder. Ich empfehle Ihnen im Hinblick auf das Bekenntnis zum Grundgesetz, zunächst einmal vor Ihrer eigenen Haustüre zu kehren. ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wirklich erstaunlich, seit wie vielen Jahren wir hier über das Staatsangehörigkeitsrecht diskutieren. Dabei wird immer wieder behauptet, Doppelstaater könnten einem Staat gegenüber nicht in demselben Maße loyal sein wie Menschen mit nur einem Pass. Das ist falsch. Bin ich meinem Land, Deutschland, gegenüber nicht loyal, weil ich meine türkische Staatsbürgerschaft behalten möchte? Sind die vielen Millionen Menschen, die Doppelstaater sind, unserem Land, Deutschland, gegenüber nicht loyal? Doch, das sind sie. ({5}) Sie alle leisten ihren Beitrag in unserem Land, Deutschland. ({6}) – Vielleicht halten Sie einfach mal den Mund und hören zu. Dann lernen Sie vielleicht auch mal was dazu. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer es mit der Integration ernst meint ({8}) und es nicht nur für parteipolitische Spielchen missbrauchen will, sollte alles daransetzen, auch diesen Menschen in unserem Land gleiche Rechte und Pflichten einzuräumen. ({9}) Gelungene Integration setzt sich aus vielen Puzzleteilen zusammen, und die Staatsbürgerschaft ist ein entscheidender Teil davon. Das zeigt zum Beispiel ein Blick nach Schweden; der Besitz von zwei Pässen wird dort nicht als Problem gesehen, sondern vielmehr als Beitrag zur Integration. ({10}) Mehrstaatigkeit ist in Deutschland, in Europa und in der Welt seit vielen Jahren Realität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir die Mehrstaatigkeit für alle, die die Voraussetzungen erfüllen, möglich! So schaffen wir ein Zugehörigkeitsgefühl; ({11}) denn diese Menschen sind ein Teil Deutschlands. ({12}) Herzlichen Dank – und bleiben Sie weiterhin gesund. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland so viele Pakete verschickt wie nie zuvor. In Zeiten des Lockdowns wurde jedem deutlich, wie systemrelevant ein funktionierendes Zustellnetz für Postdienstleistungen ist und wie wichtig die Beschäftigten in diesem Bereich für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sind. Wenn wir sie nicht hätten, wäre Onlinehandel unmöglich; Versorgung und Teilhabe wären deutlich eingeschränkt. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle zuallererst bei all jenen Menschen bedanken, die all das möglich machen. Es sind jene Briefträgerinnen und Briefträger, die für die Postdienstleister in Deutschland unterwegs sind. Es sind die Menschen, die Pakete an jeden noch so entlegenen Ort dieser Republik bringen, egal ob Lockdown oder neuerdings Flockdown. Danke für diesen großartigen Einsatz! ({0}) Während die Paketsparte durch Corona einen Boom verzeichnet, nimmt die Briefmenge stärker ab als sonst. Die Unternehmen rechnen mit einem Rückgang um bis zu minus 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit gehen die Briefmengen mehr als doppelt so stark zurück als sonst im Zuge der Digitalisierung. Doch es gibt auch Ausreißer aus diesem Trend – Überraschung! –: die Postkarte. Allein die Deutsche Post hat im Dezember 11 Prozent mehr Postkarten zugestellt als im Vorjahresmonat, obwohl die Menschen deutlich weniger reisen. Es zeigt: Das geschriebene Wort besitzt auch in der digitalen Welt noch einen hohen Wert. Die digitale Welt. Auf sie wollten wir die Regulierung des Postmarktes ausrichten, nachdem das Postgesetz in den letzten Jahrzehnten keine Generalüberholung erfahren hat. Was nun hier vor uns liegt, ist – zugegeben – nicht der große Wurf, auf den sich Union und SPD im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Nach mehr als 20 Jahren wollten wir das Postgesetz an die Herausforderungen der digitalen Welt anpassen. Das wird uns in dieser Legislaturperiode nicht gelingen. Die Kapazitäten des Wirtschaftsministeriums wurden angesichts der Coronakrise verständlicherweise auf die Bekämpfung der schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Republik gebündelt. Wir müssen feststellen: Auch Gesetzesvorhaben können einer Pandemie zum Opfer fallen. Der Referentenentwurf eines möglichen Postgesetzes, der Mitte des vergangenen Jahres kursierte, zeigt, dass die bisherigen Planungen noch zu wenig ambitioniert, zu wenig innovativ, zu wenig ausgerichtet auf den digitalen Wandel waren und vor allem nicht abgestimmt auf eines der größten Digitalisierungsprojekte des Staates. Denn das Onlinezugangsgesetz schreibt vor, dass der Großteil der Behördendienstleistungen ab Ende 2022 digital abgewickelt werden muss. Mit dieser Maßnahme wird die Briefmenge erheblich sinken; denn ein nicht unerheblicher Teil der Briefe ist Behördenpost. Um diesen tiefgreifenden Wandel zu gestalten, brauchen wir eine breite Diskussion mit der Branche und in der Bevölkerung, für die uns schlicht die Zeit wegläuft. Doch diese Diskussion ist nötig, wenn wir sicherstellen wollen, dass auch in Zukunft Postkarten in jedem Winkel der Republik versandt und empfangen werden können. Gründlichkeit vor Schnelligkeit! Bei den Änderungen, die wir heute vornehmen, muss es allerdings doch schnell gehen. Denn seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom Mai 2020 ist das aktuelle Portoregime nicht mehr rechtskonform. Die Richter haben beanstandet, dass die zur Berechnung des Portos vorgenommene Vergleichsmarktbetrachtung sowie die von der Bundesnetzagentur vorgenommene Lastenallokationspraxis zwar in der Postdienstleistungsverordnung verankert sind, jedoch nicht von den Vorgaben des Postgesetzes gedeckt sind. Was wir nun machen, ist Folgendes: Wir beheben diesen Mangel. Wir tun das, was das Gericht uns aufgetragen hat. ({1}) Dass wir die Änderungen an ein Gesetzesvorhaben des Bundesrates anhängen, ermöglicht uns, schnell zu agieren. Das Gesetz zur Verbesserung der Strafverfolgung hinsichtlich des Handels mit inkriminierten Gütern unter Nutzung von Postdienstleistern ist nicht nur thematisch verwandt; es verfolgt auch ein ebenso legitimes Ziel: Künftig sollen Beschäftigte von Postdienstleistern verpflichtet werden, verdächtige Postsendungen bei den Strafverfolgungsbehörden vorzulegen. Damit sind Sendungen gemeint, die zum Beispiel gegen das Betäubungsmittelgesetz oder gegen Waffengesetze verstoßen. Damit bringen wir Licht ins Darknet und bekämpfen offensichtliche Gesetzesverstöße. ({2}) Doch wir stärken mit diesem Gesetz nicht nur die Sicherheit und schaffen Rechtssicherheit; wir verbessern auch den Verbraucherschutz und fördern den Wettbewerb. Diese beiden Punkte sind vor allem dem Einsatz der Parlamentarier zuzurechnen. Wir, lieber Falko Mohrs und lieber Jan Metzler – da danke ich euch ganz herzlich –, haben uns behauptet und einen guten Kompromiss gefunden. Auch wenn die große Postreform ausfällt, so können wir neben dem Abbau von Bürokratie bei der förmlichen Zustellung immerhin zwei wichtige Aspekte in der jetzigen Reform unterbringen: Erstens. Künftig sind alle Unternehmen, die Postdienstleistungen anbieten, verpflichtet, am Schlichtungsverfahren der Bundesnetzagentur teilzunehmen. Wie nötig das ist, zeigen die Zahlen. Im Jahr 2020 verzeichnete die Bundesnetzagentur einen deutlichen Anstieg, doch die Hälfte dieser Verfahren endete ohne Ergebnis; denn einige Postdienstleister haben sich verweigert, daran teilzunehmen. So leicht kommen sie künftig nicht mehr davon. Zweitens haben die Regierungsfraktionen darauf gepocht, dass der Verbraucherschutz nicht nur durch klare Regeln, sondern vor allem mit mehr Wettbewerb gestärkt wird. Deswegen wird die Preis-Kosten-Scheren-Prüfung etabliert. In der öffentlichen Anhörung wurde sehr deutlich, wie dankbar die Wettbewerber der Deutschen Post AG auf den Briefmärkten für diese Änderung sind. Dieser Wettbewerb soll einen leistungsfähigen Briefmarkt in Deutschland sicherstellen, und damit garantieren wir, dass in Zukunft in jedem Winkel der Republik im wahrsten Sinne des Wortes die Post abgeht. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kotré für die AfD-Fraktion. