Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/11/2021

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist nun schon mehr als ein Jahr, dass wir in dieser Pandemie leben, mehr als ein Jahr, dass der größte Teil meiner Arbeit als Bundeskanzlerin, der Arbeit der Bundesregierung, der des Bundestages, der Landesregierungen, der Landtage, der Kreistage und Verwaltungen mit dieser einen Aufgabe zu tun hat: unser Land durch diese Katastrophe und wieder in bessere Zeiten zu führen. Seit dem Ausbruch der Pandemie stemmen wir uns alle gemeinsam gegen das Virus. Es ist eine wirkliche nationale Kraftanstrengung, die jeden erfasst und die jeden betrifft: Alte wie Junge und Kinder, Stadt und Land, Politik, Verwaltung, Bildung, Wirtschaft, Kultur, Sport, Kirchen – unser aller Leben und Zusammenleben. Es ist ein Jahr, in dem wir gemeinsam gelernt haben, wie das Virus funktioniert und was gegen das Virus funktioniert. Lernen heißt, nicht von Anfang an immer alles richtig zu machen, auch Einschätzungen zu korrigieren, so wie wir es zum Beispiel bei den Empfehlungen für das Tragen von Masken getan haben. Aber gerade deswegen sage ich, auch wenn wir gerade in einer schwierigen Phase stecken und viele Menschen das Gefühl haben, das wirklich nicht mehr lange auszuhalten: Wir haben in diesem Jahr der Pandemie ein sehr großes Stück des so schweren Weges hinter uns gebracht. Und dabei hatten und haben wir das Ziel, unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Höchstbelastung der Menschen und der Kapazitäten in der Intensivmedizin, ja, sie gab es und gibt es – leider. Und wir können unseren Ärztinnen und Ärzten und Pflegerinnen und Pflegern gar nicht oft genug für all ihren Einsatz danken. ({0}) Aber eine Überlastung unseres Gesundheitssystems konnten wir vermeiden – Gott sei Dank. Wer mit schweren Folgen einer Coronainfektion in die Klinik muss, der bekommt überall in Deutschland die Versorgung, die er braucht. Wir sehen an vielen Orten der Welt, wie wenig selbstverständlich diese Aussage ist, und wir können gemeinsam froh darüber sein. Dabei weiß ich, dass das, was wir gemeinsam im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus erreicht haben, einen hohen Preis gekostet hat und unverändert kostet. Ich vergesse keinen einzigen Tag, was die notwendigen Maßnahmen für jeden Bürger, jede Bürgerin bedeuten: eine in der Bundesrepublik so nie erlebte zeitweilige gravierende Einschränkung der Freiheit, schwere persönliche Belastungen, Einsamkeit, wirtschaftliche Sorgen, Existenzängste. Das vergesse ich keinen einzigen Tag. Alle Maßnahmen sind gemäß den Regeln unserer Demokratie beschlossen worden. ({1}) Das macht es rechtmäßig, aber ich weiß sehr wohl: Als Demokratie sind wir auch verpflichtet, diese Einschränkungen keinen Tag länger aufrechtzuerhalten als nötig und sie aufzuheben, wenn ihre Begründung entfällt. ({2}) Und genau das ist das Ziel der Bundesregierung und, ich weiß auch, des ganzen Deutschen Bundestages. ({3}) Meine Damen und Herren, ich sprach von dem, was wir gemeinsam erreicht haben. Dazu gehört, dass die erste Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 Deutschland weit weniger hart getroffen hat als viele andere in Europa und weltweit. Dem folgte ein Sommer, in dem wir, im Rückblick gesehen, wieder leichter leben konnten bei Inzidenzen, die heute traumhaft erscheinen: drei oder vier Ansteckungen über sieben Tage auf 100 000 Einwohner. Dann – und das müssen wir zu den Lehren zählen – waren wir nicht vorsichtig genug und nicht schnell genug. Wir haben auf die Anzeichen der zweiten Welle und die Warnungen verschiedener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hin nicht früh genug und nicht konsequent genug das öffentliche Leben wieder heruntergefahren. Bei meiner letzten Regierungserklärung hier vor Ihnen – das war am 26. November 2020 – hatten wir Wochen dramatischen exponentiellen Wachstums der Infektionszahlen hinter uns. Dieses steile Wachstum haben wir schließlich beenden können. Aber noch bis in den Januar dieses Jahres hinein verbreitete sich das Virus viel zu schnell und viel zu unkontrolliert – eine Folge, dessen bin ich sicher, von zögerlichem Vorgehen ausgangs des Sommers und im Herbst. ({4}) Heute stehen wir, was die Infektionszahlen anbelangt, weit besser da. Die notwendige Trendumkehr, die ich am 26. November erhofft hatte, ist gelungen. Die Zahl der Neuinfektionen geht seit geraumer Zeit zurück, ebenso die Zahl der aktiven Coronafälle und die Zahl der Coronapatienten in den Intensivstationen. Mit aller Vorsicht sage ich auch: Auch die schlimmste, die traurigste Zahl von allen, nämlich die der Menschen, die jeden Tag an Corona sterben, ({5}) scheint endlich wieder zu sinken; wenigstens werden keine neuen Höchststände mehr erreicht. Diese Verstorbenen – es sind jetzt weit mehr als 60 000 Menschen –, das sind unsere Mütter, Väter, Kinder, Verwandte, Freunde, die wir nicht bewahren konnten. Die Trauer um sie und mit ihren Hinterbliebenen steht immer im Raum, wenn wir Entscheidungen in dieser Pandemie treffen. Das sind wir ihnen schuldig. Dann gibt es noch eine positive Entwicklung, auf die ich bei meiner letzten Regierungserklärung nur hoffen konnte, die aber keineswegs gewiss war: Die Impfstoffe sind da. Das ist ein Wendepunkt in der Pandemie. Er wurde dank der Arbeit fantastischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Rekordgeschwindigkeit erreicht. ({6}) Wir haben uns für den europäischen Weg der Verhandlung, der Beschaffung und der Verteilung der Impfstoffe und gegen Notzulassungen entschieden. Dazu stehe ich. In der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg halten wir Europäer zusammen – politisch wie auch epidemiologisch. ({7}) Überall in der Europäischen Union wird jetzt geimpft. Kein kleines oder wirtschaftsschwächeres Land muss sich hinten anstellen. Der Einsatz europäischer Mittel wie auch die Abnahmegarantien, die Deutschland übernommen hat, hat im Übrigen BioNTech zum Beispiel den Einstieg in die Massenproduktion seines Impfstoffs ermöglicht. Natürlich, meine Damen und Herren, verstehe ich, dass der Start der Impfkampagne in Deutschland gleichwohl zunächst viele Menschen enttäuscht hat; denn die Hoffnungen, die am Impfen hängen, sind riesig, und jeder von uns, auch ich, hat diese Hoffnungen auch ganz persönlich. Wenn dann am Anfang zwar in zugesagter Menge, aber gleichwohl nur verhältnismäßig wenige Dosen zur Verfügung stehen, müssen sehr schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden. Bei ihnen helfen die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission. Auf ihrer Grundlage haben wir entschieden, zuerst die Verletzlichsten und Gefährdetsten zu impfen: die alten Menschen in Pflege- und sonstigen Einrichtungen sowie die Ärzte und Pflegekräfte, die sich um sie und um die Coronapatienten kümmern. Heute haben mehr als 80 Prozent aller Menschen in Pflegeheimen und weit über 1 Million Menschen in Medizin und Pflege mindestens ihre erste Impfung bekommen. Das ist überaus wichtig; denn das bedeutet Schutz, wo er am allernötigsten gebraucht wird. Jede Woche, jeder Monat wird nun Millionen weiterer Impfdosen bringen, und immer mehr Menschen werden diesen Schutz bekommen und bis zum Ende des Sommers jeder, der möchte. Dieses Ziel wollen wir angesichts der uns zugesagten Mengen an Impfstoffen, und zwar an Impfstoffen von schon zugelassenen Produzenten, auch erreichen. Es bleibt natürlich auch weiterhin ganz klar: So wie die Bundesregierung sich zu Beginn der Verhandlungen mit den Impfstoffherstellern finanziell engagiert hat, so werden wir sie auch weiterhin dabei unterstützen, wo immer das möglich ist, neue Produktionsstätten zu finden und die Produktion weiter hochzufahren, was von ganz besonderer Bedeutung auch mit Blick auf die Mutationen ist. Gestern hat BioNTech die Impfstoffproduktion in Marburg gestartet, und die Bundesregierung hat eine Taskforce gebildet zu den Fragen des Impfens, die auch beständig tagen wird. ({8}) Das Impfen kommt also immer mehr in Schwung. Die Infektionszahlen sind auf dem Weg nach unten, andere wichtige Indikatoren auch. Und wenn das das ganze Bild wäre, dann sähen Sie mich hier heute recht zuversichtlich, bei allen Schwierigkeiten. Da ist aber – zwar noch nicht ganz sichtbar, aber immer erkennbarer – eine große Gefahr für diesen guten Weg, auf dem wir uns befinden. Das ist eine sehr reale Gefahr in Form von Mutationen des Virus, die sich gebildet haben, und zwar so gebildet haben, dass sie zu aggressiveren Virusvarianten geführt haben. Es war natürlich irgendwann damit zu rechnen, und es kann auch in Zukunft weitere unerfreuliche Entwicklungen geben. Jetzt haben wir es mit im Wesentlichen drei relevanten Mutationen zu tun: der englischen – bei uns am weitesten verbreitet –, der südafrikanischen und der brasilianischen. Noch ist nicht alles auserforscht; aber wir tun gut daran, an den Annahmen vieler Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland nicht zu zweifeln, wenn sie uns erklären: Alle drei Mutationen sind deutlich aggressiver, also ansteckender, und übertragen sich leichter als das Ursprungsvirus. Und wie es bei Viren ist: Die Mutanten setzen sich aufgrund genau dieser Eigenschaften früher oder später gegen die vorherige Variante durch. So ist es in einigen europäischen Ländern bereits geschehen, die daraufhin eine zeitweilig dramatische Zunahme an Infektionsfällen erlebten, mit allen katastrophalen Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme. Diese Mutationen sind inzwischen auch in Deutschland nachgewiesen worden. In der letzten Januarwoche nahmen sie einen Teil von 5,7 Prozent ein. Wir werden in den nächsten Tagen neue Daten bekommen. Am häufigsten kommt bei uns die englische Variante vor. Expertinnen und Experten erklären uns, dass es eben nur eine Frage der Zeit sei, bis diese Mutationen dann auch die Oberhand gewinnen und das Ursprungsvirus verdrängen. Darauf müssen wir uns einstellen. Trotz sinkender Inzidenzen, die wir im Augenblick haben, müssen wir einfach wissen, dass sich darunter eine neue Virusvariante aufbaut und dass wir sehr, sehr achtsam sein müssen, nicht wieder ins exponentielle Wachstum zu kommen. ({9}) – Es mag ja sein, dass es Ihnen nicht gefällt; aber wir müssen ja mit der Realität leben und dann auch die richtigen Antworten finden. Was hilft uns dabei? Wir haben eine Situation, in der die Impfkampagne immer schneller anläuft. Aber sie wird uns in den nächsten Monaten noch nicht den Gemeinschaftsschutz bieten, sondern nur individuellen Schutz, den wir brauchen. Die Erwartung vieler Menschen ist natürlich, dass jetzt wieder die Zeit sei, einen klaren Weg von Öffnungen und Erleichterungen aufzuzeigen. Und wir wissen, dass die Gefahr der Mutationen uns die Erfolge wieder kaputtmachen können, indem eben die höheren R-Werte uns in ein exponentielles Wachstum zurückfallen lassen. Das ist die Ausgangssituation, vor der wir gestern zusammengekommen sind: Bund und Länder. Wir haben alle gemeinsam diese schwierige, widersprüchliche Lage empfunden, und wir haben vor diesem Hintergrund Maßnahmen vereinbart, und zwar bis zum 7. März. Die allermeisten der beschränkenden Maßnahmen müssen konsequent beibehalten werden. ({10}) Es geht immer und immer wieder um die Reduzierung von Kontakten, indem wir private Zusammenkünfte auf den eigenen Hausstand und eine weitere Person beschränken, indem wir medizinische Masken, die jetzt glücklicherweise ausreichend vorhanden sind, tragen, und zwar in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Geschäften, in Innenräumen wie hier im Deutschen Bundestag, und das gilt auch für die Arbeitswelt, sofern mehr als eine Person im Raum ist. Private Reisen und Besuche, auch von Verwandten, sind weiter zu unterlassen, und das Arbeiten im Homeoffice muss, wo immer möglich, durchgesetzt werden. Ich will noch einmal an die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wirklich appellieren: Das ist ein probates Mittel, um Kontakte zu reduzieren. Die privaten Haushalte tragen viel zur Bekämpfung dieser Pandemie bei. Auch hier muss sozusagen die Wirtschaft da, wo es möglich ist, auf das Arbeiten im Homeoffice zurückgreifen. ({11}) Natürlich waren die Erwartungen an den gestrigen Tag weniger: „Was wird beibehalten?“, sondern: Was wird verändert? Wir waren uns alle einig, dass Kinderbetreuung und Grundschulen Priorität haben; denn die Folgewirkungen von wochenlangen Schließungen der Einrichtungen sind natürlich da und spürbar, und die Anspannung der Eltern ist groß. Trotzdem hätte ich mir an dieser Stelle gewünscht, dass wir auch hier entlang der Inzidenz entscheiden. ({12}) Aber ich habe auch akzeptiert, dass es eine eigenständige Kultushoheit der Länder gibt, vielleicht das innerste Prinzip der Länder. ({13}) Deshalb werden die Länder sehr verantwortlich in eigener Hoheit entscheiden, wie sie das genau machen. Es werden einige Schulen vielleicht schon nächste Woche öffnen, die allermeisten am 22. Februar, aber immer nur die Kinderbetreuungseinrichtungen und die Grundschulen im Wechselunterricht mit vielen Hygienemaßnahmen; das will ich hier ausdrücklich sagen. ({14}) Meine Damen und Herren, wir haben dann über einen weiteren Öffnungsschritt gesprochen: Ab 1. März werden die Friseure öffnen. Wir haben für den 1. März die gute Aussicht, dass wir bundesweit eine Inzidenz von 50 erreichen können. Wir haben heute eine Inzidenz von 64,2 nach den Aussagen des Robert-Koch-Instituts. Wir haben dann über die weiteren Öffnungsschritte gesprochen. Das ist natürlich das, was jetzt von größtem Interesse ist. Ich will hier ausdrücklich sagen, dass ich sehr unterstütze, dass wir uns bei diesen weiteren Öffnungsschritten auch mit Blick auf die Unsicherheiten der neuen Mutationen entschieden haben, nicht Daten zu nennen, sondern Infektionszahlen, also Inzidenzen, zu nennen. Da sagt manch einer: Na gut, das gibt mir doch keine Planungssicherheit. ({15}) Aber wir gehen sozusagen mit dem Virus in einen Kampf – das ist unser Gegner –, und das Virus richtet sich nicht nach Daten, sondern das Virus richtet sich nach Infektionszahlen und nach Fragen, wie sich die Infektion ausbreitet. Deshalb haben wir den nächsten weiteren Öffnungsschritt für eine Inzidenz von 35 ins Auge gefasst. ({16}) Manche sagen: Wo kommt denn diese Inzidenz nun wieder her? Sie wissen: 50 haben wir als einen Punkt in § 28a des Infektionsschutzgesetzes festgelegt, ab dem sehr, sehr weitreichende Maßnahmen beschlossen werden können, und bei 35 – wenn man jetzt mal von unten kommt – bereits weitreichende Maßnahmen. ({17}) Das heißt, der Punkt der 35er-Inzidenz ist der Punkt, an dem ich einen ersten Öffnungsschritt gehen kann. Hier haben wir gemeinsam beschlossen, dass das den Einzelhandel, Galerien, Museen und körpernahe Dienstleistungen umfassen soll. ({18}) Ich glaube, das ist ein richtiger und wichtiger Ausblick. Dann kommt die Frage: Wie geht es weiter mit den nächsten Öffnungsschritten? Da muss ich Ihnen Folgendes sagen: Ja, Bund und Länder werden darüber beraten, und wir haben natürlich auch die verschiedenen Bereiche genannt. Da geht es dann immer um die Frage der Kontaktbeschränkungen im privaten Raum. Da wird es auch um die Frage der höheren Klassen in den Schulen gehen. Da wird es um die Frage gehen: Sport in Gruppen und Freizeitgestaltung? Dann: Gastronomie und Hotels? Das wird ein stufenweiser Prozess sein, von dem heute noch nicht genau sagbar ist – jedenfalls aus meiner Sicht –, bei welcher Inzidenz wir was machen können, weil wir jetzt erst mal schauen müssen, wie weit wir die Kontaktnachverfolgung auch wirklich schaffen, wie weit wir mit der Corona-Warn-App, mit der Aufstockung der Gesundheitsämter, mit besseren Teststrategien – all das liegt ja heute vor –, wie weit wir auch mit unseren besseren Schutzmaßnahmen immer weitere Lockerungen zulassen können, ohne wieder ins exponentielle Wachstum zu verfallen. Ich will Ihnen sagen: Mein Ziel ist, dass wir der neuen Welle, die kommen könnte, wenn das neue Virus Oberhand gewinnt, keinen Raum geben und nicht wieder einen solchen exponentiellen Anstieg von Fallzahlen haben, sondern dass wir alles tun, um die Kontrolle über die Kontaktnachverfolgung zu behalten, und keine große dritte Welle auslösen. Das bedeutet aber auch, dass wir achtsam sein müssen. Ich glaube nicht, dass das Hin und Her – einmal öffnen, einmal wieder schließen – für die Menschen mehr Berechenbarkeit bringt, als ein paar Tage länger zu warten und sich den Überblick darüber zu verschaffen, dass man in einem kontinuierlichen Prozess wirklich auch öffnen kann. ({19}) Und das genau ist doch auch die Spannung, unter der wir alle leben. Die spüre ich genauso wie Sie; davon können Sie ausgehen. Wer möchte nicht gute Nachrichten verkünden? Jeder weiß – ich habe es am Anfang gesagt –, wie sehr die Menschen leiden. Und trotzdem, glaube ich, war es gestern richtig, sich auf die Schulen, die Friseure und dann den ersten Öffnungsschritt bei einer bestimmten Inzidenz zu konzentrieren, und so werden wir auch weitermachen. Meine Damen und Herren, das, was wir gestern vereinbart haben – davon bin ich überzeugt –, ist geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Es gibt insbesondere auch weiterhin kein milderes Mittel als konsequente Kontaktbeschränkungen in allen genannten Bereichen, um das Infektionsgeschehen nachhaltig auf ein beherrschbares Niveau zu bringen und dort zu halten. Und ich glaube, am gestrigen Tag gab es noch eine wichtige Botschaft, die alle auch mit Interesse und Freude zur Kenntnis genommen haben; denn die sehnlichst erwarteten Anträge für die Überbrückungshilfe III können seit gestern gestellt werden. ({20}) – Schauen Sie: Ich weiß, wie viele Menschen auf das Geld warten. Ich weiß, welche Not ist und wie viele Menschen keine Liquidität mehr haben. ({21}) Ich weiß, wie der Einzelhandel leidet und andere auch. Aber eines will ich an dieser Stelle dann auch sagen: Der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesfinanzminister haben versprochen, dass im Februar die Anträge gestellt werden können und dass diese Anträge dann mit Abschlagszahlungen beantwortet werden, dass ab März die Auszahlungen durch die Länder erfolgen. ({22}) Wir haben heute den 11. Februar, gestern war der 10. Februar. ({23}) Das, was versprochen wurde, ist eingehalten, und trotzdem ist es für die Betroffenen eine wahnsinnig lange Zeit gewesen. Und ich bin froh, dass es jetzt so ist, wie es ist; das war ein wichtiger und sehnlichst erwarteter Schritt. ({24}) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, dieser Winter ist hart, ({25}) da draußen genauso wie in dem, was er mit unserem Leben macht. Aber wir haben unser Ziel klarer vor Augen, immer klarer. Wir sind nicht mehr sehr weit von Infektionszahlen entfernt, die uns Schritt um Schritt wieder Öffnungen und Freiheiten ermöglichen können, weil eben Infektionsketten wieder nachverfolgt werden können und weil die Überlastung des Gesundheitssystems verhindert wird. All die Anstrengungen und Entbehrungen jetzt noch einmal bis zum 7. März fortzusetzen, um die Mutationen kleinzuhalten und hoffentlich deutlich unter die 7‑Tage-Inzidenz von 50 zu kommen, das ist aus meiner Sicht die Anstrengung wert. Es geht immer wieder darum, dass wir weiter deutlich sinkende Zahlen haben. Wir müssen ausdauernd sein, und wir müssen geduldig sein, und ich weiß, dass das an einem solchen Tag wie heute keine leichte Bitte ist. Aber die Menschen können auf einen Staat setzen, auf eine Bundesregierung, die alles, was sinnvoll und möglich ist, in Bewegung setzt, um denen zu helfen, die Hilfe brauchen, damit sie über diese so schwere Zeit kommen. ({26}) Am Ende – das ist meine feste Überzeugung, und das ist auch mein Auftrag, den ich bis zum letzten Tag meiner Amtszeit erfüllen werde – können wir es gemeinsam schaffen, diese Pandemie zu besiegen und unser Land wieder in bessere Zeiten zu führen. Herzlichen Dank. ({27})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Fraktionsvorsitzenden der AfD, Dr. Alice Weidel. ({0})