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist absehbar, dass insbesondere die Paketdienstleistungen an Bedeutung gewinnen werden. Wir sehen das mit einem lächelnden und einem weinenden Auge; denn der stationäre Einzelhandel leidet unter dieser Entwicklung, einer Entwicklung, die leider durch die schändlichen Maßnahmen im Zuge des Lockdowns auch noch befördert wird, meine Damen und Herren. Die Deutsche Post hat die Aufgabe der Daseinsvorsorge, und eine verlässliche Grundversorgung der Postzustellung in alle Regionen ist unabdingbar. Deshalb ist das Unternehmen teilweise geschützt und indirekt auch subventioniert. Jeder in der Fläche muss seine Post bekommen können. Die Deutsche Post weist zu Recht darauf hin, dass sie ältere Verpflichtungen aus der Zeit vor der Liberalisierung hat, die sie schultern muss, und höhere Entgelte, Tarife und Wettbewerbsvorteile sind dort, wo unrentable Leistungen abgefordert werden, verständlich. Aber das bringt, wie wir in der Anhörung gehört haben, natürlich immer wieder Streit mit den Wettbewerbern mit sich. Wo genau ist der Punkt, an dem Interessensausgleich stattfindet? Wie hoch darf das Porto sein, um die unrentablen Leistungen abzudecken? Und welche Berechnungsgrundlage ist die richtige: Kapitalverzinsung oder Unternehmensvergleiche? Wie dem auch sei. Die Portoerhöhung 2019 – es wurde ja schon gesagt – ist gerichtlich für unrechtmäßig erklärt worden; für die Berechnung habe es die entsprechende Grundlage nicht gegeben. Das ist eben leider auch kein Einzelfall; das war 2016 ähnlich. Die Portoerhöhung bestimmt die Bundesnetzagentur, also indirekt auch die Bundesregierung, und an dem Gewinn ist auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Das ist natürlich schon ein strukturelles Problem. Das führt uns zu der Frage, ob es nicht ökonomisch sinnvoller und auch fairer ist, hier Alternativen zu finden. Ist es denn wirklich klug, immer auf Unternehmensebene nachzujustieren, immer wieder zu diskutieren, welche Tarife, Steuererleichterungen oder anderen Vorteile in welcher Höhe und Ausprägung gerechtfertigt sind? Nein, meine Damen und Herren, das muss so nicht sein. Da müssen einfach andere Mechanismen her. Ich denke da zum Beispiel an Gebietsausschreibungen. Wenn für spezifizierte Gebiete eine Lizenz vergeben wird und als Bedingung an diese Lizenz geknüpft wird, dass das Gebiet in Gänze abgedeckt werden muss, dann wäre das zum Beispiel eine mögliche Lösung. Die entsprechenden Vorbilder haben wir ja bei der Verlegung von Glasfaser. ({0}) Aber ich bin bei dieser Bundesregierung skeptisch, was Alternativen anbelangt, die zum Besseren führen können. Sie hat kaum Reformwillen; wir haben es hier heute gehört. Das liegt nicht nur an Corona, sondern es zieht sich durch die Jahrzehnte der Arbeit der Bundesregierung, dass große Reformen, die notwendig wären, überhaupt nicht mehr angefasst werden. Unser Rentensystem erodiert; wir haben explodierende Gesundheitskosten; die Sozialhilfe, also Hartz IV, ist ohne Jobanreiz; die Energiewende ins Nichts kostet uns Milliarden; die Digitalisierung ist sträflich vernachlässigt worden; der Mittelstand schrumpft; wir haben stagnierende Produktivität. ({1}) Also, Sie sehen: ein weites Feld von Themen, wo wir ansetzen müssten und wo leider nicht angesetzt wird. ({2}) Diese Aufzählung ist nicht abschließend, zeigt aber, dass ich an dieser Stelle im Detail und leider eben auch im Großen und Ganzen skeptisch bin. Meine Damen und Herren, es wird Zeit für eine Wende, Zeit für die Abwahl dieser Großen Koalition. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Falko Mohrs für die SPD-Fraktion. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben alle tagtäglich, wie wichtig es ist, eine funktionierende Post in der Fläche zu haben. Briefe und Pakete werden bei uns zu Hause in den allermeisten Fällen sehr zuverlässig, sehr freundlich, sehr kompetent ausgetragen. Es ist wichtig, dass es wirklich eine Daseinsvorsorge im gesamten Land gibt, die funktioniert. Wir erleben das auch bei schwierigen Wetterlagen, bei Schnee, Eis und Minusgraden wie in den letzten Tagen; wir erleben das bei Wind und Wetter. Das ist die Leistung vieler Austrägerinnen und Austräger und Postboten in diesem Land. Deswegen schließe ich mich an dieser Stelle dem Dank von eben ausdrücklich an – ich glaube, im Namen von uns allen –: Herzlichen Dank für das, was Sie jeden Tag für uns auf den Straßen des Landes leisten! ({0}) Aber die Post und die ganzen Postdienstleistungen in der Summe sind großen Veränderungen unterworfen. Auf der einen Seite haben wir zunehmende Paketmengen, auch getrieben durch den Onlinehandel, der weiß Gott nicht nur positive Seiten hat; aber er treibt eben insbesondere die Zustellung von Paketen nach oben. Gleichzeitig erleben wir, dass gerade die Menge der Briefe auch im Zuge der Digitalisierung deutlich abnimmt. Wenn man sich allein die letzten drei Jahre anschaut, stellt man fest, dass es alleine bei der Deutschen Post in 2020 2,4 Milliarden Briefsendungen weniger gab als 2017. Das zeigt doch, meine Damen und Herren, dass wir bei der Post und im gesamten Postdienstleistungsbereich eine große Herausforderung vor uns haben, nämlich wie wir die Daseinsvorsorge, die wir in der gesamten Fläche des Landes brauchen, auf diese neuen Herausforderungen zuschneiden. Das ist eine große Aufgabe, die wir uns mit einer großen Postgesetznovelle vorgenommen haben. Ich muss schon sagen: Ich finde es durchaus unbefriedigend, dass es uns in dieser Wahlperiode nicht gelungen ist, diesem Anspruch, den wir uns im Koalitionsvertrag auferlegt haben, gerecht zu werden. Das muss man, glaube ich, auch eingestehen. Aber – der Kollege Durz hat es gesagt – das liegt eben daran, dass wir mit dem Referentenentwurf, der aus unserer Sicht die Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung nicht ausreichend beantwortet hat, und aufgrund dessen, dass Kapazitäten wegen Corona nicht zur Verfügung standen, nicht in der Lage waren, mit dem Bundeswirtschaftsministerium zusammen diese Aufgabe zu schultern. Aber, meine Damen und Herren, wir machen heute etwas nicht weniger Wichtiges, auch wenn es eine kleine Postgesetznovelle ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat uns nämlich aufgetragen, die Grundlage dafür, wie das Porto bestimmt wird, zu ändern. Das darf eben nicht mehr alleine durch eine Verordnung geregelt werden, sondern muss in einem Gesetz festgeschrieben werden. Jetzt kann man fragen: Ist es von der Sache her richtig, dass wir das, was bisher in der Verordnung stand, jetzt im Gesetz regeln? – Da muss man sagen, meine Damen und Herren: Ja, das ist richtig, und zwar ganz ausdrücklich. Denn wir müssen verhindern, dass gerade auf dem Rücken der vielen Millionen Briefträgerinnen und Briefträger, für die Sie alle – fast alle – hier eben Applaus geklatscht haben, ein Preiskampf ausgetragen wird, weil das Porto am Ende nämlich – es ist eine Verhandlungssituation – zu einer verdammt schwierigen Situation bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern führt. Wir haben bei der Post einen Generationenvertrag, mit dem wir sicherstellen, dass gerade auch ältere Kolleginnen und Kollegen, die diesen Herausforderungen nicht mehr jeden Tag gewachsen sind, früher aus dem Unternehmen ausscheiden können. Wir haben mit höheren Löhnen und mit den Aufgaben eines Universaldienstes, aber auch hinsichtlich der Pensionen und Renten eben auch alte Verpflichtungen aus Zeiten der Bundespost. Deswegen war es ja auch dem Vertreter von Verdi in der Anhörung in dieser Woche besonders wichtig, in der ersten Wortmeldung darauf hinzuweisen, dass der Maßstab, den wir hier festlegen – effiziente Kosten und ein vernünftiger Gewinnaufschlag – und der im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ermittelt werden kann, eine gute, richtige und wichtige Botschaft für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Postbereich ist. Das, was wir hier vornehmen, ist gut und wichtig. ({1}) Wir tun mit dieser Novelle aber auch etwas für den Wettbewerb; ich nenne die sogenannte Preis-Kosten-Schere. Gerade im Briefbereich gibt