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das unwürdige Schauspiel geht in die nächste Runde. ({0}) Eine von der Verfassung nicht vorgesehene Kungelrunde beschließt im Hinterzimmer weitreichende Eingriffe in das Leben und in die Freiheit der Bürger. Die Kanzlerin legt vorher fest, was dabei herauskommen soll, die Ministerpräsidenten betreiben im Vorfeld PR in eigener Sache, spielen Opposition, letztlich fügen sie sich doch. Das Parlament jedoch, die Stimme des Souveräns, darf hinterher noch ein wenig darüber debattieren, wie heute, ist aber in die Entscheidungen nicht eingebunden. Was für eine peinliche Inszenierung, was für eine dreiste Zurschaustellung von Arroganz der Macht, sehr geehrten Damen und Herren! ({1}) Und was für eine offene Missachtung der Bürger, die unter Ihren einsamen Beschlüssen leiden und mit denen Sie umspringen wie mit Untertanen, über deren Leben, Rechte, Schicksale Sie nach Belieben verfügen zu können glauben! Was die Bundesregierung hier betreibt, ist verfassungswidrig. ({2}) Sie spielen mit der Zukunft unserer Kinder. Es ist nicht das Virus oder die Pandemie, die einer ganzen Generation von Schülern und Kindern die Bildungschancen raubt – es ist Ihre falsche Politik, die nur Verbot und Zwang zu kennen scheint, die jungen und älteren Menschen, Familien und Berufstätigen, Selbstständigen und Unternehmern wertvolle Lebenszeit nimmt, sie in Depression, Einsamkeit und in den Ruin treibt. Drei Monate Wellenbrecher-Lockdown, und Sie wollen noch mal einen Monat dranhängen! Die Kollateralschäden Ihrer Methode von Einsperren und Dichtmachen wachsen ins Unermessliche. Die Deutsche Herzstiftung befürchtet einen massiven Anstieg der Zahl von Herztoten, weil eingeschüchterte Patienten nicht zum Arzt gehen. Ausgebliebene Vorsorgeuntersuchungen werden auch die Zahl der Krebstoten ansteigen lassen. Auch auf dem Arbeitsmarkt hinterlässt diese Lockdown-Politik eine Spur der Verwüstung: eine halbe Million neuer Arbeitslose, Millionen Kurzarbeiter, 175 000 Unternehmer und Selbstständige, die vor der Insolvenz stehen, Gastronomen und Gewerbetreibende, deren Lebenswerk zerbricht, Einzelhändler, die ihre letzten Reserven längst verbraucht haben, die auf Bergen von unverkaufter Ware und Schulden sitzen, ({3}) aber von den großspurig angekündigten Hilfen noch immer nichts gesehen haben – das haben Sie ja eben zugegeben. ({4}) Ich frage mich: Wollen Sie den Mittelstand, das Rückgrat unseres Wohlstands, vernichten? Wollen Sie uns auf den Stand eines Entwicklungslandes bringen? Dann sagen Sie es bitte ganz offen. Die Leute wollen wissen, woran sie sind, wenn sie das nächste Mal zur Wahl gehen, sehr geehrte Damen und Herren. ({5}) Sie klammern sich an den wirtschafts- und verfassungsfeindlichen Lockdown, als gäbe es keine intelligenteren Alternativen. Und statt den Bürgern eine verlässliche Perspektive für die Rückkehr zur Normalität zu bieten, verändern Sie laufend willkürlich die Parameter – Verdopplungszeit, R‑Wert, 7‑Tage-Inzidenz. Die für die 200er-Inzidenz beschlossenen Maßnahmen einfach bis zu einem Inzidenzwert von 35 fortzuführen, ist ein erneuter Rechtsbruch; das muss man hier ganz klar sagen. ({6}) Die schnelle Impfung großer Teile der Bevölkerung, die Sie ebenfalls zur Zielgröße erklärt haben, hat Ihre Regierung grandios versiebt, weil Sie die Zuständigkeit unter Brechung des Subsidiaritätsprinzips nach Brüssel delegiert haben. Und jetzt sind es neu aufgetretene Virusvarianten – Sie sagen „Mutanten“, das klingt bedrohlicher –, die als Lockdown-Rechtfertigung herhalten müssen. ({7}) Die Bürger haben dieses Hin und Her – ich muss es Ihnen ganz klar sagen –, diese Hinhaltepolitik satt. Sie wollen nicht länger für Politikversagen in Geiselhaft genommen werden. Sie fühlen sich mit Recht für dumm verkauft, wenn sie erfahren, dass Ihr Innenminister schon vor dem ersten Lockdown bei willfährigen Wissenschaftlern möglichst dramatische Szenarien angefordert hat, um harte Einschränkungen einfordern zu können, ({8}) oder wenn herauskommt, dass das Kanzleramt mit hastig hingeworfenen, bestellten Gefälligkeitsgutachten auf schnelle und lange Schulschließungen hingewirkt hat. Wo Sie Ihre Günstlinge hinsetzen – um es mal ganz klar zu sagen –, da versagen diese: Herr Altmaier bei der Entschädigung der von Zwangsschließung betroffenen Gewerbetreibenden und Frau von der Leyen bei der Organisation der Impfstoffbeschaffung. Es ist schon atemberaubend, sich hinzustellen und zu behaupten, es sei im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen und die Bundesregierung tue ihr Bestes. Ich will mir gar nicht vorstellen, was alles passiert sein muss, bis Sie endlich mal Fehler eingestehen. Unfassbar! ({9}) Die Coronapolitik in unserem Land muss grundlegend neu ausgerichtet werden. Wir brauchen den raschen und verbindlichen Ausstieg aus dem Lockdown. Der Weg dorthin muss öffentlich und unter Einbeziehung des Parlaments beraten werden. Dafür muss ohne Diffamierung und Ausgrenzung die gesamte Bandbreite der fachlichen und wissenschaftlichen Expertise gehört werden. ({10}) Ziel muss sein, die Hochbetagten und Vorerkrankten in öffentlichen Einrichtungen besonders zu schützen, ({11}) allen anderen Gefährdeten selbstverantwortlichen Eigenschutz zu ermöglichen, genügend Impfstoff für alle Impfwilligen bereitzustellen, das Gesundheitssystem so zu stärken, dass es mit den unvermeidlichen Erkrankungen fertig wird, und allen Bürgern ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Dafür zahlen sie nämlich Steuern, und dafür zahlen sie auch in das Sozialversicherungssystem ein. Die Grundrechte müssen wieder in Kraft gesetzt werden. Sie werden von der Verfassung garantiert und nicht von der Regierung zugeteilt. ({12}) Eine Einschränkung ist begründungspflichtig und nicht ihre Wiederherstellung, sehr geehrte Damen und Herren. ({13}) Das ist natürlich nicht so leicht wie Drohen, Verbieten und Geldverteilen im Dauerausnahmezustand, aber genau dafür sind Sie gewählt worden. Kehren Sie also zurück zu einer verfassungsgemäßen Politik. ({14}) Vielen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Wochen waren für alle extrem anstrengend. Viele sind an ihre Grenzen gekommen: Kinder und Jugendliche, Eltern, ältere Menschen, Pflege- und Medizinkräfte, Beschäftigte in Industrie und Handel, Soloselbstständige und Ordnungskräfte. Alle haben ihr Bestes gegeben. Selbst wenn wir in wenigen Monaten die Pandemie eingegrenzt haben sollten: Die Nachwirkungen werden bleiben, egal ob wir erkrankt waren oder nicht. Einige von uns haben Angehörige verloren oder Freunde, andere wissen von häuslicher Gewalt oder haben sie selbst erlebt. Wieder andere bangen um Bildungsabschlüsse oder ihren Arbeitsplatz. Vielen wird die Rückkehr zur scheinbaren Normalität schwerfallen. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund sind die gestern beschlossenen Maßnahmen eine weitere Last. Ja, man hatte nach all den Anstrengungen auf anderes gehofft. Gleichwohl sind die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz angemessen, notwendig und gut begründet. Sie erfordern nochmals große Strapazen und Disziplin; dass wissen wir. Die Erfolge sind sichtbar, aber zerbrechlich. Durch neue Mutationen wächst die Gefahr eines noch strengeren Lockdowns. Aber selbst wenn bei dieser Gratwanderung eine Perspektive erforderlich ist – und sie ist es –, dann geht es darum, die Frage zu stellen, wann Lockerungen möglich sind; und diese Fragen sind unerlässlich. Die Rückkehr zu einem weniger beschränkten Alltag muss anhand dynamischer und nachvollziehbarer Kriterien nach und nach entstehen. Durch Anpassungsfähigkeit und Transparenz können wir neue Freiräume schaffen. Angesichts der sozialen Bedeutung müssen davon zuerst Kinder und Jugendliche profitieren. ({0}) Gleichzeitig bitte ich aber auch die Länder, die Kinder- und Jugendhilfe nicht zu vergessen. Auch hier brauchen junge Menschen Zuwendung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten in der Pandemie Außerordentliches. Auch ihnen gilt unser großer Dank. ({1}) Im Rückblick wird erneut offensichtlich, wie verantwortungslos diejenigen waren, die die vorhersehbaren Folgen kleingeredet, gar mit der Zahl von Verkehrstoten verglichen haben. ({2}) Das war an Zynismus nicht zu überbieten. ({3}) Sie haben dazu beigetragen, dass manche Gefahren verkannt wurden. Sie haben sich schuldig gemacht. Und wenn jemand gegen die Verfassung in diesem Haus verstößt, dann sind Sie es. ({4}) Dabei verkennen wir nicht, dass Entscheidungsprozesse und Abwägungen öffentlich stattfinden müssen. Ein streitbarer, pluraler und fairer Austausch von Argumenten ist unverzichtbar, um Einsichten zu schaffen. Gerade wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen dafür sorgen, dass Einordnungen stattfinden. Absolute Wahrheiten gibt es auch in dieser existenziellen Krise nicht. Meine Damen und Herren, solange wir die Pandemie nicht erfolgreich eingegrenzt haben, muss der Staat immer wieder die individuelle und gesellschaftliche Sicherheit herstellen und gleichzeitig Freiheiten schützen. Fundamental bleibt dabei, soziale Stabilität und wirtschaftliche Zuversicht zu schaffen. ({5}) Wir sind überzeugt: Nur ein starker und sozialer Staat kann diese Herausforderungen bewältigen. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Monate, und es ist die Grundüberzeugung meiner Partei von Anfang an. ({6}) Dabei war es richtig, mit aller Kraft und finanziellem Engagement einzugreifen. Heute können wir feststellen, dass die deutsche Wirtschaft angesichts großer Hilfen besser durch die Krise kommt als andere Volkswirtschaften. Auch deswegen erwarten wir, dass weitere Wirtschaftshilfen jetzt endlich ankommen. Wir haben genügend Geld dafür bereitgestellt. ({7}) Die finanziellen Hilfen sind wichtig, aber ohne Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Familien ist alles andere vergeblich. Deswegen hat meine Fraktion von Anfang an dafür gestritten, dass das Kurzarbeitergeld nicht nur gewährt wird, sondern dass damit auch Perspektiven verbunden sind. Ich kann mich erinnern: Manche Diskussion im Koalitionsausschuss war nicht leicht gewesen, Frau Bundeskanzlerin, und ich bin froh, dass wir Sozialdemokraten uns bei der letzten Entscheidung dafür eingesetzt haben, dass ein zusätzliches Kinderkrankengeld gewährt werden kann eben für die Eltern, die keine verlässlichen Betreuungsangebote haben. Das war wichtig in dieser Krise, weil auch das Perspektiven schafft. ({8}) Gleichzeitig will ich daran erinnern – wir bringen es in dieser Woche auf den Weg –, dass ein zusätzliches Kindergeld gewährt wird. Das ist angemessen angesichts der steigenden Ausgaben, aber ich glaube auch, dass es, wenn es gewährt wird, zusätzlich als Konjunkturimpuls wirkt. Auch dass Leistungsbezieher in der Grundsicherung jetzt einen einmaligen Beitrag bekommen, ist wichtig. Gleichzeitig hätten wir uns gewünscht, nicht nur den erleichterten Zugang bis zum 31. Dezember dieses Jahres zu gewähren, sondern auch, dass eine grundsätzliche Bereitschaft besteht, gerade aus der Pandemie zu lernen. Das sage ich nicht nur vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern das ist auch ganz klar die Grundüberzeugung meiner Partei. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Impfungen bleiben der entscheidende Hebel zur Besserung. Wir können stolz sein: Früher brauchte man Jahre, um einen sicheren Impfstoff herzustellen. Wir haben es wesentlich schneller geschafft. Großer Erfindergeist war notwendig, und die Einsicht wächst, dass vieles möglich ist, wenn Menschen ihre Potenziale gemeinsam mobilisieren und nicht an Ländergrenzen Halt machen. Offenheit, Pluralität und Bildung sind die besten Antworten bei der Lösung komplexer Probleme. Auch das zeigt diese Pandemie. ({10}) Mittlerweile wissen die meisten, dass die Fragen, die wir vor einigen Wochen zur Impfsituation gestellt haben, berechtigt waren, zumal es uns immer um Fortschritte ging. Heute haben wir eine überzeugendere Perspektive, und alle konzentrieren sich endlich auf noch bessere Bedingungen und Sicherheiten. Dass wir die Impfstoffherstellung weiter steigern können, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Der Deutsche Bundestag wird hierbei wieder ein entscheidendes Wort mitreden, auch durch ein neu zu schaffendes Gremium, welches unseren Sachverstand bündelt und die Arbeit der Fachausschüsse stärkt. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wir trotz aller Probleme zuversichtlich in das noch junge Jahr starten können. In wenigen Wochen wissen wir, ob Geimpfte das Virus noch übertragen. Dann können wir Freiheitsrechte nach und nach zurückgewinnen. Wer heute mehr verspricht, handelt fahrlässig. Was die Mehrheit der Menschen gemeinsam mit uns schaffen, ist jedoch mehr als nur die Bekämpfung der Pandemie. Es ging von Anfang an auch um die Verteidigung unseres demokratischen Gemeinwesens. Wie verletzlich Demokratien sind, zumal auch ältere, zeigt der Blick in andere Regionen der Welt: In den USA hat ein ehemaliger Präsident einen Staatsstreich angezettelt. Es waren verwirrende Bilder bei der Amtseinführung, dass ein Parlament durch Militär geschützt werden musste. Und immer noch ist es wahr: Ein leichtfertig herbeigeführter Brexit lässt nur Verlierer zurück. Wenn ich nach Italien schaue, bin ich zwar froh, dass man hoffen kann, dass ein Ende der Regierungskrise absehbar ist, aber dass in Demokratien so fahrlässig gehandelt wird, ist eine große Last, die auf uns liegt. ({11}) Deswegen: Ja, Demokratien sind empfindsamer als andere politische Ordnungen. Das macht sie angreifbarer. Gleichwohl ist die Anziehungskraft demokratischer Ideale ungebrochen; schauen wir nach Minsk, Budapest, Hongkong, Moskau, Yangon und Kampala! Um die Kraft der sozialen Demokratie zu stärken, haben wir uns der Pandemie ebenso entgegengestemmt – mit ganzer Verantwortung und Konzentration. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungserklärung war dringlich; denn selten zuvor war die Politik der Regierung so erklärungsbedürftig. Wesentliche Inhalte kannten wir aber bereits, nicht erst seit der Pressekonferenz vom gestrigen Abend oder der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden; denn vorgestern bereits haben Medien berichtet über das, was das Bundeskanzleramt mit den Landesregierungen besprechen will. Während gestern das Parlament hier getagt hat und sich mit anderen Dingen beschäftigt hat, war für die breite Öffentlichkeit die Entscheidungsgrundlage der Ministerpräsidentenkonferenz bereits im Internet zum Download verfügbar. Ich rate ab, Frau Merkel, diesen Umgang mit dem Parlament zur ständigen Staatspraxis werden zu lassen. ({0}) Aus gutem Grund haben drei Fraktionen dieses Hauses deshalb dazu geraten und dringend darum gebeten, dass Sie vor der Runde mit den Ländern den Deutschen Bundestag über Ihre Absichten und Grundlinien unterrichten. Damit haben wir nichts Unmögliches verlangt; denn im Vorfeld des Europäischen Rates entspricht das der Praxis der Regierung und entspricht dem Umgang der Regierung mit diesem Parlament. Das hätte die Möglichkeit geboten, dass Sie Ihre Maßnahmenvorschläge darstellen. Es hätte die Chance eröffnet, auch die wissenschaftlichen Grundlagen zu hinterfragen. Und es wäre vor allen Dingen darum gegangen, alternative Strategien hier in die Debatte einzubringen. Sie haben diese Möglichkeit leider ausgeschlagen – dabei wäre es eine Chance auch für Ihre Regierung gewesen, um Verständnis und Vertrauen der Menschen zu werben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es unverändert mit einer gefährlichen Pandemie zu tun. Wer die Gefahren, die mit der Covid-Erkrankung verbunden sind, relativiert, der handelt fahrlässig oder gar vorsätzlich. Aber wir leben nun auch ein Jahr in und mit dieser Pandemie, wir haben, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat, gelernt. Die Infektionszahlen gehen zurück. Es gibt – zu langsame und zu beschwerliche, aber immerhin gibt es sie – Fortschritte bei den Impfungen. Deshalb und angesichts der großen Erschöpfung in unserer Gesellschaft waren die Erwartungen an die gestrige Runde groß. Diese Hoffnungen sind enttäuscht worden; denn viele Menschen haben sich mehr erwartet als einen frischen Haarschnitt. ({2}) Der wesentliche Ansatz Ihrer Strategie findet sich auch in dieser Vorlage – ich zitiere –: Der Grundsatz „Wir bleiben zuhause“ bleibt das wesentliche Instrument im Kampf gegen die Pandemie … Zitat Ende. – Wirklich? Auch nach einem Jahr noch? Trotz allem, was wir gelernt haben, hangeln wir uns seit Oktober/November von einem Lockdown, von einem Gipfel zum nächsten, ohne eine klare Perspektive. ({3}) Das ist bestenfalls einfallslos; mit Sicherheit, Frau Merkel, ist das nicht alternativlos. ({4}) Christiane Woopen, die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, in diesem Haus von vielen sehr geschätzt und mit Sicherheit eine verantwortungsbewusste und umsichtige Persönlichkeit, hat dieser Tage in einem Interview Folgendes gesagt – ich zitiere –: Seit … einem Jahr drehen sich diese Runden fast unverändert um das Gleiche: den Lockdown … Ich halte es für dringend erforderlich … eine Perspektive zu eröffnen, statt Durchhalteparolen zu verkünden. Und weiter Frau Woopen: Ich habe … kein Verständnis mehr dafür, dass man vorhandene Technologien nicht nutzt. Wir haben dafür auch kein Verständnis mehr, Frau Merkel. ({5}) Warum orientieren wir uns nicht an Kommunen wie Tübingen oder Rostock? Wo sind die wirksamen und hier im Hause oft genug angemahnten Strategien zum wirklichen Schutz der vulnerablen Gruppen, und zwar nicht nur in Alten- und Pflegeheimen, sondern auch etwa durch die oft hier angemahnten exklusiven Zeitfenster für den Einkauf oder Taxigutscheine? Wo ist die breite Initiative, Luftfilter in die Praxis zu bringen? Wo setzen wir systematisch Schnelltests ein? Und warum wurde die Corona-Warn-App mit großen Erwartungen öffentlich vorgestellt und danach technologisch kein bisschen weiterentwickelt? ({6}) Deshalb bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten zurück, und deshalb orientieren wir uns ausschließlich am Stillstand, statt auch mit der Bedrohung durch das Virus neue Möglichkeiten für gesellschaftliches Leben zu eröffnen. Und die werden wir brauchen; denn wir können uns nicht sicher sein, dass dies die einzige Zoonose ist, mit der die Menschheit in den nächsten Jahren umzugehen hat. Wir können uns noch nicht mal sicher sein, ob es nicht dereinst eine Mutation dieses Virus geben könnte, auf die die Impfung eben nicht mehr die wirksame Antwort ist, zumindest nicht mit den vorhandenen Impfstoffen. Also brauchen wir jetzt Methoden und eine Infrastruktur, mit der wir die Pandemie besser ausbalancieren mit dem Gesundheitsschutz, der notwendig ist, aber auch mit der Freiheit, die die Menschen auch leben müssen. ({7}) Über Monate haben wir uns bei den Inzidenzen an der Zahl 50 orientiert, obwohl sie eine politische Setzung ist, ({8}) obwohl Oberbürgermeister, auch CDU-Oberbürgermeister, sagen, selbstverständlich können sie auch mehr als 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner in der Woche inzwischen nachverfolgen. Wir haben uns auf diese Zahl von 50 in Deutschland fixiert. Und nun wird sie in der zentralen Bedeutung ersetzt durch die 35, und wir wissen, dass im Kanzleramt auch schon über die 10 als Zahl gesprochen worden ist. Dadurch dass die wesentliche Entscheidungsgrundlage ausgetauscht wird, ohne Vorbereitung, ohne klare Argumentation, gefährden Sie die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung insgesamt. ({9}) Wo ist die Berechenbarkeit? Im Infektionsschutzgesetz übrigens wird ausdrücklich auch ein regionaler Zugang angemahnt; im von der Großen Koalition beschlossenen Infektionsschutzgesetz wird angemahnt, regional zu differenzieren. Tatsächlich haben wir heute bereits eine Vielzahl von Landkreisen mit Inzidenzen von unter 50, gar unter 35. Und trotzdem gelten dort die gleichen Beschränkungen wie in den Hotspots mit Inzidenzen von über 200. Da ist bereits der Zweifel an der Verhältnismäßigkeit angelegt, Frau Bundeskanzlerin. ({10}) Es ist richtig, Kitas und Schulen zu öffnen. Aber auch in Ihrer Regierungserklärung hier haben Sie gerade deutlich gemacht, mit welch hinhaltendem Widerstand aus dem Kanzleramt dies erfolgt. Herr Kretschmann hat das in der Runde dem Vernehmen nach gestern auch angesprochen. Warum stellt Frau Karliczek, finanziert mit öffentlichen Fördergeldern, in dieser Woche eine wissenschaftliche Studie zu der Frage vor, unter welchen Bedingungen, mit welchem Paket an Maßnahmen in der Pandemie die Förderung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen möglich ist, wenn die eigenen Empfehlungen des Bundesbildungsministeriums im Bundeskanzleramt nicht ernst genommen werden? ({11}) Sie öffnen die Friseure, obwohl das eine sogenannte körpernahe Dienstleistung ist und man sich nun wirklich sehr nahe kommt beim Haarschnitt. Das ermöglichen Sie, weil Sie sagen: Nun gut, da gibt es Hygienekonzepte, da wird die Maske getragen, und deshalb ist es verantwortbar, den Friseur zu öffnen. – Das ist richtig. Aber gibt es solche Hygienekonzepte nur bei den Friseuren, nicht in gleicher Weise im Sport, in Fitnessstudios, die auch gesundheitspräventive Wirkung haben? Gibt es diese Gesundheitskonzepte nicht auch im Bereich der Kosmetik? Sind sie ausgeschlossen beim Handel? Gar in der Gastronomie sind solche Hygienekonzepte denkbar. Deshalb trägt die Entscheidung für die Friseure bereits den Makel einer nichtsystematischen Ausnahme. Was wir brauchen, ist eine Systematik klarer Wenn-dann-Regeln, weil nur das die Berechenbarkeit für die Menschen und übrigens auch für die Behörden bringt. ({12}) Diese Systematik in der Form eines Stufenplans war von Ihnen vor drei Wochen ja bereits auch angekündigt worden. Diese Arbeitsgruppe, falls sie tagte, hatte kein Ergebnis. Wir haben deshalb in dieser Woche einen Sieben-Stufen-Plan vorgelegt, mit dessen Systematik es möglich ist, regional zu öffnen. ({13}) Und dieser von uns vorgelegte Stufenplan ({14}) ist natürlich getragen von unseren Grundüberzeugungen. Vielleicht stärker als andere Fraktionen hier im Haus setzen wir Vertrauen in die Eigenverantwortung der Menschen, und setzen wir darauf, dass es für große Probleme auch innovative technische Lösungen gibt. Das muss nicht jeder teilen. Aber es gibt auch andere Stufenpläne: Innerhalb der Landesregierung von Rheinland-Pfalz mit Sozialdemokratie, den Grünen und FDP wird darüber nachgedacht. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein mit Union, Grünen und FDP war die erste, die einen solchen Stufenplan vorgelegt hat. Wem also unser hier vorgelegter Stufenplan, der liberalen Charakter hat, zu weitgehend ist, der findet mit Unterstützung der eigenen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern auch politische Alternativen. Dass Sie als Bundesregierung dennoch untätig gewesen sind und den einmal nicht erfüllten Arbeitsauftrag einfach in die Zukunft fortschreiben, das zeigt, dass Sie in Wahrheit gar kein Interesse an einem solchen Perspektivplan haben, so notwendig er auch ist. ({15}) Und deshalb, verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, ist diese Regierungserklärung eine Enttäuschung. Sie ist bedauerlicherweise nur ein Weiter-So. Mein letzter Gedanke. Wenn Sie schon den Lockdown jetzt weiter verschärfen – wer weiß, wie lange –, dann passen Sie Ihre wirtschaftlichen Hilfen auch an. Es ist ein schweres Versäumnis, dass die Sozialdemokratie und Herr Scholz immer noch nicht ihren Widerstand gegen das unbürokratischste, schnellste und wirksamste Instrument aufgegeben haben, Betriebe und Selbstständige zu unterstützen, nämlich den vollen steuerlichen Verlustrücktrag, und zwar auf die gesamten letzten Jahre seit 2017. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lindner, die Zahl 50 und auch die Zahl 35 stehen im § 28a Infektionsschutzgesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen, und sind insofern nicht willkürlich. – Das zu Ihrer Behauptung, der Deutsche Bundestag wäre hier nicht beteiligt, meine Damen und Herren. ({0}) Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Wochen und Monate angucken, dann muss man sagen: Der Lockdown wirkt. Wir kommen von Inzidenzen, von Neuinfektionszahlen von knapp 200, wir sind jetzt unter 65; das heißt, die Maßnahmen haben gewirkt. Und wir liegen übrigens auch im europäischen Vergleich mit unseren Neuinfektionen sehr, sehr gut, besser als viele, viele andere Länder, besser als viele Nachbarländer. Wir liegen auch insgesamt noch sehr gut bei der Anzahl der Infizierten auf 100 000 Einwohner und auch, ja, bei der Anzahl der Toten auf 100 000 Einwohner. Was schlecht ist – das gehört zur Wahrheit leider auch dazu –, ist die Anzahl der Toten bei den Hochbetagten. Das ist eine Sache, wo wir uns als Gesellschaft fragen müssen, ob wir dort alles richtig gemacht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) – Meine Damen und Herren, das war jetzt sehr interessant. Jetzt sagt Herr Lindner: Da muss die CDU sich fragen. ({2}) Also, ich finde es schon sehr, sehr interessant, wie Sie mit dieser Krise umgehen, wie Sie versuchen, parteipolitisch Kapital zu schlagen, ({3}) wie Sie versuchen, Wahlkampf in der schwersten Krise zu machen, die diese Republik hat. ({4}) Es ist erbärmlich, Herr Lindner. Und die Wählerinnen und Wähler zeigen es Ihnen auch bei den Umfragen, dass das nicht verfängt, was Sie hier veranstalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir sind beim Impfen zu langsam, aber mittlerweile ins Rollen gekommen, und wir sind beim Thema Wirtschaftshilfen – das muss man an dieser Stelle auch sagen – viel, viel umfangreicher unterwegs als die meisten anderen Länder. Und ja, Herr Mützenich, dazu gehört auch das Kurzarbeitergeld. Dazu gehört ein vereinfachter Zugang bei Hartz IV. Es ist ein Gesamtpaket, was wir im Bereich Wirtschaft auf den Weg gebracht haben, und es ist gut, dass die Überbrückungshilfe III jetzt auch ausgezahlt wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Und für all diejenigen, die jetzt sagen: Ja, aber in anderen Ländern ist es besser. – Ja, andere Länder haben andere Umstände. Australien ist eine Insel, und wir können uns gerne mal die Repressionsmaßnahmen in China daraufhin angucken, ob wir die hier haben wollen. Und im Übrigen ist es so, dass andere Länder auch nicht so viele Hochbetagte haben wie wir. Aber eins ist auch richtig: Alle Länder, die besser durch die Pandemie gekommen sind als wir, hatten zuerst einen radikalen Lockdown und haben zuerst die Zahlen nach unten geknüppelt, nach unten geprügelt. Deswegen ist es auch richtig, was wir hier machen, dass wir sagen: Bevor wir in differenzierte Maßnahmen einsteigen, müssen wir erst die Zahlen nach unten kriegen. ({7}) Und das ist genau die Politik, die auch nach den Beschlüssen gestern in der Ministerpräsidentenkonferenz entsprechend weitergeführt wird. Diese Politik ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Deswegen ist es auch voll zu unterstützen, dass die Lockdown-Maßnahmen weitergeführt werden. Sorgen bereitet mir allerdings, auch wenn es in unserem Grundgesetz so vorgesehen ist, dass die Länder individuell darüber entscheiden, die Schulen und die Kitas wieder zu öffnen. Ich habe da meine Zweifel, ob das in dieser Phase richtig ist. ({9}) Denn betrachten wir mal, von welchen Zahlen wir kommen. Die Bundeskanzlerin hat es gesagt: Wir kommen von Inzidenzen unter 10, unter 5, und da müssen wir auch wieder hin, um entsprechend die Öffnungen hinzukriegen. ({10}) Natürlich ist es sehr, sehr hart für die Schülerinnen und Schüler, für die Eltern, für die Familien, und wir erkennen auch an, dass es hart ist. Es ist eine Zumutung. Aber es ist auch eine Zumutung, dass mehr als 60 000 Menschen in diesem Land gestorben sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({11}) und auch das muss man immer wieder im Hinterkopf behalten, wenn man über Freiheitsrechte redet. Und ich bleibe dabei, Herr Lindner, was ich hier vor einigen Wochen gesagt habe: Freiheit ist auch immer die Freiheit der Schwachen und nicht nur die Freiheit der Starken. ({12}) Aber wenn wir mal nach vorne schauen, dann reicht es ja jetzt nicht, dass Ministerpräsidenten, dass das Bundeskabinett, dass wir hier uns klar darüber sind, wie es weitergeht, sondern es gibt eine Menge Dinge, die noch zu tun sind. Ich möchte Ihnen fünf Dinge nennen, an die wir jetzt ranmüssen. Das erste ist das Thema Schulen. Ja, es ist die Länderkompetenz. Aber trotzdem erwarte ich – gerade vor dem Hintergrund, dass jetzt wieder Öffnungen auf den Weg gebracht werden – Teststrategien, Lüftungsstrategien, Logistikstrategien, sodass die Schulbusse nicht mehr so voll sind. Beim Thema Schulen erwarte ich, dass es eine Lernstandserhebung dazu gibt, ({13}) was verpasst worden ist, dass es Konzepte dafür gibt, wie dieser Stoff über den Sommer hinweg durch Nachhilfe, durch Sommerakademien aufgeholt werden kann, dass es Konzepte dafür gibt, wie insbesondere die Kinder gefördert werden, die in benachteiligten Familien aufwachsen, wo nicht geholfen werden kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das gehört nämlich auch dazu. Ich glaube, wir haben im Bereich Schule sehr, sehr viel zu tun. ({14}) Der zweite Bereich: Gesundheitsämter. Das Rückgrat unserer Pandemiebekämpfung sind die Gesundheitsämter. Ja, wir haben einen Pakt für das öffentliche Gesundheitswesen. Ja, wir haben mehr Geld bereitgestellt. Aber dieses Geld muss jetzt auch entsprechend umgesetzt werden. Die Softwarefrage muss schnell gelöst werden. ({15}) Wir müssen die Prozesse analysieren, und wir brauchen eine Monitoringstelle, wo die Qualität der Gesundheitsämter auch tatsächlich kontrolliert wird; sonst können sie nicht das Rückgrat der Bekämpfung der Pandemie sein. Und ja, dazu gehört auch eine adäquate Bezahlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern. Dritter großer Bereich: Altenheime. Wir haben jetzt viele Erfolge beim Impfen der hochbetagten Menschen erzielt, die in den Altenheimen wohnen. Wir brauchen aber eine weiterführende Strategie. Was ist mit den Menschen, die jetzt neu aufgenommen werden, die noch nicht geimpft sind? Wo gibt es da das Konzept, mit dem flächendeckend sichergestellt wird, dass derjenige, der neu in einem Altenheim aufgenommen wird, auch geimpft wird? ({16}) Wie führen wir die Teststrategien weiter? Es reicht ja nicht, jetzt zu sagen: Alle sind geimpft, und alles ist gut. Vor allen Dingen müssen wir eins klären – und das habe ich eben schon mal gesagt –, und das ist das große Problem, das wir in dieser Pandemie gehabt haben: Warum sind so viele Menschen in den Alten- und Pflegeheimen gestorben? Was ist dort falsch gemacht worden? ({17}) Diese Fragen müssen nicht beantwortet werden, um mit dem Finger auf irgendjemanden zu zeigen, sondern um die Dinge in der Zukunft besser zu lösen und vor allen Dingen eine höhere Sicherheit für die Menschen dort zu erzielen. Vierter Bereich: Impfen. Ja, wir beschaffen jetzt mehr Impfstoff. Das ist gut. Wir brauchen eine zweite Sache, wir brauchen ein besseres Impfterminvergabemanagement. Was in einigen Bundesländern in den letzten Wochen passiert ist – dass 80-Jährige und über 80-Jährige tagelang in Telefonwarteschleifen festgehangen haben, dass sie in Onlineschleifen festgesessen haben –, das ist nicht akzeptabel, und das ist würde- und respektlos gegenüber den alten Menschen in diesem Land. ({18}) Und wenn wir über das Thema Impfen reden, dann müssen wir uns auch darauf vorbereiten, dass diese Pandemie nicht vorbei ist, dass wir vielleicht nachimpfen müssen, dass wir noch mal impfen müssen, dass die nächste Pandemie kommt. Deswegen brauchen wir eine Impfstrategie 2022. Und eins haben wir gelernt: Bei aller Wertschätzung für globalisierte Wertschöpfungsketten brauchen wir eine Impfstoffproduktionsautarkie innerhalb der Europäischen Union. Wenn wir nicht in der Lage sind, unseren Impfstoff selbst herzustellen, dann werden wir immer von anderen Regierungen, von anderen Regionen abhängig sein. Dafür ist die Frage zu ernst. ({19}) Beim Thema Impfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich auf noch einen Punkt hinweisen. Wir tun hier immer so, als wenn alles zu langsam wäre und nicht schnell genug ginge. Das mag vielleicht auch richtig sein. Aber die meisten Länder in dieser Welt impfen noch gar nicht, insbesondere Schwellenländer, insbesondere Länder in der Dritten Welt. ({20}) Ich glaube, wir haben die moralische Verpflichtung, dass wir Impfstoff auch weltweit zur Verfügung stellen. Wir sollten nicht nur an uns denken, sondern wir sollten auch an die Welt denken, wenn wir über das Thema Impfen reden. ({21}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen weiteren Punkt. Da können wir nicht warten, bis die Pandemie vorbei ist. Dabei habe ich sowieso die Befürchtung: Wenn die Pandemie vorbei ist, dann werden wir uns wieder anderen Dingen zuwenden und nicht den Katastrophen, nicht den Dingen, die auf uns zukommen können; denn diese Pandemie wird nicht die letzte Katastrophe sein. Sie wird nicht die letzte Pandemie sein. Die nächste Katastrophe kann im Cyberbereich stattfinden. Es können Klimafolgen sein wie Dürre, wie Hochwasser und viele andere Sachen. Wir haben eigentlich die Mechanismen, dass wir eine Risikoanalyse machen. Ja, wir hatten auch eine Risikoanalyse zu Pandemien; aber wir haben sie nicht ernst genug genommen. Dementsprechend müssen wir uns intensiver mit einer Katastrophenvorsorge beschäftigen. Wir haben auch nicht die gesetzlichen Grundlagen. Ich bin der Meinung, dass der Deutsche Bundestag sehr gut und vernünftig mit der Sache umgegangen ist, dass wir gesetzliche Grundlagen in kurzer Zeit geschaffen haben. Aber wir müssen uns grundständig damit beschäftigen: Was ist denn bei nationalen Notständen? Wir haben eine Notstandsgesetzgebung im Wesentlichen für den Verteidigungsfall. Aber wir glauben doch alle nicht, dass die nächste große Katastrophe in diesem Land der Verteidigungsfall sein wird, sondern das wird etwas anderes sein. Und ja, wir müssen das Verhältnis von Exekutive und Legislative auch klären und definieren, und zwar für alle Katastrophen und für alle nationalen und europäischen Notstände. ({22}) Wir müssen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eines machen: Wir müssen uns besser darauf vorbereiten. Wir haben super Katastrophenstäbe in den einzelnen Landkreisen und in den Städten. Wir sind regional super aufgestellt mit den Feuerwehren und den Hilfsorganisationen. Aber denken wir an die operative Bund-Länder-Koordination bei Katastrophen: 24 Stunden, sieben Tage in der Woche ständige Katastrophenstäbe, Stäbe, die auch üben. Die Bundeswehr hat 70 Jahre für den Fall geübt, dass irgendwelche Panzer an unserer Grenze stehen. Sie sind Gott sei Dank nicht gekommen. Wir müssen den Umgang mit Katastrophen üben. Wir müssen Automatismen schaffen, dass wir mit diesen Katastrophen besser klarkommen. Darum geht es jetzt, und das muss die Lehre aus dieser Pandemie sein. Insofern haben wir noch sehr viel zu tun. Wir sollten das angehen. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass diese Pandemie aufhört. Aber, ehrlich gesagt, diese Krise wäre eine vergeudete Krise, wenn wir nicht daraus lernen würden. Wir müssen lernen. Einige Punkte habe ich Ihnen aufgezeigt. Vielen Dank. ({23})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Frau Bundeskanzlerin, es mag Sie nerven, aber ich will ausdrücklich festhalten: Für Die Linke bleibt es inakzeptabel, dass wir im Bundestag erst wieder nach einer Ministerpräsidentenrunde debattieren und nicht vorher. ({0}) In der Krise zeigt sich die Stärke der Demokratie und ihrer Institutionen. Der Bundestag gehört dazu. Frau Bundeskanzlerin, Sie sind der Auffassung, dass im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen ist. Herr Brinkhaus hat sinngemäß eben den Satz gesagt: Selbst bei den Toten liegen wir gut. ({1}) Den würde ich noch einmal überprüfen. Ich will festhalten, dass viele Menschen in unserem Land es anders sehen, wenn Sie meinen, nichts sei schiefgelaufen. Sie haben auch heute wieder null Selbstkritik geäußert, aber vergleichsweise viel Selbstgefälligkeit. Auch einer Bundeskanzlerin steht ein gewisses Maß, ein Mindestmaß an Selbstkritik gut zu Gesicht, meine Damen und Herren. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf Vorschläge aus diesem Haus – von uns, von den Grünen, von der FDP – wenig gehört und im Sommer und im Herbst das Land nicht auf den Coronawinter entsprechend vorbereitet. Ich will nur ein Beispiel nennen: Im Herbst ist hier über ein Schutzkonzept für Heime gesprochen worden; auch viele Experten haben das eingefordert. Und täglich sterben weiter viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen, weil sie nicht geschützt werden und der Impfstoff fehlt. In Hessen zum Beispiel kamen im Januar 73 Prozent derjenigen, die an Corona verstorben sind, aus Alten- und Pflegeheimen. Und Sie sagen, da ist nichts schiefgelaufen? Das Sterben in den Heimen ist vielleicht das dunkelste Kapitel der letzten Jahrzehnte. Dazu gab es übrigens nie einen Gipfel. Nicht dass wir als Opposition das alles besser gemacht hätten, darum geht es überhaupt nicht; aber diese Papstattitüde der Unfehlbarkeit ist in dieser Situation unangebracht, meine Damen und Herren. ({3}) Deshalb: In einer historischen Ausnahmesituation, wo das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, über das wir alle sprechen, das höchste Gut ist, sollten Fehler zugegeben werden und nicht selbstgerecht vom Tisch gewischt werden. In den letzten Monaten ist vieles schiefgelaufen. Vom Pandemieweltmeister im Frühjahr sind wir abgestiegen in den Impfkeller Europas. Wir haben seit Wochen leere Impfzentren, Millionen verzweifelte Bürger, die stundenlang in Warteschleifen stecken. Und Sie sagen, es ist nichts schiefgelaufen? Beim Impfen stehen wir hinter Rumänien, hinter Griechenland, hinter der Slowakei. Wir sind selbst in der EU weit abgeschlagen. Frau Bundeskanzlerin, Deutschland hatte im vergangenen Jahr von Juli bis Dezember die Ratspräsidentschaft in der EU. Natürlich ist es richtig, dass europäisch bestellt wurde; das bestreitet doch von uns hier niemand. Aber überaus fraglich ist in der Tat, warum Sie eine frühere Ministerin damit beauftragt haben, die schon einmal an Verträgen gescheitert ist. ({4}) Frau von der Leyen nach dem Beraterskandal im Verteidigungsministerium den Ausweg nach Europa zu ermöglichen, war augenscheinlich ein Fehler, Frau Merkel. ({5}) Aber zurück zu Ihrem Krisenmanagement. In Deutschland wachsen die Unzufriedenheit, Verzweiflung und auch Wut. Das hat sich auch nach gestern nicht geändert, und das wissen Sie. Herr Brinkhaus hat die Länder, wo es nicht funktioniert, genannt. Aber in den USA, in Großbritannien, in Israel, in vielen anderen Ländern wird im Rekordtempo geimpft, und in Deutschland erleben die Menschen aktuell eben ein Impfdebakel. Das ist die Wahrheit. Sie müssen drei Fragen den Bürgerinnen und Bürgern beantworten. Erstens. Warum bestellte die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft den Impfstoff, den Deutschland mit viel Steuergeldern gefördert hat, vier Monate später als Großbritannien und die USA? Zweitens. Warum bestellte die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft weniger Impfdosen von BioNTech und Moderna, als möglich war? Und warum hat es Deutschland zugelassen, dass beim Preis gefeilscht worden ist? 520 Millionen Impfdosen weniger wurden zunächst bestellt. Andere Staaten haben nicht geknausert, als es um das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger ging. Drittens. Warum haben sich die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft und die Bundesregierung selbst im Jahr 2020 nicht um die Ausweitung der Produktionskapazitäten gekümmert? Der Impfgipfel vergangene Woche war faktisch ein Placebo. Sie haben die Impfstoffentwicklung zu Recht gefördert, aber die Produktion bis heute verschlafen. Großbritannien und die USA agieren vergleichsweise komplett anders. Nun sagen Sie immer: Das ist der Flaschenhals am Anfang. – Aber das ist nicht der Fall. In den USA werden 1,5 Millionen Menschen täglich geimpft, und es werden täglich noch mehr, die geimpft werden. Die Amerikaner haben eben sehr früh in der Operation Warp Speed 18 Milliarden Dollar in Forschung, Produktion und Impfstoffe investiert. Die EU hat darin nur 3 Milliarden Euro investiert. Was für ein Missverhältnis! Europa hat deutlich mehr Einwohner. Es ist kein Zufall, dass in drei amerikanischen Bundesstaaten inzwischen mehr geimpft worden ist als in ganz Europa. Sie sagen, Herr Brinkhaus, völlig zu Recht: Impfstrategie! – Aber sorgen Sie einmal dafür, dass bei den Hausärzten jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die impfberechtigt sind, damit die zügig agieren können. 20 Millionen impfen die jedes Jahr gegen Grippe. Das muss man aber jetzt vorbereiten, damit das möglich wird. ({6}) Meine Damen und Herren, ich will eine Bemerkung machen: Die Pandemie ist weltweit, ja. Was ist eigentlich mit dem globalen Süden? Wann soll der impfen? Wir haben eine Sondersituation. Deswegen: Heben Sie die Patente auf! Es muss global produziert und geimpft werden. ({7}) Patentschutz ist eine Impfbremse und ein Mutationstreiber. Corona kann in veränderter Form zurückkommen, das erleben wir gerade. Meine Damen und Herren, für Kinder, für Jugendliche, für Alleinerziehende wird der Zustand mit jedem Tag unerträglicher. Kinder dürfen aber nicht die Verlierer der Krise sein. Wie viel Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler waren eigentlich bei Ihren Beratungen dabei? Heute hören wir von einer Studie aus Hamburg: Ein Drittel der Kinder haben psychische Störungen durch die Pandemie. Es ist nicht nur das Virus, das krank macht; es ist auch der Umgang mit dem Virus, der zunehmend Schäden anrichtet. Die Bürgerinnen und Bürger haben die Infektionszahlen mit viel Selbstdisziplin und Solidarität nach unten gebracht. Ja, dazu gehört immer der Dank etwa an die Ärzte und Pfleger; da kann ich mich Ihnen anschließen. Aber sie haben das auch im Vertrauen auf die Politik gemacht, und das wurde vielfach enttäuscht. Sie haben heute darauf aufmerksam gemacht, dass Herr Altmaier das gestern schon auf die Seite gebracht hat. Am 10. Februar! Ich meine, die Novemberhilfen sind teilweise noch nicht ausgezahlt – Novemberhilfen! –; wir haben Februar. Das ist ein Skandal. Fragen Sie einmal Unternehmer und Handwerker, wie es denen geht. Da sagt Herr Altmaier auch, er sieht keine Fehler, und schiebt das auf die Länder. Also, wenn er keine Fehler sieht, dann muss er wirklich einmal zum Augenarzt gehen, meine Damen und Herren. ({8}) Hunderttausende Menschen bangen um ihre Selbstständigkeit und ihre wirtschaftliche Existenz. Warum gibt es kein unbürokratisches Selbstständigengeld, keinen Unternehmerlohn? Den Großen helfen Sie vergleichsweise unkompliziert, wie wir immer wieder sehen, und bei den Kleinen warten Sie monatelang. Meine Damen und Herren, das Land treibt aktuell sozial weiter auseinander. Familien und Menschen in der Grundsicherung haben Sie nach dem Koalitionsausschuss jetzt 150 Euro gegeben. Ja, das ist richtig; aber, ehrlich gesagt, das ist natürlich viel zu wenig. 12,50 Euro im Monat sind das. Ich will einmal dazusagen: Am selben Tag – am selben Tag! – wird mit Stolz verkündet, dass die Ausgaben für Verteidigung nach NATO-Kriterien bei 53 Milliarden Euro liegen. Was ist denn das für eine Relation? Und da sagen Sie noch „Stolz“. Ich sage: Das ist Wahnsinn. Uns bedrohen keine fremden Armeen, uns bedroht ein Virus und nichts anderes. ({9}) Mit Blick darauf, dass der Eigentümer der Supermarktkette Lidl sein Vermögen in der Krise von 22 Milliarden auf 36 Milliarden Dollar gesteigert hat, ist es obszön, wenn wir alle hier sagen: Den Coronahelden müssen wir danken. – Bei denen ist bei den Arbeitsbedingungen, bei den Löhnen viel zu wenig passiert. Andere haben Milliardenzuwächse, und bei denen wird wirklich nur gekleckert. Nein, meine Damen und Herren, aktuell kommt Deutschland als Ganzes eben nicht gut durch die Krise. Ihre Bilanz ist nicht gut – weder bei der Pandemiebekämpfung noch im sozialen Bereich noch bei den Wirtschaftshilfen. Es muss Schluss sein mit Selbstgerechtigkeit. Wir brauchen Transparenz. ({10}) Wir brauchen möglichst eine Planbarkeit – ja, völlig richtig; nicht an Daten, aber an mehreren Werten –, damit Zuversicht in unserem Land steigt. Das ist das dringlichste Gebot: Zuversicht muss wieder wachsen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Es war der 29. Oktober 2020, da habe ich an dieser Stelle gefordert, es braucht eine langfristige Perspektive. Damals ging es darum, dass die Infektionszahlen stiegen. Schon damals wäre es notwendig gewesen, transparent durchschaubar zu machen, wo wir hinsteuern, wie wir reagieren und wem wir wann helfen, damit es Zuverlässigkeit, damit es Vertrauen gibt. ({0}) Jetzt könnte man sagen, mir kann das gesunkene Vertrauen in die Bundesregierung egal sein. Ist es mir aber nicht. Warum? Weil wir bei weniger Vertrauen eben auch erleben, dass die Maßnahmen weniger ernst genommen werden. Das ist das Problem, vor dem wir heute stehen. Jetzt kann man einen Moment lang über die Sache mit den Friseuren lachen. Ich gönne jedem und jeder hier und anderswo eine Frisur. ({1}) Ich gönne übrigens auch den Friseurinnen die Einnahmen. Aber damit ist nichts anderes getan, als dass man das Gefühl hat, hier soll dem Volk ein Bömschen gegeben werden. Das ist aber keine Strategie. Das ist nicht langfristig. Das ist nicht klar. Das ist nicht eindeutig. Deswegen, sage ich, haben wir weiter ein riesiges Problem. ({2}) Ich will eindeutig sagen: Für mich heißen Perspektiven, Stufenpläne nicht, dass wir jetzt öffnen. Wir alle wissen doch, dass sich die Mutanten in Deutschland längst ausgebreitet haben und weiter ausbreiten werden. Es geht jetzt nicht ums Öffnen, sondern es geht darum, dass wir allen in unserem Land klarmachen, woraufhin wir gemeinsam arbeiten. Dieses Woraufhin-wir-gemeinsam-Arbeiten weiterhin mit Vorsicht haben Sie gestern nicht geliefert. Wenn das nicht funktioniert, wenn es in der MPK nicht funktioniert und wenn die Autorität eben nicht reicht, dann – das sage ich hier in diesem Haus – müssen wir es von hieraus tun, es in diesem Parlament beschließen, im Bundesrat beschließen. Dann haben wir eine transparente, eindeutige, gemeinsame Haltung, die diskutiert ist, die transparent ist, ({3}) die von Alternativen lebt, meine Damen und Herren. Das wäre notwendiger denn je. ({4}) Es ist doch ganz klar: Wir als Abgeordnete sind gewählt, und die Menschen haben uns das Vertrauen gegeben, dass wir diese Dinge auch tatsächlich lösen und regeln. Deswegen richte ich mich ausdrücklich an Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. Sie haben in Ihren Fraktionen ganz offensichtlich – wir haben es von der CDU/CSU-Fraktion auch lesen können – sehr viel Ärger mit der Bundesregierung gehabt. Das ist eine Auseinandersetzung, die ganz normal ist; darüber will ich mich auch gar nicht erheben. Es werden Fehler gemacht, und diese Fehler muss man thematisieren. Ich glaube, das ist total richtig. Aber es reicht doch nicht, hinter verschlossenen Türen, weil etwas durchgestochen wird, darüber zu reden, sondern das muss genau hier passieren, damit wir es in Zukunft gemeinsam besser machen, meine Damen und Herren. ({5}) Das betrifft auch umso mehr die Wirtschaftshilfen. 100 Tage waren die Menschen ohne Hilfe und ohne einen Cent Einnahmen auf dem Konto – 100 Tage! Es tut mir leid, ich kann heute nicht „Halleluja“ rufen, weil jetzt endlich einmal das Programm aufgelegt wird. 100 Tage ohne Hilfe! Und die Hilfe, die kommt, ist auch noch längst nicht ausreichend. ({6}) Sie bedeutet für viele Soloselbstständige, für Künstlerinnen und Künstler, dass sie im Vergleich zu dem, was sie eigentlich brauchen, nicht existieren können. Deswegen sage ich, meine Damen und Herren: Diese Wirtschaftshilfen sind ein riesiges Versagen der Bundesregierung, ein Hin- und Herschieben zwischen Wirtschaftsminister und Finanzminister. Ich verstehe auch nicht, warum die SPD weiterhin nicht beim Unternehmerlohn mitmacht. Geben Sie sich einen Ruck, und helfen Sie den Menschen wirklich! Das hat auch mit Vertrauen zu tun. Das hat auch damit zu tun, wie wir aus der Krise wieder herauskommen. ({7}) Wir haben Monate gebraucht, bis es eine Regelung zum Homeoffice gab. Mir macht es Sorgen, dass wir einerseits darüber reden, wie wir es denn mit den Kindern schaffen – ich komme gleich dazu –, andererseits heute immer noch 20 Prozent mehr Menschen auf dem Weg zur Arbeit und nicht im Homeoffice sind als im März. Warum ist das so? Weil sie Sorge haben, dass sie in ihrem Unternehmen gedisst werden, aus ihrem Unternehmen womöglich entlassen werden, weil sie nicht mitmachen. Deswegen ist es auch eine politische Frage, ob wir klar und eindeutig sagen: Homeoffice muss jetzt gemacht werden, auch damit Kinder in die Schule können und die Kitas geöffnet werden können. ({8}) Ich will genau dazu etwas sagen. Nach einem Jahr Pandemie können wir nicht mehr sagen: Schule auf oder Schule zu? Ich verstehe nicht, warum man sich darauf gestern nicht einigen konnte. Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum es nicht gemeinsame Voraussetzungen dafür gibt, dass in Schulen und Kitas Sicherheit für die Kinder, für die Erzieherinnen und für die Lehrerinnen herrscht. ({9}) Herr Brinkhaus, die erste Voraussetzung dafür müssten wir jetzt gemeinsam schaffen: dass es wirklich für alle Schnelltests gibt, dass es wirklich ein Luftfilterprogramm gibt, das auch ankommt; denn wir werden nicht davon ausgehen können, dass das alles doch im April vorbei ist. Aber beim anderen bin ich sehr bei Ihnen. Wo ist denn das große Programm mit einem Fonds, mit einem Bundesfonds, das dafür sorgt, dass wir jetzt herausfinden, welche Kinder besonders viel Hilfe brauchen? ({10}) Wo ist denn das Programm, mit dem wir tatsächlich feststellen, welche Kinder besondere Hilfe brauchen? Wir haben die zum Teil ein Jahr nicht gesehen; die waren nicht in der Notbetreuung, die waren nirgendwo. ({11}) Deswegen sage ich Ihnen ganz eindeutig, Herr Brinkhaus: Bitte lassen Sie uns das zusammen machen, ohne uns gegenseitig anzumeckern. ({12}) Das haben die Kinder in diesem Land überhaupt nicht verdient. Das haben die Kinder in diesem Land nicht verdient! Ganz im Gegenteil. ({13}) Was müssten wir eigentlich tun? Wir müssen doch jetzt sagen: Konzepte für die Schulen sind da, sodass man dort sicher arbeiten kann. Und dort, wo es in der Schule nicht geht und wo auch der Wechselunterricht noch nicht reicht, setzen Sie das, was an Fantasie schon längst da ist, um. In Lüneburg wird in einer Kirche unterrichtet, und in Waffenrod-Hinterrod, einem kleinen Ort an der thüringisch-bayerischen Grenze, wird im Gemeindehaus unterrichtet, ({14}) weil die Leute sagen: Wir können das mit Sicherheit hinbekommen. – Deswegen: Bevor man sich auf die Friseure einigt, bitte mit aller Kraft dafür sorgen, dass Schule sicher für Schülerinnen und Schüler und für Eltern ist und Kitas für Erzieherinnen auch tatsächlich stattfinden kann. ({15}) Von dieser Anstrengung hängt sehr viel ab. Ich finde es sehr bemerkenswert, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie auch öffentlich gesagt haben: Ich konnte mich da nicht durchsetzen. – Wo Sie sich aber hätten durchsetzen können, das ist bei der Bereitstellung der Voraussetzungen. Das halte ich nach wie vor für den zentralen Punkt. Dazu gehört übrigens auch, dass wir sehr direkte Hilfe brauchen. Viele Kinder leiden jetzt am meisten unter der Pandemie, aber womöglich auch noch dann, wenn sie schon längst vorbei ist. Deswegen brauchen sie jetzt unmittelbare Hilfe, sei es ein Student, der Flüchtlingskindern hilft, die dann hinterher sagen können: „Ich will Ingenieurin oder Ärztin werden“, oder die Großmutter, die im Feuerwehrhaus erklärt, wie das mit den Kegeln und mit den Quadern ist. Ja, warum denn eigentlich nicht? Wir könnten sehr viel mehr, wenn wir mit sehr viel mehr Fantasie unterwegs wären. Die Künstlerinnen und Künstler könnten am Ende sogar noch im Museum oder in der Galerie dafür sorgen, dass Kinder nicht einfach zu Hause sitzen gelassen werden. Vom Sitzenbleiben zu reden, ist jedenfalls der falsche Weg. ({16}) Diese Pandemie wird uns noch lange beschäftigen. Gleichzeitig sollten wir uns jetzt mit der Frage auseinandersetzen: Was kommt eigentlich danach? ({17}) Nur dann werden wir es auch wirklich schaffen, das hier durchzuhalten. Also nach dem #Flockdown und dem Lockdown, wann kommt eigentlich Open-up? Das klingt ein bisschen nach Aufbruch, das klingt für manche sogar ein bisschen nach Tanzen. Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Aufbruch arbeiten. Wir sehen in der Beschränkung, was uns etwas bedeutet: Begegnung, Nähe, Kontakt, Kino, Kultur, Klubs. Wir sehen, was machbar ist, wenn gemeinsam gehandelt wird – ja, das sehen wir tatsächlich –, wenn sich alle gemeinsam anstrengen. Wir sehen, was möglich wäre. Wir haben nicht nur diese eine Krise. Die Klimakrise schläft weiterhin nicht, und die Artenkrise, die stillste von allen, auch nicht. ({18}) Wenn wir bei der einen sehr viel Geduld brauchen, ist es bei den beiden anderen so, dass wir sehr viel und sehr schnell handeln müssen, und zwar auch von diesem Ort aus. ({19}) Diese 20er-Jahre könnten goldene 20er-Jahre werden, wenn wir zeigen, dass wir Krisen tatsächlich gemeinsam bewältigen, mit allem, was uns zur Verfügung steht, mit aller Kraft und immer gemeinsam mit den Menschen, und zwar von hier aus und nicht Top-down, von hier aus mit demokratischer Beteiligung. Vielleicht können wir dann irgendwann gemeinsam darauf tanzen. Vielen Dank. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr leben wir jetzt mit dieser Pandemie und versuchen, sie zu bekämpfen. Ich sage „versuchen“, weil wir damit noch lange nicht am Ende sind. Wir haben uns aber im Gegensatz zu vielen, die hier heute vor mir gesprochen haben, weiterentwickelt. Es ist nicht so, dass wir nach einem Jahr nicht aus dieser Pandemie gelernt haben. Wir haben Impfstoffe. Wir haben mit dem Impfen begonnen; mehr als 2 Millionen Menschen sind schon geimpft. Das ist noch lange nicht ausreichend – das wissen wir alle –, aber das sind wichtige Schritte, die wir jetzt begonnen haben. Die Corona-App ist vorhin angesprochen worden. Herr Lindner hat gesagt, sie wurde eingeführt und habe sich überhaupt nicht weiterentwickelt. Das stimmt nicht. Es hat mehrere Updates gegeben. Ein Kontakttagebuch – dieses war gefordert worden –, ist jetzt verfügbar. Die App enthält aktuelle Zahlen. Aber ich sage auch: Da ist noch Luft nach oben, keine Frage. Denn wenn wir über Öffnungsstrategien reden, kann die App natürlich zusätzlichen Mehrwert haben, zum Beispiel könnte man, wenn man ins Restaurant oder zu einer Veranstaltung geht, die Kontaktermittlung nutzen, datenschutzgerecht. Das ist möglich, und deshalb gibt es natürlich eine Weiterentwicklung an dieser Stelle. Ich will auf diese Öffnungsstrategie und die Perspektive zu sprechen kommen. Viele Menschen haben sich von dieser Veranstaltung der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten gestern eine Perspektive gewünscht. Ich glaube, wir alle wünschen uns eine Perspektive. Mittlerweile liegen mehrere Stufenpläne vor. Es gibt Stufenpläne, über die wir gestern hier im Parlament diskutiert haben, aber es gibt auch Stufenpläne der Länder. Natürlich haben wir uns gewünscht, dass da nicht nur für den Bereich der Friseure – für diese Branche freut es mich – etwas herauskommt. Das ist durchaus ein Punkt, wo wir Perspektiven geben müssen. Aber ich sage auch: Perspektive zu geben, ist nicht so einfach. Wenn wir nicht wissen, wie sich die Mutationen – das ist ein wissenschaftlicher Begriff, auch wenn der AfD dieser Begriff schwerfällt – unterschwellig ausbreiten, dann haben wir das große Problem, dass wir nicht wissen, welche Zahl die richtige für eine Perspektive oder eine Öffnungsstrategie ist. Das treibt uns alle um. Ich würde gerne sofort alles aufmachen. Ich würde auch gern sofort einen Stufenplan beschließen, wobei die, die vorliegen, sehr unterschiedlich sind. Aber wir müssen uns klarmachen, dass wir eben nicht wissen, wie die Ausbreitung weitergehen wird. Ich will noch einmal daran erinnern – das kommt mir bei aller Debatte hier zu kurz –: Wir waren im Sommer so weit. Wir haben alle Schulen geöffnet – es gab Präsenzunterricht –, alle Lokale, und die Kultureinrichtungen haben wieder erste Veranstaltungen durchgeführt, es gab Hygienekonzepte, und trotzdem sind uns die Infektionszahlen entglitten. ({0}) – Die sind uns entglitten. Im Oktober schossen sie hoch. Wir wissen doch gar nicht, ob es nicht im Sommer war. ({1}) Das liegt einfach daran: Wenn zu viele Kontakte möglich sind, hat das Virus die Chance, sich auszubreiten. Wenn Mutationen dazukommen – es ist normal, dass die dazukommen –, kann es sein, dass Impfstoffe, die wir jetzt haben, nicht so gut wirken und wir Zeit brauchen, sie zu verändern. Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, dann stehen wir in den nächsten drei Monaten wieder an einem Punkt, dass wir alles schließen müssen. Ich sage, dieses Auf und Ab schadet Kindern und Eltern und uns allen. ({2}) Das ist doch das große Problem. Jetzt zu sagen: „Wir machen schöne Stufenpläne“, ist super, aber wir dürfen trotzdem nicht vergessen, dass wir Zahlen brauchen, an die man dann eine Perspektive knüpft. Natürlich müssen wir an dieser Stelle besser werden. Zum Beispiel gibt es seit Sommer bessere Schnelltest; demnächst gibt es Selbsttests und Heimtests. ({3}) Dies muss man auch an eine Strategie binden. Diese fehlt übrigens auch mir. Auch ich möchte, dass Selbsttests dazugehören und dass ich zu Hause Heimtests machen kann, wenn sie eine gute Qualität haben. Aber doch nicht nur so, dass wir diese einfach auf den Markt schmeißen. Vielmehr muss eine Perspektive damit verbunden sein ({4}) für Kulturschaffende, für die Öffnung von Restaurants und Kneipen, für alles Mögliche. Dafür muss doch eine Teststrategie weiterentwickelt werden. ({5}) Das gehört für mich zu einem Stufenplan dazu. Daran muss gearbeitet werden. Dass wir jetzt die Schulen und Kitas wieder in die Verantwortung der Länder gegeben haben, ja, das ist Föderalismus. Sie sind dafür zuständig. Es macht mir trotzdem Sorgen – das will ich hier ganz ernsthaft sagen –, weil ich nicht weiß, wie die einzelnen Länder damit umgehen werden. Das wird unterschiedlich sein. In Nordrhein-Westfalen – das ist das Bundesland, aus dem ich komme – lief es bisher nicht besonders gut, wie man die Schulen darauf vorbereitet hat, wie sie mit Präsenz- und Wechselunterricht umgehen sollen. ({6}) Kreative Ideen, Herr Lindner, wurden in Nordrhein-Westfalen unterdrückt. Das ist ein Punkt, wo ich sage, dass ich mir da Sorgen mache. Sie preisen den Föderalismus an. Ich habe große Sorgen, dass einige Bundesländer wieder abgehängt werden, dass nicht genug Nachhilfe stattfindet, dass man nicht gut genug auf die Öffnung vorbereitet ist. Ich habe großes Vertrauen, dass die Länder das schaffen. Ich will nur meine Sorge ausdrücken, dass es jetzt auch gut vorbereitet werden soll, dass die Schulen das jetzt gut vorbereiten sollen, dass die Länder das gut vorbereiten sollen. Erst dann sollte peu à peu, Schritt für Schritt geöffnet werden. Das ist mein Appell in die Richtung derer, die jetzt die Verantwortung dafür übernommen haben. Es ist wichtig für Schülerinnen und Schüler, für Lehrerinnen und Lehrer, dass das so funktioniert, dass wir alle damit sicher umgehen können und die Infektionszahlen so niedrig bleiben wie bisher. Das ist ein Erfolg, den wir durchaus heute auch noch einmal erwähnen dürfen: Die Zahlen gehen kontinuierlich runter. Ich wünsche mir, dass sie weiterhin sinken; denn damit ist uns allen geholfen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Münzenmaier, AfD. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Folgen von Angst können weit größer sein als die des Virus selbst.“ Mit diesen Worten eröffnete Jens Spahn am 4. März 2020 eine Bundestagsdebatte zum Coronavirus, und heute sind seine Worte treffender denn je. Diese Bundesregierung versetzt vorsätzlich ein ganzes Volk in Angst. Meinungsvielfalt ist im Umfeld der Kanzlerin nicht erwünscht, stattdessen sollen Merkels Haus- und Hofwissenschaftler wie Drosten, Wieler oder Brinkmann politisch gewollte Panikmache möglichst wissenschaftlich anhauchen. Der Inzidenzwert von 50 war noch nie wirklich wissenschaftlich begründet und wurde jetzt über Nacht einfach mal so auf 35 gesenkt. Was machen wir denn eigentlich im März, liebe Frau Bundeskanzlerin, wenn wir uns Ihrem geliebten Inzidenzwert dann wieder angenähert haben? Wird dann eine neue Zahl gewürfelt, oder entdecken Sie irgendeine neue, noch schlimmere, noch tödlichere, noch aggressivere Mutation aus Papua-Neuguinea oder sonst wo auf der Welt? Ich bin mir sicher: In Ihrem Lockdown-Fetischismus fällt Ihnen irgendetwas ein. Ihre Devise lautet: „Kostet es, was es wolle: Dieser Lockdown muss unbedingt bleiben!“. ({0}) Es gibt mittlerweile zahlreiche namhafte Wissenschaftler und Virologen, die in Studien die Wirksamkeit eines Lockdowns anzweifeln. Es gibt Alternativvorschläge, beispielsweise aus unserer Fraktion, die einen Kurswechsel und einen besseren Schutz der Risikogruppen fordern. Es gibt zahlreiche kritische Stimmen, die den sogenannten Kollateralschaden Ihrer Politik anmahnen. Aber was soll’s? Angela Merkel verschanzt sich weiterhin mit ihrem Ministerpräsidentenstammtisch im Kanzleramt. Und während Bodo Ramelow Candy Crush zockt, verzocken Sie, liebe Frau Bundeskanzlerin, die Zukunft eines ganzen Landes, meine Damen und Herren. ({1}) Betrachten wir doch mal die harten Fakten. Es gibt momentan 164 000 am Coronavirus Infizierte in ganz Deutschland. Dazu zählen auch die sogenannten symptomlos Erkrankten; früher nannte man das wohl „gesund“. Aber selbst wenn ich jetzt Ihrer Logik folge und diese Infiziertenzahlen betrachte, dann sprechen wir über 0,197 Prozent der Menschen in Deutschland, die infiziert sind. 0,197 Prozent! Währenddessen sind aber knapp 10 Prozent der Menschen in Deutschland arbeitslos oder in Kurzarbeit – Tendenz eher steigend. Hunderttausende von Selbstständigen, Künstlern und Freiberuflern stehen kurz vor dem Ruin. Die Insolvenzwelle rollt noch auf uns zu und wird nicht nur Tausende kleine und mittelständische Betriebe unter sich begraben, sie wird auch die Struktur und die Innenstädte unseres Landes verändern. Der Mittelstand hat Deutschland einst groß gemacht. Aber der Mittelstand wird von dieser Bundesregierung sehenden Auges an die Wand gefahren, meine Damen und Herren. ({2}) Aber Sie verzocken ja nicht nur den Wohlstand unseres Landes, sondern auch die Zukunft unserer Kinder. In der aktuellen COPSY-Studie klagen 85 Prozent der befragten Kinder über eine seelische Belastung. Die Sorgen und Ängste haben zugenommen, auch depressive Symptome sind verstärkt zu beobachten. Und vom Bildungsverlust dank geschlossener Schulen spreche ich noch gar nicht. Liebe Frau Bundeskanzlerin, was Sie hier anrichten, wird unser Land auf Jahrzehnte beschädigen. Aber statt nach Lösungen zu suchen, wird von dieser Regierung einfach Panik geschürt. Haben Sie sich mal die Wortwahl von Merkels Entourage pünktlich vor den regelmäßigen Klüngelrunden angeschaut? Da wird mit Übertreibungen um sich geworfen, die der geneigte Hörer eher aus Hollywoodfilmen mit Untergangsszenarien kennt. Der Dirigent des Panikorchesters, Karl Lauterbach, warnt vor dem „Turbo-Virus“. RKI-Chef Lothar Wieler spricht davon, dass das Virus „einen Boost“ erhalten habe. Und die No-Covid-Fetischistin Melanie Brinkmann beklagt – ich zitiere –: Die Mutante aus Großbritannien und andere werden uns überrennen, das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen. Es geht nur noch darum: Können wir den Siegeszug der Varianten hinauszögern, Zeit gewinnen? Diese dumpfe Kriegsrhetorik erinnert an dunkle Zeiten. Ich kann Ihnen allen nur zurufen: Stoppen Sie endlich diese Panikmache! Schützen Sie die Risikogruppen! Und beenden Sie den Lockdown samt der unverhältnismäßigen Folgen, meine Damen und Herren! ({3}) Unsere AfD-Fraktion kämpft mittlerweile seit Monaten mithilfe von klugen Ideen, ({4}) Anträgen und Vorschlägen für eine Politik der Vernunft ({5}) und vor allem der Verhältnismäßigkeit. Wir wehren uns gegen Ihren Wahnsinn. Wir werden auch weiterhin hier im Bundestag alles dafür tun, unsere Leute und unser Land vor Ihren irren Ideen zu schützen. Aber leider sind uns teilweise die Hände gebunden, weil die vereinte Altparteienfront von den tiefroten SED-Erben bis hin zu den gelben Wendehälsen diese Kanzlerin stützt und dieses Land immer weiter Richtung Abgrund führt. Deshalb möchte ich Sie, meine Damen und Herren an den Bildschirmen da draußen, direkt ansprechen: Wir brauchen Ihre Unterstützung. Wenn Sie in diesem Land wirklich etwas ändern wollen, dann wählen Sie die einzige echte Oppositionspartei! ({6}) Am 14. März können Sie sich in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg für Freiheit und Vernunft anstatt für Angst und Aktionismus entscheiden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alexander Dobrindt, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, in den letzten Wochen hat man es deutlich gespürt: Jeder Tag des Verzichts, jeder Tag der Kontaktbeschränkungen, jeder Tag des Schließens verlangt den Menschen und der Wirtschaft in unserem Land unglaublich viel ab. Und gerade auch in diesen letzten Tagen und Wochen hat man festgestellt, dass ein Wunsch in unserer Gesellschaft immer stärker wird: der Wunsch nach Normalität. Genau das ist auch der Grund, warum wir uns gerade in einer der kritischsten Phasen der Pandemie befinden: Auf der einen Seite haben wir die Situation, dass das Virus an einer Weggabelung steht und noch nicht absehbar ist, welchen Weg es geht: ob den von uns erhofften Weg der weiter sinkenden Inzidenzen oder einen anderen Weg mit steigenden Inzidenzen durch die Mutation. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdowns sich deutlich auf die Stimmung auswirken. Die Stimmung wird angespannter, sie wird bedrückter, und – ja, auch das muss man sagen – bei einigen Begegnungen kann man inzwischen ganz persönlich feststellen, ob das Friseure, Einzelhändler oder andere sind: Es gibt auch eine Stimmung die verzweifelter wird. Darauf muss die Politik reagieren. Die Reaktion heißt: Konsequenz und Perspektiven miteinander verbinden. Das ist der Auftrag und die Aufgabe. Das ist auch das, was wir in unsere Entscheidungen von gestern aufgenommen haben: Wir haben klare Perspektiven für Wirtschaftshilfen und für Impfungen gegeben, aber auch eine klare Perspektive für den Einstieg in den Ausstieg aus dem Lockdown, meine Damen und Herren. ({0}) Die Beschlüsse von gestern versuchen, das Grundprinzip von Konsequenz und Perspektiven miteinander zu verbinden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Dobrindt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt momentan an der Stelle eine ganze Reihe von Fragen und auch Kritik an der Zahl, die gestern so eine große Rolle gespielt hat, nämlich die Inzidenzzahl von 35. Da ist, offen gesagt, der Hinweis, dass es sich um eine Zahl handelt, die sich ja bereits im Infektionsschutzgesetz findet – was stimmt –, für viele als Erklärung nicht ganz ausreichend, und das wird auch heute klar. Man fragt immer wieder nach der Inzidenzzahl von 50, die man aus den vergangenen Wochen und Monaten sehr gut kennt. Deswegen hier noch ein Satz zur Erklärung dazu: Die 50 war immer die Zahl, wo man bei wachsender Infektion den Einstieg in den Lockdown gewählt hat. Sie kann nicht gleichzeitig die Zahl des Ausstiegs aus dem Lockdown sein. Ansonsten hätten wir einen andauernden Achterbahneffekt, eine Berg- und Talfahrt zwischen Lockdown und Lockerungen. Deswegen muss für Lockerungen die Zahl deutlich unter 50 liegen, damit wir unsere Erfolge an der Stelle nicht verspielen, meine Damen und Herren. ({0}) Wir haben festgestellt, dass der Druck und die Forderungen nach einer Öffnung der Schulen sehr, sehr groß geworden sind. Ich hoffe, dass die Maßnahmen, die die Länder an dieser Stelle ergreifen, der Senkung der Infektionskurve nicht so sehr entgegenwirken. Ich verstehe, dass der Druck groß ist. Ich verstehe, dass Homeoffice, Kinderbetreuung und Homeschooling eine enorme Doppelbelastung für die Familien bedeuten. Aber ich habe Zweifel, dass die Maßnahme der Schulöffnung zum jetzigen Zeitpunkt eine richtige ist. Unabhängig davon, wie man diese Frage beantwortet, steht für mich auf jeden Fall fest: Wir müssen alles daransetzen, dass diese Maßnahmen nicht weitere Perspektiven für Öffnungen der Wirtschaft verbauen, meine Damen und Herren. Das ist jetzt der Auftrag, wenn man über diese Maßnahmen redet. ({1}) Zu den Wirtschaftshilfen. Es ist richtig und gut, dass diese Wirtschaftshilfen, die Ü III, jetzt anlaufen und beantragt werden können. Es ist wichtig, dass es bei diesen Hilfen schnell und unbürokratisch zu Abschlagszahlungen kommt. Wir werden dann feststellen, wie schnell diese Abschlagszahlungen anlaufen. Ich weise aber darauf hin: Es geht bei ganz, ganz vielen, auch gerade bei den Selbstständigen, bei denjenigen, die ein Geschäft betreiben, um ein Lebenswerk. Deswegen sind die Emotionen an dieser Stelle auch ganz besonders groß. Es wird auch Konstellationen geben, die möglicherweise durch das Raster der Überbrückungshilfe III fallen. Deswegen meine dringende Bitte, auch an den Finanzminister: Wir erwarten, dass es eine Härtefallregelung gibt, die da unterstützt, wo Lebenswerke auf dem Spiel stehen und wo die Algorithmen der Überbrückungshilfe nicht greifen; auch das ist eine notwendige Maßnahme, um die Wirtschaft an dieser Stelle zu stärken. ({2}) Es ist mehrmals betont worden: Das Impfen ist der Weg aus der Krise, um die Ansteckungen zu verringern, um schwere Krankheitsverläufe einzudämmen, um Todesfälle zu vermeiden; es ist der Weg zurück in das normale Leben. Und ja, auch da hat es Fehler gegeben; es hat Fehlleistungen und Fehleinschätzungen auch gerade in Brüssel, auch in der Kommission gegeben. Aber es hat auch eine verfehlte Debatte in Deutschland gegeben, eine fehlgeleitete Debatte über den sogenannten Impfnationalismus. Meine Damen und Herren, wir brauchen keine Debatte über Impfnationalismus. Wir brauchen eine Debatte über Mut zur Souveränität bei der Frage der Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen. Das ist die Aufgabe unserer Debatte. Und sehr geehrter Herr Bartsch, Sie haben wahrscheinlich keine Zeit mehr, dieser Diskussion zu folgen, trotzdem sei an dieser Stelle der Hinweis gestattet: Sie haben hier als Erstes in einer Art Bewunderung die USA als gelungenes Beispiel beim Impfen beschrieben, dann aber beklagt, dass der Globale Süden zu wenig Impfstoff hat. Sie müssen sich an der Stelle mal entscheiden. Mal abgesehen davon, dass die Bewunderung für die USA von Ihrer Seite ein Vorgang an sich ist: Die USA haben beim Impfen eine ganz, ganz klare Devise; die heißt „America first“, und die wird sogar mit Kriegsrecht durchgesetzt. Dass Sie das bewundern, ist in der Tat ein Vorgang. ({3}) Wir brauchen eine Souveränitätsoffensive, auch im Bereich der Impfstoffe, der Medikamentenversorgung. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben am Wochenende gesagt: Ich will, dass wir wieder die Apotheke der Welt werden. – Ich stimme Ihnen da ausdrücklich zu; aber um das zu erreichen, müssen auch die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Dann muss ein Souveränitätsprogramm für Impfstoff und Medikamente, Forschung und Produktion in Deutschland und Europa eingerichtet werden. Stellen Sie dieses Programm vor; dann haben Sie unsere Unterstützung! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch nie in den ganzen Wochen und Monaten der Krise lagen die Nerven so blank; ich denke, das spüren wir alle. Gerade die Familien sind wirklich am Limit, und viele sagen: Wir können nicht mehr. „Wir können nicht mehr“, sagen Eltern, die Homeschooling und Kinderbetreuung mit ihrer Arbeit vereinbaren müssen. Klar, es gibt den Lohnersatz; aber viele fühlen sich auch ihren Kolleginnen und Kollegen verpflichtet oder arbeiten selbst in systemrelevanten Berufen als Lehrerinnen, als Lehrer, als Pflegekräfte. „Wir können nicht mehr“, sagen auch Kinder, die gerne wieder ihre Freundinnen und Freunde sehen würden, die gerne wieder mit anderen lernen würden, die gerne andere treffen würden, um sich adäquat auf ihre Prüfungen vorbereiten zu können. „Wir können nicht mehr“, sagen auch ganz viele Alleinstehende, ob jung oder alt. Sie sagen: Ich kann nicht mal meine beste Freundin in den Arm nehmen; das fehlt mir so sehr. Wie gerne würde man jetzt sagen: Schluss jetzt! Wir haben genug, es reicht. – Der Wunsch nach einem normalen oder einem normaleren Leben ist so groß. Deshalb ist es richtig, dass auch gestern über Perspektiven gesprochen wurde und dass wir Hoffnung haben. Aber Hoffnung macht nur dann Sinn, wenn sie nicht direkt wieder enttäuscht wird. Und Perspektiven sind nur dann gut, wenn sie wirklich tragfähig sind. Leider ist das Virus noch da. Bei manchen Reden in der heutigen Debatte habe ich mich gefragt: In welcher Welt leben Sie denn? – Das Virus ist noch da. Wir haben kein lineares Wachstum; grundsätzlich wächst das Virus exponentiell. Wir können froh sein, dass die Zahlen jetzt endlich nach unten gehen, und das können wir doch nicht verspielen. ({0}) Ich erinnere mich noch sehr gut, als wir im November den Lockdown light beschlossen haben und dachten, mit Hygienekonzepten, Maske und Abstand kommen wir da irgendwie gut durch. Die Wahrheit war: Das hat nicht geklappt; die Zahlen sind gestiegen. Ich erinnere mich noch gut, als wir im Dezember Nachrichten aus Sachsen hörten, dass in Krankenhäusern über Triage nachgedacht wird. Und ich erinnere mich an die Panik der Menschen, die bei steigenden Infektionszahlen sagten: Wir haben Angst um unsere Angehörigen, die vorbelastet sind, die noch nicht geimpft sind; wir haben Angst, dass das Virus um sich greift; wir haben Angst vor den Folgeschäden. – Darüber wird gar nicht gesprochen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Zahlen nach unten bringen und dass wir erst dann zu Öffnungen kommen, wenn wir einen Sockelwert erreicht haben, der nicht dazu führt, dass die Zahlen danach gleich wieder explodieren. Und es ist richtig – das sage ich als Familienpolitikerin –, dass wir bei den Familien anfangen, dass wir mit den Kindergärten, den Kitas und den Schulen anfangen. Aber auch hier gilt: mit System und mit Verstand. Es müssen Testkonzepte vorliegen, bevor man öffnet. Es reicht nicht, wenn es sie nur auf dem Papier gibt, und es reicht auch nicht, liebe Frau Giffey, wenn Sie sagen: Es gibt bald Eigentests. Noch gibt es die Eigentests nicht, und deshalb müssen die Kommunen Testkonzepte schaffen, damit wir die Schulen so öffnen können, dass von dort keine Gefahr ausgeht für die Schülerinnen und Schüler, für ihre Eltern, für ihre Angehörigen, für uns alle. ({1}) Das ist hart, und es ist noch ein bisschen Arbeit; aber ich traue den Kommunen, den Ländern und den Schulen zu, dass sie das schaffen. Es ist ja so viel geschafft worden. Schauen Sie doch, was in den Schulen schon passiert! Mein herzlicher Dank geht auch an die Lehrerinnen und Lehrer. Was sie in den letzten Wochen und Monaten möglich gemacht haben, ist doch Wahnsinn. ({2}) Da wird sich um jeden einzelnen Schüler gekümmert, es werden digitale Konzepte erarbeitet. Herr Lindner, ich habe nicht verstanden, dass Ihre FDP-Kultusministerin in NRW einer Schule, die sagte: „Wir können hybrid arbeiten“, dies nicht ermöglicht hat. ({3}) Mein Appell ist: Lassen wir doch die individuellen Konzepte vor Ort zu. ({4}) Lassen wir der Kreativität der Menschen ihren Entfaltungsspielraum. Dann finden wir doch viel bessere Lösungen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es ist gut, dass wir mit den Schulen anfangen. Wir müssen die Kinder in den Blick nehmen; denn es geht auch um pädagogische und um soziale Folgen, aber mit Sinn und Verstand. Dafür appelliere ich. Das ist unsere Aufgabe in den nächsten Wochen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort der Kollegin Lisa Badum, Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte mich auf den Kollegen Dobrindt beziehen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Es war mein Fehler, dass ich Ihnen vorher nicht das Wort zu einer Zwischenbemerkung gegeben habe.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, dass es jetzt möglich ist, da ich doch sehr gern zum Kollegen Dobrindt sprechen wollte. – Sie hatten die Wirtschaftshilfen angesprochen. Es stimmt ja: Von den November- und Dezemberhilfen haben einige Betriebe profitiert. Es gibt allerdings auch Betriebe, die noch keinen einzigen Cent gesehen haben. Das sind – das schmerzt mich als Oberfränkin und als Bayerin besonders und Sie als Bayer sicher auch – ausgerechnet Brauereigaststätten. Ihr einziges Vergehen ist: Sie brauen selbst Bier, teilweise seit Jahrhunderten, und schenken das in ihrer Gaststätte aus. Deswegen bekommen sie als Mischbetriebe keine Hilfen. Es gäbe eine ganz einfache Lösung für dieses Problem: Sie stellen die Brauereigaststätten mit anderen Gaststätten gleich. Es geht um ganz, ganz wenige Betriebe. Ich rede jetzt nicht von der Überbrückungshilfe III, sondern ich rede von der jetzigen Situation. Diese Betriebe sind jetzt in Not. Daher meine Frage an Sie: Schaffen Sie es als Koalition noch, diese Änderung hinzukriegen, oder lassen Sie die Betriebe den Bach runtergehen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Dobrindt, möchten Sie antworten? – Sie haben das Wort.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin Badum, es sorgt hier für ein bisschen Heiterkeit, dass Sie sich für Brauereien einsetzen. ({0}) Ich teile das ausdrücklich nicht. Ich sage ganz deutlich, dass es sich hier um ein Thema handelt, bei dem Nachbesserungsbedarf besteht. Wir haben festgestellt, dass es im Bereich der Mischbetriebe zu einer nachteiligen Behandlung von Brauereigaststätten kommt. Damit kommt es auch zu einer nachteiligen Behandlung von Traditionsbetrieben, die es in vielen Fällen seit Jahrzehnten oder vielleicht schon seit Jahrhunderten gibt. Wir wollen genau dieses Problem lösen. Deswegen sind wir in intensiven Debatten mit dem Wirtschafts- und dem Finanzministerium, um dafür eine adäquate Lösung zu finden. Ich halte das ausdrücklich für geboten. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Sabine Dittmar, SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte offenbart noch einmal eindrücklich das enorme Spannungsverhältnis, mit dem wir alle in diesen Tagen und Wochen zurechtkommen müssen. Wir sehen einerseits, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen der zurückliegenden Wochen ihre Wirkung zeigen. Die zu Jahresbeginn festgelegten verschärften Maßnahmen zu Kontaktbeschränkungen waren richtig. Es ist uns damit gelungen, die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus deutlich zu reduzieren. In fast allen Bundesländern liegen wir heute bei einer Inzidenz von deutlich unter 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern. Trotzdem ist die Zahl der Todesfälle noch viel zu hoch, und noch immer arbeiten die Intensivstationen an bzw. oftmals über der Belastungsgrenze, da die Patientenzahlen nur langsam zurückgehen. Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Situation und die Schutzmaßnahmen verlangen uns allen privat, beruflich, sozial und ökonomisch viel ab. Auch wenn wir alle irgendwie genervt sind und ein Ende des Lockdowns herbeisehnen, zeigt der jüngste DeutschlandTrend nach wie vor eine 75-prozentige Zustimmung zu den Maßnahmen. Die meisten wissen: Die beste Waffe gegen das Virus ist, ihm keinerlei Chance zu geben, sich zu verbreiten. Dafür, dass die überwiegende Mehrheit diesen Weg solidarisch mitgeht, möchte ich mich ganz ausdrücklich bedanken. ({0}) Gemeinsam machen wir Schritt für Schritt Boden gut im Kampf gegen Corona. Wir sehen deutliche Fortschritte, zum Beispiel bei den Impfungen. Elf Monate nach dem ersten Fall in Deutschland konnten wir mit dem Impfen beginnen. Das ist eine herausragende Leistung unserer Wissenschaft. Ein Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner der Senioren- und Pflegeeinrichtungen als eine besonders gefährdete Personengruppe hat mittlerweile die Erstimpfung und zum Teil auch die Zweitimpfung erhalten. Es ist gut, dass sich Bund und Länder ergänzend zur nationalen Impfstrategie auf einen Impfplan verständigt haben. Die Impfstoffversorgung muss planbar sein; denn Planbarkeit ist der Schlüssel zum Erfolg. Wir werden in Deutschland in den kommenden Wochen deutlich mehr Impfstoff zur Verfügung haben. Daher muss sichergestellt sein, dass dieser Impfstoff dann auch zügig in den Bundesländern verimpft wird. Deshalb ist es gut, dass sich die Konferenz gestern auch mit diesen Organisationsfragen beschäftigt hat. ({1}) Wir sehen Fortschritte beim Testen. Die Laborkapazitäten bei den PCR-Tests wurden zwischenzeitlich auf über 2 Millionen Tests pro Woche ausgebaut. Das ist eine Wahnsinnsleistung unserer Labore. Auch die Antigenschnelltests sind mittlerweile ein fester Bestandteil in vielen Einrichtungen. Sie ermöglichen ein wichtiges Stück mehr Teilhabe. Sobald die Antigenschnelltests nach den notwendigen Prüfungen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel auch für die Selbstanwendung zugelassen sind, werden wir einen weiteren wichtigen Baustein zur Verfügung haben, der die Teststrategie sinnvoll ergänzen wird. Das alles sind gute Nachrichten. Genau hier zeigt sich aber die Ambivalenz unserer derzeitigen Situation: Ja, wir haben Boden gutgemacht; aber trotzdem sind wir noch lange nicht am Ziel. Vor allem die Verbreitung der Virusmutationen – die brasilianische, die südafrikanische und die britische – bereitet große Sorge. Die britische Variante B.1.1.7 verbreitet sich rasant in Deutschland. Sie ist sehr viel infektiöser und aggressiver als das Wildvirus. Auch wenn unsere Neuinfektionen insgesamt deutlich sinken, müssen wir doch zur Kenntnis nehmen, dass sich der Anteil der Mutationen darunter im zweistelligen Prozentbereich vermehrt. Das bedeutet im Klartext, dass das geringste Nachlassen in den Kontaktbeschränkungen dem Virus ein exponentielles Wachstum ermöglicht. Diese Chance, meine Damen und Herren, dürfen wir ihm auf keinen Fall geben. ({2}) Deshalb ist es richtig, dass die Bundesländer gestern verabredet haben, erst bei einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von 35 weitere Öffnungen zu ermöglichen. Dennoch sage ich hier auch: Ich bedaure es, dass es der Kanzlerin und den Ländervertretern nicht gelungen ist, zum einen im Bildungsbereich mehr Einheitlichkeit zu erreichen und zum anderen einen konkreten Fahrplan, natürlich immer orientiert am Infektionsgeschehen, zu verabreden. Wir brauchen eine belastbare Strategie, die den Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmen, der Gastronomie, den Kulturschaffenden klare und transparente Planungsperspektiven gibt, und zwar sowohl für den Fall einer Verbesserung der Lage als auch für den Fall, dass das Infektionsgeschehen sich erneut verschlechtert. Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger, verehrte Kollegen, wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber schrittweise kommen wir weiter, wenn wir alle bereit sind, mitzuhelfen, bei Lockerungen diszipliniert sind und uns bei kurzfristigen Anstiegen wieder zurücknehmen. Lassen Sie uns diesen Weg weiterhin gemeinsam und solidarisch gehen und Corona die Stirn bieten. Bleiben Sie gesund! ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung, CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag ist der Ort, an dem über die Maßnahmen diskutiert wird und diskutiert werden muss. ({0}) Hier muss auch gestritten werden; das gehört bei einer solchen Debatte dazu. Hier wird auch entschieden. ({1}) Wir haben das mit grundlegenden Entscheidungen zu allen Schritten getan. Ralph Brinkhaus hat auf das Infektionsschutzgesetz hingewiesen. Ich will aber – weil es gerade einen Zuruf von der AfD gab – auch in Ihre Richtung sagen: Man kann über vieles streiten, aber über bestimmte Fakten eben nicht. Dass unser Land sich in dieser schweren Situation befindet, liegt nicht an der Politik. ({2}) Das liegt daran, dass ein Virus in einer weltweiten Pandemie über uns gekommen ist. Dass wir uns länger in einer schwierigen Situation befinden, liegt daran, dass sich Mutationen gebildet haben. Das ist es, was es uns schwer macht. Man kann darüber diskutieren und streiten, wie man darauf reagiert; aber bitte verwechseln Sie nicht Ursache und Wirkung. ({3}) Zweitens. Ich erinnere mich, dass wir zu Beginn des Lockdowns ähnliche Debatten in diesem Haus hatten. Man kann auch jetzt über vieles diskutieren, aber nicht darüber, dass wir jetzt in einer anderen Situation sind als im Dezember. Die Situation ist besser geworden, die Zahlen sind runtergegangen. Wir befinden uns jetzt in einer Situation, in der wir wieder über die nächsten Schritte zur Lockerung sprechen können, weil Maßnahmen konsequent umgesetzt wurden, weil die Bürgerinnen und Bürger in ihrer ganz großen Mehrheit diesen Maßnahmen mit Akzeptanz begegnen und sie mit Vorsicht umsetzen – und manches auch darüber hinaus. Auch daran kann kein Zweifel sein: Wir sind in einer besseren Situation. Ich will drittens sagen: Ja, wir können diskutieren und streiten und unterschiedliche Vorstellungen haben. Aber ich möchte hier doch noch mal für uns alle betonen: Diese Entscheidungen, die jetzt notwendig sind, trifft niemand leichtfertig. Die Kanzlerin hat gesagt, es gibt keinen Tag, an dem sie, an dem uns die Existenzsorgen der Betriebe nicht umtreiben, an dem uns auch die Situationen in den Familien nicht umtreiben. Das müssen wir, glaube ich, in aller Deutlichkeit betonen, und wir müssen darauf Antworten geben. Ich bin froh, dass sich genau diese Themen in dem Beschluss von gestern wiederfinden. Was die Familien betrifft, gibt es jetzt eine Diskussion, wann Kitas und Grundschulen geöffnet werden können; aber es wird mit einem breiten Konsens festgehalten: Es gibt eine Priorität. Wenn geöffnet werden kann, dann sollen Kitas, Kindergärten, Schulen die ersten sein. Dieser Priorität entspricht die Empfehlung bzw. Forderung, die Impfreihenfolge so zu ändern, dass Erzieherinnen und Erzieher, dass Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer eine höhere Priorisierung erhalten. Das ist der konkrete Ausdruck des Respekts, den wir vor den Leistungen haben, die diese Menschen für unsere Gesellschaft in diesen Tagen erbringen. Thema Wirtschaftshilfen: Herr Lindner hat den Verlustrücktrag angesprochen. Er ist jetzt, glaube ich, nicht mehr da – vielleicht liest er gerade die Ergebnisse des Koalitionsausschusses nach –, deshalb sage ich es zu Ihnen, Herr Dürr: Sie wissen doch, dass beschlossen wurde, den Verlustrücktrag von 5 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro zu erhöhen. ({4}) – Für ein Jahr, genau. ({5}) – Herr Dürr, Sie kennen ja die Regelung. Ich verstehe ja, dass Sie sagen, es kann noch mehr werden. ({6}) Das ist ja in Ordnung. Aber das ist eine Verdoppelung. Das sind 5 Millionen Euro mehr als zuvor, die zurückgetragen werden können, und das ist nicht nichts, sondern das ist ein wichtiger Schritt. Genauso ist es eine wichtige Nachricht, dass die Überbrückungshilfen III jetzt beantragt werden können. Wir setzen darauf, dass die Abschlagszahlungen, die jetzt bis zu einer Höhe von 100 000 Euro möglich sind, was auch ein wichtiger Schritt ist, ausgeschöpft werden, dass das schnell geht, dass die Länder, die ja die Auszahlung machen, und wir alle mit derselben Intensität, sogar mit stärkerer Intensität als bisher darangehen. Die Hilfen müssen schnell sein, ({7}) sie müssen ausgeweitet werden – das passiert beim Verlustrücktrag –, und sie müssen noch besser abgestimmt werden. Deshalb ist es wichtig, dass jetzt mitgeteilt wurde, dass die KfW das Kooperationsverbot aufhebt. Es ist im November entschieden worden – zu Recht –, dass auch kleine Betriebe die Schnellkredite erhalten können. Aber ein kleiner Betrieb, der vorher einen anderen Kredit erhalten hatte, hat ihn nicht bekommen. Diese Regelung ist jetzt aufgehoben. Alle Betriebe in Deutschland können jetzt die Schnellkredite bekommen. ({8}) Das sind drei Beispiele, die dafür stehen, dass die Hilfen verbessert wurden. Wir müssen, wenn die Krise länger geht, dieses Netz, diesen Instrumentenkasten weiter ausbauen. Darauf drängen wir, und darauf arbeiten wir hin. Das sind wichtige Maßnahmen, die jetzt auf den Weg gebracht werden. Wir bleiben dran. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke, FDP-Fraktion?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Jung, zum Thema Verlustrücktrag würde ich gerne von Ihnen wissen, weil Sie sagen, dass das eine Verdoppelung ist: Muss ich Sie so verstehen, dass Sie meinen, diese Verdoppelung reicht jetzt aus, oder muss ich Sie so verstehen, dass es in der Koalition die Überlegung gibt, auf den seit mehreren Monaten vorliegenden FDP-Vorschlag zuzugehen? Was ist Ihre Position? Halten Sie das, was Sie jetzt erreicht haben, für ausreichend, oder kommt da seitens der Koalition noch mehr? ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist ein wichtiger Schritt, einer, den Ihr Fraktionsvorsitzender vorhin vergessen hat zu erwähnen. Ich wollte der Vollständigkeit halber beitragen, dass eine Verdoppelung von 5 Millionen auf 10 Millionen ein erheblicher Fortschritt ist, für den wir gekämpft haben. ({0}) Richtig ist, dass – das haben Sie wahrscheinlich in den Koalitionen, in denen Sie mitgewirkt haben, auch schon erlebt – ({1}) man für Dinge zunächst eintritt und nicht immer auf einen Schlag alles erreichen kann, was man erreichen möchte. Es ist richtig, dass wir von der Union – das wissen Sie – für die Erhöhung eingetreten sind – da haben wir einen wichtigen Schritt gemacht –, dass wir, wie Sie ja auch, der Meinung sind, dass es richtig ist, dass man Verluste länger zurücktragen kann. Ich sage es mal mit dem Kollegen Rolf Mützenich: Es ist richtig, dass wir diese Fragen gestellt haben. – Wir werden diese Fragen auch weiter stellen. Ich finde, in so einer Debatte gehört es auch dazu, Fortschritte anzuerkennen, und eine Verdoppelung, mit Verlaub, ist ein erheblicher Fortschritt. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Der arme Poet“, kaum ein Bild wird so verklärt. Der frierende Künstler unterm Dach – leider inzwischen nicht mehr nur Gemälde, sondern Realität. Denn Künstlerinnen und Künstler haben vor elf Monaten ihre Existenzgrundlage verloren, und zwar von heute auf morgen. Für sie bedeutet Corona Dauer-Lockdown: keine Veranstaltungen, keine Aufführungen, keine Ausstellungen, keine Beschäftigung, keine Einnahmen. Diese Pandemie trifft Kunst und Kultur wie eine Naturkatastrophe, individuell, aber auch volkswirtschaftlich; denn Kultur und Kreativwirtschaft waren vor Corona kein Aschenputtel, sondern ein Wirtschaftsfaktor mit einem stolzen Jahresumsatz von 170 Milliarden Euro – vor Corona. Wer Rücklagen hatte, hat diese inzwischen aufgebraucht. Zur wirtschaftlichen Not kommt die ganz große Frage: Wann dürfen wir wieder auf die Bühne, hinter die Kamera, zu unserem Publikum? ({0}) Es geht nicht allein um unsere Künstler, es geht um uns alle. Wir alle brauchen Kunst und Kultur; denn sie sind systemrelevant. Deswegen verdienen Künstler Hilfen und Chancen. Genau darauf haben wir reagiert, an erster Stelle unsere Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Sie hatte die Idee für ein einmaliges Programm: „Neustart Kultur“. Es umfasst alle Genres in der Stadt und auf dem Land, Profis und Amateure. Wir haben Monika Grütters dabei unterstützt, im Sommer mit 1 Milliarde Euro und jetzt mit einer zweiten Milliarde für „Neustart Kultur“. Ohne die Union hätte es diese Verdopplung übrigens nicht gegeben. Für seine Initiative im Koalitionsausschuss danke ich unserem Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus. ({1}) Was bedeutet „Neustart Kultur“? Erstens: Rettung. Denn wir helfen bei Einnahmeverlusten und Investitionen, die die Pandemie erforderlich macht. Zweitens: Zukunft. Denn wir investieren in Strukturen und Digitalisierung. Meine Damen und Herren, dabei geht es um mehr als 60 Einzelbausteine, in Windeseile erarbeitet, mithilfe unserer Kulturverbände, denen ich im Namen von CDU und CSU danke. Es geht um Programme für Musik, Galerien, Theater, Tanz, Literatur, Buchhandlungen, Bibliotheken, Museen, Film, Kinos, soziokulturelle Zentren und, und, und. Die Programme wurden maßgeschneidert und kommen an: 34 000 Anträge, 90 Prozent der Mittel sind bereits belegt, bundesweit. Das ist grandios, und mit der zweiten Kulturmilliarde können wir nahtlos weitermachen, und das ist gut. ({2}) Hinzu kommen Gutscheinlösungen für Veranstalter, Hilfen für kurz befristet Beschäftigte, das „Zukunftsprogramm Kino“ und, und, und. Das bedeutet Rettung für viele Kultureinrichtungen und damit auch Zukunft für Künstlerinnen und Künstler. Das bedeutet aber auch Zukunft für unsere Kulturvereine, vom Heimatmuseum bis zum Chor; denn die ehrenamtlich Tätigen profitieren ebenso von „Neustart Kultur“. Hinzu kommt für ehrenamtlich Tätige das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung, aber auch Hilfen der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Sonst würden im ganzen Ehrenamt Strukturen wegbrechen; denn dieses lebt von der Begegnung, und wenn diese fehlt, löst sich die Bindung. Deshalb fördern wir als Bund das digitale Miteinander; denn wir wissen, jedenfalls wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ohne Ehrenamt ist kein Staat zu machen. Das gilt auch für unsere Sportvereine, in denen sich über 1 Million Menschen ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel als Vorstände oder als Übungsleiter. Mit kreativen Ideen halten sie für 27 Millionen Mitglieder auch in der Pandemie Sportangebote für Jung und Alt aufrecht, und das ist Schwerstarbeit. Fakt ist aber: Mehr als die Hälfte von ihnen verlieren derzeit Mitglieder. Und im Bereich des Mannschaftssports fehlen die Ticketeinnahmen in den Ligen. Deshalb haben wir Coronahilfen auf den Weg gebracht, und diese Unterstützung kommt bei den Vereinen in der Fläche an. ({3}) Meine Damen und Herren, Corona trifft, von der Kultur bis zum Sport. So unterschiedlich beide Bereiche auch sind: Beide brauchen Hilfe, und beide bekommen Hilfe, damit wir sie auch noch nach der Pandemie haben; denn sie sind kein Ornament, sie sind das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht. Und deshalb ist es unsere Aufgabe, sie zu sichern und zu stärken. Genau dieser Aufgabe stellen wir uns in diesem Haus seit vielen, vielen Monaten gemeinsam erfolgreich. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Connemann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Rechtsverstöße werden nicht dadurch geheilt, dass man sie nur wenige Monate später erneut begeht. Im nunmehr dritten Haushalt reißt die Koalition auch 2021 die Schuldenbremse gemäß Artikel 115 Grundgesetz und rechtfertigt dies mit einer Notsituation. Das Covid-19-Problem kann aber per Definition nicht über Jahre anhalten. Darum müssen wir heute erneut einen Antrag auf Rechtsnormenkontrolle einbringen. Die in unserem Antrag angeführten Fragen schreien nach rechtlicher Klärung. Gerichte müssen gelegentlich auch Mehrheitsvoten eines Parlaments prüfen, wenn dieses seine Befugnisse missbraucht, was wir in der Klageschrift ausführlich darlegen. ({0}) Um die Entgegnung auf die absehbaren, aber falschen Vorwürfe der Nachredner vorwegzunehmen: Das Begehren einer Klärung der Verfassungskonformität ist ein völlig rechtsstaatlicher Vorgang und ein demokratisches Minderheitenrecht. Und doch hörten wir bei vergleichbaren Normenkontrollanträgen der AfD – so vor zwei Wochen und auch schon im Jahr 2020 – Sätze wie: Sie bekommen doch keine Mehrheit. – Das kam vom SPD-Kollegen Franke. Nun, das ist die Arroganz der Macht. Mit dieser Einstellung spricht man der Opposition jedes Werben um eine Mehrheit oder auch nur um ein 25-Prozent-Quorum gemäß Artikel 93 Grundgesetz ab. Das ist parlamentarisch sehr bedenklich, und ich fürchte, wir hören es gleich noch mal. ({1}) Wenn es danach ginge, wie groß die Chancen auf eine Mehrheit sind, dann dürfte die Opposition nach Ansicht der Koalition offenbar keinerlei Anträge mehr stellen. Auch die Antragsformel, die wir gewählt haben – „Der Deutsche Bundestag begrüßt …“ –, ist völlig normal und wurde bereits mehrfach bestätigt durch das zuständige Parlamentsreferat. Dies immer wieder ins Lächerliche zu ziehen, ist nur Beleg für den mangelnden Willen der Altparteien, sich inhaltlich mit den Argumenten unserer Klageschrift auseinanderzusetzen. ({2}) Erstens. Die Regierung will 180 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen; die gemäß Schuldenbremse zulässige Kreditaufnahme wird somit um 164 Milliarden Euro überschritten. Allein schon der Höhe nach ist diese Überschreitung nicht gerechtfertigt, da der Bund auch 2021 die Asylrücklage nicht nutzt. Man kann aber nicht zugleich Rücklagen haben und Notkredite aufnehmen. So verlangen es das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß Artikel 114 Grundgesetz und § 7 BHO. ({3}) Zweitens. Ich sagte hier schon im September 2020: „Herr Scholz wird die … Schuldenmittel 2020 gar nicht ausgeben können. … Es war auch gar nie geplant, weil man das Geld für das Wahljahr 2021 vorhalten wollte.“ So weit mein Zitat. Und genau so kam es dann auch. Das aber war rechtsmissbräuchlich. Kreditfinanzierte Rücklagenbildung über mehrere Jahre ist verboten. Etwas Ähnliches passiert nun im Haushalt 2021, indem die Rücklagen sogar nochmals verstärkt werden. Das ist ein Verstoß gegen das Jährlichkeitsgebot nach Artikel 110 Grundgesetz und § 4 BHO. ({4}) Drittens. Gespart wird im Haushalt an keiner Stelle, und viele der Programme stehen gar nicht im Veranlassungszusammenhang mit Corona. Das aber wäre natürlich Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Ausnahmeverschuldensregel des Grundgesetzes. Eine durch eine Notsituation begründete Schuldenaufnahme darf nicht zur Umsetzung einer Politik genutzt werden, die ohnehin und unabhängig von der Notsituation verfolgt werden sollte. ({5}) Viertens. Eine gesundheitliche Notlage ist weiterhin nicht gegeben; zu keinem Zeitpunkt gab es eine Überlastung des Gesundheitssystems. Die Sterblichkeitsrate lag in Deutschland im Jahr 2020 entgegen der gegensätzlichen Propaganda nicht über dem Erwartungswert. Das von der Koalition seit Monaten vorgetragene Narrativ, wonach nur entschiedenes staatliches Handeln zur Begrenzung der Krankheitsfälle geführt habe, ist weiterhin völlig unbelegt, auch wenn es hier immer wieder wiederholt wird. Ganz im Gegenteil hat erst die seit April letzten Jahres anhaltende staatliche Überreaktion die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit herbeigeführt. Der Eintritt der wirtschaftlichen Not war im dritten Coronahaushalt des Bundes damit ganz sicher nicht mehr der Kontrolle des Staates entzogen. Auch diese Voraussetzung im Grundgesetz für die Inanspruchnahme der Schuldensonderregel ist daher 2021 nicht mehr gegeben. ({6}) Der wahre Grund der Schuldenorgie ist dieser: Nur so kann Minister Scholz die Lockdown-Folgen noch bis zur Bundestagswahl abfedern. Das Grundgesetz wird hier zum uferlosen Schuldenmachen missbraucht. Es steht nun sogar zu befürchten, dass Sie die Notlage dauerhaft machen – bis 2022 und vermutlich sogar darüber hinaus. Genau dies hat das Kanzleramt gefordert, auch wenn es sofort dementiert wurde; das stimmt. Aber am Ende war Kanzleramtsminister Braun einfach nur ehrlich. Er sagte: „Die Schuldenbremse ist in den kommenden Jahren … nicht einzuhalten.“ Und er behält damit leider sogar recht, wenn man denn nicht spart. Nur mit Sparen wäre die Schuldenbremse einhaltbar, und das vor allem nur bei sofortigem Ende des Lockdowns. Das ist die Conditio sine qua non. ({7}) Da man das aber CDU-seitig beides nicht will, fordert Herr Braun dann – aus seiner Sicht logisch – eine Grundgesetzänderung. Er will die Schuldenbremse ganz aus dem Grundgesetz streichen und damit jede Haushaltssolidität dauerhaft abschaffen. Ja, ich weiß, dass es dementiert wurde. Aber er war halt ehrlich. Er will das nicht mehr in dieser Legislatur tun, denke ich, aber dann in der nächsten, wenn sich problemlos eine Mehrheit gegen jede Finanzseriosität finden wird – die ganz große Koalition der Schuldenfans von Dunkelrot über Rot über Grün bis Schwarz. ({8}) – Na ja, vielleicht auch Gelb. Das sehen wir noch. Spannend wird es zuvor noch beim Eckpunkteentwurf zum Haushalt 2022. Offiziell will die Regierung im Jahr 2022 zur Schuldenbremse zurückkehren. Doch aus dem Finanzministerium klingt es bereits jetzt anders. Die Union sei mit den Braun’schen Ansichten gegen die Schuldenbreme – Zitat – „endlich in der Realität angekommen“. Der Testballon ist zwar zunächst einmal geplatzt. Inzwischen sagt sogar Herr Braun in einem spektakulären Ansichtenwechsel: „Ich liebe die Schuldenbremse.“ Das ist ungefähr so glaubhaft wie Erich Mielke 1989. ({9}) Jenseits allen Staatsschauspiels mit Stabilitätsheuchelei sind sich die vereinigten Blockparteien sehr einig: Es regiert sich viel besser auf Pump. – Doch Schulden sind leider die Steuern von morgen. ({10}) Vermutlich wird man mit diesem Staatsschauspiel auch noch die Bundestagswahl erreichen. Danach werden leider Insolvenzen und Massenarbeitslosigkeit überhandnehmen. Auch schuldenfinanzierte Dauersubventionen werden das dann nicht mehr verhindern können. Darum müssen wir nun eine Linie einziehen; das ist verfassungsrechtlich und ökonomisch geboten. Falls Sie, liebe Kollegen, das anders sehen, dann fordere ich Sie als gute Rechtsstaatler trotzdem und erst recht auf: Bringen Sie den Kasus zur Klärung nach Karlsruhe. Das widerspricht sich doch nicht. ({11}) Machen Sie das 25-Prozent-Quorum heute voll. Unsere Antragsbegründung ist bereits fast identisch mit der Klageschrift; es ist also alles vorbereitet. Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, dann haben Sie in Karlsruhe ja nichts zu verlieren. Herzlichen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Boehringer. – Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gesundheitliche Notlage ist nicht gegeben, Kollege Boehringer, weil wir gehandelt haben – deswegen ist sie nicht gegeben. ({0}) Wenn wir nicht gehandelt hätten, dann hätten wir sie. Das haben doch die Monate September, Oktober, November mit dem exponentiellen Wachstum der Infiziertenzahlen gezeigt. Und: Was wäre denn, wenn wir heute ein sofortiges Ende des Lockdowns beschließen würden, das heißt, alles wieder aufmachen würden – AC/DC-Konzerte, 80 000 Zuschauer bei Borussia Dortmund gegen Schalke 04 usw. usf.? Dann würden Sie sich Wochen später hierhinstellen und uns die Schuld dafür geben! Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern im Haushaltsausschuss hat sich deutlich gezeigt, was Ihre Strategie ist, als es um die Freigabe von 6,2 Milliarden Euro für Impfstoffe ging. Das haben Sie abgelehnt mit zwei Begründungen. Die erste Begründung war, dass die Impfstoffe von BioNTech und Moderna Nebenwirkungen haben. Die zweite Begründung war, dass der Staat das alles finanziert. – Nein, Sie wollen – das ist der Grund für Ihre Hetze gegen das Impfen und gegen unsere Politik –, dass Deutschland im Chaos versinkt. Das Ergebnis Ihres Tuns wäre, dass noch viel mehr Menschen sterben und sich noch viel mehr Menschen infizieren würden. ({1}) Gestern ist im Haushaltsausschuss ganz klar und deutlich geworden, was Ihr Ziel und was Ihre Strategie an der Stelle ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was soll denn eine außergewöhnliche Notsituation sein, wenn nicht diese? Hier werden ja immer Vergleiche gezogen. Der Bundesfinanzminister beispielsweise zieht einen Vergleich zum Jahr 2010. Ja, die Staatsschuldenquote war damals höher; sie lag bei gut 80 Prozent, sie ist heute auf gut 70 Prozent gesunken. Aber das Entscheidende, um aus den Schulden wieder herauszukommen, ist die Kreditfinanzierungsquote von damals und von heute. Damals war die Kreditfinanzierungsquote des Bundes nur halb so hoch wie heute; sie liegt bei 15 Prozent. Wir haben heute 30 Prozent. Auch Ihre Einlassung, dass die Gesamtsumme der Schulden damals deutlich höher war als heute, stimmt nicht; das ist falsch. Wir hatten damals, in den Jahren 2008 bis 2014, eine Gesamtverschuldung von rund 160 Milliarden Euro. Allein im letzten Jahr haben wir rund 130 Milliarden Euro Schulden gemacht, und in diesem Jahr werden es – so ist es jedenfalls prognostiziert – 190 Milliarden Euro sein. Deswegen wird es im Wesentlichen darauf ankommen – das ist der Punkt –, dass wir im Bundeshaushalt aus den Schulden herauswachsen. Ganz nebenbei: Allein die 310 Milliarden Euro, die in der Finanzmarktkrise in die Bad Banks gepackt worden sind, entsprachen 12 Prozent der Verschuldung aus dem Jahr 2010. Also, für mich ist das eine völlig andere Situation. Zumal damals nicht das gesamte gesellschaftliche Leben betroffen war; es waren Teilsegmente. ({2}) Wir sind auch sehr schnell wieder herausgekommen. Damals hatten wir Zinsminderausgaben – Kollege Lindner von der FDP hat das auch immer gesagt –, und wir hatten die Rendite der Hartz-IV-Reformen, ja. Unsere Herausforderung im kommenden Jahrzehnt ist außerdem der demografische Wandel. Deswegen sind aus meiner Sicht diese beiden Situationen nicht vergleichbar. ({3}) Meine Prognose ist, dass es deutlich schwieriger wird, jetzt wieder herauszuwachsen, als das im Jahr 2009 ff. war. Nebenbei bemerkt – im Folgenden redet ja für uns eine Zeitzeugin der Föderalismuskommission, Antje Tillmann –: ({4}) Das, was damals in den Jahren 2006, 2007, 2008 und 2009 unter dem Vorsitz von Peter Struck und Günther Oettinger gemacht wurde – ein Ergebnis war ja im Zuge der Finanzkrise auch die Schuldenbremse – war, finde ich, gelebter Föderalismus. Gestern haben die Länder sehr viel Wert darauf gelegt, dass sie die Kultushoheit haben. Wenn ich mir dann aber allein die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz von vor drei Tagen angucke – fünf Punkte; alles Hoheit der Länder –, dann wundere ich mich schon; denn auch für die Schulbusse soll jetzt der Bund aufkommen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, so geht es nicht. ({6}) Gestern darauf zu beharren und zu sagen: „Wir haben die Kultushoheit; wir haben das Sagen, wann Kitas und Schulen wieder geöffnet werden“, und gleichzeitig, wenn es darum geht, der Finanzverantwortung angesichts der föderalen, formalen Zuständigkeit gerecht zu werden, auf den Bund zu verweisen, geht nicht. Ich muss sagen: Da fehlt mir jedes Argument, um das für vernünftig und gut zu halten. Noch einmal zum Verhältnis Bund–Länder. Der Bund hatte im letzten Jahr eine Kreditfinanzierungsquote von 30 Prozent, die Länder hatten nicht einmal eine Quote von 10 Prozent; 9 Prozent genau. Wenn wir uns einmal die Einnahmesituation angucken, müssen wir feststellen: Die Gesamtheit der Länder hatte im letzten Jahr – Kassenstatistik – bereinigte Einnahmen von 430 Milliarden Euro. Im Jahr 2019 waren es nur 417 Milliarden Euro. Warum bereinigte Einnahmen? Weil man natürlich die Dutzenden Milliarden Euro, die der Bund an Zuweisungen gibt, von Umsatzsteuer über Kosten der Unterkunft etc., an der Stelle natürlich mit dazurechnen muss. Der Bund, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat ein Defizit von gut 50 Milliarden Euro. Das heißt, die Länder tragen deutlich weniger Lasten in dieser Krise, und bisher sind sie auch deutlich günstiger durchgekommen. Ich hätte noch zu manch einem Land Anmerkungen zur Kassenstatistik, wie etwa zum Parken von Kreditaufnahmen in Sondervermögen; aber das lasse ich jetzt weg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bewirkt die Debatte „Die Schuldenbremse muss weg“ eigentlich beim Normalbürger? Was denkt der Normalbürger? Was denkt der Bürgermeister? Was denkt ein Landrat? Denkt man: „Schulden sind sexy, Schulden kann man mal einfach so machen“? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir müssen auch ein bisschen aufpassen, welches Signal ein „Weg mit der Schuldenbremse!“ in die gesamte Gesellschaft sendet. Ich sehe das hochkritisch. ({7}) Dazu kommt: Lieber Olaf Scholz, ich rede nicht der Spar- und Austeritätspolitik das Wort; das ist nicht mein Thema. Aber es muss noch gestattet sein, als Haushälter nachzufragen: Sind diese Mittel notwendig? Sind sie sinnvoll eingesetzt? Ich glaube, das muss noch erlaubt sein an dieser Stelle. Wenn man 90 Milliarden Euro weniger Kredit aufnimmt, dann ist die eine oder andere Frage berechtigt. Auch wenn wir in den letzten drei Jahren ein Aufwachsen der Ausgabereste von 15 Milliarden auf 22 Milliarden Euro im Bundeshaushalt hatten, muss dennoch die Frage gestattet sein: Ist wirklich all das Geld notwendig, was da ins Schaufenster gestellt wird? Ich weiß selber, es ist oft nicht mehr als ein Blick in die Glaskugel, weil alles etwas schwieriger ist in dieser Situation. Aber noch einmal: Gerade auch deswegen sehe ich die gesellschaftliche Auswirkung, wenn die Schuldenbremse einmal wegfallen würde, hochkritisch. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, lieber Eckhardt Rehberg. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter diensthabender Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich könnte man jetzt ohne Weiteres sagen: Der Kollege Rehberg hat recht. Nur, man fragt sich natürlich: Spricht der Kollege Rehberg für die CDU und auch für die Schwesterpartei aus Bayern? Jedenfalls für die Bundesregierung hat der Kollege Rehberg nicht gesprochen. ({0}) Ich danke aber der AfD, dass sie das Thema der Schuldenbremse heute auf die Tagesordnung bringt. Ich will zum AfD-Antrag zwei Dinge sagen: Erstens: die inhaltlichen Kritikpunkte am Haushalt. Zugestanden, das sind ganz viele Punkte, die viele hier im Hause haben, die auch viele Haushälter haben. An der zweiten Stelle kann meine Fraktion Ihnen aber nicht folgen, nämlich bei der Frage des Gangs zum Bundesverfassungsgericht. Die Diskussion, die wir heute Morgen hier hatten, die Diskussionen, die wir über den Gesetzesvorbehalt hatten, all das, was wir in letzter Zeit dazu hatten, hat doch eines ganz deutlich gezeigt: Es geht um die Frage: Wollen wir politisch bei der Machtverteilung, bei der Frage Exekutive/Legislative/Judikative, eigentlich immer alles verlagern? – Da sage ich Ihnen beim Thema Haushalt – das können Sie auch an Ihrem eigenen Antrag sehen –: Ich will, dass dieses Parlament grundsätzlich weiterhin beim Haushalt einen eigenen Beurteilungsspielraum hat. Ich will nicht – selbst wenn ich politisch anderer Meinung bin, selbst wenn ich der Meinung bin, dass es falsch ist, was gemacht wird – jedes Mal nach Karlsruhe rennen, um mir von dort irgendetwas sagen zu lassen. Ich will, dass hier diskutiert wird. Ich will, dass hier entschieden wird. Das gilt für den Haushalt, aber das gilt auch – das sage ich in Richtung Regierung und Koalition – für Infektionsschutzgesetze, für Impfreihenfolgen, für Pläne, für Stufen. Alles das muss hier stattfinden. Der Gang vor Gericht, das ist der äußerste Notfall. Zu diskutieren und zu entscheiden ist in einem Rechtsstaat die Aufgabe eines Parlaments; das müssen wir machen. ({1}) Ich will das auch noch mal so deutlich sagen, weil das einige immer wieder vergessen und viele meinen, in der Gewaltenteilung sollten sich das Parlament und diese Politiker ein bisschen zurücknehmen. Ich zitiere hier ganz einfach nur den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der übrigens lange Zeit der CDU/CSU-Fraktion angehörte. Er sagt hier deutlich: Krisen sind – in ihrem frühen Stadium – die Stunde der Exekutive. Das ändert nichts daran, dass das oberste Verfassungsorgan nicht die Exekutive, – nicht die Exekutive! - sondern die Legislative ist. Ein solcher Antrag, wie Sie ihn einbringen, der verschiebt es dahin, dass die Judikative es am Ende richten soll. Da kann ein Parlament nach meiner Meinung nicht mitmachen. ({2}) Zum letzten Teil meiner Rede: die Schuldenbremsendebatte. Ecki Rehberg, ich glaube ja, dass der CDU/CSU in der nächsten Legislatur mit dir jemand fehlen wird, der sie noch einmal daran erinnert, was es eigentlich heißt, wenn ein Parlament sich selbst verpflichtet, wenn man an der Regierung ist. Faktisch hat Braun Folgendes gemacht – das will ich noch mal deutlich sagen –: Er hat wieder mal dem Finanzminister die Chance genommen, sich als den alleinigen großen Hinterfrager der Schuldenbremse darzustellen. Das hat die SPD auch sehr geärgert. Gleichzeitig bin ich mir aber sicher, dass der Kollege Rohde nachher erklären wird, warum man bei der Schuldenbremse etwas verändern wird, und die Grünen werden dem natürlich zustimmen, weil es wieder in einen Zusammenhang mit dem Thema Investitionen gestellt wird. Eines will ich für die nächsten Wochen und Monate denjenigen, die behaupten, dass Schulden nicht so schlimm sind, weil die Zinsen ja so schön niedrig sind, ganz klar sagen: Wer sich hier in dieses Parlament stellt und den Bürgern erklärt, er wisse, wie die Zinsentwicklung in den nächsten Jahren ist, er wisse, wie das Vertrauen in die Rückzahlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren ist, der macht eine Wette auf Kosten unserer Kinder, auf Kosten der sozial Schwachen, auf Kosten unserer Transferleistungssysteme, ({3}) auf Kosten unserer Wirtschaft, auf Kosten all dessen, was Zukunft ist. Deswegen kann man weder als Kanzleramtschef noch als Finanzminister hier Anträge stellen, eine Schuldenbremse in irgendeiner Weise umzubauen. Da sollte man dann eher – und da sind wir uns dann wieder einig – fragen: „Auf was kann ich verzichten in einer Krise? Auf was muss ich verzichten in einer Krise?“, aber auch: Wo muss ich investieren? – Beides gehört dazu. Beides ist verantwortungsvolle Haushaltspolitik. Der Gang nach Karlsruhe, wie die AfD es will, ist es sicher nicht. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, geschätzter Kollege Otto Fricke. ({0}) Vielleicht darf ich in der Pause noch darauf hinweisen, dass der Kollege Rehberg nicht für die Bundesregierung sprechen kann; das kann die immer nur selbst machen, ({1}) von wegen Verfassungslage. ({2}) Nächster Redner ist der Kollege Dennis Rohde, SPD-Fraktion. ({3})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben den Bundeshaushalt 2021 sehr intensiv diskutiert. Allein 17 Stunden Bereinigungssitzung! Wir haben zwei ganze Sitzungswochen von Dienstag bis Freitag gehabt, um über die einzelnen Punkte des Bundeshaushalts zu diskutieren. Wir haben hier auch sehr intensiv über die Frage der Ausgestaltung von Artikel 115 Grundgesetz und die Ausnahme von der Schuldenbremse diskutiert. Ich hätte mir gewünscht, dass wir, nachdem dieser Bundeshaushalt nicht mal anderthalb Monate in Kraft ist, an einem Donnerstagvormittag in der Kernzeit im Deutschen Bundestag die Dinge diskutieren, die gerade zur Bekämpfung der Pandemie wirklich wichtig sind, statt uns hier zu einem Begrüßungskomitee für irgendwelche AfD-Wünsche degradieren zu lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich bin dem Kollegen Otto Fricke ausdrücklich dankbar, weil er noch mal klargestellt hat, dass wir natürlich unterschiedliche Vorstellungen zur Ausgestaltung eines Bundeshaushalts, auch in Krisenzeiten, haben, und noch mal dargestellt hat, dass wir als Sozialdemokraten im Kern sicherlich andere Vorstellungen haben als die FDP-Fraktion, dass die FDP-Fraktion im Haushaltsausschuss Dinge beantragt hat, die ich aus vollster Überzeugung abgelehnt habe, ({1}) und dass sie andersherum auch Dinge abgelehnt hat, die wir beantragt haben. Aber das ist nun mal die parlamentarische Demokratie, so wie sie gelebt wird, und hierhin gehört die Debatte und nicht zur Judikative, nicht nach Karlsruhe. Lassen Sie uns hier streiten, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Ich will auch deutlich machen: Ich finde, es ist vollkommen zweifelsfrei, dass wir in einer außergewöhnlichen Notsituation sind, die sich der Kontrolle des Staates entzogen hat. Wir haben 2,3 Millionen mit dem Coronavirus Infizierte in Deutschland. Wir haben über 63 000 Menschen, die an diesem Virus verstorben sind. ({3}) Wir haben viel, viel mehr Menschen, die in Krankenhäusern gelitten haben, die beatmet wurden, die in Intensivstationen waren. Und es ist unsere Aufgabe als Staat, die Menschen vor diesem Virus zu schützen. Wir haben keinen Einfluss auf das Virus, und deshalb können wir auch diese Pandemie nicht einfach händeln, wie man vielleicht andere Herausforderungen im Staatswesen händeln kann. ({4}) Weil wir diese außergewöhnliche Notsituation haben, mussten wir intervenieren, mussten wir eingreifen. Wir haben das gemacht, was Jurastudenten im ersten Semester lernen, nämlich Grundrechte gegeneinander abgewogen und dafür gesorgt, dass jedes Grundrecht möglichst gut noch zur Geltung kommt. Das nennt man in der juristischen Lehre „praktische Konkordanz“. ({5}) Wir mussten einzelne Grundrechte massiv einschränken – ja –, damit wir das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf Leben schützen konnten, ({6}) was auch in meiner Wahrnehmung in dieser Situation über allem steht. Aber wir haben das immer, auch in einer sehr intensiven Debatte, finde ich, maßvoll getan. Man kann doch auch mal in andere Staaten gucken: In Spanien durften Kinder wochenlang die Wohnung nicht verlassen. In Frankreich durften sie nur in einem ganz begrenzten Umkreis um ihre Wohnung überhaupt noch rausgehen. – Das, was wir gemacht haben, ist eben auch geschehen, um die Freiheitsgrundrechte möglichst zu schützen und sie auch möglichst schnell wieder zur Geltung kommen zu lassen. ({7}) Und – deswegen sage ich das an dieser Stelle – das hat uns, das hat das Staatswesen viel Geld gekostet, weil eine dieser Folgen eben war, dass wir wirtschaftliche Betriebe nicht mehr haben wirtschaftlich tätig sein lassen können, dass wir Unternehmen schließen mussten, dass wir dafür Sorge tragen mussten, dass Bürgerinnen und Bürger nicht so mobil sind und in Innenstädte gehen, um zu konsumieren. Um das aufzufangen, haben wir als Bundesrepublik viel Geld in zwei Haushalten in die Hand genommen. Wir haben das nicht nur an einer Stelle getan, sondern wir haben wirklich breite, massive Wirtschaftshilfen, breite, massive Hilfen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angeschoben, damit die Unternehmen, die vor der Krise erfolgreich waren, auch nach der Krise erfolgreich sein können, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vor der Krise Arbeit hatten, auch nach der Krise wieder Arbeit haben. Und eben weil das so teuer war – das ist die zweite Voraussetzung für Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 –, haben wir auch eine starke Beeinträchtigung der Finanzlage dieses Staates, und damit liegen die Voraussetzungen für die Ausnahmeregelung der Verfassung nach meinem Dafürhalten zweifelsohne vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Was wäre die Konsequenz, wenn wir das nicht feststellen würden? Und was wäre die Konsequenz, wenn angewendet würde, was da von rechts gefordert wird? Das würde bedeuten: Streichung des Kurzarbeitergeldes. Das würde bedeuten: Streichung der Unternehmenshilfe. Das würde bedeuten, dass wir dem Versprechen des Sozialstaats nicht gerecht werden und die Menschen in diesem Land im Regen stehen lassen. Ich finde, das kann keiner ernsthaft wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Nun wissen wir, dass eine Folge der Pandemie sein wird, dass die Staatseinnahmen auch in den nächsten Jahren hinter dem zurückbleiben werden, was wir vor der Krise einmal angenommen haben. ({10}) Wir wissen noch nicht, wann wir diese Pandemie bewältigt haben werden. Aber jetzt ist schon klar: Wir werden jedes Jahr ungefähr die Staatseinnahmen haben, die wir eigentlich mal für zwei Jahre vorher kalkuliert haben. Wir haben also ein Loch im Staatshaushalt. Gleichzeitig wissen wir, dass wir an einem Punkt sind, wo wir dieses Land fitmachen müssen für die 20er-Jahre, wo wir vor großen wirtschaftlichen Transformationsaufgaben stehen. Wir haben Missionen vor uns, zum Beispiel den klimaneutralen Umbau der Industrie, der nicht von alleine gelingen wird, wo wir als Staat werden unterstützen müssen, um auch unsere Klimaschutzziele einzuhalten. Wir haben die Mission vor uns, die Transformation zur Gigabitgesellschaft einzuleiten und die digitale Wertschöpfung in diesem Land zu stärken, und – ich glaube, das haben wir auch in der Pandemie erlebt – wir werden uns auch um den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärker kümmern müssen. ({11}) Wir haben Aufgaben vor uns, von denen ich finde, dass man sie nicht negieren kann, und die uns Geld kosten werden. Wir werden also investieren müssen. Gleichzeitig will ich folgende Fragen stellen, weil jetzt die Debatte darüber aufkommen wird – das wird, glaube ich, auch in den nächsten Monaten eine Kernauseinandersetzung in der Wahlkampfphase werden; Otto Fricke hat das auch gesagt –: Woher soll das Geld kommen? Welche Prioritäten setzen wir? Ich will noch mal für meine Fraktion deutlich machen: Wir wollen nicht den Angriff auf die drei Sicherheiten, die wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land gewähren. Ich finde, es wäre ein fataler Fehler, jetzt das soziale Sicherungsnetz zusammenzustreichen. ({12}) Denn am Ende wären die sozial Schwächsten die Leidtragenden dieser Krise. Ich glaube, das würde auch dazu beitragen, dass diese Gesellschaft zerbricht, und die Akzeptanz für Politik, für Rechtstaat und Demokratie in diesem Land gefährden. Deshalb: Finger weg vom Sozialstaat! ({13}) Ich finde, es wäre auch ein großer Fehler, jetzt bei der inneren Sicherheit zu sparen. Wir haben mit viel Anstrengung in den letzten sieben Jahren viele Stellen für Beamtinnen und Beamte bei der Bundespolizei, beim Bundeskriminalamt, bei den Diensten geschaffen, ({14}) weil wir eben auch große Sicherheitsherausforderungen vor uns haben. Ich finde, es wäre ein fatales Signal, jetzt den Kolleginnen und Kollegen in den Sicherheitsdiensten sagen zu müssen: Die Kollegen, die ihr eigentlich braucht, die kommen nicht, weil wir sie jetzt wegsparen. – Ich finde, das geht nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Ich habe mit Interesse gelesen, was die Verteidigungsministerin auf sieben Seiten niedergeschrieben hat, was im Ergebnis ja besagt, dass sie in den nächsten Jahren Milliarden mehr für die Bundeswehr brauchen wird. Das zu postulieren, wenn man sich den Zustand der Bundeswehr anguckt, mag das ja auch nicht ganz falsch sein. Auch dann wird man die Frage beantworten müssen, liebe Kollegen: Wo kommen diese Milliarden eigentlich her? Diese Antwort ist sie schuldig geblieben. ({16}) Dann sind wir am Ende bei der Debatte zur Schuldenbremse, bei der Einnahmedebatte oder bei der Streichungsdebatte. Was mich bei der Schuldenbremsendebatte stört, ist, dass sie von vielen zu so einer Schwarz-Weiß-Debatte gemacht wird: Wohl oder Wehe, ja oder nein? Aber de facto haben wir gerade zum ersten Mal den Anwendungsfall der Schuldenbremse. Ich finde, Politik macht nicht immer alles hundert Prozent richtig; das kann sie für sich nicht beanspruchen. Natürlich haben wir ein Recht darauf, zu gucken: Was funktioniert eigentlich, und wo muss man gegebenenfalls nachstellen? Ich will mal einige Punkte nennen: Erstens. Ich finde, das, was Helge Braun aufgeschrieben hat, nämlich eine Antwort auf die Frage: „Ist diese Schuldenbremse eigentlich richtig ausgestaltet für die Jahre direkt nach der Krise, wenn Staatseinnahmen noch hinterherhinken, oder müssen wir da noch einen Mechanismus finden?“, ist etwas, was wir diskutieren müssen. Zweitens. Ich finde, wir müssen darüber diskutieren, ob es von den Bundesländern so klug war, dass sie sich selbst überhaupt keinen Spielraum eingeräumt haben, obwohl er ihnen angeboten wurde. Ich habe mir sagen lassen, der heutige Bundesinnenminister habe das abgelehnt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sind zwei konkrete Punkte in Bezug auf die Schuldenbremse, über die man jenseits der Schwarz-Weiß-Debatte diskutieren kann und, wie ich finde, auch diskutieren muss. Dieser Debatte sollten sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag stellen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rohde. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zu Anfang ganz klar sagen: Wir lehnen den Antrag der AfD ab; denn die Schuldenbremse ist das falsche Mittel. Das muss weg. ({0}) Meine Damen und Herren, mit der Schuldenbremse haben Union und SPD eine Investitionskrise ausgelöst. Unsere Kinder und Enkelkinder werden und wurden massiv ausgebremst. Es ist eine Folge der Schuldenbremse, dass es an Kitas, Schulen, Universitätsplätzen und bezahlbaren Wohnungen fehlt. Und darum sagen wir: Wer Zukunft will, der muss die Schuldenbremse abschaffen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe mich gefreut, dass die Bundeskanzlerin Frau Merkel ihren Kanzleramtsminister Helge Braun beauftragt hat, die Aussetzung der Schuldenbremse in die Diskussion zu bringen. Ich sage Ihnen aber auch: Besser ist es, die Schuldenbremse gleich auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen; denn sie hat unser Land um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen. ({2}) Meine Damen und Herren, auch in dieser Debatte müssen wir die Frage stellen, wer eigentlich die Pandemierechnung bezahlen muss. Diese Frage hat bisher weder die Kanzlerin noch der Finanzminister ehrlich beantwortet. In der Fragestunde vom 16. Dezember hat die Bundeskanzlerin auf meine Frage hin gesagt, sie will keine Vermögensabgabe, sie will keine Steuererhöhung, sie will keine Sozialkürzungen. Aber ihr war schon damals klar, dass das mit der Schuldenbremse nicht funktionieren kann. Sie hat es, glaube ich, verstanden, der neue CDU-Vorsitzende Laschet noch nicht. Aber ich werde es Ihnen noch einmal ganz einfach erklären: Wer die Pandemieschulden abbauen will, der hat nur drei Stellschrauben: Steuererhöhungen oder Sozialabbau oder die Schuldenbremse aussetzen und günstige Kredite aufnehmen. Man muss schon sagen, was man tun will, welche Politik man gestalten will, meine Damen und Herren. ({3}) Die Kanzlerin ist ja dafür bekannt, dass sie Götzen umwirft, wenn sie nicht mehr in ihr Konzept passen. Und als Physikerin weiß sie, dass zwei plus zwei vier ist. Das hat sie schon in der ersten Klasse in der Grundschule gelernt, nämlich die Grundrechenarten, ({4}) und nicht, wie augenscheinlich Herr Laschet, Malen nach Zahlen, meine Damen und Herren. ({5}) Die Vertreter der Union – auch der, der hier gesprochen hat, nämlich Kollege Rehberg – wollen augenscheinlich im Wahlkampf nicht auf die Schuldenbremse verzichten, weil sie meinen, das käme bei ihren Wählerinnen und Wählern gut an. Das werden wir ja dann sehen. ({6}) – Zur Generationengerechtigkeit komme ich gleich. Ein guter Zwischenruf! – Die Verteidiger der Schuldenbremse führen alle Argumente an, die schon längst widerlegt sind: Wenn Sie behaupten, dass wir jetzt zum Beispiel hohe Schulden aufnehmen könnten, weil wir zehn Jahre lang eisern gespart hätten, dann müssen wir doch mal einen Blick über unseren Tellerrand werfen: Alle großen Industriestaaten haben sich in der Pandemie extrem verschuldet, ohne diesen Kürzungskurs mitgemacht zu haben. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({7}) Ganz im Gegenteil: Der Sparkurs von Union und SPD hat dazu geführt, dass wir einen unglaublichen Investitionsstau in unserem Land haben. Die Bundesregierung hat die Digitalisierung verschlafen. Gesundheitsämter arbeiten mit Faxgeräten. In anderen Ländern – das hörte man schon – verfügt man bereits über Computer und schnelle Datenverbindungen. Das muss endlich hier verbessert werden, meine Damen und Herren. ({8}) Das andere Argument – es kam ja gerade als Zwischenruf – ist die sogenannte Generationengerechtigkeit. Mit der Schuldenbremse werden die kommenden Generationen nicht entlastet, sondern belastet. ({9}) Denn jetzt werden die Generationen belastet, die eben nicht ordentlich digital unterrichtet werden können. Wir müssen nur in andere Länder schauen, nach Dänemark oder in die skandinavischen Länder. Dort ist das augenscheinlich möglich. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen auch ganz klar, was wir wollen, wie wir unsere Vorstellung umsetzen wollen, mit unser aller Geld gemeinsam besser umzugehen. ({10}) Es ist doch wirklich ein Hohn, dass in dieser Krise die Verteidigungsministerin ganz stolz verkündet, dass wir jetzt, nach NATO-Kriterien berechnet, 53 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben. Das Geld ist falsch ausgegeben. Das dürfen wir uns nicht weiter leisten, meine Damen und Herren. ({11}) Wenn man dazu mal ins Verhältnis setzt, wie lächerlich wenig Geld die Menschen bekommen, die wenig haben, die arm sind, die Familien, die Alleinerziehenden, die Empfänger von Transferleistungen, dann erkennt man eine Schieflage, die wir uns in unserem Land nicht länger leisten können, meine Damen und Herren. Ich will an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen, dass wir als Linke die Initiative der Sozialverbände, die eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro fordern, unterstützen. Ich werbe dafür, dass möglichst viele in diesem Land es genauso tun, meine Damen und Herren. ({12}) Die SPD hat nun wieder erklärt, dass sie Vermögende stärker besteuern will. Leider haben wir diese Worte, diese Forderung häufig nur im Wahlkampf gehört. Links blinken, rechts abbiegen – das ist, glaube ich, keine gute Politik. ({13}) Und darum sagen wir zur SPD: Blinken Sie nicht nur links, handeln Sie auch links! Dabei unterstützen wir Sie gerne. Meine Damen und Herren, nach dem Corona-Lockdown sollte auch die SPD endlich den politischen Lockdown verlassen ({14}) und den Koalitionsstecker ziehen. Denn mit der Union ist keine Vermögensumverteilung von oben nach unten zu machen. ({15}) Diese Erfahrung sollten Sie doch in den letzten Jahren gemacht haben, meine Damen und Herren. ({16}) Die Linke will eine solidarische, gerechte Gesellschaft mit Chancen für alle. Die Schuldenbremse ist ein ökonomischer und gesellschaftspolitischer Irrweg. Das ist übrigens nicht nur unsere Überzeugung, sondern inzwischen auch die vieler renommierter Ökonomen. Sie muss aus dem Grundgesetz gestrichen werden – für die Zukunft der jüngeren Generationen. Vielen Dank. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte heute um die Schuldenbremse finden wir gut, auch wenn wir den Antrag der AfD klar ablehnen. Wir Grüne haben das richtig und gut begründet gefunden, dass die Notfallklausel für den Haushalt 2021 in Anspruch genommen wurde. Wir haben also eine beträchtliche Neuverschuldung schon in 2020 und auch in 2021. Aber schließlich wissen wir auch heute: Die Wirtschaft ist im Jahr 2020 um 5 Prozent eingebrochen, die Steuereinnahmen sind um 53 Milliarden Euro zurückgegangen, die Coronapandemie ist eine außergewöhnliche Katastrophe, und insofern ist das begründet. ({0}) Aber bemerkenswert war auch, dass der Kanzleramtsminister Helge Braun vor gut zwei Wochen mit seinem Vorstoß den Mut hatte, die finanziellen Herausforderungen zu thematisieren, vor denen wir definitiv in den kommenden Jahren stehen. Und deswegen war das Zugeben von Helge Braun, dass die Schuldenbremse möglicherweise auch in 2022 nicht eingehalten werden kann, nicht skandalös, sondern schlicht ehrlich. ({1}) Auch Sie, Herr Bundesfinanzminister Scholz, haben ja letzte Woche deutlich gemacht: Wir werden auf den Pfad der Einnahmeentwicklung vor der Krise jetzt nicht kurzfristig zurückkehren können. – Dennis Rohde hat das auch gerade ehrlich zugegeben. Insofern hat Herr Scholz uns doch gesagt: Es kommt mit dem Eckwertebeschluss Mitte März, in einigen Wochen, zur sogenannten Stunde der Wahrheit. Der uns bekannte normale gesetzliche Spielraum der Schuldenbremse, das Defizit von 0,35 Prozent des BIP, des Bruttoinlandsprodukts, wird aller Voraussicht nach für den Haushalt 2022 eben nicht reichen; außer – das schlägt die AfD vor; aber ich gehe mal davon aus, dass die CDU/CSU das nicht will – man will massiv in den erhofften Aufschwung 2022 hineinsparen. Das kann doch niemand wollen. ({2}) Wenn man dann sagt: „Na gut, dann ziehen wir eben die Option der Notfallsituation für 2022 wieder“ – es deutet sich an, dass die Regierung quasi notfallmäßig diesen Weg wählt –, dann macht man das, obwohl man im Jahr 2021 eigentlich ein dreiprozentiges Erholungswachstum erwartet; ({3}) so die eigenen Zahlen der Bundesregierung. Ist das ehrlich? Ist das die ehrliche Debatte, die die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verdient haben? – Ich finde, nein. ({4}) Ich sage ganz klar für uns Grüne: Wir sind überzeugt: Wir brauchen ein verlässliches Zukunftsinvestitionspaket für die ganzen 20er-Jahre mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro. – Das sagen nicht nur wir Grüne, das hat auch das Institut der deutschen Wirtschaft gesagt, und die sind sicherlich nicht verdächtig, irgendwie einem stramm linken Lager zuzugehören. Auch hier redet man von Investitionen in einer Größenordnung von 450 Milliarden Euro für das nächste Jahrzehnt, und da kann man nicht einfach auf die laufenden Investitionen verweisen oder darauf, dass Investitionsmittel leider nicht abfließen. Es geht hier um die Umstellung unserer Wirtschaft hin zu einer grünen Wasserstoffwirtschaft. Es geht um die Transformation vor dem Hintergrund des Klimawandels und um die Digitalisierung der Wirtschaft. Liebe Union, es geht um eine riesige Zukunftsherausforderung. Diesen Investitionsbedarf sollten Sie nicht kleinrechnen. Da machen Sie einen Riesenfehler. ({5}) Um das verlässlich zu finanzieren, finde ich das Angebot, das Dennis Rohde gemacht hat, gut. Lassen Sie uns doch mal ehrlich und intelligent über die Schuldenbremse diskutieren! ({6}) Wir Grünen sagen im Unterschied zur Linken ganz klar: Wir wollen die Schuldenbremse nicht abschaffen. Das ist nicht unser Anliegen. Wir wollen eine nachhaltige Finanzpolitik. Unsere Haltung zur Schuldenbremse ist: Sie ist sogar richtig und wichtig, und wir wollen sie auch beibehalten, insbesondere für die konsumptiven Ausgaben. ({7}) Das wird schwer genug mit den laufenden Ausgaben, wenn wir die Sozialgarantie, das heißt, dass die Lohnnebenkosten bei höchstens 40 Prozent liegen, halten wollen. ({8}) Auch das muss die Union wissen. Wenn wir jetzt die Schuldenbremse zur Diskussion stellen, dann wollen wir sie erweitern und ergänzen, und zwar gezielt um den Aspekt, den ich angesprochen habe, nämlich um eine Investitionsregel, damit man im nächsten Jahrzehnt kontinuierlich qualitativ und quantitativ die Zukunftsinvestitionen finanzieren kann. ({9}) Es ist überfällig, dass wir eine ehrliche Investitionsrechnung in den Bundeshaushalt bringen. Deswegen plädieren wir Grüne für eine transparente und glaubwürdige Diskussion um die Schuldenbremse und für eine nachhaltige Finanzpolitik. Wenn wir einfach nur die Ausnahmetatbestände des Grundgesetzes ständig in Anspruch nehmen oder nachher nur darüber reden: „Wie legen wir das Grundgesetz aus?“, dann kommen wir in einen intransparenten Hickhack.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist unnötig und unverantwortlich. Deswegen hoffe ich, dass sich auch die Union dieser Diskussion öffnet. Schönen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hajduk. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Verfassung ist ein wertvolles, hohes Gut. Es hat einen Grund, dass es, um sie zu ändern, einer Zweidrittelmehrheit sowohl hier im Bundestag als auch im Bundesrat bedarf. Jeder, der eine Verfassungsänderung diskutiert, achtet sehr genau auf die Worte, die er nutzt. So war es auch 2009. Mit einem Vorlauf von zehn Jahren, nach FöKo I und FöKo II, und wahrscheinlich noch sehr viel länger, haben wir überlegt, wie wir es schaffen, den künftigen Generationen nicht den enormen Schuldenberg zu hinterlassen, der sich zu dem Zeitpunkt schon angesammelt hatte. Zehn Jahre haben wir diskutiert, bevor es zu dieser Formulierung im Grundgesetz gekommen ist. Und die Schuldenbremse in der Form, wie sie formuliert wurde, hat sich bewährt. ({0}) Das muss man heute ganz klar sagen. Nicht nur der grundsätzlich ausgeglichene Haushalt hat sich bewährt, sondern auch der Spielraum in Notsituationen. Wir haben trotz Schuldenbremse Investitionen auf Rekordniveau. Wir haben die Verschuldung 2010 von über 80 Prozent auf unter 60 Prozent 2019 reduziert. Wir alle wissen, dass wir in jedem Ausschuss Diskussionen über zusätzliche Maßnahmen, die wir uns gewünscht hätten, geführt haben. Sie sind häufig aber nicht auf den Weg gebracht worden, weil wir gesagt haben: Die Schuldenbremse lässt das nicht zu. – Es ist also absolut klar, dass wir 2020 die enormen Förderprogramme nicht auf den Weg hätten bringen können, wenn wir das Geld vorher schon ausgegeben hätten. Deshalb noch mal: Die Schuldenbremse hat sich hinsichtlich des ausgeglichenen Haushalts und auch hinsichtlich der Notlagensituation bewährt. Wir waren nicht naiv. Wir haben 2009 eine Schuldenbremse haben wollen, die bei der ersten Krise nicht schon wieder ausgesetzt wird. Deshalb haben wir auch sehr lange über diesen zweiten Satz diskutiert: „Im Falle von Naturkatastrophen oder anderen außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen …“ dürfen zusätzliche Schulden aufgenommen werden. Dieser Satz hat sich bewährt; und ich danke Frau Hajduk, die das aus Oppositionssicht dargestellt hat. Genau weil es diesen Satz gibt, können wir die derzeitigen Hilfsprogramme auf den Weg bringen. Ich bin einigermaßen verwundert über den Antrag der AfD; denn damals haben über diesen Satz über 100 Wissenschaftler diskutiert. Keiner ist auf die Auslegung gekommen, die Sie sich ausgedacht haben. Niemand hat verlangt, dass der Staat erst mal die Kontrolle über eine Situation verlieren muss, damit entsprechende Möglichkeiten in Anspruch genommen werden können. ({1}) Darum ging es doch gar nicht. Es geht doch nicht um staatlichen Kontrollverlust. Das wäre doch absolut verantwortungslos gewesen. Es ging darum, dass die Ursache der Notsituation nicht der staatlichen Kontrolle unterlag, dass die Situation nicht durch falsches staatliches Handeln verursacht wurde. Ich kann mich an keinen erinnern, der damals gesagt hat: Erst müssen wir komplett im Keller sein, und dann dürfen wir Nothilfen aufbauen. ({2}) Das wäre auch völlig bescheuert gewesen. Und seien Sie gewiss: Ich und auch Frau Hajduk, glaube ich, hätten eine solche Auslegung damals für völlig absurd gehalten. ({3}) Nach dem, was Sie behaupten, hätten wir keine Vorsorge treffen dürfen. Wir hätten also warten müssen, bis alle Menschen erkrankt sind; denn erst das wäre ja der staatliche Kontrollverlust gewesen. Wir hätten kein Geld für die Erforschung von Impfstoffen geben dürfen, weil das ja auch noch staatliche Kontrolle ist. Sie schreiben sogar süffisant, dass Hilfen für Unternehmen erst dann der Schuldenbremse, wie Sie sie auslegen, gerecht geworden wären, wenn die Unternehmen geschlossen worden wären, weil keiner mehr hinkommen kann, weil er erkrankt ist. – Das ist so was von absurd, dass ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie man eine solche Auslegung hier in einem Antrag vorlegen kann. Das war nicht gewollt. Wir wollten, dass der Staat die Kontrolle behält, und wir wollten, dass die Notsituation an sich nicht durch staatliches Handeln verursacht ist. Und seien Sie gewiss – ich denke diejenigen, die damals dabei waren, werden das genauso sehen –: Wenn wir diese Situation heute erahnt hätten, hätten wir dieses Virus als eine Notlagensituation mit in die Verfassung geschrieben. Wir haben damals nicht gedacht, dass es so etwas geben könnte, aber ganz sicher war das genau der Grund für diese Ausnahmesituation. Aber nicht nur, dass Sie eine interessante Auslegung der Verfassung hier vorlegen: Sie gehen ja noch weiter. Sie weisen die Schuld an dieser Situation gar nicht mehr der Politik zu. Sie sagen: Die staatliche Kontrolle habt ihr ja. – Da könnten wir jetzt Luft holen. – Sie sagen also: Staatlicher Kontrollverlust liegt nicht vor. – Aber Sie entblöden sich nicht, folgenden Satz zu schreiben – ich muss ihn mit Erlaubnis des Präsidenten hier vorlesen, weil er wirklich atemberaubend ist –: Es ist der unverbrüchliche Regelgehorsam der übergroßen Mehrheit der Bürger, der der Wirtschaft den Umsatz und dem Staat die Steuereinnahmen geraubt hat … Das ist unsäglich. Sie sagen der Mutter, die Angst um ihr Kind hat, weswegen sie sich mit Maske und möglichst wenig in der Öffentlichkeit bewegt: Du raubst dem Staat Steuereinnahmen; du bist verantwortlich für diese finanzielle Situation. – Sie sagen dem Einzelhändler, der um seine Existenz kämpft, sich aber trotzdem an die Regeln hält: Du bist schuld, dass diese wirtschaftliche Situation entstanden ist. – Das ist so abgrundtief gemein, dass ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie man in einen Antrag einen solchen Satz hineinschreiben kann. Aber seien Sie gewiss, dass wir da nicht Ihrer Meinung sind! ({4}) Schuld an dieser Situation sind nicht die Politiker, ist nicht der Bürger, der sich an die Regeln hält – schuld an dieser Situation ist ein Virus, und dieses Virus wollen wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern bekämpfen. Deshalb ist so etwas absolut indiskutabel. Dieser Ausnahmetatbestand der Schuldenbremse ist genau der, den wir damals im Auge gehabt haben. Indem wir ihn jetzt anwenden, gehen wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gegen diese Krise vor, und das tun wir, obwohl wir investieren, obwohl wir in den vergangenen Jahren Schulsanierungs-, Kindergartensanierungsprogramme auf den Weg gebracht haben. Auch die Digitalisierungskatastrophe in den Schulen liegt nicht am Geld; denn der Digitalisierungsfonds steht ja schon seit Jahren bereit. Das Geld ist da; es wird einfach nur nicht abgerufen. Von daher noch einmal: Die Schuldenbremse hat sich bewährt. – Trotzdem, Frau Hajduk, kann ich mir vorstellen, dass wir nach dieser Akutsituation darüber sprechen, wie es in den Folgejahren weitergeht. Und natürlich kann es sein, dass wir dann zu dem Ergebnis kommen, an der einen oder anderen Stelle muss nachgeschärft werden. Der Kollege von der SPD hat ja eben schon gesagt: Es ist eigenartig, dass die Länder damals ausdrücklich selbst auf ihre Verschuldungsmöglichkeit verzichtet haben. Vielleicht würden sie das heute anders entscheiden. – Und es ist ihr Recht, das heute anders zu entscheiden. Und: Ja, wir müssen gucken, was mit den Jahren nach der Akutsituation passiert – gerne! Die Diskussion wird auch Eckhardt Rehberg gerne mit uns gemeinsam führen. Das sollten wir tun, aber nicht unter dem Aspekt, die Schuldenbremse aufzuheben, sondern unter dem Aspekt, sie nachzuschärfen, damit die Unternehmerinnen und Unternehmer auch sicher sein können, bei einer der nächsten Krisen Hilfen aus staatlichen Mitteln zu bekommen, damit wir aus dieser Situation schnell wieder rauskommen und damit wir dann die Schuldenregelungen zumindest für den konsumtiven Bereich und für die normalen Investitionen auch möglichst bald wieder einhalten. Dazu fordere ich Sie auf. Ich danke allen Bürgerinnen und Bürgern, die regelgehorsam – was die AfD offensichtlich als Beschimpfung empfindet – mit uns gemeinsam versuchen, gegen die Krise anzugehen. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Tillmann. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Karsten Klein, FDP-Fraktion. ({0})

Karsten Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004780, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schuldenbremse ist ein Erfolgsmodell. Wir wären in dieser Krise nicht so handlungsfähig gewesen, wir wären nicht von so einer soliden Basis ausgegangen, wir hätten nicht so kraftvoll agieren können, wenn wir nicht vor der Krise die Schuldenbremse gehabt hätten, die uns das ermöglicht hat, und wenn die Schuldenbremse uns nicht auch innerhalb der Krise dieses kraftvolle Handeln zugestanden hätte. ({0}) Die Schuldenbremse atmet mit der wirtschaftlichen Entwicklung, und sie eröffnet uns genau die nötigen Spielräume in einer Notsituation. Um das einmal ins Bild zu setzen und in der Sprache des Fußballs zu sprechen: Wenn der FC Bayern München – Deutscher Meister, Pokalsieger, Champions-League-Sieger – anstelle des bisherigen Erfolgsmodells entscheiden würde, ({1}) ab jetzt tritt er nur noch mit der zweiten Mannschaft an, weil dann im Spiel mehr Tore fielen, dann wäre das genau die Strategie von Rot-Rot-Grün bei dem Thema Schuldenbremse: ({2}) ein Erfolgsmodell auszuwechseln, um in eine unsichere Zukunft zu gehen. ({3}) Man kann sicher darüber streiten und muss sich die Situation 2022 anschauen: Notsituation – ja oder nein. Wir werden dann sehen, wie die Zahlen sind, wie die Situation ist. Aber, Frau Kollegin Hajduk, es ist doch besser, wenn die Diskussion hier im Deutschen Bundestag stattfindet, als wenn sie aufgrund einer Aussetzung der Schuldenbremse verhindert wird. ({4}) Genau das ist es doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, was Helge Braun möchte. Nein, die Notsituation muss gut begründet sein, wir brauchen eine politische Diskussion darüber. Man muss überzeugen, Frau Kollegin! Und man braucht eine parlamentarische Mehrheit. Genau das ist es, was Helge Braun nicht möchte: dass wir in der Politik weiter über dieses Thema streiten. Deshalb geht dieser Vorstoß schon völlig in die falsche Richtung. ({5}) Jetzt ist es ja schön, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass aus der Unionsfraktion und aus der neuen Parteispitze ein Machtwort gesprochen worden ist. Aber mit Verlaub: Ich muss die Nachhaltigkeit dieser Ankündigung schon stark infrage stellen; denn diese Woche hat mir die Bundesregierung, das Bundesfinanzministerium – Herr Scholz ist leider nicht mehr anwesend – geschrieben, dass man aufseiten der Bundesregierung nach wie vor über dieses Thema diskutiert. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind es den zukünftigen Generationen schuldig, dass sie handlungsfähig bleiben. Jede Generation hat ihre Herausforderungen. Frau Hajduk und Kollege Rohde, Sie haben es zu Recht ausgesprochen: Mittel zur Verfügung zu stellen für den Sozialstaat, für das Thema Klimawandel, das ist keine Frage – aber doch bitte mit den eigenen Ressourcen und nicht mit den Ressourcen der zukünftigen Generationen! Kollege Rehberg hat hier einmal sehr schön dargestellt, wie viele Mittel im Bundeshaushalt zur Verfügung stehen, aber eben nicht abgerufen werden, gerade beim Thema Klimawandel. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind in einer Situation, wo wir über Nachjustage und Kalibrierung reden, aber nicht über Aushöhlen, Abschaffen und Aussetzen der Schuldenbremse. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Klein. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Svenja Stadler, SPD-Fraktion. ({0})

Svenja Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004412, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein Ministerium kommt, wenn ich anfange zu reden; das ist richtig und gut so. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion, die von mir aus gesehen rechts sitzt, stellt heute einen Antrag gegen etwas, was wir im letzten Jahr mit großer Mehrheit hier im Hause entschieden haben, nämlich das Aussetzen der Schuldenbremse aufgrund einer Notsituation. Erst dadurch ist es uns doch möglich geworden, zusätzliche Kredite aufzunehmen, um der Coronapandemie und ihren Auswirkungen entgegenzuwirken, sie zu meistern. Vor allem für Kinder, Jugendliche und Familien stellt die Pandemie eine große Belastungsprobe dar. Der erneute Lockdown mit Kitaschließungen und Schulschließungen ist eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Homeoffice und Homeschooling, das ist total leicht gesagt; aber die Realität sieht einfach ganz anders aus: Es ist wirklich schwierig, das miteinander zu vereinbaren, wenn überhaupt. Dazu kommen zusätzliche Kosten für Laptops und – was braucht man noch? – Kameras sowie Maus und Drucker, um überhaupt Homeschooling zu ermöglichen und auch an der einen oder anderen Stelle Homeoffice. Über Breitbandanbindung wollen wir hier gar nicht erst diskutieren; das kostet Zeit. Auf der anderen Seite geraten aber auch viele Familien aufgrund von Jobverlust oder Kurzarbeit in eine finanzielle Notlage. Deshalb haben wir zahlreiche Unterstützungsmaßnahmen beschlossen und schnell und unbürokratisch auf den Weg gebracht: Den Kinderbonus gibt es, wie im vergangenen Jahr, jetzt auch 2021, und er wird nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Ein wichtiges Signal für die Familien. ({1}) Der Zugang zum Kinderzuschlag wurde gelockert. Familien, die akute Einkommenseinbußen haben und damit zu den Geringverdienern zählen, können einen monatlichen Kinderzuschlag pro Kind erhalten. Der reguläre Kinderzuschlag wurde jetzt 2021 auf 205 Euro pro Monat erhöht. ({2}) Wir haben den Entlastungsbetrag in der Einkommensteuer angehoben, zunächst befristet auf die Jahre 2020 und 2021. Damit berücksichtigen wir die Belastung von Alleinerziehenden. Übrigens zu 90 Prozent Frauen! Dass Sie das so wenig interessiert, ist klar. ({3}) Mit dem Kurzarbeitergeld verhindern wir, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen werden und in die Sozialsysteme fallen. Das ist nicht nur wichtig, damit die Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt, sondern auch im Interesse der jüngeren Generation. Wer seine Kinder zu Hause betreuen muss – und das sind verdammt viele im Moment –, der hat einen Anspruch auf zusätzliche Kinderkrankentage oder eine Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz. Erst letzten Monat haben wir das erweitert und die Zahl der Kinderkrankentage für 2021 verdoppelt. Damit wollen wir besonders die Eltern entlasten. ({4}) Mit Ihrem Antrag lassen Sie all diese Menschen im Regen stehen. ({5}) Sie lassen es zu, dass sie ihren Job verlieren. Sie lassen es zu, dass Kinder nicht an digitaler Bildung teilnehmen können. Und Sie lassen es tatsächlich zu, dass Kinder und Jugendliche in Armut aufwachsen. Ich finde, das ist verdammt verantwortungslos. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Boehringer?