es für die Wettbewerber ein über Jahre hinweg immer wieder vorgetragenes Anliegen, dem hiermit nachgekommen wird, damit die Kolleginnen und Kollegen im Wettbewerb einen besseren, leichteren Zugang zum Postnetz haben. Gleichzeitig haben wir etwas für die Verbraucherinnen und Verbraucher getan; denn der ganz überwiegende Teil der Postdienstleister in diesem Land ist nicht zu einer Schlichtung bereit. Das heißt, wenn eine Briefsendung verloren geht und ich als Verbraucherin oder Verbraucher einen ideellen oder auch kleineren Wertverlust zu beklagen habe, der es am Ende vielleicht nicht rechtfertigt, vor Gericht zu ziehen, weswegen ich eine Einigung mit dem Postdienstleister anstrebe, dann ist es eben wichtig, ein vernünftiges und verbindliches – und zwar für alle verbindliches – Schlichtungsverfahren zu haben. Das wird mit diesem Postgesetz Realität. Daneben haben wir an einigen Stellen auch Bürokratie abgebaut, indem zum Beispiel die Entgelte für die förmlichen Zustellungen im Vorfeld nicht mehr genehmigt werden müssen – außer für den Marktbeherrscher. Wir haben also ein wichtiges Paket für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Post geschnürt, wir haben etwas für den Wettbewerb getan, und wir haben etwas für die Verbraucherinnen und Verbraucher getan. Das ist zwar nicht der große Wurf, den wir uns vorgenommen haben, aber das ist ein verdammt wichtiger Wurf, der heute mit diesem Gesetzentwurf hier in den Bundestag eingebracht wurde und den wir heute auf der Grundlage eines Antrags aus dem Bundesrat – aus dem Land Hessen – verabschieden werden. Insofern: Ich bin zufrieden mit dem, was wir hier machen, und ich würde mich freuen, wenn wir hier eine breite Zustimmung bekommen würden. Allen, die heute nicht zustimmen, gebe ich einfach mal auf, sich bei der nächsten Sendung von Ihrer Postbotin, Ihrem Postboten oder dem Paketzusteller erklären zu lassen, unter welchem Druck und welcher Belastung sie jetzt schon bei der Arbeit stehen und ob das besser würde, wenn dazu noch die Preise – und am Ende ihre Löhne – unter Druck geraten würden, weil der Konkurrenzdruck auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Erklären Sie das mal den Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen das nicht. Wir stimmen dieser Postgesetznovelle heute zu. Das ist gut so. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Reinhard Houben das Wort. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Freitag, 16 Uhr, und wir erleben eine politische Beerdigung erster Klasse. Es ist schon ein toller Beitrag, Kollege Durz und Kollege Mohrs, dass Sie hier vorne antreten und sagen: Wir haben uns was anderes vorgenommen und eigentlich nicht das geschafft, was wir machen wollten. – Die Sprüche, die wir am Anfang der Legislaturperiode aus Ihren Fraktionen gehört haben, können wir also beruhigt in die Tonne werfen. Eigentlich waren wir so weit, dass wir diskutieren konnten. Sich zu verstecken und zu sagen, dass das Ministerium das nicht schaffen kann: Das glaubt doch nun wirklich kein Mensch. Wenn ein 135-seitiger Referentenentwurf vorliegt, dann kann man debattieren und diskutieren, und dann kann man auch, wenn man möchte, zu einem Ergebnis kommen. ({0}) Es ist nun wirklich nicht viel übrig geblieben, und ich sage Ihnen: Wenn wir das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zum Porto nicht gehabt hätten, dann wäre hier in diesem Haus überhaupt nichts vorgelegt worden. Was hier gemacht wird, entspricht ja dem bekannten Bussystem: Ein kleiner Gesetzentwurf, der außerdem über den Bundesrat eingebracht wurde, wird benutzt, um die juristischen Zweifel an der Findung der Portohöhe auszuräumen, indem man das, was vorher in der Verordnung stand, jetzt ins Gesetz schreibt. ({1}) Das ist ein ziemlich schwaches Bild. Ich sage Ihnen zumindest eines, Herr Mohrs: Ich sehe Widerstand aus dem Bundesrat – und da lade ich die Vertreterinnen und Vertreter von Grünen und Linken ein – gegen diese Form, diesen Gesetzentwurf jetzt durchzubringen. Wir werden gleich, in wenigen Minuten, darüber entscheiden – die Mehrheit steht fest –, aber es liegt mir eine Information vor, dass das Land Schleswig-Holstein eine Bundesratsinitiative starten wird, damit dieses Gesetz in den Vermittlungsausschuss kommt, weil der Prozess der Wahrheitsfindung, wie Sie ihn ja beschrieben haben, eigentlich sehr unbefriedigend ist. Deswegen könnte ich mir vorstellen, dass es entsprechenden Widerstand aus dem Bundesrat geben wird. Ein letztes Mal in dieser Runde – wir werden in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr über die Post sprechen –: Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass der Eigentümer eines Unternehmens, wenn er selbst die Preise und die Regeln festsetzt, dieses Unternehmen bevorzugt. ({2}) Im Referentenentwurf, Herr Mohrs, waren viele Dinge, die den Wettbewerb im Briefmarkt – und nicht nur im Briefmarkt – gestärkt hätten, zum Beispiel die Regelung, wer Zeitungen und Zeitschriften verteilen darf. Es gab viele Anregungen; das ist in der Anhörung auch deutlich geworden. Nur Verdi, die Bundesnetzagentur und die Post selbst fanden diesen Gesetzentwurf befriedigend. Alle anderen Experten haben dagegengesprochen, und deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf in diesem Verfahren jetzt auch ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Pascal Meiser das Wort. ({0})

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es ist in der Tat höchste Zeit, über die Zustände auf dem deutschen Postmarkt, auf dem Brief- und Paketmarkt zu reden – über die wachsende Unzufriedenheit mit der Zustellung von Briefen und Paketen und über die Wildwestmethoden in Teilen der boomenden Paketbranche. Aufzuräumen gibt es hier in der Tat mehr als genug, und das fordern wir als Linke schon lange. Doch das, was die Bundesregierung hier mit ihrer kleinen Postreform in den letzten Wochen zusammengestolpert hat, wird diesem Problem leider alles andere als gerecht. Erstens. Ja, Sie wollen nunmehr alle Postdienstleister dazu verpflichten, sich bei Kundenbeschwerden an den bestehenden Schlichtungsverfahren zu beteiligen. Das ist schön und gut, doch ein scharfes Schwert – da muss man sich nichts vormachen – ist das hinten und vorne nicht. Im Zweifel muss der Kunde auch weiterhin vor ein ordentliches Gericht ziehen, um Schadensersatz durchzusetzen. Zweitens. In Ihrer gesamten Postreform blenden Sie völlig aus, was die tieferen Ursachen der sinkenden Qualität bei der Zustellung sind: miese Arbeitsbedingungen und zu wenig Personal, wie wir es insbesondere bei den Dumping-Konkurrenten der Deutschen Post immer wieder feststellen können. Kein Wort davon in Ihrem Gesetzentwurf! Stattdessen sollen die eh schon unterbezahlten und überlasteten Beschäftigten in den Sortierstellen jetzt noch als Hilfssheriffs bei der Drogenfahndung mithelfen. Schön und gut, aber ich frage Sie: Wann nehmen Sie endlich mal mit dem gleichen Engagement diejenigen ins Visier, die mit dubiosen und zum Teil auch kriminellen Geschäftsmodellen auf den Postmärkten unterwegs sind? Und warum führen Sie nicht endlich auch eine Lizenzpflicht für Paketdienstleister ein, wie es sie im Briefbereich bereits gibt, und warum koppeln Sie diese Lizenzen nicht verbindlich an die Zahlung von Tariflöhnen und an klare Qualitätsstandards, wie es übrigens auch die Gewerkschaft Verdi fordert? ({0}) Das alles ist längst überfällig, aber offenkundig sind Sie dazu in der Koalition nicht in der Lage. Drittens. Große Einigkeit gibt es zwischen CDU/CSU und SPD dafür in einer anderen Frage, und die hat es in der Tat in sich. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht nun schon zum zweiten Mal die bestehende Verordnung zur Festlegung des Briefportos für rechtswidrig erklärt hat, wollen Sie die bisherigen Regelungen direkt im Postgesetz festschreiben. ({1}) Damit tun Sie nichts anderes, als dem Postkonzern weiter weit überhöhte Kapitalrenditen zu garantieren – nach dem, was wir in der Sachverständigenanhörung gehört haben, das 3,1-Fache des Durchschnitts, der bei DAX-Konzernen zurzeit festzustellen ist. Ob das europarechtskonform ist, steht in den Sternen. Das werden dann die Gerichte zu klären haben. Auch wenn es hier zum wiederholten Male behauptet wurde: Es stimmt nicht. Diese gesetzlich geregelte Kapitalrendite hat nichts mit den Kosten für ausreichend Personal und auskömmliche Bezahlung zu tun. Da wären wir als Linke die Ersten, die mit dabei wären. Diese wird nach den geltenden Regelungen bei der Berechnung des Portos aber ohnehin schon mit berücksichtigt. ({2}) Das hat auch die Sachverständigenanhörung noch einmal deutlich hervorgebracht. Hören Sie auf, den Menschen da Sand in die Augen zu streuen! ({3}) Ich komme zum Schluss. Ich sage es hier gerne noch mal unmissverständlich: Wenn die großen privaten Anteilseigner der Deutschen Post AG, vorneweg der Investmentfonds BlackRock, bei dem, was sie momentan als Renditen bekommen, nicht mitmachen wollen, dann sollten wir uns davon nicht erpressen lassen. Dann sollten wir lieber endlich darüber diskutieren, wie wir die Post wieder vollständig in öffentlicher Regie betreiben können. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katharina Dröge das Wort. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mancher, der uns heute vielleicht noch zuhört, mag sich fragen: Warum beschäftigt sich der Bundestag mit einem Gesetz, das im Endeffekt die Berechnungsmethoden für Portopreise bestimmt? Das Ganze hat zwei Gründe: Auf der einen Seite ist die Post ein ehemaliger staatsmonopolistischer Konzern, der irgendwann liberalisiert wurde, der aber weiterhin eine marktbeherrschende Stellung hat. Wir haben den Job, dafür zu sorgen, dass es auf den liberalisierten Post- und Paketmärkten fairen Wettbewerb gibt. Da muss man einfach sagen: Da haben Sie als Koalitionsfraktionen in der Vergangenheit keinen guten Job gemacht. ({0}) Der Marktanteil der Post ist weiterhin extrem hoch: Im Briefbereich liegt er bei 80 Prozent. Auch die Bundesnetzagentur spricht von einem nicht sich selbst tragenden Wettbewerb. Das heißt im Klartext: Es funktioniert nicht. – Deswegen müssen wir hinschauen. Aber auf der anderen Seite ist die Post eben auch Daseinsvorsorge. Es ist wichtig, dass die Post immer und überall pünktlich ankommt. Es ist wichtig, dass jemand wie meine 90-jährige Oma, die auf dem Dorf lebt und nicht gut hören kann, die mir immer noch regelmäßig Briefe schreibt, genau dieselben Preise zahlt wie ich und nicht mehr zahlen muss, weil es auf dem Dorf teurer ist als in der Großstadt, und dass sie ihre regelmäßigen Briefe an mich auch zu vernünftigen Preisen schicken kann. ({1}) Genau bei diesen vernünftigen Preisen liegt aber jetzt das Problem. Sie haben 2015 die Berechnungsmethode für das Briefporto verändert. Nachdem das Briefporto in der Vergangenheit eigentlich sehr stabil war, kann man seit der von Ihnen veränderten Berechnungsmethode erkennen, dass das Briefporto deutlich angestiegen ist. Die Kosten tragen Menschen wie meine Oma. Die Deutsche Post hat dabei Rekordgewinne gemacht: alleine im vergangenen Jahr 4,8 Milliarden Euro, im Jahr davor 4,1 Milliarden Euro, in den Jahren davor immer um die dreieinhalb Milliarden Euro. Diese gigantischen Gewinne zahlen die Verbraucherinnen und Verbraucher, und das müssen Sie rechtfertigen. ({2}) Der Kollege Meiser hat zu Recht gesagt: Es ist nicht so, dass die Kosten für die faire Bezahlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch nach der alten Methode berechnet werden könnte, der Methode, die wir vorschlagen, die Die Linke vorschlägt, die die FDP vorschlägt. Das alles kann natürlich berücksichtigt werden. Das ist aber nicht der Grund, warum Sie das hier machen. Es gibt einen Antrag von uns, den wir schon 2019 eingebracht haben, in dem wir eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen haben, wie man insbesondere auf den Paketmärkten, wo es einen echt harten Wettbewerb zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, zu Verbesserungen kommt. All das haben Sie nicht gemacht. Da hätten Sie als Gesetzgeber handeln können. ({3}) Sie schreiben die alte Regelung fest, und das ist eine verpasste Chance. Eine verpasste Chance ist auch, dass Sie sich ansonsten nicht an das Postgesetz herangewagt haben. Herr Durz hat ja eben ein bisschen lustig gesagt: Wir wollten mehr als das, was Peter Altmaier im letzten Jahr vorgeschlagen hat, und in der Konsequenz haben wir fast gar nichts gemacht. – Wer mehr will, kann doch wenigstens das machen, was vorliegt. Auch die Monopolkommission hat Ihnen gesagt, dass Sie wenigstens beim verbesserten Teilleistungszugang, der für mehr Wettbewerb gesorgt hätte, hätten vorangehen können. Das wäre einfach gewesen. Das wäre wenigstens noch ein kleiner Schritt gewesen. Wenn man mehr will, aber stattdessen nichts macht, ist das doch wirklich nicht die schlaueste Strategie. ({4}) Zum Schluss der Gesetzentwurf des Bundesrates. Hier nehmen Sie die Briefzusteller in die Verantwortung für Aufgaben, die nicht ihre sind. Sie machen sie quasi zu Hilfspolizistinnen und Hilfspolizisten. Das ist nicht sachgerecht. Wir haben gefragt: Gibt es eigentlich eine Notwendigkeit, diese Regelung zu verändern? Sie selber haben gesagt, Sie hätten dazu keine Erkenntnisse. Die Anhörung hat gezeigt: Eine Notwendigkeit gibt es nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dröge.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen halte ich fest: Eine überflüssige Regelung, die rechtsstaatlich zweifelhaft ist, braucht es nicht. Deswegen werden wir sie ablehnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Jan Metzler das Wort. ({0})

Jan Metzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004352, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte einen Dank voranstellen: Ich bedanke mich – aller guten Dinge sind drei – bei jenen, die tagtäglich und unabhängig davon, ob draußen die Sonne scheint oder, wie aktuell der Fall, Eis und Schnee liegen, ordnungsgemäß für qualitativ hochwertige Postdienstleistungen in unserem Land sorgen. Zweite Feststellung. Beerdigungsstimmung ist angesichts der lebhaften Debatte momentan nicht gegeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang mal eines äußern; ich glaube, in einigen Punkten sind wir uns ja trotz dieser lebhaften Debatte einig: Wir erkennen an, dass Postdienstleistungen Daseinsvorsorge sind. Wir erkennen an, dass diese Daseinsvorsorge – unabhängig davon, wo sie bereitgestellt wird, ob im städtischen, urbanen oder im ländlichen Raum – ein Aspekt bei der allgemeinen Gewährleistung von gleichwertigen Lebensverhältnissen ist. Ich glaube, wir sind uns auch alle darüber einig, dass wir genau dieses fortentwickeln wollen, auch im Zeitalter der Digitalisierung. Ohne Frage: Jetzt kann man darüber streiten, ob das Plus, so wie wir es jetzt anfügen, im Zusammenhang mit dem, was aktuell auf der Tagesordnung steht, groß genug ist oder zu klein ist. Aber eines ist auch klar: Der Postmarkt verändert sich auch unter den Gegebenheiten der Digitalisierung und unter den Gegebenheiten der aktuellen Pandemie dramatisch. Hansjörg Durz hat angesprochen, dass sich der Paketsektor im letzten Jahr exorbitant ausgeweitet hat. All dem ist Rechnung zu tragen. All dem haben wir dahin gehend Rechnung getragen, indem wir als Teil der regierungstragenden Koalition gesagt haben – da möchte ich noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön den Kollegen Hansjörg Durz und Falko Mohrs aussprechen –: Wir wollen dem Ganzen ein entsprechendes Plus an die Seite stellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es uns auch aufgrund noch nicht vorhandener Endbezugspunkte, die sich insbesondere aus dieser Pandemie ergeben, nicht möglich, dem Ganzen wenigstens ein gewisses Plus zur Seite zu stellen, mit dem etwas geregelt wird, was im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher und im Sinne des Wettbewerbs ist. Ohne Frage: Man kann darüber diskutieren. Man kann sich auch darüber auslassen, dass dieses Plus nicht groß genug ausgefallen ist. Aber ich habe aus der Anhörung mitgenommen, dass der