Svenja Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004412, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Ihren Antrag lehnen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aus voller Überzeugung ab; denn Kinder sind für uns unsere Zukunft. Wir wollen, dass es jedes Kind packt, auch in Pandemiezeiten. Dafür nehmen wir Geld in die Hand, viel Geld. Und das ist gut so. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Spare in der Zeit, so hast du in der Not – so haben es mir meine Eltern beigebracht. Und, meine Damen und Herren, wir hatten in den letzten Jahren gute Zeiten, seit der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise zehn Jahre, und wir haben diese Zeit genutzt, um unseren Staatshaushalt zu sanieren. ({0}) Das war nicht einfach. Aber wir haben in den Jahren ab 2010 zuerst 2011, 2012, 2013 stückweise die Neuverschuldung reduziert, und wir haben dann ab 2014 keine neuen Schulden mehr gemacht. Wenn es nach uns, der CSU, gegangen wäre, hätten wir diese Zeit auch nutzen können, um Schulden zurückzuzahlen. Aber, meine Damen und Herren, das ist verschüttete Milch. Die guten Zeiten sind vorbei. ({1}) Jetzt ist die Not, und die Not ist groß. Wir leben in der größten Wirtschaftskrise, wir leben in der größten Gesundheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Und auf genau diese Zeit haben wir uns vorbereitet. Wir haben jetzt die Finanzkraft, um mit großen Unterstützungsmaßnahmen und mit Hilfsprogrammen dagegenzusteuern. Unser Ziel ist, dass wir stark und, wenn es geht, sogar stärker aus dieser Krise herausgehen, als wir hineingegangen sind. Aber, meine Damen und Herren, um uns diese Kraft auch langfristig zu erhalten, müssen wir dann, wenn die Zeiten wieder besser werden, so schnell wie möglich auf den Pfad der Tugend – der Konsolidierung und der schwarzen Null – zurückkommen. Deshalb und dafür war eine der klügsten Entscheidungen, die in diesem Haus getroffen worden sind, die Einführung der Schuldenbremse. ({2}) Sie zwingt uns förmlich auf diesen Pfad. Das ist gut und ist wichtig, weil es schwer werden wird, auch für eine neue Regierung, weil es anstrengend werden wird. Schulden machen, Geld ausgeben ist immer einfacher, als Geld einzusparen. Die SPD hat vorsichtshalber schon mal beschlossen: Wir wollen die Schuldenbremse überwinden. ({3}) Meine Kolleginnen und Kollegen, das ist die falsche Antwort. Die richtige Antwort wäre: Wir müssen die Schuldenbremse wieder einhalten, und zwar so schnell wie möglich. ({4}) Es ist nicht nur eine ökonomische Frage – ich kenne die Diskussion unter all den Wissenschaftlern –, ({5}) sondern es ist vor allem auch eine Frage des Vertrauens, nämlich gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern. Wenn sie sehen – und das macht uns ja selber auch Angst –, wie wir im Moment mit Geld umgehen, wie in dieser Krise mit Milliarden hantiert wird, was man alles gut begründen kann, dann müssen wir ihnen auch von diesem Haus aus das Signal senden, dass, sobald die Krise vorbei ist, wir damit wieder aufhören, damit wir wieder auf den Pfad der Konsolidierung zurückkommen. Und deswegen ist die Schuldenbremse wichtig. Wir als CDU/CSU stehen zu unserer Schuldenbremse. ({6}) Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch ein Wort zum Antrag der AfD sagen. Sie bestreiten in Ihrem Antrag, dass wir in einer nationalen Notlage leben. Sie machen für den Wirtschaftseinbruch nicht den Virus, sondern eine Überreaktion des Staates verantwortlich. ({7}) Sie schreiben, wenn es genügend Intensivkapazitäten gäbe, dann hätten wir kein Problem. Ich sage Ihnen: Wenn der Virus eine Stimme hätte, dann würde er AfD wählen. ({8}) Mit Ihrer Stimmungsmache, mit der Verharmlosung der Folgen, ({9}) mit der Verächtlichmachung der Maßnahmen, mit der Verleugnung von wissenschaftlicher Erkenntnis, mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien schaffen Sie genau das Umfeld, in dem sich der Virus verbreitet. ({10}) Und Sie wissen das, aber Sie tun es trotzdem. Sie sind ja schlau, zumindest zum Teil. ({11}) Aber warum machen Sie das? Weil Sie für Ihr Geschäftsmodell die Spaltung der Gesellschaft brauchen. Aber jeder, der Ihnen auf den Leim geht, hat ein höheres Infektionsrisiko. Jeder, der Ihnen auf den Leim geht, stellt damit eine Gefahr für sich und andere dar. Das ist unverantwortlich. Deswegen wünsche ich mir für 2021, dass wir nicht nur die Coronakrise überwinden, sondern dass es auch gelingt, dass die AfD wieder aus diesem Bundestag verschwindet. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandl. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dorothee Mantel (Gast)

Politiker ID: 11003586

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute zu einer so prominenten Zeit am Donnerstag über ein ganz wichtiges Vorhaben der Bundesregierung sprechen können: die Datenstrategie der Bundesregierung. Ich bin in den letzten Wochen auch öfter gefragt worden: Es steht ja gar nicht im Koalitionsvertrag. Jetzt kommt die Datenstrategie der Bundesregierung. Hat das jetzt etwas mit Corona zu tun? – Ich würde mal sagen: nicht unmittelbar, weil wir tatsächlich auch schon vor Corona mit der Datenstrategie begonnen haben. Aber was sich natürlich auch im letzten Jahr ganz deutlich gezeigt hat, war, dass sich eben datengetriebene Geschäftsmodelle, digitale Geschäftsmodelle in dieser Pandemie wesentlich resilienter gezeigt haben, als es bei anderen Geschäftsmodellen der Fall war. Warum ist die Strategie so wichtig? Ich fange mal mit dem wichtigsten Thema zuerst an: Daten retten Leben. Mein Lieblingsbeispiel, das wir auch in der Datenstrategie hinterlegt haben und das wir gestern schon im Kabinett haben umsetzen können – Sie sehen, das geht auch Schlag auf Schlag, was die Maßnahmen betrifft –, ist das Beispiel Krebsregister. Wir haben jetzt erstmals auch dank der Datenstrategie ein bundesweites Krebsregister, das alle wertvollen Daten der Länder nochmals zusammenführt. So kann die Forschung erstmals sehen, wo welche Krebsart besonders häufig vorkommt, was besonders gut hilft. Krebs ist immer noch die Todesursache Nummer zwei. Mit dem zentralen Krebsregister leisten wir einen ganz wichtigen Beitrag, damit diese Krankheit nicht jedes Jahr unzählige Familien leiden und trauern lässt. Aber es geht nicht nur um die Wissenschaft – die Wissenschaft ist natürlich ein ganz wichtiger Bereich in unserer Datenstrategie –; vielmehr entscheidet sich an der Frage, ob und wie wir unsere Daten nutzen, in einer digitalisierten Gesellschaft nicht weniger als alles. Innovation, Wirtschaftswachstum, Fortschritt in Gesundheit, Fortschritt in Mobilität, eine moderne Bildung, ein effektiver Klimaschutz – das alles ist natürlich mit Daten wesentlich einfacher. Natürlich ist das Thema Daten nicht neu. Wir neigen nur vielleicht an der einen oder anderen Stelle immer sehr stark dazu, die Gefahren zu betonen, weniger die Chancen, weniger die Innovation, die dahintersteckt, zu sehen. Deswegen haben wir mit der Datenstrategie auch diesen innovativen Ansatz gewählt, dass wir das Potenzial heben wollen, das vor allem in der Datennutzung liegt. Dieses Potenzial müssen wir heben. Auch bei Daten gilt: Size matters. Laut BDI beträgt das Wertschöpfungspotenzial der Datenökonomie bis 2025 alleine für Deutschland bis zu 425 Milliarden Euro. Betrachtet man in diesem Punkt ganz Europa und nicht nur Deutschland, so wird das Wertschöpfungspotenzial für die nächsten zehn Jahre auf bis zu 1,25 Billionen Euro geschätzt. Daran sieht man, was wir im letzten Jahr auch digitalpolitisch in der Pandemie beobachtet haben. Deswegen haben wir auch die Datenstrategie noch ein paar Monaten nach hinten verschoben, weil wir noch die Erkenntnisse aus dem letzten Jahr mit hineinnehmen wollten. Erstens sind, wie gesagt, diese datengetriebenen Geschäftsmodelle resilienter. Zweitens ist aber auch klar geworden, dass wir bei dieser innovativen Datennutzung weltweit leider nicht an der Spitze zu finden sind. Ganz im Gegenteil: Der weitaus größte Teil der in Europa entstehenden Daten wird gar nicht, viele, viele Daten werden nur ein einziges Mal genutzt. Wissenschaftler und Unternehmen gehen sogar davon aus, dass wir über 90 Prozent aller vorhandenen Daten gar nicht nutzen. Das muss sich ändern, wenn wir als Staat, wenn wir als Gesellschaft zukunfts- und wettbewerbsfähig bleiben wollen. Datensätze sind Datenschätze. Gerade wenn man sich den Mittelstand anschaut, unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen, sieht man: Die sitzen eben genau auf diesen ganz wichtigen und richtigen Datenschätzen. Es sind Sensordaten, es sind Maschinendaten, die oft noch völlig ungenutzt bleiben. Natürlich gilt auch, dass Daten und digitale Anwendungen Lebenserleichterungen für jeden einzelnen Menschen bringen. Das heißt, wir sind mittendrin in der Datengesellschaft. Wir wollen alle gesellschaftlichen Bereiche mitnehmen. Dazu brauchen wir erstens natürlich die Infrastruktur als Fundament. Das reicht in der Datenwelt von Chips über Rechenkapazitäten bei Supercomputern, Cloud- und Edge-Computing bis hin zu Quantencomputern. Hier wollen wir die Datenbereitstellung auch noch verbessern, leichter machen und Daten über gemeinsame Infrastrukturen teilen. Das heißt, wir können mit den Supercomputern auch große Datenmengen für ganz komplexe Klimamodelle, für Simulationen nutzbar machen und können auch hier einen ganz wichtigen Beitrag zur Bewältigung dieser Jahrhundertaufgabe und zur Bewahrung der Schöpfung leisten. ({0}) Zweitens: innovative Datennutzung. Das war auch unser Hauptfokus, zu fragen: Wie können wir da einfach besser, innovativer werden? Wir wollen Anreize schaffen, Daten zu teilen und daraus neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, von Datentreuhändern bis zur Förderung der Technik und Forschung zur Anonymisierung personenbezogener Daten. Drittens ist ganz, ganz wichtig – und das werden wir auch in diesem Monat noch mal sehr stark zeigen – das Thema Datenkompetenz. Uns helfen die besten Daten natürlich nichts, wenn wir sie nicht verstehen. Deshalb ist Datenkompetenz auch unser drittes Kapitel in der Datenstrategie. Viertens. Wir wollen den Staat zum Vorreiter machen, weil – davon bin ich fest überzeugt – ein digitaler Staat nachweislich das Vertrauen in die Demokratie fördert. Deswegen müssen wir auch als Verwaltung unsere eigene Datenkompetenz noch verbessern. Ein Teil der Datenstrategie beinhaltet auch die Einstellung eines Chief Data Scientist in jedem einzelnen Bundesministerium – nicht nur in den Ministerien, auch bei uns im Bundeskanzleramt –, weil wir sagen: Auch die Daten, die in der Verwaltung sind, müssen noch besser genutzt werden. Das heißt, es geht um viel. Wir wollen bei der innovativen Datennutzung Vorreiter sein, sonst geben wir die gesellschaftliche Gestaltung aus der Hand. Ich danke ganz besonders den Koalitionsfraktionen für den offenen und intensiven Austausch und für die gute Zusammenarbeit auch schon im Vorfeld. Ich hoffe aber auch auf eine große Unterstützung des ganzen Hauses; denn ansonsten werden wir nicht zukunftsfähig, nicht wettbewerbsfähig sein. Ich glaube, dass die Datenstrategie ein ganz positiver, wichtiger Aufschlag ist und sie uns auch dazu bringen wird, dass wir Deutschland an die Spitze, was Datennutzung und was Dateninnovation betrifft, bringen können. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schulz, AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann der Bundesregierung in Sachen Digitalpolitik viele Verfehlungen vorwerfen, aber eines sicher nicht, nämlich: dass sie keine Strategie hat: Cyber-Sicherheitsstrategie, Digitalstrategie, Mobilfunkstrategie, Breitbandstrategie, KI-Strategie, Hightech-Strategie und nun die Datenstrategie. Überall bunte Broschüren, schöne Internetseiten. – Ja, mit Worthülsen und Marketing allein ist allerdings kein Staat zu machen, weder ein analoger noch ein digitaler. ({0}) Zur Umsetzung der Strategien prasseln dann Gesetzentwürfe auf uns nieder, werden hier im Parlament durchgewunken und dann eher schleppend umgesetzt. Das IT-Sicherheitsgesetz kommt mindestens ein Jahr zu spät und liefert mehr Fragen als Antworten. Der DigitalPakt Schule, das Onlinezugangsgesetz oder die Verwaltungsdigitalisierung haben handwerkliche Mängel. Aber mit der Qualität so mancher Produkte, die dieses Hohe Haus verlassen haben, haben sich nicht nur Verwaltungsrichter ja schon sehr lange abgefunden. Strategien für Breitbandausbau und adäquate Mobilfunkversorgung wurden in den Sand gesetzt, selbst Entwicklungsländer waren da besser. Nun musste Corona kommen und den deutschen Karren aus dem Dreck ziehen. Aber nun der ganz große Wurf: die Datenstrategie der Bundesregierung, angekündigt von Kanzleramtsminister Braun schon im Januar 2020. Die Umsetzung sollte noch in der laufenden Legislaturperiode erfolgen. Minister Braun war stolz auf den ambitionierten Zeitplan. Stolz auf seine Managementfähigkeiten war Dr. Helge Braun ja auch bereits als „Flüchtlingskrisenterminator“, so nannte ihn die „Gießener Presse“ seinerzeit. Und mit Stolz erfüllt ihn sicher auch seine gescheiterte Corona-Warn-App. Und nun ist es mehr als fraglich, was von der Datenstrategie bis zum Ende seiner Dienstzeit umgesetzt wird, die ja so langsam eingeläutet wird. Alles in allem: Dass sich alles hinzieht und hinschleppt, ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung. Das ist umso bedauerlicher, meine Damen und Herren, als die vorgelegte Datenstrategie wirklich einige wichtige Punkte enthält. Mitdenkende Bürger schrecken immer dann auf, wenn es um das Sammeln und Nutzen von personenbezogenen Daten geht. Hier ist ein riesiges Spannungsfeld gegeben. Auf der einen Seite locken die Potenziale aus der Datennutzung. Auf der anderen Seite stehen die Missbrauchsgefahr und das Empfinden der Bürger, wie die Politik diesen Spagat meistert. Hier ist nun wohl eine höhere Rechtssicherheit zu erwarten, sowohl für den Nutzer als auch für die Digitalwirtschaft. So ist zumindest der Plan. Auch die Förderung von Forschungs- und Zertifizierungsprojekten für Datentreuhänder und Anonymisierungssysteme ist sinnvoll und wichtig. Warum man in Deutschland aber erst heute beginnt, Kriterien für unbürokratische Prozesse für Datentreuhänder umzusetzen, das bleibt, liebe Bundesregierung, Ihr Geheimnis. Denn Datenschutz und IT-Sicherheit sind kein Hindernis für eine funktionierende Datengesellschaft, sondern sind deren Basis. Wir dürfen auch gespannt sein, ob Sie Ihre Ankündigung einhalten, nicht weitere bürokratische Monster wachsen zu lassen. Denn wenn Sie eines wirklich gut können, dann ist das ja, noch ’ne Behörde, noch ’nen Beauftragten zu schaffen und noch ’ne Entscheidungsebene mehr einzufügen. Was uns im Konzept der Datenstrategie fehlt, ist eine transparente Darstellung der zeitlichen und technischen Abhängigkeiten der aufgeführten Maßnahmen. Denn für eine effiziente Umsetzung der Strategie braucht man einen kontinuierlichen und transparenten Fortschrittsbericht. Aber Transparenz ist bekanntermaßen ja auch nicht Ihr Ding. Das Verästeln von Entscheidungswegen beherrschen Sie perfekt. Wir kennen das auch aus dem Zuständigkeitswirrwarr Ihrer digitalen Agenda, wo auch der Grundsatz vorherrscht: Wenn du verschleiern willst, dann verwirre und maximiere die Anzahl der eingebundenen Schnittstellen. ({1}) Außerdem hätten wir uns gewünscht, dass die Datenstrategie umfangreicher auf die Besonderheiten im Umgang mit marktbeherrschenden Unternehmen eingeht. Hier fehlen konkrete Forderungen. Der Verweis auf die Überarbeitung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen reicht da nicht aus. Eine wesentliche Gefahr besteht in der missbräuchlichen Nutzung der Daten vor allem durch außereuropäische Staaten. Ein geregelter und offener Zugang zu Daten kann Deutschland und Europa voranbringen. Das Abgreifen von Daten aber muss verhindert werden. Das hat die AfD ja schon im Falle von China bzw. Huawei als Erste hier angesprochen. ({2}) Große Bauchschmerzen haben wir auch mit der geplanten Standardplattform zur Analyse von Open-Source-Daten. Zum Beispiel sollen Social-Media-Daten genutzt werden, um international qualitativ hochwertige Daten zu außenpolitisch relevanten Themen auch unter Nutzung von nichtstaatlichen Akteuren zu generieren, aufzubereiten … und der Bundesregierung zur Verfügung zu stellen. Zitiert aus der vorliegenden Unterrichtung. – Hier ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, denn diese Formulierung lässt alles offen. Man stelle sich nur eine Regierung vor, die sich an den Daten ihrer Bürger bedient, um sie für ihre eigenen machtpolitischen Zwecke zu gebrauchen – innenpolitisch und außenpolitisch. ({3}) Aber, meine Damen und Herren, warum sorgen wir uns? Das sind ja alles nur böse Hintergedanken, die man hier haben kann, Verschwörungstheorien, Fiktion – so was kommt ja nur in dystopischen Romanen vor. ({4}) Ich komme zum Schluss. Alles in allem erhält die Datenstrategie der Bundesregierung wichtige und richtige Ansätze. Sie schiebt einen längst überfälligen Entwicklungsprozess an, einen Prozess, der in anderen Ländern schon lange angestoßen wurde. Das heißt, wir brauchen Volldampf. Dafür ist die vorgelegte Strategie bei Weitem nicht ambitioniert genug. Was generell fehlt, ist eine übergeordnete Vision, und zwar eine Vision dahin gehend, wie wir Daten in den Dienst von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat stellen, dabei aber eine sichere Nutzung ermöglichen. Dies vor allem zum Schutz der Privatsphäre unserer Bürger und geschützt vor dem Missbrauch durch Politiker, die bereit sind, unsere errungenen Freiheitsrechte auszuhebeln. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Saskia Esken, SPD-Fraktion. ({0})

Saskia Esken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wissen ist Macht – das ist eine altbekannte Weisheit. Die Beherrscher der alten Welt waren stets darauf bedacht, ihre Macht nicht zu teilen; Herrschaftswissen hat man das genannt. Das Gegenstück dazu war, das Volk unwissend und damit gefügig zu halten. Gegen diese Haltung wandte sich zunächst im 18. Jahrhundert die Aufklärung, deren Protagonisten Diderot und andere der Welt eine Enzyklopädie, eine Sammlung des Wissens dieser Welt, geschenkt haben. Im 19. Jahrhundert haben die Bildungsvereine der Arbeiterbewegung erkannt, dass so eine gedruckte Sammlung des Wissens eben doch nur das Bildungsbürgertum erreicht. Und im 20. Jahrhundert haben die Erfinder des Internets um Tim Berners-Lee uns allen den direkten Zugang zum Wissen dieser Welt geschenkt – leider auch zum Unwissen. Insofern sind wir mehr denn je auch darauf angewiesen, das eine vom anderen unterscheiden zu können. ({0}) Was zum Ende des 20. Jahrhunderts durch die Wikipedia entstanden ist – eine neue, offene, lebendige und für alle zugängliche Enzyklopädie –, ist eine logische und wunderbare Konsequenz dieser Geschichte. Die Wikimedia-Stiftung hat sich von Anfang an auch mit dem Thema „offene Daten“ beschäftigt; denn das Wissen des 21. Jahrhunderts liegt in den Daten: Daten, wie sie täglich hundert- und tausendfach von uns erzeugt werden als die digitalen Spuren unseres Lebens. Sie protokollieren, was wir kaufen, wohin wir gehen, was wir denken, wann wir schlafen. Auch Kühlschränke, Staubsauger, Roboter oder mit Sensoren und Sendern ausgerüstete Wildtiere erzeugen Daten. Daten sind also das neue Wissen. Daten sind Macht. Doch wie ist es um den Zugang zu dieser Macht bestellt? Was das anbelangt, sind wir ins finstere Zeitalter der Voraufklärung zurückgefallen; denn der exklusive Besitz von Daten ist ein heiß umkämpftes Privileg. Wer Daten alleine besitzt, kann alleine bestimmen, wofür sie verwendet werden. Mit Daten kann man Krankheiten heilen oder Risikopatienten von Versicherungsleistungen ausschließen. Man kann mit ihrer Hilfe Verkehrsströme lenken oder die politische Meinungsbildung. Solche Macht darf nicht in der Hand der wenigen bleiben; das widerspricht unseren demokratischen Prinzipien. ({1}) Dazu kommt, dass das Wissen seinen Wert nicht verliert, wenn es geteilt wird. Im Gegenteil entsteht durch das Teilen und den Austausch über das Teilen neues Wissen. Deshalb wollen wir, dass Unternehmen, dass vor allem auch staatliche Institutionen ihre nicht personenbezogenen Daten – und nur die – in Zukunft mit uns teilen, damit Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft daraus mehr Wissen und mehr Werte erzeugen können. ({2}) Fahrzeugdaten können zum Beispiel nicht nur für die Planung der nächsten Wartung genutzt werden, sondern auch für die Verkehrssteuerung oder für eine Mobilitäts-App. Die Daten eines Baumkatasters können nicht nur vom Gartenamt zur Planung des Baumschnitts genutzt werden, sie können auch Allergikern dabei helfen, ein allergiearmes Wohnumfeld zu finden. Die Bundesregierung verfolgt mit ihrer Datenstrategie das Ziel, eine Kultur des Teilens solcher nicht personenbezogener Daten entstehen zu lassen. Der Aufhebung dieser Beschränkung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Datenschutz und Datennutzung sich eben nicht ausschließen. Im Gegenteil sind Datenschutz, ‑privatheit und ‑souveränität unabdingbare Voraussetzungen für eine offene Datenkultur, die nur durch Vertrauen und klare Regeln entstehen kann. Wir haben lange um diese Datenstrategie gerungen; das stimmt schon. Wir haben kluge Expertinnen und Experten in einer Datenethikkommission versammelt und dann lange debattiert. Im letzten Halbjahr unserer Legislatur gehen wir damit jetzt auf die Ziellinie zusammen mit dem zweiten Open-Data-Gesetz, das die Behörden des Bundes weiter als bislang verpflichtet und hoffentlich auch befähigt, ihre Daten offenzulegen. Diese Datenstrategie enthält längst nicht alles, was die Sozialdemokratie für eine fortschrittliche, für eine gerechte Datenpolitik für erforderlich hält. Wir haben einen klaren Plan: Datenmacht und Datennutzung in Deutschland und in Europa in die Hände der demokratischen Gesellschaft zu legen ({3}) und obendrein die Datenökonomie nachhaltig und sozial zu gestalten. Aus Daten kann Fortschritt gemacht werden – wenn es nach uns geht: Fortschritt für die vielen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Esken. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Manuel Höferlin, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daten, das ist ein Thema, das jeden betrifft. Schon von der Geburt an – im Krankenhaus, im Standesamt, bei der Steuernummer, mit der wir unsere Neugeborenen begrüßen, beim Kindergeld, in der Kinder- und Jugendzeit, bei Social Media, in der Schule, bei Spielen – bis zum Tod: Immer um uns herum werden jetzt schon und werden in Zukunft Unmengen an Daten generiert, mit uns in Verbindung gebracht. Und – auch das ist schon erwähnt worden – das Internet der Dinge wird das noch um ein Vielfaches potenzieren: vom Kühlschrank über die Ampel, das Auto oder das Smartphone, das jeder bei sich hat, oder irgendwelche anderen Geräte. – Es gibt Fragen über Fragen, die sich im Umgang mit Daten stellen, die regelrecht nach Antworten suchen. Sie, liebe Bundesregierung, haben eine Datenstrategie vorgelegt, die leider 250 zusammenhanglose Maßnahmen, aber keine Projektsteuerung enthält. Wieder einmal reiht sie sich ein; sie ist wie ein Abziehbild der Digitalstrategie oder anderer Strategien. Selbst die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, zum Beispiel beim Thema Datenteilungspflichten – Sie konnten das gerade bei meiner Vorrednerin Frau Esken erleben –, fehlen. Die einen sagen: „Wir sind für Datenteilungspflichten“, die anderen – Herr Braun hat in einem Gespräch gesagt, das stehe da nicht drin – sind dagegen. Es ist erschütternd, meine Damen und Herren, dass Sie diesbezüglich keine klare Strategie gefunden haben. ({0}) Dabei gäbe es so viele Dinge, die man noch machen könnte. Deswegen haben wir unser Digitaldatenpapier angehängt und es heute mit zur Debatte gestellt. Es enthält wesentliche Grundsätze, die getroffen werden müssen, zum Beispiel, dass wir nicht mehr nur noch über Datenschutz sprechen, sondern über Datenpolitik, die aus Datenschutz, aus Datenrecht und aus Datenwirtschaft besteht. Es geht doch im Kern um die Selbstbestimmung des Einzelnen, um einen funktionierenden Wettbewerb mit und um Daten und um Innovationen, um Daten als Treiber für die Gesellschaft von morgen. Es geht darum, das gesellschaftspolitische Megathema des nächsten Jahrzehnts zu gestalten, indem grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden und ein Plan für morgen erstellt wird, wie wir mit Daten umgehen. Das finden wir aber in Ihrer Strategie nicht, meine Damen und Herren. „Was würden Sie von einer Datenstrategie beim Umgang mit Daten erwarten?“, habe ich Menschen in meinem Umfeld gefragt. Meistens kommt dabei zunächst einmal das Thema Datenschutz: Was ist mit meinen Daten? Wie werden sie genutzt? Wie kann ich meine Rechte daran ausüben? – Aber es gibt natürlich auch viele andere Themen, zum Beispiel die Frage: Was ist mit den nicht personenbezogenen Daten? Wie gehen wir damit um? Wer hat denn daran Rechte? Wir sind, glaube ich, zum Glück weg vom Thema Dateneigentum. Aber die Frage ist: Welche Nutzungsrechte an solchen Daten existieren? Die Antwort darauf ist völlig unklar. Das ist ein wesentlicher Punkt, der geklärt werden muss und der auch in der Datenstrategie nicht drinsteht. Im Nutzungsdreieck sind es die Plattformbetreiber, die die Daten – vor allen Dingen auch nicht personenbezogene Daten – vorhalten und nutzen; aber es gibt auch andere, die daran beteiligt sind und die auch ein Nutzungsrecht haben müssen. Das muss dringend geklärt werden – jetzt; denn sonst ist der Zug abgefahren bei dem ganzen Internet der Dinge, meine Damen und Herren. ({1}) Ich vermisse auch noch ein paar andere Maßnahmen, die noch in dieser Legislatur angestoßen werden können. Zum Beispiel geht es bei der digitalen Selbstbestimmung darum, wie Datenportabilität gestaltet wird. Also: Kann ich meine Daten von einem zum anderen Anbieter mitnehmen? Kann ich die Ausübung meiner Datenschutzrechte delegieren? Es ist doch unzumutbar, dass die Menschen permanent irgendwelche Dinge im Internet bei Cookies oder anderen Sachen wegklicken oder ihnen zustimmen müssen. Die Delegierbarkeit der Ausübung von Rechten muss gestaltet werden. Das ist etwas, was wir in unserem Papier vorschlagen, meine Damen und Herren. ({2}) Es gibt noch viele Punkte: Datenteilungspflichten, Datenkooperation, Datenpools, Datendrehscheiben, die die Wirtschaft und die Innovationen voranbringen wollen. Das haben wir in unserem Datenpapier auch genannt und als Ziel definiert. Es gibt viele Punkte, die wir in unserem Papier aufgeführt haben, die noch in dieser Legislatur angestoßen werden müssen. Sie liefern letztlich mit Ihrer sogenannten Datenstrategie ein Pflichtenheft für die nächste Bundesregierung. Es ist also leider ein Man-müsste-mal-Papier für die nächste Bundesregierung und kein Lösungsvorschlag, keine Strategie und kein Plan, den diese Bundesregierung zum Thema Datennutzung vorstellt, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. – Als nächster Rednerin lauschen wir den Worten der Kollegin Anke Domscheit-Berg, Fraktion Die Linke. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegende Datenstrategie soll die Position des Bundes zum Umgang mit Daten beschreiben. Es ist ein Fortschritt, dass sie endlich vorliegt. Aber sie kommt in der Tat zu spät und vertagt viele Maßnahmen auf die nächsten Legislaturen. Bei vielen Zielen bleibt sie unkonkret, ist wenig ambitioniert und bleibt unverbindlich, und das leider vor allem auch in dem wichtigen Kapitel „Den Staat zum Vorreiter machen“. Die Open-Data-Strategie wird dort nur angekündigt. Aber wer bei Open Data, also der freien Bereitstellung von nicht personenbezogenen Daten in öffentlicher Hand, Vorreiter sein will, der muss sich doch endlich mal zum Prinzip ÖGÖG bekennen, nämlich dem Prinzip, dass aus öffentlichen Geldern öffentliche Güter werden müssen und dass das auch für Daten gilt, die mit öffentlichen Mitteln finanziert worden sind. ({0}) Das haben wir als Linksfraktion hier schon 2019 in einem Antrag gefordert. Dieses Bekenntnis fehlt aber. Die Bundesregierung will weiterhin mit Steuern finanzierte Daten, zum Beispiel Wetterdaten, verkaufen. Auch Open Access findet sich nicht in der Datenstrategie. Weiterhin wird es keinen freien Zugang in jedem Fall zu Forschungsergebnissen geben, die mit Steuern finanziert worden sind. Das ist mir zu wenig. ({1}) Mehr Transparenz, Interoperabilität und offene Standards stehen da drin sowie ein kontinuierliches Monitoring. Aber was heißt das denn konkret? Da liegt der Teufel im Detail. Das zeigt eine Antwort des Bundesinnenministeriums, die ich gerade vor einigen Tagen auf meine schriftliche Frage zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes bekommen habe. In seinem online verfügbaren Dashboard meldet das BMI 315 von 575 Dienstleistungen als online verfügbar, kann aber nicht sagen, welche dieser Dienstleistungen papierlos erledigt werden können. Es werden nämlich auch Dienstleistungen gezählt, wo man zwar online ein Formular ausfüllt, dies aber ausdrucken und zur Post tragen muss. Das ist doch Blödsinn! Das Ziel muss doch sein, nicht nur den Weg zum Amt einzusparen, sondern auch den Weg zum Briefkasten. Das BMI weiß außerdem nicht, welche dieser 315 Dienstleistungen tatsächlich überall in Deutschland verfügbar sind. Dieses eine Beispiel zeigt: Es braucht nicht nur mehr Monitoring, sondern es braucht mehr ehrliches Monitoring, das echten Fortschritt misst und nicht nur vorgaukelt. Wichtig ist das vor allem deshalb, weil der Grundsatz gilt: You get what you measure. Du bekommst, was du misst. – Wer nicht misst, welche Onlinedienste bundesweit papierlos in ganz Deutschland zur Verfügung stehen, der wird niemals bis Ende 2022 flächendeckende papierlose Dienstleistungen vorweisen können. Leider fehlt es massiv an der Bereitschaft, ressort- und föderale Ebenen übergreifend solche Daten nach einheitlichen Standards zu teilen. ({2}) Deshalb reichen Appelle nicht, auch wenn sie gut sind, Minister Braun. Es braucht Verbindlichkeit. ({3}) Der fehlende Kulturwandel ist auch an den Maßnahmen der Strategie erkennbar; denn sie spiegeln das Silodenken wider, das noch in Ministerien vorherrscht. Da werden schon wieder neue Portale angekündigt, statt endlich einen einheitlichen Zugang für Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, wie wir ihn in Dänemark seit über zehn Jahren mit dem Portal borger.dk haben. Warum denn ein neues Portal für die digitale Rentenübersicht? Wer will denn für jeden Datensatz zu einem anderen Portal gehen? Das dänische Portal nutzen fast alle Däninnen und Dänen. Dort ist der Datenzugang optimiert für die Bürgerinnen und Bürger. Bei uns ist er optimiert für ministeriale Portalfürstentümer, die kaum ein Schwein nutzt. ({4}) So wird man doch nicht Vorreiter. So bleibt man Nachhut. Parallel zum existierenden GovData-Portal soll eine neue Verwaltungsdaten-Informationsplattform, VIP, aufgebaut werden. Warum? Die Optimierung des GovData-Portals wäre wichtig; denn dieses Portal wirkt außerordentlich vernachlässigt. Laut der Beschreibung auf dem Portal selber sind daran nur zwölf Bundesländer beteiligt. Zuletzt wurde diese Seite vor fünf Jahren aktualisiert. Seit fünf Jahren kein Fortschritt in der Bund-Länder-Integration? Das muss doch besser gehen, meine Damen und Herren. ({5}) Noch ein letztes Beispiel. Die schon erwähnten Data Scientists, die Datennutzungsbeauftragten, sollen jetzt von allen Ministerien angestrebt werden. Die sind ja in der Sache total super, aber ein Anstreben statt ein gemeinsames Darauf-Festlegen, das zeigt wieder die Unverbindlichkeit als Folge von Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Unverbindlich bleibt die Strategie leider auch beim Thema Gemeinwohlorientierung. Es sollen zum Beispiel gemeinnützige Strukturen gefördert werden. Aber wie denn konkret? Es sollen auch nur Anreize zum freiwilligen Teilen kommerzieller Datenschätze gegeben werden. Aber wo ist das Bekenntnis zur Datenteilungspflicht, wenn zum Beispiel Unternehmen Daten im öffentlichen Raum sammeln, die wir Nutzerinnen und Nutzer aber selber generiert haben, zum Beispiel durch unser aller Mobilität? Da reicht mir ein Prüfauftrag ehrlich gesagt nicht. ({6}) Was ich auch vermisse, sind offene diskriminierungsfreie Data Sets, die man zum Trainieren von künstlicher Intelligenz für gemeinwohlorientierte Zwecke jedem zur Verfügung stellen kann. Vor allem vermisse ich den Beschluss eines Bundestransparenzgesetzes mit verbindlichen Verpflichtungen für Behörden. Dafür hätte ich sehr gerne Beifall geklatscht. ({7}) So bleibt mein Fazit: Die Datenstrategie startete zwar als Tiger, ist aber als Bettvorleger gelandet. Im Übrigen gehören Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ins Strafrecht. § 219a gehört abgeschafft. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Domscheit-Berg. – Nächster Redner ist der bereits im Anmarsch befindliche Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umgang mit Daten – das haben wir hier vielfach gehört –, sowohl öffentlicher als auch personenbezogener, ist in der digitalen Gesellschaft eine der ganz, ganz zentralen Fragen: beim Grundrechtsschutz der Menschen, für einen transparenten modernen Staat, in der Forschung, bei der Rechtssicherheit von Unternehmen und für digitale Innovationen. Mit diesen ganz zentralen Fragen hat sich die Bundesregierung leider, leider über viele, viele Jahre maximal unterkomplex beschäftigt. Damit hätte schon lange Schluss sein müssen, meine Damen und Herren. ({0}) Um nicht nur Schlechtes zu sagen: Es ist gut, dass nun überhaupt irgendwas vorliegt und dass Sie einige wenige Einzelfragen klären. Zum Beispiel ist es gut, dass das Bundeskanzleramt jetzt die über viele Jahre mühsam erkämpften Datenschutzstandards als „extrem großen Wert“ bezeichnet. – Herr Braun, super. Es ist auch gut, dass Sie dem abstrusen Konstrukt des Dateneigentums eine deutliche Absage erteilen; dies kommt spät, aber es ist gut. ({1}) Aber wenn man genau hinguckt, sieht man: Die SPD möchte nach acht Jahren Regierungsbeteiligung, Jens, nun plötzlich in die Gigabit-Gesellschaft. Das CDU-geführte Bundeskanzleramt schreibt jedoch nach 15 Jahren – nach 15 Jahren! – Regierungsverantwortung nur ein Grundsätzepapier zum Umgang mit Daten, sozusagen eine Landkarte fürs Neuland, dessen Umsetzungschancen in der letzten Kurve dieser Legislatur hart gegen null gehen. Das ist angesichts der geleisteten Vorarbeiten, zum Beispiel durch die Datenethikkommission, zu spät, und es ist zu dünn, meine Damen und Herren. ({2}) Insgesamt erinnert dieses Papier fatal an das Vorgehen der Bundesregierung bei der Digitalen Agenda, über die heute niemand mehr redet. Jetzt ist es keine Agenda, es ist eine Strategie. Wer es liest, stellt fest: Es ist ein Minimalkonsens der Großen Koalition. Ihre sogenannte Strategie ist vor allem – der Kollege Höferlin hat es gesagt – eine recht lieblose Aufzählung von über 240 Einzelvorhaben; die meisten sind überhaupt nicht neu. Ob bei der Algorithmenregulierung oder Datenteilungspflicht, erneut gibt es nur vage Absichtserklärungen und Prüfaufträge, wohin man schaut. Es ist das Jahr 2021, und wir sind der Gesetzgeber. Wir brauchen endlich verbindliche Regelungen, belastbare Gesetze zum Schutz der Menschen und für die Rechtssicherheit von Unternehmen, meine Damen und Herren. ({3}) Die Klärung zentraler Fragen darf man nicht weiter wegdrücken, zum Beispiel zur Vereinheitlichung der Datenschutzaufsicht und andere Fragen. Trotz aller Prosa: Zwanghaft hält die GroKo – ich komme zum Schluss – an den rechtsstaatlich hoch problematischen Positionen fest: bei der Registermodernisierung, bei der Bestandsdatenauskunft und bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Unklarheit, Unentschlossenheit und Widersprüchlichkeit prägen diese sogenannte Strategie. Deswegen steht Deutschland nach acht Jahren Großer Koalition bei der Digitalisierung so schlecht da. Das ist massiv bedauerlich, meine Damen und Herren. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Als Nächstes erhält das Wort die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kanzleramtsminister Helge Braun und die Staatsministerin Doro Bär sitzen hier genauso fassungslos wie die Digitalpolitikerinnen und Digitalpolitiker, die vergangene Woche in der Sondersitzung des Digitalausschusses waren, die wir in der sitzungsfreien Woche organisiert hatten, um speziell mit Kanzleramtschef Helge Braun über die Datenstrategie zu sprechen. Damals, vor einer Woche, hatte ich den Eindruck, dass die Strategie bei Ihnen eigentlich gar nicht so schlecht ankommt. Vor einer Woche habe ich sehr viel Lob gehört, und zwar quer durch die Bank. ({0}) Vor einer Woche habe ich kaum Kritik gehört, auch keine großen kritischen Nachfragen. Die Fragen, die gestellt wurden, sind alle sehr gut beantwortet worden. Deshalb finde ich das, was ich heute hier aus den Reihen der Opposition gehört habe, und zwar quer durch die Bank, wirklich sehr verwunderlich und würde das mal unter dem Stichwort „Wahlkampfgetöse“ abhaken. ({1}) Man kann über viele dieser Themen streiten. Ich bin froh, dass wir eine lebhafte Debatte darüber haben, wie wir in unserem Land mit Daten umgehen, ({2}) wie wir es schaffen, Datensilos zu öffnen, dass wir Daten besser nutzen, dass wir für Wirtschaft, für Politik und für Gesellschaft einen Mehrwert schaffen. Gerade Corona hat uns gezeigt, dass wir einen Mehrwert haben, wenn wir Daten nutzen. Wir nutzen Daten, um etwa Infektionsketten nachzuverfolgen. Wir nutzen Daten, um uns über den Impfstatus zu informieren. Wir nutzen Daten, um damit künftige Entwicklungen zu modellieren. Das ist ein Mehrwert, der vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Wir sehen jeden Tag, wie wichtig es ist, dass wir Daten zusammenführen, Daten nutzen und daraus einen Mehrwert generieren. Wir sehen aber in Coronazeiten auch, wie viel noch nicht möglich ist. Wir sehen, dass in Niedersachsen ein Impfinformationschaos verursacht worden ist, weil die Stelle, die informieren sollte, leider nicht auf die Daten der Einwohnermeldeämter zurückgreifen konnte. ({3}) – Nein, das ist nicht CDU-regiert. ({4}) Die Kollegin Reimann ist dort Ministerin. Aber das liegt gar nicht an ihr, sondern das ist einfach ein Problem der Register, die dezentral sind, die nicht miteinander kommunizieren können. Darauf können wir nachher in der Debatte noch mal zurückkommen. Wir sehen den Mehrwert, den wir schaffen können, wenn wir dies verbessern. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das, was die Bundesregierung mit dieser Datenstrategie vorlegt, ein wirklich großer innovativer Start in eine innovative Datengestaltung der nächsten Jahre. ({5}) Wenn Sie die Datenstrategie gelesen haben – nach den Reden frage ich mich, ob die Rednerinnen und Redner sie überhaupt gelesen haben –, dann sehen Sie, dass man eine Status-quo-Betrachtung macht, dass man eine Zielvision beschreibt und dass man auch konkrete Schritte beschreibt, wie man da hinkommen will. ({6}) Es ist Aufgabe der nächsten Regierung, genau darauf aufzubauen und das fortzuschreiben. ({7}) Ich kann Ihnen sagen: Wir bleiben ja nicht stehen. ({8}) Wir fangen direkt an, die Datenstrategie umzusetzen. Dorothee Bär hat darauf hingewiesen: Das Krebsregister wurde geschaffen. Gestern war das zweite Open-Data-Gesetz im Kabinett. Wir sind gerade dabei, die Registermodernisierung voranzutreiben. Wir haben 3 Milliarden Euro extra für die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes bereitgestellt. Wir machen zurzeit in all diesen Bereichen, die hier aufgeführt wurden, massive Fortschritte und dies auch in Vorbereitung der nächsten Monate. Es wäre schön, wenn Sie hier konstruktiv mitarbeiten und nicht mit so einer aufgewärmten Kritik ankommen würden, mit der am Ende keiner was anfangen kann. ({9}) Damit bin ich beim Thema: große Worte im Plenum und dann, wenn es konkret wird, tatsächlich zeigen, wie ernst sie gemeint waren. ({10}) Registermodernisierung: Die FDP hat im Wahlkampf plakatiert: „Digitalisierung first. Bedenken second.“ ({11}) Wir haben für die Registermodernisierung ein Konzept vorliegen, das in fast allen europäischen Staaten genutzt wird, das datenschutzsicher ist, das transparent ist, das mit einem 4-Corner-Modell agiert. ({12}) Was macht die FDP? Sie sagt: Das ist uns alles nicht sicher genug, wir brauchen mehr Datenschutz. Sie wollen ein Modell, das nachweislich weniger Datenschutz bietet, viel länger dauert und deshalb keinen Mehrwert zu dem besitzt, was die Regierung vorgeschlagen hat. ({13}) Deshalb sage ich: An den Taten sollt ihr sie messen. – Hier zu sitzen oder hier zu stehen und große Reden zu halten, das kann jeder. Diese Regierung und diese Koalition kommen aber ganz konkret voran: mit Gesetzen, mit Initiativen, mit Geld, das wir in die Hand nehmen, um die Daten besser nutzbar zu machen, um die Datensilos aufzubrechen und um einen Mehrwert zu schaffen: gesellschaftlich, wirtschaftlich und auch für uns in der Politikgestaltung. Begleiten Sie uns dabei! ({14}) Dann haben Sie Ihrem Land wirklich einen Dienst erwiesen! ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Mario Brandenburg, FDP-Fraktion. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Schön, das war keine Sitzung. Das war eine Unterrichtung, und wir durften Fragen stellen. Die politische Bewertung erfolgt hier und bei der Anhörung. Das müssen Sie sich leider anhören: Das nennt sich Oppositionsarbeit. ({0}) Ich möchte aber, damit Sie von der Großen Koalition nicht so traurig sein müssen, mit etwas Positivem starten. Schön ist nämlich, dass Sie sich quasi Hilfe von außen geholt und die Community eingebunden haben. Wenn man das gelesen hat, was wir haben, sieht man, dass an manchen Stellen auch die ehrliche Selbstkritik durchkommt, dass es bei der Digitalkompetenz in verschiedenen Ämtern doch ein Schippchen mehr sein könnte. Daher ist es schon interessant, dass in derselben Strategie ein kontinuierliches Langzeitmonitoring der Digitalkompetenz der Bevölkerung beschlossen wird. Es ist prinzipiell erst mal gut, Daten zu erheben. Das ist eigentlich sogar ein indirektes Monitoring Ihrer Digitalpolitik, was uns sehr recht ist. Nur: Die Bevölkerung dieses Landes hätte auch ein Recht auf selbiges Monitoring für die Digitalkompetenz der Regierenden. ({1}) Es ist nicht nur Ihr Recht, zu wissen, wie digitalkompetent die Bevölkerung ist, sondern eben auch andersherum. Zu manchen Vorhaben – das ist übrigens richtig – sagen Sie zum Beispiel: Es gibt ein Wirrwarr an Schnittstellen und Daten in den Behörden, daher schaffen wir jetzt ein einheitliches Austauschformat. – Da fragt man sich schon, ob Ihnen die Komplexität dessen bewusst ist. Wer mal in einem Konzern – das ist die vergleichbare Größe – bei einem Integrationsprojekt mit dabei war, der weiß, wie viel schlaflose Nächte so ein Enterprise Architect hat. Sie sagen nirgendwo in diesem Dokument: Wer ist denn dieser Government Integration Architect, der das tut? Wo kommt er her? Wo kommt dessen Berechtigung her? Wo ist dessen Stelle aufgehängt? Da schweigen Sie sich aus. Wissentlich oder unwissentlich haben Sie sich an der Stelle eigentlich ein Digitalministerium gebaut. ({2}) Der letzte Bereich – das hat die Kollegin Domscheit-Berg richtigerweise angesprochen –: Der Open-Data-Teil ist im Prinzip richtig. Aber wenn man ihn ernst meint, wenn man die Nutzung von Daten wirklich in den Mittelpunkt stellen möchte, wenn man mit gutem Beispiel vorangehen möchte, dann müsste dieser Teil eigentlich das Fundament dieses ganzen Textes sein und nicht jetzt vom BMI als Add-on nachgeliefert werden. Leider haben Sie an der Stelle eine Chance verpasst. ({3}) Was bleibt, ist ein Dokument, in dem durchaus viel Richtiges steht – es geht nicht darum, das wegzudiskutieren –, aber eben auch viel Unkonkretes, adressiert an irgendjemanden in der Zukunft, ohne ausreichende Finanzierung. Das Problem mit Zielen ist ja nicht, sie zu definieren. Das Problem ist, Ziele zu erreichen. ({4}) Dafür haben Sie an der Stelle aber ab September uns Freie Demokraten. Insofern haben Sie noch mal Glück gehabt! Viel Spaß bei der weiteren Beratung! Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Brandenburg, auch mit dem Ausblick auf die Zukunft. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre, SPD-Fraktion. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer welche Daten wie verwenden kann, ist eine der Kernfragen unserer Gesellschaft. In Datenmengen liegt nicht nur wirtschaftliches Innovationspotenzial, auch die Ressourcen der Verwaltung und Daseinsvorsorge lassen sich effektiver organisieren und verteilen, beispielsweise bei der Ver- und Entsorgung, bei der Mobilität und Stadtentwicklung, bei der Energieerzeugung, aber eben auch bei den Gesundheitsleistungen. Derzeit hakt der Zugang zu den Daten an wirtschaftlichen Interessen und fehlenden politischen Rahmenbedingungen. Und Aufgabe von Politik ist es, klare und konsistente Regeln für die Bereitstellung und Nutzung von Daten zu definieren und so den Zugang zu verbreitern und die Chancen gleichmäßig zu verteilen. ({0}) Die Datenstrategie der Bundesregierung muss also eine Antwort auf die Frage sein, wie eine künftige Datenordnung sozialen und nachhaltigen Fortschritt realisieren kann. Und nun ist sie da, die langersehnte Datenstrategie der Bundesregierung. Und ich sage: besser spät als nie und besser gut als schlecht. Wir, das Parlament, wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben uns im Vorfeld aktiv in diesen Prozess eingebracht – zugegeben ungefragt, aber voilà: Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Strategie formuliert genau unseren Anspruch, nämlich Daten innovativ, verantwortungsvoll und gemeinwohlorientiert zu nutzen. ({1}) Der Koalitionspartner hatte in der KI-Enquete-Kommission noch die Streichung von Grundsätzen der DSGVO gefordert; die Datenstrategie aber bekennt sich klar dazu. Der Datenschutz ist nicht per se Hemmschuh; er kann Innovationstreiber sein. Und das europäische Modell der Datenschutz-Grundverordnung ist für uns nicht diskutierbar. Dafür stehen wir als SPD. ({2}) Apropos Datenschutz: Im Umgang mit Daten kommen wir immer noch zu oft an die Grenzen des „Privacy Paradox“. Wir kennen das: Datenschutz ist wichtig; aber bei Facebook akzeptieren wir die Datenschutzerklärung ohne genaueres Lesen. Die Folgen sind gravierend. Wir erlauben, dass die Geräte-ID erfasst wird, weitere Aktivitäten über die IP-Adressen registriert und Daten zur Gesichtserkennung gesammelt werden. Das alles verwundert nicht, wenn wir uns verdeutlichen, dass der Nutzen eines Services im Gegensatz zu den Folgen der Datenweitergabe sofort und leicht erkennbar ist. Abhilfe können hier „Personal Information“-Managementsysteme schaffen, die es den Verbrauchern ermöglichen, Daten sicher zu speichern und festzulegen, nach welchen Kriterien sie ihre Daten offenlegen möchten. Und wir wollen einen konkreten Rechtsrahmen für diese Datenmanagementsysteme schaffen. ({3}) Doch egal, wie diese Systeme am Ende aussehen und ausgestaltet sind, ein Grundsatz muss klar sein: Eine kommerzielle Nutzung von personenbezogenen Daten muss in jedem Fall ausgeschlossen sein. Wer mit personenbezogenen Daten potenziell Gewinn macht, kann kein vertrauensvoller Intermediär sein, der unsere Daten verwaltet. Das klingt nicht nur plausibel, das ist es auch, und auf diesen Punkt kommt es in der Datenstrategie und bei der Umsetzung an. ({4}) Ein Gedanke zum Abschluss: Wir befinden uns in einer globalen Pandemie und in einer menschenbedrohenden Klimakrise. Daten und KI sind Werkzeuge, und wir müssen sie nutzen, um unsere Demokratie zu stärken, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren und Wohlstand für alle zu erreichen. Das muss eine Datengesellschaft leisten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dieter Janecek. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Die aktuelle Pandemie zeigt uns wie in einem Brennglas, wie wir in Deutschland bei Digitalisierung, Datenanalyse und Datenstrategie dastehen, nämlich nicht besonders gut. Wir haben zwar eine Bundeskanzlerin, die Exponentialkurven berechnen kann; aber wir wissen bis heute nicht, wo und in welchem Verhältnis Infektionen entstehen und sich verbreiten, weil wir auch ein Jahr nach der Pandemie keine zuverlässigen Daten erhoben haben. Deutschland mag ein Land der Ingenieurskunst sein, das Land der Datenanalyse ist es nicht. ({0}) Ist die Datenstrategie, die Sie jetzt vorlegen, endlich der große Befreiungsschlag für die deutsche Digitalpolitik? Das ist sie sicher nicht. Aber ich will anerkennen: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung; das haben wir letzte Woche auch ausgiebig im Rahmen der Unterrichtung diskutiert. Die Mängel beim Thema Datenzugang werden zutreffend beschrieben, bestehende Hürden und Schwachstellen benannt, das Potenzial gerade für die Wirtschaft wird betont. Und das ist ja auch wirklich enorm, wenn es endlich mal rechtssichere Datenzugänge, eine europäische Dateninfrastrukturstandardisierung geben würde. Legen Sie da bitte nach, legen Sie da vor. ({1}) Viele vernünftige Einzelmaßnahmen sind aufgeführt, und Sie hatten auch endlich den Mut, beim Thema Dateneigentum den Schlussstrich zu ziehen – das war auch dringend notwendig; Konstantin von Notz hat es gesagt –; denn diese Debatte hat uns viel zu lange blockiert. ({2}) Eines leisten Sie allerdings überhaupt nicht mit Ihrer Strategie: eine konsequente Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Da sind die Potenziale gigantisch; wir Grüne haben das seit vielen Jahren in vielen Anträgen auch hier im Deutschen Bundestag immer wieder betont. Der Zugang zu Daten – Stichwort: Open Data – ermöglicht nicht nur neue Geschäftsmodelle für innovative Start-ups, sondern auch gemeinwohlorientierte Anwendungen, ökologische und soziale Innovationen. So habe ich zusammen mit der Kollegin Christmann vor einem Jahr den Vorschlag für eine Innovationsstiftung für nachhaltige und soziale digitale Anwendungen vorgelegt. Wir haben übrigens auch den Vorschlag unterbreitet, in der Pandemie eine Technology Taskforce einzurichten, um bei der Datenstrategie endlich in die Umsetzung zu kommen. Das ist nicht passiert, das fehlt, und das muss jetzt umgesetzt werden. Eine Datenstrategie in Deutschland muss sich am Gemeinwohl ausrichten. ({3}) Wie wichtig gut aufbereitete und zugängliche Daten über die Pandemie für Journalistinnen und Journalisten, für interessierte Bürgerinnen und Bürger sind, kann man in vielen Ländern der Welt sehen. Lesen Sie mal die „New York Times“, dann sehen Sie, was sie mittlerweile an Datenanalysen in ihre Berichterstattung einfließen lässt, auch die BBC. Also, bei den Medien, auch bei den öffentlich zugänglichen Daten, die die Verwaltungen bereitstellen, können wir uns wirklich von den Benchmarks anderer europäischer Länder noch viel abschauen. Zum Thema Wirtschaftsdaten: Wir alle sehen aktuell, wie wichtig qualitativ hochwertige und belastbare Wirtschaftsdaten für die Hilfsprogramme sind. Wir haben sie leider oft nicht und verteilen das Geld mit der Gießkanne, und können am Ende dann eben nicht so zielgerichtet helfen, wie es möglich wäre, wenn wir die Daten vorher erhoben hätten. Höchste Zeit also, dass Sie nach langem Warten und Monaten der Verzögerung diese Datenstrategie endlich vorgelegt haben. Die Ausrichtung aufs Gemeinwohl, die Chancen für den Klimaschutz – darüber könnte man noch lange diskutieren. Das Thema „künstliche Intelligenz“ spielt eine Rolle. Wir brauchen jetzt endlich Handlung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Tankred Schipanski. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit der Debatte zur Datenstrategie setzen wir das digitalpolitische Feuerwerk, ({0}) mit dem wir das Jahr 2021 gestartet haben, fort: im Januar eine starke GWB-Novelle, Anfang Februar ein Meilenstein beim Thema Registermodernisierung, heute die Datenstrategie, in den nächsten Wochen die Novellen zum TKG, zum NetzDG, zum IT-Sicherheitsgesetz 2.0, zum Urheberrecht sowie ein weiteres Open-Data-Gesetz. Lieber Kollege Schulz, ich nenne das Digitalpolitik mit Volldampf. ({1}) Im Übrigen sind das alles Themenfelder, die eng mit Europa abgestimmt sind und bei denen Deutschland oftmals Taktgeber für die EU ist. Schauen Sie in den Digital Services Act, den Digital Markets Act, den Data Governance Act: Alles das wurde eng abgestimmt. Bei all diesen digitalpolitischen Vorhaben spielen natürlich Daten eine große Rolle. Doro Bär hat es dargestellt: Es ist eine Dachstrategie. Sie ist eng mit der europäischen Datenstrategie abgestimmt. Von daher ist das ein Tiger und kein Bettvorleger, liebe Frau Domscheit-Berg, eine Landkarte für die Zukunft und nicht für das Neuland, lieber Konstantin von Notz. ({2}) Egal ob man Daten als das neue Grundwasser oder das Öl der digitalen Gesellschaft bezeichnet, Fakt ist: Daten sind das Fundament der Digitalisierung. Das Credo dieser Strategie und die Grundüberzeugung der Unionsfraktion sind: Vor Daten muss man keine Angst haben. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, Daten zu erheben, wir müssen sie klug nutzen, und wir müssen sie in sicheren Räumen tauschen können. Dafür bedarf es klarer Standards, einer sicheren Infrastruktur, es bedarf Rechtssicherheit bei Anonymisierung und Pseudonymisierung. All das finden wir in dieser Strategie wieder. Sie gibt einen klaren Rahmen vor. Und mit über 240 konkreten Maßnahmen bringt sie PS auf die Straße und verliert sich eben nicht, wie von der FDP behauptet, im Abstrakten. Die Strategie ist klar gegliedert – Nadine Schön hat es dargestellt –; sie bildet das Verständnis dieser Legislatur ab, dass jedes Ministerium Digitalministerium ist, und nimmt dabei insbesondere den Staat in die Pflicht. Wir haben vier Handlungsfelder: gute Dateninfrastruktur, verantwortungsvolle Datennutzung, Datenkompetenz und den Staat als Vorreiter und Impulsgeber. Was sich hinter diesen Handlungsfeldern verbirgt, erklären die Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion in dieser Woche in verschiedenen Formaten, insbesondere auch in den sozialen Netzwerken. Wir wollen das Thema Datenpolitik anschaulich gestalten, es runterbrechen und mithilfe vieler Beispiele verdeutlichen. Ein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an unsere Kommunikationsabteilung. Und ich lade Sie herzlich ein, an diesen Formaten und Veranstaltungen teilzunehmen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, die gestatte ich nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte näher auf den Themenkomplex der Datenkompetenz eingehen, speziell für den Kollegen Brandenburg, der dazu viele Fragen aufgeworfen hat. Datenkompetenz ist eine Begrifflichkeit, die es auszugestalten gilt. Kompetenz im Umgang mit Daten ist nicht nur für Mitarbeiter in Unternehmen von zentraler Bedeutung, sondern insbesondere auch im privaten Bereich. Jeden Tag nutzen wir – teils unbewusst – Daten: beim Surfen bei Facebook, mit der Gesichtserkennung beim Smartphone, beim Checken von Google Maps, beim Tragen einer Smartwatch mit Blick auf die Gesundheitsdaten oder beim Kommunizieren mit Sprachassistenten wie Alexa. Daten werden gesammelt, gemanagt, ausgewertet und genutzt. Doch Daten allein sind nicht die Lösung. Nur wer Informationen aus den Daten herauslesen kann, erhält ein erweitertes Wissen. Wer diese Erkenntnis dann auch interpretieren kann und in Handlungsansätze verwandelt, der ist in der Lage, wertschöpfendes Potenzial von Daten zu erschließen. Die Datenstrategie benennt viele Programme und Ideen, beispielsweise wie das Bundesbildungsministerium diese Datenkompetenz in Bildung und Ausbildung etablieren will. Die Datenstrategie zeigt auch, wie das Bundeswirtschaftsministerium mit einem neuen Programm namens Go-Data datenbasierte Geschäftsmodelle unterstützt. Sie zeigt uns, dass auch das Bundesarbeitsministerium das Thema Datenkompetenz in seinen Zukunftszentren, die in jedem Bundesland unseren Mittelstand beraten, als Themenfeld etabliert hat. Auch das Familienministerium fördert Datenkompetenz in zivilgesellschaftlichen Organisationen über sogenannte Civic Data Labs. Sie sehen: Datenkompetenz ist, wie die gesamte Datenpolitik, eine Querschnittsmaterie. Daher erhält der Ausschuss Digitale Agenda für die Datenstrategie auch die Federführung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, es gibt noch einen Wunsch nach einer Nachfrage.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, nein. Ich habe noch 15 Sekunden; gerne anschließend als Kurzintervention.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Na, da schauen wir mal.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, dann schauen wir mal. – Daher erhält also der Ausschuss Digitale Agenda die Federführung. Das ist ein wichtiges und richtiges Signal. Es umfasst, liebe Kollegen der FDP, eben auch die Kontrolle bei der Umsetzung über diese Strategie. Ich bin mir sicher, dass wir durch eine richtige Priorisierung der Maßnahmen und eine haushalterische Schwerpunktsetzung die richtigen Impulse für eine zukunftsgewandte Digitalpolitik in dieser, aber auch in der nächsten Legislatur setzen werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schipanski. – Liebe Kollegen, wenn eine Zwischenfrage nicht angenommen wird, dann führt das nicht automatisch dazu, dass man eine Kurzintervention machen muss. Da die FDP aber so direkt angesprochen wurde, will ich dem Kollegen Höferlin die Gelegenheit zu einer Kurzintervention geben. Bitte schön. Aber: Kurzintervention. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Danke, Herr Kollege Schipanski, dass Sie die Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Meine Frage passt nämlich jetzt noch viel besser, weil Sie am Ende Ihrer Rede erwähnt haben, dass der Ausschuss Digitale Agenda die Federführung für den Bericht bekommt. Um es anders zu sagen: Der Digitalausschuss darf federführend den Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis nehmen. Das ist Ihre Vorstellung von der Arbeit des Digitalausschusses. Ich frage Sie aber – und das wäre meine Frage vorhin gewesen –: Warum wird denn Ihre Fraktion und auch die Fraktion der SPD unserem Wunsch nicht zustimmen, unseren Antrag, in dem es um exakt dasselbe Thema geht, im Digitalausschuss zu behandeln? Was ist der Grund und der Hintergrund, dass ein Antrag mit exakt demselben Themenumfeld aus Ihrer Sicht besser im Innenausschuss aufgehoben ist, wenn zugleich die Digitalstrategie in den Digitalausschuss geht? Sie als digitalpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion haben für mich bestimmt eine gute Antwort darauf.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kollege Schipanski, Sie können, Sie müssen nicht antworten. ({0}) Ich stelle das anheim. – Gut, dann kommen wir zum nächsten Redner. Das ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde sagen, das ist ein spannender Aufgalopp zum digitalpolitischen Wahlkampf, den wir heute erleben. Das ist auch gut so. Nach der Bundestagswahl wird sich ja die Frage stellen: Wer mit wem? – Da bin ich mal gespannt, ob sich die ganzen Helden, die sich hier gerade an der Union abgearbeitet haben, dann auch noch an ihre Worte erinnern werden; ich spreche aus leidvoller Erfahrung. Ich schätze die Kolleginnen und Kollegen von der Union sehr, aber inhaltlich ist es beim Thema Digitalpolitik eben manchmal ganz schön schwierig. Das gehört an den Anfang dieser Rede, meine Damen und Herren. ({0}) Eines ist klar: Wir haben uns schon in den Koalitionsverhandlungen sehr intensiv Gedanken darüber gemacht, wie es beim Umgang mit Daten weitergehen soll, welchen gesetzgeberischen Bedarf wir haben. Es ist schon angesprochen worden: Wir haben die Datenethikkommission eingesetzt, weil wir gesagt haben: Wir brauchen eine breite fachliche Grundlage. – Wir haben hier im Parlament die Enquete-Kommission gehabt, die eine hervorragende Arbeit zum Thema „Künstliche Intelligenz“ geleistet hat, bei dem Daten ja die absolute Grundlage sind. Dass nach Beendigung der Datenethikkommission, nach Beendigung der Enquete-Kommission jetzt die Datenstrategie vorgelegt wird, ist meiner Meinung nach stringentes Handeln, meine Damen und Herren. ({1}) Es ist ganz klar, dass unser aller Leben zunehmend von Daten und Algorithmen getrieben wird. Wenn wir einen Handyvertrag abschließen wollen, dann entscheiden Daten aus unserer Vergangenheit und Algorithmen darüber, ob wir den überhaupt bekommen. Wenn wir auf dem Weg zum Arbeitsplatz sind und angezeigt bekommen, welcher der schnellste Weg ist, dann teilen wir unsere Standortdaten, um eben zum Beispiel Staus erkennen zu können. All das sind Bereiche, die zeigen, dass unser alltägliches Leben sich durch Daten verändert. Ein zentrales Kapitel der Datenstrategie ist das Thema digitale Kompetenzen. Für uns als SPD liegt dieser Frage nämlich auch ganz fundamental die Frage nach einem Menschenbild zugrunde. Es geht uns um die Frage: Sind wir in Zukunft einfach nur Produktionsfaktoren, die an digitale Veränderungen angepasst werden müssen, oder geht es darum, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen und am Ende auch mündige Bürgerinnen und Bürger sein können? Denn es braucht – das hat Saskia Esken vorhin schon angesprochen bei ihrem Blick in die Vergangenheit – nicht weniger als eine Befreiung aus der von uns ja teilweise selbst verursachten digitalen Unmündigkeit. Deswegen müssen wir in den Schulen, an den Universitäten und in der Ausbildung das Thema Datenkompetenz in den Fokus nehmen. Das geschieht immer noch viel zu wenig. Wir sind jetzt gerade durch Corona in einer Situation, in der die Digitalisierung in den Schulen einen großen Sprung gemacht hat. Ja, aber der ist noch nicht so groß, wie wir ihn alle für notwendig halten; wir müssen dieses Momentum dort nutzen. Es geht, wie gesagt, eben nicht nur darum, durch das Bildungssystem Bürgerinnen und Bürger zu haben, die sich dann in der Arbeitswelt zurechtfinden. Es braucht vor allem Bürgerinnen und Bürger, die dann kritisch mit all dem umgehen können, die kritisch hinterfragen können, was hier passiert, die kritisch hinterfragen können, wie eigentlich Entscheidungen zustande kommen. Das ist einer der Punkte, den wir als SPD immer bei der Erstellung dieser Datenstrategie in den Fokus genommen haben und den wir auch nach dem 26. September 2021 in den Mittelpunkt stellen werden. Dann freue ich mich, wenn zum Beispiel Liberale, wenn Grüne das auch unterstützen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Frau Christmann hätte eine Zwischenfrage.

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt steht hier, dass meine Redezeit zu Ende ist. Deswegen danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hansjörg Durz. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wissen ist Macht – mit dieser These läutete der britische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon vor ziemlich genau 400 Jahren ein neues Wissenschaftszeitalter ein. Herzstück von Bacons wissenschaftlicher Methode war das systematische Sammeln aller verfügbaren Daten. Darin sah er nicht nur eine neue Form der Wissensgewinnung, sondern darin sah er vor allem auch Macht. Ob die Gründer der Internetgiganten unserer Tage sich an Francis Bacon orientiert haben, sei mal dahingestellt. Doch wer denkt, die heutige Machtverteilung in der digitalen Welt wäre im Sinne dieses Philosophen gewesen, der irrt; denn der Brite erkannte schon zu seiner Zeit die Gefahren von Wissen als Herrschaftsinstrument. Um diesen Gefahren entgegenzutreten, trat er für die Selbstbestimmung des Einzelnen ein. Doch wie sieht Selbstbestimmung in der digitalen Welt von heute aus? Die Frage kann jeder Internetnutzer beantworten. Seit einer Gerichtsentscheidung im Frühjahr vergangenen Jahres ploppen zum Beispiel tagtäglich in der Bundesrepublik Millionen von Cookie-Einwilligungen auf, in der Regel zum Unmut derer, die nur schnell etwas nachschauen wollen. Selbstbestimmung wird hier allenfalls in der Theorie ermöglicht. Wir aber wollen echte Selbstbestimmung in der Praxis. ({0}) Wer aber echte Datensouveränität will, der muss den Bürger befähigen, Informationen zu lesen, sein Handeln im Netz zu verstehen und bewusste Entscheidungen zu treffen. Die Datenstrategie zeigt hier ganz konkret Lösungswege auf. Mit einem Datentreuhänder können Menschen zentral bestimmen, wie mit ihren Daten im Netz umgegangen wird und dann souverän lossurfen. Auch die vielen digitalen Identitäten, die jeder von uns besitzt, könnten damit einheitlich gemanagt werden. Wer durchzählt, wie viele Nutzerkonten er hat, wird schnell auf eine Zahl kommen, die er auf den ersten Blick gar nicht vermutet hätte. Ob bei der Bank, bei Mailingdiensten, bei sozialen Netzwerken, bei der Bahn, bei der digitalen Abgabe der Steuererklärung, überall pflegen wir Nutzerkonten. Im Jahr 2020 hatte jeder Bundesbürger im Durchschnitt etwa 200 verschiedene Nutzerkonten. Ich vermute, dass nicht alle 200 AGBs und Datenschutzerklärungen gelesen wurden, und darin liegt auch das Problem. Mit dem Datentreuhänder lässt sich organisieren, welches Unternehmen, welche Institutionen die Nutzerdaten wie verwenden darf. Dabei muss ein Datentreuhänder nicht zwingend eine staatliche Stelle sein. Auch gemeinnützige Organisationen oder Unternehmen müssen diesen Dienst anbieten können. Vielfalt muss möglich sein. Zentral ist jedoch Vertrauen. Wem vertraue ich meine Daten an? Das ist eine Frage, die jeder Bürger selbst entscheiden sollte. Allerdings muss Missbrauch vermieden werden. Deshalb muss eine goldene Regel für jeden Anbieter gelten: Ein Datentreuhänder ist eine neutrale Instanz, und ein Treuhänder verscherbelt keine Bürgerdaten. ({1}) Die Förderung von Datentreuhändern, die diese Datenstrategie vorsieht, hat jedoch auch Implikationen auf die Struktur der Digitalwirtschaft; denn oftmals ist der Kern vieler digitaler Dienste der gleiche: ein werbefinanziertes Geschäftsmodell. Damit das ordentlich Gewinn abwirft, werden Daten über den Verbraucher gesammelt und Angebote personalisiert. Möglichst viel Zeit soll auf einer Plattform oder mit einem Produkt verbracht werden. Immer stärker soll der Kunde gebunden werden. Der Datentreuhänder kann dazu beitragen, den Wechsel von Anbietern und das Multihoming von Diensten deutlich zu erleichtern und damit dem Log-in-Effekt, der ganz engen Bindung des Nutzers an einen Anbieter, zu entgehen. Hier vereinen sich Bürgersouveränität und Verbrauchersouveränität, und das ist gut so. In der Datenstrategie ist aber nicht bloß das Ziel der Etablierung von Datentreuhändern formuliert, sondern auch dargelegt, welche Schritte wir dafür zu gehen haben: Erstens werden wir einen Ideenwettbewerb für Datentreuhänder initiieren, um eine möglichst breite Vielfalt an Modellen zu gewährleisten. Zweitens werden wir ein Förderprogramm zur Entwicklung und Erprobung innovativer Datentreuhänder aufsetzen. Drittens werden wir einen konkreten Rechtsrahmen für Datenmanagementsysteme schaffen. Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Wege ist mit der gestrigen Verabschiedung des TTDSG im Kabinett übrigens bereits gegangen worden. Noch in dieser Legislatur werden wir damit Datentreuhänder ermöglichen und die Datensouveränität der Bürger stärken. ({2}) Daten sind Wissen. Wissen ist Macht. Der Datentreuhänder ist das zentrale Konzept zur Stärkung der Selbstbestimmung, zur Rückgewinnung der Macht im Netz; denn die muss in guter demokratischer Tradition beim Bürger liegen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Hansjörg Durz. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern ist es amtlich: Gastronomie und Einzelhandel bleiben bis auf Weiteres zu. Die Situation der Kolleginnen und Kollegen in Kurzarbeit verschlechtert sich zunehmend. Wir sagen: Beschäftigte mit einem geringen Einkommen, die brauchen jetzt Hilfe. ({0}) Deshalb unterstützen wir die Forderung der Gewerkschaften NGG und Verdi nach einem Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro, befristet für die Dauer der Pandemie. ({1}) Es war richtig, dass die Bundesregierung die Sonderregelungen für Kurzarbeit verlängert hat und das Kurzarbeitergeld auch erhöht hat. Aber während Arbeitgeber 100 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge erstattet bekommen, fehlen den Beschäftigten häufig die entsprechenden Monate, um eine Erhöhung zu bekommen. Nehmen wir das Beispiel einer Köchin mit einem Nettolohn von 1 530 Euro pro Monat. Dieser bleiben bei Kurzarbeit Null aktuell 918 Euro. Wie will man davon Miete und laufende Kosten bezahlen? Ihr Arbeitgeber bekommt aber 680 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen erstattet. Das ist fast der Betrag, den die Frau zum Leben hat. Diese Schieflage, meine Damen und Herren, die kann doch wohl wirklich nicht wahr sein. ({2}) Ich fordere die Bundesregierung jetzt auf: Leisten Sie schnelle und unbürokratische Hilfe. Verhindern Sie, dass Tausende Friseurinnen, Verkäuferinnen und Kellner vor dem Scherbenhaufen ihrer Existenz stehen. ({3}) Andere Länder machen uns vor, dass es geht. Es gibt ein Mindestkurzarbeitergeld in Frankreich, in Polen, in Portugal. Daran muss sich die Bundesregierung ein Beispiel nehmen. ({4}) Aber auch grundsätzlich müssen die Weichen anders gestellt werden. Der riesige Niedriglohnsektor, gerade in diesen Branchen, ist doch die Ursache für diese Misere. Denn 60 Prozent, 70 Prozent oder auch 80 Prozent von wenig bleibt zu wenig zum Leben. ({5}) Und deswegen brauchen wir eine Kehrtwende am Arbeitsmarkt mit einer armutsfesten Lohnuntergrenze von mindestens 12 Euro und eine konsequente Stärkung der Tarifbindung. Schluss mit dem Geschäftsmodell der Dumpinglöhne! ({6}) Eigentlich müsste sich für unseren Antrag hier eine Mehrheit finden lassen. Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen haben den Brief von NGG und Verdi ebenfalls unterzeichnet. Die SPD wird bei solch einer sozialpolitischen Frage hoffentlich auch nichts dagegen haben, und der Arbeitnehmerflügel der Union fordert schon seit Januar ein Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro. Deswegen lade ich Sie von den Grünen bis zur Union ein: Lassen Sie uns heute gemeinsam dafür sorgen, dass den Beschäftigten im Niedriglohnbereich auch die entsprechende Nothilfe zugutekommt. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Thomas Heilmann. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pandemie ist eine Katastrophe – das hat unsere Bundeskanzlerin heute Morgen von diesem Pult aus gesagt, und natürlich hat sie leider recht. Diese Pandemie verlangt uns allen viel ab, und das gilt ganz gewiss auch für Geringverdiener, die heute vom Kurzarbeitergeld leben. Insoweit gibt es Einigkeit. Ich glaube, in diesem Haus gibt es auch eine breite Einigkeit darüber, dass das Kurzarbeitergeld an sich eine segensreiche Einrichtung ist. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die viele Länder kopiert haben, und auf die wir sicher zu Recht stolz sind. Wir haben in dieser Krise nach den uns vorliegenden Zahlen bislang 23 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld ausgezahlt. Die Zahl der Empfänger von Kurzarbeitergeld lag im November – aktuellere Zahlen haben wir wohl nicht – bei 2,26 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. In Hotels und Gaststätten – Sie haben es angesprochen, Frau Ferschl – sind es etwa 600 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es gab und gibt auch Einigkeit in diesem Haus – auch das haben Sie angesprochen –, dass diese Betroffenen höhere Zahlungen bekommen sollen, als das im Normalfall vorgesehen ist; denn es gibt eine gute Logik, dass Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld gleich hoch sein sollen. Das ist die Grundregel, von der wir auch nicht abweichen. In dieser Pandemie sind wir aber wegen der sozialen Frage davon abgewichen: Wir haben das Kurzarbeitergeld ab dem siebten Monat auf 80 Prozent und, wenn jemand Kinder hat, sogar auf 87 Prozent erhöht. ({0}) Frau Ferschl, insofern habe ich Ihren Satz, die Situation verschlechtere sich mit zunehmender Dauer, ehrlich gesagt, nicht verstanden, weil ja eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes nach geltender Regel vorgesehen ist. ({1}) Diese Lösung, Frau Ferschl, haben wir nach intensiver Debatte gewählt. Das wissen Sie; das haben Sie ja auch erwähnt. Auch wir haben als Arbeitnehmerflügel vorgeschlagen – und zwar schon im April 2020 –, dass es ein Mindestkurzarbeitergeld geben soll. ({2}) Wir haben uns dann dagegen entschieden – und auch das wissen Sie –, und zwar aus mehreren Gründen. Erster Grund: Die Bundesagentur für Arbeit hat gesagt, sie sei auf ein solches Verfahren nicht vorbereitet. ({3}) Und das ist auch sehr gut nachvollziehbar. Denn wenn jemand nicht ausschließlich Kurzarbeitergeld bekommt, sondern nebenbei noch einige Stunden arbeitet – und das haben wir gegenwärtig in der Gastronomie häufig, weil es den Lieferservice gibt –, dann muss man ausrechnen: 10 oder 15 Stunden arbeitet jemand dort oder dort, und da bekommt er soundso viel Lohn. Und dann muss der Mindestlohn ausgerechnet werden. Dafür hat die Bundesagentur für Arbeit keine digitalen Systeme, und deswegen – – ({4}) Unterbrechen Sie mich doch nicht ständig! – Deswegen haben wir uns mit guten Gründen dagegen entschieden. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Aufruhr! Der Kollege spricht.

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zweitens – und auch das wissen Sie – besteht auch in den Gewerkschaften darüber Uneinigkeit. Der DGB und die IG Metall haben es anders gesehen als Verdi und NGG, und das wissen Sie doch. ({0}) – Ich habe ja nur die Begründung für unsere Entscheidung genannt, und diese Entscheidung ist: Es gibt ein höheres Kurzarbeitergeld. Drittens gibt es die Aufstockung im Grundsicherungssystem mit erleichtertem Zugang auch für diese Betroffenen. Nun ist es leider so, dass auch da die Zahlen nicht so aktuell sind, wie wir das gerne hätten. Aber nach allem, was ich weiß – ich habe mich heute Morgen extra noch mal erkundigt –, gibt es keinen signifikanten Anstieg der Zahl von Anträgen auf Grundsicherung von Menschen, die Kurzarbeitergeld bekommen. ({1}) Und auch das ist ein Zeichen dafür, dass es offensichtlich nicht so dramatisch ist, wie Sie das hier schildern. ({2}) Ich kann mir eine Bemerkung gerade an Sie, Frau Ferschl, nicht verkneifen. Wir von der Union wollen Register für Sozialleistungen, weil es nämlich gut wäre, wenn wir aktuelle Zahlen hätten, was die Nutzung und Beantragung dieser Instrumente betrifft, die auch kompatibel wären. Aber genau das – darüber haben wir in der letzten Sitzungswoche schon diskutiert – wollen Sie nicht. Das wäre jetzt ein guter Anlass, um mit präziseren Zahlen über die Frage, wie bedürftig die Menschen in diesem Bereich sind, aufzuwarten. ({3}) Ich habe mich gefragt: Warum stellen Sie jetzt eigentlich diesen Antrag, obwohl der Bundestag das ja mit den genannten Gründen anders entschieden hat? Warum stellen Sie eigentlich nur einen Teil Ihrer Anträge neu? Sie haben es dann in Ihrer Rede angedeutet: Im Kern geht es offensichtlich um den internen Wettbewerb mit SPD und Grünen. ({4}) Das ist doch nichts weiter als Wahlkampf. Sie haben angesprochen, dass die Grünen die NGG-Forderung unterschrieben haben, dass sie aber Ihrem Antrag aus dem letzten April, in dem dasselbe stand, nicht zugestimmt haben. ({5}) Und Sie haben die SPD und die Probleme mit den Gewerkschaften vorhin selber erwähnt. Ich kann Ihnen sagen, liebe Kollegen von den Linken: Mit diesen Tricks werden Sie die Wähler nicht überzeugen, und Ihre Umfrageergebnisse sprechen auch dafür. Ich habe mir mal die Mühe gemacht und habe mir 23 Ihrer Anträge aus der Coronazeit angeschaut. Jeder einzelne dieser Anträge fordert mehr Geld für Betroffene. ({6}) Kein einziger Antrag beschäftigt sich mit der Frage, wie wir aus diesem wirtschaftspolitischen Dilemma herauskommen und wie wir die Krise besser überwinden können. ({7}) All das beantragen Sie nicht, sondern Sie haben 23 verschiedene Anträge dazu gestellt, wer alles mehr Geld bekommen soll, obwohl wir schon sehr viel dafür ausgeben. Das ist reine Verteilungspolitik, die Sie wollen. ({8}) Und mit reiner Verteilungspolitik kann man eben keinen guten Staat machen. Die Umfragerückstände gegenüber der SPD und den Grünen belegen das eindrucksvoll. Wir von der Union sind weiter für den Kurs, den wir eingeschlagen haben: sozialen Ausgleich stärken und höhere Zahlungen an die Betroffenen. Ihren Antrag werden wir im Ausschuss zwar diskutieren, ihm aber mutmaßlich nicht zustimmen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Es macht sich bereit der Abgeordnete Martin Sichert von der AfD-Fraktion. ({0}) Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Mausefalle funktioniert nur, weil die Maus nicht weiß, warum der Käse kostenlos ist. Und genauso funktioniert Sozialismus: Es gibt vermeintlich kostenlose Wohltaten, doch diese führen für die Menschen letztlich zu Elend und unsäglichem Leid. ({0}) Denn die vermeintlichen Wohltaten werden entweder durch Steuern und Abgaben oder durch Entwertung des Geldes von allen Bürgern finanziert. ({1}) Am Ende ist die ganze Gesellschaft ruiniert, damit sich ein paar Politiker als Wohltäter darstellen können. Sie von den Linken sind die Turbokapitalisten und die Heuschrecken der Politik. Sie sind voll auf kurzfristigen Gewinn ausgelegt. Sie wollen sich jetzt als die größten Wohltäter des Landes gerieren, und das auf Kosten der Zukunft der gesamten Gesellschaft. Ihre Politik, frei nach dem Motto: „nach uns die Sintflut“, ist eine Katastrophe für alle gesellschaftlichen Schichten. ({2}) Viele können nicht von dem Kurzarbeitergeld leben, weil schon die eigentlichen Löhne zu niedrig sind. ({3}) Wir brauchen also mehr gesellschaftlichen Wohlstand, wirtschaftlichen Aufschwung und damit verbunden höhere Löhne. Es gab Zeiten in Deutschland, da brauchte es keinen Mindestlohn; da hat ein Arbeiter so gut verdient, dass er die Familie ernähren und nebenbei noch ein Haus bauen konnte. ({4}) Da müssen wir wieder hin! ({5}) Also weg mit noch mehr Regelungen! Weg mit den Beschränkungen, hin zu einer freiheitlichen Gesellschaft, in der die Wirtschaft brummt wie in den 60er- und 70er-Jahren. Sie von den Linken, aber auch die Regierung und die Grünen versuchen, die Menschen immer mehr vom Staat abhängig zu machen. Ihre Politik ist die Mausefalle für deutsche Bürger. Ihr Ziel ist eine Gesellschaft staatlich abhängiger Sklaven. Wir hingegen kämpfen für eine freiheitliche Gesellschaft in einem prosperierenden Land mit Wohlstand für alle. Ihrer sozialistischen Wirtschaftssteuerung stellen wir die Ideale der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard entgegen. Sie von den Linken leisten einen elementaren Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft. Arbeit muss sich lohnen: Wenn man dieses Prinzip zerstört, stürzt eine ganze Gesellschaft in Armut. ({6}) Mit Ihrem Mindestkurzarbeitergeld bekommen Millionen Teilzeitbeschäftigte in Kurzarbeit plötzlich mehr Geld, als wenn sie arbeiten würden. Das heißt, derjenige in Kurzarbeit bekommt mehr Geld als sein Kollege, der weiter arbeitet. Das ist eine absolute Perversion des Sozialstaatsprinzips, die wir ablehnen. ({7}) Warum reden wir denn heute überhaupt über Kurzarbeit? Kollege Heilmann hat es ja gesagt: Weil die Wirtschaftspolitik Millionen Menschen die Existenzgrundlage aktuell genommen hat, und das vollkommen willkürlich. Kann mir hier jemand erklären, warum ich im Zug mein Essen auspacken und genüsslich unter Menschen essen kann, aber jede Gaststätte trotz toller Hygienekonzepte geschlossen sein muss? Kann mir jemand erklären, warum der Blumenladen, das Bekleidungsgeschäft und der Spielzeugladen geschlossen sind, aber im Supermarkt Blumen, Kleidung und Spielzeug gekauft werden können? Welchen Sinn macht es, Menschen, die diese Artikel kaufen wollen, nicht in Spezialgeschäfte zu lassen, sondern sie in die vollen Supermärkte zu schicken? Kann mir jemand erklären, warum es verboten ist, sich zu viert zum Schafkopf oder zum Skat zu treffen? Aber zu Hunderten gemeinsam stundenlang im Flugzeug zu sitzen, ist erlaubt. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich fordere keine Verschärfung der Maßnahmen, aber ich fordere ein Ende der Willkür. ({8}) Interessanterweise ist die Zahl der Erkrankten bei den Beschäftigten in Supermärkten nicht höher als im Rest der Bevölkerung, obwohl diese Menschen jeden Tag stundenlang ohne Mundschutz hinter der Kasse sitzen und den Aerosolen von Hunderten anderer Menschen ausgesetzt sind. Wenn man das weiß, stellt sich die Frage, warum man überhaupt Masken in Supermärkten tragen sollte. ({9}) – Kollegin, Sie sollten sich mal besser mit den Gesetzen und Verordnungen beschäftigen, wenn Sie glauben, dass jeder Beschäftigte im Supermarkt Mundschutz tragen muss; denn das ist nicht der Fall. Das sieht man auch in verschiedensten Supermärkten in Deutschland, da sitzen die Menschen hinter einer Glasscheibe und bekommen die gesamten Aerosole des Raumes ab. Überhaupt: Wenn wir über diese Politik sprechen, frage ich: Wie unmenschlich ist das momentan? Man erzählt den Kindern in der Schule, sie würden ihre Großeltern umbringen, wenn sie sie träfen. Viele Menschen vereinsamen total. ({10}) In den Altersheimen sterben viele Menschen an gebrochenem Herzen, weil sie von ihrer Familie isoliert werden. Kinder werden von ihren Freunden, Verwandten und Klassenkameraden getrennt, und die Eltern verzweifeln im Spagat zwischen Homeschooling und Homeoffice. Ihre Lockdown-Politik zerstört nicht nur die wirtschaftliche Existenzgrundlage von Millionen, sie schafft auch unsägliches Leid für Millionen. Sie vernichten nicht nur massiv Wohlstand und Freiheit, sondern sie vernichten auch unfassbar viel Lebensqualität. ({11}) Artikel 1 des Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Sie verbieten gerade Millionen Menschen ein Leben in Würde. Jeder Mensch, den Sie mit Ihren Vorschriften isolieren und in die Einsamkeit treiben, ist ein Mensch zu viel, dessen Würde vernichtet wurde. ({12}) Dazu kommt, dass dieser Lockdown keine Grundlage hat. Wenn man sich die Belegung der Intensivstationen ansieht, stellt man fest, dass diese seit Mai konstant ist. ({13}) Eine Epidemie sieht definitiv anders aus. Ebenso die Todesstatistik: Laut Statistischem Bundesamt sind bei den unter 80-Jährigen letztes Jahr weniger Menschen gestorben als 2016, 2017 oder 2018. ({14}) 2016, 2017 und 2018 sind jeweils 10,4 Prozent der Menschen über 80 gestorben. ({15}) Letztes Jahr waren es nur 10,2 Prozent. Wir hatten 2020 also eine Untersterblichkeit sowohl bei den unter 80-Jährigen als auch bei den über 80-Jährigen. Dem Kollegen von den Grünen, der hier die ganze Zeit dazwischenruft, würde ich empfehlen, sich mal mit den offiziellen Statistiken des Statistischen Bundesamtes zu beschäftigen; ({16}) denn da sehen Sie, dass das, was ich hier sage, tatsächlich zutreffend ist. Wenn Sie sich damit nicht beschäftigen, sondern sich nur mit Emotionen beschäftigen, dann sind Sie in der Politik falsch. ({17}) Wir beschließen hier im Bundestag eine epidemische Notlage nationaler Tragweite, und die Statistiken sehen ganz anders aus. Jetzt, wo man die Zahlen von 2020 kennt – die Grünen anscheinend nicht; aber andere schon –, ({18}) wollen Sie diese angebliche Notlage zum Schaden der Bürger verlängern. Sie machen sich letztlich lustig über die Intelligenz der Mitbürger. Lassen Sie die Menschen wieder frei! Lassen Sie sie arbeiten! Dann brauchen wir hier auch nicht über Kurzarbeitergeld zu reden. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({19})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Bernd Rützel. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns jetzt wieder dem Thema Mindestkurzarbeitergeld widmen; denn das ist so wichtig, dass es sich nicht für Wahlkampf, Populismus oder Profilierung eignet. Ich bin froh, dass dieses Thema heute auf der Agenda ist. „Mindestkurzarbeitergeld“ hört sich erst einmal gut an. Das klingt nach Mindestlohn, es klingt nach Mindestausbildungsvergütung – beides Erfolgsgeschichten der SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es trifft leider zu – deswegen bin ich froh, dass wir darüber debattieren –, dass viele Beschäftigte in Deutschland trotz eines Vollzeitjobs ein geringes Einkommen haben. Ich denke da zum Beispiel an die Menschen in der Gastronomie. Wenn die jetzt in Kurzarbeit gehen, dann wird die Luft gerade am Anfang sehr dünn. Das muss man einfach wissen. Deswegen ist es gut, dass die Gewerkschaften Verdi und NGG dieses Thema aufgerufen haben. Mit beiden Gewerkschaften stehe ich diesbezüglich in sehr engem Kontakt. Noch viel enger ist unser Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Gespräch, weil man das ernst nehmen und sich auch darum kümmern muss, statt einfach zu sagen: Das interessiert uns nicht. – Deswegen sollten wir dieses Thema beackern. Ich möchte aber schon sagen, liebe Partei Die Linke, dass Sie in Ihrem Antrag völlig unterschlagen, dass wir das Kurzarbeitergeld deutlich erhöht haben. Sie haben es Gott sei Dank in Ihrer Rede gesagt, Frau Ferschl; aber im Antrag steht das nicht. Wir haben es nämlich aufgestockt: nach dem dritten Monat auf 70 bzw. 77 Prozent mit Kindern und nach dem sechsten Monat auf 80 bzw. 87 Prozent. ({1}) Es wird immer zu wenig sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die SPD hat das Land mit dem Kurzarbeitergeld 2008 durch die Finanzkrise gesteuert. Wir haben hier in diesem Hause am 13. März vergangenen Jahres das Kurzarbeitergeld scharfgeschaltet. Es hilft auch in dieser Krise wieder sehr. Wir haben es einfacher gemacht, in Kurzarbeit zu kommen. Es gibt länger Kurzarbeitergeld. Es kann auch anrechnungsfrei hinzuverdient werden. Ich will nur noch mal daran erinnern; falls Sie das vergessen haben, haben Sie es jetzt noch einmal gehört, liebe Linke. Für 9 Millionen Menschen wurde Kurzarbeitergeld beantragt. Über 6 Millionen Menschen sind in Kurzarbeit gewesen. Die aktuellen Zahlen haben wir vorhin gehört. Zurück zum Mindestkurzarbeitergeld. Die Löhne sind zu gering; ich habe es ausgeführt. Dadurch ist natürlich auch das Kurzarbeitergeld zu gering. Es ist gerade im Dienstleistungsbereich ein Problem, dass Teile des Einkommens durch Trinkgelder generiert werden. Manche brauchen auch noch einen Minijob zusätzlich fürs tägliche Brot. Aber Trinkgelder und Minijobs sind Cash in de Täsch, darüber freuen sich viele; aber sie sind eben nicht krisenfest. Einkommen, auf das keine Sozialabgaben bezahlt werden, ist eben nicht abgesichert. Das ist das Problem. Wenn vom Einkommen der Alltag nicht bestreitbar ist, dann hilft die Grundsicherung. Es ist keine Schande, Grundsicherung in Anspruch zu nehmen. Fast 7 Millionen Menschen in unserem Land tun das. Das ist eigentlich schlimm genug, weil das auch spiegelt, wie sie gestellt sind; aber sie machen es. Ich gebe zu: Die Grundsicherung ist zu kompliziert. Es können nur diejenigen berichten, wie sich das alles anfühlt, die sie schon einmal in Anspruch genommen haben. Ich warne davor, oberschlau oder gar arrogant über Grundsicherungsempfänger zu urteilen und zu reden. Weil wir das wissen, haben wir die Grundsicherung vereinfacht. Die Menschen haben zwei ganz große Sorgen, wenn sie zum Amt gehen: zum einen, dass ihnen dort gesagt wird, ihr Haus oder ihre Wohnung ist zu groß. Die zweite große Sorge ist, dass sie ihr Erspartes abgeben müssen. Diese Sorgen nehmen wir den Menschen; denn es wird nur noch ein erhebliches Vermögen überprüft, und die Kosten für die Unterkunft und für die Heizung werden auch tatsächlich anerkannt. Wir werden hier morgen Mittag im Rahmen der Debatte zu unserem Sozialschutz-Paket III über dieses Thema sprechen. Wenn es nach uns, der SPD, geht, verstetigen wir diese Regelung. Unser Arbeitsminister Hubertus Heil hat einen Vorschlag dazu gemacht, wie die Grundsicherung zugänglicher, einfacher und unkomplizierter wird. Wie gesagt: Viele nutzen die Möglichkeit der Grundsicherung. Ich höre aber auch immer wieder, dass Menschen zögern, einen Antrag auf Grundsicherung zu stellen. Viele schämen sich dafür. Aber die Grundsicherung vergibt keine Almosen. Es gibt ein Recht auf Grundsicherung. ({2}) Es ist ein Recht, das man in Anspruch nehmen sollte. Wir haben auch die Möglichkeit geschaffen, dass in der Kurzarbeit anrechnungsfrei durch einen Minijob hinzuverdient wird. Das kann Luft schaffen, den Entgeltausfall zu kompensieren. Ich frage mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, was passiert, wenn wir jetzt für eine Gruppe eine andere Möglichkeit schaffen als die Grundsicherung. Wir müssen diskutieren, ob da nicht Ungerechtigkeiten gegenüber anderen Gruppen entstehen können. Diejenigen, für die jetzt ein Mindestkurzarbeitergeld geschaffen werden soll – wir können darüber debattieren –, sollen ja vor Stigmatisierung geschützt werden, wenn sie die Grundsicherung in Anspruch nehmen. Aber dann frage ich: Stigmatisieren wir dann nicht grundsätzlich die Gruppe der Grundsicherungsempfänger? ({3}) Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir an dieser Stelle keine Zweiklassensituation schaffen, ({4}) in der die eine Gruppe, die darauf angewiesen ist, die Grundsicherung beantragen muss und die andere Gruppe nicht. Ich halte es für entscheidend, dass wir das Bild der Grundsicherung verbessern. Wir haben im Jahr 2019 43,4 Milliarden Euro allein im Bereich des SGB II ausgegeben. Wir müssen daran arbeiten, dass die Gelder nicht als Almosen, sondern als Recht angenommen werden. Wenn man ein Sondersystem für einige Gruppen schaffen will, muss man auch wissen, was das für andere Gruppe bedeutet. Wie wollen wir dafür sorgen, dass der Lebensunterhalt von jedem und von jeder in Deutschland sichergestellt ist? Wir wollen – das will ich abschließend sagen – für Vertrauen in einen Sozialstaat auf Augenhöhe werben. Das ist das Entscheidende: auf Augenhöhe. Wir werden die Situation aller Beschäftigten stetig beobachten, begleiten, und wir werden eingreifen und Änderungen vornehmen. Das haben wir die ganze Pandemie über getan, und das werden wir die ganzen nächsten Wochen und Monate tun. Deswegen freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort für die Fraktion der FDP der Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern in Ihrem Antrag die Einführung eines Mindestkurzarbeitergeldes in Höhe von 1 200 Euro. Interessant ist, bei Ihnen auf der Homepage zu lesen, was Sie unter anderem vielleicht zu dieser Forderung bewegt haben könnte. Frau Ferschl, Sie fordern da namentlich den Vergleich mit den Regelungen in anderen europäischen Ländern. Da kommen Sie zu dem Schluss, dass unser Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 bzw. 67 Prozent Deutschland zum Schlusslicht in Europa mache. Sie vergleichen die deutsche Kurzarbeiterregelung explizit mit der in Dänemark, Schweden und den Niederlanden und weisen darauf hin, dass dort die Kurzarbeiterregelung 100 Prozent vorsieht. Die Wahrheit ist aber, Frau Ferschl, dass in Dänemark das Kurzarbeitergeld zwar bei 100 Prozent liegt, aber auf einer rein tariflichen Regelung basiert. Die Wahrheit ist, dass in Schweden das Kurzarbeitergeld zwar bei 100 Prozent liegt, aber nur 60 Prozent der ausgefallenen Arbeitsstunden gefördert werden. Die Wahrheit ist, dass in den Niederlanden das Kurzarbeitergeld bis zu 100 Prozent beträgt, das aber nur für drei Monate, und dann in Schritten auf 60 Prozent abgesenkt wird. Kurzum: Sie schüren hier Ängste. Sie weisen hier auf Zustände in Europa und in Deutschland hin, die der Realität nicht entsprechen, und das ist beides nicht in Ordnung. Wir werden hier immer dafür kämpfen, dass die Basis politischer Entscheidungen und Diskussionen die sachlich korrekte Zahl und die sachlich korrekten Fakten sind. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Kober, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. – Darauf, dass das Kurzarbeitergeld im unteren Einkommensbereich, wenn es bei 60 Prozent liegt, natürlich nicht viel Geld ist, haben wir als FDP gleich zu Beginn dieser Debatte um das Kurzarbeitergeld immer hingewiesen, und wir werden uns einer intelligenten Lösung auch nicht verschließen – auf gar keinen Fall. Aber wenn wir heute hier schon über die wirtschaftliche Situation reden, dann dürfen wir nicht vergessen, dass auch vielen Unternehmerinnen und Unternehmern das Wasser bis zum Hals steht, dass Freiberufler, dass Selbstständige, dass viele Kulturschaffende heute nicht mehr wissen, wovon sie morgen leben sollen. Vor diesem Hintergrund ist es ein Skandal, dass die Wirtschaftshilfen bei den Menschen nicht ankommen. Es ist ein Skandal, dass die Menschen nicht wissen, ob sie nach der Wiedereinführung der Insolvenzanmeldungsregelung in Zukunft überhaupt noch einen Arbeitsplatz haben werden. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es nicht allein um die Frage der Hilfen. Natürlich helfen Hilfen, und die Menschen nehmen die Hilfen auch in Anspruch. Aber was sie letzten Endes wollen, ist, dass sie wieder arbeiten können, soweit das mit der Pandemie vereinbar ist. Sie möchten eine Perspektive, damit sie heute schon planen können, wie sie in Zukunft arbeiten sollen. Da fehlt es dieser Koalition an einer Öffnungsstrategie, die Öffnung und Pandemiebekämpfung in einem denkt, und darauf weisen wir als FDP mit unserem Stufenplan seit gestern hier eindrücklich hin. ({0}) Wir brauchen diesen Stufenplan, weil die Inzidenzzahlen allein nicht ausschlaggebend sein können. Wir brauchen eine dynamische Diskussion über die Gefährdung durch die Pandemie. Wir brauchen eine Dynamik, die sich daran orientiert, wie sich auf der einen Seite das Infektionsgeschehen vor Ort tatsächlich entwickelt und wie sich auf der anderen Seite das Schutzniveau entwickelt. Wir müssen die Fortschritte beim Impfen mitdenken. Wir müssen die Versorgung der vulnerablen Gruppen mit Schutzmaßnahmen, beispielsweise FFP2-Masken oder intelligenten Technologien wie Luftfilteranlagen, mitdenken. Wir müssen natürlich das Vorhandensein der Kapazitäten der Intensivbetten mit in die Betrachtung ziehen. Wir müssen die Lockdown-Strategie ausweiten auf eine Lockdown- und Öffnungsstrategie, auf Öffnen und Pandemiebekämpfung in einem. Beides müssen wir in Zukunft zusammendenken. Denn die Leute brauchen eine Perspektive, ihr Geld auch wieder verdienen zu können. Sie möchten arbeiten. Sie möchten ihre Dienstleistungen anbieten. Das ist es, worum es jetzt gehen muss, und deshalb bitten wir Sie von der Koalition, endlich einmal Stellung zu beziehen und diesen Weg mit uns zu gehen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Kober. – Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kober, es wird noch ein bisschen dauern, bis wir tatsächlich unser normales ökonomisches Leben wieder komplett zurückhaben werden. Bis dahin haben wir noch schwierige Zeiten vor uns, und durch diese schwierigen Zeiten schaffen wir es nur gemeinsam. Uns fällt es allen manchmal ganz schön schwer, uns an alle Regeln zu halten. Aber besonders schwierig ist es für die Leute, bei denen dann noch finanzielle Existenzsorgen hinzukommen und bei denen es wirklich an die Substanz geht. Deswegen ist es gerade in diesen Zeiten besonders wichtig, dass wir wirklich allen Menschen das Existenzminimum garantieren. Denn Angst essen Seele auf, und deswegen müssen wir Existenzängste beseitigen, soweit es geht. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schon letztes Frühjahr als Grüne darauf aufmerksam gemacht, dass das Kurzarbeitergeld in Fällen, bei denen das Einkommen nicht sehr hoch war, nicht ausreicht. Kurzarbeitergeld ist eine Supermaßnahme und hat dafür gesorgt, dass wenig Menschen entlassen worden sind. Die Höhe der Leistung ist gut für Menschen, die ein hohes Einkommen haben, oder wenn die Arbeitszeit nur gering reduziert wird. Aber bei den anderen Gruppen reicht es nicht. Bei geringen Einkommen sind selbst die 80 Prozent, die die Große Koalition beschlossen hat, zu wenig. Nach sechs Monaten ist es für alle zu spät. Deswegen brauchen wir Maßnahmen, die den Menschen sofort helfen. ({1}) Wir haben vor einem Jahr einen Vorschlag gemacht, den wir „Kurzarbeitergeld Plus“ genannt haben, weil uns der Vorschlag der Linken „Einfach 90 Prozent für alle“ nicht überzeugt hat; das war uns nicht zielgenau. Wir haben gesagt: Im unteren Einkommensbereich stocken wir auf bis zu 90 Prozent Lohnersatzrate auf. – Das wäre eine zielgenaue Maßnahme gewesen, wäre es immer noch. ({2}) Da gab es zwei Gegenargumente aus der Großen Koalition. Das eine war: Das ist ja viel zu kompliziert. – Und dann haben Sie eine Lösung gemacht, zu der die Experten im Ausschuss gesagt haben, dass sie viel komplizierter ist als das, was wir vorgeschlagen haben. ({3}) Das andere war – und das hat der Kollege Rützel eben wiederholt –: Die Leute können doch zum Jobcenter gehen und Arbeitslosengeld II beantragen. – Ja, das können sie, darauf haben sie eigentlich ein gutes Recht; aber sie machen es nicht. Das sehen wir jetzt an den Zahlen: Die Selbstständigen machen es nicht, und die Menschen mit geringem Kurzarbeitergeld machen es auch nicht. Deswegen müssen wir da tatsächlich über andere Lösungen nachdenken. Die Jobcenter sind im Wesentlichen für Arbeitslose gedacht, und die Hürden – auch die jetzt geringeren Hürden für die Selbstständigen und für die Kurzarbeitenden – sind immer noch zu hoch. Wir brauchen Lösungen, die die Erwerbstätigen so absichern, dass sie nicht zum Jobcenter gehen brauchen. ({4}) Da liegt nun ein Vorschlag von NGG und Verdi vor, über den wir jetzt noch mal neu diskutieren können. Da haben wir vielleicht auch eine Chance. Zumindest ein Teil der Koalition ist davon schon überzeugt. Ich zitiere mal aus einer Meldung auf der Seite der CDA von vorgestern. Da steht: Für die CDA ist klar: Niemand soll wegen Corona zum Sozialamt gehen müssen. Wir wollen für alle ein Einkommen auf Mindestlohn-Niveau sichern. Deshalb brauchen wir ein Mindest-Kurzarbeitergeld. ({5}) Erreicht der oder die Beschäftigte mit dem Kurzarbeitergeld kein Einkommen über dem Mindestlohn, dann soll die Bundesagentur für Arbeit … das Kurzarbeitergeld auf diesen Betrag aufstocken.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Mindest-Kurzarbeitergeld kann so unbürokratisch Hilfe schaffen. Sehr gut! Hätte ich nicht besser formulieren können!

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, auch Zitate werden Ihrer Redezeit zugerechnet.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt geht es nur noch darum: Überzeugen Sie die eigenen Leute, überzeugen Sie die SPD, überzeugen Sie die Regierung. Uns haben Sie dabei auf Ihrer Seite, und der Kollege Whittaker kann jetzt gleich damit anfangen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Kai Whittaker. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen bei der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin ist es deutlich geworden – auch unser Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus hat es ganz klar hier formuliert –: In dieser Krise versuchen einige Parteien, aus dieser Pandemie parteipolitisches Kapital zu schlagen. ({0}) Und da machen Sie von der Linksfraktion heute mit diesem Antrag leider keine Ausnahme. Anders kann ich mir diesen Antrag nämlich wirklich nicht erklären. Sie weichen ja mit Ihrem Antrag heute maßgeblich von dem ab, was Sie vor knapp einem Jahr hier an gleicher Stelle vorgeschlagen haben; Kollege Strengmann-Kuhn hat es sogar schon etwas ausgeführt. Da ging es um 90 Prozent Mindestkurzarbeitergeld für alle. Sie erklären aber gar nicht, warum Sie jetzt, ein Jahr später, auf einmal weniger fordern als vor einem Jahr. Ich finde das bemerkenswert für eine Linke, die eigentlich sonst immer sozial mehr möchte. ({1}) Zum Zweiten. Nicht nur Sie haben ja dieses Mindestkurzarbeitergeld gefordert. In der Tat haben auch wir – Herr Strengmann-Kuhn hat es ja gerade gesagt – in Teilen etwas gefordert, was in eine ähnliche Richtung geht. Und wir haben das deshalb gemacht, weil uns das Lohnabstandsgebot wichtig ist, nämlich dass jemand, der in Arbeit ist und dann in die Kurzarbeit fällt, im Zweifel mehr haben sollte als jemand, der vorher gar nicht gearbeitet hat. Dieses Credo gilt nach wie vor. Wir haben zu diesem Thema letztes Jahr Diskussionen geführt – auch mit unserem Koalitionspartner –, und da hat der Deutsche Gewerkschaftsbund sich ganz klar dagegen ausgesprochen, so ein Mindestkurzarbeitergeld zu machen, und hat stattdessen auf höherem Kurzarbeitergeld bestanden. Auch die Bundesagentur für Arbeit und die IG Metall haben vor einem Bürokratiemonster gewarnt. – Das gehört hier zur Wahrheit dazu. ({2}) Deshalb haben wir uns darauf verständigt, eine Kombination aus der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes und einem vereinfachten Zugang zum SGB II zu machen. Der Grund, Herr Strengmann-Kuhn, weshalb heute zum Beispiel Selbstständige zu selten diesen einfachen Zugang zum SGB II nutzen – das sagt zumindest die BA –, liegt darin, dass es in vielen Fällen eben noch ein Partnereinkommen gibt, das anrechnungsfähig ist, und das ist auch richtig, Herr Strengmann-Kuhn. Da können Sie nicht sagen, dass es nicht funktioniert; denn es funktioniert, wie wir es uns gedacht haben. ({3}) Und dann muss ich auch ganz klar sagen: Sie kommen mit Ihrem Antrag auch ein bisschen hinterher wie die alte Fastnacht, wie man bei uns sagt. Denn bis wir das jetzt eingeführt hätten und dann den Menschen ausgezahlt hätten, wäre die Pandemie vorbei, hätte ich fast gesagt – wahrscheinlich nicht –; es käme noch viel später ({4}) und würde den Menschen im Zweifel nicht mehr helfen. Wir wollen den Menschen bis dahin eine Perspektive geben, wieder in Arbeit zu kommen und nicht ewig in Kurzarbeit zu bleiben. ({5}) Sie suggerieren, dass wir damals dagegen waren. Das stimmt, aber nicht nur aus diesem einen Grund. Sie haben damals noch viele andere Dinge in Ihrem Antrag gefordert, nämlich dass es Staatsbeteiligungen geben soll, dass es einen Kündigungsschutz für ein Jahr geben soll, nachdem man aus der Kurzarbeit wieder in reguläre Arbeit gegangen ist. Das sind alles Dinge, die mit uns nicht zu machen waren, und deshalb haben wir aus guten Gründen dem Ganzen nicht zugestimmt. Und wir konnten Ihren Antrag auch nicht ernst nehmen. Aber wenn ich mir Ihre gesamte Cononapolitik anschaue – auch da, wo Sie in Verantwortung sind, allen voran Ihr Ministerpräsident in Thüringen, der lieber „Candy Crush“ spielt, als bei der Ministerpräsidentenkonferenz zuzuhören –: Man kann Ihre Politik schlicht und ergreifend nicht ernst nehmen. ({6}) Sie versuchen, uns in eine sozial kalte Ecke zu stellen, ({7}) und das lasse ich Ihnen nicht durchgehen, das lassen wir Ihnen als Große Koalition nicht durchgehen; denn wir haben gehandelt. Ich wiederhole es gerne noch mal – ich habe es im Dezember gemacht, und ich mache es mit Freude noch einmal –: Wir haben den Kinderbonus eingeführt – 300 Euro letztes Jahr, wir werden noch mal 150 Euro geben –, wir haben den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende für zwei Jahre auf 4 008 Euro aufgestockt. Wir haben die Lohnfortzahlung für Eltern verlängert. Wir haben das Kurzarbeitergeld, wie gesagt, verlängert und erhöht. Wir haben einen vereinfachten Zugang ins SGB II geschaffen. Wir haben das BAföG ausgezahlt, trotz Unischließungen. Wir haben Überbrückungshilfen für soziale Einrichtungen gewährt, insbesondere für Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten, für die Kinder- und für die Jugendbildungswerke. – All das sind richtige und gute Maßnahmen, und deshalb verfängt Ihre Politik nicht, zu sagen, wir hätten keine Ahnung von Sozialpolitik. Mit Blick auf den heutigen Tag – auf Altweiberfastnacht und auch auf den knallroten Anzug des Kollegen Birkwald – kann ich nur mit einem unbekannten Philosophen antworten: Karneval in Köln ist wie Kommunismus: Alles säuft, keiner arbeitet. Aber wir von den Christdemokraten wissen, dass der Aschermittwoch droht, und dann muss wieder geschafft werden, und dafür arbeiten wir. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin in der Tat auch den Kolleginnen und Kollegen von den Linken dankbar, dass sie uns durch ihren Antrag heute eine sozialpolitische Debatte im Plenum ermöglicht haben und dass wir gemeinsam die Freude hatten und haben, den Kollegen Matthias W. Birkwald im Karnevalsanzug zu sehen, der als Rheinländer offenbar besonders unter dem Verlust von Karneval leidet. ({0}) Darüber hinaus ist Ihr Antrag allerdings, was das Timing angeht, nicht besonders überzeugend, weil die Debatte in der Tat eigentlich schon vor Monaten geführt wurde und hier auch unterschiedliche Positionen dargestellt wurden. In der Tat hat die Koalition sich für ein anderes Modell entschieden. Ich will aber noch mal sagen, was wir damals als Freie Demokraten auch hier im Plenum gesagt haben – da sind wir uns grundsätzlich einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen –: Wenn man sich entscheidet, an das Thema Kurzarbeitergeld ranzugehen, also die Sätze in der Krise zu erhöhen – und dafür haben Sie sich entschieden –, dann macht natürlich, gerade wenn man es so begründet, wie Sie es schriftlich begründet haben – wir haben Ihr Gesetz genau gelesen; da stand als Begründung für die Erhöhung des Kurzarbeitergelds, man wolle den Grundsicherungsbezug von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vermeiden, und dem haben Sie, lieber Kollege Rützel, zugestimmt –, eine Differenzierung nach Laufzeit viel weniger Sinn als eine Differenzierung nach Einkommenshöhe und es wäre richtig, eher die Menschen mit geringem Einkommen mit einem höheren Kurzarbeitergeld zu versehen; denn anders macht das keinen Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({1}) Ich will im Sinne der schönen parlamentarischen Tradition, im Laufe einer Debatte auf Vorredner einzugehen, auf einen zweiten Aspekt eingehen. Lieber Kollege Heilmann und lieber Kollege Kai Whittaker, die von Ihnen und euch hier genannte Begründung, warum ihr das entschieden habt, ist natürlich nicht parlamentarisch integer. Man kann der Meinung sein, man will das so, weil der DGB das mehrheitlich so wollte, aber zu sagen, es würde ein Bürokratiemonster entstehen, ist durch die Anhörung, die wir damals hatten, ad absurdum geführt. Wir haben die BA gefragt, und die BA hat uns gesagt: Der Prozess ist so, dass sie sowieso jeden einzelnen Antrag, jede einzelne Betroffene, jeden einzelnen Betroffenen jeden Monat anschaut. Der Aufwand ist nicht größer, wenn sie nach Laufzeit statt nach Lohnhöhe differenzieren. Das hat die Anhörung klipp und klar ergeben. ({2}) Also bitte: Führen Sie hier ehrliche Erklärungen an, und versuchen Sie nicht, uns parlamentarisch in die Irre zu führen. ({3}) Aber das ist Klagen über vergossene Milch. Sie haben sich entschieden, das so zu machen, und man kann nur das eine oder das andere machen, wenn man an das Kurzarbeitergeld rangeht. Ich will deshalb als zweiten Punkt auf einen Aspekt eingehen, der in dieser Debatte auch deutlich wurde. Der Kollege Rützel hat gesagt, die Menschen hätten Zurückhaltung, Grundsicherung zu beantragen. Der Kollege Whittaker hat darauf hingewiesen, dass das für viele Menschen, insbesondere für die vielen Selbstständigen in unserem Land, die Sie auf die Grundsicherung verweisen, nicht stimmt; vielmehr ist der Hintergrund dafür, dass oft Partnereinkommen vorliegen. Nur: Das unterstreicht doch noch mal, dass der Verweis auf die Grundsicherung für die zweite Gruppe, die wir neben den Angestellten auch im Blick haben müssen, nämlich die Selbstständigen und die Unternehmer, nicht passt. Ich habe es hier schon mehrfach gesagt, aber als ceterum censeo muss man es leider so oft sagen, bis sich etwas ändert: Es geht nicht, dass Sie die Selbstständigen in dieser Gruppe so im Regen stehen lassen. Bis heute gibt es keine adäquaten Hilfen. Sie haben für Angestellte die Regeln in der Krise verändert, weil diese Krise besonders ist.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Selbstständigen verweisen Sie seit Monaten aufs Jobcenter, weil alles, was Sie bisher angekündigt haben, faktisch sehr vielen Menschen nicht zur Verfügung steht. Letzter Satz, Herr Präsident. Wenn man sich anschaut, welche Mails, welche Rückmeldungen man nach den gestrigen Beschlüssen so bekommen hat, welche Verzweiflung dort herrscht, wie sehr bei den Menschen wirklich etwas zerbricht. Sie sagen: Es kann nicht sein, dass die Politik uns –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, bitte!

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– aus Gründen der Pandemie das Geschäft verbietet, aber uns dafür nicht entschädigt. – Hier wird deutlich: Dieses Thema müssen Sie endlich anpacken, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Eine Schande, wie mit den Selbstständigen umgegangen wird! Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Daniela Kolbe. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut und ich bin über jede Debatte dankbar, in der wir über diejenigen sprechen, die einerseits hart von der Pandemie getroffen sind und andererseits auch noch wenig Geld haben. Ich glaube, dass es uns allen guttut, wenn wir genau hinschauen und viel darüber reden und an die Friseurinnen und Friseure nicht nur deshalb denken, weil wir sie schmerzlich vermissen, sondern auch, weil sie zu Hause sitzen und eine harte Zeit durchmachen, und uns an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gastro- und im Hotelgewerbe nicht nur erinnern, weil sie uns viele schöne Abende beschert und dazu beigetragen haben, dass wir uns wohlgefühlt haben, sondern auch wahrnehmen, dass sie und ihre Familien gerade eine echt schwere Zeit durchmachen. ({0}) Natürlich habe auch ich den Brief von NGG und Verdi wahrgenommen und eine sehr starke Grundsympathie empfunden; denn, ja, jeder Beschäftigte sollte ein vernünftiges Einkommen haben, und zwar auch in Krisenzeiten. Deswegen setzen wir uns als SPD dafür ein, dass es endlich einen Mindestlohn von mindestens 12 Euro gibt, und dafür, dass es endlich mehr Tariflöhne gibt, gerade in diesen Branchen. ({1}) Offensichtlich ist es so, dass mit dem aktuellen Kurzarbeitergeld alleine viele Menschen in den erwähnten Branchen nicht über die Runden kommen. Wie kann also eine gute Regelung aussehen, die nützt, funktioniert, nicht zu kompliziert ist und dann auch noch keine neuen Ungerechtigkeiten schafft? Das ist eine sehr schwierige Frage; das ist hier in der Debatte durchaus klar geworden. Ich fürchte nur, dass die Antwort nicht ganz so einfach ausfallen kann, wie das in dem Brief von NGG und Verdi skizziert wird. Aber noch mal von vorne: Das Kurzarbeitergeld in Deutschland ist ein riesiges Erfolgskonzept, erfunden übrigens von Olaf Scholz; das so nebenher. ({2}) Es ist vielfach kopiert worden, glücklicherweise; denn es hilft dabei, ganze Volkswirtschaften davor zu bewahren, zu kollabieren, und auch wir haben etwas davon, wenn andere Volkswirtschaften nicht kollabieren. Wir als SPD mit Hubertus Heil haben uns angestrengt, die Bezugsdauer zu verlängern. Andere haben uns noch gesagt, wir würden die Lage schlechtreden, als wir die Dauer des Bezugs des Kurzarbeitergeldes verlängert und auch die Rahmenbedingungen verbessert haben. Die SPD hat sich für massive Verbesserungen des Kurzarbeitergeldes eingesetzt und nach echt zähen Verhandlungen bis in den Koalitionsausschuss hinein – nur mal als Erinnerung – ({3}) eine ordentliche Anhebung für all diejenigen erreicht, die lange Kurzarbeitergeld beziehen. Es ist erwähnt worden: ab dem vierten Monat 70 Prozent bzw. 77 Prozent vom Netto, und ab dem siebten Monat 80 Prozent bzw. 87 Prozent des Netto. ({4}) Ja, wenn Sie uns fragen: Es wäre mehr denkbar gewesen. Und ja, wir hätten uns das durchaus unbürokratischer – um das Thema noch mal anzuschneiden – vorstellen können. Trotzdem: Erst mal ist das Kurzarbeitergeld ein großer Erfolg. Es kostet viel Versichertengeld; das ist aber gut angelegt. Ich möchte an dieser Stelle den BA-Mitarbeitenden ganz herzlich danken, die einen Hammerjob machen. ({5}) Ich möchte auch denjenigen Unternehmen danken, die das Kurzarbeitergeld für ihre Beschäftigten aufstocken. Ich glaube, dass die Unternehmer dabei gerade auf diejenigen Beschäftigten achten sollten, die wenig Einkommen haben, und prüfen sollten, ob nicht noch eine Aufstockung möglich ist. Aber für manche reicht das nicht. Das gilt für die Kurzarbeitenden, aber es gilt eben auch für viele Freelancer, Unternehmerinnen und Unternehmer, und es gilt – von denen ist noch gar nicht so richtig die Rede gewesen – für die geringfügig Beschäftigten. In ganzen Branchen hat man ja gesehen: Von einem Tag auf den anderen Tag war die geringfügige Beschäftigung weg, all die Beschäftigten natürlich nicht. Diese profitieren auch nicht vom Kurzarbeitergeld. Dann stellt sich die Frage: Wie geht man in einem so komplexen Sozialsystem an das Thema ran? Schafft man für jede Gruppe ein eigenes System – es geht darum, nicht gleichzumachen, was nicht gleich ist – und verursacht damit ganz automatisch gravierende Ungerechtigkeiten? Oder versucht man, es halbwegs einfach und durchschaubar zu machen? Und das ist das, worauf sich die Bundesregierung im Moment hat einigen können. Wir haben gesagt: Innerhalb dieses bestehenden Systems wollen wir erst mal alle, die jetzt in gravierende finanzielle Probleme gekommen sind, auf das System der Grundsicherung verweisen, aber nicht in Form eines gängelnden, kleinmachenden Systems – das wollen wir sowieso nicht mehr; wir als Sozialdemokraten wollen ein Sozialsystem auf Augenhöhe –, sondern als ein Zeichen der ausgestreckten Hand: Leute, es kommen wieder bessere Zeiten. Leute, wir versuchen, euch eine Brücke zu bauen und euch die schlimmsten Sorgen zu nehmen, nämlich umziehen zu müssen, sich die Wohnung nicht mehr leisten zu können, an das Ersparte ranzumüssen. – Deswegen haben wir den Zugang zur Grundsicherung massiv vereinfacht. Die Vermögensprüfung ist de facto ausgesetzt. Vermögen unter 60 000 Euro plus 30 000 Euro für jede weitere Person im Haushalt wird nicht berücksichtigt. Altersvorsorgeanlagen werden nicht berücksichtigt, und es wird nicht nach den Kosten der Unterkunft gefragt. Das ist eine ausgestreckte Hand, und ich finde, darüber müssen wir positiv reden; ({6}) denn was ich nicht möchte, ist, dass Menschen aus falscher Scham keine Grundsicherung beantragen. Ich sehe, wie meine Partei auch, die Probleme, dass Partnereinkommen dazu führen können, dass jemand keinen Zugang zu Leistungen gemäß SGB II hat, aber aufgrund sehr hoher Fixkosten sicherlich Hilfe bräuchte. Deswegen sage ich: Wir freuen uns auf die Debatte im Ausschuss darüber, wie man das Sozialsystem besser machen kann. Wir glauben nicht, dass es einfach mit einem Mindestkurzarbeitergeld getan ist. Aber glauben Sie uns: Wenn es darum geht, die Situation von Menschen zu verbessern, die gerade wenig Geld haben, dann sind wir an der Seite dieser Menschen. ({7}) Das sehen Sie auch daran, dass wir den Kinderbonus auflegen. Das sehen Sie an den 150 Euro, die wir für Leistungsbezieher, und zwar möglichst viele, wollen. Das sehen Sie an den FFP2-Masken, die jetzt dank Hubertus Heil zur Verfügung gestellt werden, und das sehen Sie an den Laptops, Tablets usw., die für Menschen in der Grundsicherung, für die Kinder, jetzt zur Verfügung gestellt werden. ({8}) Also: Wir sind an der Seite dieser Menschen, und wir freuen uns auf diese wirklich komplizierte, aber notwendige Diskussion. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin: die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kober, Sie sollten vielleicht mal zur Kenntnis nehmen, dass es in Dänemark und in den Niederlanden viel höhere Löhne als in Deutschland gibt, zum einen. In Dänemark und in den Niederlanden gibt es zudem einen viel höheren Mindestlohn und eine wesentlich höhere Tarifbindung als in Deutschland. In Deutschland haben wir einen geringen Mindestlohn, der nicht vor Armut schützt, wir haben eine niedrige Tarifbindung, die sogar noch zurückgeht, und wir haben einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Das sind nämlich 25 Prozent der Arbeitnehmer, und um diese Menschen, die wenig verdienen, geht es heute. Das sollten Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen. ({0}) Viele Beschäftigte sind immer länger in Kurzarbeit, sie wissen nicht mehr, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. 60 oder 70 Prozent – nach dem dritten Monat – Kurzarbeitergeld von einem niedrigen Lohn – zum Beispiel im Einzelhandel, in der Gastronomie oder im Hotelgewerbe – sind einfach zum Leben zu wenig. Im Gastgewerbe verdient eine Vollzeitbeschäftigte 2 036 Euro brutto. Das ergibt bei einem 100-prozentigen Arbeitsausfall ein Kurzarbeitergeld von 864 Euro. Das sind fast 600 Euro weniger als das reguläre Einkommen; 600 Euro weniger, das ist viel Geld, meine Damen und Herren. Beschäftigte bräuchten ein Bruttogehalt von 2 450 Euro, um überhaupt ein Kurzarbeitergeld von 1 000 Euro zu bekommen. Über 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte in Deutschland arbeiten im Niedriglohnbereich und haben weniger als 2 267 Euro brutto im Monat zur Verfügung; und diese Kolleginnen und Kollegen bekommen also nicht einmal 1 000 Euro Kurzarbeitergeld. Das ist doch eine soziale Schieflage sondergleichen! ({1}) Meine Damen und Herren, das müssten Sie doch auch erkennen: Wir brauchen endlich höhere Löhne in Deutschland; denn das ist die Grundcrux hier. ({2}) Meine Damen und Herren der Bundesregierung, Sie produzieren hier Armut am laufenden Band. Aber es ist doch völlig klar – das müssen Sie doch auch sehen! –: Das Kurzarbeitergeld muss endlich rauf. 60 Prozent sind viel zu wenig! ({3}) Hier wurde gefragt, warum viele nicht einfach zum Jobcenter gehen und Hartz IV beantragen. Weil die Kolleginnen und Kollegen ihr Erspartes aufgebraucht haben – manche haben gar kein Erspartes – und von dem bisschen Geld leben, was sie zur Verfügung haben. Sie machen hier die Fachkräfte zum Sozialfall. Ich finde, das kann so nicht weitergehen. Deshalb brauchen wir eine Haltelinie nach unten. ({4}) Meine Damen und Herren, deswegen ist es richtig, dass Die Linke heute ein Mindestkurzarbeitergeld von 1 200 Euro fordert. Das andere Kurzarbeitergeld muss rauf auf 90 Prozent, dass die Leute wirklich ihren Lebensstandard halten können. Stoppen Sie endlich die Rutschbahn nach unten in Armut! Helfen Sie den vielen verzweifelten Menschen! Sonst droht uns hier eine soziale Katastrophe. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für Bündnis 90/Grüne ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie, die Regierungsfraktionen, wollen, dass die Menschen der Politik vertrauen, wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht, wenn Sie wollen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auch in dieser jetzt schwierigen Zeit tatsächlich bestehen bleibt, dann müssen Sie, die Regierungsfraktionen, die Beschäftigten, die beruflich von den Coronamaßnahmen betroffen sind, mit dem Kurzarbeitergeld tatsächlich finanziell absichern, und zwar nicht nur ein bisschen und auch nicht erst ab dem vierten oder siebten Monat – die Beschäftigten brauchen Sicherheit, und zwar sofort, ihre Sorgen und Nöte müssen ernst genommen werden! Alles andere ist in Zeiten von Corona nicht nachvollziehbar. Deshalb ist die Forderung nach einem Mindestkurzarbeitergeld genau richtig. ({0}) Es macht doch überhaupt keinen Sinn, dass die Beschäftigten zum Jobcenter rennen müssen, es wäre doch viel einfacher, das Kurzarbeitergeld auf ein Mindestniveau aufzustocken. Außerdem darf es auch nicht sein, dass die Menschen in dieser Situation Hartz IV beantragen müssen, vielleicht zum ersten Mal. Wer aufgrund von Coronamaßnahmen nicht arbeiten kann, muss doch mindestens ein Kurzarbeitergeld in Höhe des Mindestlohns bekommen. Das Gleiche gilt übrigens auch für Soloselbstständige; da ist das Stichwort „Unternehmerlohn“. Alles andere geht gar nicht. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. ({1}) Eigentlich müssten wir heute über ganz andere Themen diskutieren. Das eigentliche Problem ist doch, dass die Menschen, beispielsweise im Dienstleistungsbereich, viel zu wenig verdienen. Ein Grund dafür ist, dass die Tarifbindung immer weiter abnimmt. Ohne Tarifvertrag gibt es weniger Lohn, und die Menschen profitieren auch nicht davon, wenn durch einen Tarifvertrag das Kurzarbeitergeld aufgestockt wird. Aber genau diese Themen: prekäre Beschäftigung, Niedriglohnbereich, sinkende Tarifbindung, diese Themen haben Sie, die Regierungsfraktionen, in dieser Legislaturperiode komplett ignoriert; hier ist – außer bei der Fleischindustrie – nichts passiert. Die Coronakrise trifft aber genau die Menschen, die wenig verdienen, besonders hart, und genau das müssen Sie verändern. ({2}) Der Handlungsbedarf ist bekannt: Der Mindestlohn ist zu niedrig und muss kräftig erhöht werden. Und ganz wichtig ist, dass die Tarifbindung endlich gestärkt wird. Das sind die wichtigen Themen, die tatsächlich anstehen. In einem ersten Schritt geht es aber jetzt darum, eine schnelle, verbindliche, pragmatische Lösung, die Verdi und NGG vorgeschlagen haben, umzusetzen. Bringen Sie ein Mindestkurzarbeitergeld auf den Weg! Das hilft den Menschen sofort, und das ist gerade jetzt, in dieser besonders schwierigen Coronaphase, genau das Richtige. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Jana Schimke. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es mal deutlich zu machen: Unsere Aufgabe hier ist es nicht, Gewerkschaftspolitik umzusetzen, ja? Also: Wir haben eine Verantwortung dem gesamten Land gegenüber und werden selbstverständlich alle Positionen, die es gibt, abwägen und miteinander diskutieren. Ich finde es immer ein bisschen befremdlich, wenn sich manche hierhinstellen und sagen: Oh, Verdi und NGG haben das gesagt; das müssen wir jetzt tun. – Was würden Sie denn sagen, wenn ich hier sagen würde: „Oh, der BDI hat mit mir gesprochen, und jetzt werden wir das mal so machen?“ ({0}) Na, da hätte ich doch den Applaus – das weiß ich doch –, aber selbstverständlich! Nein, so kann das doch nicht laufen, meine Damen und Herren! ({1}) Folgende Gedanken zu Ihrem Vorschlag eines Mindestkurzarbeitergeldes. Also, meine Damen und Herren, man muss ja eines festhalten: Letzten Endes greifen bei einem geringen Lohn und der Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld und der Situation, dass es dann am Ende nicht reicht, dieselben Mechanismen wie bei allen anderen Menschen in diesem Land, die bedürftig sind. Man muss natürlich zum Sozialamt gehen – das ist richtig –, man muss Hilfen beantragen, im Rahmen einer Aufstockung. Aber das fügt sich letztlich alles in unser sozialpolitisches Gerüst, so wie wir es bei allen sozialpolitischen Leistungen in unserem Land erleben. Die Höhe des Kurzarbeitergeldes in der ersten Zeit – 60 bzw. 67 Prozent – entspricht auch dem, was ein Arbeitsloser an Arbeitslosengeld I in diesem Land erhält. Ich weiß nicht, warum wir das anders machen sollen, warum wir das verändern sollen, warum wir – das hat Bernd Rützel zu Recht gesagt – jetzt eine Gruppe herausnehmen sollen und wieder neue Standards schaffen sollen. Das macht uns doch sozialpolitisch unglaubwürdig. Überlegen Sie doch mal! Wir machen das hier doch nicht alles zum Spaß, wir denken uns doch was dabei, und dazu zählen natürlich auch bestimmte Normen und Werte und die Höhe der Gelder, die wir auszahlen. Da können wir doch nicht hier so und da anders agieren; das funktioniert nicht, das halte ich nicht für glaubwürdig. Nächster Punkt: die Sozialpolitik in der Coronakrise. Ich glaube, wenn man uns eines nicht vorhalten darf, dann ist es, dass wir für Bedürftige in diesem Land nichts getan haben. ({2}) Wir haben das Kurzarbeitergeld bereits aufgestockt – natürlich auch unter Kritik und bei Diskussion auch in unseren eigenen Reihen; das gebe ich ehrlicherweise zu. Aber wir haben etwas getan. Wir haben es aufgestockt, ({3}) gerade für Menschen, die schon längere Zeit im Kurzarbeitergeldbezug sind. Also tun Sie nicht so, als wenn Sie hier völliges Neuland betreten und uns erst mal eine Erkenntnis vermitteln müssten! Die haben wir längst gewonnen, meine Damen und Herren. Die 450-Euro-Jobs – sofern jemand noch einen in dieser Weise ausübt – sind auch im Kurzarbeitergeldbezug anrechnungsfrei. Arbeitgeber bekommen unter bestimmten Voraussetzungen Sozialversicherungsbeiträge erstattet, und auch die Vermögensprüfung – die möglicherweise bei Geringverdienern weniger eine Rolle spielt; aber viele Menschen in diesem Land haben ein Häuschen – bei der Inanspruchnahme von sozialen Leistungen fällt nach aktueller Coronagesetzgebung weg. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich frage Sie mal: Wie wollen Sie das denn eigentlich alles finanzieren? Wollen Sie es über Beitragsgelder finanzieren? Dann weise ich Sie freundlichst darauf hin, dass die Rücklagen der BA bereits aufgelöst sind, bereits ausgegeben sind. Da ist nicht mehr viel da. Wollen Sie es mit Steuergeldern finanzieren? Dann erinnere ich gerne an die historische Schuldenmenge, die wir aufnehmen mussten coronabedingt, um viele Unternehmen in diesem Land zu retten, zu helfen, zu tun, was auch geht. Wovon wollen Sie das denn bezahlen? Das müssen Sie auch einmal vorlegen, um hier eine seriöse Politik zu machen. Ein letzter Gedanke, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Kurzarbeitergeld führt nicht in Bedürftigkeit, Arbeitslosigkeit sehr wohl. Ich gebe Ihnen in einem Gedanken recht. Sie sagen in Ihrem Antrag: Die Pandemie ist existenzgefährdend. – Das ist richtig. Deswegen geben wir uns solche Mühe, und deswegen wollen wir auch, dass unsere Unternehmen erhalten bleiben und nicht in die Insolvenz gehen, dass sie auch morgen noch existieren und dass die Menschen auch morgen noch ihren Arbeitsplatz haben. Mein Verständnis von Politik ist es – da unterscheiden wir uns maßgeblich voneinander –, wirtschaftspolitische oder soziale Missstände nicht einfach nur zu verwalten. Nein, wir wollen da heraus, wir wollen etwas ändern. Wir wollen, dass sich die Situation verbessert. Wir doktern nicht an Symptomen herum, wir gehen die Ursachen an. Dazu zählt, gerade in den jetzigen Tagen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, wieder zu arbeiten. Dazu gehört das Impfen. Dazu gehört eine gute Strategie heraus aus dem Lockdown. Darüber diskutieren wir auch heftig, und das geht auch weiter. Schleswig-Holstein fängt damit an, wie ich gerade im Ticker gelesen habe. Es freut mich, dass die Gartencenter ab dem 1. März in Schleswig-Holstein wieder aufmachen. So muss das sein, so muss das funktionieren, und nicht anders wird es gehen, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Jana Schimke. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Aumer. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute schon den ganzen Tag über die Verlängerung des Lockdowns, über die Pandemie, die wir mittlerweile einigermaßen in den Griff bekommen haben, aber natürlich auch über den Druck, der in unserer Gesellschaft herrscht, über die Auswirkungen in der Wirtschaft, bei den Arbeitnehmerinnen und bei den Arbeitnehmern, bei den Familien und in vielen anderen Bereichen, auch in den Krankenhäusern. Herr Kollege Sichert, wenn Sie davon sprechen und sagen: „Geben Sie den Menschen die Würde zurück“, dann würde ich Sie gerne einladen, bei mir im Wahlkreis in eine Klinik zu gehen. Ich war in einer Intensivstation, und ich habe die Würde der Menschen gesehen, die wir vor diesem Virus nicht schützen konnten. Dann können wir uns beide einmal über den Begriff „Würde des Menschen“ unterhalten. ({0}) Man sollte nicht so leichtfertig, wie Sie das getan haben, über manche Dinge sprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die große Mehrheit dieses Hauses eint ein Ziel: dass sich dieser fürchterliche Virus nicht weiter verbreitet, sondern dass er eingedämmt wird, dass wir die Folgen einigermaßen minimieren können. Nachdem ich mir die Debatte heute angehört habe, sage ich: Das ist kein deutscher Sonderweg, dieser Virus ist kein deutsches Phänomen, sondern der ist weltweit unterwegs. Ich glaube, das sollten wir uns manchmal auch ein klein bisschen ins Gedächtnis rufen. Wir haben in dieser schwierigen Zeit als Regierungskoalition, aber auch als Bundesregierung verantwortungsbewusst gehandelt. Wir haben schnell Entscheidungen getroffen. Vor einem Jahr haben wir etwas auf den Weg gebracht, wo die Linken jetzt aufwachen und sagen, na ja, da könnten wir vielleicht wieder etwas anderes tun. Unser Fraktionsvorsitzender und auch unser Vorsitzender der Landesgruppe haben heute aufgezeigt, was wir tun müssen: Wir müssen einen Weg aus der Krise aufzeigen und den Menschen mit auf den Weg geben, wie man es denn schaffen kann, wieder in Arbeit, wieder in ein normales Leben zu kommen. Deswegen war es für uns wichtig, dass wir sowohl auf den gesundheitspolitischen Aspekt als auch auf die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen ein Augenmerk legen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist verantwortungsvolle Politik. Das ist soziale Marktwirtschaft. Deswegen haben wir mit unseren Hilfs- und Sozialschutzpaketen zielgenau Härten abgemildert. Dazu gehört ganz zentral das Kurzarbeitergeld. Zum einen haben wir damit Arbeitsplätze erhalten, zum anderen in vielen Bereichen Existenzen abgesichert. Ich glaube, man muss immer beide Seiten der Medaille sehen. Die Zahlen sind vorher genannt worden. Zeitweise waren 6 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Insgesamt wurden im Jahr 2020 22,1 Milliarden Euro für das Kurzarbeitergeld ausgegeben. Das sind so Selbstverständlichkeiten; aber wenn man sich die Zahlen vor Augen führt, dann ist das doch eine riesige Summe. Bei einer Bezugsdauer – die Kollegen haben es vorher schon angesprochen – von sieben Monaten werden mittlerweile 80 Prozent oder bei Familien mit Kindern 87 Prozent des Nettoentgeltes ausgezahlt. Die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes war richtig und wichtig. Ich denke, auch hier sind wir auf dem richtigen Weg. Dass im Januar die Zahlen erneut gestiegen sind, wir mittlerweile 2,6 Millionen Menschen in Kurzarbeit haben, muss uns natürlich zu denken geben und muss uns natürlich auch Auftrag sein, Antworten für die kommenden Wochen zu finden, wie es denn mit der Wirtschaft weitergeht. Aber was wir jetzt nicht brauchen, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, sind Debatten wie die, die wir heute führen. ({1}) – Warum? Weil die Debatte aufzeigt, dass Sie von der Linken gar nicht wissen, was Sie wollen. Meine Kollegen haben das vorher ausgeführt. Vor einem Jahr – – ({2}) – Das ist doch so. Oder wissen Sie nicht mehr, was Sie vor einem Jahr beantragt hatten? ({3}) Da wollten Sie noch 90 Prozent des Nettoentgeltes als Kurzarbeitergeld. Heute wollen Sie 1 200 Euro Mindestkurzarbeitergeld. – Ich lasse die Zwischenfrage nicht zu; da braucht der Präsident nicht zu fragen. ({4}) Ich denke, da sollten Sie als Linke sich auch einmal verantwortungsbewusst auf den Weg machen und uns nicht in der Phase hoffentlich kurz vor dem Ende des Lockdowns mit solchen Dingen beschäftigen. Es geht darum, wie wir in ein neues Leben zurückkommen, wie die Menschen wieder in Arbeit kommen, wie wir Arbeitsplätze sichern können. Das sind die Antworten, die die Menschen heute brauchen. Da müssen wir uns auf den Weg machen. Dazu lade ich Sie auch ganz herzlich ein. Wir, die Union, die CDU/CSU, machen das verantwortungsvoll. Wir haben die Menschen im Blick. Wir haben die Menschen im Blick, denen es nicht so gut geht. Wir entscheiden morgen über das Sozialschutzpaket III, womit wir genau diesen Menschen die Möglichkeit geben, in dieser schwierigen Phase gut durch die Pandemie zu kommen; denn wir brauchen zwei Dinge in unserem Land. Das sind Verlässlichkeit und Vertrauen in die Politik. Das ist sicherlich nicht ganz so einfach. Dazu gehören Opposition und Regierung; denn manches, was die Opposition macht, ist dieser Debatte nicht förderlich. Wir müssen in unserer Verantwortung den Menschen zeigen, dass das, was wir hier entscheiden, auch ankommt. Deswegen bin ich sehr froh, dass die Überbrückungshilfe III für die Unternehmen jetzt schnellstmöglich beantragt und ausbezahlt wird, dass wir morgen das Sozialschutzpaket auf den Weg bringen und dass wir hoffentlich gemeinsam den Menschen Perspektiven geben, aus dieser schwierigen Situation herauszukommen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ihren Antrag lehnen wir ab. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Peter Aumer. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie die Zeitung „Die Welt“ berichtet, hat die Regierung beim Coronagutachten im März 2020 das gewünschte Ergebnis schon gleich mit vorgegeben: eine möglichst bedrohliche Darstellung – nach dem Typus: „Finden Sie heraus, dass Folgendes der Fall ist“. Die Absicht war, statt rein wissenschaftlicher Information sich vor allem Legitimation einzuholen für repressive politische Maßnahmen. Das Ziel sei eine Schockwirkung mit einem Horrorszenario: Über 1 Million Menschen in Deutschland sterben zu Hause qualvoll um Luft ringend. Es ging nicht um wissenschaftliche Fundierung, sondern – getreu Greta –: I want you to panic! Unsere Nachfrage im Innenausschuss, ob man die Korrespondenz mit den Experten – vielleicht ja entlastend – veröffentlichen könne – sie liegt der „Welt“ vor –, wurde geflissentlich überhört. Ein wohl vielsagendes Schweigen, meine Damen und Herren. ({0}) Diese Regierung ordnet nie dagewesene Freiheitseinschränkungen an, eben gerade ohne jeweils präzise abzuleiten, wie notwendig das wirklich ist zur Aufrechterhaltung unseres Gesundheitssystems, zum Schutz der Bevölkerung in einer Infektionslage. Zu fordern ist doch die Angemessenheit, die Zielgenauigkeit solcher auch zerstörerischen Maßnahmen. Hat die Regierung sich bemüht, herauszufinden, ob Kulturveranstaltungen mit Hygienekonzept wirklich die Spreader-Events sind? Ist es angemessen, Schul- und Kitakinder zu Hause wegzusperren, Restaurant- und Geschäftsinhaber in den Ruin zu treiben, die unter Beachtung aller Hygieneregeln versuchen, ihr Geschäft – häufig ihr Lebenswerk – zu retten, und Ende Januar noch auf ihre Novemberhilfen warten? Hat hier überall Augenmaß gewaltet? Ist ein Inzidenzwert von 50 überhaut wissenschaftlich begründbar? All das hätte man herausfinden müssen, wenn man dafür Grundrechte abschafft. Aber nichts davon ist geschehen. Stattdessen ordnet eine Kanzlerin – bekanntlich politisch sozialisiert in einer Diktatur – das alles einfach an mithilfe eines nicht verfassungsgemäßen Nebenparlaments. Und da ist für diese Regierung offenbar die spannendste Frage: Wie macht man da jetzt die Bevölkerung gefügig? Eine Ungeheuerlichkeit, meine Damen und Herren! ({1}) Der „Welt“-Bericht zeigt, das Argumentationsdefizit soll gerade durch Emotionalisierung überdeckt werden. Angstmache soll die Rechtfertigungslücke füllen. Von der Merkel’schen Beraterrunde werden kontrovers denkende Experten ausgeschlossen. Ein nicht ergebnisoffenes Gutachten wird bestellt, und die Beauftragten liefern. Man müsse eben „vom Ziel her“ argumentieren. Es gehe um den Eindruck eines starken staatlichen Interventionismus. Und liefert das RKI einmal eine geringere Todesrate, hat man einen anderen Weltweisen: Das RWI gibt den doppelten Wert an; dann nehmen wir doch den. Zitat: „lieber schlimmer als zu gut“. Man sieht: Was ein nüchternes wissenschaftliches Gutachten hätte sein sollen, reine Fakteninformation, wird schon bewusst politisch präformiert abgerufen, und dann wird auch gleich noch für diese schon bestellte, frisierte Faktenlage das Framing mitgereicht für die psychologische Durchsetzungskampagne. So viel Manipulation war selten, so viel Wille, die Bürger am Nasenring zu führen, auch, meine Damen und Herren. ({2}) Erschreckend, wie die Wissenschaft – der Goldstandard für Unabhängigkeit – hier von der herrschenden Politik dienstbar gemacht, für ein politisch vorgegebenes Ergebnis eingespannt wird. Ähnlich übrigens beim Verfassungsschutz. Die Regierung weist eine Behörde an, ein Gutachten gegen die Oppositionspartei zu erstellen, ({3}) das man dann als objektive, neutrale Stimme ausgeben will. Endgültiger Marschbefehl aus dem Innenministerium wird da gerade erwartet. Das reale Horrorszenario muss die Angstmacher beschämen: Jedes dritte Kind schon vereinsamt und psychisch auffällig, die Schüler haben ein Jahr verloren, Hunderttausende Unternehmen von Insolvenz bedroht, der Lockdown kostet jeden Monat zig Milliarden Euro, eine ganze Volkswirtschaft an die Wand gefahren. – Das ist im Gegensatz zum Seehofer-Papier keine Angstmache, das passiert gerade wirklich. Aber man will die Bevölkerung weiter an der Kandare halten, möchte, dass Corona bis zur Bundestagswahl Thema Nummer eins bleibt. Das ist ein zu hoher Preis für mit Panik erkaufte Umfrageprozente, meine Damen und Herren. ({4}) Fakt ist: Diese Bundesregierung kann ihre Grundrechtsverletzungen gar nicht konkret begründen. Der Griff zur Panikkeule ist da doch allzu bequem. Aber der Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel. Sie behandeln die Menschen wie unmündige Kinder, die Sie erschrecken und einschüchtern wollen. Wir wollen die sachlich nüchterne Diskussion, Maßnahmen mit Augenmaß ({5}) für unsere Wirtschaft, für unsere Kinder und den besonderen Schutz unserer Alten. Wir wollen die Menschen nicht mit Angst impfen, ({6}) sondern wieder mit Hoffnung. Unser alternatives Angebot steht bereit. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Astrid Mannes von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kennen das von der AfD: Vorwürfe gegen Lehrkräfte, sie würden politisch einseitig die Schüler indoktrinieren, ({0}) und als Reaktion darauf das Einrichten von Lehrermeldeportalen. Der AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Räpple hat eine Meldeplattform eingerichtet und Studierende dazu aufgefordert, AfD-kritische Professoren zu melden. Ausgerechnet von der AfD wird jetzt suggeriert, die Wissenschaft werde durch die Politik der Bundesregierung beeinflusst und unter Druck gesetzt. ({1}) Schon 2018 haben Sie in einer Kleinen Anfrage behauptet, dass die durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützte Wissenschaftsfreiheit in unserem Land ernsthaft gefährdet sei. ({2}) Sie nannten dann Beispiele, in denen Studenten ihnen unliebsamen Personen zum Teil gewaltsam den Zutritt zu Universitäten versperrt haben, die dort eine Rede halten wollten. ({3}) Die Freiheit der Wissenschaft genießt einen besonders hohen Schutz durch das Grundgesetz. Es ist geradezu das Wesen der Hochschulen und Universitäten, Ort des freien Austausches und der konkurrierenden Hypothesen zu sein. ({4}) Gerade im Studium sollen Studenten lernen, in den sachlichen und faktenbasierten Diskurs einzutreten. An Universitäten müssen daher alle Positionen, die nicht gegen die Verfassung verstoßen, mit intellektueller Offenheit diskutiert werden können. ({5}) Ein Unterdrücken oder gewaltsames Verhindern von Meinungsaustausch und Debatten widerspricht der Wissenschaftsfreiheit. ({6}) – Hören Sie doch einmal zu, und hören Sie auf, ständig nur dazwischenzupöbeln! ({7}) Solche Aktionen gegen Redner sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt und werden je nach Schwere der Tat auch geahndet. Der Staat handelt in solchen Fällen. ({8}) Wir verfolgen solche Entgleisungen an Hochschulen mit großem Missfallen und sehen das durchaus auch als Anlass zur Wachsamkeit. Wir erleben generell aber in unserer Gesellschaft, dass sich die Umgangsformen wandeln und die sachliche Debattenkultur zurückgedrängt wird. Die Hochschulen und Universitäten sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Das sind allgemeine Entwicklungen, bei denen man sich fragen muss, wie es zu diesen Veränderungen im Umgangsstil kommen konnte. Diese Entwicklung wird wohl nicht vom Regierungshandeln gesteuert. Diese Entwicklung wird durch die neuen Medien, derer sich auch die AfD sehr gerne bedient, befeuert. ({9}) Und wer im Glashaus sitzt, liebe AfD, der sollte nicht mit Steinen werfen. ({10}) Zu meinen, dieses Klima eines raueren und intoleranteren Umgangs miteinander bestehe isoliert nur an Hochschulen und resultiere aus dem wachsenden Einfluss der Politik auf die Vergabe von Drittmitteln und dem damit einhergehenden Konformitätsdruck, ist doch recht weit herbeigeholt. ({11}) Erst gestern hat uns in der Sitzung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung der Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Herr Professor Gerald Haug, unter Anwesenheit auch von AfD-Mitgliedern bestätigt, dass die Wissenschaft unabhängig und von der Politik bzw. Regierung unbeeinflusst arbeitet. ({12}) Politischen Druck auf Forschungsinstitute können wir klar verneinen. ({13}) Ich verweise hier auf das 2012 beschlossene Wissenschaftsfreiheitsgesetz, durch das die außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen mehr Eigenverantwortung und Freiheit erhalten haben. Ich möchte aber, Dr. Curio, zum Abschluss noch zu Ihren Anwürfen gegen Bundesinnenminister Seehofer einige Sätze sagen. Sie unterstellen viel, ohne dass Sie das beweisen können. Was wir aber wissen, ist, dass Professor Christoph Schmidt, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, erklärt hat, dass keine Empfehlungen für besonders restriktive Coronamaßnahmen auf Bestellung geliefert wurden und dass die Wissenschaftler der Politik durch ihren Rat in einer Situation gewaltiger Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung geholfen haben. Das ist etwas anderes, als sich für politische Zwecke einspannen zu lassen. Nichts deutet derzeit auf eine Abhängigkeit der Wissenschaftler von der Politik oder darauf hin, ({14}) dass Wissenschaftler sich haben instrumentalisieren lassen. – Entweder man legt Beweise auf den Tisch, oder man unterlässt solche Behauptungen. ({15})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Thomas Sattelberger von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu den wahren Wissenschaftsfeinden in diesem Hause, ({0}) die sich heute auf das hohe Ross der Forschungsfreiheit setzen und dieselben sind, die digitale Pranger gebaut haben, auf denen Studierende AfD-kritische Professoren verpfeifen sollen – ich schließe mich der Kollegin Mannes voll an –: Organisierte Denunziationen, das erinnert an dunkle Jahre in diesem Lande. ({1}) Wer das Wissenschaftszentrum Berlin verklagt, ({2}) um die Veröffentlichung freier Forschung über die AfD zu verhindern, der sitzt in dieser Aktuellen Stunde im Glashaus. ({3}) Die demagogischen Versuche der AfD sind so niederträchtig wie durchsichtig. ({4}) Weniger transparent sind einige Vorgänge im Bundesinnenministerium. Einerseits habe ich volles Verständnis, wenn sich der Bundesinnenminister, die Bilder von Bergamo vor Augen, auf ein Worst-Case-Szenario vorbereitet. Um Schaden von diesem Lande bestmöglich abzuwenden, muss man wissen, was einen im schlimmsten Fall erwartet. Deshalb ist es völlig richtig, sich von den besten Forscherinnen und Forschern beraten zu lassen. ({5}) Bedenklich ist es allerdings, ein Gutachten mit dem Ziel einer „gewünschten Schockwirkung“ – so zitiert in der „Welt am Sonntag“ am 7. Februar 2021 – in Auftrag zu geben. Genauso bedenklich wäre es, wenn Wissenschaftler ein solches Ziel über evidenzbasierte nackte Fakten stellen würden. Etwas gibt Anlass zur Sorge: das, was wir in der Presse über das Gebaren des Bundesinnenministers und seines Staatssekretärs Markus Kerber lesen. Drohkulissen aufzubauen, Herr Seehofer, wäre Ihres Amtes in unserer stolzen Demokratie nicht würdig. ({6}) Es scheint, als hätte nicht nur die Spitze des Ministeriums eine machiavellistische Grenze überschritten, sondern auch der eine und andere Forscher. Wissenschaftler dürfen nie vergessen, dass es zwischen ihnen und der Politik eine professionelle Rollenteilung gibt, eine Grenzziehung. Die Wissenschaft soll die ungeschönten Fakten liefern und erläutern, die Politik entscheidet. Das BMI sollte seinen kompletten E-Mail-Verkehr in dieser Frage transparent und ungeschwärzt offenlegen. So nämlich, Herr Kerber, lassen sich Zweifel ausräumen und Vorwürfe entkräften; so lässt sich Vertrauen herstellen. ({7}) Egal welche Untiefen dieser Vorgang womöglich noch offenlegt: Ohne Zweifel herrscht in Deutschland Wissenschaftsfreiheit – bei der Gender- und Klimaforschung zum Glück genauso wie in allen anderen Wissenschaftsdisziplinen auch. ({8}) Etwas einseitig mit vielen männlichen Akademikern älteren Kalibers hat sich jüngst das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet. Natürlich stellen wir Freien Demokraten uns sofort an die Seite eines und einer jeden, die freie Forschung und Lehre gegen ideologische Vorgaben oder Einschränkungen verteidigen wollen. Dazu zählt, dass man Vorlesungen unliebsamer Dozenten nicht durch Sitzblockaden verhindert und dass man Andersdenkende nicht verleumdet, sondern Cancel Culture entschieden entgegentritt. ({9}) Doch so wichtig es ist, solche Fälle zu benennen und abzustellen, müssen wir genauso klarstellen: Zwar steht die Wissenschaftsfreiheit hierzulande immer wieder unter dem Beschuss derer, die ideologisieren und instrumentalisieren wollen, aber wir haben keine systemische Schieflage. ({10}) Darüber wachen nicht zuletzt die demokratisch gesinnten Kräfte dieses Parlaments. ({11}) Das Wissenschaftssystem hat ganz andere Herausforderungen: seine Finanzierung, seine Innovationskraft, seine soziale Durchlässigkeit, seine Diversität. Hierauf sollten wir unsere Energie richten. In diesem Sinne – und das gilt heute nicht nur für Frau Karliczek –: Ran an den Speck! Danke schön. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an den Abgeordneten René Röspel von der SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“: Dieses in Artikel 5 des Grundgesetzes beschriebene Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen ist auch Ausdruck der Erfahrung aus der Nazizeit. Da hat es nämlich häufig die Situation gegeben, dass Forschung aus politischen Gründen verboten worden ist. Diese Situation darf nie wieder eintreten, und diese Situation werden wir auch verhindern. ({0}) Allerdings finden in diesem Hause wieder Debatten statt, die an alte Zeiten erinnern. Eines der wohl bekanntesten Beispiele aus der Nazizeit ist Magnus Hirschfeld, der Sexualforscher, der eine neue wissenschaftliche Richtung begründet hat, dann aber von den Nazis verfolgt wurde und fliehen musste und dessen Institut von den Nazis verboten worden ist. Ich muss sagen: Manche Reden in diesem Haus – gerade von der AfD – zur Geschlechterforschung und Genderforschung haben doch erstaunliche Parallelen zu einer Zeit, die wir jedenfalls nicht mehr wollen. ({1}) Die Forschungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz hat auch ihre Grenzen. Auch das ist eine Erfahrung aus der Nazizeit. Nicht nur die fürchterlichen Versuche von Josef Mengele an Menschen haben gezeigt, dass Forschung nicht grenzenlos sein kann und sein darf. Sie findet immer dort ihre Grenzen, wo sie andere Grundrechte berührt, zum Beispiel das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Artikel 2 ({2}) oder die Menschenwürde in Artikel 1, die nicht gegen andere Grundrechte abwägbar ist. Das ist gut so; das ist eine sinnvolle Regelung. Immer wieder wird auch hier darüber diskutiert, inwieweit Forschung grenzenlos sein kann. Das findet auf Basis einer breiten gesellschaftlichen, aber auch parlamentarischen Debatte statt. Wir haben solche Beispiele hier erlebt, zum Beispiel wenn es um Embryonenforschung, Tierschutz oder die gruppennützige Forschung an Kindern geht. Dann kommt die Forschungsfreiheit nach Artikel 5 allerdings tatsächlich in Konflikt mit anderen Grundrechten, und dann gilt es, eine Abwägung zu treffen. Diese Abwägung trifft dieses Haus in der Regel sehr gut, finde ich. Dann wird Forschung reglementiert, oder es werden sogar Verbote geschaffen, wie durch das Embryonenschutzgesetz. In dieser Zeit müssen wir eine Verwechslung der staatlich garantierten Forschungsfreiheit einerseits mit der Meinungsfreiheit andererseits wahrnehmen. Das kommt – das ist auch gerade schon gesagt worden – dadurch zum Ausdruck, dass sich ein Netzwerk Wissenschaftsfreiheit aus 70 Wissenschaftlern gegründet hat, die Forschungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit anmahnen, sich aber eigentlich auf Meinungsfreiheit beziehen. Tatsächlich werden Meinungsfreiheit und Forschungsfreiheit also miteinander verwechselt und manchmal vermischt. Man muss nämlich wissen: Ein Forscher darf sagen, was er will, weil er nicht nur Forschungsfreiheit, sondern auch Meinungsfreiheit hat, aber wenn er mit einer exponierten Meinung in die Öffentlichkeit tritt, muss er auch damit rechnen, dass er sich einer Diskussion ausliefert, und sich so stellen wie jeder andere Mensch eben auch. Das ist Ausdruck der gesetzlich und grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit. Die ist manchmal schwer zu ertragen. Aber wir stellen glücklicherweise fest, auch wenn es uns nicht immer passt, dass diese Meinungsfreiheit auch bundesverfassungsgerichtlich immer wieder bestätigt wird und die Hürden der Einschränkung sehr hoch sind. Wenn jemand allerdings politischen Druck auf Forschungsinstitute und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausübt, so wie das auch Teil dieser Debatte in der Aktuellen Stunde ist, dann ist das die AfD. Sie und Ihre Abgeordneten reden nicht nur immer wieder von einem Verbot von Forschung oder verächtlich über Forschung, ({3}) sondern Sie tragen auch Schilder, auf denen Wissenschaftler in Gefängniskleidung abgebildet sind. Wenn das nicht Angriff auf Persönlichkeitsrechte, Meinungsfreiheit und Forschungsfreiheit ist, dann weiß ich nicht, was man unter „Angriff“ sonst verstehen könnte. ({4}) Ich will auch ausdrücklich sagen, dass die Tatsache, dass die Debattenkultur, die, wie von Wissenschaftlern bemängelt wird, schlechter geworden ist – auch die gesellschaftliche Debattenkultur ist schlechter geworden –, im Wesentlichen an Ihnen liegt. ({5}) Das hat man gerade an der Rede und an Ihren Behauptungen gemerkt. Kein anderer in diesem Haus, keine andere Fraktion außer der AfD hat ein Interesse daran, dass diese Pandemie bis in den Herbst hineingeht. Was denken Sie sich? Und welche Sprache verwenden Sie hier? Sie wollen ablenken. Sie wollen vom Täter zum Opfer werden. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Das Spannende ist: Wenn Sie die Gelegenheit haben, in Videokonferenzen mit den Wissenschaftlern zu diskutieren, die Sie auf Schildern in Gefängniskleidung zeigen, dann schweigen Sie still, dann scheuen Sie die Debatte. ({6}) Da würde der große Philosoph Oliver Kahn sagen: Sie haben schlicht „keine Eier“. – Sie müssen wenigstens zu dem stehen, was Sie kritisieren, und das nicht hinterrücks machen. ({7}) Die SPD ist in ihrer Geschichte die Partei der Freiheit, und das verstehen wir auch für die Zukunft als Verpflichtung. Wir werden sie in jeder Beziehung verteidigen: als Forschungsfreiheit und als Meinungsfreiheit. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke. – Das Wort geht an Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Huch, habe ich gestern gedacht, der Titel dieser Aktuellen Stunde ist ja wirklich verlockend, mal tiefgründiger über Wissenschaftsfreiheit zu reden – und dann das. ({0}) Man reibt sich die Augen: Ausgerechnet die AfD, ausgerechnet dieses verhinderte Kompetenzzentrum hat diese Aktuelle Stunde beantragt. ({1}) Gerade die AfD hat doch immer wieder Nein gesagt: Nein zu unabhängiger Wissenschaft und Nein zu deren Erkenntnissen. ({2}) Das Schema der AfD ist immer wieder gleich. Es lautet schlicht: Wir wissen es besser, wir wissen alles besser. Wenn die Wissenschaft unsere Sicht der Dinge nicht teilt, dann kann das nur daran liegen, dass sie korrupt ist oder von bösen Mächten finanziert wird. Aber, meine Herren, so ist das eben nicht. Die AfD hält Klimaschutzpolitik für einen „Irrweg“. ({3}) Ob es menschengemachten Klimawandel gibt, daran hat Herr Meuthen „Zweifel“, wie er sagt. Herr Jongen redet von „wahnhafter Klimarettungspolitik“. Im Umgang mit unserer Geschichte hat Herr Höcke eine 180-Grad-Wende gefordert. Es soll sich einfach niemand mehr darüber empören, was Herr Gauland als „Fliegenschiss“ bezeichnet hat, nämlich nichts Geringeres als die größte Katastrophe in der bisherigen Menschheitsgeschichte: den Holocaust und den mörderischen Zweiten Weltkrieg. Wenn es schwierig wird, fordern doch gerade Sie immer wieder die Wissenschaft auf, endlich Ruhe zu geben. Genauso inszeniert sich die AfD auch in der aktuellen schwierigen Krise, nämlich der Coronapandemie. Hansjörg Müller, wer es auch immer sein mag, behauptet einfach, die Statistiken zu den Coronatodesfällen seien gefälscht. Frau Miazga aus der AfD Bayern redet fiktive „Polizeipatrouillen“ und „Zwangsimpfungen“ herbei. ({4}) In den USA hat Ihr bewundertes Vorbild Donald Trump vier Jahre einen offenen Krieg gegen Wissenschaftlichkeit, gegen Fakten und gegen Wahrheit geführt. Das Wort „Coronadiktatur“ wurde zum Unwort des Jahres 2020 gewählt. An seiner Verbreitung hat die AfD erheblichen Anteil. ({5}) Und heute stellen ausgerechnet Sie sich hierhin und wollen sich für eine neutrale Wissenschaft einsetzen? Wenn es nicht so verdammt ernst wäre, käme man aus dem Lachen überhaupt nicht mehr raus. ({6}) Mit Wissenschaftlichkeit und Fakten hatte es offensichtlich auch ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums nicht so ganz. Ihn würden Sie hier ziemlich gern zum Märtyrer machen. Meine Damen und Herren, dieser Herr hat eigenmächtig einen rechtlichen Notstand erklärt und sich dann selbst die Erlaubnis erteilt, seine Warnungen quer durchs ganze Land zu schicken. Dafür wurde nun dieser Oberregierungsrat bei vollen Bezügen vom Dienst suspendiert. Wer wüsste in Coronazeiten nicht einzuschätzen, was das bedeutet? ({7}) Es ist ganz sicher keine erbarmungslose Verfolgung Andersdenkender, wie Sie in den letzten Tagen und schon im vergangenen Jahr behauptet haben. Die Thesen dieses Beamten beruhten auf Einschätzungen, die, wie er selbst schreibt, „nicht seriös einzuschätzen“ waren. Das lässt sich über den größten Teil der Unterstellungen und wilden Fantasien sagen, die damals von ihm verbreitet wurden und die Sie aufgegriffen haben. Wissenschaftsfreiheit, meine Damen und Herren, ist nicht dasselbe wie die Freiheit, jeglichen Unsinn zu verbreiten. ({8}) Es ist auch nicht so, dass die Virologen die Welt in Angst und Schrecken versetzen. Nein, vielmehr ängstigt Sie und der Rest der Verschwörungstheoretiker das mulmige Gefühl, dass Bill Gates, Professor Drosten und dunkle Mächte das Ende der Welt herbeiführen wollen. Das ist Panikmache, und das ist genau Ihr Geschäftsmodell. ({9}) Meine Damen und Herren, Wissenschaftsfreiheit braucht ausreichende unabhängige Finanzierung statt kurzfristiger Projektfinanzierung. ({10}) Wer ergebnisoffene Forschung will, muss Hochschulen und Forschungseinrichtungen verlässlich grundfinanzieren und Forschenden unbefristete Perspektiven bieten. Auf dieser Grundlage kann unabhängig von den Vorgaben der Finanziers geforscht werden. Wissenschaft braucht Meinungsvielfalt, und sie braucht Pluralismus. Grundlage sind wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse. Dafür einzutreten, lohnt sich, und davon hat die Gesellschaft immer noch den größten Gewinn. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie frei wäre die Wissenschaft, wenn die AfD jemals regierte? Diese Vorstellung ist blanker Horror; denn es würde Denk- und Forschungsverbote nur so hageln. ({0}) Dass ausgerechnet die AfD heute die Wissenschaftsfreiheit beschwört, ist an Heuchelei nicht zu überbieten. ({1}) Was hat die AfD zur Wissenschaftsfreiheit beizutragen? ({2}) Sie fordern die Abschaffung ganzer Disziplinen, Fakultäten und Institute, ({3}) weil Ihnen Klimaforschung, Rassismusforschung, Geschichts- und Genderforschung unbequem sind. Gucken Sie sich Ihre eigenen Haushaltsanträge an und Ihr Fehlverhalten gestern im Wissenschaftsausschuss! Schämen sollten Sie sich! ({4}) Sie laufen auf Anti-Corona-Demos mit, auf denen Bilder von Virologen am Galgen zu sehen sind. ({5}) Sie lancieren Hetzkampagnen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit deren Arbeit Sie nicht einverstanden sind. Damit kommen Sie vielleicht bei autoritären Seelenverwandten wie Putin, Orban, Erdogan oder el-Sisi gut an, aber ganz gewiss nicht hier. ({6}) Forschung und Lehre müssen frei sein. Die Suche nach Wahrheit hat bei uns Verfassungsrang. Es gibt hierzulande wahrlich kein Problem mit Meinungsfreiheit, womöglich eins mit der Streitkultur. Universitäten sind zentralste Austragungsorte für Kontroversen und gesellschaftliche Reflexion, aber, bitte schön, zivilisiert und wissensbasiert, ({7}) also ohne enthemmte Sprache, ohne Diskriminierung, ohne gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Manche canceln das als Political Correctness ab. Die AfD echauffierte sich eben wieder über Tugendterror, Sprachpolizei, Meinungszensur. In Deutschland nennen wir das Empathie, Anstand, Achtung, Respekt und Rücksichtnahme. ({8}) Diskriminierungsfreiheit ist keine Bedrohung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, sondern Anerkennung, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist. ({9}) Es läuft in der Wissenschaft nicht alles rund, und es gibt Probleme, die wir nach 16 Jahren CDU-Führung im BMBF schleunigst anpacken müssen. Das beginnt schon bei der Grundfinanzierung unserer Hochschulen. Jetzt ruft sogar der ehemalige BMBF-Staatssekretär Georg Schütte: Helft endlich den Hochschulen! – Da muss doch selbst Frau Karliczek mal ein Licht aufgehen, die von ihrer Freiheit Gebrauch macht, dieser Schwachsinnsdebatte der AfD nicht beizuwohnen. ({10}) Aber statt lauter Sonderprogrammen und Drittmittel ist eine verlässliche auskömmliche Finanzierung durch Bund und Länder nötig; das ist eine Voraussetzung für Wissenschaftsfreiheit. Nachwuchswissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen müssen sich über Jahre von Befristung zu Befristung hangeln. Die Folge: Man bleibt abhängig von Projektanträgen, Karrieren müssen auf halbem Wege abgebrochen werden, viele Talente gehen verloren. So kann freier Geist nicht gedeihen. Faire statt prekäre wissenschaftliche Arbeit ist eine Grundvoraussetzung für Wissenschaftsfreiheit. ({11}) Wissenschaft kann Politik beraten, aber Politik darf Wissenschaft nicht instrumentalisieren. Es stehen Vorwürfe gegen das BMI im Raum, es habe Wissenschaftlern nahegelegt, die Coronafolgen in düsteren Farben zu zeichnen. Die Pandemie ist aus unserer Sicht schlimm genug, das muss gar nicht erst aufgebauscht werden; aber das Innenministerium muss hier schleunigst offenlegen, was da gelaufen ist. Denn bei politischer Einflussnahme ist das Seehofer-Ministerium Serientäter. Regelmäßig wird Druck auf die Bundeszentrale für politische Bildung ausgeübt, um wissenschaftsbasierte Publikationen zu ändern. Erst neulich traf es – unter großem Beifall der Oberzensoren von der AfD – einen anerkannten Extremismusforscher. Diese Doppelmoral ist längst durchschaut, und sie ist einfach lächerlich. ({12}) Es ist noch nicht lange her, da wollte eine Meute aufgebrachter Coronaleugner den Bundestag stürmen. Auch hier: lauter Beifall von der AfD für obskurste Verschwörungsideologien. ({13}) Ihre Querdenker-Kuschelei hat gravierende Folgen: Impfstoffe müssen von der Bundeswehr gesichert werden, Brandsätze fliegen auf das Robert-Koch-Institut, Virologen erhalten Todesdrohungen – wegen Ihnen! ({14}) Und Sie wollen uns was über Wissenschaftsfreiheit erzählen? Nein danke, das ist wirklich lächerlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängige Wissenschaft braucht Zeit, Geld, Sicherheit, Kreativität und Ideenreichtum. Was sie nicht braucht, sind Einmischung und Gängelung von rechtsradikalen Wissenschaftsfeinden. ({15})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Sybille Benning von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema dieser Aktuellen Stunde ist grober Unfug. Es suggeriert, dass die Politik, und vor allen Dingen wohl die Regierung, Wissenschaft unter Druck setzt, um zum Beispiel in dieser Pandemie Entscheidungsgrundlagen zu erhalten, die ihr genehm sind. ({0}) Die AfD-Fraktion reiht sich damit nahtlos in das Geraune der Verschwörungstheoretiker ein. Wenn man bei dem Gespräch mit dem Präsidenten der Leopoldina bei der gestrigen Sitzung des Forschungsausschuss dabei war, dann weiß man: Diese Aktuelle Stunde ist erst recht ein Beleg dafür – und nicht der erste –, dass die AfD-Fraktion an Sachpolitik nicht interessiert ist. ({1}) Sie sind so skrupellos, Misstrauen zu säen in wissenschaftliche Institutionen und wissenschaftsgeleitete Verfahren, und zwar wider besseres Wissen, um für sich politisch daraus Kapital zu schlagen. Dahinter steckt eine Masche: Sie werfen mit Schmutz auf alle Autoritäten, seien es politische, seien es wissenschaftliche; denn irgendetwas wird schon hängen bleiben. Sie befeuern damit eine gesellschaftliche Spaltung, die Ihnen gerade recht kommt, um zu verdecken, dass Sie für kein einziges Problem, das Politik und Gesellschaft lösen müssen, eine konstruktive Idee haben. Mir ist ganz klar, dass Sie an Fakten und Sachargumenten nicht interessiert sind, aber ich nenne trotzdem ein paar; denn so führt man politische Debatten. Im letzten Jahr haben circa 1 800 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt den bislang umfassendsten Datensatz zur globalen Wissenschaftsfreiheit vorgelegt. Sie haben die Wissenschaftsfreiheit seit 1900 im zeitlichen Verlauf weltweit untersucht. Dabei haben sie auch einen neuen Index, den Academic Freedom Index, entwickelt. Er basiert auf Schlüsselelementen wie der Freiheit von Forschung und Lehre, der Freiheit des akademischen Austausches, der institutionellen Autonomie und der Freiheit der Meinungsäußerung. Dieser Index sieht Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute immer unter den Ländern, deren Wissenschaftsfreiheit am höchsten ist. Das widerlegt statistisch die verschwörungsnahe Behauptung, die Sie aufstellen. Wir hatten erst gestern die Gelegenheit, mit Professor Haug, dem Präsidenten der Nationalen Akademie Leopoldina, zu sprechen. Die Kollegen der AfD-Fraktion wurden nicht müde, zu fragen, ob denn nicht die Bundesregierung Einfluss auf das Abfassen der Empfehlungen der Leopoldina, zum Beispiel zu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, genommen habe. Es war sogar von bestellten Gutachten die Rede. Immer wieder aufs Neue versicherte Professor Haug, dass die Expertenrunden der Leopoldina, die sich je nach Stellungnahme immer wieder neu zusammensetzen, inhaltlich von außen in keiner Weise beeinflusst wurden und werden. ({2}) Aber das hindert Sie in der AfD keineswegs, hier weiterhin Unwahrheiten zu verbreiten und dadurch das Vertrauen in unsere Wissenschaft zu zerstören. Die Leopoldina vereinigt herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler; unter ihnen sind 30 Nobelpreisträger. Wenn so viele kluge Köpfe zusammen interdisziplinär abwägen und eine Position erarbeiten, die sie alle mittragen können, dann ist das als Entscheidungsgrundlage für die Politik eben ernster zu nehmen als Einzelmeinungen; ({3}) diese werden nämlich häufig von Personen kundgetan, die zwar Wissenschaftler, aber keine Experten für die aufgeworfene Fragestellung sind. ({4}) Die AfD stellt auch immer wieder die Geschlechter- und Genderforschung als eine Ideologie dar, die nicht an deutschen Hochschulen gefördert werden sollte. Aber Artikel 5 des Grundgesetzes gewährleistet die Freiheit der Wissenschaft und Forschung. Für mich ist klar: Was die AfD als Stopp des Genderwahns propagiert, wäre ein gefährlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. ({5}) Dass wir geschlechtersensible Forschung in der Medizin benötigen, können ja vielleicht Sie sogar noch nachvollziehen. Aber auch für andere Kontexte gilt: Wenn das Geschlecht als eine Dimension von Forschung berücksichtigt wird, werden Forschungsergebnisse in ihrer Aussagekraft und Anwendbarkeit besser. Das werden Sie wohl nicht mehr begreifen. Wenn Sie in der AfD-Fraktion mangelnde Wissenschaftsfreiheit beklagen, dann müssen Sie dazu Stellung nehmen, dass aktuell Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die durch die Pandemiebekämpfungsvorschläge in der Öffentlichkeit stehen, in sozialen Medien angefeindet werden und sogar Morddrohungen erfahren. Das geschieht leider genauso mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Klimaforschung und auch aus der Geschlechter- und Genderforschung. Dieses Ausmaß an Aggression und Hass, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entgegenschlagen, hat es in der Bundesrepublik so noch nicht gegeben. Das ist zutiefst bedrückend und verstörend. Aber anstatt sich von Verschwörungstheoretikern wie den sogenannten Querdenkern zu distanzieren, bestätigen Sie sie lieber noch durch solche parlamentarischen Ablenkungsmanöver wie dieses heute. Das ist eine Schande! ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Karsten Hilse von der AfD-Fraktion. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– Es gibt eine Allgemeinverfügung; danach muss ich eine medizinische Maske tragen. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Großen und Ganzen geht es in dieser Debatte um Freiheit und nicht nur um die Freiheit der Wissenschaft. Freiheit hat auch keine politische Farbe, Freiheit ist nicht rot, grün, schwarz oder blau. Freiheit hat jede Farbe ({1}) und ist auch keine politische Aussage, sondern ein Menschenrecht. Das Innenministerium wurde offensichtlich dabei erwischt, wie es von der Wissenschaft wissenschaftlich klingende Rezepte bestellte, die zur Rechtfertigung von Schutzmaßnahmen zur Bewältigung der Scheinkatastrophe, also zur Aushebelung unserer Freiheit dienen sollten. Und die Wissenschaft lieferte wie bestellt. In nur vier Tagen kam eine Rechtfertigungsagenda zusammen, die nicht nur den dann folgenden, von Anfang an grundgesetzwidrigen Lockdown gegen jede Kritik schützte, sondern auch dafür sorgte, die so geschürte Angst und Panik dauerhaft zu nutzen, um Grundrechte auszuhebeln und Millionen Existenzen zu zerstören. ({2}) Das ist ein eklatanter Missbrauch von Wissenschaft, wie er schlimmer nicht sein kann. Doch wer nun glaubt, dieser Wissenschaftsmissbrauch sei die Ausnahme, der irrt gewaltig: Er ist inzwischen die Regel, vor allem bei Themen, bei denen viel Geld und damit viel Macht im Spiel ist. Exemplarisch dafür steht, neben anderen Feldern, die Klimawissenschaft. Nur: Deren Einflussnahme geschieht nicht ganz so plump wie die des Innenministeriums, sie ist eigentlich noch schlimmer; denn vielfach dienen sich als Wissenschaftler getarnte Aktivisten den Politikern regelrecht an, zum Beispiel Steven Schneider, von dem der berühmte Ausspruch stammt – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin –: Um Aufmerksamkeit zu erregen, brauchen wir dramatische Statements und keine Zweifel am Gesagten. Jeder von uns ... muss entscheiden, wieweit er eher ehrlich oder eher effektiv sein will. Und alle Wissenschaftler, die gern öffentliche Gelder und damit Macht und Einfluss wollen, entschieden sich eher früher als später dazu, effektiv zu sein. Besondere Beispiele dafür sind die diversen Klima- und Umweltinstitute, die nach der IPCC-Gründung wie Pilze aus dem Boden schossen, zum Beispiel das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, kurz: PIK, dem staatliche Mittel in reicher Zahl zugeschanzt wurden. Sein Gründungsdirektor Professor Schellnhuber erkannte die Zeichen der Zeit und berät seitdem nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern auch Ministerien und Gremien, nationale wie internationale, jetzt sogar den Papst. ({3}) Er lieferte in stetem Strom, was von ihm erwartet wurde, nämlich die Panik vor der kommenden Klimakatastrophe wissenschaftlich zu untermauern und damit möglichst unangreifbar zu machen, unter anderem mit dem völligen Unsinn vom 2-Grad-Ziel ({4}) und abstrusen Paniktherorien wie der von den Kipppunkten, die das Klimasystem mit seinen unzähligen Wirkfaktoren bald unumkehrbar zum Kippen bringen würden, wenn der Minifaktor CO2 nicht auf null gesenkt würde. Jeder ernstzunehmende Paläoklimatologe schüttelt zwar nur den Kopf über so viel angemaßtes Wissen, doch die Politik und die von ihr bezahlten Mietwissenschaftler glauben den Unsinn. Gleichzeitig wird dafür gesorgt, dass andere wissenschaftliche Erkenntnisse keine Chance haben, gelesen oder gehört zu werden und ihre Arbeiten nicht publiziert werden. ({5}) Das findet im trauten Zusammenspiel mit der Politik statt, die schnell erkannt hat, welches unglaubliche Machtinstrument die Klimapolitik bietet, so wie es der ehemalige Chef des renommierten Wissenschaftsmagazins „New Scientist“ schon 1998 vorhersah – ich zitiere –: Alle Parteien der Industriestaaten, ob rechts oder links, werden die CO2-Erderwärmungstheorie übernehmen. Dies ist eine einmalige Chance, die Luft zum Atmen zu besteuern. Weil sie damit angeblich die Welt vor dem Hitzetod bewahren, erhalten die Politiker dafür auch noch Beifall. Keine Partei wird dieser Versuchung widerstehen. Und so ist es gekommen – alle Parteien mit Ausnahme der AfD. ({6}) Damit das so bleibt, werden unglaubliche Summen in die Mietwissenschaft gepumpt; derzeit rund 140 Millionen Euro an viele staatsnahe Institute oder NGOs, über 25 Millionen Euro allein an das PIK. Dafür lässt sich natürlich gut Klimapanikpropaganda betreiben. Da wird Klimaerwärmung zur Klimakatastrophe. Wenn es aber, für viele ganz überraschend, einen Wintereinbruch mitten im Winter gibt, dann müssen schnell die Mietwissenschaftler vom PIK ran und müssen ganz wissenschaftlich begründen, warum das nur eine Folge der Erderhitzung sein kann. Das ist vollkommen absurd! ({7}) Gut für Politik und Mietwissenschaft ist es, dass die meisten Steuerzahler, die dafür bezahlen und ihre Jobs zu Hunderttausenden verlieren, das auch noch richtig gut finden, weil die Wissenschaft es ja so sagt. Noch viel besser ist, dass der Geldstrom mit jedem neuen Gesetz, mit jeder neuen EU-Verordnung immer größer wird, zum Beispiel der New Green Deal mit sage und schreibe 750 Milliarden Euro. Dafür kauft sich die Politik Wissenschaft und lassen sich Wissenschaftler kaufen. Deshalb müssen wir diesen Eklat zum Anlass nehmen, zu handeln. Sorgen wir dafür, dass Wissenschaft wieder Wissenschaft wird, dass der Zweifel die Mutter aller Forschung ist, in der immer kontrovers diskutiert wird und bei der nicht die Politik bestimmt, wie die Ergebnisse auszusehen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich möchte den Hinweis geben, dass am Rednerpult nach Möglichkeit unvermummt gesprochen wird. Es gibt keinen Grund, hier die Maske aufzusetzen, auch vor dem Hintergrund, dass ja eine Übertragung durch die Medien – sprich: durch das Fernsehen – gewährleistet sein soll und dem Publikum ermöglicht werden soll, gut zuzuhören. ({0}) Es geht das Wort an Dr. Diaby von der SPD-Fraktion.