Wettbewerb dieses Plus sehr wohl anerkennt. Ich weiß auch, dass das bei Anhörungen immer so eine Sache ist, dass man gerne das herausliest, was man gemäß seiner eigenen Position auch herauslesen möchte. Aber ich habe schon mitgenommen, dass der Wettbewerb das, was wir hier tun, sehr wohl anerkennt. Eine weitere Bemerkung noch zum Verfahren. Ich sehe nicht, dass dieses Busverfahren so unüblich ist. Ich glaube, dass wir das auch nicht so darstellen sollten. Das ist ein Stück weit dann auch den verschiedenen Rollen hier im Haus geschuldet. ({0}) Der zweite Punkt – das möchte ich auch bemerken –: Ich habe sehr wohl vernommen, dass das Bundesverwaltungsgericht letztlich eine formelle Kritik vorgenommen hat, die wir auch am heutigen Tag zur Kenntnis nehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die drei Punkte zu sprechen kommen, die wir diesem Gesetz in Form eines Plus zur Seite gestellt haben. Ich glaube, das Schlichtungsverfahren ist ein aktiver Beitrag für die Stärkung von Verbraucherinnen- und Verbraucherrechten. Ich glaube, dass die Preis-Kosten-Schere ein aktiver Beitrag für mehr Wettbewerb ist. Und ich glaube, dass der Wegfall der Genehmigungspflicht für Entgelte förmlicher Zustellung zumindest für diejenigen, die keine marktbeherrschende Stellung haben, ein aktiver Beitrag zum Bürokratieabbau ist. Zweifelsohne – ich habe es eingangs erwähnt –: Die Endbezugspunkte werden wahrscheinlich erst am Ende der pandemischen Situation liegen. Dann werden wir uns genau an dieser Stelle erneut auf die Reise machen müssen, um das Postgesetz für das nächste Jahrzehnt, für das digitale Zeitalter fitzumachen. Auch das ist in der heutigen Debatte deutlich geworden: Angesichts der unterschiedlichen Positionen, die es in diesem Haus und bei den verschiedenen Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmern gibt, wird es eine Mammutaufgabe. Aber der Kern unserer Aufgabe ist, gleichwertige postalische Daseinsvorsorge zur Verfügung zu stellen, unabhängig ob im städtischen, urbanen Kontext oder im ländlichen Raum. Das ist unser Anspruch, und dem müssen wir gerecht werden. Auf Anraten eines wohlmeinenden Kollegen mache ich jetzt 30 Sekunden früher Schluss und schenke diese hiermit der Gemeinschaft. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vorbildlich. – Ich schließe die Aussprache.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, nicht allen ist bewusst, dass wir vor wenigen Tagen, am 5. Februar, ganz knapp an einem ziemlichen Desaster vorbeigeschrammt sind, was die Rüstungskontrolle und die Abrüstungsbemühungen betrifft. Am 5. Februar endete die Frist zur Verlängerung des New-START-Vertrages, also des Vertrages zwischen Russland und den Vereinigten Staaten über die Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen. Und zwischen der Amtsübernahme von Joe Biden am 20. Januar und dem Ablaufen der Frist blieben gerade mal zwei Wochen Zeit, um diesen Vertrag zu retten. Ich glaube, dass wir alle miteinander den beiden Präsidenten, Biden und Putin, dankbar sind, dass sie die wenigen Tage genutzt haben, diesen Vertrag schnell und unkompliziert zu verlängern. ({0}) Aber ich will auch sagen, dass ich hoffe, dass diese Verlängerung ein Stück weit einen Wendepunkt markieren kann zu den letzten Jahren und zu dem, was hinter uns liegt, und dass wir in den nächsten Jahren international wieder einige Fortschritte bei der atomaren Abrüstung machen. Damit komme ich zur Überprüfungskonferenz und dem Nichtverbreitungsvertrag, der im letzten Jahr sein 50. Jubiläum gefeiert hat. Die Überprüfungskonferenz musste leider wegen Corona verschoben werden. Dieser Vertrag hat drei große Ziele: Das erste ist, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, das zweite, die friedliche Nutzung der Atomenergie für alle Mitgliedstaaten zu ermöglichen, und drittens: die Abrüstung von Atomwaffen. Was wir feststellen müssen, ist: Die Basis dieses Vertrages bröckelt. Das hat zwei wichtige Gründe, und da bin ich bei der Frage der Abrüstung. Der NVV enthält eine Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur atomaren Abrüstung. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist leider das Gegenteil: Zwar Stagnation in der Quantität, aber in der Qualität kommt es zur Aufrüstung, weil erhebliche Mittel in die Modernisierung dieser Nuklearwaffen geflossen sind. Wer den NVV bewahren, ihn retten will, der muss dafür sorgen, dass die Atomwaffenstaaten dieser Abrüstungsverpflichtung in den nächsten Jahren endlich wieder nachkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Deswegen – darüber haben wir ja heute wieder zu entscheiden, dazu liegen einige Anträge vor – war und ist es ein Fehler, dass sich die Bundesrepublik weder an den Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag beteiligt hat noch bis heute bereit ist, dem Atomwaffenverbotsvertrag zuzustimmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Nichtstun im Zusammenhang mit der Verpflichtung im NVV zur atomaren Abrüstung eine große Motivation für die Nichtatomwaffenstaaten war, mit dem AVV eine neue Initiative zu ergreifen und deutlich zu machen: Wir wollen atomare Abrüstung weltweit, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Ein weiterer Punkt ist die Frage der Nichtverbreitung; da schauen wir auf den Iran. Auch da sind wir wieder beim Amtswechsel in den Vereinigten Staaten. Aufgrund der Zeit kann ich dazu nicht viel sagen, außer dass es im Kerninteresse Europas und auch der Bundesrepublik liegt, dass es eine Zukunft für dieses Atomabkommen gibt, und dass Hoffnung besteht, dass der neue amerikanische Präsident die Chancen nutzt, die es gibt. Alles andere, was wir in der letzten Zeit erlebt haben – die Politik des maximalen Drucks –, hat letztlich nur dazu geführt, dass sich der Iran auch aus diesem Abkommen verabschiedet hat und atomare Aufrüstung wieder näher ist als vorher. Das Gegenteil müssen wir erreichen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Letztlich – damit will ich schließen – wissen die Kolleginnen und Kollegen, die länger dabei sind als ich, dass es vor der letzten Überprüfungskonferenz hier im Haus eine breite Übereinkunft der Fraktionen gab und auch eine Beschlussfassung als Auftrag an die Bundesregierung für diese Nichtverbreitungskonferenz. Betrachten Sie unseren Antrag heute dazu auch als Motivation an alle anderen Fraktionen, dass wir hier im Haus wieder zu einer solchen Beschlussfassung kommen mit einem klaren Auftrag für die Nichtverbreitungskonferenz. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Andreas Nick das Wort. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn mit aller Klarheit feststellen: Wenn es um den einseitigen Verzicht auf Nuklearwaffen geht, hat unser Land nun wirklich keinen Nachholbedarf. Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits bei den Pariser Verträgen 1955 einseitig und vollständig auf den Besitz von Kernwaffen verzichtet. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde der Verzicht auf die Herstellung, die Verfügung und den Besitz von ABC-Waffen auch für das vereinte Deutschland bekräftigt. Dieses Bekenntnis gilt. ({0}) Zur Wahrheit gehört aber auch, dass dieser Verzicht nur möglich und vertretbar war und ist, weil wir uns gleichzeitig unter den gemeinsamen nuklearen Schirm der NATO stellen konnten. So unbequem es ist: Nukleare Abschreckung wirkt, und sie dient unseren nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen. Denn solange Nuklearwaffen auch auf deutsche Städte gerichtet sind, tun wir gut daran, an der Abschreckung im Rahmen der nuklearen Teilhabe festzuhalten. Es ist daher richtig, dass die Bundesregierung unsere Position zur Abrüstung multilateral in der NATO koordiniert, anstatt auf nationale Alleingänge zu setzen, auch wenn sich das mittlerweile ja sogar führende Köpfe beim Koalitionspartner zu wünschen scheinen. Seit Langem treten wir in Deutschland nachdrücklich für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Wir begrüßen ausdrücklich die Verlängerung des New-START-Vertrages zwischen den USA und Russland. Ich füge hinzu: Wir würden uns wünschen, dass wir auch den INF-Vertrag, der für unsere Sicherheit besonders relevant ist, wiederbeleben können. ({1}) Deshalb ist es uns ein großes Anliegen, bei der Überprüfungskonferenz des NVV im August 2021 weitere Fortschritte zu erreichen. Gemeinsam mit 15 weiteren Staaten entwickelt die Bundesregierung in der Stockholm-Initiative konkrete Vorschläge, um den Nichtverbreitungsvertrag zu stärken. Eine weltweite vollständige nukleare Abrüstung bleibt unser langfristiges Ziel. Auf dem Weg dorthin ist ein neuer sogenannter Atomwaffenverbotsvertrag aber nicht wirklich hilfreich; denn anders als der etablierte Nichtverbreitungsvertrag fußt der Verbotsvertrag allein auf wohlfeilen Bekenntnissen von Teilnehmerstaaten, die selbst weder Nuklearwaffen besitzen noch einer nuklearen Bedrohung ausgesetzt sind. ({2}) Der neue Vertrag entspricht auch nicht den hohen Überprüfungsstandards des Nichtverbreitungsvertrags und des Zusatzprotokolls von 1997. Er empfiehlt diese noch nicht einmal; ein klarer Rückschritt. Besonders problematisch ist aber das unklare Verhältnis der beiden Verträge zueinander. ({3}) Viele seiner Befürworter stellen den neuen Vertrag über den weithin anerkannten Nichtverbreitungsvertrag. Das kann gefährliche Folgen haben. Der neue Vertrag könnte Staaten mit Nuklearwaffenstreben als Vorwand dienen, aus dem Nichtverbreitungsvertrag auszutreten, um die strengen Kontrollen der IAEO zu umgehen. ({4}) In aller Klarheit: Eine Schwächung des Nichtverbreitungsvertrages durch den Atomwaffenverbotsvertrag können wir nicht akzeptieren. ({5}) Letztlich trägt der Atomwaffenverbotsvertrag eben auch nicht dazu bei, den wirklich zentralen Gefahren im atomaren Bereich unserer Zeit wirksam zu begegnen. Da ist zum einen das Risiko neuer globaler Rüstungswettläufe zwischen den Großmächten, diesmal eben auch unter der zentralen Beteiligung von China. Da ist zweitens das Streben zahlreicher Staaten nach Nuklearwaffen als ultimativer Währung staatlicher Souveränität mit der Folge regionaler Wettläufe, beispielsweise auf dem indischen Subkontinent. Und da ist nicht zuletzt die unkontrollierte Verbreitung von nuklearwaffenfähigem Material, gegebenenfalls auch hin zu nichtstaatlichen Akteuren. Dies alles zeigt: Kontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht isoliert erreicht werden. Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie eingebettet sind in eine verlässliche globale Friedensordnung und in ein robustes System regionaler Sicherheitsstrukturen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Als ich im November 2015 am Ground Zero in Nagasaki zusammen mit dem Bürgermeister von Tosu stand, habe ich eindringlich gemerkt, dass Atomwaffen nicht mehr in eine moderne Welt von zivilisierten Menschen hineingehören, auch nicht nach Deutschland. Anschließend besuchten wir die gemeinsame Ausstellung von Deutschland und Japan in Nagasaki. Auch hier wurde mir klar, dass ein Zusammenleben verschiedener Völker ohne Atomwaffen die einzige Alternative sein kann. Diesbezüglich ist der Atomwaffenverbotsvertrag ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. ({0}) Für die Menschen hier in Deutschland ist es wichtig, Zeichen zu setzen für eine Welt ohne Atomwaffen. Dazu ist dieser Antrag zu begrüßen; aber er wird den geopolitischen und sicherheitspolitischen Anforderungen in dieser Form einfach nicht gerecht. Statt über eine Kündigung der nuklearen Teilhabe und der Bündnissolidarität nachzudenken, schlagen wir vor, zunächst neue Wege der Sicherheitskonzepte innerhalb Europas und zwischen den strategischen Großmächten zu suchen. Dazu bietet sich zum Beispiel ein Format wie der Ostseerat an. Hier könnten neue Sicherheitsstrukturen diskutiert werden, um einen sicheren und von den Menschen nachvollziehbar sehnlichst gewünschten Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe auf den Weg zu bringen. Erst dann verflechten sich sinnvoll verschiedene globale Sicherheitskonzepte. In Anbetracht dessen, dass Japan keine Atomwaffen besitzt, sollte sich auch Deutschland mittelfristig von der nuklearen Teilhabe verabschieden. Das stünde auch einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg gut zu Gesicht; denn ich möchte auch in den nächsten Jahrzehnten mit meinen Kindern keinen Ground Zero in Deutschland erleben. Eines muss klar sein: Eine nukleare Antwort in einem globalen Konflikt wird nicht den Bereitsteller der Atomwaffen, sondern stellvertretend die Abschussrampen in Deutschland treffen. Die Folgen eines solchen Infernos wären für Europa unsäglich. Viele Generationen würden an den Folgen von Strahlenkrankheiten leiden. Da ist Corona, ehrlich gesagt, nichts dagegen. Ehrlich gesagt, möchte ich auch keinen Kalten Krieg mehr erleben, Sie doch sicherlich auch nicht. Wir wollen einen nachhaltigen Frieden für Deutschland, Europa und die Welt. Tausende sogenannte amerikanische Mini-Nukes, stationiert in Deutschland, machen den Frieden nicht besser. Auch wenn der Begriff „Mini-Nuke“ niedlich klingt, so sind die nuklearen Folgeschäden verheerend. Schauen Sie auf die Tragödie in Tschernobyl oder auf die schlimmen Erinnerungen an Nagasaki. Im Übrigen entspricht ein Mini-Nuke genau dem Sprengstoff einer Bombe von Nagasaki. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen friedlichen Nachmittag und ein ebenso friedliches Wochenende. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Samstag verstarb der frühere US-Außenminister George Shultz im Alter von 100 Jahren. 1920 geboren, hatte er die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki in seinem eigenen Leben erlebt. Er wusste, was Atomwaffen bedeuten. Er kam unter Präsident Reagan in sein Amt, als die Beziehungen zur Sowjetunion auf dem Tiefpunkt waren und man nicht mehr miteinander redete – „Déjà-vu“ könnte man heute sagen. Damit gab er sich allerdings nicht zufrieden, sondern er suchte aktiv nach Möglichkeiten, um die Lage zu verbessern. Letztendlich war Shultz in seiner Amtszeit einer der Hauptverantwortlichen für die Entspannung zwischen den Weltmächten, für einen der bedeutendsten Abrüstungsverträge überhaupt, für das Abkommen über die nuklearen Mittelstreckensysteme – heute bedauern wir, dass es nicht mehr existiert –, für den INF-Vertrag. 2013 sagte Shultz in einem Interview über die damalige Zeit, Ronald Reagan hätte immer wieder betont, dass die Vereinigten Staaten eine atomwaffenfreie Welt anstreben. Weiterhin sagte er – ich zitiere, Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung –: Reagan und ich glaubten allerdings nicht, dass der Weg dorthin einfach darin bestand, die eigenen Waffen zu eliminieren. Wir brauchten einen Prozess, in welchem beide Seiten ihre Bestände gemeinsam reduzierten. – Ich teile nicht alles, was George Shultz in seinem langen Leben gesagt hat. Aber bei nuklearer Abrüstung gibt ihm der Erfolg recht, und wir können auch heute noch von seinem Erbe lernen: Erstens. Abrüstung geht nur gemeinsam, niemals allein. Zweitens. Gelegenheiten und Gespräche müssen proaktiv gesucht werden. Drittens. Die Positionen der anderen muss man verstanden und eingepreist haben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute mehrere Anträge von Grünen und Linken, in welchen sehr viele gute und richtige Ziele stehen. Über allem steht das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Dieses Ziel ist schwierig zu erreichen, wenn, wie derzeit, viele Atommächte nach weiterer Aufrüstung streben und Rüstungskontrollverträge wie der genannte INF zugrunde gehen. Umso wichtiger wird die Frage sein, welcher Weg am besten zum Ziel führt. Zusammengefasst: Der Weg von Linken und Grünen ist, dass Deutschland sofort – ich sage: ohne Plan – die nächsten Schritte unternimmt und ohne jegliche Abstimmung mit irgendeiner anderen Nation Fakten schafft. Ich muss mich da wiederholen – das sagte ich vergangene Woche schon –: Mir hat noch niemand von Ihnen erklären können, warum dies eine gute Idee sein soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das spiegelt sich auch in Ihren Anträgen wider. Sie werfen alles zusammen in einen Topf, was irgendwie mit nuklearer Abrüstung zu tun hat – das sind alles komplexe Einzelthemen, die man idealerweise aber differenziert und detailliert betrachten sollte. Trotz der Fülle verschiedenster Forderungen an die Bundesregierung sind die Anträge doch eher kurz, weil meist die Begründung fehlt. Unter einem Grünenantrag steht zwar eine Begründung – ich habe sie auch gelesen –, aber Sie haben sie eins zu eins aus einem offenen Brief von ICAN herauskopiert. Auf mich wirkt das eher wie eine PR-Aktion und nicht wie ernsthafte Abrüstungsvorschläge. ({0}) Deutschland besitzt keine eigenen Atomwaffen. Wir müssen also die Nationen überzeugen, die welche besitzen. Wir müssen wiederum ihre Positionen verstehen, um uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Wir müssen aktiv sein, und wir müssen es gemeinsam machen – niemals allein, und schon gar nicht gegen unsere Verbündeten. ({1}) Das ist der Weg sozialdemokratischer Außenpolitik. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Atomwaffenverbotsvertrag ist in Kraft getreten, und das ist gut so. Deutschland sollte ihn nicht ignorieren, wie manche dies tun; denn schon jetzt vertreten die teilnehmenden Staaten ein Drittel der Weltbevölkerung. Ohne die Teilnahme der Atommächte kann er jedoch keine direkte Wirkung entfalten. Und wenn Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt alleine beitritt, wird von den über 13 000 Atomwaffen weltweit wohl keine einzige verschwinden. ({2}) Die Alternative aber darf nicht Nichtstun sein, ({3}) sondern ein erster, kluger Schritt. Deshalb fordert die SPD-Bundestagsfraktion, dass Deutschland bei der Vertragsstaatenkonferenz als Beobachter teilnimmt. Auch bei der nuklearen Teilhabe müssen wir einen guten Weg zur Abrüstung gehen. Wir sollten nicht einfach von heute auf morgen aussteigen, ohne Rücksicht auf Vereinbarungen, wie wir sie selbst innerhalb der NATO eingegangen sind, und erst recht nicht, ohne die Frage zu stellen, welche Konsequenzen dies für uns und für die nukleare Abrüstung insgesamt unterm Strich hat. Auf der anderen Seite sollten wir die nukleare Teilhabe aber auch nicht unkritisch verlängern. Einige wollen es sich da sehr einfach machen und neue atomwaffenfähige Flugzeuge anschaffen mit der Begründung, dass die jetzigen sozusagen nicht mehr durch den TÜV kämen, um hier nur ein Beispiel zu nennen. Wir erleben gerade, wie der neue amerikanische Präsident – das sehe ich als Silberstreif am Horizont –, der auf Dialog und Zusammenarbeit setzt, der stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage Einhalt gebieten will. Das ist sein Credo, und das ist unsere Aufgabe. Nach nur ein paar Tagen im Amt ist die Verlängerung von New START in trockenen Tüchern, ein funktionierendes Atomabkommen mit dem Iran wenigstens theoretisch wieder möglich, und es gibt sogar Hoffnung bei Open Skies. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit für ein atomwaffenfreies Deutschland wird kommen. Ziel der SPD ist es, dass dies so schnell wie möglich geschieht und dass auch der Rest der Welt etwas davon hat. Hierzu wollen wir als Bundestagsfraktion konkrete Vorschläge auf den Weg bringen – gemeinsam mit unseren Partnern, gemeinsam mit der NATO, im Dialog und mit Rücksicht auf unsere Verbündeten. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Müller für die FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist eine verführerische Vision, aber sie birgt auch Gefahren. Stellen wir uns für einen kurzen Moment vor, es gäbe keine Nuklearwaffen mehr auf dieser Welt. ({0}) Ich lasse Ihnen für einen kurzen Moment diesen Traum, bevor ich Sie in die Realität zurückholen muss. Es wird immer jemanden geben, der plötzlich bekannt gibt, dass er erfolgreich Atomsprengköpfe hergestellt hat, sei es ein Kim Jong Un, sei es ein Mullah aus dem Iran – man braucht nicht allzu viel Fantasie dazu. Er wird die ganze Welt erpressen können und uns allen seine Bedingungen auflisten, die wir dann erfüllen müssen. Im Fall des Irans, der die Auslöschung Israels als Staatsziel hat, ist dieses Erpressungspotenzial besonders evident. Das kann doch nicht das Ziel der Antragsteller sein! ({1}) Genauso wenig, wie wir weltweit alle Schusswaffen abschaffen könnten, genauso wenig werden wir – aus dem genannten Grund – Atomwaffen komplett abschaffen können. Unser Ziel muss also sein, die Menge an Sprengköpfen weiter zu reduzieren; darauf sollten wir alle Mühen richten. Das ist auch unsere Aufgabe als Deutsche: in internationalen Verhandlungen unseren Beitrag dazu zu leisten. Uns würde aber international niemand mehr ernst nehmen, wenn wir jetzt den Anträgen von Grünen oder Linken zustimmen würden; denn dann wären wir raus aus der nuklearen Teilhabe in der NATO, und wir hätten in der NATO den Status eines Staates irgendwo zwischen Montenegro und Nord-Mazedonien. ({2}) Nein, wir müssen all unser Gewicht einbringen, das wir haben, um die Zahl der Sprengköpfe zu reduzieren. In den vergangenen Jahrzehnten gelang das am effektivsten mit dem Nichtverbreitungsvertrag, dem nahezu alle Staaten der Welt beigetreten sind und der alle Unterzeichnerstaaten an Nichtverbreitung und ständig weitere Abrüstung bindet. ({3}) Der Nichtverbreitungsvertrag, der NPT, hat die großen historischen Abrüstungsabkommen hervorgebracht. Die rigorose Bedingungslosigkeit des Verbotsvertrags gefährdet sogar den NPT, weil die Welt dann geteilt werden könnte in NPT-Staaten und Verbotsvertragsstaaten, also in zwei Lager. Deswegen darf man im Verbotsvertrag kein Allheilmittel sehen; denn nur recht unbedeutende Staaten sind diesem Vertrag beigetreten, die meisten von ihnen sind Pazifik-Inselgruppen. Flächenmäßig am größten ist dabei noch Kasachstan. Nicht einmal die Schweiz, Hort der Blockfreiheit und der jahrhundertelangen Neutralität, hat den Verbotsvertrag ratifiziert. Gleiches gilt übrigens auch für Schweden. ({4}) Abrüstung gelingt nur gemeinsam mit den Nuklearmächten, in intensivem Austausch und nicht durch harte Konfrontationen. Daher werden wir am bewährten Nichtverbreitungsvertrag festhalten und auf dieser Basis die – zugegeben schwierigen – weiteren Abrüstungsverhandlungen fortsetzen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungspaktes ist 2015 ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Die Atomstaaten haben seit Jahren versagt, wenn es darum geht, ihren Abrüstungsverpflichtungen nach Artikel VI nachzukommen. Auch die nukleare Teilhabe ist mit dem NPT nicht vereinbar, da Deutschland im Einsatzfall die unmittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhält, obwohl der Vertrag das ausdrücklich untersagt. ({0}) Ob Nichtverbreitungs-, Verbotsvertrag oder Abzug der Atomwaffen aus Deutschland – im Kern geht es jedes Mal um den Irrglauben an die nukleare Abschreckung, an das Gleichgewicht des Schreckens, das uns angeblich Frieden und Stabilität verschafft. Schon in der letzten Sitzungswoche hatte ich an dieser Stelle in der Debatte darauf hingewiesen, wie absurd die Vorstellung ist, dass deutsche Piloten Atomwaffen Richtung Osten transportieren, um sie dort abzuwerfen und dadurch Tausende Menschen zu töten und alles über Generationen zu verseuchen. Im Protokoll finden Sie an dieser Stelle die Zwischenrufe vom Kollegen Lambsdorff und Kollegen Otte: „Unsinn!“ und „Wieder so ein Quatsch!