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gibt es ein Recht auf Wissenschaft? – Ja, dieses Recht gibt es. In Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht nämlich: Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. Es ist für mich mehr als verwirrend, wenn eine Partei, die einen engen Kontakt zu Verschwörungstheoretikern pflegt und ihnen sogar Zugang zu diesem Haus verschafft hat, eine Partei, die den menschengemachten Klimawandel ablehnt, eine Partei, die die Gleichstellungspolitik stets kritisiert, und eine Partei, die versucht, geschichtliche Fakten umzudeuten, heute den Eindruck erwecken will, die Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Das ist für mich ein intellektueller Lockdown, was Sie hier machen. ({0}) Das glaubt Ihnen doch niemand. Sie sind aus meiner Sicht unglaubwürdig. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in vielen Gegenden der Welt werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfolgt und in ihrer Arbeit eingeschränkt. Das ist für viele lebensbedrohlich und macht wissenschaftliches Arbeiten und berufliche Werdegänge unmöglich. Die Verursacher kommen aber nicht aus demokratischen Systemen oder aus dem, wie Sie auch sagen würden, „linken Mainstream“. Sie kommen aus Diktaturen, aus Systemen, die Menschenrechte mit Füßen treten. Sie kommen von rechts. Rechnen Sie bitte nicht damit, dass Ihre Aussagen ohne Widerspruch akzeptiert werden, weder hier im Plenum noch in den Hörsälen unseres Landes. ({2}) Die Staatsministerin Michelle Müntefering hat mir mit einem Satz in ihrer Rede zum Humboldt-Jahr aus dem Herzen gesprochen. Sie sagte nämlich: Es geht um die Demokratisierung von Wissen, es geht um das tiefe Verständnis, dass Kunst und eben auch Wissenschaft Orte der Freiheit sind und diese Orte Freiheit brauchen, um zu blühen. Die Wissenschaft muss unabhängig von politischer Einflussnahme arbeiten. Demokratischer Diskurs muss immer möglich bleiben. Ich bin deshalb froh, in einem Land zu leben, das die internationale Kooperation von Bildung, Wissenschaft und Forschung intensiviert. Ich bin froh, in einem Land zu leben, das zum Beispiel durch die Philipp-Schwartz-Initiative der Alexander-von-Humboldt-Stiftung verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Stipendien anbietet, damit sie hier weiter forschen können. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute ist der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft, und ich bin froh darüber, dass es einen Diskurs und berechtigte Kritik an einem Hochschulsystem gibt, in dem 25 Prozent der Professorinnen und Professoren männlich sind, in dem Forscherinnen mit Kindern in Coronazeiten Karriereeinbußen haben und in dem Arbeiterkinder dreimal geringere Chancen haben, überhaupt an eine Hochschule zu kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, es gibt ein Recht auf Wissenschaft; aber es gibt kein Recht, Ihnen zuzustimmen. Die Wissenschaft ist frei, der Diskurs zu Wissenschaft und Wissenschaftlern bleibt frei. Schützen Sie mit uns gemeinsam die Demokratie! Schützen wir gemeinsam die Wissenschaftsfreiheit! Danke schön. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an Andreas Steier von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Zeit heute hier im Plenum für bessere Debatten nutzen könnten. ({0}) Denn es gibt drängendere Probleme. Da muss man hier keine Scheindebatte über politischen Druck auf die Wissenschaft führen. Diese Aktuelle Stunde ist ein weiterer grober Versuch der AfD-Fraktion, mit der Brechstange an die Wissenschaft heranzugehen. Sie von der AfD hören es vielleicht ungern: Wissenschaft darf Ansichten von Ihnen, der AfD, widersprechen, und das tut sie auch meistens. ({1}) Dazu braucht es keinen politischen Druck. Es reicht oft schon der gesunde Menschenverstand. Es ist interessant, dass in dieser Runde keiner Ihrer Forschungspolitiker über Wissenschaftsfreiheit gesprochen hat. Das ist Beweis genug, dass dies nur eine Scheindebatte ist. Forschung ist und bleibt frei. Lesen Sie es in Artikel 5 Grundgesetz nach. Dort steht es genau beschrieben. Darauf können wir alle stolz sein. Wir können stolz darauf sein, dass wir mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz in Deutschland auch den außeruniversitären Forschungseinrichtungen einen flexiblen Rahmen geben, sodass sie sich frei entfalten und mit viel Eigenverantwortung die Wissenschaft vorantreiben können. Stolz können wir auch darauf sein, dass diese Forschungseinrichtungen herausragende Arbeit leisten, gerade auch in der Pandemiebekämpfung. Unseren Forschungseinrichtungen ist zu verdanken, dass in einem noch nie gesehenen Tempo ein Impfstoff gegen Corona entwickelt wurde. Darauf sind wir hier stolz. ({2}) Warum ist das gerade bei uns in Deutschland so? Weil wir von der Politik den Forschern eben nicht vorschreiben: „Ihr müsst das so und so machen“, wie Sie das vielleicht wollen. Vielmehr können sich die Forscher hier frei die Fragen überlegen, frei die Fragen stellen und auch Lösungen frei entwickeln. Die besten Ideen entfalten sich eben nur da, wo Ideen frei entwickelt werden können und nicht durch engstirnige ideologische Konzepte in gewisse Bereiche gedrängt werden. Durch dieses freie Denken ist es möglich, Ideen frei weiterzuentwickeln. So können Grenzen überwunden und auch neue Ideen und Konzepte entwickelt werden. Das ist natürlich kein statischer Zustand, sondern die Fragen müssen immer wieder neu entwickelt werden. Das ist ein dynamischer Prozess. Im Ringen um die besten Ideen werden neue Erkenntnisse gesammelt. Dabei ist natürlich auch wichtig, zu sehen: Wissenschaft findet nicht im luftleeren Raum statt. Wissenschaft kann zwar in der Theorie Modelle entwerfen; aber Wissenschaft lebt letztendlich davon, dass diese Modelle in der Praxis, in der Realität überprüft werden. Von daher ist es richtig, dass Wissenschaft immer wieder den Austausch mit der Gesellschaft nutzt und wir auch in der Politik, auch hier, über diese Konzepte reden. Wir von der Politik können Aufträge an die Wissenschaft formulieren und Eckpunkte gemeinsam definieren. Wir von der Politik können den Rahmen dafür geben. Letztlich aber liegt es in den Händen der Wissenschaft, im Wettstreit um die besten Ideen, Lösungen zu finden und Erkenntnisse zu liefern. Erst dann sind wir von der Politik wieder gefragt. René Röspel hat es eben gesagt: Wir können diese Erkenntnisse nutzen; wir können uns aber auch frei entscheiden, etwas anderes zu nutzen. – Unsere Aufgabe ist es, den bestmöglichen Transfer dieser Ergebnisse in die Gesellschaft und die Wirtschaft zu ermöglichen. Ich könnte in der letzten Minute meiner Redezeit viele Beispiele dafür nennen. Ich möchte aber nur ein zentrales Beispiel anführen, wo wir die entscheidenden Weichen gestellt haben: Mit dem Pakt für Forschung und Innovation hat die unionsgeführte Bundesregierung die Weichen richtig gestellt. Wir haben in den letzten 15 Jahren immer wieder mehr Milliarden gerade in die außeruniversitären Forschungseinrichtungen investiert. Dadurch sind kluge Köpfe nach Deutschland gekommen, und dadurch ist es uns gelungen, auch auf den entscheidenden Forschungsfeldern mit an der Weltspitze zu sein. Die Entwicklung des Coronaimpfstoffs ist nur ein Beispiel von vielen. Uns ist es natürlich wichtig, immer wieder zu prüfen: Wo kann es noch Verbesserungen geben? Wir haben in dieser Legislatur Eckpunkte beschlossen, um den Pakt für Forschung und Innovation weiterzuentwickeln. Ein zentraler Punkt ist der Transfer in weitere, in andere Wissenschaftsbereiche, der Transfer in Köpfe, der Transfer in Start-ups wie BioNTech, der Transfer in Unternehmen, aber auch der Transfer in die Gesellschaft. Durch die systematische Herangehensweise können wir viel mehr erreichen als durch eine populistische Debatte wie diese, die wir in dieser Aktuellen Stunde führen. Last, but not least – Corona ist auch da wieder das beste Beispiel –: Schaut man in die Welt, stellt man fest, dass dort, wo Populisten wie Trump oder Johnson die Politik gestalten, die Fallzahlen und Todeszahlen – leider – am höchsten sind. Dort aber, wo Vernunft und aufklärerische, wissenschaftliche Erkenntnisse Leitfaden der Politik sind, ist man am besten durch die Pandemie gekommen. Der Erfolg gibt uns Recht. Danke. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Steier, Ihre Tonlage hat mir gefallen, weil sie nüchtern war. Ich will das fortsetzen und auch eine Spaßbremse sein. Erstens: Wahlspaßbremse. Herr Sattelberger, ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen hier im Plenum einfach mal Folgendes sage: Man mag Ihnen so gerne zustimmen. Wenn Sie Ihren letzten Satz, den wir alle schon immer erahnen, aus reiner Selbstbezogenheit und auch Selbstverliebtheit weglassen könnten, würden Sie deutlich mehr Zustimmung für Ihre vielen klugen Gedanken bekommen. ({0}) Das Zweite. Weil hier ein vermeintlicher Skandal angesprochen worden ist, der jetzt, ganz aktuell, bekannt geworden sei, möchte ich, weil uns auch am Fernsehen Menschen folgen, darauf hinweisen, dass diese sogenannte regierungszentrierte Studie seit April letzten Jahres im Internet zu lesen ist. ({1}) Ich empfehle wirklich allen, vor allen Dingen den Kritikern dieser Studie, sie zu lesen. In dieser Studie wird nichts anderes gemacht – das möchte ich drittens sagen – als das, was man im März und April 2020, also im ersten Lockdown, dringend brauchte, nämlich dass man Szenarien entwickelt: ein Worst-Case-Szenario und ein Nicht-Worst-Case-Szenario und noch ein drittes dazwischen. Das kann man ganz nüchtern nur als sehr sachbezogen und sehr auf die Entwicklung zentriert werten und positiv aufnehmen, dass man dies so nachlesen kann. Lesen Sie es bitte in allen Punkten nach. ({2}) Lesen schadet nicht! Lesen kann zu Erkenntnissen führen. ({3}) Der vierte Punkt. Ich glaube, es war Minister Spahn, der freundlich gesagt hat: Wir werden uns noch viel verzeihen müssen. Ich glaube, das war in dem Gespräch, das wir gestern im Wissenschaftsausschuss mit Professor Haug geführt haben, der darauf hinwies, dass man natürlich mal in eine Phase hineinkommen wird, in der man den ganzen tatsächlich nicht vorhersehbaren Prozess, den wir seit Beginn der Pandemie im März letzten Jahres erleben, sehr genau nachzeichnen wird, um so Schwächen und Stärken besser zu verstehen und daraus Empfehlungen für die Zukunft abzuleiten. Auch Herr Brinkhaus hat heute in seiner bemerkenswerten Rede eine Agenda für die Zukunft angesprochen und gesagt, dass wir Fähigkeiten zur Bewältigung von Katastrophen brauchen. Die Aufarbeitung dieser Sachverhalte sollte aber bitte nicht in der Diktion eines Untersuchungsausschusses stattfinden, bei dem es Ankläger und anderes gibt, sondern in einer kooperativen Weise. In dieser Studie ({4}) wird man – das ist meine Einschätzung nach der Lektüre – nichts finden, was einen Untersuchungsausschuss rechtfertigt. Eine kleine Anmerkung will ich mir dann doch erlauben zu dem, was Herr Kubicki, der Großmeister der starken Worte, ({5}) zu der Studie sagte. Er glaubte, diese Studie in einer autoritären Situation verankern zu müssen. Ich glaube, Herr Kubicki, manchmal sind Ihre Worte schneller als Ihr Verstand. ({6}) Das Fünfte, was ich ansprechen möchte, ist, dass es durchaus ein Hoffnungszeichen gibt: Der unselige Geist der Wissenschaftsfeindlichkeit und des Populismus ist in Amerika abgewählt worden. Das wird sich auswirken. An der Stelle sollten wir anknüpfen. In Amerika bekommt jetzt zum ersten Mal – das muss man sich mal vorstellen – ein Scientific Advisor Kabinettsrang. In einer der stärksten Wissenschaftsnationen ist wissenschaftliche Rationalität, ist wissenschaftlicher Sachverstand in die Regierung mit hineingenommen worden. Das werden Sie hoffentlich an keiner Stelle beklagen; denn das bringt verstärkt zum Ausdruck, dass Politik und Wissenschaft im Dialog miteinander sein müssen. Der sechste Punkt. Ich finde es sehr gut und wichtig, dass dieses Thema während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Rahmen einer Erklärung zur Wissenschaftsfreiheit angesprochen worden ist. Herr Sattelberger, Sie haben dort eine Anfrage gestellt und eingefordert, dass alle diese Erklärung unterschreiben sollten. Das Ergebnis ist zwar positiv, allerdings gibt es auch Ausnahmen: Polen und Ungarn. Das zeigt zugleich die Aufgabe, die wir dabei haben, nämlich auch mit diesen Ländern in einen Dialog, in eine Auseinandersetzung einzutreten, damit sie die elementaren Leitpunkte für Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsförderung, Forschung und Entwicklung mittragen können. Der siebte Punkt, den ich ansprechen möchte: Es geht darum – wie es auch gemacht worden ist –, dass wir in Deutschland eine Struktur haben, die es von der kleinen Peer-Review bis hin zur Schwarmintelligenz der großen Wissenschaftsorganisationen – HRK, Allianz der Wissenschaftsorganisationen, DFG – ermöglicht, dass es abgewogene und breit verankerte Erkenntnisse gibt. Mein nächster Punkt bezieht sich auf das, was uns Professor Haug gestern im Ausschuss noch einmal anempfohlen hat: mit Wissenschaftskommunikation selbstbewusst und aufklärend, aber nicht erschrocken umzugehen. Vielleicht haben Sie es schon bemerkt, dass ich in dieser Rede – weil ich dessen überdrüssig bin – bisher kein einziges Mal das Wort „AfD“ benutzt habe. ({7}) Ich mache jetzt einen Punkt. Was ich von Ihnen gerne wissen möchte: In Ihrer Struktur mit lauter fixierten, autoritären, bigotten Charakteren, haben Sie da eigentlich Fragen noch an sich selbst? ({8}) Gehen Sie eigentlich noch mit sich selbst fragend zurate? Oder sind Sie immer auf der Seite derjenigen, die hundertprozentig alles wissen und hundertprozentig alles richtig machen? ({9}) Sie haben die Pflicht zur Selbstbefragung. Danke schön. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Wolfgang Stefinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut – das haben wir heute schon gehört –, und auch die freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass wir kontroverse Debatten führen: in der Gesellschaft, hier im Parlament, aber natürlich auch an unseren Hochschulen. Bundespräsident Steinmeier und auch Bundesministerin Karliczek haben immer wieder deutlich gemacht, dass Angriffe, Gesprächsverhinderungen und Einschüchterungen in Hörsälen keinen Platz haben. Mit uns ist die Freiheit der Wissenschaft nicht verhandelbar! ({0}) Dass sich in der Debatte heute ausgerechnet die AfD berufen fühlt, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, ist wirklich Ironie; immerhin ist das eine Partei mit gefährlicher Nähe zu Verschwörungstheoretikern. Das sage nicht nur ich, sondern das belegt eine wissenschaftliche Studie der Universität Leipzig: 73,5 Prozent der AfD-Anhänger sind empfänglich für Verschwörungsmythen – also doch eher Alternative Fakten für Deutschland statt freier Wissenschaft. Auf ein besonderes Schmankerl wurde heute schon ein paarmal hingewiesen: Im Jahr 2018 rief die AfD Studenten und auch Schüler auf, Professoren und Lehrer über Onlineplattformen zu melden, wenn sich diese AfD-kritisch äußern. Der Aufruf ging dahin, Belege zu sammeln, Tonmitschnitte anzufertigen oder Bildaufzeichnungen zu machen und diese dann auf einer Onlineplattform hochzuladen. Also mal wieder: denunzieren und an den Pranger stellen. Das ist Wissenschaftsfreiheit à la AfD. ({1}) Es stellt sich wieder einmal die Frage: Was heißt denn „Freiheit“ bei der AfD? Das habe ich in meiner letzten Rede schon angesprochen. Wahrscheinlich bedeutet es: Taugen die Ergebnisse für die Parteilinie nicht, dann werden sie als „Lügenwissenschaft“ bezeichnet. Taugen sie für die Parteilinie, dann werden sie mit einem Ausrufezeichen versehen, und es wird noch mal explizit darauf hingewiesen. Sie versuchen verzweifelt, das Narrativ der Beeinflussung der Wissenschaft herbeizureden. Aber es gehört auch zu verantwortungsvollem Regierungshandeln, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, diese zu prüfen und sich beraten zu lassen. Sie versuchen regelmäßig, Fake News zu bedienen, indem Sie behaupten, die Wissenschaft liefere das, was die Bundesregierung von ihr erwarte. ({2}) Wissen Sie, was wir erwarten? Eine unabhängige und faktenbasierte Wissenschaft und vor allem eine faktenbasierte Diskussion. Aber dazu sind Sie nicht in der Lage. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich kann man über Studienergebnisse und Handlungsempfehlungen der Wissenschaft diskutieren. Ja, man muss es sogar, vor allem weil es je nach Themengebiet oftmals unterschiedliche Erkenntnisse gibt. Das ist Wissenschaft. Politische Entscheidungen jedoch muss kein Wissenschaftler treffen, egal ob es ein Virologe ist oder ein Klimaforscher, egal ob es ein Juraprofessor ist oder ein Soziologe. Die Wissenschaftler brauchen keine demokratische Mehrheit zu organisieren, und sie müssen sich auch nicht der Diskussion vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern stellen. Das muss nämlich die Politik tun, und dafür sind wir gewählt. Aufgrund unterschiedlichster Studien ist es zum Teil schwer, Entscheidungen zu treffen. Aber am Ende muss eine Entscheidung stehen, und gerade in diesen Zeiten kann ein zu langes Diskutieren Menschenleben kosten. Deswegen sind Entscheidungen gefallen, und darüber kann man natürlich diskutieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass es engagierte Frauen und Männer in der Wissenschaft gibt. Ohne sie gäbe es keine Impfstoffe, keine Medikamente, keine technische Entwicklung und auch keinen Fortschritt. Die besten Ideen und Entwicklungen entstehen ohne Zwang, wenn sie sich frei entfalten können. Genau das wussten auch die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, die den Artikel 5 aufgenommen haben, der nicht nur die Meinungs- und Pressefreiheit beinhaltet, sondern in dem es in Absatz 3 auch heißt: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. So weit Artikel 5 Grundgesetz. Gerade beim letzten Punkt, Treue zur Verfassung, hat die AfD noch einiges zu tun und einiges aufzuarbeiten. Da wünsche ich viel Erfolg. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Südsudan blickt inzwischen auf zehn Jahre Unabhängigkeit zurück. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind stolz auf diese Unabhängigkeit, und sie wollen ihr junges Land aufbauen. Doch dem steht – man kann es nicht anders sagen – eine harte, eine harsche Realität entgegen. Nach über sechs Jahren Krieg und Konflikt befindet sich der junge Staat in einem dramatischen Zustand. Die Bevölkerung ist traumatisiert. Aktuell – das muss man sich einmal vorstellen – sind 7,5 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Allein 1,4 Millionen Kinder sind unterernährt, und es droht eine weitere Hungersnot. Den Südsudan trifft die drittgrößte Flüchtlingskatastrophe, die wir auf unserem Planeten zu beklagen haben. Fast ein Drittel der Bevölkerung des Südsudans ist innerhalb des Landes oder in die Nachbarstaaten geflohen. Und trotz eines Waffenstillstands, um den gerungen wird, sterben täglich weiter Menschen. Viele – das wissen Sie nach langjähriger Auseinandersetzung mit der Lage dort – werden Opfer von gezielt eingesetzter sexualisierter, genderbasierter Gewalt. Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, und – auch das muss man hier sagen – sie werden von allen Konfliktparteien begangen, sowohl von den bewaffneten Milizen als auch von den Regierungsparteien. Selbst humanitäre Helferinnen und Helfer sind gezielt ins Visier dieser Gewalt geraten. Das ist eine grobe Verletzung der internationalen humanitären Prinzipien. Für sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der Südsudan eines der gefährlichsten Länder der Welt. Deswegen kann man nur feststellen: Die Bilanz nach zehn Jahren Unabhängigkeit ist keine gute. – Ich nutze auch deswegen diese Rede, um erneut an die Führung des Landes zu appellieren, endlich ihrer Verantwortung für ihr Land, für ihre Menschen gerecht zu werden und die Zukunft dieses Landes vernünftig zu gestalten; denn nur so kann es gelingen, die tiefen Wunden zu heilen und endlich Aufbau und Entwicklung des Südsudans in den Mittelpunkt zu rücken. ({0}) Immerhin, ja, es gibt so etwas wie einen Friedensplan. Er ist 2018 mit einem Abkommen vereinbart worden, und wir sehen trotz dieser harten Lagebeschreibung durchaus auch einige Fortschritte: die Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit im letzten Jahr, die Verständigung und die Debatte darüber, Bundesstaaten zu schaffen und Gouverneure einzusetzen. Von solchen Fortschritten, meine sehr verehrten Damen und Herren, brauchen wir mehr, zum Beispiel bei der Sicherheitssektorreform oder bei der Bekämpfung von Straflosigkeit, nicht zuletzt durch die Einrichtung der dafür im Friedensabkommen ja vorgesehenen Institutionen wie dem hybriden Gerichtshof mit der Afrikanischen Union. Wir brauchen die strikte Einhaltung des Waffenstillstands und eine inklusive und eine nachhaltige Umsetzung des Friedensprozesses, und zwar – das will ich auch unterstreichen an dieser Stelle – unter Einbeziehung von Frauen, Jugendlichen und der Zivilgesellschaft. Schließlich müssen die Einkünfte dieses jungen Staates endlich transparent eingesetzt werden – für die Bevölkerung und für die Umsetzung des Friedensabkommens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so wie wir erwarten, dass die Entscheidungsträger im Südsudan ihrer Verantwortung endlich gerecht werden, so haben auch wir als internationale Gemeinschaft, auch die Bundesrepublik Deutschland, eine eigene Verantwortung. Ich glaube schon, dass man sagen kann: Wir werden weiter gebraucht. Die Bundesregierung ist deshalb entschlossen, ihr Engagement fortzusetzen. Dazu gehört auch der wichtige Beitrag, den unsere Soldatinnen und Soldaten bei UNMISS leisten. Die Vereinten Nationen haben das gerade auch noch einmal unterstrichen. Diese Mission ist unverzichtbar aus vier Gründen. Erstens: für den Schutz der Zivilbevölkerung. Wenn Gewalt aufflammt – das haben wir nun in den letzten Jahren immer wieder gesehen –, ist UNMISS präsent, auch in den entlegenen, in den gefährlichen Teilen des Landes. UNMISS wird dabei auch immer wieder behindert und – das muss man schon sagen – auch von den Regierungskräften, der Regierungsarmee behindert. Das ist ein Skandal, und das muss aufhören. ({1}) Zweitens: die humanitäre Hilfe. Auch hier bleibt UNMISS unverzichtbar, sichert beispielsweise Konvois ab, eilt zu Hilfe, wenn humanitäre Helferinnen und Helfer unter Beschuss geraten. Drittens hat UNMISS – ich weise auch darauf hin, weil das bei den Vereinten Nationen ja nicht mehr selbstverständlich ist – ein starkes Menschenrechtsmandat, eine Menschenrechtskomponente. Wir setzen uns in New York dafür ein, dass das so bleibt und dass man das auch merkt am Boden, dort, wo UNMISS eingesetzt wird. Die Mission ist quasi Auge und Ohr auch der internationalen Gemeinschaft, dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und macht sie, wo notwendig, eben auch öffentlich. Viertens: die Unterstützung des Friedensprozesses. Das ist im Grunde genommen die Kernfrage. Natürlich liegt die Verantwortung – ich habe es nun mehrfach betont – bei den Vertreterinnen und Vertretern der Regierung und der bewaffneten Kräfte, den Politikerinnen und Politikern des Südsudans. Aber UNMISS ist eine Präsenz im Land, die die Akteure immer wieder daran erinnert, was diese Verantwortung bedeutet, und die eben auch den politischen Prozess, das Gespräch, die Verhandlung erleichtert und bei der Umsetzung dann auf das Tempo drückt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ist – ich habe es angesprochen – ein wichtiges, ja, ich würde sagen, auch symbolisch ein wesentliches Element dieses umfassenden und integrierten Ansatzes, den wir nun überall versuchen zu praktizieren, aber insbesondere für den so geplagten Südsudan. Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen an Schlüsselstellen zu UNMISS bei. Ich will diese Rede auch nutzen, ihnen, aber auch ihren Familien zu danken für diesen Einsatz unter wahrlich schwierigen Umständen. Ich glaube, diese Arbeit hat die Unterstützung des gesamten Parlaments wahrlich verdient. ({2}) Lassen Sie mich schließen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. Mit unserer Unterstützung geben wir den Bürgerinnen und Bürgern des Südsudans auch ein wenig Hoffnung, dass es nun, zehn Jahre nachdem sie die Unabhängigkeit gefeiert haben, endlich besser wird, dass sie ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen und sie friedlich gestalten können. Auch deswegen bitte ich Sie alle um Unterstützung und Zustimmung für das Mandat, das wir Ihnen vorgelegt haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Professor Dr. Lothar Maier von der AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Südsudan hat im Grunde alle natürlichen Ressourcen, die man braucht, um eine blühende Wirtschaft aufzubauen: große Bodenschätze, Erdöl, verschiedene Metalle, gute landwirtschaftliche Böden und die dazugehörigen Wasserreserven – im Grunde alles, was man nicht nur für die Selbstversorgung, sondern auch für Exporte benötigt. Tatsächlich aber ist der Südsudan eines der ärmsten Länder der Welt. Nach der Rangliste von Transparency International ist er außerdem das korrupteste Land der Welt, ein Rang, den er sich teilt mit dem benachbarten Somalia. Zwei Kriegsherren liefern sich seit vielen Jahren brutale Kämpfe um Macht und Geld, die Millionen Menschen aus dem Land getrieben haben. Von 12 Millionen Einwohnern des Südsudan – der Staatsminister hat eben schon darauf hingewiesen – sind 7,5 Millionen, weit mehr als die Hälfte, abhängig von Nahrungshilfe. In anderen zentral- und westafrikanischen Ländern ist es allerdings nicht viel besser. Weil die politischen Helden sich Bürgerkriege liefern, wird Hilfe benötigt und auch geliefert. Das ist im ersten Impuls vollkommen nachvollziehbar. Aber das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint; denn indem man jedes Krisengebiet mit Nahrung versorgt, haben die Kriegsherren erst die Kapazitäten frei, weiter ihre Kriege zu führen und sich nicht um die Bedürfnisse der Menschen zu scheren. ({0}) Durch diese ohne Zweifel gutgemeinten Lieferungen an die Bevölkerung werden letztendlich die Kriege und das Leid der Einwohner ermöglicht und verlängert. Eine weitere Folge der ständigen gutgemeinten Lieferungen ist, dass vielerorts kaum noch Landwirtschaft betrieben und kein wirksames Verteilsystem aufgebaut wird, vom Aufbau von Industrien ganz zu schweigen. In immer mehr afrikanischen Staaten entwickelt sich aber inzwischen Widerstand gegen die unselbstständig machenden Almosen aus dem Westen. ({1}) Einheimische afrikanische Ökonomen sehen sie eher als eine neue Form des Kolonialismus denn als selbstlose Hilfe. Der Deutschlandfunk zum Beispiel berichtete in der letzten Zeit mehrfach über Erfahrungen von afrikanischen Wissenschaftlern, aber auch von Menschen, die in diesem Gebiet leben, die sich fragen: Warum soll ich noch etwas anbauen, wenn die Hilfe sowieso kommt? Warum soll ich meine selbsterzeugten Nahrungsmittel auf dem Markt zu verkaufen versuchen, wenn Nahrungsmittel von der Hilfe kostenlos geliefert und verteilt werden? ({2}) Vor diesem Hintergrund ist nun auch die kleine deutsche Militärmission im Südsudan zu sehen. Tätigkeit in Verbindungsstäben und technische Ausrüstungshilfe sollen laut dem Antrag der Bundesregierung im Vordergrund stehen und nicht mehr so sehr die Absicherung von Hilfslieferungen wie bisher. Das ist zu begrüßen. Deshalb wird die AfD diese Mission wie in den Vorjahren unterstützen und dem Antrag zustimmen. Dennoch werden von der Bundesregierung für 2021 wieder 28 Millionen Euro für humanitäre Hilfe vorgesehen, also Nahrungsmittellieferungen. Wir meinen, es wäre sinnvoller, die Nahrungsmittelhilfe schrittweise herunterzufahren und die Entwicklung der Landwirtschaft und der Verteilsysteme in diesem Land, aber auch in anderen Ländern zu intensivieren. ({3}) Schwerpunkt der Tätigkeit des BMZ im Südsudan ist ja schon jetzt die Entwicklung der landwirtschaftlichen Infrastruktur, der Wasser- und der Sanitätsversorgung – eine konsequente und richtige Entscheidung. Den Warlords aber sollten wir nicht erlauben, ihre Verantwortung für die Völker des Südsudan weiterhin nicht wahrzunehmen. Hilfe zur Selbsthilfe ja, unbedingt, aber keine Hilfe, die hilflos macht. Ich danke Ihnen. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Herr Kollege Maier, ich finde es schon ein bisschen zynisch, wenn man die humanitäre Hilfe infrage stellt, die einfach in einer Notsituation zu leisten ist. ({0}) Es ist völlig klar, dass wir mit unserem vernetzten Ansatz Nothilfe, humanitäre Hilfe leisten und natürlich auch die längerfristige Entwicklung des Landes im Blick haben. Aber die humanitäre Hilfe, die einfach kurzfristig notwendig ist, was sich aus der Realität ergibt, sollten wir hier nicht infrage stellen. ({1}) Meine Damen und Herren, mit dem Südsudan ist ein Staat ohne klare nationale Identität und Zusammenhalt entstanden. Kurz nach der Unabhängigkeit brach der Bürgerkrieg aus. 400 000 Menschen verloren ihr Leben. 4 Millionen Südsudanesen wurden durch die Gewalt entwurzelt. Die Hoffnung: der 2018 unterzeichnete Friedensvertrag sowie der Waffenstillstand, der in diesem Fall auch weitgehend hält. Erste Schritte des Friedensvertrags wurden umgesetzt: die Einheitsregierung; in strittigen Fragen wurden Kompromisse gefunden. Die Wurzeln des Konflikts reichen jedoch tief: ethnische Differenzen und Verteilungskämpfe um Ressourcen. Deshalb ist klar: Die Situation ist nach wie vor fragil. Die internen Herausforderungen sind zahlreich: die Reform des Sicherheitssektors, die Verteilung politischer Ämter. Zwei Drittel der Bevölkerung – das wurde ja auch angesprochen – sind jetzt und heute auf humanitäre Hilfe angewiesen, und Überschwemmungen und die Coronapandemie haben die Lage zusätzlich verschärft. 7,5 Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe. Das sind 1 Million Menschen mehr als letztes Jahr, also sozusagen in kurzer Zeit eine Steigerung, und daher ist Hilfe letztendlich einfach notwendig. UNMISS bleibt hier essenziell, damit Hilfsorganisationen wie das Welternährungsprogramm arbeiten können und humanitäre Hilfe die Menschen im Südsudan erreicht. Die Zivilbevölkerung muss – das ist ein weiterer Punkt – weiterhin geschützt werden, weil Gewaltausbrüche und Menschenrechtsverletzungen leider an der Tagesordnung sind. Die militärische Präsenz bleibt deshalb notwendig. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt UNMISS in der Gesamtheit unverzichtbar. Die Mission ist das Fundament der internationalen Gemeinschaft, um den Friedensprozess zu unterstützen, und gleichzeitig ist diese militärische Präsenz auch die Sicherheitsgrundlage für viele zivilgesellschaftliche Programme und Aktivitäten, zum Beispiel für ein Konfliktmanagementprogramm für Stammesführer oder Projekte zur Versöhnung zwischen Ethnien. Ich glaube, dass das ganz entscheidend ist, um die Wurzeln der Konflikte anzupacken. Für Dialog und Mediation ist natürlich das sichere Umfeld die Voraussetzung. Aber erst durch Dialog und Mediation können die Konflikte auch dauerhaft gelöst werden. Der Gedanke, versöhnen zu können, muss in den Köpfen gepflanzt werden, und erst dann kann diese gespaltene Nation zusammenwachsen und Friede nachhaltig fortbestehen. Deshalb bleibt auch unser vernetzter Ansatz ganz entscheidend, weil wir selbstverständlich humanitäre Hilfe kurzfristig und Entwicklungszusammenarbeit längerfristig einbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist in unserem europäischen Interesse, zur Stabilisierung dieser Region beizutragen. Es ist doch ein Trugschluss, zu glauben, wegzuschauen, nicht zu handeln und sich abzuschotten schütze uns zum Beispiel vor Terrorismus oder Migrationsbewegungen. Die Unterstützung der Region heute gemeinsam mit unseren Partnern ist besser, als nach einem Konfliktausbruch, nach einer Aggression von morgen dann die Sicherheit wiederherstellen zu müssen. Der Multilateralismus liegt in der DNA unseres Landes. An UNMISS beteiligen sich 71 Nationen, und es ist auch richtig, dass wir, dass Deutschland hier weiterhin international Verantwortung übernehmen, dass wir die Vereinten Nationen bei dieser wichtigen Mission im Südsudan unterstützen. Zum Schluss, Frau Präsidentin, möchte ich allen Soldatinnen und Soldaten bei dieser und auch weiteren Missionen herzlich danken, weil sie mit höchsten persönlichem Einsatz diese internationale Verantwortung ganz konkret umsetzen und weil sie ihren Dienst tun weit weg von zu Hause. Herzlichen Dank für diesen Einsatz! Danke schön. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Ulrich Lechte von der SPD, nein, von der FDP-Fraktion. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vielen Dank für die Ehre, dass ich der SPD-Fraktion angehören dürfte; aber ich bin nach wie vor ein Liberaler und ein FDPler und werde das auch bleiben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Anfang dieses Jahres beging der Südsudan das zehnjährige Jubiläum des Unabhängigkeitsreferendums. Doch während die Unabhängigkeit teils gelang, ist die Einheit in diesem auf vielfache Weise fragmentierten Staat immer noch fern. Teile der Welt nennen ihn auch einen „Failed State“. Die von großer Hoffnung und Erwartung getragene Euphorie von damals ist nach dem schrecklichen Bürgerkrieg, der schlechten humanitären Lage und zahlreichen Naturkatastrophen weitestgehend in Ernüchterung umgeschlagen. Denn das Land wird trotz intensiver Friedensbemühungen nach wie vor von zersplitterten Rebellengruppen im Bann gehalten. Umso wichtiger ist das internationale Engagement der Staatengemeinschaft in dieser krisengebeutelten Region. Die Entwicklungen im Südsudan zeigen ein wenig Licht, aber auch viel zu viel Schatten. Auf der einen Seite positiv zu vermelden ist die langersehnte Errichtung des Kriegsverbrechertribunals von vergangener Woche. Viel zu lange wurde diese Forderung der internationalen Gemeinschaft von allen Parteien auf die lange Bank geschoben. Dabei kann deren Wichtigkeit und Notwendigkeit gar nicht stark genug betont werden, sind doch gerade die Abwesenheit von Justiz und die Straflosigkeit, die daraus resultiert, Treiber der nie endenden Gewaltspirale im Südsudan. Auf der anderen Seite merkt man die zunehmende Angespanntheit im Südsudan im Mandatstext der Bundesregierung. So wurde im Auftragsteil eine Passage für ein robusteres Mandat – ich zitiere: „zur Herstellung eines sicheren Umfelds in Dschuba und bei Bedarf in anderen Teilen Südsudans durch Einsatz aller erforderlichen Mittel, einschließlich robusten Vorgehens“ – eingefügt. Ziel dabei sei es, die Bewegungsfreiheit zu gewährleisten und gegen Akteure einschreiten zu können, die gezielte Attacken gegen Einrichtungen der Vereinten Nationen oder gegen humanitäre Helfer vorbereiten. Angesichts der Entwicklungen im Lande kann ich mir zwar denken, was es mit dieser Ergänzung des Mandats auf sich hat; aber ich würde mir doch wünschen, dass die Bundesregierung uns für solche Änderungen des Mandatstexts auch eine Begründung liefert. ({1}) Doch in der schriftlichen Begründung habe ich nichts dazu gefunden, und auch mündlich habe ich gerade von Ihnen, sehr geehrter Herr Staatsminister Annen, nichts gehört. Doch es ist unabdingbar, dass die Bundesregierung dem Parlament gegenüber eine vollumfängliche Begründung aller das Mandat ausmachenden Punkte darlegt, ist es doch das Parlament, welches über Auslandsmandate entscheidet und dafür letztlich auch die Verantwortung trägt. ({2}) Ist diese Ergänzung also nun eine Reaktion auf die immer stärker ansteigende Zahl von zum Opfer gewordenen humanitären Helfern, zivilen Helfern und weiteren Personals der Vereinten Nationen? In der Tat ist die Zahl der getöteten und verschleppten humanitären Helfer erschreckend hoch. Letztes Jahr sind knapp 15 humanitäre Helfer im Südsudan umgekommen, womit der Südsudan der zweittödlichste Einsatzort auf unserem Globus ist. Doch während ich hier gerade nur eine Vermutung über die Ergänzung mache, ist es an der Bundesregierung, hier für klare Verhältnisse zu sorgen und offen darzulegen, wie diese Ergänzung im Mandatstext zustande gekommen ist und wie sie begründet wird. Hoffen wir, dass sie diese Ergänzung spätestens im Auswärtigen Ausschuss darlegen wird! Der Überweisung dorthin stimmen wir daher gerne zu – und am Ende hoffentlich, wie auch in all den letzten Jahren, dem Mandat selber. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich bin ja auch froh, dass es in jeder Fraktion freundliche, nette Kolleginnen und Kollegen gibt. ({0}) Das Wort geht an Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. ({1})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung beantragt, den Einsatz der Bundeswehr im Südsudan um ein weiteres Jahr zu verlängern. Im Gegensatz zu Einsatzländern wie Afghanistan oder Mali ist der Südsudan weniger im Fokus der Öffentlichkeit, was daran liegen mag, dass derzeit nur elf Bundeswehrangehörige in der UN-Mission UNMISS eingesetzt werden, die insgesamt 16 940 Personen umfasst. Trotzdem finde ich es richtig, mal einen kritischen Blick auch auf diese Militärmission zu werfen, an der sich Deutschland jetzt seit 2005 – einschließlich UNMIS – beteiligt. Der Südsudan ist erst vor zehn Jahren, nach Jahrzehnten eines blutigen Bürgerkriegs, vom Sudan unabhängig geworden. Doch die ersehnte Unabhängigkeit brachte keinen Frieden. Schon 2013 zerbrach die Regierung in verschiedene Fraktionen und die Armee in verschiedene Milizen, die um Macht und Einnahmen aus dem Ölgeschäft kämpfen. Der Südsudan ist nämlich ein reiches Land mit vielen Ölquellen, doch der Reichtum landet ausschließlich in den Händen korrupter und unfähiger Eliten, von Gaunern und Milizenführern. Und das Volk hungert und leidet, und es flieht: Von 12 Millionen Menschen sind 4 Millionen auf der Flucht, entweder in den Nachbarländern oder innerhalb des Landes. Das jüngste Friedensabkommen steht auf des Messers Schneide, nicht nur, weil es nicht ordentlich umgesetzt wird, sondern auch, weil seine Umsetzung die Gefahr weiterer bewaffneter Konflikte verschärft. Das will ich kurz erklären: 83 000 Kämpfer der verschiedenen Milizen sollen in den Staatsapparat, ins Militär, in die Polizei, in den Geheimdienst, integriert werden, und das in einem Staat, der de facto pleite ist. Zu den Aufgaben von UNMISS gehört die Ausbildung und Ausstattung dieser Einheiten, aus denen bei Bedarf im Handumdrehen wieder Milizen werden können, wenn der Staat sie zum Beispiel nicht bezahlt. Meine Damen und Herren, das ist wirklich absurd. ({0}) Wenn die UNO-Soldaten tatsächlich die Zivilbevölkerung vor Gewalt schützen sollten, dann müssten sie sehr oft gegen diesen Staatsapparat vorgehen. Mit dem müssen sie aber kooperieren. Dieser ganze Ansatz, meine Damen und Herren, ist einfach falsch. ({1}) Die Milizen müssen entwaffnet werden, und die Kämpfer brauchen zivile Jobs, von denen sie leben können. Zu tun wäre genug: Straßen, Schulen oder Gesundheitsstationen bauen, Häuser reparieren, Stromleitungen legen, Abwasserkanäle graben oder Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Solange das nicht geschieht, wird der Südsudan nicht zur Ruhe kommen. Morgen, meine Damen und Herren, ist der Red Hand Day, der weltweite Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Und morgen wird UNICEF wieder bekannt geben, welche Projekte zur Befreiung und Reintegration von Kindersoldaten sie einstellen müssen, weil die Finanzierung fehlt. Im Südsudan sind diese Projekte die einzige Hoffnung für Tausende traumatisierter Kinder und Jugendlicher, die entführt, gefoltert und vergewaltigt und zum Töten abgerichtet wurden. Ist es dann nicht absurd, dass die UNO für Militärmissionen Pflichtbeiträge erhebt, aber das Kinderhilfswerk um jeden Cent betteln muss? Meine Fraktion wird sich damit nicht abfinden. Wir sagen: Keinen Menschen, keinen Cent für den Krieg, aber alles für die Kinder dieser Welt! ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Agnieszka Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schlechten Nachrichten für die Menschen im Südsudan, sie reißen nicht ab, einer Katastrophe folgt wahrlich immer die nächste. Kriminalität und sexualisierte Gewalt insbesondere gegen Kinder und Frauen steigen, die Sicherheitslage erschwert die wichtige Arbeit der Helferinnen und Helfer. Dabei ist sie unverzichtbar; denn nicht nur die Folgen der Pandemie sind brutal; seit letztem Jahr kommen auch noch schlimme Überschwemmungen und eine Heuschreckenplage hinzu. All das hat dazu geführt, dass mittlerweile rund zwei Drittel der Zivilbevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Der Waffenstillstand bleibt mehr als brüchig, und der Weg hin zu den Wahlen bleibt total fragil. Ohne internationale Unterstützung wird dieser politische Prozess ganz sicher nicht gelingen, können die Menschen nicht versorgt werden – und deshalb ist das Engagement der Vereinten Nationen angesichts der dramatischen Notlage der Menschen so unfassbar wichtig, ja unverzichtbar. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wie vor ist der Präsident Salva Kiir im Amt. Das ist derjenige, der seinen persönlichen brutalen Machtkampf mit seinem damaligen Vize Riek Machar zu einem brutalen Bürgerkrieg gemacht hat. Und bisher mussten sie sich für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen nicht verantworten. Es ist zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass die Regierung nun doch endlich Instrumente zur juristischen Aufarbeitung aus dem Abkommen auf den Weg bringen musste, nachdem sie diese Schritte sehr lange blockiert hat. Die schrecklichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, sie müssen aufgeklärt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. In der Tat: Das wird ein langer und steiniger Weg, insbesondere da diese Verbrecher ja immer noch an den Schaltstellen der Macht sitzen. Zugleich – da stimmt ja auch die Analyse der Kollegin Vogler – behindert die Regierung auch immer wieder die Friedensmission UNMISS bei ihrer Arbeit, die die Zivilbevölkerung schützen soll, die den Friedensprozess unterstützen möchte und eben auch die Menschenrechtsverletzungen in den Blick nimmt. Sie hat dazu zivile, polizeiliche und militärische Komponenten. Wenn ich aber Ihrer Logik folge – und das internationale Recht kennt ja auch Mechanismen, die gegen den Willen einer amtierenden Regierung militärisches Eingreifen ermöglichen –, müssten Sie ja in der Tat, insbesondere wenn Sie entwaffnen wollen, eigentlich ein noch härteres militärisches Vorgehen fordern. ({1}) Das – glaube ich – tun Sie dann als Linke an der Stelle auch nicht. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Hintergrund der unsicheren Lage wird im neuen Mandat die Robustheit im Auftrag erhöht. Hierzu werden wir in den Ausschüssen auch noch eine Reihe von Fragen an die Bundesregierung haben. Zugleich ist es aber wie jedes Jahr ein Minimandat mit der Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten. Die geringe Größe wird vom tatsächlichen Engagement jedoch in der Regel noch weit unterschritten; aktuell ist ein knappes Dutzend vor Ort. So dankbar ich allen Menschen bin, die sich im Rahmen dieser Mission engagieren, so sehr muss man doch feststellen, wie bescheiden, freundlich formuliert, der deutsche Beitrag ausfällt, und das, obwohl Sie aus dem Parlament seit Jahren – nicht nur aus meiner Fraktion – das Zeichen bekommen, dass wir durchaus bereit wären, die Vereinten Nationen bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen. In der Bundesregierung schwingen der Außenminister und die Verteidigungsministerin immer große Reden davon, dass Deutschlands internationale Verantwortung größer wird. Füllen Sie diese Versprechen doch am besten mit Leben, indem Sie die Unterstützung für die Friedensmissionen der Vereinten Nationen in den schlimmsten Krisen der Welt hochfahren. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Ursula Groden-Kranich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben es jetzt schon mehrfach gehört: Die Lage im Südsudan ist gefährlich und zwiegespalten. Denn einesteils ist das Land seit vielen Jahren wirtschaftlich am Boden, zusätzlich vom Bürgerkrieg gebeutelt und für die Menschen vor Ort noch längst nicht die sichere Heimat, von der sie – wie wir alle – träumen. Anderenteils gibt es aber im Südsudan ein wenig Hoffnung und Fortschritte – wenn denn die Wahlen kommen – in Richtung Demokratisierung, Religionsfreiheit und Menschenrechte. Aber wie so oft haben diese Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie die wirtschaftliche Lage eher noch verschlechtert. Das ist per se nichts Ungewöhnliches; aber umso wichtiger ist es, dass wir in unserem Engagement nicht nachlassen. Die Bundeswehr ist in diesem Zusammenhang ein absolut unverzichtbarer Partner, um den militärischen Rahmen zu sichern, innerhalb dessen die friedliche Aufbauarbeit des Sudans vonstattengehen kann. Das gilt umso mehr, als es immer wieder zu Rückschritten im Friedensprozess kommt: Armee und oppositionelle Gruppierungen verüben noch immer schwere Menschenrechtsverletzungen, und sowohl zwischen als auch innerhalb der Regierungsparteien bestehen weiterhin Konflikte. Dass Covid-19 und die Abhängigkeit vom Ölpreis die Lage insgesamt noch weiter verschärfen, ist so logisch wie dramatisch. Deswegen bleibt die humanitäre Lage absolut prekär: Es gibt weiterhin sexualisierte Gewalt von regierungstreuen wie oppositionellen Kombattanten. Es werden Kindersoldaten rekrutiert und eingesetzt. Und die verheerenden Fluten haben über 1 Million Betroffene zusätzlich geschwächt. Über die Hälfte der Bevölkerung leidet unter akuter Ernährungsunsicherheit, über 1 Million mehr als im Vorjahr. 1,4 Millionen Kinder sind unterernährt. Unter diesen Bedingungen bleiben die Mandatsaufgaben von UNMISS – leider! – so aktuell und unverzichtbar wie dringend geboten: der Schutz der Zivilbevölkerung, die Absicherung der humanitären Hilfe, die Unterstützung der Umsetzung des Friedensabkommens und die Überwachung der Menschrechte bzw. die Untersuchung von Verstößen. Das Mandat UNMISS wurde vergangenen März bis zum 15. März dieses Jahres verlängert, und – wir haben es gehört – es bestand Ende November aus knapp 15 000 Blauhelmen, knapp 2 000 Polizeikräften und 2 500 zivilen Mitarbeitern. Derzeit sind zwar wenige deutsche Soldatinnen und Soldaten an dieser wichtigen Mission beteiligt, aber der deutsche Beitrag der Bundeswehr unterstützt und sichert als wertvoller Partner die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe vor Ort. Darum sollten wir sie unbedingt fortsetzen. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Professor Dr. Patrick Sensburg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Mission im Südsudan ist richtig, und wir werden dort auch gebraucht. Die Mission um ein Jahr zu verlängern, ist richtig; denn in der Region helfen wir. Wir tun wirklich etwas Gutes. Ich selbst war zweimal im Südsudan: einmal im Jahr 2011, als sich der Südsudan gerade vom Sudan abgespalten hatte, und dann noch einmal im Jahre 2017. Wer gesehen hat, wie aufreibend es in dem Land in der Fläche ist, wie unsicher man sich dort fortbewegt, der weiß auch, welche schwere Aufgabe unsere Soldatinnen und Soldaten leisten, wenn sie zum Beispiel als Beobachter in der Fläche tätig sind. Das ist keine leichte, das ist keine ungefährliche Mission. Unser herzlicher Dank gilt unseren Soldatinnen und Soldaten, dass sie sich dort engagieren. ({0}) Ich freue mich auch, dass in der Mission und bei vielen Peacekeeping-Missionen immer wieder Reservistinnen und Reservisten im Einsatz sind. Das sind sie im Südsudan auch, sie engagieren sich und machen einen exzellenten Job. Daher gilt mein Dank insbesondere auch den Reservistinnen und Reservisten vor Ort. ({1}) Der Auftrag von UNMISS – es ist schon gesagt worden – hat verschiedene Facetten: Es ist der Schutz der Zivilpersonen, es ist die Schaffung förderlicher Bedingungen für die Bereitstellung humanitärer Hilfe, es ist die Unterstützung der Umsetzung des Friedensabkommens und des Friedensprozesses insgesamt, es ist die Beobachtung und die Untersuchungstätigkeit auf dem Gebiet der Menschenrechte, und es ist – das ist auch angesprochen worden – die Herstellung eines sicheren Umfelds in Juba und, bei Bedarf, die entsprechenden Mittel, auch robuste Mittel, einzusetzen, um das zu gewährleisten. Wer einmal wie ich vor längerer Zeit erlebt hat, wie es ist, wenn es in Juba rundgeht und man nicht mehr zum Flughafen kommt, der weiß, warum es notwendig ist, das auch mit robusten Mitteln zu gewährleisten, damit zum Beispiel die Möglichkeit, den Flughafen zu erreichen, gegeben ist. ({2}) Hier leisten unsere Soldatinnen und Soldaten wirklich einige gute Arbeit. Der Einsatz der Bundeswehr und das Engagement Deutschlands insgesamt werden hoch geschätzt. Es wird nicht nur bei den Militärbeobachtern, sondern auch in den Stäben und im Headquarter hoch geschätzt. Auch das Auswärtige Amt und Institutionen weit darüber hinaus, zum Beispiel das Max-Planck-Institut, haben sich sehr engagiert. Das Engagement ist hoch, und das wird vor Ort auch so wahrgenommen. Der Hoffnungsschimmer, den mehrere Redner deutlich hervorgehoben haben, dass es zu einer juristischen Aufarbeitung der Gräueltaten kommt, der ist da und den sollten wir mit allen Mitteln unterstützen. Ich selbst habe bei meinem zweiten Besuch in Juba 2017 einen ganzen Container juristischer Bücher dorthin gebracht. Bei meinem ersten Besuch habe ich nämlich festgestellt, dass die Juristische Fakultät der Uni Juba kein einziges juristisches Buch hatte. Die waren alle mit nach Khartum genommen worden, als das Land sich teilte. Ich kam in eine Bibliothek mit leeren Regalen. Wir kennen das Monument, das wir hier in Berlin haben. Ich habe zwei Jahre gesammelt, Hochschulbibliotheken angeschrieben und einen ganzen Container juristischer Bücher auf Englisch mit nach Juba gebracht. ({3}) Wir brauchen dort mehr Engagement. Wer sich engagieren will, kann das tun. Aber warum müssen wir vor Ort sein? Wir müssen vor Ort sein – ich komme damit auch gleich zum Ende –, weil es sich um eine der größten Krisen und humanitären Katastrophen in der Region handelt, weil es – Staatsminister Annen hat darauf hingewiesen; ich brauche es nicht zu wiederholen, aber möchte es noch einmal unterstreichen – immer noch ein sehr hohes Niveau an sexualisierter und genderbasierter Gewalt in der ganzen Region gibt – UNMISS brauchen wir, um dem entgegenwirken zu können; die UN machen da eine gute Arbeit, es geht aber ohne UNMISS nicht – und weil es in der Region – und damit komme ich zum Schluss – riesige Potenziale gibt, die wir heben könnten, wenn Krieg und Gewalt dort endlich ein Ende hätten. Darum eine letzte Bitte: Wer sich engagieren möchte, kann sich bei mir melden. Ich sammele nämlich gerade medizinisches Material und medizinische Geräte, die die medizinische Fakultät in Juba braucht. Wer also im Wahlkreis jemanden kennt, der etwas über hat – dort besteht auch ein riesiger Bedarf im Bereich Lehre; entsprechende Unterstützung wird dort gebraucht –, kann mich gerne ansprechen. Diese Mission sollten wir unterstützen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/26557 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen.

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind mitten in einer globalen Pandemie. Wir haben weltweit 2,3 Millionen tote Menschen zu beklagen, davon 64 000 Tote allein in Deutschland. Menschen, die wir schmerzlich vermissen, die nicht mehr Teil unserer Familien sind, die eine schmerzliche Lücke hinterlassen. Aber auch die langfristigen Schäden einer überwundenen SARS-CoV-2-Infektion können gravierend sein. Dazu gehören sowohl Lungenschäden als auch Kurzatmigkeit, neurologische Schäden bis hin zum Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn. Unsere Kinder leiden unter den Kontaktbeschränkungen und Einschränkungen, weil sie ihre Freunde nicht mehr treffen können. Kurzum: Die Auswirkungen dieser Pandemie sind gravierend und werfen einen großen, dunklen Schatten auf unser Land. Doch es gibt einen Weg, der aus dieser Krise hinausführt. Dieser Weg wird uns bereitet von klugen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Er basiert auf wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen und daraus entwickelten Technologien. Ja, die Entscheidungen, die aus diesen Erkenntnissen gezogen werden, obliegen der Politik. Aber für mich, der ich als Wissenschaftler mein halbes Leben für die evidenzbasierte Medizin gearbeitet habe und dies nun für die evidenzbasierte Politik tue, ist es wichtig, zu betonen, dass die Grundlage der Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse sind: sowohl für die Verhaltensmaßnahmen als auch für die medikamentöse Bekämpfung. Die beiden BioNTech-Gründer haben im Januar 2020 die globale Gefahr des SARS-CoV-2 erkannt und haben ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert und Ressourcen mobilisiert, um in die Impfstoffentwicklung einzusteigen. Gleiches gilt für CureVac, die ebenfalls früh erkannt haben, welche Gefahr in diesem Virus steckt. Diese Weitsicht hat zu einem wirksamen und sicheren Impfstoff auf der Basis der messenger-RNA-Technologie binnen eines Jahres geführt. Der Erfolg war keineswegs sicher, da die messenger-RNA-Technologie bisher noch nicht im Einsatz war. Eigentlich war das Ziel von BioNTech ursprünglich die Krebsimmuntherapie, und ich weiß noch, wie intensiv die Diskussion hier war, ob dieser Ansatz schlussendlich erfolgreich sein wird. Wir haben dort noch viel zu erwarten. Hier gelang nun ein enormer technologischer Durchbruch, für den ich dankbar bin. Und wir alle sind dankbar und froh, dass er in Deutschland von talentierten und klugen Spitzenforscherinnen und ‑forschern erreicht wurde. ({0}) Obgleich die Entwicklung des Impfstoffs innerhalb kurzer Zeit gelang, hat die Forschung an der messenger-RNA-Technologie eine lange Vorgeschichte. Es liegt mir als Wissenschaftler nun wirklich völlig fern, die Politik für etwas zu loben, was ihr in diesem Bereich nicht zusteht. Insofern beziehe ich mich auf die Bewertungen der Geschäftsleitung von BioNTech beim Gespräch in unserer Arbeitsgruppe: Es war auch und insbesondere – nach deren Aussage – die frühzeitige öffentliche Förderung, die die Forschung ermöglichte. ({1}) Insofern ist es zulässig, zu sagen, dass dieser Erfolg ein Erfolg der Forschungspolitik und der Förderung von Spitzenforschung in den letzten 15 Jahren in Deutschland ist. ({2}) – Bei 20 bist du dabei. – Wir arbeiten intensiv und seit Langem dafür, dass wissenschaftliche Durchbrüche zu wirksamen Ergebnissen für die Menschen führen. Nachhaltig und langfristig bohren wir diese dicken Bretter beharrlich weiter, in allen Technologiebereichen und eben halt auch in der Biotechnologie, zu der die Gentechnik gehört. BioNTech wurde bereits in der Gründungsphase, 2009, durch die Gründungsoffensive Biotechnologie, GO-Bio, gefördert. Die Gründungsoffensive fördert in der Frühphase die Gründung von Unternehmen aus den Lebenswissenschaften. Ebenfalls war BioNTech eingebettet in die Förderung von Clustern zur Vernetzung von Unternehmen und Hochschulen; beim sogenannten Cluster für Individualisierte ImmunIntervention, Ci3, wirkte diese Firma mit. Das führte zu weiteren Erfolgen. BioNTech wurde am Ende durch die öffentliche Hand mit 375 Millionen Euro, CureVac mit 252 Millionen Euro gefördert. Wir haben damit ein exzellentes Umfeld geschaffen für weitere technologische und wissenschaftliche Durchbrüche. ({3}) Neben der Anerkennung der klugen Köpfe in diesem Land und der Forschungspolitik in den letzten 15 Jahren ({4}) dürfen wir aber auch die Rolle der Unternehmer nicht vergessen, die an entscheidender Stelle das Potenzial dieser Technologie erkannt haben. Dietmar Hopp bei CureVac und die Gebrüder Strüngmann bei BioNTech haben hier Wichtiges geleistet. Sie müssen noch Nachahmer finden; denn von den 6,3 Milliarden Euro an Risikokapital für deutsche Start-ups gehen bisher nur 1,5 Prozent in den Biotech-Bereich. Unser Ziel muss es sein, dass mehr Corporate-Venture-Fonds und Frühphasen-Geldgeber in die Biotechnologie gehen. Ich hoffe, der Erfolg von CureVac und BioNTech wird hierfür den Weg bahnen. Hier zeigt sich, dass unsere Bemühungen, den Innovationsstandort Deutschland attraktiver zu machen und zu stärken, noch nicht abgeschlossen sind. So haben in Deutschland gerade viele Start-ups in der Skalierungsphase Probleme. Daher haben wir im November 2019 10 Milliarden Euro in einem entsprechenden Zukunftsfonds installiert, der über den Haushalt 2021 finanziert worden ist. Wie Sie sehen, fallen gute Ergebnisse nicht einfach vom Himmel, sondern sind das Ergebnis langer, nachhaltiger Unionspolitik, die auf die Förderung von Spitzenforscherinnen und Spitzenforschern, exzellenten Universitäten und großen Forschungseinrichtungen setzt. Insofern an dieser Stelle: Ihr Antrag vom November letzten Jahres kommt hier etwas zu spät. Wir sind da schon weiter. ({5}) So fasse ich zusammen: Wir sehen in der erfolgreichen Impfstoffentwicklung im letzten Jahr ein hervorragendes Beispiel, wozu Menschen fähig sind, wenn alle zusammenarbeiten, wenn wir uns gemeinsam anstrengen, wenn den klügsten Köpfen die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die sie zur Verwirklichung ihrer Ideen brauchen. Wir tun dies in der großen Palette zukunftsorientierter Technologien und eben auch und bereits erfolgreich im Bereich der Biotechnologien. Damit sind wir auch in der Lage, so etwas wie Corona zu besiegen. Herzlichen Dank. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass wir noch einen langen Abend vor uns haben, und bitte, die Redezeiten einzuhalten. Als Nächstes geht das Wort an Dr. Götz Frömming von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Albani, also, ich bin schon ein bisschen peinlich berührt. Wir debattieren ja eigentlich Anträge der FDP, in denen – auch zu Recht, meine ich – auf Versäumnisse der Bundesregierung hingewiesen wird, auch auf Regelungsdefizite auf EU-Ebene hingewiesen wird. All das erwähnen Sie nicht; stattdessen nutzen Sie die Debatte zu einem Selbstlob der Regierung, das man so nicht stehen lassen kann. ({0}) Die Geschichte der Firma BioNTech war sicherlich eine Erfolgsgeschichte; aber es war keine Erfolgsgeschichte dieser Bundesregierung. ({1}) Meine Damen und Herren, zum Antrag der FDP. Wie so oft spricht die FDP Wichtiges an, schießt aber dann doch wieder über das Ziel hinaus. Allen Ernstes, meine Damen und Herren, philosophiert die FDP über eine Formel zur Unsterblichkeit. Ich weiß gar nicht, selbst wenn es solch eine Formel eines Tages gäbe, ob wir uns das wünschen sollten, wenn ich so an das Sitzfleisch mancher Regierungschefs denke. ({2}) Meine Damen und Herren, die FDP will ferner die Ausbildungs- und die Studienangebote verbessern. Das ist ein sinnvoller Vorschlag, aber ich glaube, auch da ist die Bundesregierung die falsche Adresse; dafür sind vorrangig die Länder zuständig. Vielleicht können Sie da einmal in Nordrhein-Westfalen anfangen; wie ich höre, regieren Sie dort ja mit. Darüber hinaus verwundert insgesamt, wie staatsgläubig die Anträge der FDP daherkommen: Es wird allen Ernstes ein großer Staatsfonds gefordert, der nun alle Bemühungen bündeln soll, um die Gentechnologie, die Biotechnologie in Deutschland voranzubringen. Meine Damen und Herren, das klingt für mich ein bisschen wie so eine Art chinesische Lösung in Magentafarben. Ich glaube, das brauchen wir nicht. Wir sehen auch am Beispiel der Firma BioNTech, dass das inzwischen ganz anders läuft. Auch deutsche Firmen können sich natürlich Risiko- bzw. Wagniskapital weltweit besorgen und brauchen keinen deutschen oder europäischen Staatsfonds dafür. ({3}) Reden wir aber noch einmal kurz über die Firma BioNTech. Es ist ja schon interessant, wie lange die Bundesregierung hier geschlafen hat. Die AfD hat frühzeitig, schon im Juni, dazu einen Antrag eingebracht, Sie aufgefordert, auch national zu denken. Das trauen Sie sich ja inzwischen kaum mehr. Erst unter dem Druck der Verhältnisse, am 9. September, ({4}) kam es dann zu einer Förderung von BioNTech mit 375 Millionen Euro. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion erfahren wir nun, dass die Bundesregierung immerhin sich hat zusichern lassen, ({5}) dass Deutschland auch eine angemessene Anzahl von Impfdosen dann vielleicht mal bekäme. Zugesichert, angemessen – meine Damen und Herren, mit dieser vagen Aussage hat sich die Bundesregierung offenbar zufriedengegeben. Eine genauere Festlegung, das sei nicht möglich gewesen. Man verweist auf europäisches Recht und die europäische Ebene. Wie wir inzwischen wissen, ist das Ganze auf europäischer Ebene dann ja auch gründlich schiefgegangen. Stattdessen haben sich dann die heute Morgen schon geschmähten bösen Buben, insbesondere die USA unter Trump, ausreichend Impfdosen gesichert. Die EU hat geschlafen. Die Bundesregierung hat zugeguckt und das alles an sich vorbeiziehen lassen. Meine Damen und Herren, am Ende ist das ähnlich wie bei der Bestellung eines Neuwagens beispielsweise: Wer zuerst bestellt hat, wird natürlich auch zuerst beliefert. Sich dann hinterher zu beschweren, das ergibt wenig Sinn. ({6}) Das Ganze ist ein Trauerspiel. Die Bundesregierung hat mit deutschem Steuergeld die Entwicklung eines Impfstoffs subventioniert, von dem sich dann andere zuerst bedient haben. Man redet das jetzt schön und sagt, das sei solidarisches Handeln gewesen, immerhin kein Impfnationalismus. Meine Damen und Herren, das war kein solidarisches Handeln, das war stümperhaft. Ich danke Ihnen. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. ({0}) Das Wort geht an Markus Paschke von der SPD-Fraktion. ({1})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bio- und Gentechnikstandort Deutschland ist gut aufgestellt. In der Impfstoffforschung und ‑produktion sind vor allem deutsche Unternehmen wie BioNTech, CureVac und andere führend. Ohne solche Biotech- und Gentechnologieunternehmen ist heute keine moderne Arzneimittelforschung und ‑entwicklung mehr denkbar. Und die Umsetzung der Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen in konkrete Produkte und Dienstleistungen wird Deutschland in Zukunft noch stärker machen. Wir wollen aber nicht einfach blind alle Verfahren in die Anwendung bringen; denn wir müssen auch genau abwägen, welche Verfahren den Menschen und auch der Natur dienen und nutzen. Bei allem Potenzial müssen wir ethische Grenzen und unser Wertesystem berücksichtigen. Daher wollen wir im Gegensatz zur FDP das Vorsorgeprinzip in der Anwendung stärken und nicht in ein blindes Innovationssystem umkehren. ({0}) Die Innovationskraft der Bio- und Gentechnologiebranche ist enorm. Die private und öffentliche Forschung in diesem Bereich leistet einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der derzeitigen Pandemie. Wir können hier deutlich erkennen, dass das Thema der Translation von Forschungsergebnissen in die Anwendung eine enorme Bedeutung hat. Neben der Förderung eines innovationsfreundlichen Klimas brauchen wir auch eine Stärkung der gesellschaftlichen Akzeptanz für neue Technologien. Und ich denke, wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir unsere Ressourcen gesellschaftlich sinnvoll einsetzen. Nehmen wir das Beispiel der Impfstoffforschung mit mRNA-Impfstoffen: Dort haben wir 20 Jahre Grundlagenforschung aus Steuergeldern finanziert. Am Anfang hat das Uniklinikum in Mainz sogar eine Mietgarantie für das Firmengebäude von BioNTech übernommen. Für die Entwicklung des Coronaimpfstoffes wurden allein aus Deutschland noch einmal mehrere 100 Millionen Euro investiert. Ich finde, das ist auch gut und richtig so. ({1}) Aber wer profitiert jetzt von den Ergebnissen und den zu erwartenden Milliardenumsätzen? Wer wird wann zu welchem Preis mit Impfstoff beliefert? Um die Pandemie zu bekämpfen, müssen wir das Virus weltweit unter Kontrolle bekommen; sonst drohen immer wieder neue Mutationen unsere Erfolge zunichtezumachen. Da hilft kein nationalistisches Gehabe, sondern wir müssen tatsächlich darauf achten, dass wir alle Menschen, alle Länder dieser Welt einbeziehen. ({2}) Unser Interesse muss also sein, möglichst schnell möglichst weltweit ausreichend Impfstoff zur Verfügung zu haben. Ich halte es nicht für eine kluge Forschungs- und Innovationspolitik, wenn die Forschung im Wesentlichen von uns allen bezahlt wird, die Erträge daraus aber privatisiert werden. ({3}) Ein Teil dieser Erträge sollte für weitere Forschung an unsere Gesellschaft zurückfließen oder in der jetzigen pandemischen Lage dazu verwendet werden, auch sogenannte Entwicklungsländer mit ausreichend wirksamem Impfstoff zu versorgen. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Lieber Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Sie ist schon sehr überschritten.

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letzter Satz: Wir wollen Forschung und Entwicklung in Deutschland stärker fördern, aber unsere Gesellschaft muss auch von den Erfolgen profitieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Mario Brandenburg von der FDP-Fraktion. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte im letzten Jahr mit wenigen Einzelnen hier das Vergnügen, im sogenannten Gläsernen Labor in Berlin die Genschere CRISPR/Cas selbst anwenden zu dürfen. Das Ganze führte dann leider sogar zu einem Zeitungsartikel. Und Sie werden sich jetzt fragen: Warum denn „leider“? – Nun ja, weil es in Deutschland offensichtlich schon reicht, in die Zeitung zu kommen, wenn sich nicht mal eine Handvoll Abgeordnete in Eigenregie etwas beibringen, was in den USA bei College Kids im Lehrplan steht. Und genau da fängt das Problem schon an; denn während dort der Umgang mit Gentechnologie im Lehrplan verankert ist, steht bei uns das Ganze im Giftschrank. ({0}) Das ganze negative Vorgeplänkel um Gen- und Biotechnologie hat auch hier seinen Ursprung: durch angstbeladende Reden, durch voreingenommene Thesen und durch überaltertes Wissen. Die Pflänzchen CureVac und BioNTech wurden angesprochen, die es zum Glück geschafft haben, in diesem Rahmen zu wachsen. Das sind beeindruckende Geschichten von extrem klugen Forscherinnen und Forschern, von mutigen Gründerinnen und Gründern, aber eben auch von genauso mutigen Geldgebern im Hintergrund, die es finanziert haben. Die Diskussion, ob es jetzt ein politischer Erfolg war oder nicht, ist müßig; denn selbst Ihre Hightech-Kanzlerin hat auf dem Digitalgipfel zugegeben, dass es Glück war, dass die Finanziers im Hintergrund diese Firmen gestützt haben, und hat noch mal einen nachgelegt, indem sie sagte, das wäre eine dolle Sache, was ein Dietmar Hopp und die Strüngmann-Brüder da tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Respekt: Glück und dolle Sachen können nicht das Finanzierungskonzept der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Biotech sein! ({1}) Dass sich nicht alle Firmen am US-Kapitalmarkt finanzieren können oder sollen und dass nicht alle Start-ups auf Glück oder dolle Sachen warten sollen, zeigt sich allein an den Versuchen von Donald Trump, auf die Firma CureVac Einfluss zu nehmen. Es müsste also jedem in diesem Raum klar sein, dass man bei allen Diskussionen um Souveränität in der Krise, um Souveränität in Lieferketten durchaus auch eine gewisse Souveränität in Sachen Risikokapital braucht. Und genau an dieser Stelle setzen unsere Anträge an. ({2}) Lieber Kollege Frömming, es geht da überhaupt nicht darum, einen Staatsfonds zu schaffen. Wir verlangen den Staat als Dienstleister, der Kapital quasi hebelt. Es geht darum, private Investitionen, aber durchaus auch institutionelle Anleger zusammenzubringen, zu hebeln, regulatorische Hürden auszuräumen und mit einem modernen Gentechnikrecht eben denen, die da forschen und gründen wollen, auch zu sagen: Ja, das, was ihr hier tut, kann hier auch in die Anwendung gelangen. – Es geht also nicht um Staatsgläubigkeit, nicht um einen Staatsfonds; es geht um den Staat als Dienstleister für Technologie und Zukunft im Standort Deutschland. ({3}) Und dass die Welt nicht schläft, sehen wir in den USA; denn dort hat es einen Wechsel beim Präsidenten gegeben, und dort – Herr Rossmann hat es in seiner Rede vorhin angesprochen; ich sehe, er ist noch hier – hat man sich gentechnologisches Spitzenpersonal quasi direkt an den Kabinettstisch geholt. Herr Lander war ein führender Kopf im Humangenomprojekt. Er beschäftigt sich mit der Automatisierung in der Gentechnik und ist jetzt quasi dort der direkte Input-Geber. Das Interessante an diesem Mann ist, dass er eben auch bei der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften tätig ist. Liebe Große Koalition, geben Sie sich bitte noch mal einen Ruck, bevor Sie auf der Zielgeraden noch vom Papst in Sachen Progressivität überholt werden. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Thema dieser Debatte ist mal wieder Gentechnik, ein ebenso wichtiges wie kontrovers diskutiertes Thema; denn es geht um mehr oder weniger gezielte Veränderungen des Erbguts von Lebewesen. Wobei ich mich als Tierärztin schon manchmal wundere, wie locker-flockig manche darüber reden – wir haben es ja auch eben gehört –; denn am Erbgut sollte man nun wirklich nicht einfach so herumschrauben, als ob es eine Maschine wäre. ({0}) Und dass dabei immer nur Gutes herauskommt, ist auch einer der Gentechmythen, die so absichtsvoll verbreitet werden; denn das Genom ist und funktioniert weit komplexer als manche Gentechnikdebatte, und es sind höchstens die Grundlagen seiner Funktionalität bekannt. Deshalb sind halt Folgen einer technischen Veränderung oft nicht so ohne Weiteres direkt vorhersehbar oder deren Ergebnis absehbar. Es stellen sich auch ethische Fragen; denn es geht um den Eingriff in den Bauplan des Lebens, andere sagen: in die Schöpfung. Damit wird eben – gewollt oder ungewollt – auch die Tür zu einem genetisch optimierten Menschen aufgemacht. Das, finde ich, ist ein Albtraum. ({1}) Umso mehr müssen Potenziale und Gefahren dieser Risikotechnologie sehr genau abgewogen werden. Aber die Gentechlobby verharmlost absichtsvoll diese Risiken. ({2}) Es wird zum Beispiel so getan, als gäbe es keinen Unterschied zwischen den eher kontrollierbaren Risiken der Gentechnik in geschlossenen Systemen, zum Beispiel bei der Impfstoffentwicklung im Labor, und den unkontrollierbaren Risiken bei gentechnisch veränderten und vermehrungsfähigen Organismen in Land- und Forstwirtschaft oder der Fischerei. Dabei ist unkontrollierte Ausbreitung keine Theorie. Gerade jetzt wurde wieder ein gentechnisch veränderter Leinsamen, Triffid genannt, in Baden-Württemberg nachgewiesen. Vermutlich war schon das Saatgut verunreinigt. Er war zuletzt 2009 aufgetaucht und sorgte damals für Rückrufaktionen in 28 Ländern, wie der Informationsdienst Gentechnik berichtet. Auch solche Albträume müssen verhindert werden. ({3}) Gerade die Agrogentechnik ist ganz klar eine Hochrisikotechnologie, die reguliert und kontrolliert gehört, zumal sich viele Heilsversprechen der Agrogentechniklobby gar nicht erfüllt haben. ({4}) Es ging wohl mehr um Profitversprechen für Gentechkonzerne, ({5}) und das ist inakzeptabel. ({6}) Trotzdem feiern Heilsversprechen mit den sogenannten neuen gentechnischen Verfahren fröhliche Auferstehung. Wieder soll der Hunger der Welt beseitigt werden, und jetzt muss auch noch die Klimakrise herhalten. Aber das ist durchsichtig. Gegen Kritik wird dann gern Wissenschaftlichkeit eingefordert, wobei wissenschaftlich natürlich nur das ist, was die eigenen Glaubenssätze bestätigt. ({7}) Auch das ist absurd. Die FDP will nun diese Risikotechnologie entfesseln. Ich übersetze das mal: Der Schutz vor gesundheitlichen und ökologischen Gefahren soll aufgeweicht werden, und dafür sollen die Profite entfesselt werden. Genau da macht Die Linke nicht mit. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tackmann. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute Vormittag hat die Bundeskanzlerin zwei wichtige Punkte angesprochen: erstens den Respekt vor der fantastischen Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Impfstoffentwicklung und zweitens, dass sich die EU aus gutem Grund gegen eine Notfallzulassung der Impfstoffe, aber für vollumfängliche Risikoprüfungen entschieden hat. Beidem schließen wir uns ausdrücklich an. ({0}) Forschung unterstützen und mit den Ergebnissen gewissenhaft umgehen – das ist genau das, was wir Grüne in unserem Grundsatzprogramm vorangestellt haben. Die Errungenschaften der Genforschung sind beachtlich: von der genetischen Identifizierung neuer Virusmutationen bis zur Entwicklung der Impfstoffe; das haben wir alles gehört. Dass es mit den Impfstoffen von BioNTech und CureVac aus Tübingen gleich zwei erfolgreiche Impfstoffentwicklungen in Deutschland gibt, zeigt, dass die in Deutschland forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier dafür auch gute Bedingungen vorfinden. ({1}) Daran hat, René, beispielsweise auch die gute Wissenschaftsförderung im grün regierten Baden-Württemberg mit verlässlicher und aufwachsender Hochschulfinanzierung ihren Anteil. ({2}) Dabei kommt es natürlich auch bei der Gentechnik darauf an, was man daraus macht, und darauf, welche Leitplanken wir gerade beim sensiblen Thema „Gentechnische Eingriffe in die Erbsubstanz“ setzen. Es ist ein großer Unterschied, ob man gentechnologisches Know-how nutzt, um neu auftretende gefährliche Organismen wie Viren zu bekämpfen, oder ob man damit neue Organismen erschafft und in die Welt setzt. ({3}) Wir dürfen uns nicht von Versprechungen blenden lassen, sondern müssen stets die Grundsätze von Risikoprüfung, Vorsorge und Wahlfreiheit im Blick behalten. Aber genau da ist die FDP auf beiden Augen blind. Zum gefühlt hundertsten Mal wärmen Sie heute Ihren abgestandenen Klassiker von der Gentechnikderegulierung wieder auf. Ihr Umgang mit der Gentechnik ist erschreckend zwanghaft. Sie ist für Sie eine Art Stein der Weisen, eine Wundertechnologie, die alles löst. Die Bundeszentrale für politische Bildung sagt zu so etwas – ich zitiere –: „Weltanschauungen, die vorgeben, für alle gesellschaftlichen Probleme die richtige Lösung zu haben“, nennt man ({4}) Ideologien. Das trifft den Umgang der FDP mit der Gentechnik ziemlich exakt. ({5}) Es ist schon dreist, wie Sie unter der Überschrift „Aus BioNTech-Erfolg lernen“ in den Antrag Ihre Deregulierungsfantasien zur Gentechnik an ganz anderer Stelle, nämlich bei der Landwirtschaft, reinpacken. Sie wollen die Pandemie sogar dazu nutzen, um Biopatente bei Nutztieren und Nutzpflanzen zu erleichtern. Biopatente in der Züchtung bedeuten aber – ich bin sofort fertig, Herr Präsident – Privatisierung und Monopolisierung statt Innovation. Sie wollen mit öffentlichen Geldern erforschte Erfolge privatisieren. Da gehen wir einen anderen Weg. Wir werden Forschung ermöglichen und weder Ihren Deregulierungswahn beim Gentechnikrecht noch Ihre Angriffe aufs Vorsorgeprinzip mitmachen. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mRNA, Biotechnologie, Gentechnik, Mutationen, DNA, CRISPR/Cas9: alles Begriffe, die in der heutigen Debatte gefallen sind. Ich bin als einzige Naturwissenschaftlerin in einer Familie aufgewachsen, deren Angehörige gänzlich keine Naturwissenschaftler waren. Da habe ich eine Sache gelernt, die ich für die Debatte ganz wichtig halte: Ich habe gelernt, dass man, wenn man will, dass jemand die eigene Begeisterung für solche Themen teilt, erst mal erklären muss, bevor man spricht. Manche Begriffe mögen eher nach Science-Fiction als nach Realität klingen, und wenn wir wirklich wollen, dass solche Technologien zum Erfolg werden, dann müssen wir erst mal mit Erklären und mit Verständnis anfangen. Wir müssen also in einem ersten Schritt so viele Menschen wie möglich auf diesen Weg mitnehmen. Wir müssen ihnen verständlich und transparent erklären, worum es überhaupt geht. Ich glaube, dass dieser Aspekt für den Erfolg ganz entscheidend sein wird. In den Anträgen, die uns heute vorliegen, kommt er mir leider ein bisschen zu kurz. Er wird ein wenig zu stiefmütterlich behandelt. Die Debatte hat uns im Gegenteil auch gezeigt, dass von einigen Teilen dieses Hauses sogar noch unberechtigte Ängste geschürt werden, zumindest von den beiden Vorrednern, die ich hatte. Ich glaube, das ist genau der falsche Ansatz, wenn wir wirklich zum Erfolg kommen wollen. ({0}) Erst wenn wir die gemeinsame Grundlage geschaffen haben, können wir über Chancen sprechen. Denn bei vielen Technologien, die wir jetzt besprochen haben, geht es eben genau um diese Chancen, die die Qualität des Lebens erhöhen können, ohne dass sie den Wert des Lebens infrage stellen, also zum Beispiel darum, genetische Krankheiten zu behandeln, indem wir die Krankheitsursache und nicht nur die Symptome behandeln. Und das alles sogar, ohne – das bieten nämlich viele dieser Technologien auch – dass wir in die menschliche Keimbahn eingreifen. Krebs, Mukoviszidose, Duchenne-Muskeldystrophie – ich könnte die Aufzählung munter weiterführen –: ({1}) Die neuen Methoden, die wir haben – CRISPR, mRNA –, bieten die Möglichkeit, dass wir genau solche Krankheiten künftig heilen können. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Hoffnungsträger sind alles andere als zu 100 Prozent komplett frei von Risiken. Natürlich gibt es die. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir diese Risiken durch Voranschreiten bei den Technologien, durch mehr Forschung, durch mehr Entwicklung durchaus überwinden können. Der Erfolg von BioNTech hat uns da, wie ich finde, ein ganz großes Stück weitergebracht. BioNTech und die Mitstreiter auf dem Gebiet haben es in kürzester Zeit geschafft – im Übrigen, das möchte ich an der Stelle auch hinzufügen, von Anfang mit Förderung des Bundes; weil das immer mal wieder infrage gestellt worden ist –, dass unsere eigenen Körperzellen zu Produzenten einer spezifischen Immunantwort werden. Das ist ein Riesenerfolg, den wir hier sehen. Das ist in meiner Wahrnehmung auch in der Debatte wieder von vielen vergessen worden. ({2}) Auch wenn ich mich wiederhole: Der Erfolg, den wir hier haben, zeigt, dass wir vor einer Revolution in vielen Bereichen der Medizin stehen. In der Krebsforschung ist die mRNA-Technologie schon länger eine Hoffnung für die Therapien. Dass die Impfstoffe gegen das Coronavirus so schnell haben entwickelt werden können und dass es sie jetzt gibt, liegt ja genau an dieser jahrelangen Grundlagenforschung im Bereich der Krebstherapie. Damit wir die mRNA-Technologie auch zur Bekämpfung von Tumorzellen nutzen können, müssen wir jetzt den Schwung aus dieser Entwicklung mitnehmen. Ich habe das in der letzten Debatte und auch im Ausschuss schon mal gesagt: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, lieber Mario Brandenburg, da ist was vorgelegt worden, was in der Sache durchaus in die richtige Richtung geht. Ich bin dankbar, dass wir dem Thema im Ausschuss Raum gegeben haben und wir hier im Plenum bereits zweimal darüber haben diskutieren können. Ich bin dankbar dafür, dass wir dem Thema die nötige Aufmerksamkeit geben. Was mir aber fehlt, ist ein einheitliches Konzept, ein Konzept, das von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung reicht, das auch eine gute Strategie im Bereich der Wissenschaftskommunikation – ich habe eingangs erwähnt, dass wir das brauchen – enthält. Genau so was brauchen wir. ({3}) Wir brauchen Vorschläge, die die ganze Kette in den Blick nehmen. Deswegen würde ich sagen: Wir streichen in Zukunft das von Ihnen so geliebte Wort „Aktion“ und konzentrieren uns lieber auf den Plan, der dahintersteckt. Dann bin ich gespannt, was die nächsten Jahre bringen. Ich glaube, die Entwicklung des mRNA-Impfstoffs hat auf jeden Fall gezeigt, dass vieles im Bereich der Biotechnologie möglich ist. Wir müssen es nur wollen und entsprechend fördern, dann wird das auch klappen. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Als letzten Redner rufe ich den Kollegen René Röspel, SPD-Fraktion, auf. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab will ich ausdrücklich sagen und anerkennen, wie hoch innovativ und wagemutig ich es finde, dass staatliches Geld in BioNTech und CureVac zu einem Zeitpunkt geflossen ist, wo überhaupt nicht absehbar war, dass diese Methoden Erfolg versprechend sind. Ich will ausdrücklich sagen: Wenn mich vor 20 Jahren jemand gefragt hätte, ob man mit nRNA tatsächlich vernünftig arbeiten kann, hätte ich das verneint. Denn das ist – die Biochemikerin weiß es – eine total instabile Substanz, und überall fliegen die RNasen rum. Damit muss man sehr vorsichtig arbeiten. Deswegen: Hut ab! Innovativ, wagemutig – all das, was gefordert wird, ist schon von der Bundesregierung und den öffentlichen Institutionen erfüllt worden. Insofern hat sich ein Teil des FDP-Antrages sicherlich schon erledigt. ({0}) Im Moment stellen wir sowieso fest: Ein Schema bei FDP-Anträgen ist, dass um einen modernen Begriff herum in vielerlei Varianten Themen aufgebaut, Anträge gestellt werden. Hier sind es eben die neuen gentechnischen Verfahren, die im Zentrum stehen und mit Behauptungen garniert werden. Ich erinnere an die Rede des Wirtschaftsministers der FDP, Volker Wissing, ({1}) der dann auch noch behauptete, Biotechnologie stoße auf Ablehnung in unserer Gesellschaft. Einer der Punkte, die in diesen Anträgen wie auch dem vorliegenden eine Rolle spielen, ist, dass diese gentechnischen Verfahren mit maximaler Präzision arbeiten und in der Anwendung keinerlei Sequenzveränderung feststellbar ist. Das allerdings finde ich schwierig; das muss man sich mal angucken. Das habe ich Weihnachten getan; die Weihnachtszeit hat ja auch den Vorteil, dass man ein bisschen mehr Zeit hat. Auf der zweiten Seite des FDP-Antrags schreiben Sie ja selbst, dass die neuen gentechnischen Verfahren „einfacher und präziser“ sind „als alles bisher Dagewesene“. Das stimmt tatsächlich; aber maximale Präzision ist eben was anderes. Dann habe ich mir ein paar weitere Paper angeguckt. Man erkennt: Aha, es werden Unterschiede festgestellt in Effizienz, in Präzision, in Fehlerfreiheit sowohl in den Bereichen, die man verändern will – die nennt man On Target –, wie in Bereichen, die man nicht verändern will – die nennt man Off Target –, abhängig von den verwendeten Enzymen, den Temperaturen und davon, wie groß oder wie lang die veränderten Sequenzen sind. – Hier, finde ich, gebietet sich schon eine differenziertere Betrachtung, wozu zum jetzigen Zeitpunkt diese Methoden geeignet sind. Zum Thema Biotechnologie sage ich ausdrücklich: Das, was wir an Impfstoffforschung erleben, hat mit den neuen gentechnischen Methoden gar nichts zu tun. Ich kann mich ausdrücklich Stephan Albani und Markus Paschke anschließen; die haben in allem recht gehabt – mit einer Ausnahme: Stephan Albani, der Aufschwung für Forschung und Bildung in diesem Land fing 1999 an. ({2}) Aber trotzdem sind es große Erfolge. Ich finde, dass wir bis auf Querdenker und Verirrte eine große Zustimmung zu Biotechnologie in solchen Fragen haben. Der zweite Punkt: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Hier wird behauptet, das sei jetzt sicherer und werde keinen Schaden zufügen. Auch das muss man differenzierter sehen. Aber ein wesentliches Argument gegen Eingriffe in die Keimbahn ist immer noch, mit welchem Recht wir eigentlich durch Genom-Editierung Auswirkungen auf künftige Generationen rechtfertigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der dritte Punkt, den man sich differenzierter anschauen muss, ist: Kann man das in somatischer Gentherapie – das wird ja im FDP-Antrag gefordert – einsetzen? Ich finde: Ja, das bietet große Chancen; denn das greift nicht in das Genom des Menschen ein. Die Beurteilung von Risiko und Chance ist dann individuell. Sie ist steuerbar, weil der Patient gut behandelt wird, und wenn Probleme auftreten, kann der Arzt, die Ärztin sie beseitigen. Deswegen finden wir, das Thema erfordert eine differenzierte Betrachtung. Aber alles, was die FDP vorschlägt, brauchen wir im Prinzip nicht. Es bleibt dabei – letzter Satz, Herr Präsident –:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Es sind schon einige drüber.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die FDP in der Opposition ist, fordert sie immer die gentechnische Revolution, und wenn sie in der Regierung ist, passiert nichts. – Wir wollen den Fortschritt, und den werden wir weiter human gestalten. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit schließe ich die Debatte.

Dr. Peter Tauber (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004174

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Heute geht es um den Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer, in der Mission Sea Guardian. Die Deutschen kennen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, in Mali, im Irak. Aber diese von der NATO-geführte Mission? Es mag ein eher stiller Einsatz sein; aber er ist nicht weniger erfolgreich und wirksam. Sea Guardian ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherung der Seewege. Das ist auch für uns als Exportnation in nationalem Interesse. 90 Prozent des Welthandels geschieht über die Seewege, ein Drittel durchs Mittelmeer. Ein Viertel der Öltransporte passiert das Meer, das Afrika und Europa verbindet. Aber während Europa ein Friedenskontinent ist, ist die Nachbarschaft, der Nahe Osten und Nordafrika, von Krisen und Kriegen erschüttert. Auch deswegen ist diese Mission wichtig; denn sie ist ein Beitrag zur Stabilität in der Region. Jetzt werden manche fragen: Wo sind denn die passenden Schlagzeilen dazu? „Piraten“, „aufgebrachte Schiffe“, „maritimer Terror“? Vielleicht reicht es ja, ein deutsches Kriegsschiff zusammen mit den Schiffen der Verbündeten in die Region zu schicken, um diejenigen, die Böses vorhaben, davon abzuhalten. Mich würde das schon zufriedenstellen, wenn das Mittelmeer durch diese Mission sicher bleibt und Krisen nicht weiter eskalieren. Der Einsatz der Bundeswehr geschieht dort vor Ort mit Aufklärungsflügen und derzeit unter Beteiligung des Tenders „Werra“. 80 Männer und Frauen sind aktuell im Einsatz, und wir sollten ihnen danken wie den 3 538 Männern und Frauen, die bisher in diesem Einsatz waren. ({0}) Mich persönlich freut es sehr, dass ich morgen die Gelegenheit habe, einem Obermaat seine wohlverdiente Einsatzmedaille auszuhändigen. Unser Land erlebt derzeit, dass sich die Deutschen auf ihre Bundeswehr verlassen können – im Kampf gegen die Pandemie. Soldaten empfinden ihren Einsatz im Rahmen der Amtshilfe als Teil ihrer Eiderfüllung, nämlich Deutschland treu zu dienen. Die Pandemie lehrt uns auch, dass sie etwas mit Sicherheit zu tun hat. Ich finde aber, der Einsatz im Rahmen von Sea Guardian sollte uns auch bewusst machen, was neben dem legendären italienischen Admiral Noretti vor allem Clausewitz formuliert hat, als er schrieb: „Allem, wozu Streitkräfte gebraucht werden, liegt die Idee des Gefechts zugrunde; denn sonst würde man ja keine Streitkräfte gebrauchen.“ Was heißt das also? Unserem Dank für die Amtshilfe, aber mehr noch für den Einsatz muss etwas folgen; und da ist dieses Haus, der Deutsche Bundestag, gefragt. Wir müssen die Mittel bereitstellen, damit die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einsatzbereit sind, und zwar für alle Eventualitäten – auch für das, wofür sie eigentlich da sind. Unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen sich auf den Deutschen Bundestag. Enttäuschen Sie sie nicht, so wie unsere Soldaten uns nicht enttäuschen, wenn es darauf ankommt, und dazu braucht es am Ende des Tages mehr als Einsatzmedaillen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, begrüße ich unter uns die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Eva Högl, die dieser Debatte beiwohnt. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Paul Podolay für die AfD-Fraktion. ({1})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beteiligung der Bundeswehrsoldaten an der NATO-Operation Sea Guardian ist unserer Überzeugung nach weder zielführend noch effizient. Die Bundesregierung bittet uns, das Parlament, bereits zum fünften Mal, diesen Einsatz im Mittelmeer zu verlängern, ohne folgerichtige Argumente dafür zu liefern. Wir, die AfD, lehnen sie, wie viele andere Auslandseinsätze auch, konsequent ab. Die Bundeswehr ist bekanntermaßen eine Parlamentsarmee. Dennoch wissen wir, die Mitglieder des Bundestages, über den Verlauf des Einsatzes so gut wie nichts. In der wöchentlichen schriftlichen Unterrichtung des Parlaments durch das Verteidigungsministerium sind dazu nur ein paar Zeilen zu finden. Das geht nicht. Ich habe an diesem Rednerpult mehrmals darauf aufmerksam gemacht, und es hat sich trotzdem nichts geändert. Sie halten wesentliche Informationen zurück. Mein Urteil: Diese äußerst unzureichende Berichterstattung seitens der Bundesregierung ist ein Ausdruck der Missachtung der Volksvertreter. Unsere Bürger haben das nicht verdient. ({0}) Meine Damen und Herren der Regierungskoalition, Ihr Antrag zur Verlängerung der Beteiligung an Sea Guardian hat neben diesem Informationsdefizit auch weitere Schwachstellen. Es geht zum einen um die Frage der Kosten und zum anderen um die Frage, ob der Einsatz bei Sea Guardian überhaupt sinnvoll ist. Anfangs sollte die Bundeswehr zur maritimen Sicherheit im Mittelmeer beitragen. Die maritime Bekämpfung von Terrorismus und Waffenschmuggel waren die erklärten Ziele der Bundesregierung. In Wirklichkeit wurden im Rahmen von Sea Guardian in viereinhalb Jahren weder Waffen gefunden noch Terroristen gefangen. Fragwürdig ist auch das bestehende Missverhältnis zwischen dem Kostenaufwand für den Einsatz und den winzigen Ergebnissen, die Sie liefern. Ich möchte Sie daran erinnern: Deutsche Steuerzahler bezahlen jährlich über 3 Millionen Euro für diesen Spaß im Mittelmeer. Sie schicken 650 Soldaten auf See. Und? Keine signifikanten Ergebnisse! Wir als Repräsentanten unserer Bürger, aber auch unserer Armee können diese Missstände nicht akzeptieren. Deshalb fordern wir Sie, die Bundesregierung, dazu auf, diesen Einsatz im Mittelmeer zu beenden, ihn vollständig zu bewerten und schließlich uns, den Parlamentariern, ausführlich Bericht darüber zu erstatten. Darüber hinaus soll die Bundesregierung auch den Nordatlantikrat dazu auffordern, die Beendigung von Sea Guardian noch in diesem Jahr zu beschließen. Statt der NATO sollen die nordafrikanischen Staaten eine aktive Rolle bei der Bekämpfung von Terrorismus und Waffenschmuggel im Mittelmeer übernehmen. Wir, die größte Oppositionsfraktion in diesem Haus, lehnen diesen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Sea Guardian ab und wollen ihn sofort beenden. ({1}) Im Übrigen will das auch die Mehrheit der Bevölkerung, die wir als Abgeordnete – und Sie alle auch – hier vertreten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Podolay. ({0}) – Ja, dieser Hinweis ist zwar zutreffend, gleichwohl gibt es ein bestätigtes ärztliches Attest, dass der Kollege eine Maske nicht tragen muss, darf oder soll. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Operation Sea Guardian ist jetzt richtig. Die Operation Sea Guardian funktioniert, und die Aufgaben, die durch Sea Guardian erledigt werden, müssen erfüllt werden. Deshalb möchte ich vorausschicken, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keinen Zweifel daran hegen, dieses Mandat zu verlängern. Doch zugleich stellen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ständig die Fragen – an das Hohe Haus, an die Regierung und an uns –: Haben wir auch eine Exit-Strategie? Was erwarten wir, um auch mit Blick auf die Soldatinnen und Soldaten guten Gewissens sagen zu können: „Jetzt können wir nach Hause; jetzt kann es beispielsweise die libysche Küstenwache alleine“? Als Abrüstungspolitiker sage ich ganz deutlich: Wenn ein militärischer Beitrag richtig ist, dann ist es Sea Guardian. Schließlich leidet die Region seit Jahrzehnten unter einem Krebsgeschwür der viel zu einfachen Verfügbarkeit von Kleinwaffen, und dem müssen wir etwas entgegensetzen. Sonst macht alles keinen Sinn. Das ist auch ein Teil dieser Debatte und ein Teil des Problems. Deshalb dürfen wir nicht die Augen verschließen und so tun, als ob uns dies nichts anginge. Schauen Sie nach Libyen! Sprechen Sie mit Martin Kobler, dem ehemaligen Sondergesandten der Vereinten Nationen! Er wird Ihnen sagen: Libyen ist nicht Bautzen, nicht Schwerin, nicht Oberammergau. Dort gibt es keine funktionierende Staatsgewalt, wie wir sie kennen. – Ohne diese kann Libyen wieder zum Rückzugsort für Terroristen werden. Die Wirtschaft des Landes ist am Boden. Der Staatshaushalt finanziert sich fast nur aus Reserven und wird nur noch wenige Jahre reichen – und dies trotz des ungeheuren Ölreichtums, den dieses Land hat. Menschenrechtsverletzungen, Sklavenhandel stehen auf der Tagesordnung, was den Druck auf Flüchtlinge noch weiter erhöht. Afrika liegt vor unserer Haustüre, ein paar Seemeilen von Europa entfernt, und die Stabilität sowie die Perspektiven der Staaten Nordafrikas, des Nahen, aber auch Mittleren Ostens liegen schon allein deshalb in unserem ureigenen Interesse. Ein gescheiterter Staat in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU wäre auch eine direkte Bedrohung für Deutschland und für Europa. Da würde uns der Laden um die Ohren fliegen. Wir Sozialdemokraten, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, sehen auch hier unsere Verantwortung, die Verantwortung Deutschlands. Deshalb hat sich das Auswärtige Amt in Person unseres Außenministers Heiko Maas mit zahlreichen Projekten und Finanzmitteln zum Aufbau eines funktionierenden Gemeinwesens in Libyen beteiligt: Projekte, um Fluchtursachen zu bekämpfen und Menschen Perspektiven zu geben; Projekte, die dazugehören, um ein kluges Migrationskonzept zu erarbeiten – keine Abschottung, sondern kluges Handeln für die Zukunft. ({0}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen dazu auch Einwanderungsgesetz. Wir haben es vorgelegt: Wir wollen nämlich handeln. Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Bundeswehr leistet im Mittelmeer eine hervorragende Arbeit in einer Qualität – dies sage ich auch nach einem Bericht, der vor einigen Tagen durch die Medien ging –, wie wir sie uns eigentlich von Frontex wünschen würden. Vielen Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten. ({1}) Heute geht dieser Dank an die Frauen und Männer der Bundeswehr in der Heimat und in der Ferne. Sie stehen oftmals am Rande der Belastbarkeit. Sie leisten einen hervorragenden Dienst. Deshalb sage ich Danke. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Nächster Redner wird der Kollege Christian Sauter sein, dem ich zwar spät, aber nicht zu spät zu seinem heutigen Geburtstag besonders herzlich gratuliere. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für die Glückwünsche. – Bereits seit 2016 beteiligt sich die Bundeswehr an der NATO-Operation Sea Guardian im Mittelmeerraum. Zählt man die direkte Vorgängeroperation Active Endeavour zu diesem Einsatz hinzu, so steht die Bundeswehr in diesem Umfeld bereits im 20. Jahr ihres Einsatzes, eines Einsatzes, in dem deutsche Soldaten Präsenz gezeigt haben – im vergangenen Jahr zusätzlich unter Coronabedingungen – und den Auftrag umgesetzt haben. Herzlichen Dank dafür an sie an dieser Stelle. ({0}) Die Mandatsgrenze soll zukünftig bei 650 Soldaten verbleiben. Derzeit sind es 83 Frauen und Männer, die seit Mitte Januar auf dem Tender „Werra“ im Einsatz vor Ort sind. Planmäßig ist die „Werra“ Teil des ständigen Marineverbandes 2 der NATO, zugleich in Sea Guardian eingemeldet. Dieses Verfahren ist seit Jahren üblich und sinnvoll. Unüblich sind der Umfang des Auftrags und das allumfassende Mandatsgebiet. Wir haben in den vergangenen Jahren bereits darauf hingewiesen, dass der Mandatstext den deutschen Beitrag aus unserer Sicht nicht präzise genug beschreibt. Zweifelhaft, ob alle neun genannten Fähigkeiten auch abgedeckt werden können. Es gibt hier weiterhin Präzisierungsbedarf seitens der Bundesregierung. Präzise bekannt ist allerdings die Einsatzbelastung der Deutschen Marine, wenn auch nicht Teil dieser Operation, aber ein kritisches Beispiel für schlechte Materialverfügbarkeit: die Situation des Seefernaufklärers mit direkter Auswirkung auf andere Einsätze. Für uns ist diese Situation auf Dauer nicht akzeptabel. ({1}) Aber zum Positiven der Operation Sea Guardian. Zur Leistungsfähigkeit gehört zweifelsohne die Erstellung eines Lagebildes. Die vergangenen Auswertungen haben gezeigt, dass ein fundiertes Lagebild zur Situation auf den Seewegen im Mittelmeer für Deutschland und unsere Partner an der Südflanke der NATO weiterhin von zentraler Bedeutung ist. Auf die Wichtigkeit des Mittelmeerraumes für See- und Handelsrouten weist der Mandatstext völlig zu Recht hin. Das ist auch zugleich von nationalem Interesse für Deutschland als Handelsnation. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 30 000 Schiffe vor Ort erfasst und identifiziert. Hinzu kommen Kooperationen mit Anrainerstaaten in der Region. Nicht zuletzt hat die Präsenz der NATO-Kräfte im Mittelmeer eine präventive Wirkung auf die Sicherheit der dortigen Seewege gehabt. Bekämpfung des Waffenschmuggels, Ausbildung und Kapazitätenaufbau sind dort wichtige Bestandteile des Auftrags. Zudem steht die Vernetzung mit Einsätzen der Vereinten Nationen und der EU in einem Zusammenhang. Auf die Schwierigkeiten bei Irini und auf die ausstehenden Vereinbarungen ist dabei hinzuweisen. Das zeigt aber den Rahmen der Operation Sea Guardian auf: Bei einer Bewertung muss die Operation auch immer in diesem Kontext betrachtet werden. Fazit: Sea Guardian ist ein sinnvolles Mandat. Der Mandatstext ist allerdings nachzuschärfen. Der Ausschussüberweisung stimmen wir zu. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sauter. – Die nachfolgende Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will erneut den NATO-Militäreinsatz Sea Guardian im Mittelmeer verlängern, um angeblich Terrorismus zu bekämpfen und den Waffenschmuggel per Schiff, zum Beispiel nach Libyen, zu stoppen. Wir haben doch aber alle erst letztes Jahr erlebt, dass türkische Schiffe auf dem Weg nach Libyen kontrolliert werden sollten und wie kläglich die NATO dabei gescheitert ist. Ein französisches Schiff wurde sogar von einem Kriegsschiff des NATO-Partners Türkei bei dem Versuch der Kontrolle bedroht. Frankreich hatte sich daraufhin aus dieser NATO-Mission erst mal zurückgezogen. Da frage ich mich schon, wie Sie eigentlich dazu kommen, Herr Tauber, von „erfolgreich“ zu sprechen. Was ist denn an dieser Mission eigentlich erfolgreich? ({0}) Diese und weitere Vorfälle im Zusammenhang mit Irini zeigen doch, dass dieser Einsatz eine einzige für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler kostspielige Farce ist. Auch die Entgrenzung des Mandats, thematisch und räumlich, der gesamte Mittelmeerraum plus Zugänge plus Luftraum, ist völlig inakzeptabel und trägt nur zur weiteren Militarisierung der gesamten Mittelmeerregion bei. Wir werden gegen die Verlängerung dieses Mandats stimmen. ({1}) Wenn die Bundesregierung jetzt wirklich etwas gegen die Bewaffnung der Konfliktparteien in Libyen tun will, dann würde sie sofort keine Waffen mehr an die Länder liefern, die die Konfliktparteien in Libyen militärisch unterstützen, wie zum Beispiel Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und allen voran die Türkei. Aber wir wissen ja: Das Gegenteil ist leider der Fall. Meine Fraktion fordert seit Langem, dass die Bundesregierung sofort ein Verbot von Rüstungsexporten erlässt, ({2}) auch um den Konflikt in Libyen nicht weiter zu nähren; denn wir sind ja auch trotz begrüßenswerter politischer Vereinbarungen von einem Frieden weit entfernt. Der Vorfall zeigt aber auch mit aller Deutlichkeit, dass Sea Guardian die selbsterklärten Vorgaben eben nicht erfüllt. Vielmehr trägt auch dieser Einsatz in Zusammenarbeit mit dem anderen Militäreinsatz EUNAVFOR MED Irini zur militärischen Flüchtlingsabwehr bei und macht das Mittelmeer immer mehr zum undurchdringlichen Bollwerk der Abschottung. Dies ist angesichts von offiziell mehr als 20 000 Toten – die Dunkelziffer ist weit höher –, also Menschen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind, nur zynisch und hat mit der viel zitierten europäischen Idee nichts zu tun. ({3}) Übrigens hat es auch mit europäischen Werten nichts zu tun, dass immer noch viele Menschen als Geflüchtete auf den griechischen Inseln bei dieser Eiseskälte festsitzen und immer noch nicht hierherkommen konnten – das ist eine Schande! –, obwohl wir so oft darüber diskutiert haben. ({4}) Statt einer Militärmission zur Abschottung gegen Flüchtlinge brauchen wir endlich eine staatliche zivile Seenotrettung im Mittelmeer, und die freiwilligen Seenotretterinnen und Seenotretter dürfen nicht länger kriminalisiert werden. Das ist nämlich eine Schande, dass sie auch noch daran gehindert werden, Menschen zu retten. ({5}) Wir sagen: Zivile Seenotrettung statt Sea Guardian! Das ist die richtige Antwort in dieser Zeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Omid Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der derzeitige Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer ist sinnvoll. Wir werden dennoch gegen das Mandat stimmen, weil es so, wie es vorliegt, schlicht nicht sinnvoll ist. Der Sinn des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist, dass wir als Parlament wissen, was zum Beispiel das Einsatzgebiet ist, und dass dies präzise beschrieben wird. Das wird in diesem Mandat weiterhin leider schlicht verweigert. Genauso verhält es sich mit der Frage der Ausbildungsmission, die dort verankert ist. In dem Antrag steht: Wir bilden irgendwie aus. Glauben Sie ernsthaft, das sei parlamentarische Kontrolle, wenn wir der Bundesregierung einen Blankoscheck geben sollen, damit sie Ausbildungsmissionen einfach da machen kann, wo sie Lust hat, etwa am Mittelmeer? Ich glaube, das ist nicht der Sinn der Parlamentsbeteiligung. Das ist kein Parlamentsvorbehalt. Genau deswegen werden wir dem Mandat, so wie es vorliegt, sicher nicht zustimmen können. ({0}) Im Übrigen hat die Tatsache, dass die Bundeswehr derzeit im Mittelmeer gebraucht wird, sehr viel mit der Lage in Libyen zu tun. Wobei ich sagen muss: Es gab auch vorher eine Standing Maritime Group, die genau das gemacht hat, was Sea Guardian gerade macht, und dieser Einsatz war nicht mandatspflichtig. Aber die Tatsache, dass die Lage in Libyen so ist, wie sie ist, hat natürlich mit dem vielzitierten Vakuum zu tun, das die europäische Uneinigkeit dort hinterlassen hat. Da stellt sich jetzt die Frage, was dagegen getan worden ist. Die Antwort der Bundesregierung ist dann immer: Wir haben doch eine Libyen-Konferenz gemacht. – Das Hauptziel dieser Libyen-Konferenz war, zu erreichen, dass keine Waffen, keine Söldner mehr ins Land kommen. Die Bundesregierung sagt seit dieser Konferenz – der Beginn dieses sogenannten Friedensprozesses ist jetzt schon über ein Jahr her –: Ja, wir werden jetzt Mechanismen entwickeln, mit denen wir die Söldner in die jeweiligen Staaten zurückschicken, mit denen wir die Staaten, die Waffen ins Land bringen, auch benennen können, damit wir sie dann tatsächlich an den Pranger stellen können. – Nur geschehen ist seitdem nichts. Aber dass Waffen ins Land kommen, ist offensichtlich. Man sieht bei Flightradar24.com, wer liefert; man sieht das, wenn man sich im Internet ein bisschen umschaut. Und man sieht es in UN-Berichten. Diese Woche erschien ein UN-Bericht, der glasklar macht: Die Vereinigten Arabischen Emirate beschäftigen sudanesische Söldner, die zurzeit für sie auf ihre Kosten in Libyen mitkämpfen. Die Antwort der Bundesregierung: Genehmigung von Rüstungsexporten im Jahr 2020 in Höhe von 50 Millionen Euro in die Vereinigten Arabischen Emirate und die Genehmigung von Rüstungsexporten nach Ägypten. Wir wissen, dass Ägypten genauso Teil dieses Spiels ist. Rüstungsexporte in Höhe von 750 Millionen Euro sind von der Bundesregierung genehmigt worden. Und wozu führt das? Genau diese Verzagtheit ist eine Einladung beispielsweise an die Türkei, die destruktive Rolle zu spielen, die sie in Libyen spielt. Und deshalb muss diese Verzagtheit ein Ende haben. ({1}) Und wie das geht, hat man vor zwei Wochen gesehen. Die Regierung Biden war gerade mal eine Woche im Amt, da sagte der kommissarische UN-Botschafter des Landes im UN-Sicherheitsrat nahezu wörtlich: Diese drei Länder – Vereinigte Arabische Emirate, Ägypten und die Türkei – müssen aufhören, weiterhin Söldner nach Libyen zu schicken und das Land mit Waffen zu beliefern. – Nur so geht das. Man muss auch mal tun, was man ankündigt, statt sich eineinhalb Jahre hinter prozessualen Dingen zu verstecken. Es gibt jetzt einen neuen Ministerpräsidenten in Libyen; es wird für ihn extrem schwer, Fuß zu fassen. Das sieht man schon an den Verwerfungen, die man zurzeit auf Twitter verfolgen kann. Wenn man dem Herr werden will, braucht es eine Bundesregierung, die nicht immer nur Konferenzen macht, sondern auch mal das tut, was sie selbst auf den Konferenzen ankündigt. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mittelmeer ist wie auch die Ostsee ein Meer, das Menschen verbindet, ein Meer, das Länder verbindet. Wichtige Handelswege und Verkehrsrouten führen durch das Mittelmeer; der Parlamentarische Staatssekretär Tauber hat es in seiner Rede ausgeführt. Wichtige, verletzliche Infrastrukturen wie Datenkabel, die Menschen verbinden, aber auch für unsere Wirtschaft sehr wichtig sind, liegen am Grund des Mittelmeeres. Fischfang, Bodenschätze, Kreuzfahrten machen das Mittelmeer zu einem wichtigen Wirtschaftsgebiet, aber auch Urlaubsgebiet. Aber auch Terroristen und das organisierte Verbrechen nutzen das freie Meer, zum Beispiel für Waffenschmuggel. Es liegt also im berechtigten deutschen Interesse, dass das Mittelmeer sicher ist. Zu den Anrainerstaaten gehören neben Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Mitgliedstaaten der NATO auch Staaten mit erheblichem Konflikt- und Krisenpotenzial. Syrien, Libanon, Levante, aber auch Libyen. Und zu Libyen, Herr Nouripour: Wir sehen doch zarte Erfolge unserer Arbeit, zum Beispiel mit der Konferenz. Die Sicherheitslage im Mittelmeer ist immer noch gefährdet. Deshalb gilt: Die Sicherheit im Mittelmeer muss gewährleistet sein, und die Südflanke der NATO muss geschützt werden. Die NATO-geführte Maritime Sicherheitsoperation Sea Guardian – auf gut Deutsch Seewächter – leistet dazu einen erheblichen Beitrag. Sie hat sich bewährt und ist ein stabilisierender Faktor im Mittelmeerraum. Jetzt wurde von zwei Rednern – von der Linken und von der AfD – das Thema Kosten angesprochen; sie seien dem deutschen Steuerzahler nicht zuzumuten. Also, das Argument können Sie vielleicht bei anderen Einsätzen bringen, aber es gerade bei Sea Guardian zu bringen, ist grober Unfug. 3,2 Millionen Euro stehen im Antrag; aber der Tender „Werra“ ist gleichzeitig bei Sea Guardian und bei SNMG 2 eingesetzt. Normalerweise wird der Transfer durch das Mittelmeer genutzt, die Schiffe, die im Transfer sind, einzubinden. Das macht auch Sinn, weil sie dadurch ein Lagebild erzeugen, das mit anderen geteilt werden kann. Diese Mission ist auf Zusammenarbeit angelegt. Sea Guardian verbindet die Mittelmeeranrainerstaaten untereinander, die zuvörderst verantwortlich sind für die Sicherheit im Mittelmeer, sowie andere Akteure. Diese Vernetzung ist eine wichtige Voraussetzung, dass der Auftrag erfüllt werden kann: Seeraumüberwachung, Lagebild erstellen, Austausch und Ausbildung sowie Aufbau von Kapazitäten in den Anrainerstaaten. Mit diesen Fähigkeiten können wir Krisenentwicklungen im maritimen Umfeld frühzeitig erkennen, und damit hat die Politik auch die Möglichkeit, dem frühzeitig entgegenzuwirken. ({0}) Das dient der Stabilisierung und Sicherheit in der gesamten Region. Die Operation Sea Guardian wird befugt werden, mit der EU-Operation EUNAVFOR MED Irini zu kooperieren. Es geht um Informationsaustausch, gemeinsames Lagebild, logistische Unterstützung. Eine entsprechende Vereinbarung muss noch getroffen werden; auch mit der Vorgängermission Sophia fand eine entsprechende Zusammenarbeit statt. Das ist ein gutes Beispiel, wie sich NATO und Europäische Union im Sicherheitsbereich ergänzen und auch gegenseitig unterstützen können. Sehr geehrte Damen und Herren, wir diskutieren in Deutschland gerade viel über den Lockdown. Aber denken Sie mal an die Marine, an die Soldatinnen und Soldaten der Deutschen Marine, die einen extrem harten Lockdown erleben. Selbst bei Hafenaufenthalten können sie nicht wirklich an Land gehen, sie können sich vielleicht auf der Pier etwas die Beine vertreten. Und darum gilt ihnen ganz besonders unser Dank. ({1}) Die Männer und Frauen der Deutschen Marine sorgen zusammen mit unseren Verbündeten für Stabilität und Sicherheit im Mittelmeerraum: in den Missionen EUNAVFOR MED Irini, bei UNIFIL, in der SNMG 2 – insbesondere in der Ägäis – und bei Sea Guardian. Das soll so bleiben. Das ist auch in unserem Interesse. Deshalb muss die Maritime Sicherheitsoperation Sea Guardian fortgesetzt werden. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Grübel. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Siemtje Möller, SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum 20. Mal jähren sich dieses Jahr die Anschläge vom 11. September. Die Anschläge waren eine Zäsur in der Weltgeschichte. Sie haben Tausende von Leben gekostet, sie haben dem fanatischen Wahnsinn ein grausames Gesicht gegeben, und sie sind ursächlich dafür, dass die NATO das erste Mal den Verteidigungsfall ausgerufen hat. Terrorismusbekämpfung wurde damit – nach dem „Ende der Geschichte“, das Francis Fukuyama euphorisch ausgerufen hatte – zu einer NATO-Dimension. Terrorismusbekämpfung wurde zu Lande in Afghanistan zunächst über den ISAF-Einsatz und wird weiterhin über Resolute Support geleistet. Zu Wasser wurde zunächst die Operation Active Endeavour geführt, deren Nachfolgeoperation Sea Guardian ist, die wir heute hier in erster Lesung beraten. Sea Guardian steht anders als die Landkomponente des Afghanistan-Einsatzes nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Sea Guardian ist heute eine Weiterentwicklung der Vorgängermission und umfasst auch Anteile, die über Terrorismusbekämpfung hinausgehen. Sea Guardian ist auch keine sogenannte Artikel-5-Mission, also kein Bündnisfall. Das Mandat begründet sich rechtlich vielmehr aus NATO-Beschlüssen, den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie aus Regeln des Völkerrechts. Ich möchte es hier direkt betonen: Auslandseinsätze, die auf Beschlüssen der Vereinten Nationen beruhen, die Frieden schaffen oder erhalten, und Mandate und Missionen, die im Rahmen eines sogenannten Systems der kollektiven Sicherheit, also an der Seite von Freunden im Einklang mit dem Völkerrecht vollzogen werden, diese Einsätze gehören auch zur Aufgabe der Bundeswehr. Das gehört zu unserer Verantwortung in der Welt, und es gehört zu unserer Verantwortung der Welt gegenüber. ({0}) Unsere Marine – aktuell der eingesetzte Tender „Werra“ – leistet sehr gute Arbeit. Sie bekämpft Terrorismus, sie baut Kapazitäten auf, sie versorgt Bündnispartner mit kritischen Informationen. Es ist ein erfolgreicher und routinierter Einsatz, in den unsere Schiffe und Boote leicht ein- und ausgeklinkt werden können, sodass sie im Mittelmeer Aufgaben in den unterschiedlichen maritimen Missionen übernehmen. Diese gut geübte Zusammenarbeit zwischen NATO und EU zu Wasser sollte aus meiner Sicht beispielgebend sein für die zukünftige Zusammenarbeit von NATO und EU in weiteren Dimensionen. Demnächst wird ja mit einer möglichen Einmeldung deutscher Einheiten am Horn von Afrika ein weiterer Baustein hinzukommen. Beim NATO-Verteidigungsministertreffen nächste Woche wird es auch um gemeinsame Sicherheitsherausforderungen gehen. Ich bin mir sicher, dass die maritime Dimension – egal ob es um Russland oder um China geht, um Cyber-, hybride, konventionelle oder nukleare Bedrohungen – eine große Rolle spielen wird. Die Aufgaben unserer deutschen Marine im 21. Jahrhundert sind umfangreicher, und sie gehen über ein einzelnes Mandat hinaus. Sea Guardian ist aus meiner Sicht ein guter Baustein, um diesen Aufgaben gerecht zu werden. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Möller. – Letzter Redner dieser Debatte ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident! – Wenn man die Liste der maritimen Operationen der NATO, wie beispielsweise Mare Nostrum im Mittelmeer, betrachtet, sieht man, dass es hier seit Jahren eine hervorragende hybride Kombination aus einer ständigen Präsenz der SNMGs, also der Standing NATO Maritime Groups 1 und 2, und speziellen Missionen gibt. Ich nenne hier die Operationen Maritime Monitor, Sharp Guard, Allied Force, Ocean Shield, Allied Protector oder Active Endeavour; besonders kreativ sind die Namensgeber in der NATO nicht. Kollegin Möller hat es schon in den Zusammenhang gestellt: Wir müssen sehen, dass es nicht nur die Aufgabe ist, in der unmittelbaren Situation für Sicherheit zu sorgen; dies ist bei der Operation Sea Guardian natürlich schon herausfordernd genug. Wir haben nämlich auch Situationen, die mit Blick auf das NATO-Mitglied Türkei schwierig sind. Es ist gut, dass die NATO dabei ist. Kollege Tauber hat ja schon festgestellt: Wenn schon die Präsenz allein für Befriedung und Ruhe sorgt – obwohl dies oft in einem nicht messbaren Umfang geschieht –, dann ist dies ein Paradoxon, das wir hier wohl erwarten dürfen. Ich gehe davon aus, dass allein die Präsenz der NATO Sicherheit transformiert und transportiert. Ich gehe aber auch davon aus, dass es nicht die alleinige Lösung sein kann. Wir müssen insbesondere unseren amerikanischen Partnern zeigen – sie sind heute schon genannt worden –, dass wir auch in dieser Funktion kooperativ handeln und gemeinsam unsere Interessen wahrnehmen wollen. Diese Interessenwahrnehmung heißt dann auch, dass wir uns an solchen Missionen beteiligen. Es geht hier nicht nur um Einsätze im Mittelmeer oder im Atlantik, sondern eben um Einsätze an der Pazifikküste bzw. auch im Indischen Ozean. Wir müssen uns durchaus dessen bewusst sein, dass es unsere Aufgabe ist, in unserem eigenen Interesse für Sicherheit zu sorgen; ich werde an dieser Stelle nicht einen frühen Bundespräsidenten zu diesem Thema zitieren. Das heißt für uns: Es ist wichtig, dass die Fregatte „Hamburg“, die ja schon mal die SNMG geführt hat, ihre Aufgaben gut erfüllt. Es kann aber nicht nur darum gehen, mit der NATO und anderen Partnern in maritimen Gewässern wie dem Mittelmeer unterwegs zu sein. Ich freue mich sehr, dass auch der Pazifische Ozean ein Ort ist, an dem wir unsere Präsenz im Sinne einer Wahrnehmbarkeit zeigen wollen. Alles Gute und Danke an die Soldatinnen und Soldaten! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Damit beende ich die Aussprache.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir in Deutschland leben in einem der sichersten Länder der Welt. Dennoch bereitet auch uns die Organisierte Kriminalität Probleme. Schätzungen zufolge werden in Deutschland jedes Jahr über 100 Milliarden Euro gewaschen; die FIU berichtet von 350 000 Verdachtsmeldungen pro Jahr. Das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Kriminalität darf sich nicht lohnen. Deswegen müssen wir härter gegen Geldwäsche vorgehen. ({0}) Bislang war eine Strafbarkeit wegen Geldwäsche nur dann möglich, wenn ein bestimmter Straftatbestand erfüllt war. Dafür gab es einen Katalog ausgewählter Straftaten. Nur wenn eine solche Straftat erfüllt war, konnte sich der Täter wegen Geldwäsche strafbar machen. Das ändern wir jetzt. Nach dem sogenannten All-Crime-Ansatz macht sich zukünftig jeder strafbar, der seine Geldbeute aus einer Straftat waschen will. Wir können nicht zulassen, dass illegale Gelder durch Straftaten erlangt werden und die Gewinne dann in den legalen Wirtschaftskreislauf eingeführt werden und der Täter sie so nutzen kann. Das geht nicht, das wollen wir nicht. Wir wollen nicht, dass Gelder, egal durch welche Straftat sie erlangt wurden, beim Täter verbleiben können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ganz wichtig – und das ist Inhalt unseres Änderungsantrages – war uns, dass wir diese Ausweitung des Tatbestandes nicht anderweitig wieder einschränken. Deshalb stellen wir sicher, dass die Vermögensabschöpfung, also die Einziehung von Taterträgen, nicht eingeschränkt wird; denn wir wollen verhindern, dass sich diese Straftaten lohnen. Deswegen brauchen wir effektive Regelungen zur Einziehung von Geldern aus Straftaten. Wenn zum Beispiel am Flughafen bei einer Person eine größere Bargeldmenge festgestellt wird und mangels Hinweisen noch kein Strafverfahren eingeleitet werden kann, dann wollen wir trotzdem die Einziehung der Gelder ermöglichen. In solchen Fällen kann eine Einziehung der Gelder durch zollrechtliche Verfahren erfolgen, auch wenn anfangs noch kein Strafverfahren stattgefunden hat. ({2}) Wir verhindern außerdem, dass eine Vermögensabschöpfung durch die Einschaltung von Dritten scheitert. Wir stellen ausdrücklich klar, dass die Einziehung illegaler Gewinne auch dann stattfinden kann, wenn die illegalen Gelder nicht an den Täter selber, sondern an einen bösgläubigen Dritten ausbezahlt wurden. Auch das ist eine ganz wichtige Regelung. Schließlich stellen wir klar, dass auch umgewandeltes Vermögen eingezogen werden kann. Wenn zum Beispiel mit dem aus einem Banküberfall erbeuteten Geld eine Immobilie gekauft wird, kann auch hier eine Vermögensabschöpfung stattfinden. ({3}) Ja, diese Regelungen werden Personal bei Polizei und Justiz binden, keine Frage. Aber auch aus diesem Grunde haben wir ja den Pakt für den Rechtsstaat geschlossen. Wir haben als Bund über 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit in den Ländern 2 000 zusätzliche Staatsanwälte und Richter eingestellt werden können. In wenigen Monaten werden wir sehen, wie viel Personal die Länder eingestellt haben und ob sie ihren Beitrag für unseren Pakt für den Rechtsstaat geleistet haben. ({4}) Natürlich werden wir uns mit dem Thema Geldwäsche auch nach diesem Gesetzgebungsverfahren weiter beschäftigen. Insbesondere was Geldwäsche durch Immobilienkäufe angeht, werden wir am Ball bleiben und weitere Diskussionen führen. Wir werden das Thema Geldwäsche auf jeden Fall auf der Tagesordnung halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem guten Gesetz verhindern wir, dass illegale Gelder aus Straftaten in den Wirtschaftskreislauf kommen. Verhindern wir, dass Straftäter von ihrer Beute noch profitieren können, und verschärfen wir mit diesem Gesetz die Regeln für Geldwäsche! Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Fechner. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr amtierender Präsident! Meine Damen und Herren! Mit reichlich Verspätung debattieren wir heute den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche. Eigentlich war die EU-Richtlinie bis zum 3. Dezember 2020 in nationales Recht umzusetzen. Heute haben wir den 11. Februar 2021. Aber wen wundert es schon, dass man im Justizministerium mit der Arbeit zu vermeintlich langweiligen Themen wie Geldwäsche nicht so recht hinterherkommt und Frau Lambrecht meint, aus ihrer Sicht viel wichtigere Themen bearbeiten zu müssen, wie zum Beispiel die Übersetzung von Gesetzen in das generische Femininum ({0}) oder das bedingungslose Ermöglichen von Geschlechterwechseln, woran sie auch gerade herumbastelt. Das wird ein richtiger Spaß. Wir wissen alle, Frau Lambrecht beschäftigt sich gerne – wahrscheinlich auch jetzt, sonst wäre sie ja da – mit dem Krampf gegen rechts und gegen Hass und Hetze, ({1}) wogegen man freilich nichts haben kann, wenn es ernst gemeint wäre und es nicht zur plumpen Unterdrückung von Konservativen, Bürgerlichen und überhaupt Vernünftigen missbraucht würde. Aber so sei es! ({2}) Viel Ablenkung vom Wesentlichen für Frau Lambrecht und ihr Haus, da muss die Umsetzung einer EU-Richtlinie in nationales Recht schon mal hintanstehen und ein bisschen warten, obwohl Ihnen ja sonst die EU über alles geht. Meine Damen und Herren, zu spät gemacht und auch inhaltlich schlecht, man könnte sagen: schlampig. Kein großer Wurf also. Selbst ihr eigener GroKo-Änderungsantrag hilft Ihnen aus dem Schlamassel nicht heraus, obwohl sich die Herren Luczak und Jung gestern schon auf der Fraktionsseite brüderlich auf die Schultern geklopft und gesagt haben: Das Gesetz wird verabschiedet. – Heute aber erst, meine Herren Jung und Luczak. Sie haben da – das muss ich sagen – einen ein bisschen despektierlichen Umgang mit uns gepflegt, ein bisschen demokratie- und parlamentsverachtend; denn Sie wissen ja gar nicht, ob Sie heute hier eine Mehrheit dafür bekommen. ({3}) Denken Sie an gestern, als die Opposition, als Grüne, Linke, FDP durch die AfD gestützt, dafür sorgten, dass plötzlich keine Mehrheit da war. Wer sagt Ihnen, dass Sie gleich eine Mehrheit haben? Wir haben gestern gezeigt, mit den Grünen, mit den Linken und mit der FDP kann man gemeinsam vernünftig Opposition machen. ({4}) Da sind die erforderlichen Mehrheiten schon manchmal da. Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf soll der Durchbruch im Kampf gegen kriminelle Clans – darf man das noch sagen? –, Großfamilien und die Organisierte Kriminalität sein. Er kommt aber, wie wir Juristen sagen, über den untauglichen Versuch nicht hinaus, was seitens der Sachverständigen – Herr Fechner hat das pfleglich unterschlagen – in der Anhörung ja auch so bestätigt wurde. ({5}) Stichwort: rechtsstaatlich problematisch. Die nahezu uferlose Ausweitung der Vortat zur Geldwäsche ist reine Schaufenster- und keine Realpolitik. Damit wollen Sie Wahlkampf machen. Sie wollen sagen: Wir haben da etwas gegen kriminelle Clans getan; wir sind die Großfamilienkriminalität angegangen. – Unterm Strich wird das nichts bringen. Das ist sehr durchschaubar. Sie machen hier Wahlkampf, nichts anderes. ({6}) Zu den Grünen. Der Entschließungsantrag der Grünen ist gar nicht mal so schlecht. Ein bisschen loben müssen wir ihn schon. Wie auch wir von der AfD lehnen Sie – die BRAK macht das auch – diese uferlose Ausdehnung auf alle, auch auf die verjährten rechtswidrigen Vortaten ab; denn das Ergebnis wäre, dass Private, zum Beispiel Banken oder Geschäftspartner, faktisch zu Hilfsorganen der Strafverfolgungsbehörden würden. Das gibt dem Spitzelwesen einen weiteren Schub. Das ist mit uns nicht zu machen. Das sollte eigentlich mit jeder Rechtsstaatspartei nicht zu machen sein. ({7}) Allerdings schießt der Antrag der Grünen etwas ambitioniert über das Ziel hinaus, zum Beispiel wenn gefordert wird, dass jede Person mit berechtigtem Interesse Auskunft über die Eigentumsverhältnisse bei Immobilien erhalten solle. Ich weiß nicht, ob Sie das mit Herrn Spahn abgesprochen haben. Ich kann mir denken, dass Herr Spahn gegen diesen links-grünen Murks, dass jeder sich über die Eigentumsverhältnisse bei Immobilien informieren kann, etwas hätte. Meine Damen und Herren, im Ergebnis: Enthaltung beim Entschließungsantrag der Grünen, Ablehnung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung und damit auch des im Ausschuss eingebrachten Änderungsantrages der Großen Koalition, weil man das als Rechtsstaatspartei so nicht mitmachen kann. Am besten Zurücküberweisung ins Justizministerium. Frau Lambrecht sollte sich dann mal um das Wesentliche kümmern und diesen Gesetzentwurf noch mal gründlich überarbeiten. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brandner. – Es waren nur vier Minuten. – Der Zwischenruf lautete: In fünf Minuten nichts gesagt! – Ich habe nur darauf hingewiesen, dass Sie nur vier Minuten hatten. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Brandner, Sie hätten auch noch ein paar Minuten mehr haben können. Am Ende hätte das nichts geändert, Sie hätten dennoch nichts gesagt. Aber so ist es ja immer bei Ihnen; das kennen wir ja. ({0}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum gibt es Verbrechen? Warum gibt es Organisierte Kriminalität? Warum schließen sich Menschen in kriminellen Clans zusammen? ({1}) Da mag es vielfältige Motivationen geben. Da geht es manchmal um Beziehungstaten, manchmal geht es um Macht, um verletzte Ehre oder um Rücksichtslosigkeiten, aber allzu oft ist die Antwort ganz banal: Geld. Es ist das Geld, das den Anreiz für die Straftaten gibt. Mit dem Geld aus kriminellen Machenschaften wollen sich Täter ein schönes Leben gönnen. Um dieses Geld zu bekommen, nehmen sie in Kauf, andere um ihre Ersparnisse und manchmal auch um Leib und Leben zu bringen. Deswegen ist es bei der Kriminalitätsbekämpfung ein ehernes Prinzip, zu sagen: Straftaten dürfen sich nicht lohnen. Wenn es aber das Geld ist, um dessen willen Straftaten begangen werden, dann müssen wir genau hier ansetzen. Wir müssen Kriminelle dort treffen, wo es ihnen richtig weh tut, beim Geld. Follow the Money: Kriminelle dürfen aus ihren Machenschaften am Ende kein Kapital schlagen. Genau darum geht es beim Geldwäschetatbestand. Durch Geldwäsche kann sich Organisierte Kriminalität Macht und Einfluss in der Gesellschaft nehmen und in der Gesellschaft festsetzen. Wir sehen das in Italien bei der Mafia, auch in Russland und an anderen Stellen. Für legale Konkurrenzunternehmen, die einen Gewinn erzielen müssen, ist es schwer, im Wettbewerb zu bestehen, und es besteht die Gefahr von Korruption. Deswegen sagen wir: Schmutziges Geld darf nicht in den Wirtschaftskreislauf gelangen und dort gewaschen werden. Denn nur wenn es uns gelingt, die Geldwäsche einzudämmen, dann schaffen wir es auch, die dahinterstehenden Straftaten einzudämmen und der Organisierten Kriminalität den Boden zu entziehen. Deswegen haben wir gesagt – das war unser Ziel als Union –: Wir wollen das Gesetz zur Bekämpfung der Geldwäsche zu einem wirklich scharfen Schwert gegen Organisierte Kriminalität und gegen Verbrechen umgestalten. Das haben wir mit diesem Gesetz geschafft. Wir erleichtern die Strafverfolgung, und wir erleichtern die Abschöpfung von inkriminiertem Vermögen. Wie machen wir das? Den Vortatenkatalog, der hier schon genannt worden ist, schaffen wir ab. Wir haben hier zukünftig den All-Crimes-Ansatz. Jede Vortat ist jetzt taugliche Vortat für eine Geldwäsche. ({2}) Ganz egal, aus welcher Vortat hier Kapital geschlagen wurde, man kann sich strafbar machen, wenn verschleiert wird, wenn das Geld gewaschen wird. Das heißt, der Tatbestand wird zukünftig wesentlich weiter sein, und damit geht einher, dass auch die Nachweisbarkeit natürlich wesentlich einfacher ist. Das ist ein wirklich großer Fortschritt hinsichtlich der Strafverfolgungeffektivität. Deswegen ist es gut, dass wir diesen All-Crimes-Ansatz hier verfolgen, meine Damen und Herren. ({3}) Weil wir auf der einen Seite den Tatbestand erweitern, wollen wir auf der anderen Seite natürlich nicht all das, was wir bisher schon erreicht haben, wieder zunichtemachen. Deswegen haben wir das, was ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehen war – nämlich die leichtfertige Geldwäsche abzuschaffen – im parlamentarischen Verfahren herausgenommen. Auch die leichtfertige Geldwäsche wird zukünftig strafbar bleiben. Wer leichtfertig davor die Augen verschließt, dass Geld aus kriminellen Machenschaften kommt, wer dabei hilft, es zu waschen, der wird sich zukünftig nicht zurücklehnen können, sondern er wird auch zukünftig bestraft werden können. Das war ungemein wichtig, weil es sonst schwer gewesen wäre, den Vorsatz in diesen Konstellationen nachzuweisen. Deswegen ist es gut, dass die Leichtfertigkeit an dieser Stelle erhalten bleibt. ({4}) Und schließlich der letzte Punkt: die selbstständige Einziehung von Vermögenswerten. Auch hier ist es uns ganz wichtig gewesen, dass das, was ursprünglich vorgesehen war, dass man das nur auf schwere Geldwäschedelikte erstreckt – also auf die bandenmäßige Begehung –, auf Verbrechenstatbestände oder die gewerbsmäßige Begehung, nicht so im Gesetzentwurf stehen bleibt. Das haben wir verändert. Dabei geht es um das Wesen der selbstständigen Einziehung. Man weiß ja nicht, um welche Vortat es sich handelt, und deswegen weiß man auch nicht, ob es ein Verbrechen gewesen ist, ob es eine schwere Geldwäschetat gewesen ist. Deswegen ist es richtig, dass wir hier zurückgekommen sind. Der Anfangsverdacht jeder Geldwäschetat kann jetzt dazu führen, dass selbstständig eingezogen wird. Das erleichtert es uns, das inkriminierte Vermögen einzuziehen, das erleichtert uns die Kriminalitätsbekämpfung. Das ist gerade auch wichtig, wenn es um die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität, von Clankriminalität geht. Wir haben klargestellt, dass das auch gilt, wenn es – wir haben solche Fälle hier – um Nutzungen aus Folgesurrogaten geht, etwa von Mieteinkünften.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen ist es ein gutes Gesetz, und deswegen darf ich Sie um Ihre Zustimmung bitten. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Luczak. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition und die Bundesregierung tragen vor, dass sie mit der neuen Fassung des § 261 Strafgesetzbuch nun wirklich effektiv die Geldwäsche bekämpfen werden und die Organisierte Kriminalität noch erfolgreicher bekämpfen können. Wir haben aber Zweifel, dass das stimmt. Der Tatbestand des § 261 wird nicht präzisiert, wie es die europäische Richtlinie verlangte, sondern er wird nur aufgeblasen. Er wird in seiner Bestimmtheit bis an die Grenzen gedehnt und möglicherweise sogar ein Stückchen darüber hinaus. Am Rande sei zunächst angemerkt, dass die Richtlinie der Europäischen Union hier eine ganz klare Nennung von Tatbeständen verlangt hatte. Dem sind Sie aber nicht nachgekommen, sondern Sie lassen jetzt jegliche Straftat als Vortat ausreichen. Das ist das sogenannte Gold-Plating, dem Sie im Koalitionsvertrag noch hoch und heilig abgeschworen haben. Darin steht, dass diese Koalition EU-Recht nur eins zu eins umsetzen wird und nicht draufsattelt. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, dass das nicht stimmt. Zum Thema Bestimmtheit haben Sie selber gesagt, es sei jetzt viel leichter möglich, auch leichtfertiges Handeln zu bestrafen. Das ist richtig. Es kommt auch nicht mehr nur auf die Taterträge selber an, sondern auch auf jegliches Surrogat; also das an die Stelle Getretene ist ausreichend, um Geldwäschetatbestände zu erfüllen. Und das Ganze kann auch noch leichtfertig erfüllt werden. Jetzt streichen Sie den Vortatenkatalog vollständig. In § 261 Absatz 9 zum Beispiel verweisen Sie dann auch noch im Zusammenhang mit Vortaten auf Rahmenbeschlüsse des Europäischen Rates, unter Nummer 2 Buchstabe d auf denjenigen des Rates vom 25. Oktober 2004. Da geht es um Drogen. Und wenn man sich fragt, um welche Drogen es geht, dann muss man im Anhang des Beschlusses nachschauen, dort verweisen Sie auf ein Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1971 über psychotrope Substanzen. Welche Grundstoffe dort gemeint sein können, erfährt man auch nicht; denn dazu muss man Artikel 12 eines weiteren Übereinkommens suchen, finden und verstehen, nämlich das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe heute ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages erhalten, der zur Frage der Bestimmtheit sogenannter Kaskadenverweisungen Folgendes ausführt: Ob diese Verweisungen den Anforderungen des Verfassungsgerichts an Bestimmtheit und Normenklarheit genügen, dürfte zumindest nicht zweifelsfrei zu bejahen sein. ({1}) Das Gutachten kennen Sie noch nicht; das habe ich heute erst bekommen. – Für den Normalbürger umgesetzt heißt das: Dieses Gesetz ist problematisch; dieses Gesetz ist verfassungsmäßig nicht in Ordnung. Nebenbei bemerkt: Sie bekämpfen damit zwar nicht wirksam die Geldwäsche, aber Sie tun alles, um die Ermittlungsbehörden möglicherweise in Arbeit absaufen zu lassen. Die entsprechenden Zahlungsdienstleister haben nämlich schon angekündigt, aufgrund dieses Gesetzes Hunderttausende von Meldungen machen zu müssen. Gute Gesetzgebung ist das nicht. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Martens. – Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der erste Satz des Regierungsentwurfes, der uns hier vorgelegt wird, lautet: Geldwäsche ist nach wie vor ein bedeutendes Problem auf nationaler, europäischer und globaler Ebene. Ich prophezeie, dass dieser Satz auch in der nächsten Novelle des Geldwäschegesetzes stehen wird; denn Ihr Entwurf ist untauglich, an den tatsächlichen Problemen etwas zu ändern. ({0}) Nach Ihrem Willen soll nun jegliches Vermögen aus Straftaten unter den Geldwäscheparagraphen fallen. Dies wird zu einer erheblichen Überforderung der Behörden führen. Dass diese Überforderung durch Personalaufstockung abgefedert werden kann, darf stark bezweifelt werden; denn es gibt in allen Bereichen erheblichen Rückstau bei der Stellenbesetzung. Sie beschädigen damit bewusst das Vertrauen in den Rechtsstaat; denn ein Vollzugsdefizit ist vorprogrammiert. Sie verwässern zugleich den Geldwäscheparagraphen und bringen ihn mit allen möglichen Alltagsdelikten in Verbindung. Zudem wird die gezielte Verfolgung organisierter und schwerwiegender Kriminalität durch eine bewusst in Kauf genommene Überforderung der ermittelnden Behörden erschwert. Bei der Umsetzung der Richtlinie haben Sie es nicht einmal geschafft, den von der EU vorgegebenen zweijährigen Rahmen einzuhalten. ({1}) Es gab Zeiten, da hat insbesondere die SPD bei der Verfolgung von Finanzdelikten mehr Aktionismus gezeigt; aber das scheint ja – denken wir an Wirecard und Cum-Ex – nun schon länger vorbei zu sein. ({2}) Außerdem soll es auch im Bereich der Geldwäsche zu Onlinedurchsuchungen kommen. Wir Rechtspolitiker und Rechtspolitikerinnen haben stets davor gewarnt: Wenn die Onlinedurchsuchung für Terrorverdächtige kommt, dann wird diese Möglichkeit sukzessive auch auf andere Bereiche erweitert. Leider haben wir in der Sache recht behalten, aber das ist kein Grund zur Freude. Die Onlinedurchsuchung ist und bleibt ein unangemessenes Mittel der Ermittlung. ({3}) Über Geldwäschesysteme werden Terrorismus, Korruptionsapparate und Organisierte Kriminalität am Leben gehalten. ({4}) Allein im Immobilienbereich werden jährlich circa 20 bis 30 Milliarden Euro in Deutschland gewaschen. Selbstverständlich muss man hiergegen vorgehen; aber das geschieht nicht, indem man den Straftatbestand verwässert. Wir hätten eine Konzentration auf die großen Fische gebraucht und eine Evaluation dahin gehend, in welchen Bereichen es hapert. ({5}) Mit dem vorliegenden Gesetz gehen Sie wichtige Dinge, wie zum Beispiel ein Immobilienregister, nicht an. Der Standort Deutschland wird durch Ihren Gesetzentwurf wenig Attraktivität einbüßen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob Attraktivität für das organisierte Verbrechen tatsächlich Maßstab für ein Regierungshandeln sein sollte. ({6}) Wenn wir Register schaffen, in denen nachvollziehbar ist, wem Immobilien gehören; wenn wir es verhindern, dass auf eine Briefkastenfirma mit Sitz auf einer schönen Urlaubsinsel verwiesen wird, oder wenn wir es nicht mehr durchgehen lassen, dass Immobilien mit Bargeld bezahlt werden, weil das so praktisch ist, dann sind das keine unzulässigen Einschränkungen individueller Freiheit, sondern das Zeichen, dass der Bundestag etwas gegen Geldwäsche tun will. ({7}) Ich komme zum Ende. Hier gilt es in gesetzgeberischer Hinsicht dringend nachzulegen, und zwar präziser und besser. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank Herr Kollege Straetmanns. – Als nächste Rednerin werde ich aufrufen die Kollegin Canan Bayram, der ich auch zu ihrem heutigen Geburtstag herzlich gratuliere. ({0}) Frau Kollegin, einen ganz kleinen Moment. – Das hat mit Weiberfastnacht nichts zu tun. Sie hat einfach Geburtstag, Herr Kollege. ({1})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wissen Sie überhaupt, was Sie da geregelt haben und uns heute hier vorlegen? ({0}) Wenn wir das beschließen, was Sie hier als Gesetzentwurf vorlegen, dann werden bei der Organisierten Kriminalität mit und ohne weißen Kragen die Korken knallen. Die Kriminellen freuen sich schon darauf; denn sie müssen nicht mehr befürchten, bei ihrer Geldwäsche entdeckt und angeklagt zu werden. Wollen Sie das? Schon im Jahre 2019 sind fast 115 000 Geldwäscheverdachtsmeldungen bei der Financial Intelligence Unit eingegangen, und es werden jedes Jahr mehr. 98 Prozent davon hat die Staatsanwaltschaft eingestellt; also nur in 2 Prozent der Fälle wurde überhaupt ein Verfahren eingeleitet. Sie wollen jetzt den Geldwäschetatbestand auf jede mögliche Vortat ausweiten. Durch Ihren Gesetzentwurf wird die Suche nach dem schmutzigen Geld als Nadel im Heuhaufen durch mehr Heu, das Sie da noch reingeben, aussichtslos. Das können Sie doch nicht wirklich wollen! ({1}) Der All-Crimes-Ansatz ist gut und hilfreich, wenn man ihn dort anwendet, wo er Sinn macht. Deswegen wollen wir von Bündnis 90/Die Grünen ihn in Zusammenhang mit der selbstständigen Einziehung regeln – das haben wir in unserem Entschließungsantrag deutlich gemacht –, ({2}) weil man damit jedes illegal erworbene Vermögen einziehen kann – unabhängig davon, ob jemand bereits verurteilt wurde oder nicht. Wenn wir die Verbrecher ermitteln wollen, müssen wir der Spur des Geldes folgen und müssen ihnen den Geldhahn zudrehen, meine Damen und Herren. ({3}) Klar ist für uns: Verbrechen darf sich nicht lohnen. Wir müssen aber die Realität betrachten. Das Bundesfinanzministerium hat deutlich gemacht: Das Geldwäschevolumen beläuft sich auf etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr. Davon fließen allein 20 Milliarden Euro in Immobilien. Und wir wissen nicht, ob das alles ist. In einem Mafia-Prozess, der derzeit in Italien läuft, sagt ein Staatsanwalt: In Deutschland kann jemand mit Geldkoffern aufkreuzen, und niemanden interessiert es, womit der sein Geld verdient hat. – Daraus folgt für mich: Wir müssen verhindern, dass das schmutzige Geld aus diesen Koffern durch Immobilienkäufe in Deutschland gewaschen wird, meine Damen und Herren. ({4}) Es kann doch nicht sein, dass die Mieterinnen und Mieter in meinem Wahlkreis Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost oder sonst irgendwo in Deutschland ihre Miete an Mafiosi zahlen, die davon Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Italien bestechen oder diese – wahlweise – abknallen. Außerdem brauchen wir ein transparentes Immobilienregister. ({5}) Dann wissen wir endlich, wem die Häuser gehören. Bis heute konnte mir niemand erklären, warum man Grundstücke mit Bargeld bezahlen können muss. Das wollen wir verbieten, meine Damen und Herren. ({6}) Solange Sie von der CDU den Immobiliensumpf nicht trockenlegen wollen, solange werden Sie die Geldwäsche nicht bekämpfen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Und das wissen Sie auch. Aber warum wollen Sie das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn es Ihnen ernst wäre mit der Geldwäschebekämpfung, dann würden Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen. Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen Geldwäsche bekämpfen – aber richtig. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. – Herr Kollege Birkwald, heute ist ja, wie ich gehört habe, Weiberfastnacht im Rheinischen. Der Präsident hat uns heute im Ältestenrat darüber unterrichtet, dass die Weiberfastnacht in der alemannischen Fastnacht „schmutziger Donnerstag“ heißt. ({0}) Das ist für einen Norddeutschen beides ungewöhnlich. Trotzdem: Ich wollte zur Information beitragen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Mittag, SPD-Fraktion. ({1})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Geldwäsche geht es nicht nur um den Schaden in der Wirtschaft oder die bloßen Mindereinnahmen des Fiskus, sondern die Geldwäsche fügt uns allen auch Tag für Tag in allen unseren Lebensbereichen einen erheblichen Schaden zu. Es geht um fehlendes Geld für die Bereiche Soziales, Gesundheit, Bildung und alles, was uns in unserem Leben betrifft. Geldwäsche ist organisiert, weit verbreitet und ein Problem, das noch zielgerichteter und effektiver angepackt werden muss. – Bis dahin haben wir hier ja schon große Zustimmung. Es ist das Resultat zum Beispiel aus Drogenhandel, Zwangsprostitution, Waffenhandel, Schutzgelderpressung, Diebstahl und Betrug bis vor die Haustür – es kann also jeden betreffen –, all dies sind Straftaten, die ermittelt, geahndet und zukünftig so gut wie möglich und noch besser als bisher verhindert werden müssen. Ganz wird man es nicht schaffen, aber wir sind auf einem guten Weg. Wir müssen gerade in Deutschland noch viel mehr den Fokus auf den Gewinn daraus legen. Denn wo bleibt – das ist schon mehrfach gefragt worden – das kriminelle Geld? Es gibt jetzt schon Hinweise, dass in Deutschland und europaweit im Rahmen der Pandemie die Zahl der Betrugshandlungen und dubiosen Immobilienkäufe massiv zugenommen hat. Der althergebrachte Satz „Folge dem Geld“ – er ist hier schon mehrfach zitiert worden – ist und bleibt aktuell. Das wollen wir auch mit diesem Gesetz. Diesem Ermittlungsgrundsatz wird dieses Gesetz auch gerecht. Es schafft breitere Kompetenzen für die Ermittlungsbehörden und ist ein weiteres –ein weiteres – geeignetes Instrument, nicht das alleinseligmachende, um die strafrechtliche Verfolgung auszuweiten und zu intensivieren; denn jede Vortat ist jetzt eine potenzielle Vortat zur Geldwäsche. ({0}) Bislang konnten wir von den schon erwähnten – geschätzt – jährlich 100 Milliarden Euro an kriminell erwirtschaftetem Geld nur einen Bruchteil von unter 1 Prozent sichern. Das wird auch von den Ermittlungsbehörden in Italien bemängelt. Dies muss sich ändern. Das Gesetz gibt den Sicherheitsbehörden dazu bessere Handlungsmöglichkeiten. Sie kamen bisher mit der gesetzlichen Regelung nicht weiter. Nur, dieses Gesetz reicht natürlich nicht. Es braucht eine Ausweitung von Strukturermittlungen, die Digitalisierung von Grundbüchern – das zieht sich noch hin, ist aber auf einem guten Weg – und Bargeldobergrenzen im Zahlungsverkehr. Ich sehe hier große Zustimmung zu diesem Thema; das ist mir völlig neu. Da fangen nämlich einige Verbände schon reflexartig an, zu alarmieren, obwohl das die Geldwäsche deckt. Aber auch das Thema Kryptowährung, die Ausweitung von Verdachtsmeldungen und die Geldwäscheermittlungen vor Ort bleiben weiterhin ein Thema. Da es sich bei dem Gesetz um die Umsetzung einer EU-Richtlinie handelt, wird deutlich: Ja, das ist ein europäisches Thema. Für die Ermittlungsvernetzung auch außerhalb Europas haben wir Europol. Dass die Bekämpfung der Geldwäsche ganz explizit eines der vordringlichen Themen ist, hat die Europol-Kommission, bei der auch Bundestag und Bundesrat beteiligt sind und die in der vergangenen Woche getagt hat, festgestellt und erneut beschlossen. Auch dieses Gesetz ist im Kampf gegen die Geldwäsche ein wichtiger Baustein – einer von mehreren. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Nächster Redner ist der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man konnte ein bisschen durcheinanderkommen bei manchen Wortbeiträgen im Laufe der Debatte. Worum geht es denn heute eigentlich? Wir schaffen heute bessere Voraussetzungen zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und von Clankriminalität. Ich will noch mal kurz erläutern, warum wir im Bereich der Geldwäsche den All-Crimes-Ansatz, der jetzt schon mehrmals hin und her diskutiert wurde, für so wichtig und richtig halten. Geldwäsche sichert doch letztlich Organisierte Kriminalität ab. Geldwäsche macht Organisierte Kriminalität erst lohnenswert. Denn was bringt es mir, wenn ich Geld oder Vermögensgegenstände aus Straftaten erwerbe und ich nicht danach eine Horde Geldwäscher habe, die es schafft, das Geld wieder zurück in den legalen Wirtschaftskreislauf zu bringen, und es mir nutzbar macht, sodass ich etwas davon habe? Deswegen ist die Geldwäsche aus unserer Sicht so strafwürdig und so verfolgungswürdig. Meine Damen und Herren, jetzt sagen Sie mir doch mal, welche Rolle es spielen soll, aus welcher Straftat das inkriminierte Vermögen stammt! Wir wollen, dass es sich überhaupt nicht lohnt, aus Straftaten Geld zu erlangen, das am Ende wieder legal in den Wirtschaftskreislauf kommt. Das ist die Botschaft dieses Gesetzes, meine Damen und Herren. ({0}) Sie sagen, dass dadurch das Verhältnis zwischen Verdachtsmeldung und Verfolgung am Ende schlechter würde. – Das Gegenteil ist der Fall. Das Problem heute ist doch, dass Sie viele Verdachtsmeldungen haben, aber am Ende nicht ganz genau wissen, ob tatsächlich die richtige Vortat betroffen ist. Das schaffen wir ab. Nicht der Heuhaufen wird größer, die Nadeln werden mehr, meine Damen und Herren. ({1}) Deswegen ist der Ansatz an der Stelle der richtige. Ich hoffe, dass wir diesen heute auch so beschließen. Lassen Sie mich noch für unseren Änderungsantrag werben. Frau Kollegin Bayram, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Wenn ich Sie richtig verstanden habe, müssten Sie unserem Änderungsantrag mit Freude zustimmen; denn gerade im Bereich der Einziehungsvorschriften ändern wir ja einiges. Wir haben drei Dinge im parlamentarischen Verfahren miteinander besprochen und schlagen sie heute zur Änderung vor: Erstens: die Einziehungsmöglichkeit von Surrogaten. Wir wollen grundsätzlich schon am Anfang des Ermittlungsverfahrens, auch bei Bestehen eines Anfangsverdachts, dass es sich um erkennbar inkriminiertes Vermögen handelt, dessen Sicherstellung und Einziehung ermöglichen. Das muss auch für Surrogate gelten, also nicht nur für die 200 000 Euro, die einer aus einer Straftat erlangt hat, sondern auch für den davon gekauften schicken roten Sportwagen. Das ist doch logisch. Das ist, glaube ich, auch in Ihrem Sinne. – Das ist die erste Änderung, die wir vorschlagen. Die zweite Änderung: Wir haben in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen, dass dies für alle Geldwäschestraftaten gelten soll. Denn Sie wissen doch oft bei Bestehen eines Anfangsverdachtes, am Anfang des Ermittlungsverfahrens noch nicht genau, welche Geldwäschestraftat am Ende tatsächlich vorliegt. Deswegen wollen wir die Einziehungsvorschriften im Vergleich zu denen im bisher vorliegenden Entwurf ausweiten. Wir wollen, wenn inkriminiertes Vermögen vorliegt, die Möglichkeit schaffen, dass die Ermittlungsbehörden das einziehen. Ich glaube, das ist richtig. Wir stellen auch klar, meine Damen und Herren, dass, auch wenn sich erst nach der ersten Sicherstellungsverfügung herausstellt, dass möglicherweise eine einziehungsfähige Tat vorliegt, die Sicherstellung dann möglich ist. All das sind Möglichkeiten, die unsere Ermittlungsbehörden in die Lage versetzen, ein Stück Waffengleichheit gegenüber kriminellen Banden zu bekommen, die dazu führen, dass sie ein bisschen mehr auf Augenhöhe agieren können und nicht die Schlupflöcher bei Vortaten, bei einziehungsfähigen Taten so bleiben, dass kriminelle Banden sich gelegentlich totlachen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist das der richtige Weg. Ich werbe herzlich um Zustimmung zum Änderungsantrag zum Gesetzentwurf, bedanke mich heute, weil es ja nicht immer so ist, ausdrücklich beim Koalitionspartner für die hervorragende Zusammenarbeit im parlamentarischen Verfahren ({2}) und hoffe, dass Sie alle zustimmen. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Jung. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Bayram, einen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Leider kann ich Ihnen aber nur dazu gratulieren und sicher nicht zu Ihrer Rede, die ich, das sage ich ehrlicherweise, ziemlich unterirdisch gefunden habe. Wenn Sie sich hierhinstellen und den Eindruck erwecken, die Union und dann mindestens in ihrem Windschatten auch die SPD hätten keinerlei Interesse, Geldwäsche zu bekämpfen, dann ist das schon kühn. Ich habe an mancher Stelle den Eindruck gewonnen, dass Sie entweder den Gesetzentwurf gar nicht gelesen haben oder vielleicht das, was Sie dort gelesen haben, gar nicht glauben wollen. Aber machen wir es mal der Reihe nach. Was ist denn das Problem bei der Geldwäsche? Das Problem bei der Geldwäsche ist, dass es dort um erhebliche Vermögenswerte geht. Das ist der große Wirtschaftszweig der Organisierten Kriminalität in Deutschland. Es gibt Schätzungen, dass jedes Jahr in Deutschland allein dadurch ein Schaden von 100 Milliarden Euro entsteht. Das heißt, man kriegt da sehr gut ein Gefühl dafür, über welche Größenordnung wir reden. Zielsetzung von Organisierter Kriminalität, von mafiösen Strukturen ist, dass alles unternommen wird, um Geldsummen, die aus einer strafbaren Handlung kommen, in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen zu lassen, weil sie nur dann wieder werthaltig sind. Und wenn ich mir angucke, um welche Geldmengen es geht, dann muss ich kein Hellseher sein, um zu wissen, dass da wahnsinnig viel an Strukturen geschaffen wird, wahnsinnig viel an Anstrengung unternommen wird, um das zu verschleiern. Das ist das, was der Kollege Jung vorhin mit „Waffengleichheit“ beschrieben hat: Die Strafverfolgungsbehörden müssen einen wahnsinnigen Aufwand betreiben, um hinter diese Verschleierungsstrategien zu kommen. Genau an dieser Stelle setzen wir an: wo die ganze Zeit wahnsinnig viel Aufwand betrieben werden muss. Weil man eine ganz konkrete Straftat aus dem Straftatenkatalog nachweisen können muss, um überhaupt weiterzukommen, gehen wir jetzt ein ganzes Stück weiter und sagen: Nein, es genügt jede rechtswidrige Haupttat. – Und damit wird umgekehrt ein Schuh draus: Wir werden nämlich den Aufwand für die Strafverfolgungsbehörden erheblich reduzieren. ({0}) Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich empfinde Ihre Argumentation und auch die Argumentation der FDP – auch im Ausschuss – schon fast abenteuerlich. Sie sagen: Wenn ihr die Anforderungen absenkt, ersticken die Strafverfolgungsbehörden am Schluss in Arbeit. ({1}) Wenn ich das konsequent zu Ende denke, würde das ja im Ergebnis bedeuten: Wenn ich die Anforderungen für den Tatbestand der Geldwäsche nach oben schraube, sodass damit die Strafverfolgungsbehörden noch mehr gezwungen sind, ohnmächtig zuzugucken, dann haben wir für Sie offensichtlich einen zufriedenstellenden Zustand, ({2}) nämlich möglichst wenig Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. Das ist für uns Kapitulation des Rechtsstaats, und das werden wir nicht mitmachen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Martens?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, aber mit ganz großem Vergnügen.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Stimmen Sie mir zu, dass wir während der Beratung dieses Gesetzes Mitteilungen erhalten haben – ich nehme an, Sie auch – von den in der Bundesrepublik tätigen Zahlungsdienstleistern und ‑vermittlern, die den Bankverkehr abwickeln? In diesen Mitteilungen haben die Zahlungsdienstleister darauf hingewiesen, dass sie bei einem Entfall eines Vortatenkataloges gezwungen wären, jede nicht normal ablaufende Banktransaktion, zum Beispiel im Fall von Rücklastschriften, als möglichen Verdachtsfall anzusehen und der FIU zu melden. ({0}) Dies würde, so die Zahlungsvermittler, bedeuten, dass man rund 1,6 Millionen Verdachtsmeldungen pro Jahr avisiert. Die FIU ist bereits jetzt mit 100 000 Meldungen pro Jahr hoffnungslos überfordert. Wie soll dies zu einer besseren Verfolgung von Geldwäsche führen? ({1})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Martens, zwei Dinge sind wichtig: Wenn Sie mit solchen Zahlen hantieren, dann, glaube ich, sollten wir der Realität ins Auge schauen. ({0}) Wenn man sich zum Beispiel den Bankenbereich anguckt, dann muss man feststellen, dass heute schon in dieser Größenordnung regelmäßig Verdachtsfälle gemeldet werden. Doch, im Bankenbereich! Schauen wir doch der Realität ins Auge: Wenn ich heute als Privatmann baue und in großer Anzahl hohe Zahlungen vornehme – an Handwerker, an das Bauunternehmen –, dann gibt es selbstverständlich eine bankinterne Kontrollmitteilung, wo erklärt werden muss: Warum werden dort solche Summen bewegt? Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt. Die spannende Frage ist: Wie gehe ich mit einer Information um? Bei Ihnen führt diese Information dazu, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: Dann machen wir nichts. – Bei uns führt diese Information sicher dazu, dass wir sie nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch bereit sind, alle Register zu ziehen, um Geldwäsche in Deutschland effektiver zu bekämpfen. Wir sollten mal eines nicht vergessen: Es gibt Fachkreise, in denen Deutschland als das Paradies für Geldwäsche bezeichnet wird, und zwar noch weit vor Italien und anderen Ländern. Da müssen wir uns mal die Frage stellen, ob wir das wollen. Deswegen sage ich: Wir haben einfach mit solchen Informationen einen anderen Umgang. Ich glaube, dass unser Umgang der richtige ist und auch unser Ansatz, weil er sehr viel ambitionierter und mutiger ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In unserem Antrag geht es vor allem um hochtoxische Pestizide, die hier verboten oder nicht zugelassen sind, aber trotzdem hier produziert und in die Welt exportiert werden. Manche sprechen hier freundlich von „Doppelstandards“; ich spreche hier von unerträglicher Doppelmoral. ({0}) Wenn etwas für uns zu giftig ist, ist es auch für die Menschen im Globalen Süden zu giftig, und da gibt es auch nichts zu diskutieren. Wie wichtig unser Antrag ist, zeigt auch die leidenschaftliche Unterstützung durch den UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und gefährliche Substanzen. In einem Brief an die Bundesregierung begründet er auf fünf Seiten die Wichtigkeit unseres Antrags. Darüber hinaus haben wir bereits – von Kenia bis Brasilien – positive Rückmeldungen bekommen. An Deutschland werden zu Recht Erwartungen gestellt. Ich möchte aber deutlich sagen: Es sind keine hohen Erwartungen, sondern es sind Selbstverständlichkeiten, ({1}) die jede Regierung erfüllen muss, wenn sie glaubhaft christlich-soziale Werte, moralisch-ethische Werte vertreten will. Jedes Jahr sterben 11 000 Menschen an den Folgen von Pestizidvergiftungen. Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich circa 380 Millionen Pestizidvergiftungen vorkommen. Es beginnt mit einfachen Kopfschmerzen. Die Gifte reichern sich im Körper an. Es kommt zu erhöhtem Krebsrisiko, zu chronischen Krankheiten, zu Unfruchtbarkeit, Nierenversagen und vielem mehr. Aber auch die Umwelt wird schwer geschädigt, Böden verarmen, Wasser wird verseucht, Insekten sterben, die Biodiversität wird massiv geschädigt. Frankreich und die Schweiz sind da schon wesentlich weiter: Sie haben schon vor einigen Jahren manche dieser Wirkstoffe verboten. Und auch die EU fordert in ihrer neuen Chemikalienstrategie letztlich sogar ein Produktionsverbot. Ich war sehr positiv überrascht, als Bundesministerin Klöckner neulich in der Regierungsbefragung ihre Unterstützung dafür zusagte. Schön! Aber auch Frau Klöckner weiß: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. – Und man muss es schnell tun. Die Ministerin weiß auch, was dafür notwendig ist. Dafür bräuchte man nicht einmal ein Gesetz: Das Pflanzenschutzgesetz gibt ihr heute bereits die Möglichkeit – und ich zitiere –, zur Abwehr von Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Umwelt die Ausfuhr von bestimmten Pestiziden in Drittstaaten außerhalb der EU zu untersagen. Frau Ministerin, Sie sind hiermit aufgefordert – sie ist nicht da –, das endlich umzusetzen. Es geht um Menschenrechte, es geht um Umweltschutz. ({2}) Sie müssen sich nicht mal eine Begründung holen; denn wir sprechen hier von Giftstoffen, die bei uns aus sehr guten Gründen verboten sind. Gleichzeitig müssen wir natürlich den Pestizideinsatz insgesamt reduzieren. Und wir müssen endlich auch Transparenz über exportierte Wirkstoffe herstellen; denn die bisherigen Veröffentlichungen dienen eher der Verschleierung, weniger der Information. Wir stehen mit unserer Position nicht allein: Die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft weisen seit Jahren auf die Problematik hin. Aber auch die FAO, die WHO und die UN-Ebene beziehen hier klar Stellung. Jetzt ist die Regierung dran; sie trägt die Verantwortung, sie muss handeln. ({3}) Und deshalb lade ich Sie alle ein: Lassen Sie uns hier und heute gemeinsam vorangehen. Nehmen Sie unseren Antrag ernst, und stimmen Sie dafür. Ich bedanke mich. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nahrung ist Leben. Deshalb gibt es auch ein Menschenrecht auf Nahrung. Und nach großen Erfolgen bei der globalen Hungerbekämpfung ab der Jahrtausendwende steigt die Zahl der Menschen, die hungern oder mangelernährt sind, leider wieder an. Das liegt zumeist an neuen Bürgerkriegen und leider auch an der Pandemie. Das Tragische an Hunger und Mangelernährung ist, dass es genug Nahrung geben würde. Sie ist nur leider ungleich verteilt; aber auch Transport und Lagerung sind ein Problem. Ebenfalls spielen Misswirtschaft, schlechte Böden, mangelnde Mechanisierung, aber auch falscher oder fehlender Umgang mit Düngemitteln eine Rolle. Umwelteinwirkungen wie Dürren, Stürme, Überflutungen, aber auch Schädlingsbefall kommen hinzu. Und ein verstärkender Faktor ist dabei der Klimawandel. Das ist, außer bei der AfD, unstrittig. Auch durch klimatische Veränderungen – und damit komme ich zum eigentlichen Thema heute – nehmen Ernteausfälle durch Schädlingsbefall drastisch zu. Die enormen Heuschreckenschwärme, die immer wieder auftreten, sind nur ein Beispiel dafür. Und wo Schädlinge sind, da sind wir beim Thema Pestizide. Richtig eingesetzt, ermöglichen Pestizide erhebliche Ertragssteigerungen oder auch nur Erntesicherungen. Wir selber in Europa sind das beste Beispiel: Neben einer gezielten Düngung und dem Züchten effizienter Arten waren Pflanzen- und Insektenschutzmittel eine Grundlage für unseren Standard der Lebensmittelversorgung. Der entscheidende Punkt dabei ist „richtig eingesetzt“. Falsch eingesetzt, gefährden sie ein weiteres Menschenrecht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, und es schädigt die Umwelt, beispielsweise das Wasser oder die Artenvielfalt. Es ist also fundamental wichtig, dass Menschen, die mit Pestiziden arbeiten, das richtige Equipment zur Verfügung haben und wissen, was sie tun, also Ausrüstung und Ausbildung. Das ist ein Argument für einige Kernanliegen unserer Entwicklungspolitik: technische Entwicklung, Bildung und Ausbildung. Die Verantwortung für Ausbildung liegt bei allen handelnden Akteuren, zunächst einmal selbstverständlich bei den die Chemikalien importierenden Staaten. Sie tragen natürlich zuallererst die Verantwortung, ihre eigene Bevölkerung und ihre Landarbeiter zu schützen. Sie tragen auch die Verantwortung für ein ausreichendes Gesundheitssystem, das im Falle von Gesundheitsschäden und Vergiftungen durch falschen Gebrauch helfen und beraten kann. Verantwortung liegt aber natürlich auch bei den importierenden und exportierenden Unternehmen: Wer Chemikalien kauft, muss auch die Schutzausrüstung bereitstellen können, und wer Pestizide verkauft, muss das Wissen um den sicheren Umgang vermitteln. Und letztlich trägt selbstverständlich auch der Endanwender Verantwortung. Wer Chemikalien nutzt, ist grundsätzlich selber für einen gesundheits- und umweltgerechten, also einen fachgerechten Umgang und Einsatz dieser Produkte verantwortlich. Der Bauer muss sich, seine Familie, seine etwaigen Angestellten schützen. Dazu muss er es aber auch können. Selbstverständlich ist das Wissen um die Gefahren bei der Anwendung eine wesentliche Voraussetzung dafür, ebenso die Möglichkeit, sich eine Schutzausrüstung zu leisten. Wo dies nicht gewährleistet ist, dürfen diese Mittel nicht eingesetzt werden, um das ganz klar zu sagen. Das alles gilt „over all“, für alle sensiblen chemischen Produkte. Jetzt kommen wir zum speziellen Thema dieses Antrages, zum Export der in der EU verbotenen Pestizide aus der EU in andere Länder. Ich habe meine Haltung dazu im Ausschuss schon sehr deutlich geäußert: Ich habe Sympathie dafür, dass wir uns Frankreich und der Schweiz anschließen und den Export von ausdrücklich diesem Teil der Pestizide – die, die bei uns verboten sind – perspektivisch unterbinden. ({0}) Ich plädiere dafür, dies im Rahmen der bereits gestarteten Initiative der Europäischen Kommission auch zu tun. Was wir offenbar aus guten Gründen bei uns selbst verbieten, sollte grundsätzlich keinen Einsatz andernorts bekommen. ({1}) Denn: Es ist noch nicht einmal unser Kerngeschäft: Nur gut 4 Prozent der jährlich exportierten Pestizide sind in der EU nicht zugelassene Pestizide. Bei Chemikalien, die wir für die Anwendung auf unseren Feldern für ungeeignet halten – und das bei unserem hohen Ausbildungsstand und hervorragender landwirtschaftlicher Technik –, ist der Export mit Blick auf einen möglichen Gebrauch andernorts schlicht unnötig. Letztlich kann es natürlich dazu kommen, dass die importierenden Länder aus ihrer Eigenverantwortung heraus die Notwendigkeit zum Gebrauch dieser Mittel feststellen und sich gegenüber manchem Schädlingsbefall auch nicht anders zu helfen wissen. Da gibt es ganz andere Dimensionen, als wir es hier bei uns kennen. Sie sind jedoch verantwortlich für ihre Ernährungssicherung, die Gesundheit der Landarbeiter, aber auch ihre Umwelt. Und vielleicht brauchen sie nur das gute Beispiel, eine Alternative oder auch Hilfe. Souveränität und ein Agieren auf Augenhöhe bleiben daher auch hier die Grundlage zwischenstaatlichen Handelns. Wir wollen niemanden bevormunden. Und leider ist ein Teil der Wahrheit auch, dass, selbst wenn wir diese in falscher Anwendung hochgefährlichen Chemikalien verbieten, sich die Importeure dann woanders bedienen. Das Kernproblem lösen wir damit nicht. Was also tun? An dieser Stelle können wir in Europa ein breiter aufgestelltes Angebot machen. Das reicht von guter Gesundheitsversorgung über gute Information und Ausbildung und dem Aufzeigen von Alternativen bis hin zu Regelungen und Verboten. Wir könnten hier europäische und damit globale Standards durchsetzen und in den Zielländern ein Umdenken einleiten. Ich bin überzeugt, dass mit einem fairen Gesamtkonzept aus EU-zugelassenen Pestiziden, aus gutem, an lokale Bedingungen angepasstem Gebrauch und einer fundierten Ausbildung und vollständiger Information ein Gesamtprodukt „made in Germany“ angeboten werden kann, das absolut konkurrenzfähig ist. Zu guter Letzt ist es unser gemeinsames Ziel in der Entwicklungspolitik, aber auch bei uns, den Einsatz von Chemikalien insgesamt zu reduzieren: entweder durch technische Hilfsmittel, die einen immer spezifischeren Einsatz von Pestiziden ermöglichen – Stichwort: Smart Farming – oder eben mithilfe eines Anbaukonzeptes, welches, wie viele wissen, mir persönlich sehr am Herzen liegt: der Agrarökologie. Gestern erst hatten wir das Thema im Ausschuss auf der Tagesordnung. Durch den holistischen Ansatz der Agrarökologie verbessert und erhält man die Artenvielfalt in der Natur und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. An dieser Stelle sind wir Entwicklungspolitiker, lieber Uwe, wieder beieinander. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Gefährliche Pestizidexporte stoppen“: 20 000 bis 40 000 Menschen sterben jährlich an unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen, hauptsächlich im Globalen Süden, was auch an fehlender Bildung, an einem mangelhaften Arbeitsschutz und an ungenügender Sachkunde liegt. Schlimm genug! Ich möchte das Thema aus einer ganz anderen Perspektive beleuchten. Erstens. Wir machen aus unserer eigenen landwirtschaftlichen Fläche ein klimaneutrales Biotop und gängeln unsere Landwirte mit immer mehr Auflagen. Eine produktive Landwirtschaft in Deutschland für Deutschland ist gar nicht mehr möglich. Dadurch exportiert Europa Probleme nach außen und importiert Agrarfläche. Das ist die wirkliche Doppelmoral. Zweitens. Unsere Erde hat eine Landoberfläche von 13,4 Milliarden Hektar. Davon sind 0,2 Milliarden Hektar für Städte und Infrastruktur; 4,3 Milliarden Hektar sind Umland, also Gebirge und Wüsten; 3,9 Milliarden Hektar sind Waldfläche – noch, zum Glück –, aber dieser Wert nimmt stetig ab; denn wir benötigen ja immer mehr Weideflächen. Dann bleiben 5 Milliarden Hektar Agrarfläche, und diese 5 Milliarden Hektar Agrarfläche bestehen aus 3,55 Milliarden Hektar Weideland und 1,45 Milliarden Hektar Ackerland. Jetzt kann man sagen: Das ist für die Lebensmittel. – Weit gefehlt! Denn die teilen sich auf in 100 Millionen Hektar zur stofflichen Nutzung, zum Beispiel für Baumwolle, 55 Millionen Hektar für Bioenergie – Palmöl, Zuckerrohr, Mais; Tendenz steigend –, 1,030 Milliarden Hektar gehen für Futtermittel drauf, und lediglich 260 Millionen Hektar sind für Nahrungsmittel, und genau darum geht es. Diese 260 Millionen Hektar, Herr Kekeritz, sind für Nahrungsmittel, und die müssen nun immer mehr Menschen ernähren, heute 7 Milliarden und in 30 Jahren 10 Milliarden Menschen. Drittens. Das bedeutet, dass also eine nicht größer werdende Fläche – weil es mathematisch gar nicht geht – immer mehr Menschen ernähren muss, auch im Hinblick darauf, dass wir alle, die wir hier sitzen, immer mehr verzehren. ({0}) Es geht darum – es ist gerade erwähnt worden –, dass wir die Ernährungssicherheit gewährleisten müssen, und zwar für alle Menschen. Wir erinnern uns: Schon heute stirbt alle vier Sekunden ein Mensch an Hunger. Jedes Jahr sterben circa 2,6 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Mangel- oder Unterernährung. Dazu kommt: Jeden Tag sterben 1 000 Kinder unter fünf Jahren an Durchfallerkrankungen, verursacht durch verschmutztes Trinkwasser und mangelnde Hygiene – verschmutztes Trinkwasser durch Chemikalien aus der Textilindustrie, aber auch durch Verschmutzung, Herr Kekeritz, im Bereich der Gewinnung von Kobalt für unsere E-Mobilitäts-Batterien. ({1}) Zurück zur begrenzten Landwirtschaftsfläche. Diese muss nun effektiver genutzt werden. Das bedeutet auch, zum Beispiel gegen Heuschreckenplagen im Vorfeld effektiv vorzugehen, damit Hungersnöte wie im Südsudan und in Äthiopien nicht in dieser Stärke und in dieser Härte ausfallen. Auch gilt es zum Beispiel, invasive Pflanzenarten schneller und effektiver zu bekämpfen. Hier in Deutschland kennen wir zum Beispiel das Jakobskreuzkraut, das sehr toxisch und giftig für Mensch und Tier ist, oder den Bärenklau. Es geht also um effektiven Nutzpflanzenschutz. Was nun mit aller Konsequenz durchgeführt werden muss, ist der Schutz der Landarbeiter. ({2}) Darin muss investiert werden, und zwar in Bildung, Schulung und Ausrüstung. Das ist in letzter Konsequenz die erste Antwort. Darüber hinaus brauchen wir wieder mehr funktionierende und lohnende Landwirtschaft in Deutschland zur Ernährung Deutschlands. Und letztendlich: Wir können den Ländern nicht vorschreiben, welche Pestizide sie erlauben oder eben nicht. Das ist die eigenstaatliche Verantwortung. Ansonsten müssen wir alle daran arbeiten, auch im Hinblick auf unseren Wegwerfkonsum, die Welt nachhaltiger zu gestalten. Mensch und Natur, Umwelt sind keine Gegenspieler. Sie brauchen einander. Und genau hier schließt sich meine Rede, und zwar damit, dass wir die letzte Frage beantworten müssen: Wie viel Mensch erträgt die Erde? Und wenn wir da nicht ehrlich sind, werden wir kein Problem nachhaltig lösen können. Vielen lieben Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Friedhoff. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute insgesamt um den Schutz der Gesundheit von Menschen, die oft unter schlimmen Bedingungen arbeiten müssen, gerade in der Landwirtschaft. Ich möchte – auch wenn Sie das jetzt vielleicht überrascht – mit einer guten Nachricht beginnen, nämlich dass wir gestern im Haushaltsausschuss 1,5 Milliarden Euro zusätzlich für Impfstoffe, für die WHO und für die Impfallianz Covax zur Verfügung gestellt haben. Ich finde, das sollten wir als Entwicklungspolitikerinnen und ‑politiker würdigen. Dafür haben wir uns eingesetzt. Ich glaube, das ist erst mal eine gute Nachricht, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Damit schlage ich den Bogen zum heutigen Thema. Natürlich ist Menschen in Entwicklungsländern nicht allein damit geholfen, dass jetzt ein Schritt gemacht wird, damit sie auch vor einer Coronainfektion geschützt werden; vielmehr müssen wir darauf schauen, wie die täglichen Arbeitsbedingungen sind, sei es in der Landwirtschaft, sei es in Bergwerksminen, sei es in Textilfabriken. Schon lange, auch vor der Coronapandemie, sind Menschen dort aufgrund von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und aufgrund von schlimmen Zuständen auch in der Landwirtschaft zu Schaden gekommen. Das Thema „gefährliche Pestizide“, das im heute vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und Linken behandelt wird, beinhaltet einen wichtigen Teilaspekt. Natürlich – und das hat auch der Kollege Stein gesagt – sind wir hier als Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker von CDU/CSU und SPD gemeinsam dafür – und wir als Sozialdemokraten auch auf europäischer Ebene –, dass wir verbieten, dass Pestizide, die in Europa als gesundheitsgefährdend eingestuft werden und hier in Europa keine Zulassung für unsere Landwirtschaft erhalten, in Entwicklungsländer exportiert werden dürfen. Das unterstützen wir. Ich glaube, das ist hier auch in vielen Fraktionen Konsens, zumindest in denen, die sich mit Entwicklungspolitik beschäftigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte.