“. Was wollten Sie wohl damit meinen? ({1}) Wollten Sie mir damit etwa recht geben? ({2}) Was glauben Sie denn, wozu wir diese Flugzeuge brauchen, und warum die Luftwaffe diese Fähigkeit jedes Jahr üben muss? ({3}) – Ja, wenn dieses Szenario auch aus Ihrer Sicht Quatsch ist, Herr Kollege, dann lassen Sie uns doch bitte das Risiko beenden, die Kosten sparen und die Atomwaffen aus Büchel abziehen. ({4}) Lassen Sie uns endlich mit den Russen über den Abzug substrategischer Atomwaffen aus ganz Europa verhandeln. Und ja, dazu wird man auch über die Raketenabwehr reden müssen. Wer jemals ernsthaft an das Gleichgewicht des Schreckens geglaubt hat, hätte mit der Raketenabwehr niemals anfangen dürfen. Sie ist nicht mal so effektiv, dass sie wirklich einen Atomschlag abwehren könnte. Dafür zahlen wir aber einen hohen Preis; denn Missile Defence dient der russischen Seite als Rechtfertigung für die Entwicklung von Hyperschallraketen, die nicht erfasst werden können, und hat auch ihren Anteil am Scheitern des INF-Vertrages. Diese Aufrüstungsspirale im Nuklearbereich ist schlicht Wahnsinn. ({5}) Und das geht über Quatsch noch weit hinaus, liebe Kollegen von der FDP und der CDU. Jetzt haben wir aber eine neue US-Regierung, die tatsächlich neu verhandeln will, und zwar über alle Atomwaffen insgesamt. Die Verlängerung von New START war da schon mal ein guter Anfang. Die Biden-Regierung wäre sogar bereit, einen Erstschlagverzicht zu erklären, die sogenannte No-First-Use-Policy, und zwar unabhängig von der russischen Seite. Aber jetzt raten Sie mal, wer da bremst und Bedenken hat? Die Bundesregierung hat Sorge, dass dies den nuklearen Schutzschirm schwächen könnte. Also, das ist doch echt der Gipfel der Heuchelei! ({6}) Ständig schöne Worte und Konferenzen zum gemeinsamen Ziel einer nuklearfreien Welt, und dann klammert man sich an einen nuklearen Schutzschirm, wenn die US-Regierung mal ein vernünftiges Zeichen setzen will! ({7}) Für die Bevölkerung wäre jeder Atomwaffeneinsatz eine verheerende Katastrophe, und die deutsche Bundesregierung verhindert einen Erstschlagverzicht durch die USA? Es sind gar nicht immer die anderen, hinter denen sich die Bundesregierung versteckt. Sie ist es teilweise selbst, die auf der Bremse steht. Das muss sich und das wird sich ändern. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Nikolas Löbel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Atomare Abrüstung und internationale Rüstungsbeschränkung – diese Themen sind es wert, dass wir heute einmal mehr darüber beraten. Ob es aber der Sache dienlich ist, dass wir innerhalb von zwei Wochen die gleiche symbolische Debatte zum AVV führen, will ich infrage stellen. Eine handlungsfähige Bundeswehr, eingebunden in eine starke NATO, Auslandseinsätze im Verbund mit europäischen und internationalen Partnern, gestärkt durch eine humanitäre Entwicklungspolitik und eine durchsetzungsstarke Diplomatie und nukleare Teilhabe: All diese Mittel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sind für uns als Unionsfraktion kein Selbstzweck, sondern Bestandteile einer etablierten Sicherheitsarchitektur. Der Kollege Andreas Nick hat schon darauf hingewiesen, dass wir seit der Unterzeichnung der Pariser Verträge 1955 zu einem Versprechen und einer Aussage stehen: Deutschland verzichtet aktiv auf Atomwaffen. Aber – und das ist der Unterschied – wir laufen nicht blind durch die Gegend, sondern richten einen realistischen Blick auf die Gegenwart und auf ein mögliches Gefährdungspotenzial. Uns unterscheidet, dass wir einen klaren realistischen Blick auf die jetzige Sicherheitsarchitektur haben. Nach dem Verständnis einiger liegt der Schlüssel zu einer atomwaffenfreien Welt einzig und allein im Atomwaffenverbotsvertrag. Sie weisen dabei ja immer wieder auf den Brief zahlreicher ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister hin, die den Aufruf zu einem Beitritt zum AVV unterzeichnet haben. Mich wundert es, dass Sie sich nicht selbst mal fragen, warum eigentlich nur ehemalige Regierungsmitglieder so handeln und warum diese Unterzeichner nicht zu ihrer aktiven Zeit diese Position eingenommen haben. Einer der guten Gründe dafür ist und bleibt die etablierte Systemrelevanz von nuklearer Teilhabe. An dieser Stelle möchte ich an die Ausführungen des Kollegen Kiesewetter von vor zwei Wochen erinnern, der, wie ich finde, es sehr treffend auf den Punkt gebracht hat, als er sagte: Zweck der nuklearen Teilhabe ist die Einschränkung der Verbreitung von Kernwaffen in den europäischen NATO-Staaten, indem sie eben regelt, dass nur fünf dieser Staaten Nuklearwaffen in ihrem Territorium stationieren dürfen. Man kann diese Ordnung, wenn man sich das wünscht, moralisch aufbrechen, aber dadurch wird man nicht weniger Atomwaffen erreichen. Der Atomwaffenverbotsvertrag wurde eben ohne die Atommächte und ohne die NATO-Staaten besprochen, verhandelt und abgeschlossen. Es ist auch nicht zu vermuten, dass eine der neu erklärten Atommächte dem Vertrag beitritt. Nukleare Abrüstung ist kein Bereich, in dem man mit einseitigen Zugeständnissen Fortschritte erreichen kann. Sie müssen immer reziprok, immer wechselseitig, erfolgen. Selbst wenn alle NATO-Staaten morgen einen Verzicht auf ihre nuklearen Fähigkeiten erklären würden: Ich glaube, das würde weder Russland noch Indien noch China noch Pakistan zu einem nennenswerten Umdenken führen. Die Debatte hier ist symbolisch geprägt. Ich glaube, wir brauchen mehr internationale Sicherheitsarchitekturen. Wir brauchen wieder mehr handfeste Werkzeuge wie den INF, wie das JCPoA, wie den NVV, wie New START oder wie Open Skies. Der AVV ist und bleibt aber ein untauglicher Versuch, für weniger Atomwaffen auf der Welt zu sorgen. Deswegen lehnen wir diesen Antrag heute ab. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In unserem Haus eint uns die Vision einer atomwaffenfreien Welt und das Ziel weltweiter atomarer Abrüstung. Worin wir uns unterscheiden, ist der Weg, wie wir dort hinkommen. Egal ob wir über Atomwaffensperrvertrag oder Atomwaffenverbotsvertrag diskutieren: Es gibt keine moralisch höher stehende Position. Diejenigen, die aus guten Gründen den Atomwaffenverbotsvertrag in seiner jetzigen Form und in seiner Bündniskonstellation ablehnen, sind nicht automatisch diejenigen, die für Atomwaffen sind und sie einsetzen wollen. Ich glaube, das sollten wir bei dieser Debatte immer wieder betonen. ({0}) Entscheidend ist, wie wir auf der einen Seite unsere Bündnis- und Sicherheitsinteressen wahren können und auf der anderen Seite zu mehr Abrüstung kommen. Da bitte ich, einen Blick in die Geschichte nicht zu vergessen. Die Sicherheit unseres Landes, das aus guten Gründen zu Recht – Kollege Nick hat es ausgeführt – auf Atomwaffen verzichtet, hängt vom Nuklearschirm der NATO ab. Kein einziger NATO-Staat ist im Augenblick dem Atomwaffenverbotsvertrag beigetreten, ({1}) weil wir das Regime des Atomwaffensperrvertrags haben. Was würde denn passieren, wenn wir jetzt dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten? ({2}) Wir würden unsere eigenen Bündnisinteressen verletzen und damit auf etwas verzichten müssen, was für die Glaubwürdigkeit und die Stellung in unserem Bündnis notwendig ist, nämlich auf die nukleare Teilhabe. Der entscheidende Punkt, warum der Atomwaffenverbotsvertrag im Augenblick nicht die Durchschlagskraft hat, liegt schlichtweg darin, dass keine der Atommächte gedenkt, ihm beizutreten. Was wir brauchen, ist also keine einseitige Verpflichtung Deutschlands, sondern ein weiter gehendes Eintreten für multilaterale und bilaterale Rüstungsverpflichtungen. ({3}) Es geht um Abrüstungsschritte, die wir Stück für Stück umsetzen wollen. Da gibt es im Augenblick gerade aufgrund der neuen Administration in den Vereinigten Staaten positive Signale: ({4}) Open Skies, New-START-Vertrag, möglicherweise Verlängerung des INF-Vertrags. ({5}) Wenn das Fenster offen ist, Abrüstungsgespräche zu führen, können wir uns doch nicht ausgerechnet aus dem Bündnis, das uns schützt, ({6}) verabschieden. Das wäre sicherheitspolitisch falsch. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, bitte ich, zu sehen, dass hinter dem Atomwaffenverbotsvertrag, von vielen NGOs in der Welt diskutiert und unterstützt, eine vertretbare Idee steht, aber dass wir die Idee mit den sicherheitspolitischen Realitäten in Einklang bringen müssen. Das ist auch der Grund, weswegen übrigens die Schweiz und Schweden – Großmächte des humanitären Völkerrechts – diesem Vertrag nicht beigetreten sind. ({7}) Wir wollen und wir stehen für atomare Abrüstung. Wir wollen es im Bündnis tun, mit unseren Partnern. Deswegen können wir im Augenblick Ihren Antrag nur ablehnen. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.