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Kollege, danke, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. Sie haben gesagt, wir müssen die schlechten Arbeitsbedingungen in den Ländern der Dritten Welt bekämpfen. Wenn wir jetzt den Export von Pestiziden, also – nennen wir sie einmal so – Pflanzenschutzmitteln, verbieten würden, sind Sie dann nicht auch mit mir der Meinung, dass wir gleichzeitig auch den Import von E-Autos und Materialien für E-Autos verbieten müssten? Denn beim Abbau der Metalle für die Batterien zum Beispiel findet auch Kinderarbeit statt oder Umweltverschmutzung, weil man ganze Böden mit Wasser auswäscht. Also sollten wir eigentlich wegkommen vom E-Auto. Sind Sie da mit mir einer Meinung? ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, erst einmal – aber das sei Ihnen jetzt nachgesehen –: Wir reden nicht mehr von der Dritten Welt, sondern von der Einen Welt und von Entwicklungsländern. ({0}) – Oder Ländern des Globalen Südens, genau. Aber Ihre Frage zielte darauf, ob es legitim sei, Rohstoffe, die wir für die Elektromobilität brauchen, aus diesen Ländern einzuführen. Es ist sehr interessant, dass die Frage ausgerechnet von Ihnen von der AfD-Fraktion kommt. Sie haben erst in der letzten Ausschusssitzung einen Antrag vorgelegt – den haben wir, glaube ich, hier im Bundestag auch diskutiert –, in dem Sie sich vehement dafür ausgesprochen haben, das Lieferkettengesetz zu stoppen, kein Lieferkettengesetz einzuführen. Sie haben sich immer gegen jede Regelung ausgesprochen, die Einhaltung von Menschenrechten, von Umwelt- und Sozialstandards in Entwicklungsländern gesetzlich vorzuschreiben. Ihre Frage ist recht einfach zu beantworten: Ja, es ist verantwortbar, aus Entwicklungsländern Kobalt und auch andere Rohstoffe nach Deutschland und Europa zu importieren, ({1}) die wir hier für die E-Mobilität brauchen, wenn man gleichzeitig dafür sorgt, dass gesetzlich geregelt ist, dass bei den Produktionsbedingungen die Menschen anständige Arbeitsverhältnisse haben, Arbeitsschutz haben, faire Löhne haben. Genau dafür setzen wir Sozialdemokraten uns die ganze Zeit ein. ({2}) Die AfD-Fraktion ist diejenige, die es ablehnt. Das ist doch heuchlerisch: Auf der einen Seite beklagen Sie, dass Menschen zu Schaden kommen – Herr Kollege, ich war vor Ort in der Demokratischen Republik Kongo, habe mir angeschaut, wie die Menschen dort in den Minen arbeiten müssen –, und auf der einen Seite lehnen Sie das ab, was hilft, die Lebensbedingungen gesetzlich zu verbessern. Und dann vergießen Sie hier Krokodilstränen, wenn diese Rohstoffe für die E-Mobilität nach Deutschland kommen, weil sie am liebsten, in Ihrem alten Denken, noch tausend Jahre weiter mit irgendwelchen stinkenden Benzinern und Dieseln herumfahren würden. Das ist lächerlich. – Frage beantwortet. ({3}) Herr Kekeritz, um zu Ihrem Antrag zurückzukommen: Es geht nicht nur um die Pestizide, die hier in Europa verboten sind und für die Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, Schäden anrichten. Wir waren 2018 gemeinsam in Ecuador. Wir hatten dort gerade eine Oxfam-Studie gehabt, die nachgewiesen hat, dass in Costa Rica bei Ananas, aber auch in Ecuador bei den Bananen auf den Plantagen legal zugelassene Pestizide, auch Pestizide, die in Europa zugelassen sind, so eingesetzt werden: Sie werden aus der Luft versprüht, während die Arbeiterinnen und Arbeiter auf der Plantage noch die Bananen pflücken, oder während der Mittagspause, und die Arbeiter müssen dann sofort wieder auf die Felder. Bei diesen Pestiziden ist meistens eine sogenannte Ruhezeit von 12 oder 24 Stunden vorgeschrieben; erst dann darf eine so behandelte Plantage wieder betreten werden. Wir haben da mit den Arbeitern gesprochen, mit den Gewerkschaftern gesprochen. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit dem Präsidenten. Druck konnten wir dadurch aufbauen, als ich dem Präsidenten gesagt habe: Eigentlich ist das nach dem Freihandelsabkommen mit Ecuador gar nicht zulässig; denn im Nachhaltigkeitskapitel steht, dass ihr dafür sorgen müsst, dass dort keine Pestizide versprüht werden, wenn die Arbeiter auf den Plantagen sind. – Wenn man droht, das in Brüssel zur Sprache zu bringen, werden die auf einmal ganz nervös. Das ist genau der Punkt: Wir brauchen klare gesetzliche Regelungen, dass den Partnerländern klar wird, dass sie darauf achten müssen, dass bei ihnen Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte, Umweltschutz, Arbeitsschutz eingehalten werden. Wir müssen aber auch die Unternehmen verpflichten, dass sie, wenn sie zum Beispiel Bananen aus Ecuador einführen, sicherstellen, dass diese Standards eingehalten werden. Damit komme ich wieder zu dem Thema Lieferkettengesetz. Ich möchte mich erst einmal ganz herzlich bei Hubertus Heil bedanken, der da wie ein Löwe für dieses Gesetz kämpft – da kann man einmal applaudieren –, ({4}) aber auch bei Entwicklungsminister Gerd Müller, der sich in seiner Fraktion – oft gegen Widerstände – dafür einsetzt. Ich hoffe und bin zuversichtlich, dass wir da in Kürze zu einer Einigung kommen können. Wenn dieses Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht wird, werden Unternehmen – nicht freiwillig – gesetzlich verpflichtet, menschenrechtliche Standards einzuhalten, dann dürfen keine Produkte mehr nach Europa importiert werden, bei denen Menschen aus der Luft mit Pestiziden – ob sie in Europa zugelassen sind oder nicht – besprüht werden, Menschen beim Pflücken von Bananen vergiftet werden. Das wird natürlich auf viele andere Branchen – ob das jetzt im Bergbau ist, in der Textilindustrie, ob das auf Kaffee- und Kakaoplantagen ist – einen großen Einfluss haben. Wir haben – der Kollege Stein sprach das an – ja auch den Antrag zur Agrarökologie eingebracht. Das ist natürlich ganz wichtig: Je mehr agrarökologische Ansätze – die wir als Sozialdemokraten unterstützen, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit unterstützen wollen – umgesetzt werden, desto weniger Pestizide braucht man, weil es auch viele gute natürliche Methoden gibt, Schädlinge fernzuhalten. Das ist besser für die Gesundheit derjenigen, die diese Produkte essen, aber auch für die Gesundheit der Menschen, die sie anbauen; auch sie haben dadurch ein besseres Leben. In diesem Sinne, glaube ich, sollten wir diese Ansätze unterstützen, uns für fairen statt freien Handel einsetzen, für gesetzlich verpflichtende Regelungen durch zum Beispiel ein Lieferkettengesetz und Handelsverträge, wo in den Nachhaltigkeitskapiteln Menschenrechte, Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte verbindlich abgesichert sind. In diesem Sinne werden wir uns weiter hier dafür einsetzen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Christoph Hoffmann das Wort. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Grünen klingt einfach und logisch: Was bei uns nicht verwendet werden darf, soll auch nicht exportiert werden. – Das ist sehr pauschal. Der Satz wäre völlig richtig, wenn es gleiche Voraussetzungen gäbe, aber die gibt es nicht. Die Ausgangslage ist – erstens – völlig verschieden, die phytosanitären Voraussetzungen sind einfach andere: Sie haben im Globalen Süden ganz andere Insekten, Pilze, Bakterien, Viren, die sich auch schnell anpassen; es sind weit virulentere Schadorganismen, als wir sie kennen. Die gab es übrigens bei uns auch einmal: Es gab den Maikäfer, es gab den Kartoffelkäfer – die gibt es heute nicht mehr. Das sind ganz große Schädlinge, die bei uns gar nicht mehr bekämpft werden. Deshalb haben wir natürlich eine etwas luxuriösere Lage. Zweitens: die fehlende Logistik. Bei den modernen Pflanzenschutzmitteln müssen Sie ganz präzise, an einem bestimmten Tag diese Mittel ausbringen. Das können Sie im Globalen Süden nicht garantieren. Drittens. Es ist auch eine Frage des Geldes: Die modernen Pflanzenschutzmittel kosten ein Vielfaches dessen, was die alten Pflanzenschutzmittel kosten. – Insofern sind die Voraussetzungen einfach andere. Das Exportverbot, das Sie fordern, würde den Globalen Süden auch in eine prekäre Situation bringen, und da müssen Sie sich schon fragen: Wie wollen Sie die bekämpfen? Der Maisheerwurm frisst ein Drittel der Maisernte in Afrika. Wenn Sie da keine Pflanzenschutzmittel haben, was tun Sie? Gentechnik wollen die Grünen auch nicht. Was tun Sie, wollen Sie die Leute verhungern lassen?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hoffmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, natürlich.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, dass Sie die Frage zulassen, Herr Kollege Hoffmann. Sie haben gesagt, es sind schließlich unterschiedliche Verhältnisse bei uns und in den Ländern des Globalen Südens. Das stimmt ganz bestimmt. Aber jetzt muss ich Sie fragen: Sind Sie der Meinung, dass beispielsweise ein Herbizid, dessen Wirkung hier in Europa als fruchttoxisch festgestellt wurde und das deshalb in Europa nicht mehr zulassungsfähig ist, im Globalen Süden nicht fruchttoxisch wirkt? Das müssen Sie mir dann bitte erklären; auf diese Erklärung wäre ich gespannt. Genau um diese Stoffe, die direkt negative Auswirkungen auf den Menschen haben, geht es. Da finde ich das sehr zynisch. Wenn Sie für mich eine Antwort dazu haben, danke schön. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich gibt es da eine Antwort. Es ist sehr vielschichtig. Die Pflanzenschutzmittel betreffen viele Segmente; es sind Insekten, es sind Bakterien, es sind Viren, es sind auch Herbizide dabei; da gibt es ganz verschiedene, das ist vielschichtig. Was Sie pauschal hier fordern, ist einfach sehr pauschal. Zweitens. Natürlich ist die Wirkung überall dieselbe; das ist ja völlig richtig. Aber Sie haben überall auch einen anderen Gewinn von dieser Sache, beispielsweise wenn Sie um Ihr Überleben kämpfen. Vorhin haben wir gehört: Ungefähr 11 000 Tote gibt es beim unsachgemäßen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf der Welt. Deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass Herr Kekeritz dieses Thema aufgebracht hat. ({0}) Aber wir haben ungefähr 600 Millionen bis 800 Millionen Tote durch Hunger. Das ist das Gegengewicht, was Sie auch sehen müssen. Man kann das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, was Sie hier tun. ({1}) Ihr Antrag ist pure Beipackzettelphilosophie. Sie beschäftigen sich mit den Nebenwirkungen, aber den Hauptwirkungen nicht. Haben Sie sich jemals gefragt: Warum werden diese Mittel eigentlich bestellt? Warum werden sie eigentlich gekauft? Was ist eigentlich der Hauptzweck dieser Mittel? Die Länder bestellen das doch nicht, um sich zu vergiften, sondern weil sie Pflanzenschutz betreiben müssen, weil sie so viele Antagonisten haben, gegen die sie sich wehren müssen. Die Lebenserwartung in Afrika ist in den letzten zehn Jahren um fünf Jahre gestiegen – das ist ein Riesenerfolg –, auch durch gute Ernährung und durch gesicherte Ernährung. ({2}) Das sollten wir auch akzeptieren und respektieren. ({3}) Ich habe Sie im Ausschuss gefragt: Was machen Sie denn gegen die großen Heuschreckenschwärme? Wie wollen Sie die bekämpfen? – Da haben Sie gesagt: Ja, dann machen wir eine Ausnahme von unserem Exportverbot. – Aber dann haben Sie auch gar keine Produktionskapazitäten mehr in Deutschland. Deshalb ist Ihr Antrag nicht zu Ende gedacht, und deshalb werden wir ihn ablehnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nehmen Sie bitte den Mund-Nasen-Schutz? ({0}) Für die Fraktion Die Linke hat nun Dr. Kirsten Tackmann das Wort. ({1})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht in der Debatte um einen gemeinsamen Antrag der Grünen und der Linken. Er hat zwei Ziele, erstens ein Exportverbot für Pflanzenschutzmittel, die in der EU nicht erlaubt oder nicht geprüft sind, und zweitens die Stärkung der internationalen Abkommen zum Schutz vor gesundheitlichen und ökologischen Gefahren durch solche Mittel. Ich finde, es klingt selbstverständlich; das ist es aber leider nicht. Dabei geht es nicht einmal um den üblichen Streit, ob diese Pflanzenschutzmittel für die Menschen oder für die Natur gefährlich sind; denn sie sind eben deswegen in der EU nicht zugelassen oder nicht geprüft. Trotzdem werden sie in Deutschland hergestellt und weltweit exportiert. Diese Doppelmoral finde ich unerträglich. ({0}) Das sind leider keine seltenen Ausnahmen. Es betrifft 41 Wirkstoffe auf EU-Ebene. Dabei sind diese für die Plantagenarbeiter/innen weltweit doch noch gefährlicher als in der EU, weil selbst die einfachsten Schutzmittel fehlen oder kaum kontrolliert werden. Aber weil es für Chemiekonzerne wie Baysanto um viel Geld geht, nehmen Sie das billigend in Kauf. Deshalb sagen die Linken und die Grünen: Das muss aufhören! ({1}) Übrigens kommen diese Pflanzenschutzmittel dann auch als Rückstände zum Beispiel über importierte Tees oder Südfrüchte wieder zu uns zurück. Das heißt, dieses Exportverbot geht uns alle etwas an. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tackmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. – Ja, dieses Verhalten der Chemieriesen ist „moralisch nicht in Ordnung“, wie selbst Koalitionsabgeordnete im Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit einräumen und auch hier im Plenum eingeräumt haben. Aber Moralisieren alleine reicht doch nicht. Hier wird für Profite mit der Gesundheit von Menschen und mit der Natur gespielt, und das muss unterbunden werden. ({0}) Ist denn ein Menschenleben außerhalb der EU weniger schützenswert als ein europäisches? Das werden wir als Linke niemals akzeptieren. ({1}) Auch der zuständige UN-Sonderberichterstatter fordert eindringlich auf, diese Doppelstandards zu beenden. Ja, und immerhin hat Agrarministerin Klöckner in der Regierungsbefragung in der vergangenen Sitzungswoche Handlungsbedarf eingeräumt, aber gleichzeitig wieder auf die EU gezeigt. Natürlich wäre ein EU-weites Verbot noch besser. Aber das kann doch als Ausrede nicht akzeptiert werden, weil jetzt gehandelt werden muss. ({2}) In § 25 des deutschen Pflanzenschutzgesetzes steht doch ausdrücklich die Grundlage dafür. Es braucht also nur politischen Willen, und das fordern Linke und Grüne heute ein. ({3}) Die Linke fordert über das Exportverbot hinaus auch, dass Hersteller für den gesamten Zyklus eines Pflanzenschutzmittels haften müssen, einschließlich der Entsorgung. Das ist aber ein anderer Antrag. ({4}) Aber klar ist auch: Der Verzicht auf Produktion und Handel mit Pflanzenschutzmitteln ohne EU-Zulassung ist nur ein Baustein für eine nachhaltigere Landwirtschaft weltweit. Das muss unser Ziel bleiben. Übrigens: Faire Bezahlung für landwirtschaftliche Arbeit ist dafür zwingend Voraussetzung, und auch das weltweit. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Hermann Färber das Wort. ({0})

Hermann Färber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, die Debatte hier heute Abend hat sehr deutlich gemacht, dass man sich das Thema „Pflanzenschutzexporte in Entwicklungsländer“ schon einmal genauer anschauen muss. Dazu möchte ich einfach sagen, wie denn eigentlich die Genehmigung von Wirkstoffen in Europa erfolgt. Das hat einen sehr strengen Ansatz. Wirkstoffe dürfen in Europa in Pflanzenschutzmitteln nur dann eingesetzt werden, wenn sie als nicht krebserregend, nicht erbgutverändernd und nicht fortpflanzungsgefährdend eingestuft sind. Wenn eines dieser Cut-off-Kriterien vorliegt, wird dieser Wirkstoff nicht genehmigt, und zwar unabhängig von der Art der Anwendung. ({0}) Viele Drittstaaten folgen hier einem ganz anderen Ansatz. Sie prüfen, ob durch die konkrete Anwendung ein Risiko besteht. Eine Risikobewertung kann natürlich – das haben wir auch schon gehört – unter anderen landwirtschaftlichen und klimatischen Bedingungen und bei anderem Schädlingsbefall – genannt wurden schon die Heuschreckenschwärme in Afrika – in der Abwägung auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Das ist eine Abwägungssache; das lässt sich schlicht und einfach auch nicht widerlegen. Wenn man dem Antrag der Linken und der Grünen folgt, dann bedeutet das, dass wir unser System, das wir hier haben, diesen Staaten quasi verordnen oder aufzwingen und damit auch in deren Souveränität eingreifen. ({1}) Ein nationales Exportverbot würde dann nur eine Verschiebung von Handelsströmen bedeuten und hätte auf die Verfügbarkeit der betreffenden Mittel in diesen Ländern zunächst gar keinen Einfluss. Wenn man an dieser Stelle bedenkt – bitte lassen Sie mich das einfach anführen –, dass dann die Hersteller die Produktion in Drittstaaten verlagerten, dann hätten wir nicht einmal mehr über die Produktion Einfluss oder Kontrolle. – Nur ein Aspekt. ({2}) Grundsätzlich halten wir da internationale Übereinkommen für besser geeignet als nationale Alleingänge. Deshalb unterstützt die Bundesregierung auch die Rotterdamer Konvention und setzt sich für deren Weiterentwicklung ein. Mit diesem Übereinkommen, das über 100 Vertragspartner unterzeichnet haben, besteht ein qualifiziertes Informationssystem. Die Exportländer müssen die Importländer informieren, wenn sie gefährliche Chemikalien oder Pflanzenschutzmittel dort einführen, und das Empfängerland muss der Einfuhr zustimmen. Die betroffenen Chemikalien sind dann in den entsprechenden Anhängen aufgeführt, und bei der Aufnahme neuer Chemikalien in die Anhänge – das muss man auch einmal sagen – sind darüber hinaus auch deutsche Zulassungsbehörden beteiligt. Ein weiterer Ansatz – auf ihn weisen Sie in Ihrem Antrag auch zu Recht hin – ist die von der EU geplante Chemikalienstrategie. Sie sieht ein Exportverbot vor – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Färber, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Konstantin von Notz?

Hermann Färber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Danke, Herr Kollege Färber, das ist freundlich. Ich bin fachfremd, und ich komme eigentlich für die gleich folgende Debatte zu Beherbergungsstätten hierher. Aber ich bin als Abgeordneter interessiert. Ich habe das mit den Heuschreckenschwärmen – es ist auch ein bisschen biblisch – mit Interesse zur Kenntnis genommen und würde Sie gerne fragen, ob Sie, wenn es denn in Deutschland, ob nun aufgrund des Klimawandels oder aus welchen Gründen auch immer, solche Heuschreckenschwärme gäbe, dann ein nicht zugelassenes Mittel in Deutschland – vielleicht in Bayern – einsetzen würden, ja oder nein?

Hermann Färber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für diese Frage. Natürlich würde ich es nicht einsetzen, wenn es bei uns nicht zugelassen ist. ({0}) Wir müssen uns aber auch im Klaren sein, dass Mittel, die bei uns nicht zugelassen sind, nicht zwingend so giftig sind, ({1}) sondern es kann auch sein, dass der Hersteller die Zulassung gar nicht beantragt, beispielsweise weil es bei uns diese Heuschreckenschwärme nicht gibt. Ich denke, das muss man sich genauer anschauen, wie ich Ihnen das eingangs auch gesagt habe. ({2}) Ich war beim Ansatz der EU, die Chemikalienstrategie zu entwickeln. Sie sieht ein Exportverbot für gefährliche Chemikalien vor, wenn sie in der EU verboten sind. Dieses Vorgehen halte auch ich für zielführend, weil das eine solide Rechtsgrundlage bildet, an die sich auch alle Mitgliedstaaten der EU halten müssen. Ich wünsche uns allen zu diesem Thema gute Beratungen. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zum 1. Januar 2020 ist die Hotelmeldepflicht nach dem Dritten Bürokratieentlastungsgesetz auch für digitale Lösungen geöffnet worden. Der Hotelverband rechnet vor: 150 Millionen Papiermeldescheine im Jahr werden dadurch eingespart, 100 Millionen Euro in Geld. Es ist gut und richtig, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen, einen Bereich nach dem anderen konsequent zu digitalisieren und bürgerfreundlich zu machen. ({0}) Einige würden am liebsten die Meldepflicht in Hotelbetrieben und Beherbergungsstätten ganz abschaffen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich alle wollen, dass potenzielle Straftäter und Steuerhinterzieher eine Möglichkeit haben, abzutauchen, ohne dass wir von ihnen wissen, auch wenn ich die Statistikdaten kenne. Deswegen machen wir es noch cleverer und besser: Wir nutzen die Hotelmeldepflicht als Startrampe für weitere anwenderfreundliche Innovation. Den Weg der Digitalisierung, den wir mit dem Onlinezugangsgesetz und der Registermodernisierung auch in anderen Bereichen beschritten haben, setzen wir konsequent fort. Darum geht es hier in diesem Gesetz: um eine Experimentierklausel. Die Vorgaben der besonderen Meldepflicht im Beherbergungswesen sollen durch digitales Identitätsmanagement erfüllt werden können. Es geht hier um eine auf Blockchain basierende Technologie – Self-sovereign Identity, selbstbestimmte digitale Identität, mit dezentralen Servern, bei der der Nutzer anderen Personen nur erlaubt, einen ganz bestimmten, von ihm freigegebenen Teil seiner Identität zu verifizieren: dass er Mitarbeiter eines bestimmten Unternehmens ist, dass er eine bestimmte Adresse hat oder dass er beispielsweise bei einem Kauf eine Zahlung schon geleistet hat. Dafür braucht es keine Datenriesen, großen Datenplattformen mehr. Der Nutzer lädt einmalig seine Identitätsdaten in eine sogenannte Wallet-App, also eine digitale Brieftasche. Die sind dann auf seinem digitalen Endgerät vorhanden. Er fordert einmal eine Berechtigung ab, und das war es. Im Hotelgewerbe oder im Beherbergungsgewerbe läuft es so ab, dass nach Identifikation und Bestätigung des Nutzers verschlüsselt aus der sogenannten Wallet-App des Smartphones die Daten abgerufen und übertragen werden, die für die Meldung in der Beherbergungsstätte benötigt werden. Der Benutzer behält die volle Datenkontrolle. Das ist der Vorteil: Es findet keine Datenspeicherung statt. Er gestattet nur die Verifizierung unbedingt für den jeweiligen Vorgang benötigter Informationen. Er gestattet gerade nicht, die Daten zu besitzen, auszuwerten oder ähnliche Dinge damit zu tun. Es geht also um eine sichere Alternative zur bisherigen Nutzung des Internets. Es geht um sichere, unkomplizierte Kommunikation. Es geht um ein Leben ohne Passwörter und Benutzer-Accounts und damit um mehr Datensicherheit. Die volle Datenkontrolle ist in den Datenschutzgesetzen, so wie wir sie bis dato kennen, eigentlich kaum angelegt und verankert. Eigentlich ist auch der Grundsatz des sogenannten Datencockpits neu, also die Transparenz für Anwender, für Bürger, selber zu sehen und zu wissen: Was passiert mit meinen Daten? Dieses Experiment, dieser Feldversuch, den wir hier auf den Weg bringen wollen, eröffnet also Chancen für das digitale Leben, für die digitale Zukunft. Datenkontrolle ist die Zukunft; wir sind davon überzeugt. Mit diesem Feldversuch wollen wir die Zukunft der digitalen Verhältnisse weiter aktiv vorantreiben und beschreiten. Ich freue mich, dass es gelungen ist, diesen Feldversuch auf den Weg zu bringen, bin sehr optimistisch für die gesellschaftliche Zukunft und freue mich auf die Ergebnisse. Ein guter Gesetzentwurf! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, bedecken Sie bitte Ihr Gesicht. – Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Christian Wirth für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! In diesen Zeiten gibt es eigentlich nur einen Grund, über das Beherbergungs- und auch Gaststättengewerbe zu reden, nämlich die große Frage: Wann kommt die angekündigte Bazooka? Wann hat sie ihre Ladehemmung überwunden? Die Bazooka aus der Waffenschmiede Altmaier/Scholz bleibt die einzige Waffe, die nur dann ein Trümmerfeld hinterlässt, wenn sie nicht abgefeuert wird. Meine Damen und Herren, heute über die Erfüllung von Meldepflichten in Beherbergungsstätten zu sprechen, ist instinktlos, zynisch und grenzt nach fast einem Jahr der Zwangsschließung an Leichenfledderei. ({0}) Aber wenn wir nun einmal hier sind – um Sie zu beruhigen –, dann muss man das Konstruktive anerkennen, das hier vorgelegt wurde. Es mag nicht der große Wurf sein, aber den Betreibern von Beherbergungsstätten endlich – wir schreiben das 21. Jahrhundert – die Möglichkeit für neue und auch digitale Verfahren zu geben, ist zu begrüßen. Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir zustimmen. Eine Experimentierklausel kann ein guter, aber nur ein erster Schritt zu einer deutlichen Entlastung für die gebeutelten Unternehmen sein. Wir werden auch dem Antrag der FDP zustimmen; da sind Sie stark. Die Möglichkeit der vollständigen digitalen Bearbeitung der Meldepflicht sollte im 21. Jahrhundert eigentlich schon längst uneingeschränkt erfüllt sein. In beiden Fällen hängt unser Votum ganz entscheidend daran, dass es sich um die Eröffnung von Möglichkeiten, nicht um die Auferlegung von Pflichten handelt. Denn bei allem Optimismus: Diese Bundesregierung hat sich in bleiernen fast 16 Jahren nicht gerade durch digitale Kompetenz hervorgetan. Ganz besonders in der aktuellen Krise, in der Monate für eine Antragssoftware gebraucht wurden, die dann doch niemand ohne Steuerberater versteht, müssen wir uns Gedanken machen. Die Experimentierklausel wird ein Rohrkrepierer, wenn die geforderte Prüfung über Monate in undurchsichtigen Zulassungsverfahren feststeckt. Wenn die digitalen Verfahren wie die Digitalisierung von Behördenvorgängen auf sich warten lassen, sind die Gastwirte und Beherbergungsstätten vielleicht mit dem Telegrafen besser versorgt. Genauso wird eine Pflicht zur Umrüstung auf rein digitale Verfahren gerade die kleinen Unternehmen gegenüber großen Ketten schwer benachteiligen. Dabei sind auch diese Anträge leider nur Flickwerk an einem sowieso kaputten und überflüssigen System. Als Zeugenbefragungen und Gästebücher noch der einzige Weg zur Fahndung waren, mag eine Meldepflicht in dieser Form noch Sinn gemacht haben. Welchen Mehrwert die besondere Meldepflicht für deutsche Staatsbürger in Deutschland eigentlich genau haben soll, bleibt ungeklärt. Klar ist, dass der Aufwand sowie das Datenschutzrisiko eine unverhältnismäßige Belastung für die Betreiber sind. Was wiederum nicht heißt, dass wir dem Antrag der Grünen zustimmen. Ausgerechnet Ihnen scheint Schengen plötzlich keinen Pfifferling mehr wert zu sein. ({1}) Anders als auch hier gerne mal behauptet, ist die AfD-Fraktion ein großer Freund des Schengener Abkommens, wenn es denn ernst genommen wird und funktioniert. Denn die Grenzkontrollen können nur dann unterbleiben, wenn dem Missbrauch der offenen Grenzen vorgebeugt wird, und dazu trägt die Melde- und Ausweispflicht für Ausländer sehr wohl bei. Die Alternative zu diesem Verfahren, also die hier vermeidbare Erschwerung des Reiseverkehrs, wäre für die Beherbergungsstätten eine vielfach höhere Belastung als dieser Aspekt der besonderen Meldepflicht. Also, neue Möglichkeiten schön und gut, lassen Sie sich von der Innovationskraft des Sektors überraschen. Öffnen Sie die Beherbergungsstätten und Gasthäuser, und hören Sie genau hin, was die Unternehmer Ihnen aus der Praxis sagen! Die besondere Meldepflicht für Deutsche in Deutschland fordert sicher keiner. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Würden Sie bitte auch Ihre Maske aufsetzen. – Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Helge Lindh das Wort. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal liebe ich die FDP. ({0}) Ich schätze ja sowieso Herrn Kuhle, Herrn Höferlin und Herrn Kubicki sehr. Aber ich liebe sie – und ich begründe das jetzt auch – für intelligente Kleine Anfragen; das muss man auch würdigen. In einer Kleinen Anfrage zu der heutigen Themenstellung fragten Sie danach, wie oft Fingerabdrücke von physischen Meldescheinen genommen wurden. Wenn ich die Antwort richtig gelesen habe, ist es in Bezug auf das BKA genau einmal geschehen in den Jahren von 2007 bis 2017. ({1}) Ich denke doch, dass das ein Argument ist. Angesichts dessen, dass die Hotellerie, die Tourismusbranche extrem viel Aufwand betreibt, um digital zu arbeiten – Smart Hotels entwickelt, ganz viel mit Buchungssystemen macht, um attraktiver zu sein in hybriden, digitalen und analogen Welten –, können handschriftlich ausgefüllte Meldescheine nicht der Weisheit letzter Schluss sein. 150 Millionen Meldescheine pro Jahr – das bedeutet: Ganze Wälder verschwinden deswegen. Wir haben keine große Effizienz. Die Sicherheit ist fragwürdig, auch die Sicherheit der Unterschriften ist nicht überzeugend. Das heißt, es spricht vieles für einen Abschied vom handschriftlichen Weg. ({2}) – Man muss die Serviceopposition auch loben, wo sie Vernünftiges macht. Wofür ich Sie nicht lobe, ist die verpflichtende Abschaffung, für die wir nicht sind; denn wir finden, dass es da auch eine Wahlfreiheit im Bereich der Tourismusbranche geben muss. Gerade in der jetzigen Zeit, wo es so massive finanzielle Belastungen gibt, sollte es ihnen überlassen sein, wann sie diesen Schritt der Digitalisierung vollziehen. Der Weg, für den wir uns entschieden haben, ist der einer Experimentierklausel. Experimentierklausel heißt Öffnung für Innovation, und zwar in zweierlei Hinsicht. Wir wollen zwei Jahre lang die Möglichkeit zur Erprobung neuer, innovativer Verfahren im Identitätsmanagement geben, ({3}) und zwar im Bereich der Hotellerie mit dem Ziel, daraus dann allgemeine Gesetzgebung werden zu lassen. Es ist manchmal klug, dass man Innovationen erst mal erprobt. Das ist auch der Sinn von juristischen Experimentierklauseln, dass wir uns angucken: „Funktioniert das?“, und in der Wechselwirkung von Gesetzgebung und neuen Methoden schauen: Was kommt dabei heraus? – Das nennt man ein Reallabor. Sie fordern doch immer, wir sollen moderner sein. Ich finde, eine Regierungskoalition, die Experimentierklauseln anwendet, ist eine sehr moderne Koalition, und es ist auch durchaus sinnvoll. Es ist auch deshalb sinnvoll, weil wir klären müssen: Welche Folgen hat das für den Datenschutz? Was ergibt sich? Was zeigt die Realität? – Das ist auch eine Erwartung seitens der Sicherheitsbehörden und insofern klug und wiederum modern. Denn wir haben es beim besonderen Meldeschein ja nicht mit einer primär melderechtlichen Frage zu tun, sondern es geht um Fragen der Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung und – das muss ich leider auch denjenigen sagen, die generell den Meldeschein abschaffen wollen – auch um Fragen des Schengener Durchführungsabkommens für Ausländerinnen und Ausländer. Deshalb können wir, selbst wenn wir wollten, diese Meldepflicht nicht einfach abschaffen; das ist EU-Recht. Daher: Wenn wir nicht weiter Wälder schlachten wollen, wenn wir nicht der Tourismusbranche zumuten wollen, ein Jahr lang solche Berge von Meldescheinen aufzubewahren, wenn wir gleichzeitig aber doch den Sicherheitsansprüchen unserer Behörden gerecht werden wollen, tun wir Gutes, indem wir heute diese Experimentierklausel auf den Weg bringen und uns auf diese Weise vor den Leistungen der Tourismusbranche und der Hotellerie verneigen, die wahrlich sehr belastet werden in diesen Zeiten, auch durch uns. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roman Müller-Böhm für die FDP-Fraktion. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahrscheinlich kennt diese Situation jeder hier in diesem Hause: Man kommt in ein Hotel, tritt an die Rezeption, und zunächst wird man erst mal gebeten, den Meldeschein auszufüllen. Dies ist gerade in Urlaubszeiten, wenn nicht nur man selbst an der Rezeption steht, sondern wahrscheinlich auch viele weitere Touristen anstehen, eine durchaus lästige und nervige Prozedur. Es bilden sich lange Warteschlangen, und so ist der Urlaubsbeginn oftmals eben nicht direkt von schönen Eindrücken geprägt, sondern erst mal von lästiger Bürokratie. Diese Prozedur ist nicht nur nervig, sondern im Grunde auch überflüssig. ({0}) Die Ermittlungsbehörden – das wurde ja gerade auch schon gesagt – haben nur bei einem wirklich extrem verschwindend kleinen Anteil dieser Meldescheine tatsächliche Ermittlungserfolge erzielen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da stimmt dann das Verhältnis nicht mehr, und deswegen müssen wir daran etwas ändern. ({1}) Eine der vielen Erkenntnisse aus der Coronakrise ist, dass unser Land gerade in alltäglichen Situationen vergleichsweise schlecht digitalisiert ist. Das haben wir nicht nur heute Mittag bei der Beratung der Datenstrategie gesehen, sondern das sehen wir auch bei dem jetzigen Thema, dem Meldeschein in Beherbergungsstätten. Dies erscheint umso verwunderlicher, wenn man sich Beispiele wie unser Nachbarland Österreich anschaut, das bereits erfolgreich eine funktionierende digitale Meldestruktur erschaffen hat. Damit ist es, offen gesagt, wirklich eine Farce, liebe Bundesregierung, wenn Sie jetzt nur wieder eine Pilotphase für zwei Jahre beschließen wollen, statt tatsächlich mal Politik für das Jahr 2021 zu machen. ({2}) Durch die Änderungen im Bundesmeldegesetz im Herbst 2019 hat die Bundesregierung versucht, erste Ansätze eines digitalen Ersatzes für einen Meldeschein vorzunehmen. Genauer gesagt: Es wurden in § 29 Absatz 5 Bundesmeldegesetz drei Möglichkeiten geschaffen, Meldedaten elektronisch zu erfassen: durch Nutzung der Kartenzahlung, durch Nutzung der eID-Funktion des Personalausweises oder durch das Auslesen des Personalausweises vor Ort. Tatsache ist aber: Diese Funktionen werden nicht genutzt, und damit ist es im Endeffekt genau das Gleiche wie vorher. Für keinen der Reisenden hat es irgendeine Erleichterung gebracht, und auch die Hotellerie ist weiterhin geplagt von diesem enormen bürokratischen Aufwand. Das versucht die Bundesregierung nun abermals zu ändern, indem sie möchte, dass Betreiber von Hotellerie und Beherbergungsstätten ein Verfahren entwickeln und Anträge stellen können, um Pilotprojekte beim Bundesinnenministerium anzumelden. Dazu muss ich sagen: Grundsätzlich gehen diese Bemühungen ja in die richtige Richtung. Aber ich frage Sie ganz direkt: Warum sollten die Hoteliers das denn machen, wenn in zwei Jahren wieder eine neue Regelung kommt? Das heißt, dann sind wieder nur die Mühen und Arbeit umsonst gewesen. Also habe ich eine bessere Idee: Stimmen Sie heute dem Antrag der FDP zu! Statten wir jetzt bereits Hoteliers mit den Möglichkeiten aus, eine digitale Meldestruktur einzurichten, die dauerhaft von Bestand ist. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ulla Jelpke das Wort. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition will das Prinzip des Meldescheins, den Übernachtungsgäste in Hotels unterschreiben müssen, abändern. Künftig sollen weitere elektronische Verfahren, als heute schon möglich sind, die Speicherung von Daten vornehmen. Das Prinzip soll aber bleiben: Wer im Hotel übernachtet, muss Namen, Adresse und Geburtsdatum angeben, und die Hotels müssen diese Daten ein Jahr lang speichern, um einen späteren Zugriff der Polizei zu ermöglichen. Wir sagen dagegen, wir brauchen überhaupt keine Meldescheine – weder papierne noch digitale. Diese Regelung ist unsinnig, bürokratisch, verstößt gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und gehört ersatzlos abgeschafft. ({0}) Jedes Jahr werden schätzungsweise – wir haben es schon gehört – 150 Millionen Meldescheine unterzeichnet. Da lauten doch die wichtigsten Fragen: Wem nützt das? Dient diese Zettelwirtschaft tatsächlich der polizeilichen Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung? – Denn darum geht es ja angeblich. Fragt man die Bundesregierung, dann kann sie darauf keine Antwort geben. Dabei reden wir hier darüber, dass persönliche Daten von über 100 Millionen Menschen auf Vorrat gespeichert werden – ohne Anlass und praktisch ohne Zweckbindung. Die Digitalisierung macht es nicht besser, im Gegenteil; denn sie erleichtert den Missbrauch, sei es durch Behörden, Hacker oder Unternehmen, die mit Daten handeln. Es gibt nur eine Gruppe mit einem berechtigten Interesse daran, dass bestimmte Daten von Gästen erhoben werden: Das sind die Hoteliers bzw. Pensionsbetreiber und diejenigen, die über die Hotels die Kurtaxe kassieren. Dieses Interesse ist so lange wichtig, bis die Gäste die Rechnung bezahlt haben. Danach gehören die Daten gelöscht. Eine Bemerkung möchte ich noch zur Schengener Durchführungsverordnung machen. Sie sieht vor, dass Hoteliers bei ausländischen Gästen die Ausweise kontrollieren müssen. Diese Regelung muss erst recht weg. Sie führt nicht nur zu einer Diskriminierung ausländischer Touristen, sondern auch dazu, dass Beschäftigte in Hotelrezeptionen, die Ausweise kontrollieren, hoheitliche Aufgaben übernehmen. Deswegen sollte die Bundesregierung auf EU-Ebene unbedingt für eine Änderung dieser Bestimmung sorgen. ({1}) Fazit: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die bisherige Datenspeicherung irgendeinen Vorteil hat. Damit hat sie auch keine Rechtfertigung. Im Interesse der Hoteliers, der Übernachtungsgäste und des Datenschutzes sagen wir: Sie muss ersatzlos gestrichen werden. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Konstantin von Notz hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sogenannte Hotelmeldepflicht verpflichtet unabhängig von jeder Pandemie alle Personen, die in einer Beherbergungsstätte übernachten, die Speicherung eines ganzen Bündels personenbezogener Daten für bis zu 15 Monate hinzunehmen. Es handelt sich hier um nichts anderes als um eine ganz klassische anlasslose Vorratsdatenspeicherung, ({0}) und wir lehnen einen solchen groben, offenkundig verfassungswidrigen Eingriff ab. ({1}) Der bürokratische Aufwand für die anlasslose Speicherung von Vorratsdaten von Millionen von Betroffenen ist gerade für die kleinen und mittleren Betriebe wahnsinnig groß. Ein sicherheitspolitischer Mehrwert wurde trotz x Nachfragen nie – nie! – belegt. In den vergangenen zehn Jahren – das muss man sich einfach mal geben – haben wir 1,4 Milliarden – die Zahl liest sich 1 400 000 000 – Meldescheine produziert, und alles wurde bei den Leuten, die diese Unternehmen haben, und ihren Kundinnen und Kunden abgeladen. Dieser wahnsinnige Arbeitsberg, der Millionen von Arbeitsstunden kostet, ist nichts anderes als Ausdruck eines unausgesprochenen Pauschalverdachts gegenüber all diesen Menschen, die in den Beherbergungsstätten übernachten, und das ist mit uns nicht zu machen. ({2}) Sie haben es gehört: Bei einem einzigen Fall dieser 1,4 Milliarden Meldescheine ist belegt, dass daraus irgendeine Meldung generiert wurde. Deswegen handelt es sich ganz offensichtlich um ein völlig unverhältnismäßiges, nutzloses Instrument, und das muss abgeschafft werden. ({3}) Während meine Fraktion bereits 2019 einen Antrag zur Abschaffung dieses Bürokratiemonsters vorgelegt hat, will die GroKo nun lediglich zusätzlich zum bestehenden System ein digitales Verfahren ermöglichen. Ihr erklärtes Ziel sind der Abbau von Bürokratie – wir haben es hier blumigst gehört – und eine spürbare Zeitersparnis beim Einchecken. Das kann bezweifelt werden; denn zukünftig werden beide Verfahren nebeneinanderlaufen. Wenn man sich den Verbreitungsgrad des E-Persos mit seiner eID-Funktion anschaut, dann weiß man, was los sein wird. Ich frage mal kurz hier ins Plenum: Wer hat das an seinem Ausweis freigeschaltet? – Immerhin der Kollege Wendt; nicht schlecht, nicht schlecht. Es wird aber nicht funktionieren. Und dann sieht man diesen bürokratischen Aufwand. Das wird nicht helfen. Das sage ich jetzt auch noch: Ich habe es nicht ganz verstanden, aber die FDP besteht hier nicht auf eine pauschale Abschaffung, sondern sagt: Wenn dieses Bürokratiemonster ein digitales Mäntelchen umgehängt bekommt, dann ist es okay. – Das ist es unserer Meinung nach nicht. Es muss hier ganz klar Stellung bezogen werden: Dieses Bürokratiemonster gehört abgeschafft. Es ist eine anachronistische Zettelwirtschaft, und die ist gerade in diesen Zeiten unerträglich. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Marian Wendt das Wort. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Digital Natives, Millennials, Generation Z: Wir nutzen heute diese Bezeichnungen für Menschen, die mit der Digitalisierung in der Gesellschaft aufgewachsen sind. Viele von uns, viele von Ihnen haben sich dem angeschlossen. Oder wer von Ihnen nutzt noch regelmäßig ein Faxgerät? Im Alltäglichen zwischen Facebook- und InstaLive, digitalen Bürgersprechstunden und dem smarten Kalender in der Tasche gibt es sie noch, die Momente einer analogen Welt – teilweise seltsam, teilweise mit Wehmut betrachtet. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt aber analoge Abläufe, die ich nicht vermissen werde. Einer davon ist das handschriftliche Ausfüllen der Meldebögen an der Hotelrezeption. Wir alle kennen das sicher gut von Dienst- oder Urlaubsreisen. Vom „Smart Check-in“ der Airline über den „Komfort Check-in“ der Bahn bis zum Fahren ins Hotel mit einem über die App georderten Fahrzeug: Alles erfolgt digital. Selbst die Zimmertür könnte ich über einen Strichcode mit meinem Handy öffnen. Aber hier findet der digitale Siegeszug sein Ende – nicht vor den Toren Trojas, sondern vor denen der deutschen Bürokratie. Das Meldegesetz verlangt bisher, dass jeder Gast eines Beherbergungsbetriebes unverzüglich einen Meldeschein ausfüllen und unterschreiben muss. Papier ist eben geduldig. Für mich, meine Fraktion und die Fraktion der SPD ist das ein nicht mehr zeitgemäßer Medienbruch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir, ehrlich gesagt, nicht immer die Schnellsten sind, sind wir die Gründlichsten. Deswegen lösen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf heute dieses Problem. ({1}) Mit diesem Gesetz etablieren wir einen Standard, der der Digitalisierung und dem Grad dieser Digitalisierung unserer Zeit Rechnung trägt. Nach dem smarten Check-in im Hotel erfolgt künftig per App und über einen Barcode direkt die Übermittlung der elektronischen Meldebescheinigung an die Behörde. Smart und mit unserem hohen Verständnis von Datenschutz arbeiten Beherbergungsbetriebe, Firmen und Behörden zusammen, um dies gemeinsam möglich zu machen, und ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nach der Erprobungsphase werden wir dieses Projekt dann auch deutschlandweit umsetzen können. Dieses Gesetz ist aber nur ein weiterer Schritt zu der Digitalisierung unserer Register. Wir haben in der letzten Sitzungswoche das Registermodernisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Mit diesem Gesetz gehen wir weiter, um die analogen Verfahren aus unseren Behörden zu verbannen. Das wird nur funktionieren, wenn wir dafür die technischen Voraussetzungen und eine hohe Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern schaffen. Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit sind dabei ganz klar die Leitlinien unseres Handelns bei der Digitalisierung. Als Innenpolitiker ist mir dieser Gesetzentwurf wichtig. Es wurde heute angesprochen: Die Meldescheine werden aufbewahrt. Wann werden sie denn übermittelt? Wäre es nicht viel praktischer, wenn die Daten eines gesuchten Kriminellen oder Terroristen, der irgendwo unterkommen will, schnell und digital übermittelt würden und bei den Sicherheitsbehörden bereits am Abend seines Check-ins die Meldung aufploppen würde, dass dieser dort übernachten will? Damit können wir die Fahndung in Deutschland verbessern. Wir schaffen es, die Register mehr miteinander zu verknüpfen. Dadurch schaffen wir es, vor allem Kriminalität und Terror in unserem Land noch besser zu bekämpfen; denn bei der Vernetzung der Sicherheitsbehörden müssen wir noch besser werden. ({2}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Unterstützen Sie den hier vorgelegten Gesetzentwurf für die Sicherheit in unserem Land und die Digitalisierung im Beherbergungsgewerbe! Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Frank Junge hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der „Tatort“ bringt uns da nicht weiter. Aber vielleicht ist es einigen Rednerinnen und Rednern der Opposition entgangen, dass wir aus der Branche, dem Beherbergungsgewerbe, schon große Zustimmung bekommen haben, als wir mit dem Dritten Bürokratieentlastungsgesetz die drei Möglichkeiten der elektronischen Identifizierung im Meldeverfahren vor Ort eingeführt haben. Unter diesem Aspekt war das schon ein Schritt genau in die richtige Richtung: Das hat damals schon Bürokratieentlastung gebracht und Kosten gespart. Herr von Notz, die Möglichkeit, den Meldeschein handschriftlich auszufüllen, kann ja jeder nutzen. Jeder kann sich entscheiden, was für ihn besser ist. Genau das ist die Intention dessen, was wir heute vorhaben. ({0}) Mit der Experimentierklausel, die wir einführen wollen, geben wir die Möglichkeit, weitere Signaturmöglichkeiten auf den Weg zu bringen und Verfahren zu entwickeln, die an dieser Stelle eben nicht nur das Meldeverfahren im Hotel unterstützen und erleichtern, sondern das Hotel in die Lage versetzen, die Kurtaxe zu erheben, Tourismusabgaben für die Kommunen zu erfassen und darüber hinaus auch die digitale Gästekarte, zum Beispiel per QR-Code, auf den Weg zu bringen. Deshalb wird auch dieses Gesetz dazu führen, die Beherbergungsbranche zu entlasten, Bürokratie abzubauen und Kosten einzusparen, was gerade mit Blick darauf, dass in der Branche überwiegend kleine und mittelständische Unternehmen agieren, ein richtiges Signal in der richtigen Zeit an der richtigen Stelle ist. ({1}) Den Antrag der FDP, Herr Müller-Böhm – wir haben auch gestern im Tourismusausschuss schon darüber gesprochen –, lehnen wir ab. Sie erzählen im Rahmen Ihrer Erläuterungen dazu Dinge, die sich im Antrag – ich habe ihn dreimal gelesen – so nicht wiederfinden. Liest man den Antrag genau, stellt man fest, dass er sich mit dem Dritten Bürokratieentlastungsgesetz, das am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, schon erledigt hat. ({2}) Ihr Antrag erledigt sich vollends durch Regierungshandeln, wenn wir das vorliegende Gesetz heute auf den Weg bringen und beschließen. Den Antrag der Grünen, Herr von Notz, lehnen wir ab, weil wir – das hat mein Kollege Helge Lindh auch schon unterstrichen – den Aspekt der Sicherheitsinteressen eindeutig vor die wirtschaftlichen Interessen stellen. ({3}) Unter diesem Aspekt halten wir das Festhalten an dieser Regelung für nötig. Deswegen an der Stelle auch die Ablehnung von unserer Seite. Vielen Dank, und ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie immer, Herr Kollege von Notz. ({0}) Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute eine Änderung des Bundesmeldegesetzes zur Erprobung neuer Verfahren im Identitätsmanagement. Mit dem Dritten Bürokratieentlastungsgesetz haben wir 2019 durch den digitalen Meldeschein bereits elektronische Möglichkeiten als Alternative zum klassischen analogen Meldeschein eröffnet. Aber die Entwicklung von technischen Neuerungen in diesem Bereich steht nicht still, und wir tun das natürlich auch nicht. Deshalb schaffen wir mit der heutigen Anpassung des Bundesmeldegesetzes den Spielraum für ein Experimentierfeld, um weitere innovative Entwicklungen und deren praxisnahe Erprobung zu ermöglichen. ({1}) – Dem Thema angemessen, Herr Kollege. – Dadurch geben wir dem Entwicklergeist im Bereich digitaler Identitätstechniken neuen Raum und ermöglichen es, innovative, hochsichere und effiziente Lösungen, die dem deutschen Datenschutzniveau gerecht werden, unter Realbedingungen im Markt zu erproben. Jetzt gibt es noch zwei Oppositionsanträge, über die wir kurz sprechen müssen. Die FDP macht es einem relativ leicht: Da hat die Dokumentvorlage schon mehr Umfang als der Antrag selbst. ({2}) Inhaltlich bleibt nur übrig: Alles digital! ({3}) Das klingt gut, bringt aber in dieser Form in der Praxis nichts. Wir wollen, dass neue technische Optionen dort erprobt werden, wo es Sinn ergibt. ({4}) Deshalb schreiben wir nicht jeder kleinen Familienpension vor, ein digitales Erfassungssystem aufzubauen. Dann, lieber Herr Kollege von Notz, müssen wir natürlich auch über den Antrag der Grünen sprechen. ({5}) Sie bleiben da in Ihrer Gewohnheit, wo immer möglich unseren Sicherheitsbehörden Ihr Misstrauen auszusprechen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser als den Bürgerinnen und Bürgern! und standardmäßig den Datenschutz als gefährdet anzusehen. Deshalb wollen Sie die Hotelmeldepflicht ganz abschaffen. Dass Sie keinerlei Sympathien für unsere Ermittlungsbehörden hegen und dass Sie auch sicherheitspolitisch gerne die Augen vor der Realität verschließen, ist bekannt. Dass Sie aber auch noch europäische Abkommen ignorieren, sind wir normalerweise nur von den Herrschaften von der AfD gewöhnt. ({6}) Die Hotelmeldepflicht ist und bleibt für unsere Behörden ein wichtiges Mittel zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung. Dieses wichtige Instrument entwickeln wir kontinuierlich und digital weiter. ({7}) Verzichten können und werden wir darauf nicht. Darüber hinaus, lieber Herr Kollege, sieht das Schengener Durchführungsabkommen zwingend vor, dass die Vertragsstaaten eine Hotelmeldepflicht in ihren Rechtsordnungen verankert haben. Ihre Forderung wäre also überdies schlichter Vertragsbruch. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 25 Jahren wurde die soziale Pflegeversicherung eingeführt. Sie sollte vor Verarmung durch Pflege schützen und Sozialhilfe vermeiden. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Mittlerweile kostet ein Heimplatz im Durchschnitt 2 068 Euro im Monat, eine Summe, die für die meisten Menschen selbst nach 45 Jahren sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nicht bezahlbar ist. Pflege ist zu teuer. ({0}) Immer mehr Pflegebedürftige müssen aufs Amt; mittlerweile beziehen 390 000 Menschen pflegebedingt Sozialhilfe. Das ist eine politische Fehlentwicklung, die die Menschen unverschuldet in Armut treibt. Damit muss Schluss sein! ({1}) Gesundheitsminister Spahn hat kürzlich die Pflege zu Recht als die soziale Frage der 20er-Jahre bezeichnet. Der aktuelle Pflegenotstand ist aber keine schicksalhafte Entwicklung, sondern das Ergebnis konkreter politischer Entscheidungen. Alle Vorschläge, die Finanzsituation in der Pflegeversicherung kurzfristig zu verbessern, wurden bislang leider und irrwitzigerweise in den Wind geschlagen. Die Bundesregierung verfolgt seit 20 Jahren eine Politik, die die Pflegekosten niedrig halten soll, statt sich über die Finanzierung Gedanken zu machen. Ich frage mich, warum die Verkäuferin auf ihr volles Gehalt Beiträge in die Pflegeversicherung einbezahlen muss, wir Bundestagsabgeordnete aber nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze einbezahlen müssen. Und ich frage mich auch, warum die 42 Milliarden Euro von Dieter Schwarz nicht angetastet werden. Eine solidarische Pflegeversicherung sieht wirklich anders aus. ({2}) Das nächste Problem ist: Öffentliche Investitionen in die Pflegeinfrastruktur wurden drastisch zurückgefahren. Immer mehr private Anbieter, zunehmend auch Private Equity Fonds, übernehmen den Pflegemarkt. Aber verdammt noch mal, es geht doch hier um bedarfsgerechte Pflege für die Menschen und nicht um Profit. ({3}) Wieder einmal zeigt sich: Der Markt regelt nichts. Der Markt ist blind für die Bedürfnisse der Menschen, und deshalb darf sich auch der Staat nicht aus der Verantwortung zurückziehen. Eine unterfinanzierte Pflege ist im Übrigen nicht nur ein Problem für die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, sondern auch für die Beschäftigten. Der aktuelle „Pflegereport“ der Barmer berichtet über eine Zunahme von Fehlzeiten durch Krankheit, Rückenschmerzen, Depressionen bis hin zu überdurchschnittlich vielen Erwerbsminderungsrenten. Kaum eine Altenpflegefachkraft hält ihren Job bis zum Rentenalter durch. Arbeit in der Pflege macht krank, und dafür trägt auch die Bundesregierung die Verantwortung. Und damit nicht genug: Das Problem wird sich noch verschärfen. Die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen müssen, auch kostenintensive Pflege, wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Schon jetzt fehlen 120 000 ausgebildete Pflegekräfte. Die Stärkung der Pflegeausbildung und eine allgemeinverbindliche tarifliche Bezahlung in der Altenpflege sind mehr als überfällig. ({4}) Ich will hier noch eine Gruppe erwähnen – die größte Gruppe der Pflegenden –, nämlich die pflegenden Angehörigen; sie werden nämlich häufig vergessen. Es fehlt an Sicherungsleistungen und an teilstationären Pflegeangeboten, um die Familien zu entlasten. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren. ({5}) Gute Pflege hat was mit Würde zu tun, und gute Pflege kostet eben Geld. Deswegen: Wir brauchen endlich einen echten Systemwechsel in der Pflegeversicherung. ({6}) Schluss mit einer Pflegepolitik, die die Vermögenden schont und Renditen ermöglicht! Wir brauchen eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, so wie Die Linke sie vorschlägt. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Roy Kühne das Wort. ({0})

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ferschl, wenn ich Sie so höre, dann habe ich das Gefühl, wir leben in einem Staat, wo nichts, aber auch gar nichts im Bereich Pflege funktioniert, wo Menschen in den Pflegeeinrichtungen de facto verdursten, verhungern. ({0}) All das Positive, das wir in den letzten Jahren auf den Weg gebracht haben – Erneuerung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe –, hat dazu beigetragen, etwas Gutes nach vorne zu bringen. Ich bin es auch, ehrlich gesagt, manchmal leid, immer diese Leier zu hören: Nichts funktioniert, nichts geht voran. ({1}) Das klingt so desaströs. ({2}) Ganz ehrlich: Wie wollen Sie denn den Menschen in Deutschland Mut machen, wenn wir gute Sachen immer nur schlechtreden? ({3}) Es ist manchmal nicht mehr auszuhalten; das sage ich ganz ehrlich. ({4}) Und: Ja, wir reden darüber. Es sagt doch niemand, dass wir keinen Verbesserungsbedarf haben. Gott, das ist menschlich! ({5}) – Lassen Sie mich doch ausreden. Sie haben sich doch gerade warm geklatscht. Bleiben Sie doch mal locker. ({6}) Der Punkt ist doch: Wir müssen überlegen – dafür bin ich der Koalition und auch allen anderen Parteien, die ernsthaft mitdiskutieren, dankbar –: „Wie kommen wir bei der Pflege voran?“, statt immer nur zu sagen: Alles ist schlecht, nichts funktioniert. ({7}) Das macht die Menschen unsicher. Und bitte, beteiligen Sie sich konstruktiv, mit guten Vorschlägen. Sie sagen: Wir machen eine solidarische Versicherung nach dem Motto „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb“. – Zum Schluss weiß keiner, wer die Party bezahlen soll. Das ist der Punkt. ({8}) Sie sprachen die pflegenden Angehörigen an; dafür bin ich Ihnen auch dankbar. Diesen 4 Millionen Menschen – der größte Pflegedienst –, die durchgängig viel leisten, müssen wir den Rücken stärken. Da bin ich voll bei Ihnen. Ich glaube auch, keiner in diesem Hohen Haus würde mit Ihnen darüber diskutieren wollen. Ja, wir tun da was. Wir haben verschiedenste Aspekte, die wir in diesem Bereich angehen; ich komme gleich noch im Einzelnen darauf zu sprechen. Zwei Minuten sind echt zu wenig, um das Ganze noch nach vorne zu bringen. Ich schiebe Ihnen das gern mal schriftlich rüber, oder wir beide diskutieren mal bei einem Kaffee; das können wir gern mal machen. Fakt ist jedenfalls, dass die Koalition derzeit darüber diskutiert – dafür bin ich allen Diskussionspartnern sehr dankbar –: Wie können wir die gesamtgesellschaftlich akzeptierte Finanzlösung wirklich nach vorne bringen? Dazu gehört die Berücksichtigung der Interessen von Beitrags- und Steuerzahlern, aber natürlich auch die Begrenzung der finanziellen Aspekte in der Pflege. Ja, ich bin da auch ganz Ihrer Meinung – der Minister hat es in seinem Eckpunktepapier Gott sei Dank auch angeschoben –: Pflege muss bezahlbar bleiben. Menschen brauchen Transparenz, und sie brauchen natürlich das Wissen: Was kostet mich meine Pflege von heute und morgen? – Keine Bange, meine Mutter ist 83 Jahre alt. Mit ihr diskutiere ich solche Fragen, weil sie sich aufgrund ihres Alters natürlich danach erkundigt: Was kostet der Heimplatz, und wie geht das da weiter? Wir haben verschiedenste Punkte aus dem Eckpunktepapier des Ministers durchdiskutiert. Ich bin der Koalition, aber auch allen anderen – das Papier hat ja, wie immer, Füße bekommen – sehr dankbar für die Diskussionen, die wir darüber führen. Die 700 Euro Eigenbeteiligung stehen im Raum. Wir haben gesagt, das ist der Grundbetrag; man kann darüber nachdenken, ob 700 Euro als Summe die Lösung sind oder ob wir prozentual vorgehen. Darauf muss natürlich geachtet werden. Frau Kollegin, ein häufiger Kritikpunkt ist die nicht vorhandene Flexibilität. Wir gehen jetzt in die Richtung. Wir haben zum Beispiel die Ansprüche auf Kurzzeit- und Verhinderungspflege zusammengelegt. Damit wären jährlich 3 300 Euro als Entlastungsbudget vorhanden, das pflegende Angehörige als Wertschätzung erhalten und flexibel nutzen können. Hier sind also Möglichkeit und Reaktion vorhanden. Ein für mich wichtiger Baustein – das sage ich ganz offen –, die geriatrische Rehabilitation, wird nach vorn gebracht. Warum? Dort werden in Gruppen multimobile Prozesse betrachtet. Die Menschen haben dort Erfolge. Sie leben, sie arbeiten, und sie werden in einer Gruppe therapiert. Das heißt ganz klar: Sie erhalten mehr Teilhabemöglichkeiten und mehr Lebensqualität. Mir bleiben noch elf Sekunden, um darauf hinzuweisen, dass Pflegekräfte – ich glaube, da sind wir uns alle einig – natürlich gut entlohnt werden müssen. Da – das sage ich ganz offen – lohnt es sich, ab und zu mal hinter die berühmten Kulissen zu gucken, um zu sehen: Wie werden denn die sogenannten Tarifverhandlungen, wie werden Pflegesatzverhandlungen durchgeführt? Was passiert im ambulanten bzw. im stationären Bereich? – Vielleicht brauchen wir auch neue Formen der Versorgung. Vielleicht müssen wir darüber nachdenken, ob die Trennung zwischen ambulant und stationär überhaupt noch zeitgemäß ist. Ich bin dankbar für jeden Vorschlag und freue mich auf weitere Diskussionen. Ich freue mich auch, mich mit Ihnen mal auf einen Kaffee zu treffen; dann diskutieren wir mal über eine solidarische Pflegeversicherung – was immer dies auch bedeutet. Danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Jörg Schneider das Wort. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einführung der Pflegeversicherung vor ungefähr 25 Jahren war eine gute Entscheidung. Wir alle haben ein erhebliches Risiko, im Alter ein Pflegefall zu werden. Die Pflegeversicherung ist deswegen eine wichtige Säule unseres Sozialsystems. Wir hatten damals schon gute Erfahrungen mit dem parallelen Vorhandensein einer privaten und einer gesetzlichen Krankenversicherung gemacht und haben dieses duale Prinzip für die Pflegeversicherung übernommen. Auch das war eine gute Entscheidung. Man hat damals natürlich auch ein paar Fehler gemacht. Die demografische Entwicklung war schon damals klar absehbar. Da hätte man etwas mutiger sein können. Da wurde einiges versäumt, und das sind die Fehler, mit denen wir uns heute rumschlagen und die Die Linke in ihrem Antrag ja auch durchaus anspricht. Ein Pflegeplatz kostet heute ungefähr 2 000 Euro pro Monat, und da sprechen wir nur über Unterkunft und Verpflegung. Da sind viele schon an ihrem finanziellen Limit. Dann kommt auch noch ein Teil der Pflegekosten dazu, die zusätzlich übernommen werden müssen. Selbst Menschen mit einer guten Rente werden dann plötzlich zu Sozialfällen. Da bleibt gerade noch ein Taschengeld übrig, und der Besuch beim Friseur, im Restaurant oder das Weihnachtsgeschenk für die Enkel sind ein oft kaum noch bezahlbarer Luxus. Auch die 4 Millionen Menschen, die Angehörige pflegen, stehen nicht gut da. Den Job aufzugeben, um die Oma zu pflegen, ist für Menschen mit einem geringen Einkommen kaum finanzierbar. Die Pflege bleibt dann oft bei den Angehörigen hängen, die selber schon im Rentenalter sind. Diese kommen aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters natürlich physisch oft an ihre Grenzen. Das sind alles richtige Punkte. Aber was schlägt Die Linke vor? Da wird ganz tief in die sozialistische Mottenkiste reingegriffen. ({0}) Die Linke fordert mehr staatliche Regulierung, mehr Vorgaben, weniger private Vorsorge, weniger Eigenvorsorge, und natürlich ist das Private ganz böse, meine Damen und Herren. Ich möchte mal mit einem Vorwurf aufräumen, der bei Ihnen immer wieder auftaucht: Das ist der unsolidarische Privatversicherte. Ich möchte mal ein Beispiel nennen: Da ist ein Einkommensmillionär, also jemand, der wirklich 1 Million Euro im Jahr verdient. Nehmen wir weiter an, er ist selbstständig, er zahlt nicht in die Rentenversicherung ein, er ist privat kranken- und pflegeversichert. Dieser Mensch zahlt im Jahr 450 000 Euro an Einkommensteuer. ({1}) Davon landet knapp die Hälfte im Bundeshaushalt, etwa 210 000 Euro. Aus dem Bundeshaushalt geht von diesem Geld ungefähr ein Drittel als Unterstützungszahlung in die Sozialversicherung. Meine Damen und Herren, das heißt, dieser Einkommensmillionär zahlt indirekt über die Einkommensteuer jedes Jahr 70 000 Euro in die Sozialversicherung ein, ohne jemals eine Leistung dafür zu bekommen. Er bekommt nie eine staatliche Rente; er wird nie eine Leistung der Kranken- oder Pflegeversicherung in Anspruch nehmen. 70 000 Euro sind ungefähr das Fünffache dessen, was ein Durchschnittsverdiener einbezahlt, meine Damen und Herren – und der bekommt dafür eine Leistung. Nein, meine Damen und Herren, was Sie hier immer wieder verkünden – der unsolidarische Privatversicherte –, das ist Klassenkampf. Das hat aber nichts mit der Realität zu tun. Es ist letztendlich nur eine Spaltung der Gesellschaft, die Sie hier vorantreiben. Es sind Fake News, die Sie hier verbreiten. ({2}) Mit Ihren sozialistischen Fantasien machen Sie sich ja nicht nur Freunde bei den Grünen, sondern mittlerweile auch bei der immer weiter nach links rückenden SPD. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir bei der AfD stehen zu unserer sozialen Marktwirtschaft. ({3}) Wir stehen klar dafür ein, dass wir die Belastungen der Bürger, die schon weltweit mit am höchsten ist, nicht immer noch weiter nach oben treiben müssen. Wir brauchen endlich eine Entlastung unserer Bürger, meine Damen und Herren. Sozialismus wird es mit uns definitiv nicht geben, weder den nationalen noch den von Ihnen bevorzugten internationalen Sozialismus. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Claudia Moll hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Unglaublich, dass ich es im Jahr 2021, mitten in einer globalen Pandemie, noch mal ausdrücklich sagen muss: Nicht jeder kann pflegen; aber jeder von uns kann von heute auf morgen pflegebedürftig werden. Es stimmt, gute Pflege darf nicht den Geldbeutel der Pflegebedürftigen und den ihrer Angehörigen belasten. Gute Pflege muss uns mehr wert sein. Gute Pflege darf nicht an der Finanzierung scheitern. Gute Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. ({0}) Wir brauchen einen Weg zu einer gerechteren Finanzierung, einen Weg, der durchdacht ist und auch vor Ort funktioniert. Diesen Weg haben wir bereits eingeschlagen, als wir dafür gesorgt haben, dass Kinder erst dann für ihre Eltern in der stationären Pflege zahlen müssen, wenn sie mehr als 100 000 Euro im Jahr verdienen. Wir müssen nun größere Schritte machen. Damit komme ich zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Sie greifen viele wichtige Punkte auf, die ich unterstützen möchte. Wir müssen die Pflegeversicherung von einer Teilkostenversicherung langfristig in eine Vollversicherung umwandeln. Die nächste notwendige Etappe dorthin ist eine gesetzliche Pflegebürgerversicherung, in die alle Einkommensgruppen einzahlen. ({1}) So findet auch der Risikoausgleich zwischen allen Pflegebedürftigen statt, und das prozentual zu ihrem Einkommen. Das ist Solidarität. ({2}) Wir stimmen also im Ziel überein, wir teilen aber nicht den Weg dorthin. Eine solide Finanzierung dieser sozialen und demografischen Mammutaufgabe ist ein Marathon, kein Sprint. Seit 2015 fließen jährlich rund 1,4 Milliarden Euro in den Pflegevorsorgefonds, um die Pflegekosten für die kommenden geburtsstarken Jahrgänge abzufedern. Sie wollen den Pflegevorsorgefonds komplett auflösen. Die Union will ihn weiter aufstocken, obwohl wir in einer Niedrigzinsphase sind. Wir Sozialdemokraten wollen dieses Geld nicht auflösen, nicht aufstocken, sondern zur konkreten Verbesserung der Pflege einsetzen. ({3}) Die Mittel für die notwendigen Investitionen einsetzen, damit wir gute Pflege finanzieren können, das ist der vernünftige und pragmatische Weg; denn die Menschen, die wir heute für die Pflege gewinnen, sind die Pflegekräfte von morgen und übermorgen. Sie fordern in Ihrem Antrag, die pflegerischen Eigenanteile auf 450 Euro zu deckeln. Minister Spahn will die pflegerischen Eigenanteile auf 700 Euro begrenzen. Die Deckelung der steigenden Eigenanteile ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber er greift nicht weit genug und ist dazu noch ungerecht. Er führt vor allem zu einer Entlastung der Höherverdienenden. Wir Sozialdemokraten wollen eine gerechte prozentuale Begrenzung bezogen auf das Einkommen. Wir fordern eine Entlastung für Menschen, die über einen langen Zeitraum auf eine Pflege in Einrichtungen angewiesen sind, durch degressive Eigenanteile. Noch dazu bezieht sich die Deckelung nur auf die pflegerischen Eigenanteile. Die machen nicht einmal die Hälfte der Kosten aus. Auch die Kosten für Verpflegung, Miete, Ausbildungsumlage und die Investitionskosten dürfen nicht weiterhin extrem steigen. Sie fordern, die Investitionskosten in der jetzigen Höhe einzufrieren. Die SPD-Bundestagsfraktion will die öffentliche Förderung in die Objekte und damit den Wiedereinstieg der Länder in die Pflegeheimförderung. ({4}) Auch eine Subjektförderung in Form eines Pflegewohngelds wie beispielsweise in NRW ist ein denkbarer Weg. Hier sind auch die Länder gefragt. Wenn Sie wollen, rufe ich Herrn Ramelow gerne an und schlage ihm das vor. Aber dafür brauche ich die Telefonnummer. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede wieder grundsätzlich werden: Ihr Antrag ist vernünftig und hat es verdient, ordentlich diskutiert zu werden. Lassen Sie uns gemeinsam gute Pflege machen. Lassen Sie uns die Pflegefinanzierung langfristig auf stabile Füße stellen. Ihr Antrag, liebe Linke, greift da zu kurz. Ja, es muss sich was ändern, und das grundlegend. Das System der Pflege in Deutschland überlebt nur deshalb schon so lange, weil es auf dem Rücken der Pflegekräfte und der Angehörigen ausgetragen wurde. Sie wissen: Ich habe 28 Jahre in der Altenpflege gearbeitet. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Wir alle müssen gute Pflege machen. Wir brauchen Pflege als Gut öffentlicher Gesundheit, nicht als Privileg Wohlhabender. ({6}) Wir brauchen Pflegekräfte, die in ihrem Beruf nicht selbst krank werden. Wir brauchen Investitionen und eine solide Finanzierung. Nur, Geld allein wird nicht reichen. Wir brauchen endlich würdige Bedingungen in der Pflege. Pflegekräfte wertschätzen heißt: faire Arbeitsbedingungen, mehr Kolleginnen und Kollegen, mehr Hände an jeder Stelle, die helfen und einen fairen Lohn erhalten. Gute Pflege heißt für Angehörige Unterstützung und Entlastung: einfachere Antragswege, proaktive Beratung und genügend verfügbare Kurzzeitpflegeplätze. Gute Pflege heißt auch – das ist mir ganz wichtig –: Pflegebedürftige respektieren. Man muss in diesem zutiefst menschlichen Beruf Zeit haben und auch auf die Biografien eingehen können und darf dabei natürlich auch nicht verarmen. All das zu gewährleisten, muss unser Ziel sein. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Ich danke Ihnen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Nicole Westig das Wort. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal danke ich der Fraktion der Linken dafür, dass sie heute hier die Reform der Pflegeversicherung thematisiert. ({0}) Ihr Antrag enthält Forderungen, die wir gerne gemeinsam auf den Weg bringen können: die Überführung der medizinischen Behandlungspflege in die GKV, die Länder bei den Investitionskosten in die Pflicht nehmen, die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung. Ja, gerade auch über mehr Entlastung für pflegende Angehörige müssen wir dringend sprechen. ({1}) Aber, das Problem der Pflegeversicherung ist nicht ihr Teilleistungscharakter. Das Problem der Pflegeversicherung ist, dass mit ihr ein weiteres soziales Sicherungssystem nach dem Umlageverfahren eingeführt wurde, obwohl man damals schon genau wusste, wie es um die demografische Entwicklung in unserem Lande steht. ({2}) Der Plan, aus der Teilleistung jetzt auch noch eine Vollversicherung zu machen, kann nicht gelingen. Ihr Vorschlag für eine Einbeziehung aller Gruppen in die soziale Pflegeversicherung mag gut klingen, kann jedoch den Kollaps des Systems nicht verhindern. ({3}) Denn immer weniger Beitragszahlende müssen für immer mehr Menschen mit Pflegebedarf aufkommen. Schon jetzt drohen die steigenden Beiträge dafür zu sorgen, dass die 40-Prozent-Marke bei den Sozialabgaben gerissen wird. Stopfen wir die finanziellen Löcher mit einem Steuerzuschuss, ist das nur ein Verschiebebahnhof. Sie fordern eine bundesweite Deckelung der Eigenanteile auf 450 Euro. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie damit auch die Menschen begünstigen, die sich die Kosten für die Pflege prinzipiell leisten können? Dass ausgerechnet Die Linke sich für eine Privilegierung der Vermögenden einsetzt, das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. ({4}) Sie nennen das auch noch „solidarisch“. Wer übt eigentlich Solidarität mit den nachfolgenden Generationen und mit denen, die heute unter entgangenen Bildungschancen und dadurch später unter Einkommensverlusten leiden? ({5}) Wir bürden der jungen Generation immer mehr Schulden auf. Die muss sie abtragen, ohne dass es ihre eigene Pflege sichert. Das ist nicht nur ungerecht, das ist auch unsozial. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Pflege nachhaltig und generationengerecht finanzieren wollen, dann müssen wir umsteuern: hin zu mehr Kapitaldeckung. Wir müssen mehr Menschen dazu bringen, für ihre Pflege vorzusorgen. ({6}) Wir müssen betriebliche Modelle einer Pflegezusatzversicherung ausbauen. Und wir müssen diejenigen, die sich eigene Vorsorge nicht leisten können, zielgenau unterstützen. Das ist sozial gerecht, und das ist nachhaltig. Ihren Antrag lehnen wir ab. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gute Pflege darf kein frommer Wunsch sein, sondern muss das gemeinsame Ziel von uns allen sein. Gute Pflege beruht auf drei Faktoren: auf gut ausgebildetem und ausreichendem Personal, auf dem konkreten Bedarf eines jeden Pflegebedürftigen und seiner Familie und auf einer bedarfsgerechten und armutsfesten Finanzierung der Pflege. Wie bekommen wir schnell und ausreichend gutes Personal? Durch eine gute Ausbildung, durch gute Bezahlung, durch Personalbemessung am Bedarf und durch die Aufwertung der Fachpflege und die Stärkung im Verbund der Gesundheitsberufe, in der Gesundheitsförderung, in der Prävention von Pflegebedürftigkeit, in der Pflege zu Hause, in der Pflege im Heim und in anderen Bereichen. Wir brauchen gut ausgebildete Pflegefachkräfte, die beraten, die Pflegediagnosen erstellen, die Therapien und Rehabilitationen durchführen können. Unser Vorschlag zur Reform der Pflegeversicherung besteht in der doppelten Pflegegarantie. Wir garantieren jedem Menschen, dass er die Pflege bekommt, die er auch tatsächlich braucht. ({0}) Der zweite Teil unserer doppelten Pflegegarantie garantiert: Pflegekosten dürfen nicht länger armmachen. Derzeit, meine Damen und Herren, beträgt der Eigenanteil in einem Heim für Bewohner rund 2 100 Euro im Monat; 830 Euro davon sind allein für die Pflege. Die Folge davon ist, dass immer mehr Menschen in die Sozialhilfe, in die Hilfe zur Pflege, finanziert durch die Kommunen, abrutschen. Das betrifft bereits jeden dritten Bewohner eines Heims. Meine Damen und Herren, das kann und das darf nicht sein, und das darf auch niemand wollen. ({1}) Deshalb schlagen wir vor, Folgendes zu tun, und zwar schnell und nach Möglichkeit noch in dieser Legislaturperiode: Wir müssen die Eigenanteile deutlich senken und festschreiben. Und: Wir müssen zudem die notwendige Pflege sicherstellen durch ein Case Management durch Pflegefachkräfte, die dafür speziell ausgebildet werden und ausgebildet sind. Das müssen wir jetzt auf den Weg bringen; denn am Ende der nächsten Legislaturperiode wird es zu spät sein. Wir laufen in einen demografischen Wandel hinein. Frau Westig, bei allem Respekt: Die jetzige Generation – das sind die geburtenstarken Jahrgänge – hat keine Zeit mehr, für ihre eigene Vorsorge zu sorgen. Hier müssen wir zu einer Lösung kommen, und zwar ganz, ganz schnell. Da hilft Ihre Kapitaldeckung überhaupt nicht. ({2}) Gerade in der jetzigen Situation brauchen wir die Solidarität der Generationen miteinander und untereinander. ({3}) Pflege muss gut sein, Pflege muss armutsfest sein, und die Finanzierung muss gerecht sein! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Emmi Zeulner hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde jetzt schon oft die junge Generation angesprochen, und ich plädiere dafür, dass wir in diesem Haus ganz grundsätzlich nicht nur über mehr Schulden und neue Steuern sprechen, sondern auch über Konsolidierung. ({0}) Ein Punkt – da sind wir uns alle einig – gerade im Bereich der Pflege lautet: Wir brauchen eine Reform, wir brauchen eine starke Reform. Es darf in dieser Reform keine Themen geben, über die wir nicht sprechen. Ein Punkt ist zum Beispiel, dass ich bis heute nicht nachvollziehen kann, warum wir uns in den Altenpflegeheimen Doppelstrukturen leisten: auf der einen Seite die Heimaufsicht und auf der anderen Seite den MDK. Das wäre mein erster Reformvorschlag in der wichtigen Debatte der Pflegereform: dass wir in den Altenpflegeheimen den MDK abschaffen. ({1}) Es besteht Einigkeit darüber, dass der Staat ein Versprechen abgegeben hat, nämlich dass Menschen in unserem Land, die ihr Leben lang arbeiten und in die Sozialversicherungssysteme einzahlen, am Ende des Tages nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das gilt natürlich auch für die Pflege, und deswegen bin ich unserem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sehr dankbar, dass er diesen mutigen Schritt unternommen hat – sein Anliegen ist es, auch die junge Generation zu berücksichtigen; deswegen ist dieser Schritt noch bemerkenswerter – und ein Reformpapier für die Pflegeversicherung vorgelegt hat. Ein Kernpunkt dieser Reform – das wurde vielfach angesprochen – ist die Reduzierung der Eigenanteile in den Altenpflegeheimen. Das ist ein Thema, auf das wir daheim in den Wahlkreisen immer wieder angesprochen werden. Da brauchen wir Lösungen. Wir müssen diese Anteile senken, und da geht es nicht darum, wie es hier angeklungen ist, dass die Pflegeversicherung die Frage beantwortet, wie man Essen, Trinken und Wohnen finanziert bekommt. Da gibt es andere Bereiche, die sich darum kümmern. In der Pflegeversicherung geht es ganz konkret darum: Wie bekommen wir es finanziert, dass gute Pflege stattfindet? ({2}) Wie bekommen wir es finanziert, dass sie auch stattfinden kann, wenn der demografische Wandel vorangeht? Wie bekommen wir es finanziert, wenn Pflegekräfte auch eine gute Bezahlung haben sollen? Deswegen ist es mir ein Anliegen, dass wir in diesem Diskussionsbedarf diese große Aufgabe anerkennen. Wir müssen aber auch beachten, dass die Eigenanteile für die Pflege in den Altenpflegeheimen dazu führen, dass wir die Sektoren nicht aufbrechen werden. Auch das muss ein Ziel sein, das meine Generation angehen muss. Deswegen stelle ich mir ganz konkret vor, dass wir es organisiert bekommen, die Sektorengrenzen aufzubrechen, indem wir Pflege individuell finanzierbar machen. Eine Antwort darauf ist das schon angesprochene Case und Care Management. Wir müssen uns anschauen: Was sind die individuellen Bedarfe im ambulanten Bereich, aber natürlich auch im stationären Bereich? Ziel muss sein, diesen individuellen Koffer mit Pflege in alle Bereiche mitnehmen zu können. Wir werden uns über das Thema der Finanzierung unterhalten müssen, auch über die medizinische Behandlungspflege. Da habe ich eine Forderung an die Kollegen der SPD: Sie haben nicht nur einen Finanzminister, sondern mit ihm auch einen Kanzlerkandidaten. Er hat jetzt die Möglichkeit, entsprechend darauf zu reagieren. Ich weiß, dass die Kollegen der SPD ihr Herz daran gehängt haben, eine Reform der Pflegeversicherung anzustoßen. ({3}) Aber dafür brauchen wir eben den Finanzminister, der hier entsprechend vorlegen kann und uns hoffentlich unterstützt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Zeulner, Sie können weitersprechen, tun das dann aber auf Kosten Ihres Kollegen.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wünsche mir, dass wir zusammen zu weiteren Schritten kommen, vielleicht noch in dieser Legislaturperiode. In diesem Sinne – vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Krauß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Zuzahlungen zur Pflege im Heim betragen im Schnitt über 2 000 Euro pro Monat. Ich hatte am Montag Bürgersprechstunde, und zwei Bürger haben mich auf dieses Thema angesprochen. Das ist ein Thema, das die Bürger nicht nur bei mir im Erzgebirge bewegt, sondern in ganz Deutschland. Deswegen brauchen wir eine Reform. Niemand soll Angst haben, dass ihn im Alter die Kosten für die Pflege auffressen. Besonders betroffen sind diejenigen Menschen, die lange pflegebedürftig sind, die also über mehrere Jahre auf Pflege angewiesen sind. Wir haben in dieser Wahlperiode bereits die Angehörigen, also die Kinder, entlastet. Die werden nur noch dann an den Pflegekosten beteiligt, wenn das Einkommen mehr als 100 000 Euro jährlich beträgt. Wir sollten es möglichst noch in dieser Wahlperiode schaffen, dass auch die Pflegebedürftigen selbst bzw. ihre Ehepartner entlastet werden. Das wird nicht zum Nulltarif geschehen können. Wenn wir eine Reform machen, kostet das Geld; dann müssen wir, glaube ich, mindestens 5 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Ich finde es sehr gut, dass der Bundesgesundheitsminister Reformvorschläge vorgelegt und eine Diskussion eingeleitet hat. Jetzt brauchen wir aber auch den Bundesfinanzminister, damit wir das ausfinanzieren können. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen über Inhalte einer Pflegereform sprechen. Im September letzten Jahres hat die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, also der Sozialflügel der CDU, ein Konzept für eine Pflegereform vorgelegt, das ich wirklich gut finde, weil sehr gute Vorschläge darin enthalten sind. Der Grundgedanke ist, dass man nach einem Jahr Aufenthalt im Heim 25 Prozent – also ein Viertel – weniger von dem einrichtungseinheitlichen Eigenanteil bezahlt, im zweiten Jahr dann noch mal 25 Prozent weniger und im dritten Jahr dann noch mal 25 Prozent weniger. Das heißt aber nicht, dass man auf null kommt, und das ist mir auch wichtig. Ich möchte, dass wir das System einer Teilkaskoversicherung beibehalten. ({0}) Ansonsten, meine Damen und Herren, passiert das, was passiert, wenn Sie einen Autounfall haben und zum Autohaus gehen. Die fragen Sie als Erstes: War es ein Versicherungsschaden – dann wird es doppelt so teuer –, oder bezahlen Sie selber? Diese Frage möchte ich bei der Pflegeversicherung nicht haben. Es muss so sein, dass der Versicherte, also der Pflegebedürftige, oder seine Angehörigen kritisch nachfragen. Ich will dieses kritische Nachfragen mal an einem Beispiel deutlich machen, das mir in der Bürgersprechstunde begegnet ist: Braucht das Altenpflegeheim jetzt noch den Kleinbus dazu oder nicht? Das löst ja Kosten aus. Ich möchte, dass die Angehörigen, die Pflegebedürftigen nachfragen: Muss das sein? Dieses Nachfragen wird aber nur dann passieren, wenn man selber daran beteiligt ist. Wenn man daran nicht mehr beteiligt ist, weil alles von der Pflegeversicherung bezahlt wird oder weil man einen Flatrate-Beitrag bezahlt hat, dann fallen diese Fragen leider weg. Ich finde noch einige andere nachdenkenswerte Punkte in dem Konzept der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Erster Punkt: Die Bundesländer sollten sich an den Investitionskosten stärker beteiligen. ({1}) Das steht auch schon im Sozialgesetzbuch, nur machen die Länder das leider nicht ausreichend. Zweiter Punkt: Den Pflegeheimbewohnern sollte es deutlich erleichtert werden, Wohngeld zu beziehen. Wohngeldzahlungen sind auch derzeit schon möglich. Diese Zahlungen sollten für Pflegeheimbewohner erhöht werden. Das hätte den Vorteil, dass man zielgerichtet genau diejenigen trifft, die nur geringe Renten haben, und nicht jeder sozusagen entlastet wird. Und ein dritter Punkt: Warum nehmen wir nicht aus dem Energie- und Klimafonds auch Geld für ein Programm bei unserer bundeseigenen KfW-Bank, mit dem wir die Sanierung oder den Neubau von Heimen unterstützen. Wenn wir dort ein Programm mit 3 Milliarden Euro hätten, wäre das eine Entlastung von im Durchschnitt 250 Euro pro Monat für die Bewohner. Meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt geht es darum, Konzepte zu diskutieren, danach das Geld vom Finanzminister zu organisieren und dann die Pflegeversicherung mit einem Gesetz zu reformieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über ein Bereinigungsgesetz, das auf den ersten Blick wenig praktischen Änderungsbedarf suggeriert, aber eine ganz enorme symbolische Bedeutung hat. Dieses Gesetz geht zurück auf eine Initiative von Felix Klein, dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, und auch unsere ehemalige Kollegin Eva Högl darf eine gewisse Miturheberschaft für dieses Gesetz für sich in Anspruch nehmen. Wir – und da, glaube ich, spreche ich nicht nur für unsere Fraktion – sind dankbar dafür, dass nach der nationalsozialistischen Diktatur und trotz des Holocausts jüdisches Leben und jüdische Kultur wieder in Deutschland Einzug gehalten haben. Ich glaube, das ist nicht nur eine Bereicherung für unsere Gesellschaft; das ist vor allen Dingen auch ein besonderer Vertrauensbeweis gegenüber unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat. Dem müssen wir uns auch würdig erweisen, gerade an einem Tag, an dem wir hören, dass die Polizei mit 2 275 antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr so viele Straftaten gegen Juden festgestellt hat wie seit dem Jahr 2001 nicht mehr. Gerade an einem solchen Tag sollten wir uns dessen auch bewusst sein. ({0}) Dieses Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen ist ein Gesetz, das aus dem Januar 1938 stammt. Es ist nicht das einzige Gesetz, das aus der Zeit der Nazidiktatur stammt, aber es ist eines, das einen dezidiert antisemitischen Hintergrund hat. Es hat damals den Reichsminister des Innern Wilhelm Frick, einen fanatischen Antisemiten und Mitglied der Nationalsozialistischen Partei der ersten Stunde, ermächtigt, per Verordnung dafür zu sorgen, dass Jüdinnen und Juden ab dem Januar 1939 ihrem Vornamen, wenn sie einen in den Ohren der Nazis nicht ohnehin jüdisch klingenden Vornamen hatten, den Namen Sara oder Israel beifügen mussten. Den mussten sie im öffentlichen und amtlichen Verkehr auch verwenden. Das war das erste Mal, dass klar antisemitisch Jüdinnen und Juden in Deutschland gekennzeichnet, ausgegrenzt und entrechtet wurden. Dass das so war, kann man beispielsweise auch daran erkennen, dass im Sachverzeichnis des Reichsgesetzblatts das Namensänderungsgesetz nicht unter dem Stichwort „Namensänderung“ oder dergleichen zu finden war, sondern unter dem Stichwort „Juden“. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war lange vor der Einführung des Judensterns eine klare Kennzeichnung, eine systematische Identifikation von Jüdinnen und Juden in Deutschland und damit auch der erste Schritt oder einer der Schritte hin zur Shoah, zur Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden. Natürlich ist der Inhalt dieses Namensänderungsgesetzes heute ein anderer als damals. In den vergangenen Jahrzehnten ist dieses Gesetz mehrfach novelliert worden; es ist sogar durchgegendert worden. Aber solche Begriffe wie „Deutsches Reich“, „Reichsminister des Innern“ oder „Reichsregierung“ sind immer noch in diesem Gesetz. Ich glaube, dass es mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht akzeptabel ist und im Übrigen auch nicht nur für Juden nicht akzeptabel ist, dass sich solche Begriffe darin finden, wenn Menschen in Deutschland heute ihren Familiennamen oder ihren Vornamen ändern möchten. Deswegen wird es höchste Zeit, dass wir es ändern. Offensichtlich klappt das nur im Rahmen eines solchen Bereinigungsgesetzes. Ich will an dieser Stelle auch ausdrücklich sagen, dass dieses Gesetz Pars pro Toto steht. Allein wenn man mal kursorisch über die in Deutschland heute geltenden Gesetze und Verordnungen guckt, stellt man fest: Es gibt zwischen 40 und 50 solcher Gesetze mit diesen Begriffen. Wir werden das jetzt mit diesem Gesetz symbolisch in Angriff nehmen. Aber sowohl unser Haus als auch die Bundesregierung sind selbstverständlich aufgefordert, dass, wenn solche Gesetze in irgendeiner Weise zur Novellierung anstehen, dann auch diese Begriffe darin getilgt werden. Ich glaube, das ist dringend notwendig. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die praktische Wirkung dieses Bereinigungsgesetzes mag begrenzt sein. Aber die symbolische Wirkung ist in der Tat hoch. Wir sollten hier an dieser Stelle ein klares Zeichen setzen. Das ist nicht nur für die jüdischen Staatsbürger bei uns im Land wichtig; es ist wichtig für die Gesellschaft im Ganzen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Die Regierungsfraktionen wollen im Namensrecht einige überholte sprachliche Bezüge bereinigen – spät dran, aber eine Selbstverständlichkeit. Dem stimmen wir natürlich zu. Dem Entwurf der FDP zu den Doppelnamen stimmen wir nicht zu. Bisher kann sich Herr Müller nach der Eheschließung mit Frau Schmidt Müller-Schmidt oder Schmidt-Müller nennen – oder aber Frau Schmidt macht das. Für deren Kinder gilt das nicht. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch heißen sie entweder Müller oder Schmidt. Die FDP fordert nun unter anderem, dass Kinder den möglichen Doppelnamen der Eltern als Geburtsnamen bekommen, also: Lieschen Müller-Schmidt. Es gibt aber gute Gründe, warum das Quatsch ist und ein Doppelname nicht als echter Geburtsname bestimmt werden sollte. ({0}) Bei einem echten Geburtsnamen führt das zu Namensreihungen und Vielfachnamen. Wenn Lieschen Müller-Schmidt eines Tages Hänschen Meier-Lehmann heiratet, dann heißen deren Kinder bei einem echten Geburtsnamen Müller-Schmidt-Meier-Lehmann. Wenn dann später die Tochter Müller-Schmidt-Meier-Lehmann den Sohn Fischer-Schneider-Becker-Weber heiratet, dann lautet der Name ihrer Kinder bei einem echten Geburtsnamen Müller-Schmidt-Meier-Lehmann-Fischer-Schneider-Becker-Weber. ({1}) Das ist natürlich grotesk. Das hat sogar die FDP erkannt ({2}) und will das durch eine Einschränkung verhindern. Lieschen Müller-Schmidt muss den Namensteil Müller oder Schmidt aufgeben, wenn sie Hänschen Meier-Lehmann heiratet, und auch er muss auf einen Teil, auf die Hälfte seines Geburtsnamens verzichten, wenn er sie ehelicht. Der sogenannte echte Doppelname der FDP ist also gar nicht echt. Denn was ist an einem Doppelnamen echt, wenn ich ihn bei Eheschließung zerteilen muss und mich nur noch für die eine Hälfte entscheiden kann? ({3}) Dazu kommt die Frage der Reihenfolge. Für Lieschen Müller-Schmidt und Hänschen Meier-Lehmann gibt es acht Kombinationsmöglichkeiten: ({4}) Müller-Meier, Müller-Lehmann, Meier-Müller, Lehmann-Müller, Schmidt-Meier, Schmidt-Lehmann, Meier-Schmidt oder Lehmann-Schmidt. Von den Kindern, die zum Beispiel den Namen Müller-Meier erhalten, kann das eine Kind dann später den Namensbestandteil Müller und das andere den Namensbestandteil Meier in seine Ehe einbringen. Aus den Kindern Müller-Meier werden dann zum Beispiel Müller-Weber oder Weber-Müller und Meier-Fischer oder Fischer-Meier. ({5}) Nach der Scheidung und Wiederverheiratung – das kommt vor – werden die Namen dann neu zerlegt und neu kombiniert. ({6}) Aus Müller-Weber kann dann also in der zweiten Ehe Weber-Becker oder Becker-Weber werden. ({7}) Also: Entweder gibt es echte Doppelnamen, die man dann auch so an die Kinder weitergeben kann – dann landen wir unweigerlich bei Müller-Schmidt-Meier-Lehmann-Fischer-Schneider-Becker-Weber –, ({8}) oder der Doppelname wird mit jeder Hochzeit wieder neu aufgespalten und ständig neu kombiniert; dann landen wir in der totalen Verwirrung, also bei der FDP. ({9}) Für die FDP ist Freiheit nur ein anderes Wort für Beliebigkeit. ({10}) Familiennamen sind aber nicht beliebig. Familiennamen bedeuten Identität, Tradition und Kontinuität über Generationen. ({11}) Seine Abstimmung nachvollziehen zu können und zu kennen, bedeutet, Wurzeln zu haben. Ganz im Sinne Friedrich August von Hayeks bildet die Freiheit, die wir meinen, eine untrennbare Einheit mit der Tradition. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Helge Lindh das Wort. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich finde es schon bemerkenswert, dass die AfD mit einem halben Satz die Änderung des Namensänderungsgesetzes in Bezug auf die Fortdauer des Nationalsozialismus im deutschen Recht kommentiert hat. Das sagt aber auch alles und nicht nur vieles über ihre Einstellung dazu. ({0}) Die einzig mögliche Haltung zu der heutigen Gesetzgebung, wenn wir daran denken, dass wir uns oft für Gesetze loben und sie als Innovation begreifen, ist – da bin ich mir gewiss – eine der lauten Scham, der Scham deswegen, weil wir konzedieren müssen, dass dieses Gesetz jahrzehntelang, zumindest in der Form dieser Begriffe, Fortbestand hatte und erst Felix Klein kommen musste, dann unterstützt – auch das möchte ich ausdrücklich nennen – von Eva Högl und Thorsten Frei, um das zu einer öffentlichen Initiative zu machen, deren Ergebnis wir heute betrachten, wofür ich sehr dankbar bin. ({1}) Das ist aber keine großartige Leistung von uns, sondern wir müssen das mit Scham und als Ausdruck von etwas letztlich Schändlichem durchführen. Wir müssen das aber auch laut tun. Denn machten wir das nur stillschweigend im Omnibusverfahren mit irgendeinem anderen Gesetz, dann würden wir diese Beschämung und diese Verletzung der Opfer und ihrer Nachfahren wiederholen. Deshalb müssen wir das an dieser Stelle auch so ausdrücken. ({2}) Was für ein Gesetz ist es, über das wir sprechen? Wir haben, wenn man richtig zählt, wahrscheinlich 29 ganze Gesetze, die noch in ähnlicher Weise Begriffe verwenden, und dazu noch eine Reihe von Einzelparagrafen. Aber bei diesem Namensänderungsgesetz geht es nicht um irgendein Gesetz, sondern dieses Gesetz ist ein Ausdruck des Wesensgehaltes der nationalsozialistischen Diktatur, und das war ja nicht eine Diktatur Fremder, die über dieses Land gekommen sind, sondern das war eine Diktatur in deutschem Namen. Dies war der Vorgänger unseres heutigen Rechtsstaates. Darüber reden wir. Deshalb ist das auch mit dem entsprechenden Ernst zu behandeln. Die Folge, die hier durch die Namensgebung gekennzeichnet wurde, war die: Die Fülle von Diskriminierungen im Alltag schon seit Beginn der Machtergreifung – eher: Machtübernahme – 1933 mündete in diese Namensänderungsgesetze. Die nächste Stufe war dann der sogenannte Judenstern. Es folgten die Deportation, dann Konzentrationslager und Vernichtungslager, und in denen wurden die Jüdinnen und Juden entweder durch ihre Kleidung oder durch Tätowierung, in Auschwitz, zu Nummern – eine systematische Herabwürdigung und Entrechtung, und das begann sichtbar mit der Enteignung der Namen und dem Stehlen und Herabwürdigen der individuellen Identität. Deshalb sprechen wir nicht über eine Petitesse, nicht über etwas Nebensächliches, sondern über etwas Wesentliches. Ich versuche, das noch mal deutlich zu machen: Für Jüdinnen und Juden und gerade solche, die theologisch informiert sind und denen der Glaube besonders wichtig ist, ist der Name etwas ganz Zentrales. Wenn wir an viele Namen, die auf „el“ enden, denken, so sehen wir: Da ist der Bezug zu Gott ausgedrückt. Auch die Namensgebung „Israel“ war eine solche für Gott. Dass die deutschen Nationalsozialisten gerade den Namen angriffen, war eine zutiefst verachtungswürdige Herabwürdigung und Demütigung von allen Jüdinnen und Juden in diesem Land. Hinzu kam Weiteres: In der modernen Gesellschaft, nach der Aufklärung, nach der Französischen Revolution sind das Personenstandsrecht und der Name so etwas wie die Sichtbarmachung von Anerkennung als Staatsbürger, als einzigartige Person, als Individuum, und auch genau da setzte die Namenspolitik der Nazis an, nämlich bei der Nichtanerkennung als Individuum. Es folgte die Stigmatisierung durch spezifische Namen und, wenn solche nicht kenntlich waren, durch die Beifügung von „Sara“ und „Israel“. Aus einzigartigen Persönlichkeiten wurden Kollektive, die letztlich der Vernichtung preisgegeben wurden. Das war der Kern der Namenspolitik. Dieser hatte auch eine Vorgeschichte. Denn die letzten Jahrhunderte waren für Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa nicht das erste Mal geprägt durch Stigmatisierung durch Namensgebung. Immer wieder war es das Ringen um Gleichberechtigung, Emanzipation, aber auf der anderen Seite auch Ausgrenzung und Kenntlichmachung als vermeintlich Fremde. Das äußerte sich zum Beispiel im französischen Recht dadurch, dass man über Assimilierung versuchte, traditionell jüdische Namen unsichtbar zu machen. Die Perfidie, über die wir heute reden, war folgende: Deutsche nichtjüdische Reichsbürgerinnen und Reichsbürger – ich verwende die damalige Diktion – durften traditionell biblische, hebräische Namen behalten, nicht jedoch Jüdinnen und Juden. Ihnen wurde mit diesem Gesetz und mit der Durchführungsverordnung, die dann im August 1938 folgte, eine Liste von 191 männlichen und 85 weiblichen Namen verordnet, die ganz bewusst ausgewählt waren als solche, die sich besonders eigneten zu Verspottung, als solche, die besonders fremd und auffällig wirkten, und als solche, die einschlägig schon bekannt waren durch die Hetze, die man kannte von den Zeitschriften „Der Stürmer“ und „Völkischer Beobachter“, zum Beispiel Namen wie Isidor und Itzig, bekannt als Kernterminologie der antisemitischen Hetze. Jüdinnen und Juden waren mit Verabschiedung dieses Gesetz, das wir heute ändern, nicht mehr offiziell Individuen in diesem Land, sondern sie hatten nur noch Kollektivnamen. Sie wurden als Fremde bezeichnet und so behandelt – das schon vorher, aber damit endgültig. Noch mehr Grund für die laute Scham ist Folgendes – und das zeigt auch die enge Verknüpfung mit der Zeit nach 1945 –: Niemand anderes als Hans Globke, später Chef des Kanzleramtes, war der Autor der Durchführungsverordnung – so weit die Kontinuität vom Nationalsozialismus zur bundesrepublikanischen Zeit. Er war derjenige, der die Durchführungsverordnung, den entsprechenden Runderlass und die Richtlinien mit der Aufstellung der 185 und 91 Namen initiierte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts all dessen gibt es aus meiner Sicht keine Alternative dazu, heute dieser Gesetzesänderung zuzustimmen und alles dafür zu tun, ob in einem Artikelgesetz oder in vielen einzelnen Schritten, andere, vergleichbare Gesetze wie das Heilpraktikergesetz, das Gesetz über den Deutschen Sparkassen- und Giroverband und das Rechtshilfeabkommen zwischen Deutschland und Griechenland künftig auch in entsprechender Weise zu ändern und uns so in Scham vor allen Jüdinnen und Juden in diesem Land zu verneigen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Relikte unserer dunkelsten Vergangenheit aus unseren Gesetzen zu tilgen, ist überfällig. Da haben wir einen ganz breiten Konsens in diesem Hause; das sehen wir fast alle so. Dieses Ansinnen des vorliegenden Entwurfs ist natürlich aller Ehren wert. Aber – das muss ich sagen – ich hätte mir schon auch gewünscht, wenn sich die Bundesregierung dem Thema Namensrecht stellt, dass sie darüber hinaus und jenseits davon auch ein Fünkchen Reformehrgeiz entwickelt. Eine vom BMJV und BMI eingesetzte Expertenarbeitsgruppe hat Anfang 2020 umfassende Vorschläge für eine große Reform hin zu einem modernen Namensrecht gemacht. Was macht die Bundesregierung nun damit? Ich zitiere das BMJV: Die Bundesregierung will in der nächsten Legislaturperiode über einen Reformvorschlag entscheiden. Sehen wir mal davon ab, dass man entweder inkompetent oder dreist ist, wenn man vorgibt, die jetzige Bundesregierung könne der nächsten auch nur irgendwie vorgreifen. Wichtiger ist mir: Wieder einmal gestaltet diese Regierung in dieser Wahlperiode im Namensrecht proaktiv dann gar nichts. Nachdem die Bundesregierung die Wahlperiode insoweit bereits abgeschrieben hat, liefern wir als Serviceopposition mit dem Gesetzentwurf, den wir heute zur Abstimmung stellen, die Chance, in dieser Wahlperiode noch zu gestalten. ({0}) Zum Inhalt – das kann man auch seriös besprechen –: Wenn Herr Müller und Frau Meier heiraten, haben sie heute diverse Möglichkeiten. Sie können entweder beide ihren Namen behalten, beide Meier oder beide Müller heißen, oder einer der beiden behält seinen Namen und der andere stellt den Namen des Ehepartners voran oder hängt ihn an. Das wären dann die Optionen: Herr Müller bleibt Herr Müller, und Frau Meier wird Frau Meier-Müller oder Müller-Meier. Oder Frau Meier bleibt Frau Meier, und Herr Müller heißt dann entsprechend Meier-Müller oder Müller-Meier. – Was aber nicht geht, ist, dass nun nach der Heirat beide Müller-Meier oder Meier-Müller heißen. Und gerade das wünschen sich eben ganz viele Paare – das weiß ich aus unzähligen Zuschriften zu diesem Thema –: einen gemeinsamen Namen, ohne dass ein Partner seinen Namen aufgeben muss. Meine Damen und Herren, das versteht doch kein Mensch. Warum eröffnen wir Ehepaaren, die das wünschen, nicht auch diese zusätzliche Option? ({1}) Und warum erlauben wir dasselbe nicht für die Namen der Kinder? Ist es nicht schön, wenn beide Elternteile auch zum Nachnamen des Kindes einen Beitrag leisten dürfen? Das ist ja auch im Ausland fast überall üblich: in 21 EU-Mitgliedstaaten. Ellenlange Namensketten lassen sich ganz leicht vermeiden, indem man, wie es auch unser Gesetzentwurf vorsieht, die Namenswahl auf zwei Namensteile beschränkt. Die Sachverständigenanhörung zu diesem Thema war äußerst bemerkenswert: Selbst die Union hat keine Sachverständigen gefunden, die unserem Entwurf und unserem Ansinnen nicht zustimmen wollten. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie: Stimmen Sie auch unserem Gesetzentwurf zu! ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Helling-Plahr. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Gökay Akbulut. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur heutigen letzten Beratung des von der Koalition eingebrachten Gesetzentwurfes zur Änderung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen kann ich nur sagen: Einen so kurzen Gesetzentwurf hatten wir hier schon lange nicht mehr vorliegen. Dennoch verfolgt dieser Gesetzentwurf ein wichtiges und richtiges Anliegen: Das Namensänderungsgesetz stammt aus dem Jahre 1938. Es beinhaltet noch Formulierungen wie „Reichsminister“ und „Deutsches Reich“. Mit der neuen Änderung wäre das Dritte Reich endlich aus dem Gesetz komplett verbannt. Jetzt muss dieser Geist hier auch noch aus dem Parlament verbannt werden. ({0}) Als Linksfraktion unterstützen wir natürlich diese Initiative. Dass es aber so lange gedauert hat, bis Sie auf die Idee gekommen sind, rechtliche Relikte aus dem Dritten Reich zu entfernen, ist schon bitter, Herr Frei. Es sind über 71 Jahre seit Bestehen der Bundesrepublik, und trotzdem müssen Rechtsanwenderinnen und Betroffene noch den Begriff „Deutsches Reich“ in Gesetzestexten lesen und studieren. Und wenn Sie schon hier von Modernisierung sprechen, dann wäre es auch jetzt eine gute Gelegenheit gewesen, sprachlich wirklich ins 21. Jahrhundert zu kommen und auch das moderne Gendern bei diesem Gesetzentwurf durchgängig einzubeziehen. Ebenfalls in letzter Beratung debattieren wir heute in diesem Rahmen den Gesetzentwurf der FDP zur Änderung des Ehe- und Geburtsnamensrechts. Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf der FDP, da er den Anspruch der Namensvielfalt aufgreift und versucht, den geänderten Lebenswirklichkeiten unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Die Möglichkeit, einen echten Doppelnamen als gemeinsamen Ehenamen bestimmen zu können, verschafft eine Wahl auf Augenhöhe und Parität für viele Ehepartner, was wir natürlich unterstützen. ({1}) Allerdings geht die Initiative der FDP nicht weit genug; denn dieser Gesetzentwurf löst nur ein Teilproblem des zivilrechtlichen Namensrechts. Das Gesamtgefüge der Norm und ihre Rechtsprobleme und Rechtspraxis bleiben leider unberücksichtigt. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Regelung des § 1355 Absatz 5 Satz 2 BGB, wonach die geschiedenen Ehepartnerinnen und Ehepartner ihren Geburtsnamen wieder annehmen können. Häufig führt das aber dazu – und das ist ja das große Problem –, dass die Namensgleichheit eines Ehepartners mit den Kindern wegfällt, da sich diese der Änderung nicht anschließen können; so lautet ja die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Februar 2004. Oftmals verzichten viele Eltern daher auf diese Möglichkeit. Hier müssen Optionen berücksichtigt werden, die auch schon in der Sachverständigenanhörung eingebracht worden sind. Als Linksfraktion setzen wir uns für eine umfassende Novellierung ein, die auch diese Probleme aufgreift und hier nicht nur punktuelle Lösungen liefert. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gökay Akbulut. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das gesamte deutsche Namensrecht steht schon seit Längerem in der Kritik. Eine Arbeitsgruppe des Justizministeriums hat bereits ein Eckpunktepapier mit umfassenden Empfehlungen vorgelegt. Damit hat der hier vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung allerdings nichts zu tun. Hier werden heute überholte Begriffe und Ministeriumsbezeichnungen aus dem Deutschen Reich eliminiert, und das ist richtig und wichtig. Ausdrücklich werden allerdings keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen. Die FDP hingegen hat tatsächlich einen wichtigen inhaltlichen Vorschlag unterbreitet. Ich gebe zu, dass ich zunächst skeptisch war, ob es wirklich sinnvoll ist, Kindern von Geburt an echte Doppelnamen zu geben. Die Anhörung im Dezember hat mich allerdings davon überzeugt, dass dies wichtig ist, um der Bedeutung von Autonomie und Persönlichkeitsrecht bei der Namenswahl gerecht zu werden. ({0}) Gemeinsame Kinder mit echten Doppelnamen könnten dann, wenn sie selber heiraten, entscheiden, welchen Teil ihres Namens sie weiter tragen und welchen sie aufgeben wollen. Das wird bereits in anderen Ländern traditionell so praktisch gehandhabt, beispielsweise in Spanien oder in Brasilien. Das Konzept des kurz gehaltenen Ehenamens vermag das im internationalen Vergleich sehr restriktive Namensrecht nicht zu rechtfertigen. Eine Reform kann auch dazu beitragen, die immer noch überwiegende Dominanz des Mannesnamens abzuschwächen. Bei der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss bekam der Gesetzentwurf der FDP entsprechend positive Rückmeldungen der Sachverständigen. Die Kritik war allerdings, dass man sich hier das isolierte Herzstück der Reformvorschläge herausgepickt hat, ohne die komplizierteren sonstigen Probleme mitzuregeln. Es war die Rede von einer Insellösung, die zu weiterem Flickwerk führen würde. Als weiterer Regelungsbedarf wurden unter anderem benannt die Vereinheitlichung des dreigeteilten Rechtsweges zwischen Verwaltungsgericht, Familiengericht und Rechtspfleger, die Pflicht zur Namensänderung bei der Adoption Volljähriger, die Rückbenennung von Scheidungshalbwaisen und die Rechtslage bei gemischtnationalen Familien. Warum ist es beispielsweise für die vielen Frauen mit einem Namen sorbischen oder slawischen Ursprungs nicht möglich, die typische geschlechtsbezogene Form des Familiennamens zu verwenden? Warum gibt es nach wie vor so viele Fälle, in denen ein im Ausland rechtmäßig erworbener Name nach deutschem Namensrecht nicht anerkannt wird? Das Argument der Namenskontinuität kann dafür sicherlich nicht herangezogen werden. Es ist also deutlich geworden, dass das Namensrecht eine umfassende Überarbeitung benötigt. Der FDP-Antrag hat dieses Thema zu Recht auf die Tagesordnung des Rechtsausschusses gesetzt, und die Anhörung war auch sehr erkenntnisreich. Trotzdem gibt es für diese Insellösung von uns erst mal nur eine Enthaltung. Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung kann man nur zustimmen; denn das Deutsche Reich wollen wir sicher alle nicht mehr im Gesetzestext wiederfinden. ({1}) Die eigentliche Reform des Namensrechts steht uns allerdings noch bevor. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Keul. – Letzter Redner in dieser Debatte: Marc Henrichmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am 1. Januar 1900 trat nach langjähriger Beratung das Bürgerliche Gesetzbuch, das BGB, in Kraft. Nach dem Krieg wurde in Artikel 123 im Grundgesetz normiert, dass dieses Recht fortgilt. Es fielen Normen weg mit der Zeit, es wurden Normen geändert und ergänzt, aber bis heute gilt das BGB als die Kodifikation des Privatrechts. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Gesetze stürmische, auch dunkle Zeiten überleben. Es lohnt immer ein Blick auf den Einzelfall. Das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen, das Namensänderungsgesetz, stammt allerdings aus der Zeit von 1938. Reichsinnenminister war seinerzeit der NSDAP-Funktionär und später als Kriegsverbrecher verurteilte Wilhelm Frick. Es diente schlichtweg der Schikane, Ausgrenzung und Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Auch wenn Passagen zur namentlichen Kennzeichnung von Juden gottlob lange Geschichte sind, so bleiben doch immer noch Relikte aus dieser dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte. Gerade in dieser Zeit, wo Juden in Deutschland wieder Zielscheibe von Hass und Diskriminierung werden, gibt es nur einen Weg: Das Namensänderungsgesetz gehört überarbeitet und reformiert. Und Begriffe wie „Reichsregierung“ oder „Reichsminister“ haben in einem deutschen Gesetz nichts verloren. ({0}) Jetzt gibt es Stimmen, die fordern, dass wir doch bei der Gelegenheit gleich mal das Namensrecht insgesamt auf den Prüfstand stellen und überarbeiten sollten. Für heute möchte ich sagen: Wir wollen hier und heute nicht ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen und gleichzeitig das Namensrecht reformieren, sondern wir wollen ohne jede Einschränkung und Relativierung heute ein Zeichen setzen, dass jede Form von Hass und Ausgrenzung gegenüber jüdischem Leben hier in Deutschland nichts zu suchen hat. ({1}) Über die in diesem Zusammenhang profane Gesetzesarbeit sollten wir später reden. Und dennoch: Es gibt eine beeindruckend hochkarätig besetzte Kommission, die Vorschläge für eine Reform des Namensrechts erarbeitet hat. Es ist sicherlich vernünftig, im BGB die Regelungen des Namensrechts zukünftig zusammenzuführen. Über den Vorschlag, die Zuständigkeiten zu bündeln, werden wir sicherlich auch schnell einen Konsens finden. Auch den Wunsch vieler Familien nach echten Doppelnamen zu berücksichtigen, ist sicherlich einer intensiven Diskussion wert. Womit ich persönlich weniger etwas anfangen kann, ist, dass auf dem Prüfstand steht, alle zehn Jahre grundlos den Namen ändern und wechseln zu können. Aber wir werden das diskutieren. Für heute zählt allerdings das Zeichen gegen Antisemitismus und Ausgrenzung. Ich fand einen Eindruck bei der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz von vor gut zwei Wochen sehr bewegend, und das war, als Frau Knobloch mit Blick auf die Gift-und-Galle-Fraktion am rechten Rande dieses Plenums die verbliebenen Aufrechten angesprochen und gesagt hat, man möge gucken, dass man auf den rechten Weg zurückfindet. Das hat zumindest für den Moment – so war mein Eindruck – dazu geführt, dass bei der späteren Rede von Herrn Brandner, dem Einpeitscher für Hass und Hetze in der Fraktion, der Applaus doch eher als Rohrkrepierer wahrzunehmen war. Ich wünsche mir, dass auch von dieser Gesetzesänderung nicht nur in Richtung AfD, sondern generell in die Gesellschaft das Signal ausgeht, dass Hass, Hetze und besonders Antisemitismus in Deutschland nichts verloren haben. Es sind unsere gemeinsamen Gesetze aller Demokraten in Deutschland. Wenn Sie auch nur historisch oder semantisch den Geist von Ausgrenzung gegenüber Jüdinnen und Juden atmen, dann handeln wir, dann müssen wir handeln. Das tun wir hier, und ich bin dankbar, dass wir das aufgreifen. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marc Henrichmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Vor drei Stunden hatte ich eine Videokonferenz mit den Kinder- und Jugendparlamenten aus meinen Heimatstädten Castrop-Rauxel, Recklinghausen und Waltrop; die haben mir ihre Anliegen zum Red Hand Day übergeben. Morgen ist ja der Red Hand Day, also der Tag gegen Kindersoldatinnen und Kindersoldaten. Das passt eigentlich ganz gut zum Thema, weil auch im Jemen Hunderte, wenn nicht vielleicht Tausende Kindersoldatinnen und Kindersoldaten im Einsatz sind, und zwar auf beiden Seiten. UN-Menschenrechtsbeobachterinnen und ‑beobachter berichten davon, dass Zehnjährige mit Waffen und Uniformen zu sehen sind, die entsprechend an Kontrollpunkten sitzen. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, auf diesen Red Hand Day aufmerksam zu machen, auch wenn es in diesem Jahr nur eingeschränkte Möglichkeiten gibt. Ich will wirklich allen meinen KiJuPas, aber auch allen, die sich gegen Kindersoldatinnen und Kindersoldaten engagieren, ganz herzlich danken. ({0}) Wir reden heute über eine, vielleicht die größte humanitäre Katastrophe weltweit, aber eine Katastrophe, die leider nur minimale Aufmerksamkeit genießt. Bärbel Kofler, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat vor ein paar Tagen davon geredet, dass im Jemen in der ersten Jahreshälfte 2021 wahrscheinlich 16 Millionen Menschen – 16 Millionen Menschen! – hungern werden. UN-Generalsekretär António Guterres, der vor Kurzem noch hier gesprochen hat, hat davor gewarnt, dass Millionen Menschenleben verloren gehen könnten in diesem Jahr. Deswegen ist es gut, dass Deutschland seinen Beitrag an humanitärer Hilfe für das Welternährungsprogramm noch einmal erhöht hat, auf 60 Millionen Euro. Wir haben im Jahr 2020 insgesamt 204 Millionen Euro für humanitäre Hilfe im Jemen zur Verfügung gestellt und sind damit der drittgrößte Geber. Trotzdem sind die Maßnahmen zur Linderung dieser Krise dramatisch unterfinanziert, es sterben Menschen – Hunderte, vielleicht Tausende Menschen –, weil wir nicht in der Lage sind, die Menschen dort entsprechend zu ernähren. Es will mir nicht in den Kopf, warum es nicht möglich ist, weltweit wenigstens humanitäre Hilfe in der Größenordnung zur Verfügung zu stellen, wie der Verteidigungsetat der Bundesrepublik Deutschland ist. Das muss doch weltweit möglich sein! Damit könnten wir Hunderte, Tausende, vielleicht Zehntausende Menschenleben auch im Jemen retten. ({1}) Zehntausende Menschen haben mittlerweile ihr Leben gelassen in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des exilierten Präsidenten Mansur Hadi, der, wie bekannt, von einer von Saudi-Arabien geführten Militärallianz unterstützt wird, und den vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen, in einem Bürgerkrieg, der mittlerweile sechs Jahre währt und dessen Ende, jedenfalls bis vor Kurzem, nicht absehbar war. Jedenfalls darf der Krieg nicht militärisch entschieden werden, sondern er kann nur politisch entschieden werden, und zwar dadurch, dass wir einen Waffenstillstand bekommen, dass wir den Zugang zu Hilfsgütern ermöglichen und dass es Friedensverhandlungen gibt, die diesen Namen auch verdienen. Ich habe gerade gesagt, bis vor Kurzem war nicht absehbar, wie dieser Krieg beendet werden könnte. Wir haben zum Glück – da sieht man schon, wie gut das ist – eine neue Administration, einen neuen Präsidenten in den USA, mit dem jedenfalls große Hoffnungen verbunden sind, dass wir auch im Jemen zu einer Zeitenwende kommen können. Präsent Biden hat eine klare Rangfolge für eine Waffenruhe vorgelegt. Die USA haben die Unterstützung für die von Saudi-Arabien geführte Koalition eingestellt, und sie haben – nicht, weil sie irgendwie gute Menschen wären, sondern weil es notwendig ist, um den humanitären Zugang zu ermöglichen – die Huthi-Rebellen wieder von der Terrorliste gestrichen – noch einmal: nicht aus politischen Gründen, sondern aus humanitären Gründen –, um mit ihnen überhaupt verhandeln zu können, wie humanitäre Hilfe entsprechend geleistet werden kann. Deswegen ist jetzt die Tür geöffnet, durch die die internationale Gemeinschaft, aber eben auch die Konfliktparteien im Jemen gehen müssen. Die USA haben das noch einmal unterstrichen, indem sie einen Sondergesandten, Tim Lenderking, eingesetzt haben. Die Hoffnung ist damit verbunden, dass der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Martin Griffiths jetzt endlich die nötige internationale Unterstützung bekommt, die er verdient. Ich habe gerade gesagt, die USA haben die finanzielle Unterstützung für die von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition eingestellt. Sie haben aber auch verboten – bzw. sie stellen sie jetzt ein –, dass es überhaupt Waffenexporte geben darf aus den USA an die Kriegsparteien. Da bin ich bei einem Thema, was sicherlich auch für Deutschland schmerzlich ist. Vielleicht können wir uns heute einfach miteinander darauf verständigen. Ich finde, dass solche Kriege nicht militärisch gelöst werden können – welche strategischen Interessen wir in der Region auch immer haben könnten – und dass Staaten, die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung verüben, keine Waffenexporte bekommen dürfen, nicht aus Deutschland und auch nicht aus anderen Staaten ({2}) und übrigens auch nicht über den Umweg der Europäischen Union. Deswegen will ich noch einmal daran erinnern: Wir hatten in den Koalitionsverhandlungen ja durchgesetzt, dass es solche Waffenexporte nicht mehr geben soll. Ich finde aber auch, dass wir das grundsätzlich beschließen sollten, und lade alle herzlich ein, dem beizutreten. Die SPD hat eine klare Position entwickelt: Staaten, die dem ATT, dem internationalen Waffenhandelsvertrag, nicht beigetreten sind, dürfen keine Waffenexporte mehr bekommen. Damit würden wir automatisch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten von solchen Waffenexporten ausschließlich. Ich bitte alle, darüber nachzudenken, ob das anlässlich dieses Konflikts, aber auch anlässlich der Konfliktlagen in der Welt insgesamt nicht das richtige Signal ist. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Anton Friesen. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Krieg, Hunger, Krankheit, Tod: In Jemen herrschen die vier Apokalyptischen Reiter. Eine der größten humanitären Katastrophen der Welt findet gerade am Golf von Aden statt. 80 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Hilfe angewiesen. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die USA, Frankreich, Großbritannien, der Iran und die Türkei, sie alle mischen mit, sie liefern Waffen, sie bomben und heizen den Konflikt zwischen den schiitischen Huthis und der sunnitischen Zentralregierung, die sich auch noch mit Separatisten im Süden herumschlagen muss, an. Alle Konfliktparteien begehen Kriegsverbrechen: Saudi-Arabien betreibt eine menschenverachtende Blockadepolitik, die Huthis beschlagnahmen humanitäre Hilfe. Der Ansatz im Antrag der Grünen, alle Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen, ist durchaus sinnvoll. Sie widersprechen sich jedoch selbst, wenn Sie im selben Antrag fordern, die Konfliktparteien vor den Internationalen Strafgerichtshof zu ziehen. Sollen die etwa vom Verhandlungstisch weg verhaftet werden? Die Drohung mit dem Internationalen Strafgerichtshof führt doch nur dazu, dass die Gegner bis zuletzt weiterkämpfen – aus Angst vor Strafverfolgung. Im Sinne einer Realpolitik des Friedens, für die die AfD steht, sind Drohungen mit Strafverfolgung kontraproduktiv. Während die Grünen sich um die Verbesserung der humanitären Lage im Jemen sorgen, ist ihnen die humanitäre Lage in Syrien herzlich egal. ({0}) Wo bleibt das Engagement der Grünen für die sofortige Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien? Wo bleibt ihr Einsatz für den Wiederaufbau Syriens, für die Rückkehr der Syrer in ihr Heimatland? ({1}) Dabei ist aus dem syrischen Bürgerkrieg längst ein internationaler Konflikt geworden, genauso wie im Jemen. Im Jemen sind 3,6 Millionen Menschen innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht, in Syrien sind es 12 Millionen. Dabei hat der Jemen über 30 Millionen Einwohner, Syrien hatte vor dem Krieg 21 Millionen. Millionen Syrer befinden sich im Ausland. Anders gesagt, steht Syrien dem Jemen in nichts nach, was die Größe der humanitären Katastrophe angeht. 95 Vertreter von christlichen und anderen Hilfsorganisationen, von Kirchen, Wissenschaft und Politik haben einen offenen Brief an Joe Biden verfasst und ihn aufgefordert, die Sanktionen gegen Syrien sofort aufzuheben. Joe Biden hat ja bekanntlich die Fehler der Obama-Administration, als er Vizepräsident war, wieder rückgängig gemacht und die Unterstützung für die saudi-arabische Kriegsallianz im Jemen eingestellt. Banken weigern sich aus Angst vor Sanktionen, Überweisungen nach Syrien zu tätigen, mit denen dringend benötigte Nahrungsmittel und Medikamente beschafft werden können. IBAN und SWIFT-Codes blocken Überweisungen nach Syrien. Über 90 Prozent der Syrer leben mittlerweile unter der Armutsgrenze. Ebenso wie im Jemen fehlt es am Nötigsten, es fehlt an Brot und Strom. Was für eine Schande, was für ein Versagen des Westens und der grünen Gutmenschen! ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Eigentlich haben wir einen Jemen-Antrag zur Behandlung; ich will Ihnen nur noch einmal sagen, worüber wir jetzt im Moment debattieren.

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wer Syrien aber nicht erwähnt, der braucht vom Jemen gar nicht zu sprechen; denn ein Vergleich ist hier durchaus angemessen, Frau Präsidentin. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Oh, Sie sind schon fertig. Entschuldigung. – Danke schön, Dr. Friesen. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu fortgeschrittener Stunde vor fachkundigem Publikum will ich mich auf das Thema konzentrieren. Der Titel der Debatte ist „Jemen“, und ich stimme dem Kollegen Schwabe völlig zu und nehme an, dass wir das hier im Haus einmütig so sehen: Wir erleben im Jemen leider eine der schlimmsten humanitären Katastrophen, die wir gegenwärtig haben, und sie läuft leider schon sehr lange. Herr Schwabe hat angemerkt, dass wir doch eigentlich in der Lage sein müssten, diese humanitäre Krise zu bewältigen. Deutschland hat im Übrigen 300 Millionen Euro gegeben, allein letztes Jahr über 200 Millionen. Wir sind, glaube ich, Nummer zwei oder Nummer drei bei den Geldgebern für die humanitäre Hilfe. Aber das Problem ist eben, dass wir sicherstellen müssen, dass die einfachen Menschen im Land, die krank sind, die Hunger haben, von diesen Hilfsmitteln auch erreicht werden. Nach meinem Eindruck ist im Augenblick das größte Problem bei der humanitären Hilfe, dass sich insbesondere die Huthi-Rebellen, die die Gebiete kontrollieren, in denen 80 Prozent der Bevölkerung leben, aus diesen Hilfsquellen reichlich bedienen und zum Teil auch ihren Kampf durch Schwarzhandel mit diesen Gütern finanzieren. Deswegen ist es eben nicht ganz so einfach, wie Sie und ich das gerne hätten. Ich möchte sagen, warum wir dem Grünenantrag nicht zustimmen können, obwohl wir die Intention natürlich voll und ganz unterstützen und auch weite Teile davon – Friedensbemühungen, Friedenskonferenz und diese Dinge – unterstützen. Aber wir stören uns doch daran, dass in vielen Debatten und auch in dem Grünenantrag eine gleichmäßige Verteilung der Schuld auf Iran einerseits und Saudi-Arabien und VAE andererseits vorgenommen wird. Ich glaube, das wird der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Wenn wir das aber so tun, werden wir keinen Beitrag zur Lösung dieses Konfliktes leisten können. Ich halte es in der Tat schon für einen Unterschied, ob man eine Militärallianz unterstützt, die von einer von der UN als legitim erachteten Regierung zur Unterstützung gebeten wird, oder ob man als fremde Macht Rebellen in einem Land unterstützt, die nicht nur im Land die legitime Regierung aufreiben, sondern darüber hinaus auch dafür sorgen, dass zum Beispiel VAE – Vereinigte Arabische Emirate – und Saudi-Arabien konkret angegriffen werden. Wir haben uns im Koalitionsvertrag entschieden, die Rüstungsexporte an Staaten, die am Jemen-Krieg beteiligt sind – VAE und Saudi-Arabien –, einzustellen. Wir haben das getan, weil wir der Meinung sind, dass Saudi-Arabien und VAE mit der Art und Weise, wie sie diesen Kampf an der Seite der legitimen Regierung führen, gegen Völkerrecht verstoßen, weil sie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit der gewählten Mittel nicht beachten; die Bilder kennen wir alle. Das ist der Grund. Aber ich bin umgekehrt auch der Meinung, dass wir, wenn wir eine solche Maßnahme gegen Saudi-Arabien und VAE mit dem Ziel beschließen, eine Veränderung des Verhaltens zu erreichen, auch sehr genau überlegen sollten, was wir tun, wenn sich das Verhalten ändert. Ich habe tatsächlich den Eindruck – ich bin mit dem Kollegen Löbel vor knapp zwei Jahren in Abu Dhabi gewesen –, dass es zum Beispiel schon seit etwa zwei Jahren wenn überhaupt, dann nur noch ganz vereinzelt VAE-Soldaten und -Truppen auf jemenitischem Boden gibt und sich dieses Land an der Eskalation des Kampfes nicht beteiligt ({0}) und dass wir deswegen immer genau schauen müssen. Anderenfalls würden ja solche Maßnahmen, die wir gegen diese Länder ergreifen, in ihrer Wirkung verpuffen, wenn wir nicht auch bereit wären, sie in dem Augenblick zu überprüfen, da diese ihr Verhalten entsprechend ändern. Ich wünsche mir, dass wir durch die Initiative des Präsidenten Joe Biden mit der Einsetzung von Tim Lenderking an der Seite von Herrn Griffiths von den Vereinten Nationen tatsächlich einen neuen Schub erleben. Ich finde, dass die Europäische Union gut beraten wäre, diesem UN-Beauftragten und dem Sonderbeauftragten des US-Präsidenten einen EU-Beauftragten an die Seite zu stellen. In diesem Sinne bin ich verhalten zuversichtlich, dass wir vielleicht doch in den nächsten Monaten in diesem Feld vorankommen. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die humanitäre Katastrophe im Jemen. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag diese Debatte hier führt, ({0}) und es ist gut, dass die internationale Gemeinschaft diese Katastrophe nicht verdrängt. Wie auch in Syrien und Libyen ist aus einem Bürgerkrieg ein Stellvertreterkrieg geworden, bei dem es um die Durchsetzung von Machtinteressen geht, Interessen, die keine Rücksicht auf über 200 000 Tote nehmen und für unendlich viel Leid und Elend sorgen. Schon lange steht der ursprüngliche Konflikt zwischen den Huthi und der jemenitischen Regierung nicht mehr im Fokus der Betrachtung. Vielmehr sind die Rivalitäten zwischen Iran und Saudi-Arabien im Fokus der Auseinandersetzung. Aus dem Bürgerkrieg ist ein echter Stellvertreterkrieg geworden, meine Damen und Herren. Nachdem die USA in der gesamten Region in den vergangenen Jahren ein großes Vakuum hinterlassen haben, ist es ein gutes Zeichen, dass der neue US-Präsident Biden in seiner außenpolitischen Grundsatzrede auch auf die Lage im Jemen einging. Gleichzeitig könnte es sich jedoch als nachteilig erweisen, dass er die Huthi zu schnell von der US-Terrorliste genommen hat. Zumindest lässt die zeitnahe Huthi-Offensive auf die Provinz Marib nicht vermuten, dass sie sich von diesem Akt des Entgegenkommens in irgendeiner Art und Weise beeindrucken lassen. Meine Damen und Herren, wenn wir über die Lage im Jemen reden, dann müssen wir auch ganz klar über die Verantwortung Saudi-Arabiens reden. Wir müssen aber auch über die Verantwortung des Irans für diesen Konflikt reden; denn Teheran spielt in diesem Konflikt eine zentrale Rolle. Die Islamische Republik unterstützt die Huthi-Rebellen mit Waffen, Training und Milizen. Sie bedient sich damit der gleichen Strategie wie im Irak, Syrien und Libanon, wo sie mit Vehemenz versucht, ihre islamische Revolution zu exportieren. Was das in der Praxis bedeutet, sehen wir am besten im Iran selbst, wo das Regime die eigene Bevölkerung systematisch drangsaliert, foltert und ermordet. Meine Damen und Herren, das Eingreifen fremder Staaten im Jemen muss endlich ein Ende haben. Saudi-Arabien hat durch die gemeinsame Grenze zwar legitime Sicherheitsinteressen. Das großflächige Bombardieren auch von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen ist aber nichts anderes als ein grausames Verbrechen, meine Damen und Herren. ({1}) Der Beginn dieses Krieges wird sich auch in diesem Jahr jähren, ohne dass ein Ende dieser Katastrophe in Sicht ist. Regelmäßig wird berichtet, es gebe Grund zur Hoffnung, doch sie wurde immer wieder enttäuscht. Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie gemeinsam mit europäischen Partnern, gemeinsam mit der neuen US-Administration und gemeinsam mit den Vereinten Nationen aktiv wird, damit dieser Krieg endlich beendet wird, meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bijan Djir-Sarai. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Heike Hänsel. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bilanz des Krieges im Jemen ist verheerend. Seit 2015 führt dort eine Koalition unter der Führung der islamistischen Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien Krieg. Nichts als Tod, Elend und Hunger hat die Jemen-Kriegsallianz über die Menschen dieses armen und geschundenen Landes gebracht. Rund 80 Prozent der Bevölkerung, das sind etwa 24 Millionen Menschen, sind nach UN-Angaben heute auf humanitäre Hilfe angewiesen – die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit. Dabei bediente sich Saudi-Arabien eines Marionettenregimes unter Herrn Hadi, das nur noch wenige Gebiete im Jemen überhaupt kontrolliert, aber von der Bundesregierung immer noch als legitime Vertretung der jemenitischen Bevölkerung anerkannt wird. ({0}) Die Bodentruppen dieses von der Bundesregierung anerkannten Regimes – das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden – bestehen aus Al-Qaida-Verbänden, aus Milizen der Muslimbruderschaft und den Separatisten des Südens, die selbst wieder ins Visier der islamistischen Terrormilizen, unterstützt von Saudi-Arabien, gerieten. Der 2015 begonnene saudische Bombenkrieg wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung durch die USA und Großbritannien. Daher begrüßt es Die Linke ausdrücklich, dass der neue US-Präsident Joe Biden jetzt ein Ende der Beihilfe zum saudischen Luftkrieg angekündigt hat. ({1}) Es war ein wichtiges Zeichen der neuen US-Administration, die Huthi-Rebellen von der US-Terrorliste zu streichen, um eine diplomatische Lösung zu ermöglichen. Aber die US-Waffenlieferungen, ohne die der Krieg nicht weitergehen könnte, werden nicht gestoppt. Das ist wiederum ein denkbar schlechtes Zeichen. Hier darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. ({2}) Auch die Bundesregierung muss die Mitverantwortung für den saudischen Terror im Jemen endlich anerkennen. Es ist beschämend und bezeichnend, dass Sie selbst Ihren eigenen Koalitionsvertrag brechen, in den Sie ausdrücklich ein Waffenembargo gegen die Länder der Jemen-Kriegskoalition wie Saudi-Arabien, die Emirate und Ägypten geschrieben haben. Herr Schwabe, bei aller Unterstützung: Sie müssen Ihren Appell für den Waffenstopp natürlich an die Bundesregierung richten. Wir hier unterstützen ihn; aber die Bundesregierung muss ihn stoppen. Da ist Ihre Fraktion mitverantwortlich. ({3}) Seit Kriegsbeginn 2015 haben Sie der saudisch geführten Kriegskoalition Waffenlieferungen im Wert von insgesamt über 5,5 Milliarden Euro genehmigt, mehr als 1 Milliarde Euro noch im vergangenen Jahr. Und Sie haben dafür gesorgt, dass selbst der verkündete Waffenstopp im Fall von Saudi-Arabien so löchrig ist wie ein Schweizer Käse. Deutsche Rüstungskonzerne können weiter über Drittstaaten und im Rahmen europäischer Gemeinschaftsprojekte an Saudi-Arabien Waffen liefern. Das ist ungeheuerlich. Ohne einen kompletten Waffenstopp wird es keinen Frieden geben. ({4}) Die Verantwortlichen wie der saudische Kronprinz Mohammed Bin Salman müssen zur Verantwortung gezogen werden. Statt seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit weiter zu unterstützen, muss die Bundesregierung alles tun, damit Bin Salman der internationalen Strafgerichtsbarkeit zugeführt wird. Es ist höchste Zeit für eine Wende Ihrer Jemen-Politik. Beenden Sie die Waffenexporte, und leisten Sie Hilfe zum Wiederaufbau! ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heike Hänsel. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren sind Tausende und Abertausende mutige Frauen und Männer in Sanaa das erste Mal auf die Straße gegangen, um zu kämpfen und zu demonstrieren für ihre Freiheit, für bessere Lebensbedingungen, für ihre Würde. Zehn Jahre später, heute, sehen wir im Jemen eine humanitäre Katastrophe, die sich in der Tat vielleicht noch mit der in Syrien messen lässt. In Syrien sind im Übrigen über eine halbe Millionen Menschen ums Leben gekommen, in erster Linie in der Verantwortung eines Präsidenten, den die AfD gern besucht hat. Deshalb sind hier die Verhältnisse in der Rede des Kollegen tatsächlich ein wenig aus den Fugen geraten. ({0}) Heute sehen wir im Jemen eine humanitäre Katastrophe, die auch vom Iran, von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten massiv befeuert wird. Alle drei begehen dabei Völkerrechtsbruch: der Iran durch die Unterstützung einer illegitimen Regierung der Huthi, Saudi-Arabien durch das massive Verletzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Kriegsführung und die Vereinigten Arabischen Emirate – Herr Kollege Hardt, ich weiß nicht, wo Sie die letzten zwei Jahre waren – durch eine proaktive, auch militärische Unterstützung von Separatismus. Auch deswegen sind das, was Saudi-Arabien und was die Vereinigten Arabischen Emirate dort machen, zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber beides ist zu verurteilen. ({1}) Es sind Krankenhäuser, es sind Flüchtlingslager, es sind Schulen, Getreidespeicher, Weltkulturerbestätten bombardiert worden. Menschen verschwinden in geheimen Gefängnissen, werden gefoltert, werden ermordet. Die humanitäre Hilfe wird Tag für Tag behindert. Das ist der Alltag im Jemen. Das ist eine Katastrophe. Und ja, alle begehen Kriegsverbrechen. Die Lage ist hochkomplex, die Lösung auch; aber es gibt Dinge, die sind nicht so komplex. Dazu gehört der Text des Koalitionsvertrages, dass man an die Staaten, die dort beteiligt sind, keine Waffen liefert. Im Übrigen ist das nicht nur ein Gebot des Koalitionsvertrages; es ist auch ein Gebot der Rüstungsexportrichtlinien dieser Bundesregierung, das endlich einzustellen. ({2}) Die Zahlen sind gewaltig: Rüstungsgüter im Wert von 750 Millionen Euro allein an Ägypten 2020, im Wert von 50 Millionen Euro an die Vereinigten Arabischen Emirate, und es geht einfach so weiter. Dabei hatte Heiko Maas gesagt, dass der Jemen ein Schwerpunktthema der Mitgliedschaft Deutschlands im VN-Sicherheitsrat sein würde. Wenigstens klar zu benennen, wer alles dort das Völkerrecht bricht, das wäre das Mindeste gewesen, wenn man dort einen solchen Schwerpunkt setzt. ({3}) Wir sehen ja an der US-Regierung, dass so viel mehr geht. Man sieht ja in den ersten Tagen der Biden-Administration, dass sie schon jetzt weit mehr gewagt hat als die Bundesregierung in den letzten drei Jahren. Und ja, es ist extrem kompliziert, und wir haben es bei den Huthis mit ganz, ganz schwierigen Akteuren zu tun. Just als Biden erklärt hat, dass die Waffen nicht mehr nach Saudi-Arabien gehen werden, haben die Huthis ihre Offensive in der Provinz Marib verstärkt und weitere Kriegsverbrechen begangen. ({4}) Quasi als Antwort auf Bidens Angebot des Gespräches. Aber auch das zeigt, dass es nicht ausreichend ist, einfach Geld hinüberzuschieben, Entwicklungshilfe zu leisten und humanitäre Hilfe zu organisieren. Das ist notwendig, aber nicht ausreichend. Man kann nicht einfach die diplomatische Arbeit anderen überlassen. Deutschland muss da weit aktiver werden. Deshalb noch mal, wie wir es in unserem Antrag auch formulieren: Bitte Druck machen auf den Iran, die Huthis nicht mehr zu unterstützen, Druck machen auf Saudi-Arabien, humanitäre Hilfe ins Land zu lassen, Druck machen auf die Vereinigten Arabischen Emirate, damit die Verhandlungen einheitlicher verlaufen können und die jeminitischen Akteure wieder besser miteinander kooperieren. Und natürlich muss der Internationale Strafgerichtshof mit den zahlreichen Kriegsverbrechen befasst werden, und vor allem müssen die Kriegsverbrecher beim Namen genannt werden. Das ist das, was bisher schlichtweg fehlt. ({5}) Alles das, was ich sage, ist nicht ausreichend, um den Krieg im Jemen zu beenden. Aber das wären wirklich substanzielle Schritte, damit die Menschen, die vor zehn Jahren auf die Straße gegangen sind, eines Tages doch zu ihrem Traum kommen, in Frieden, in Würde und in Freiheit leben zu können. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Nikolaus Löbel. ({0}) Nicht Nikolaus, sondern Nikolas. Entschuldigung. Nikolas Löbel, bitte.

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, der Versprecher ist Ihnen vollkommen verziehen, solang meine Mutter es nicht gehört hat. Die wäre auf Sie viel saurer als ich. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie bitte von ganzem Herzen; aber hier hat jemand dermaßen schlecht geschrieben. Da wäre jetzt meine Mutter – die war nämlich Lehrerin – ziemlich sauer. ({0}) Jetzt rufe ich Sie noch mal auf, und dann beginnt die Redezeit erneut. – Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion Nikolas Löbel. ({1})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über den Jemen und die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit zu sprechen. Rund sechs Jahre dauert dieser Krieg, dieser Konflikt nun an, und er hat das Land, die Menschen mit unendlichem Leid und Zerstörung überzogen. Deswegen ist es der Lage, der Situation und der Menschen vor Ort angemessen, dass wir heute darüber diskutieren. Die Liste der Konfliktparteien ist lang. Die Liste der Opfer ist lang, sie ist viel zu lang. Die UNICEF sprach schon 2018 davon, dass es eine leibhaftige Hölle für Kinder sei. Das Schlimmste daran ist eigentlich – da stimme ich dem Kollegen Schwabe zu –, dass die meisten Menschen vor Ort unter einem leiden: unter Hunger. Es ist aber zweierlei zu beachten. Es ist zum einen ein innerjemenitischer Konflikt zwischen den Huthi-Rebellen im Südwesten des Landes und den Loyalisten der international anerkannten Regierung unter Präsident Hadi. Es ist aber eben auch ein Stellvertreterkrieg geworden, ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Wichtig ist, dass wir genau hinschauen, was dort passiert, nämlich dass der Konflikt wieder einmal mehr den Drang der Revolutionsgarden des Iran zeigt, durch die Huthis Einfluss im direkten Grenzgebiet zu Saudi-Arabien auszuüben. Genau hier müssen wir die Interessen des Iran und die Interessen Saudi-Arabiens klar unterschieden. Während Saudi-Arabien durchaus begründete Sicherheitsinteressen im Jemen hat, da es sich um einen Konflikt im unmittelbaren Grenzgebiet handelt, ist der Iran einzig an der Destabilisierung der Staaten rund um Saudi-Arabien interessiert. Wir lehnen das Mittel der Kriegsführung ab, und wir verurteilen jede völkerrechtswidrige Militäraktion jedweder Art. Aber klar ist auch: Wir dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Gerade gestern gab es einen Angriff scheinbar der Huthi-Rebellen auf einen Flughafen in Saudi-Arabien. Die E 3 haben diesen Angriff heute verurteilt. Es zeigt, dass es eben nicht nur ein innerjemenitischer Konflikt ist, sondern dass es in Teilen auch ein Angriff auf andere souveräne Staaten ist. Und das gehört zur gesamten Wahrheit dieses Konflikts auch dazu. Es ist, glaube ich, in der jetzigen Gemengelage gut, dass der Wechsel im Weißen Haus unmittelbare Folgen mit sich bringt, dass deutlich wird, dass neben den Diskussionen über ein JCPoA-Abkommen, die Urananreicherung im Iran und die diplomatischen Annäherungen im Golf jetzt scheinbar vor Ort die Chance besteht, das Elend im Jemen endlich zu beenden und Frieden und Stabilität für das Land und die gesamte Region zu bringen. Wer die Grundsatzrede von Joe Biden genauer verfolgt hat, der erkennt einen klaren Bruch mit der bisherigen Jemen-Strategie der USA, und er legt einen klaren Fokus auf die Region. Deutlich wird, was Biden in der Region will: Er untersagt spezielle Waffenexporte nach Saudi-Arabien, er hat die Einstufung der Huthis als Terrororganisation zurückgenommen, und er hat mit Tim Landerking einen Sonderbeauftragten ernannt. – Das zeigt, dass wir eine echte Chance bekommen, diesen Konflikt zu beenden. Wenn durch die heutige Diskussion ein Appell ausgeht, dann muss ein Appell an die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates gehen. Denn wenn sich die P 5 schon einmal nicht grundsätzlich im Wege stehen und kein grundsätzliches Veto durch China oder Russland zu befürchten ist, dann müsste es doch möglich sein, mit den P 5 eine friedliche Lösung vor Ort zu finden. Denn Jemen und die Region brauchen eine friedliche Lösung. Diese Diskussion ist wertvoll, weil wir den Appell an die P 5 richten, die neue amerikanische Initiative zu nutzen, und weil wir sie auch aus diesem Haus heraus unterstützen. Aber der grüne Antrag zeigt auch die Äquidistanz zwischen Ursache und Wirkung dieses Konflikts. Deswegen können wir diesem Antrag so nicht zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Der nächste und letzte Redner in dieser Debatte: für die CSU/CDU-Fraktion Alexander Radwan. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die humanitäre Katastrophe, die wir im Jemen haben, hat jeder Redner hier betont. Ich möchte nur ergänzen: In der Bundesregierung ist es unser Minister Gerd Müller, der regelmäßig darauf hinweist und mit aller Kraft daran arbeitet, dies immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen, und der für Verbesserungen kämpft. Der Zeitpunkt momentan ist günstig. Die veränderte Situation in der US-Administration wurde mehrfach angesprochen. Die entsprechende Einflussnahme auf Saudi-Arabien durch die USA hat ja bereits begonnen. Das sind die ersten Schritte mit Blick auf die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate. Aber es wurde auch mehrfach betont, dass es hier inzwischen um einen Stellvertreterkrieg geht. Man ist von einem Bürgerkrieg im Lande dazu gekommen, dass sich die Machtfaktoren in dieser Region bekriegen und dort das Volk entsprechend leidet. Meine Damen und Herren, die Einflussnahme der USA auf Saudi-Arabien und auf die Vereinigten Arabischen Emirate ist ein erster wichtiger Schritt; aber es ist der leichtere Schritt. Umso wichtiger ist es jetzt, auch die andere Partei in diesem Bereich, den Iran, ein Stück weit zu bändigen. Da haben wir die Stichworte „Atomabkommen“ und „Embargo“. Ich glaube – das wurde vorhin angedeutet –, es war nicht klug, den Status der Huthis als Terrororganisation so schnell zu beenden. Man hätte dies in einem politischen Diskurs vor Ort machen müssen. Das zeigt auch, wie schwierig es ist. Bei dem Thema Waffenlieferungen ist es richtig, den Fokus auf die arabische Welt, auf Saudi-Arabien, auf die UAE und auf Ägypten zu richten. Aber ich habe in dieser gesamten Diskussion keinen Satz, keinen Appell und keinen Hinweis darauf gehört, dass die Notwendigkeit besteht, zu sagen: Die Waffenlieferungen aus dem Iran müssen auch unterbunden werden. ({0}) – Ich habe es zumindest nicht wahrgenommen. Der Duktus – da möchte ich den Kollegen Hardt unterstützen – dieses Antrages ist sehr einseitig. ({1}) – Wenn Sie sich jetzt so aufregen, dann habe ich ja wohl einen Nerv getroffen. ({2}) Denn genauso wichtig ist es dem Iran. ({3}) Sie wissen genau, dass der zweite Schritt – können wir uns darauf einigen? – umso schwieriger ist. Losgelöst von den Waffen, müssen wir es in einem ersten Schritt – lassen Sie mich die zwei Punkte noch sagen –, gemeinsam erreichen, dass die Kämpfe vor Ort es zulassen, dass die notwendige humanitäre Hilfe ankommen kann. ({4}) Daran scheitert es ja bisher sowohl durch die Machthaber in der arabischen Welt –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Radwan, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– am Schluss wird dann die Intervention kommen können – als auch vonseiten des Iran. Lassen Sie mich abschließend sagen: Neben den Themen, die angesprochen wurden, müssen wir eine politische Lösung vorantreiben und schauen, dass regionale, ethnische und religiös-spezifische Problematiken und Strukturen vor Ort entsprechend berücksichtigt werden. Besten Dank. Mehr Redezeit habe ich leider nicht. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Radwan. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Agnieszka Brugger.